Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/10/1996

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich zwei Kollegen nachträglich zum Geburtstag gratulieren: dem Kollegen Dieter Heistermann, der am 30. September seinen 60. Geburtstag feierte, ({0}) und der Kollegin Inge Wettig-Danielmeier, die am 1. Oktober ebenfalls ihren 60. Geburtstag feierte. ({1}) Nachträglich die herzlichsten Glückwünsche unseres Hauses! Nun zum Amtlichen: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Europapolitik, insbesondere zum Stand der Regierungskonferenz 2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Zum Ablaut der Sondersitzung des Europäischen Rates am 5. Oktober 1996 in Dublin - Drucksache 13/5723 3. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern 4. Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner Schulz ({2}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aufbau Ost wirksam voranbringen - Drucksache 13/5722 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt und der Fraktion der SPD: Eine Zuspitzung der sozialen und wirtschaftlichen Krise in Ostdeutschland abwenden - Drucksache 13/5732 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bericht der Bundesregierung zur deutschen Einheit - Drucksache 13/5731 7. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({3}) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung ({4}) - Drucksachen 13/5676, 13/5730 8. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zu Forderungen nach Einführung einer Autobahn-Vignette 9. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({5}) zu dem Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes - Drucksachen 13/1207, 13/4788, 13/5254, 13/5641 10. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Sofortprogramm zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in den Krankenkassen - Drucksache 13/5726 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Kurzhals, Gunter Weißgerber, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Braunkohlesanierungsgesellschaften erhalten -Beschäftigungsverhältnisse sichern - Drucksache 13/5225 12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Lengsfeld, Antje Hermenau, Werner Schulz ({6}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Braunkohlereviere ökologisch sanieren - Drucksache 13/5721 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 125. Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. September 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Überleitungsregelungen für das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet ({7}) - Drucksache 13/5587 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({8}) Rechtsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann rufe ich die Tagesordnungspunkte 2 a bis c sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf: ZP1 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Europapolitik, insbesondere zum Stand der Regierungskonferenz 2. a) Vereinbarte Debatte zur Europapolitik und zum Sondergipfel am 5. Oktober 1996 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({9}) - zu dem Antrag der Fraktion der SPD Forderungen an die Konferenz zur Überprüfung des Maastricht-Vertrages zur Schaffung eines europäischen Beschäftigungspaktes und einer europäischen Sozialunion - zu dem Antrag der Abgeordneten Manfred Müller ({10}), Hanns-Peter Hartmann, Dr. Willibald Jacob und der Gruppe der PDS Eine gemeinsame Beschäftigungs- und Sozialpolitik für die Europäische Union - zu dem Antrag des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Regierungskonferenz '96 als Wegbereiterin für eine soziale und ökologische Reform der Europäischen Union - Drucksachen 13/4002, 13/4072, 13/4074, 13/4922 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Susanne Tiemann Günter Gloser Dr. Helmut Haussmann c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({11}) zu dem Antrag der Gruppe der PDS Grundrechte für die in der Europäischen Union lebenden Menschen - Drucksachen 13/2457, 13/4499 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Geis Dr. Jürgen Meyer ({12}) ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zum Ablauf der Sondersitzung des Europäischen Rates am 5. Oktober 1996 in Dublin - Drucksache 13/5723 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({13}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Zur vereinbarten Debatte liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sondertagung des Europäischen Rates in Dublin hat die Entschlossenheit der Europäischen Union zur weiteren Reform und Integration bekräftigt. Ziele wie Zeitplan für den neuen Vertrag wurden untermauert, und trotz der vor uns liegenden schwierigen Agenda gilt: Die Europäische Union hält Kurs. Das war und ist das Signal von Dublin. Bis zum Ende dieses Jahrhunderts geht es für die Europäische Union um Richtungsentscheidungen, die das Gesicht unseres Kontinents und seine Stellung in der Welt auf Jahre hinaus prägen werden. Die Bundesregierung ist sich mit allen politischen Kräften im Deutschen Bundestag einig: Das Ziel kann nur ein vereintes, bürgernahes und wettbewerbsfähiges Europa sein. ({0}) Dieser europapolitische Grundkonsens ist von großer Bedeutung. Er betrifft die für die Zukunft unseres Landes zentrale Weichenstellung. Das hat der Deutsche Bundestag in seiner Entschließung vom letzten Dezember zu Recht bekräftigt. Der Plan für den Um- und Ausbau der Europäischen Union, die Agenda 2000, sieht vor: die Schaffung einer stabilen gemeinsamen europäischen Währung ab Januar 1999, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sechs Monate nach Ende der Regierungskonferenz mit Malta, Zypern und mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten, einen neuen Eigenmittelbeschluß bis Ende 1999 und die Reform der Agrar- und Strukturpolitik. Schließlich - das war das zentrale Thema in Dublin - gehört zur Agenda 2000 eine termingerechte und substantielle Revision des Maastricht-Vertrages. Dazu wurde in Dublin folgender Fahrplan beschlossen: Erstens. Die irische Präsidentschaft wird bis zum Europäischen Rat am 13./14. Dezember für die strittigen Kernpunkte der Regierungskonferenz Lösungen vorschlagen und einen ersten Vertragstext vorlegen. Dabei soll es keine Denkverbote geben. Zweitens. Der Europäische Rat wird das bewerten und den Verhandlungen für die dann unter niederländischer Präsidentschaft beginnende Endphase der Regierungskonferenz weitere Zielvorgaben machen. Drittens. Auf dem Europäischen Rat in Amsterdam im Juni 1997 muß es dann zu einem Abschluß mit substantiellen Ergebnissen kommen. Ich sehe nicht, wie sonst eine größere Mitgliederzahl verkraftet werden könnte. ({1}) All das erfordert Entscheidungen, die in ihrer Tragweite mit den Entscheidungen der 50er Jahre zu vergleichen sind, als die Grundlagen für das heutige Europa geschaffen wurden. Auch wir brauchen heute den Mut und das Augenmaß der Gründerväter und nicht Euroskeptizismus. Davor kann ich wirklich nur warnen. ({2}) Immer wieder, wenn an diesem Europa herumkritisiert wird, muß man denen, die kritisieren, sagen: Die Europäische Union ist nach wie vor Modell für die weltweit stattfindenden regionalen Zusammenschlüsse. Sie sind ihr nachgebaut worden, und sie werden diesem Europa immer noch nachgebaut. Dieses Europa ist Hoffnungsträger für ganz Mittel- und Osteuropa. Die Nachbarn im Osten wie im Süden klopfen an unsere Tür. Wir haben insbesondere bei der Erweiterung wegen unserer Vergangenheit und wegen des Geschenks der Wiedervereinigung, das es uns ermöglicht hat, daß der östliche Teil Deutschlands im Gegensatz zu diesen Ländern quasi automatisch mit der Wiedervereinigung der Europäischen Union und der NATO beitreten konnte, eine ganz besondere Verantwortung und auch Verpflichtung diesen Ländern gegenüber. ({3}) Seit ihrem Bestehen hat die Europäische Union immer wieder schwierige Hürden zu überwinden gehabt. Aber es ging trotz aller Rückschläge und trotz manchem Pessimismus immer wieder nach vorne. Ich bin ganz sicher: So wird es auch mit der Regierungskonferenz sein. Wir haben für die substantiellen Fortschritte, die wir dringend brauchen, acht Monate Zeit. Man muß sich dabei immer bewußt bleiben: In diesen Verhandlungen geht es auch um nicht unwesentliche Souveränitätsverzichte. Der Widerstand hiergegen kann oft nur ganz am Ende überwunden werden. Das hat sich schon bei Maastricht I gezeigt. Damals haben die Niederlande als Vorsitz ihr Geschick unter Beweis gestellt. Ich bin sicher, daß auch unter der niederländischen Präsidentschaft in Amsterdam die Regierungskonferenz zu einem guten Ende gebracht werden wird. Für die Annäherung der Standpunkte, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt natürlich der deutschfranzösische Schulterschluß ganz entscheidend. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß er sich auch in dieser wichtigen Phase bewähren wird. Wir haben für den Europäischen Rat in Dublin im Dezember eine gemeinsame Initiative angekündigt. Wir bleiben dazu mit unseren französischen Freunden in engster Abstimmung. Es ist ganz entscheidend, daß immer wieder gesagt wird, daß dies von unseren Partnern und Freunden nicht mißtrauisch beäugt, sondern daß geradezu erwartet wird, daß wir zusammen mit den Franzosen vorangehen. ({4}) Natürlich will ich auch Großbritannien zurufen, daß wir es im Herzen Europas und nicht an der Peripherie wünschen. Dazu müssen allerdings noch ein paar Schritte vorwärts gegangen werden. ({5}) Was wir uns vorgenommen haben, ist aus gutem Grund ehrgeizig. Die Europäische Union ist schließlich kein Selbstzweck. Sie ist dazu da, um ihren Bürgern ein wenig mehr an innerer und äußerer Sicherheit zu geben und die Zukunft unserer gemeinsamen Kinder und Enkel zu sichern. Sie muß natürlich vor allem Ost und West endgültig zusammenbringen. Das Fenster der Gelegenheit dafür wird nicht unbegrenzt offen stehen. Deshalb darf es - das ist ganz entscheidend - keine Terminverschiebungen geben, ({6}) und deshalb müssen auch alle Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung gerecht werden und jetzt das gemeinsame Interesse voranstellen. Allerdings - da sind wir uns ja, glaube ich, einig -: Kein Schiff darf auf Dauer dem ganzen Konvoi das Tempo diktieren. Daher ist die Aufnahme der Flexibilitätsklausel in den Vertrag für den Fortgang der europäischen Einigung so außerordentlich wichtig. Länder, die willens und fähig sind, müssen schneller voranschreiten können, und zwar im einheitlichen institutionellen Rahmen und mit Zustimmung aller. Das Prinzip der Flexibilität muß für jeden Pfeiler des Vertrags besonders ausgestaltet werden. Durch sie darf unter keinen Umständen der erreichte Besitzstand gefährdet werden, vor allem auch nicht der Binnenmarkt. ({7}) Wir wollen die eine Europäische Union, nicht drei oder vier Sonderunionen. Das wäre ein ganz schlechter Tausch. Deshalb ist ganz wichtig, daß die engere Zusammenarbeit allen offenstehen muß, die an ihr teilnehmen wollen, allerdings auch teilnehmen können. Meine Damen und Herren, Dublin hat gezeigt, in den Grundfragen stimmen wir mit vielen anderen Mitgliedstaaten überein. Es bedarf aber noch in einer ganzen Reihe von Punkten - das muß man deutlich und klar sagen - einer weiteren Annäherung. Worum geht es? Erstens. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muß zu dem werden, was ihr Name verspricht. Das heißt: mehr Effizienz, Kontinuität, Solidarität, größere Kohärenz, vor allem eben aber auch größere Sichtbarkeit, verbesserte Entscheidungsverfahren, Einstieg in Mehrheitsentscheidungen und weg von der Zwangsjacke der Einstimmigkeit. Das ist fast das Wesentlichste. ({8}) Fragen der nationalen Sicherheit und Verteidigung werden auf absehbare Zeit weiterhin einstimmig entschieden werden müssen. Aber es gilt jetzt, dem Prinzip der Mehrheitsentscheidungen auch in der Außenpolitik - auch in der Außenpolitik! - zum Durchbruch zu verhelfen. Die EU braucht darüber hinaus in der Außen- und Sicherheitspolitik Gesicht und Stimme. Hierzu wollen wir einen Generalsekretär an der Spitze einer Planungs- und Analyseeinheit, der die Beschlüsse des Rates besser vorbereiten und dann auch besser durchsetzen kann. Der Generalsekretär soll weiterhin dem Rat verantwortlich bleiben. Längerfristig muß die Union auch zu einer Sicherheitsgemeinschaft werden. Das bedeutet eine gemeinsame Verteidigungspolitik und zu gegebener Zeit auch eine gemeinsame Verteidigung. Deshalb sollen im Vertrag verankert werden: die Perspektive der Integration der WEU in die EU in mehreren Phasen, die Leitlinienkompetenz des Europäischen Rates gegenüber der WEU, die Aufnahme der sogenannten Petersberg-Aufgaben der WEU in den neuen EU-Vertrag und schließlich die Aufnahme einer politischen Solidaritätsklausel. Zweifellos richtig ist, daß Institutionen und Mehrheitsprinzip allein noch keine einheitliche Außenpolitik schaffen. Wir alle wissen, daß das letztlich die Frage des politischen Willens ist und natürlich auch die Frage der Beurteilung der eigenen Interessen. Aber die gesamte Geschichte der europäischen Einigung und gerade auch der Binnenmarkt haben gezeigt, daß gemeinsame Institutionen und Mehrheitsprinzip auch irgendwo zwangsläufig mehr Gemeinsamkeit erzeugen. Zweitens. Wir brauchen eine engere unionsweite Zusammenarbeit in den Problembereichen Asyl, Zuwanderung, Bekämpfung von internationalem Drogenhandel, Terrorismus und organisierter Kriminalität. Wenn es aus der Sicht unserer Bürger eine Nagelprobe für europäische Lösungskonzepte und Kompetenz gibt, dann auf diesem Gebiet der Innen- und Rechtspolitik. Europa ohne Grenzen darf eben nicht zum Freibrief für grenzüberschreitende organisierte Kriminalität werden. Deshalb erhofft sich die Bundesregierung in diesem Bereich bereits von Dublin im Dezember konkrete und substanzielle Zwischenergebnisse. Das heißt konkret: Vergemeinschaftung bestimmter Bereiche wie Asylfragen, Visa, Zoll, Ausbau von Europol zu einer schlagkräftigen europäischen Polizei, stärkere Rolle für Europäische Kommission und Europäischen Gerichtshof gerade auch im Bereich von Innenpolitik und Justiz. Drittens. Wir müssen die Organe der Union an die geplante Erweiterung anpassen. Das verlangt einen effizienteren Rat und bedeutet Überprüfung der Stimmengewichtung und des Anwendungsbereichs für Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit und damit Stärkung der Kommission. Sie braucht mehr Geschlossenheit und muß ihr Gewicht besser einbringen. Die Zahl der Mitglieder der Kommission muß begrenzt und - das ist ganz wichtig und hat in Dublin am vergangenen Wochenende eine große Rolle gespielt - die Autorität des Kommissionspräsidenten gegenüber seinen Kollegen muß gestärkt werden. Das muß auch durch Regelungen zum Ausdruck kommen. ({9}) Wir brauchen eine Reform des Europäischen Parlaments. Überall, wo der Rat als Gesetzgeber auftritt und mit qualifizierter Mehrheit entscheidet, sollte das Europäische Parlament im Prinzip gleichberechtigt mitentscheiden können. ({10}) Die Rolle des Europäischen Parlaments bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten und der anderen Mitglieder der Kommission muß deutlich gestärkt werden. Gleiches gilt für die Verantwortlichkeit der Kommission gegenüber dem Europäischen Parlament. Das Parlament sollte nicht mehr als 700 Abgeordnete zählen. Die Devise „schlanker Staat" muß auch für Europa gelten. Die Rolle der nationalen Parlamente in den europäischen Entscheidungsprozessen muß ebenfalls besser als bisher definiert werden. Ganz wichtig ist schließlich: Subsidiarität, auf deren Einhaltung wir Deutsche in besonderer Weise drängen, muß zu einem Leitmotiv bürgernaher europäischer Einigung werden. Das wollen wir vertraglich absichern. Es bedeutet keine Renationalisierung der deutschen Europapolitik, aber eine klare Aufgabenteilung zwischen Brüssel, Bonn und den Ländern. ({11}) Meine Damen und Herren, die Opposition hat die Bundesregierung aufgefordert, in der Regierungskonferenz für die Aufnahme eines Vertragskapitels zur Beschäftigung einzutreten. 18 Millionen Arbeitslose stellen ohne Zweifel das Problem Nummer eins in Europa dar. Diesem Problem müssen und wollen wir uns auch stellen. Wir müssen es aber richtig machen. Mit einer Vertragsänderung allein schaffen wir nicht einen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz. Wir meinen, daß das eher von den eigentlichen Herausforderungen ablenkt, die alle Mitgliedstaaten zunächst einmal bei sich zu Hause bewältigen müssen, ({12}) nämlich Deregulierung, Sanierung der öffentlichen Haushalte und vor allem Senkung der Steuern. ({13}) Nur so können wieder mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Diejenigen, die sich für ein Beschäftigungskapitel einsetzen, haben - nach unserer Meinung jedenfalls - bisher nicht überzeugend darlegen können, was es konkret bringen soll und wie gleichzeitig verhindert werden kann, daß es neue kostspielige Ausgabenprogramme nach sich zieht. ({14}) Ich will ganz offen sagen, daß wir letzteres in erster Linie fürchten. Deshalb ist die Bundesregierung gegen eine Vertragsänderung. Wir sollten der Europäischen Union nichts aufbürden, was sie nicht einlösen kann. Das schafft eher Europaverdrossenheit als Abhilfe in den dringend notwendigen Fragen. ({15}) Aber wir können und wollen auf europäischer Ebene eine bessere Koordinierung der Wirtschafts- und BeBundesminister Dr. Klaus Kinkel schäftigungspolitik der Mitgliedstaaten erreichen. Darauf wirken wir hin. Die Vorbereitung der Beitrittsverhandlungen laufen auf Hochtouren. Zur Zeit wertet der EU-Kommissar van den Broek die Fragebögen zur Beitrittsfähigkeit der Kandidaten im Detail aus. Die Stellungnahme der Kommission wird unmittelbar nach Abschluß der Regierungskonferenz vorgelegt werden. Ich habe am Wochenende in Dublin wieder betont, wie wichtig es ist, daß die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Zypern, Malta und den Staaten Mittel- und Osteuropas wie vorgesehen, also sechs Monate nach Abschluß der Regierungskonferenz, stattfindet. Dabei geht es einfach um ganz wichtiges Vertrauenskapital. Wir dürfen das Vertrauen, das diese Länder in uns setzen, um Gottes Willen nicht enttäuschen. Das wäre ein schrecklicher Verlust, den wir in Europa so schnell nicht verkraften würden. ({16}) Richard von Weizsäcker hat über die deutsche Einheit gesagt: „Sich vereinen heißt Teilen lernen." Das gilt auch für Europa. Wir haben ein gemeinsames Schicksal. Dem einen Teil in diesem Europa kann es auf Dauer nicht gutgehen, wenn es dem anderen Teil auf Dauer schlechtgeht. Wir sollten vor allem auch nicht vergessen, welche Chancen die Erweiterung der Europäischen Union um die mittel- und osteuropäischen Länder bringt. Unsere Exporte in die Nachbarländer Polen, Ungarn und Tschechien sind seit 1994 um über 30 Prozent gestiegen. ({17}) Mit einem Volumen von 59,7 Milliarden DM haben wir 1995 nach Mittel- und Osteuropa mehr exportiert als in die USA. Wir brauchen das ganze Potential Europas, übrigens auch zur Selbstbehauptung der Europäischen Union im globalen Wettbewerb. ({18}) Unter diesem Vorzeichen ist auch die gemeinsame Währung zu sehen. Deutschland muß im Jahr 1997 die Maastrichter Stabilitätskriterien für die Wirtschafts- und Währungsunion erfüllen. Diese Währungsunion ist der unentbehrliche Garant für die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland. Auf dem Status quo zu beharren hilft nicht. Das Rad der Globalisierung wird niemand mehr zurückdrehen. Die Frage ist lediglich, ob wir von dieser Entwicklung profitieren oder nicht, und deshalb brauchen wir die Währungsunion. ({19}) Der Ausbau der Partnerschaft der Europäischen Union mit ihren Nachbarregionen in Osteuropa und im Mittelmeerraum muß die Erweiterung flankieren. Für die neue europäische Sicherheitsarchitektur zentral bleibt die NATO-Erweiterung und die Schaffung einer besonderen Sicherheitspartnerschaft mit Rußland und der Ukraine. Europa will und wird sich nicht mit dem Rücken zu Rußland und zur Ukraine vereinen. Dies scheint man in Moskau trotz der grundsätzlich fortbestehenden Einwände gegen die NATO-Erweiterung mehr und mehr anzuerkennen. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß es gelingen wird, eine Sicherheitsordnung für Europa zu finden, in der sowohl Rußland als auch die Nachbarn wie Polen, Tschechien oder Ungarn ihre legitimen Interessen aufgehoben finden. Dazu wird auch der OSZE- Gipfel Anfang Dezember in Lissabon Entscheidendes beitragen. ({20}) Der unentbehrliche Rückhalt für all diese Entwicklungen ist der engere politische und wirtschaftliche Zusammenschluß über den Atlantik hinweg. Die europäisch-amerikanische Partnerschaft ist und bleibt der Schlüssel für Sicherheit und Wohlstand auf beiden Seiten des Atlantiks. Meine Damen und Herren, wir haben eine Vision, und diese Vision heißt vereintes Europa. Aber wir müssen auch den Pragmatismus und die Kraft aufbringen, diese Vision - allen Schwierigkeiten und Rückschlägen zum Trotz - Schritt für Schritt zu verwirklichen. Dabei gilt es, gegenüber unseren Bürgern immer wieder die drei Fragen zu beantworten, auf die

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Warum Europa? Wie Europa? und: Für wen Europa? Die Antwort lautet: Die europäische Einigung ist die Lehre aus der Geschichte und die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Unser Ziel ist Gemeinsamkeit unter Bewahrung der Vielfalt und der Eigenart der europäischen Nationen. Wir wollen dieses Europa für die Menschen, die in ihm wohnen, arbeiten und dort ihr privates Glück suchen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe, möchte ich auf der Tribüne die Auswärtige Kommission des Nationalrats der Schweiz unter der Leitung von Herrn Ruffy ganz herzlich begrüßen. Sie konnten eigentlich keinen besseren Termin wählen, um bei uns zu sein. Herzlich willkommen! ({0}) Ich weiß, wie in der Schweiz diskutiert und gerungen wird. Europa wird schon noch werden, auch mit der Schweiz. ({1}) Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob es zulässig ist, aber ich möchte hinzufügen: Gern hätten wir natürlich auch die Schweizer Kolleginnen und Kollegen als Mitglieder der Europäischen Union begrüßt. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion bewertet die Ergebnisse des Gipfels vom 5. Oktober vollständig anders, als es Außenminister Kinkel hier in seiner wenig inspirierenden Rede getan hat. ({1}) Um so mehr muß ich an dieser Stelle bedauern, daß Bundeskanzler Kohl heute bei dieser Debatte offensichtlich nicht anwesend ist; denn schließlich handelte es sich um den Gipfel der Staats- und Regierungschefs, und der Respekt vor dem Parlament gebietet es, dann an solchen Debatten auch teilzunehmen. ({2}) Aus unserer Sicht hat dieses Treffen die erhofften Impulse für die Konferenz zur Überprüfung des Maastricht-Vertrags nicht gebracht. Das Ziel, bei der Beseitigung der Stagnation in bezug auf die Arbeiten dieser Konferenz und auf Europa insgesamt einen Schritt voranzukommen, ist verfehlt worden. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt dazu - ich zitiere -: „Die Briten sind nicht allein das Hindernis." Ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Trotz aller Europabekundungen, die heute morgen - allerdings etwas lau - vorgetragen wurden, ({3}) ist es so, daß die Bundesregierung die eigentliche Bremse darstellt. Sie laviert; sie hat kein Konzept. Intern stellt sie offensichtlich in Aussicht, daß die notwendigen Reformen der EU, die eigentlich im Rahmen der jetzt laufenden Maastricht-II-Konferenz beschlossen werden sollten, auf weitere, sich anschließende Konferenzen vertagt werden sollen. Ein solches Verfahren zeigt ein bemerkenswertes Maß an Verantwortungslosigkeit. ({4}) Wer die anstehenden notwendigen Reformen schon heute zur Vertagung anmeldet oder dies auch nur signalisiert, der wird die notwendigen Veränderungen der EU gerade im Vorfeld der Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder nicht erreichen können, der macht die EU handlungsunfähig - und das am Ausgang unseres Jahrhunderts, wo wir eine handlungsfähige EU brauchen. ({5}) Er wird in der Konsequenz die EU auf den großen Markt und ab 1998 auf die dann vielleicht kommende europäische Währungsunion reduzieren. ({6}) Ein solcher Harakiri-Kurs würde aber bedeuten, daß nur die Finanzminister und die Europäische Zentralbank das Sagen hätten. Damit würde der Konsens aufgekündigt, daß eine politische Union die Ergänzung zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein muß. ({7}) Damit wäre auch die Bekämpfung des drängendsten Problems, nämlich des Problems der Massenarbeitslosigkeit, für dessen Lösung es auf europäischer Ebene die beste Ausgangsposition gibt, auf fatale Weise vertagt. Natürlich ist dieses Verhalten der Bundesregierung einerseits ein Ergebnis unkoordinierter Politik. Aber der Kern des Verhaltens - das ist heute morgen wieder deutlich geworden - liegt tiefer. Die neokonservativ inspirierte Wirtschaftspolitik der Bundesregierung - Herr Kinkel hat doch heute morgen als einzige Antwort auf das Problem der Beschäftigung gesagt: Deregulierung - hat auch in der EU zu einem weiteren Absenkungswettlauf geführt. Das ist kein vernünftiges Konzept, um auf die Globalisierung zu reagieren; ({8}) denn dies führt zu wachsender Arbeitslosigkeit und zu Entlassungen von Arbeitnehmern im großen Umfang, während gleichzeitig hohe Gewinne eingefahren werden. Diese Politik führt dazu und hat dazu geführt - lesen Sie doch den Bericht des EU-Kommissars Monti -, daß Unternehmen die Nationalstaaten im großen Umfang um Steuern prellen, weil sie Steuern, wenn überhaupt, nur noch dort zahlen, wo sie am niedrigsten sind. ({9}) - Ja, logisch. - Die Kosten für Schulen, Straßen und Leistungen des Sozialstaates zahlen aber diejenigen in unserem Land, die hierbleiben müssen und nicht Steuerflucht begehen können. Diesem Verhalten mancher Unternehmen und Manager muß ein Ende gesetzt werden; denn es ist schiere Verantwortungslosigkeit, wenn in unserer Gesellschaft so gehandelt wird. ({10}) Die richtige europäische Strategie - auch dazu vermisse ich heute morgen ein Wort - ist es, bei der Veränderung des Maastricht-Vertrages die gesetzlichen und vertraglichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß es einen einheitlichen effektiven Mindeststeuersatz für Unternehmen in allen EU-Mitgliedsstaaten gibt, der verhindert, daß die Länder der EU, die Menschen und die Arbeitnehmer gegeneinander ausgespielt werden. ({11}) Wir wollen deshalb, daß Regelungen gegen Steuerdumping gemeinsam mit der neuen Finanzierung der Europäischen Union 1999 beschlossen werden und daß das miteinander verkoppelt wird. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch einen Beschäftigungsaspekt - das zeigt der Monti-Bericht -: Wenn die Arbeit immer teurer und immer mehr belastet wird, der Anteil der Unternehmensteuern am Gesamtaufkommen aber sinkt, wirkt sich das in wachsender Arbeitslosigkeit aus. Daß die EU-Mitgliedsstaaten und an der Spitze die Bundesregierung die Massenarbeitslosigkeit hinnehmen, führt dazu, daß die EU im Bewußtsein der Bevölkerung immer mehr an Akzeptanz und Unterstützung verliert. Das ist doch das Drama! Die Bundesregierung verhält sich dabei besonders schamlos, indem sie ihre Leistungskürzungspakete zu Lasten der Arbeitnehmer und Schwächsten in der Gesellschaft mit dem Etikett versieht, sie seien notwendig, um die Maastricht-Kriterien einzuhalten. Bei einer Anhörung, die unsere Fraktion durchgeführt hat, waren alle Wirtschaftsinstitute einhellig der Meinung, daß diese Leistungskürzungspakete wegen ihrer negativen Wirkungen auf die Einkommen der Menschen eher negative beschäftigungspolitische Konsequenzen haben und uns in der Folge weiter von den Maastricht-Kriterien wegbringen, als es ohne sie der Fall wäre. ({13}) - Dann müssen Sie einmal zur Anhörung kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, abseits jeder taktischen Diskussion: Mit dieser Politik, die die Menschen von der EU entfremdet, setzt Helmut Kohl das europäische Einigungswerk und sein eigenes Lebenswerk, das er mit Europa verbunden hat, aufs Spiel. Helmut Kohl und seine Bundesregierung wollen nicht einsehen, daß der soziale Zusammenhalt, die Erhaltung der sozialen Sicherungen und des sozialen Rechtsstaates die zentralen Voraussetzungen dafür sind, daß Menschen und Staaten bereit sind, die Risiken der Globalisierung des Marktes überhaupt auf sich zu nehmen. Der soziale Rechtsstaat, der zwar in unterschiedlicher Ausprägung, aber doch im Grundgedanken gleich in allen westeuropäischen Ländern gewachsen ist, ist eben d e r europäische Standortfaktor positiver Art. Deshalb sind Länder, die ihre Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht sozial schützen, die ersten, die nach Protektionismus rufen, wenn es schwierig wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Standortvorteil unseres Landes ist der Sozialstaat, der soziale Rechtsstaat, der soziale Frieden. Alle Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P., die am 13. September für das Leistungskürzungspaket und damit für die Kürzung der Lohnfortzahlung gestimmt haben, mußten wissen, welchen gesellschaftlichen Großkonflikt sie da auslösen würden ({14}) und daß sie damit den wichtigsten Standortfaktor in unserem Land, den sozialen Frieden, gefährdeten. Jeder und j ede von Ihnen, die zugestimmt haben, tragen Verantwortung für die im Lande entstandene Situation. ({15}) Mit Verlaub: Ich will und kann auch nicht begreifen, warum die Mehrheit des Präsidiums des Deutschen Bundestages gestern eine von der SPD-Fraktion beantragte Aktuelle Stunde zur Frage der Lohnfortzahlung mit dem Argument abgelehnt hat, das Thema sei nicht aktuell. ({16}) Ich sage Ihnen: Im Deutschen Bundestag gibt es nichts Aktuelleres, als die Frage zu diskutieren, die in den letzten Wochen und Monaten die Menschen besonders empört und auf die Straße gebracht hat. Es stünde dem Deutschen Bundestag gut an, sich mit dieser Frage zu befassen. ({17}) Wir müßten, so wird argumentiert, den Sozialstaat als Reaktion auf die Globalisierung abbauen. ({18}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es soll in der EU, in einer Region, in der 400 Millionen Menschen leben und in der das Bruttosozialprodukt über dem der USA liegt, nicht zu schaffen sein, die wichtigste Errungenschaft aller unserer Länder, nämlich den sozialen Rechtsstaat, gemeinsam zu sichern, zu erhalten und zu entwickeln? Wer diese Chance nicht für gemeinsame Kooperationen nutzt und nicht dafür sorgt, den dauerhaft steigenden Arbeitslosenzahlen entgegenzuwirken, erweist sich wie die Bundesregierung und Helmut Kohl - ich sage das noch einmal - objektiv gesehen als der größte Bremser in der Europäischen Union - wider seine eigenen Intentionen; das will ich freundlicherweise hinzufügen. ({19}) - Ja, ich habe die internationale Presse gelesen. Welch ein deutsch-französischer Dialog! Der frühere französische Premierminister Fabius schlägt Anfang September vor, Beschäftigung als Ziel der Europäischen Union im Vertrag aufzunehmen. Ihm antwortet der famose Staatsminister Hoyer - ich zitiere -: Aber die nationalen Regierungen dürfen ihre Verantwortung hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen nicht auf die EU abschieben. Dies wäre aber genau der Fall, wenn Beschäftigung ein Ziel des Vertrags würde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo ist denn die nationale Verantwortung der Bundesregierung für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit? ({20}) Sie macht doch gerade alle Möglichkeiten der Arbeitsmarktpolitik kaputt. ({21}) Dabei war in Europa ein richtiger Ansatz gemacht worden, nämlich die Währungsunion. Ich sage an dieser Stelle ausdrücklich - durchaus mit einem gewissen Maß an Kritik an Meinungen aus den eigenen Reihen -: Die Diskussion darüber in Deutschland war allzu engstirnig. Denn wir brauchen ein Gegengewicht zu der Währung, die nicht nur die internationale Leitwährung, sondern auch die nationale Währung der USA ist. Der Dollar braucht ein Gegengewicht. ({22}) Die US-Regierungen können bis heute die heimischen Wirtschaftsprobleme über ihre Währungspolitik nach außen auf alle anderen Länder abwälzen und auf die Schultern anderer verteilen. Das haben viele europäische Länder gespürt. Die Einführung des Euros und die Europäische Währungsunion sind also auch Instrumente für mehr soziale Gerechtigkeit in der Welt und für gerechtere Währungsbeziehungen. ({23}) Aber - damit bin ich bei einem Punkt, den ich zu Beginn meiner Rede angesprochen habe -: Die Währungsunion allein dem Sagen der Europäischen Zentralbank und dem der Finanzminister zu unterwerfen und nur auf den großen Markt zu setzen, bringt uns nicht weiter. Markt ohne Staat führt auf Dauer zu Anarchie. Das können Sie bei den Erfindern der Sozialen Marktwirtschaft nachlesen. ({24}) Um die Währungsunion zu ergänzen und im skizzierten Sinn zu nutzen, brauchen wir ein politisches Europa, ein demokratisches Europa, eigentlich eine europäische Regierung und nicht eine Versammlung national entsandter Minister oder ihrer beamteten Emissäre ohne Verantwortung. Dazu brauchen wir Öffentlichkeit. Nur so kann der Perversion entgegengewirkt werden, die bei manchen Ratsentscheidungen und auch im Verhalten der Bundesregierung immer wieder deutlich wird. Jetzt nenne ich Ihnen zwei Beispiele. Bundesumweltministerin Merkel erklärt gegenüber den Umweltorganisationen: Das Ziel der nachhaltigen Entwicklung muß im Maastricht-Vertrag verankert werden. Im Juni dieses Jahres stimmt der deutsche Finanzminister im Rat der Finanzminister aber zu, daß durch Streichung der entsprechenden Haushaltslinie den Umweltorganisationen alle Finanzmittel entzogen werden. Das ist ein Skandal, eine doppelbödige Politik. Nur öffentliche Ratssitzungen können dazu beitragen, daß die Öffentlichkeit auch wirklich weiß, was gespielt wird. ({25}) Heute morgen wurde wiederum gesagt, die Beschäftigungspolitik sei in der Europäischen Union deshalb von Übel, weil sie zu mehr Finanzmitteln führe. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wo sind denn der Finanzminister und der Agrarminister? ({26}) Im Agrarministerrat werden Mittel in Höhe von 1,9 Milliarden DM für Stützungsmaßnahmen, das heißt, für Subventionen in der Landwirtschaft, neu genehmigt. In der gleichen Woche stimmt kein einziger der Finanzminister - auch der deutsche nicht - dafür, daß Mittel, die im EU-Haushalt vorgesehen sind, zurückfließen, damit eine finanzielle Grundlage für die Umsetzung der Beschäftigungsinitiative, des Paktes für Vertrauen, den Jacques Santer entwickelt hat, besteht. So etwas halte ich für einen absoluten Skandal. ({27}) Hier wird Politik gegen die Beschäftigten und gegen die Menschen im Lande gemacht. ({28}) Heute morgen hat Herr Kinkel sich schon scheibchenweise daran herangearbeitet - im schriftlichen Text war es noch anders zu lesen -: Die Blockade bei der Aufnahme des Zieles einer aktiven Beschäftigungspolitik in den Maastricht-Vertrag muß weg. Die Bundesregierung muß ihre Vorbehalte gegen die Aufnahme einer entsprechenden Verpflichtung in den Maastricht-Vertrag aufgeben. Ohne verbindliche Regelungen für eine aktive Beschäftigungspolitik gibt es in der Bevölkerung keine Akzeptanz für den überarbeiteten Maastricht-Vertrag. Ohne verbindliche Regelungen für eine Beschäftigungspolitik gibt es keine Ratifizierung des dann überarbeiteten Vertrags. ({29}) Das müssen Sie wissen. Sie scheinen, schrittweise jedenfalls, zu verstehen, daß man daraus Konsequenzen ziehen muß. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe bereits angesprochen, daß es unbegreiflich ist, warum die Bundesregierung in der Praxis eine Strategie betreibt, den Agraranteil im EU-Haushalt immer wieder auszuweiten. Er liegt schon jetzt bei rund 50 Prozent. Unser Ziel ist, Exportsubventionen und Marktsubventionen zu reduzieren und dafür zu sorgen, daß Mittel zum Beispiel in Forschung und Technologie einfließen können und daß in diesem Bereich Europa zum Vorreiter moderner und damit auch ökologisch sinnvoller Technologien gemacht werden kann. Das schafft Perspektiven, das schafft Arbeitsplätze, und das schafft auch Akzeptanz für die Europäische Union. Ich fordere die Bundesregierung auf, ihren Widerstand in der Frage der aktiven Beschäftigungspolitik aufzugeben. Ich frage nochmals: Warum sieht der Europäer Helmut Kohl nicht die Gefahren seiner Politik für die Europäische Union? Nimmt er sie nicht wahr? Nimmt er sie nicht mehr wahr? Ist er so in der Standortideologie der Neoliberalen verfangen? Oder wird hier nur Verhandlungstaktik betrieben? Das wäre zynisch; das käme die arbeitslosen Menschen in Europa teuer zu stehen und ginge über ihre Interessen hinweg. ({30}) Bis jetzt konnten sich die Bundesregierung und Helmut Kohl hinter der englischen Regierung und deren Ordnungspolitik verschanzen. Das wird vom nächsten Jahr an - Gott und dem Wähler sei Dank - nicht mehr möglich sein. Aber wahr ist: Solange Deutschland bremst, kommt die Europäische Union nicht voran. Mit Ernst und Nachdruck sage ich den vielen Kolleginnen und Kollegen im Hause, die in europäischen Fragen, wie ich weiß, engagiert sind: Das europäische Modell eines Kapitalismus mit politischen, sozialen und ökonomischen Grundrechten, also die soziale Marktwirtschaft, mit einem funktionierenden sozialen Rechtsstaat als unverzichtbarem Bestandteil ist die Antwort Europas auf den Faschismus. Der soziale Rechtsstaat beruht auf der fundamentalen Erfahrung, daß nur Menschen, die ein Dach über dem Kopf haben, die Arbeit finden und deren Existenz gesichert ist, sich Demokratie zu eigen und sie lebendig machen. Die europäische Alternative zum Laissezfaire-Kapitalismus amerikanischer Prägung wird es entweder in einer demokratisch legitimierten Europäischen Union oder gar nicht geben. Ich bedanke mich. ({31})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort erhält jetzt der Kollege Dr. Gero Pfennig.

Dr. Gero Pfennig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das altbekannte Klagelied der SPD war zu erwarten. ({0}) Es ist dennoch schade. Man könnte der Bevölkerung ja auch einmal demonstrieren, daß es bei großen europapolitischen Orientierungen über die Parteigrenzen hinweg erhebliche Übereinstimmungen gibt. ({1}) Statt dessen beginnt die Frau Kollegin WieczorekZeul, sich über die Abwesenheit des Bundeskanzlers zu mokieren, ({2}) statt einmal das Protokoll des Ältestenrates vom 26. September nachzulesen. Dort wurde bereits angekündigt, daß der Bundeskanzler in dieser Stunde einen wichtigen Staatsgast empfängt. ({3}) Es ist eben so: Frau Wieczorek-Zeul kann aus ihren bekannten Verhaltensmustern auch bei der Europapolitik nicht ausbrechen. Die SPD sollte endlich einmal verstehen, daß es in der Maastricht-II-Konferenz und auch bei der Währungsunion um Themen geht, die zu wichtig sind, als daß man damit tagespolitische oder wahltaktische Spielchen treibt. Das hat sich für Sie doch schon bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg nicht bezahlt gemacht. ({4}) Ich will zur Klarstellung drei Punkte ansprechen. Das informelle Treffen der Staats- und Regierungschefs am 5. Oktober in Dublin, angeregt von Bundeskanzler Kohl und dem französischen Staatspräsidenten Chirac, war nie als Beschlußgipfel gedacht, sondern als Vorbereitungstreffen für die Dezember-Sitzung. Das Treffen am 5. Oktober markiert das Ende der Vorbereitungsphase durch Regierungsbevollmächtigte mit beschränkten Befugnissen. Die zentrale Botschaft dieses Treffens ist wichtiger, als es die Opposition wahrhaben will. Es wird nämlich der Konferenzfahrplan eingehalten, wie es der Bundesaußenminister eben gesagt hat. Damit wird es Ende 1997/Anfang 1998 zu Verhandlungen mit den beitrittswilligen Assoziationsstaaten Mittelosteuropas sowie mit Malta und Zypern kommen. Das ist die wichtige Botschaft. Um den Plan einhalten zu können, wird es einen Rahmenentwurf der irischen Präsidentschaft im Dezember geben. Dann werden - so hoffen wir es jedenfalls - konkrete Vertragstexte vorliegen, insbesondere im Bereich der Innen- und Justizpolitik, der Verbrechensbekämpfung und im Kampf gegen die Drogenmafia, damit wir endlich die europäische Dimension erreichen, die seit langem als Gegenstück zur Freizügigkeit dringend notwendig ist. Die Maastricht-II-Reform - das hat das Treffen deutlich gemacht - wird jetzt ernsthaft betrieben und nicht nur mit bloßen Lippenbekenntnissen, und zwar dank deutscher und französischer Initiative. Zu dieser Klarheit hat sicher auch die Gewißheit beigetragen, daß die europäische Währung in Übereinstimmung mit den Kriterien des Maastricht-I-Vertrages kommt. Der von Finanzminister Waigel vorgeDr. Gero Pfennig schlagene Stabilitätspakt hat daran maßgeblichen Anteil. Die in englischen Gutachten genannte Gleichung „Wenn die Deutschen wollen und die Franzosen können, dann kommt der Euro wie vorgesehen" geht offensichtlich auf, ({5}) wenn auch möglicherweise ohne die in diesen Gutachten ebenfalls genannte Folgerung, daß Großbritannien dann auch von Anfang an mitmachen solle. Alle übrigen Staaten aber unternehmen immense Anstrengungen, um die Konvergenzkriterien doch noch zu erreichen, bis im Frühjahr 1998 die notwendigen Entscheidungen getroffen werden. Nicht überraschend ist deshalb, daß der Euro erstmals auch Thema auf dem G-7- und Währungsfonds-Treffen in Washington gewesen ist. Natürlich wird es noch einige Schwierigkeiten geben, um die neue Vision von der Zukunft des Kontinents in Vertragstexte zu gießen, insbesondere im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch bei der Arbeitsweise und Stärkung der Institutionen. Der Bundestag hat der Bundesregierung mit seiner Entschließung vom Dezember 1995 hierzu die notwendige Richtschnur vorgegeben und sollte dies mit einem positiven Votum über die heute vorliegende Beschlußempfehlung der CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion fortsetzen. ({6}) Es ist schon bezeichnend, daß der Opposition, wie aus ihren Anträgen ersichtlich ist, offensichtlich die ganze Richtung nicht paßt, insbesondere im Bereich der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, obwohl auch in diesem Punkte die notwendigen Reformschritte zwischen Deutschland und Frankreich abgestimmt sind. Das beruht sicherlich zum Teil darauf, daß - was in diesem Hause bekannt ist - Frau Kollegin Wieczorek-Zeul ein gestörtes Verhältnis zur deutsch-französischen Zusammenarbeit hat. ({7}) Es beruht zum anderen aber natürlich auch darauf, daß die SPD sich innerhalb Europas mit ihren Ansichten völlig isoliert hat, und zwar auch gegenüber den anderen Sozialdemokraten in Europa. ({8}) - Sie, Herr Kollege Verheugen, waren bei diesen Sitzungen doch nie dabei. Die Opposition fordert immer wieder eine hervorgehobene Rolle der Gemeinschaft bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. ({9}) Richtig ist: Wenn die Europäische Union von den Bürgern akzeptiert werden soll, dann muß sie bürgerrelevante Probleme anpacken, zu deren Lösung sie effektiv beitragen kann, also dort, wo auch sichtbare Erfolge möglich sind. Gerade deswegen, meine Damen und Herren von der Opposition, ist doch das Hochspielen des Parts der Union bei der Beschäftigungsthematik höchst fragwürdig. ({10}) Denn - das wissen Sie ganz genau - auch zusätzliche Gemeinschaftsgelder für transeuropäische Netze, europäische Beschäftigungsprogramme oder zusätzliche Gemeinschaftskompetenzen, wie Sie sie fordern, führen doch nicht zu spürbar mehr Arbeitsplätzen. Und Sie sollten doch nicht ständig den Leuten vorgaukeln, daß eine Milliarde ECU mehr im EU- Haushalt - für die ja übrigens auch die Mitgliedsstaaten aufkommen müssen - anschließend zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit führen wird, für den die Mitgliedsstaaten selber nicht sorgen konnten. Das ist doch nichts als Gaukelei. ({11}) Euro-Dirigismus funktioniert nicht. Sie beachten dabei noch ein Weiteres nicht: Wenn es nämlich zum Mißerfolg kommt, dann wird er Brüssel angelastet werden. Sie erweisen damit dem Europagedanken letztendlich einen Bärendienst. Der wichtigste eigene Beitrag der EU zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - ich wiederhole das, was der Außenminister schon gesagt hat - liegt zweifellos im guten Funktionieren des Binnenmarkts und in der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Damit wird Wachstum geschaffen und wird Wettbewerbsfähigkeit ermöglicht. Das wird auf die Dauer auch den Arbeitsmarkt entlasten. Lassen Sie mich noch zwei Punkte hervorheben, die als entscheidend für den inneren Zusammenhalt der Europäischen Union angesehen werden müssen, insbesondere im Hinblick auf die Erweiterung. Auf diese beiden Fragen sollten wir uns konzentrieren und nicht auf irgendwelche Nebenthemen. Ich sage das hier insbesondere an die Adresse der SPD, deren Antrag zum Dubliner Sondergipfel geradezu Ausdruck der Konzeptionslosigkeit ist. Sie müssen sich einmal Ihren eigenen Antrag durchlesen, wenn er von den Assistenten fertiggestellt worden ist. ({12}) Auf Seite 1 fordern Sie umfassende Reformen, die notwendig seien, und auf Seite 2 sprechen Sie sich für eine Konzentration auf das Wesentliche aus, um dann anschließend mehrere Forderungen zu erheben, darunter die Einführung von Mindeststeuersätzen. ({13}) Das ist eine hervorragende Sortierung, muß ich Ihnen sagen. ({14}) - Ich finde, wir sollten uns auf zwei Dinge konzentrieren. Erstens. Die Einstimmigkeitsregel muß dort, wo es geht, durch das Prinzip der Mehrheitsentscheidung ersetzt werden, und zwar in der Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie im gesamten übrigen Gemeinschaftsbereich. Ziel, auf längere Sicht zumindest, muß es sein, auch bei der Finanz- und Steuerpolitik zum Prinzip der qualifizierten Voten zu kommen. Auch die Flexibilität gehört hier dazu. Es geht nicht, wie die Grünen fälschlich unterstellen, um Ausgrenzung und Diskriminierung, sondern um Vorangehen der dazu bereiten Mitgliedstaaten, bis die noch nicht bereiten später mitziehen. Das Prinzip der Einstimmigkeit ist eine Verführung zur Unvernunft, und das kostet, weil man anderen etwas abkaufen muß. Wir sehen es aktuell beim BSE-Streit. Schon deswegen ist die Einstimmigkeitsregel so weit wie möglich zu beseitigen und durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. ({15}) Nächster Punkt: Wir brauchen starke Institutionen. Wir haben im Dezember letzten Jahres diese Aufforderung an die Bundesregierung gerichtet. Eine starke Stellung der Institutionen ist die wichtigste Voraussetzung dafür, daß Europa für die Mitgliedstaaten einen Mehrwert bringt. Mit der klassischen intergouvernementalen Zusammenarbeit sind wir bisher nicht weitergekommen, und deshalb sind neben einem guten Funktionieren des Rates auch ein starkes Europäisches Parlament und eine effektive Kommission nötig. Beide haben nämlich eine Klammerfunktion für eine immer größer und heterogener werdende Europäische Union. Ich stelle damit überhaupt nicht das Subsidiaritätsprinzip und seine bessere Durchsetzung in Frage. Was bedeutet die Forderung nach einer starken Kommission konkret? Zum einen: Sie muß ihrer Rolle dadurch gerecht werden, daß sie eine vernünftige Struktur aufweist. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen um eine Stärkung der Stellung des Kommissionspräsidenten und um eine Limitierung der Anzahl der Kommissionsmitglieder. Das Initiativmonopol muß im Grundsatz bei der Kommission bleiben; denn sonst würde sie nur zu einem Sekretariat degradiert, und das wäre falsch. Auch in bezug auf die Außenvertretung der wirtschaftlichen Interessen der Gemeinschaft muß die Kommission gestärkt werden. Ich habe nie verstehen können, warum es zum Beispiel bei Verhandlungen der Welthandelsorganisation nach der derzeitigen Rechtslage in Europa darauf ankommt, ob es um einen Handel mit Waren oder Dienstleistungen oder um den Schutz des geistigen Eigentums geht. Das fällt dann je nachdem in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Kommission. Ich finde, auch das muß überdacht und geändert werden. Meine Damen und Herren, wenn wir in diesen beiden Punkten - Mehrheitsentscheidung und starke Institutionen - auf der Maastricht-II-Konferenz erfolgreich sind und außerdem die Währungsunion wie vorgesehen verwirklicht wird, sind wir im Hinblick auf den inneren Zusammenhalt Europas schon ein ganzes Stück weitergekommen. Wenn es darüber hinaus noch gelingt, gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit im Innen- und Justizbereich und im Außen-, Sicherheits- und Verteidigungsbereich herzustellen, dann sind wir für das nächste Jahrhundert gut gerüstet. ({16})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht in der Debatte der Kollege Christian Sterzing.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Gipfeltreffen wie das in Dublin zu scheitern drohen, dann kann man den Mißerfolg auf zweierlei Weise kaschieren. Die eine Möglichkeit: Man gründet eine Arbeitsgruppe, in der weiterverhandelt werden soll, und feiert das als Erfolg. Die zweite Möglichkeit: Man bekräftigt vollmundig Altbekanntes und Unstrittiges. In Dublin - das haben wir alle miterlebt - ist offensichtlich die zweite Möglichkeit gewählt worden; denn an Ausschüssen, Komitees und Gremien gibt es auf europäischer Ebene schon genug. Die Tatsache, daß man so wild entschlossen den Zeitplan für Maastricht II bekräftigt hat, scheint angesichts einer Rede von Maastricht III kurz vorher schon fast ein Erfolg zu sein. Worum ging es? In Dublin sollten der vor sich hindümpelnden Regierungskonferenz neue Impulse verliehen werden. Feststellen läßt sich: Von der Bundesregierung sind keinerlei Impulse ausgegangen, um den Integrationsprozeß in Richtung auf ein ökologisch und sozial orientiertes, auf ein demokratisches und auch auf ein erweitertes Europa voranzubringen. Lassen Sie mich das an drei Punkten deutlich machen. Der erste Punkt: Umwelt und Beschäftigung. Es liegen von verschiedenen Mitgliedstaaten Vorschläge auf dem Tisch, die auf eine substantielle Stärkung des Umweltschutzes als Querschnittsaufgabe im Vertrag und auch auf eine Stärkung der nachhaltigen und umweltgerechten Entwicklung ausgerichtet sind. Eine große Mehrheit von Mitgliedsländern hat sich auch für die Verankerung eines Beschäftigungskapitels im Vertrag stark gemacht, damit - das ist unbedingt notwendig - den vielen Worten auf Gipfeltreffen endlich auch konkrete Taten folgen können. Aber was tut die Bundesregierung? Im Bereich der Umwelt ist sie bisher durch keinerlei innovative Ideen aufgefallen. Im Bereich der Beschäftigung betätigt sie sich als Bremserin und versteckt sich nur allzugern hinter dem breiten Rücken der Engländer, solange es noch geht. Keine Impulse, keine Vorschläge, lediglich abwartendes und abwehrendes Reagieren in der Regierungskonferenz. Die Verhandlungsdevise, Herr Außenminister und Herr Hoyer, scheint mir zu sein: Wir sind für jegliche Änderungen im Vertrag zu gewinnen, vorausgesetzt, diese haben keinerlei Konsequenzen. Das, denke ich, ist eine Reduzierung dieser Reformkonferenz auf wirklich nur kosmetische Änderungen im Vertrag. Insofern wird die Regierungskonferenz zu einer Bühne für symbolische Politik ohne substantiellen Gehalt gemacht. Das gilt auch für das zweite Problem, das ich anschneiden möchte, das Thema Demokratisierung. Wir alle, der gesamte Bundestag, haben noch im Dezember 1995 übereinstimmend gefordert, das Europäische Parlament zu einem neben dem Rat gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan weiterzuentwikkeln und auch in den Bereichen, in denen die intergouvernementale Zusammenarbeit verbleibt, die Rolle des Europäischen Parlaments zu stärken. Auch von der Bundesregierung wurde in den vergangenen Monaten noch immer von der Beseitigung des Demokratiedefizits geredet. Aber schauen wir uns an, was auf der Regierungskonferenz passiert ist: In der Eröffnungsrede hat der Bundesaußenminister zu diesem zentralen Thema der Konferenz gerade zwei Sätze gesagt. In zwei Halbsätzen wird gefordert: „mehr demokratische Verankerung" und „stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments". Das ist alles. Angesichts dieser dürren Bemerkungen hat sicherlich niemand von uns mehr große Hoffnungen in den Kampfeswillen der Bundesregierung für eine stärkere Demokratisierung der Europäischen Union gesteckt. Aber das müssen wir doch anmerken - angesichts von Art. 23 GG ist das sicherlich auch keine völlig abwegige Bemerkung -: Man hätte doch wenigstens die Forderungen des Bundestages auf den Tisch der Regierungskonferenz legen können. ({0}) Inzwischen ist die Entwicklung weitergegangen. Man kann, so glaube ich, feststellen, daß eine substantielle Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments in der zweiten und dritten Säule von Ihnen inzwischen allgemein ausgeschlossen wird. Mehrheitsentscheidungen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik: ja - auch wenn es keine Stärkung des Europäischen Parlamentes in diesem Bereich geben wird. Das ist im Augenblick die politische Vorgabe, bedeutet aber im Grunde nichts anderes als eine Entmachtung der nationalen Parlamente, bedeutet außenpolitischen Absolutismus in Brüssel. ({1}) Aber auch im grundrechtlichen Bereich tritt die Bundesregierung kräftig auf die Bremse. Da lobt sie sich selbst für das rechtspolitische Engagement beim Antidiskriminierungsartikel, beim Gleichstellungsartikel. Man ist ja versucht, Applaus zu spenden. Doch wenn man genauer hinschaut, dann sieht man: Es geht hier nicht etwa um ein oder zwei Artikel, die Geltung für die gesamte Europäische Union haben; es geht hier möglicherweise um zwei Bestimmungen, die sich allein auf die EU-Institutionen beziehen. Das ist, als kämpft man für die Meinungsfreiheit und stellt erst hinterher fest: Diese Meinungsfreiheit soll nur für die Beamten einer bestimmten Institution gelten. Das werden wir und das wird man auch in der Öffentlichkeit nicht hinnehmen. Die Demokratisierung der EU ist ein ganz zentrales Ziel. Die Bundesregierung hat es offensichtlich fallengelassen, bevor sie es überhaupt richtig in die Hand genommen hat. Der Bundesregierung mangelt es aber auch im Bereich der Reform der Institutionen an wirklichem Reformwillen. Die Vorschläge, die bislang unterstützt werden, laufen auf eine Schwächung der gemeinschaftlichen Institutionen hinaus und nicht auf eine Stärkung. Gestärkt werden soll allein der Rat. Das öffnet einer Renationalisierung Tür und Tor. Das gilt auch im dritten Bereich, den ich ansprechen möchte, nämlich den der flexiblen Integration. Das ist der einzige Bereich, in dem die Bundesregierung durch ein eigenes Papier, mit eigenen Überlegungen in den Vordergrund getreten ist. Aber was verbirgt sich dahinter? Es ist im Grunde das alte und berüchtigte Kerneuropa-Konzept der CDU. Wir haben natürlich Verständnis für diese Überlegungen. Es ist sicherlich sinnvoll, zu überlegen, wie man in einer EU - zumal wenn sie aus 20 bis 30 Mitgliedern besteht - verhindern kann, daß allein das langsamste Schiff das Tempo des Geleitzuges bestimmt. Aber kann man das Problem dadurch lösen, daß sich die schnellsten Schiffe des Geleitzuges zusammentun und davonfahren? Vergrößert ein solches Vorgehen nicht den Abstand zwischen den langsamen und den schnellen Schiffen? Darüber wird nicht nachgedacht. Wird dies nicht die Gefahr mit sich bringen, daß es bald zwei Geleitzüge gibt, die sich aus den Augen verlieren, auch weil es keine Übereinstimmung hinsichtlich eines gemeinsamen Treffpunktes mehr gibt? ({2}) Wir denken, daß diese Fragen in keiner Weise ausreichend durchdacht worden sind, sondern daß hier das Konzept des Kerneuropas verfolgt wird, ohne daß man den integrationspolitischen Sprengstoff, der darin steckt, wirklich zur Kenntnis nimmt. Es droht eine soziale, eine ökonomische und auch eine weitere politische Spaltung in Deutschland, wenn man dieses Konzept vorantreibt. Es wird sich nämlich ein harter Kern aus reichen mitteleuropäischen Staaten herausbilden. Die anderen werden an den Rand gedrängt. Das widerspricht dem Gründungsgedanken der EU, die auf sozialen und regionalen LastenausChristian Sterzing gleich und auf eine Angleichung der Lebensverhältnisse ausgerichtet ist. Das ist kein Konzept für eine differenzierte Integration, das ist ein Konzept für eine differenzierte Hegemonie. ({3}) Die Europapolitik wird - das läßt sich zusammenfassend feststellen - unglaubwürdig, und zwar weil die Diskrepanz nicht nur zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer größer wird, sondern auch die Diskrepanz zwischen dem, was man außerhalb der Regierungskonferenz verkündet, und dem, was man innerhalb der Regierungskonferenz als tatsächliche Politik betreibt. Wenn Sie so weitermachen, dann gefährden Sie die drei zentralen Ziele der Regierungskonferenz: erstens den Reformprozeß in Richtung auf eine politische Union voranzutreiben, zweitens die brüchige Akzeptanz des Integrationsprozesses innerhalb der Bevölkerung wiederherzustellen und zu festigen. Drittens gefährden Sie damit die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die Aufnahme von mittel-, ost- und südeuropäischen Ländern in die EU. Der europäische Integrationsprozeß ist schon häufig mit dem Fahrradfahren verglichen worden: Wird man zu langsam, gerät man ins Trudeln oder ins Wanken, dann verliert man die Richtung, und schließlich kippt man um. Ich glaube aber, wir müssen der Bundesregierung sagen: Das bloße Bekenntnis zum Fahrradfahren reicht nicht, um ein Fahrrad in Bewegung zu halten; denn um in die richtige Richtung zu kommen, müssen Sie in die Pedale treten. Der Sondergipfel in Dublin hat deutlich gemacht, daß es bei der Bundesregierung an dieser Bereitschaft deutlich fehlt. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Dieter Schloten. Er hätte das bereits vor der Rede von Herrn Sterzing anmelden müssen; denn er nimmt Bezug auf Gero Pfennig.

Dieter Schloten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001986, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Kollege Pfennig hat gesagt: Der Euro kommt wie vorgesehen. Herr Minister Kinkel hat gesagt: Wir werden eine stabile Währung ab Januar 1999 haben. Ich gehöre gewiß nicht zu den Euro-Skeptikern, vor denen er gewarnt hat. Ich möchte aber eines ganz deutlich anmahnen: Die fristgerechte Umsetzung muß ein herausragendes Ziel deutscher Europa-, Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik sein. Das Zeitfenster für den Euro ist schmal, so daß eine Verschiebung das hohe Risiko des Scheiterns des gesamten Vorgangs bedeuten könnte. Um so mehr kommt es darauf an, die Bürger ausreichend und umfassend zu informieren. Ich erinnere mich daran, daß wir uns in dem Sonderausschuß zu Maastricht I alle einig waren und die Regierung angesichts der Situation, daß die Akzeptanz von Maastricht I nach dem Scheitern des Referendums in Dänemark auch in der Bundesrepublik immer geringer wurde, ganz deutlich gesagt hat: Wir werden eine umfassende Aufklärungskampagne zum Euro starten, damit die Bürger mitgehen. Es ist nichts geschehen; die bisherigen Informationen sind äußerst lückenhaft. Manchmal ist es sogar schwierig daranzukommen. Wenn wir hier gemeinsam voranschreiten und den Euro 1999 einführen wollen und die Bürger im Jahre 2001 den Euro in der Hand halten sollen, dann muß jetzt ganz dringend etwas geschehen. Die Bürger müssen informiert werden, und zwar umfassend. ({0}) Ich stelle in diesem Hause Einigkeit darüber fest, daß wir alle - vielleicht mit einzelnen Ausnahmen - den Euro wollen. Also sollten wir uns gemeinsam an dieses Werk machen, aber in erster Linie ist es die Informationspflicht der Bundesregierung; denn ohne die Bürger, ohne die große Mehrheit der Bürger wird Europa nicht zu haben sein. Wenn wir uns darin einig sind, daß der Euro nicht nur ein richtiger Schritt in die richtige Richtung zu einem vereinigten Europa ist, sondern auch ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, dann muß mit dieser Aufklärungskampagne sofort begonnen werden. Dankeschön. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Möchten Sie antworten, Herr Pfennig? - Nein. Als nächster in der Debatte spricht Kollege Dr. Helmut Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Alle Welt, so auch Lafontaine in der „FAZ", faselt heute von der bösen Globalisierung und ihren schlimmen Folgen. ({0}) Ich frage Sie: Gibt es eine bessere Antwort auf die Globalisierung als mehr Europa? Nein. ({1}) Deshalb ist es so bedauerlich, daß heute morgen von Sozialdemokraten - ich nehme Herrn Schloten aus und von den Grünen ausschließlich Kritik, ausDr. Helmut Haussmann schließlich Nickeligkeiten, ausschließlich Populismus gegen die Währungsunion betrieben wird, ({2}) während in allen früheren Europa-Debatten klar war, daß vor wichtigen Konferenzen in Europa Opposition und Koalition sich weitgehend einig waren. Sie haben überhaupt nichts gesagt. Wir sind in vielen Dingen einig: Mehrheitsentscheidungen, Rolle des Europäischen Parlaments, nicht mehr Kommissare. Dies ist alles weg. Wer als Antwort auf die Globalisierung die Einführung von Mindeststeuersätzen in Europa nennt: Wie wollen Sie denn multinationale Unternehmen zwingen? Wer soll denn die amerikanische Regierung zwingen, wer soll denn die japanische Regierung zwingen, Mindeststeuersätze einzuführen? Das ist volkswirtschaftlich doch völliger Unsinn. ({3}) Die Sozialdemokraten würden sich wundern, wo ein europäischer Mindeststeuersatz für Unternehmen liegen würde - natürlich weit unter dem Steuersatz, den wir in Deutschland haben. ({4}) Insofern ist dieser Vorschlag kindisch. In der „FAZ" lese ich, daß Herr Lafontaine sagt: Die ganze Welt übernimmt jetzt deutsche Sozial-, Steuer- und Umweltbedingungen. Das ist kein Beitrag zur internationalen Solidarität. Ich habe sozialdemokratische Internationalität immer so verstanden, daß andere Völker die Chance nützen können, durch Kostenvorteile auch mehr Beschäftigung und Wohlstand zu bekommen. Ich habe internationale Solidarität nie so verstanden, daß man versucht, deutsche Standards weltweit einzuführen. Von diesem Weg müssen Sie sich, meine Damen und Herren, bald verabschieden, sonst wird es noch mehr Arbeitsplätze in Deutschland kosten. ({5}) Zurück zum Thema. Alle haben einen Nachholbedarf an europäischer Solidarität. Die Sozialdemokraten haben im Frühjahr in Baden-Württemberg versucht, gegen den Euro zu sein. Sie sind vom Wähler gestraft worden. Sie haben die Republikaner gestärkt. Ich hoffe, Sie lernen daraus, und ich hoffe, Sie spielen auch nicht die Währungsunion gegen die Beschäftigungspolitik aus. Ich sage auch hier: Eine Währungsunion in Europa ist eine notwendige Voraussetzung für mehr Beschäftigung, nicht eine hinreichende. ({6}) Hinreichend wird es erst, wenn die Tarifpartner und die nationalen Regierungen ihre Hausaufgaben machen. Europa kann nicht in Tarifverträge eingreifen, oder wollen Sie das? Europa kann nicht im einzelnen Arbeitsmärkte regeln. Das ist unsere Aufgabe, das müssen wir regeln, und das dürfen wir auch nicht abschieben. Auch dürfen wir bei den Arbeitslosen in Deutschland nicht die Illusion wecken, wir verabschiedeten uns jetzt von der nationalen Arbeitsmarktpolitik, und der Rest würde irgendwo in Brüssel besorgt. So läuft es nicht. Wer für mehr Forschungsförderung ist, wer für mehr Netze ist, wer für mehr Freiheit bei der Telekommunikation ist: Das ist der Beitrag der Europäischen Union für mehr Beschäftigung. Der wichtigste Beitrag wäre, schnell für Osteuropa aufnahmefähig zu werden. Dort liegen die Märkte der Zukunft, dort liegt die neue gesamteuropäische Arbeitsteilung. Aber die Illusion zu wecken, wir könnten mit mehr Geld, mit mehr Schulden in Europa Arbeitsmarktprogramme finanzieren, ist völlig abwegig und würde auch die Währungsunion gefährden. Aber nicht nur bei Sozialdemokraten, auch bei manchen deutschen Ministerpräsidenten ist es notwendig, sich in Zukunft eindeutiger zur Europäischen Union zu bekennen. Es ist nicht in Ordnung, daß Herr Biedenkopf bei einer Diskussion über das durchaus diskussionswürdige Thema, welche Rolle in Zukunft Ostdeutschland hat, billige antieuropäische populistische Emotionen weckt. Biedenkopf hat der europäischen Idee in Brüssel nicht genützt. Ich sage das hier in aller Offenheit. Auch in der CSU geht es auf Dauer nicht gut, wenn die Bonner CSU zu Recht die gute Europapolitik von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel stützt, wenn aber in München ständig Zweifel an der Währungsunion, an der Strukturpolitik und an der Agrarpolitik genährt werden. Dieser Spagat ist auf Dauer nicht möglich. ({7}) Die Grünen sind - das sage ich Ihnen ganz offen, Herr Sterzing - durch Herrn Hoyer und durch den Ausschuß sehr viel besser informiert, als sie hier sagen. Aber davon, daß die deutschen Grünen auf Dauer bereit wären, internationale Kompromisse einzugehen, sind sie weit entfernt. ({8}) - Herr Fischer, wer wie Herr Sterzing als Sprecher von Hegemonie redet, der weiß nicht einmal, was der Maastrichter Vertrag bedeutet. Der Maastrichter Vertrag bedeutet, daß diejenigen Staaten voranschreiten dürfen, die bestimmte Kriterien erfüllen. Das ist doch keine Hegemonie. Das ist eine Belohnung dieser Staaten. Hier entstehen auch kein reiches Zentraleuropa und ein armes Mitteleuropa. ({9}) Staaten wie die Tschechische Republik werden in aller Kürze in der Wirtschafts- und Währungsunion sein. Neue Staaten wie Slowenien werden in Kürze in der Wirtschafts- und Währungsunion sein. Mancher „alte" Staat, der seine Hausaufgaben in Zentraleuropa nicht macht, wird eben nicht in der Währungsunion sein. Aber wer sagt, dies sei eine neue Spaltung, sei eine Hegemonie, der hat von Maastricht herzlich wenig verstanden. ({10}) Wir haben vier entscheidende Forderungen an die Regierungskonferenz: Erstens. Wir wollen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen als Regelfall. Wir sind der Meinung, daß die europäische Einigung zum Stillstand käme, wenn wir stets von der Zustimmung aller abhängig wären. Außerdem ist das Prinzip der Einstimmigkeit extrem teuer. In manchen Häusern in Deutschland ist die Ministerialbürokratie schlecht beraten, wenn sie aus innenpolitischen Erwägungen Integrationsfortschritte in bestimmten Politikbereichen auf Dauer blockiert. Wir werden das nicht mitmachen. ({11}) Zweitens. Wir müssen all jene Politikbereiche stärker integrieren, bei denen ein gemeinschaftlicher Ansatz mehr leistet als die Summe der Einzelanstrengungen. Dies gilt - hier unterstützen wir Herrn Kinkel - für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Hier sollten Entscheidungen, so schwierig es ist, grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden. Darüber hinaus spricht sich die F.D.P.-Fraktion für die Schaffung einer Analyse- und Planungskapazität sowie für einen GASP-Generalsekretär aus. Drittens. Wer auf der einen Seite Mehrheitsentscheidungen möchte, muß auf der anderen Seite zur Wahrung der demokratischen Balance auch für die Stärkung der Rechte des Europäischen Parlamentes eintreten. Herr Kinkel, wir unterstützen Sie auf der parlamentarischen Ebene. Wir wissen, wie schwierig es mit den Franzosen und Briten ist. Bezüglich der Rechte des Europäischen Parlamentes muß sich mehr tun. ({12}) Die komplizierte Mitwirkung von über zehn muß auf drei klare Beteiligungsformen reduziert werden: Mitentscheidung, Zustimmung und Anhörung. Dabei wollen wir den Bereich der Mitentscheidung bei der Gemeinschaftsgesetzgebung deutlich ausweiten. Viertens. Im Rat sind in Zukunft mehr Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit durchzuführen. Wir treten für die doppelte Mehrheit ein. Das heißt, Beschlüsse im Rat können nur dann mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, wenn hinter dieser qualifizierten Mehrheit zusätzlich eine ausreichende Mehrheit der Bevölkerung steht. Herr Sterzing, dies ist eine durchaus konstruktive deutsche Forderung, die sich auch durchsetzen wird. Ich begrüße es und sehe das nach wie vor im Bundestag so, daß es bei diesen vier Forderungen über die Fraktionen hinweg eine klare Übereinstimmung gibt. Deshalb sollten wir vor wichtigen Konferenzen zu dem zurückkehren, was im Bundestag immer gang und gäbe war, nämlich nicht die Unterschiede zu betonen, sondern zunächst einmal die Gemeinsamkeiten. Nur dann, wenn klar ist, daß die Position der Regierung eine Mehrheit im Parlament hat, kann man bei internationalen Verhandlungen etwas erreichen. Deshalb darf das Trennende in diesem Haus nicht in den Vordergrund gestellt werden. ({13}) Ich möchte mit meinem Lieblingsthema der Währungsunion abschließen. Ich kann Herrn Schloten nur darin unterstützen: Wenn wir nicht wollen, daß die Währungsunion in Deutschland bei Abstimmungen scheitert, dann muß die Regierung endlich ihre Hausaufgaben machen. Die Rentner sind bisher nicht davon überzeugt, daß es nur um eine reine Währungsumstellung und nicht um einen Währungsschnitt geht. Die Menschen wissen nicht, daß ihnen die D-Mark am 1. Januar 1999 erhalten bleibt und daß sie dann praktisch die Möglichkeit haben, DMark und Euro über zwei Jahre zu vergleichen. Erst am 1. Juli 2002 wird der Euro gesetzliches Zahlungsmittel. Die Regierung muß auch dazu beitragen, daß bestimmte Berufsgruppen fairer und konkreter informieren. Was an manchen Bankschaltern geschieht und was manche Steuer- und Unternehmensberater ihren Kunden raten, ist absolut euro- und integrationsfeindlich. Deshalb fordere ich die Regierung heute erneut auf: Kommen Sie Ihrer Pflicht zur Information und Aufklärung über den Euro endlich nach. Vielen Dank. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Müller.

Manfred Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002740, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesaußenminister hat heute erklärt, daß die Europäische Union „Kurs hält" und daß sie „bürgernah" und „wettbewerbsfähig" sei. Zur Kursbestimmung hat er nichts gesagt; die Richtung bleibt unklar. Die Bürgernähe wurde mit keinem einzigen Wort näher ausgeführt, kein Wort dazu, wie die Bürgerinnen und Bürger an der weiteren Ausgestaltung der Europäischen Union überhaupt beteiligt werden. Das, was die PDS auch bei der Diskussion um den Maastrichter Vertrag immer wieder gefordert hat, ist bis heute nicht eingetreten. Jetzt wird beklagt, daß der Bürger nicht ausreichend informiert sei. Wer ist denn schuld daran, daß der Bürger in eine ungewisse Zukunft geht und daß er eher Rattenfängern auf den Leim geht, als auf das zu vertrauen, was die Regierung verlautbart? Mir scheint, daß die Kursbestimmung eher von den Herren Murmann und Henkel ausgeht. Sie haben nämlich am 30. September an den Herrn Bundeskanzler geschrieben, was sie, der Bundesverband der Deutschen Industrie und die ArbeitgeberverManfred Müller ({0}) bände, für den Kern der laufenden Regierungskonferenz halten, indem sie darum baten, solche überflüssigen Themen wie die Beschäftigungskapitel und die Einführung verbindlicher sozialer Grundrechte zurückzudrängen. Nach dem, was wir heute vom Außenminister gehört haben, dürften sich die Wünsche der Herren erfüllt haben. Für die Bundesregierung ist und bleibt die Regierungskonferenz eine Angelegenheit der institutionellen und außenpolitischen Fragen, unabhängig davon, daß sich drängender denn je die Probleme der Massenarbeitslosigkeit und der zunehmenden Armut auf die Tagesordnung drängen. Dabei ist schon jetzt absehbar, daß der Verzicht auf eine europäische Beschäftigungspolitik, der Verzicht auf im Vertrag verankerte Beschäftigungsziele, ein Europa hervorbringen wird, das seine Akzeptanz in der Bevölkerung verliert. Eine Integration, die die Staaten dazu zwingt, sich kaputtzusparen, vermehrt den Reichtum von wenigen und vernichtet den Wohlstand der meisten. Ein Europa, in dem Arbeitslosigkeit und Armut zunehmen, während gleichzeitig ein Wettlauf darum stattfindet, wie man den Reichen am schnellsten und am gründlichsten die Steuern senkt, wird seine Mehrheit in der Bevölkerung verlieren. ({1}) Nach jüngsten Umfragen erwarten 79 Prozent der europäischen Bürgerinnen und Bürger von der Europäischen Union Entscheidungen zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit. Werden diese Hoffnungen enttäuscht und steigt die Zahl der über 20 Millionen Arbeitslosen noch weiter an, dann wird sich die europäische Vision für die Menschen in ein Schreckgespenst verwandeln. Wenn aber Europa seine Legitimation bei den europäischen Völkern verspielt, dann verspielt es seine Zukunft. Ich will hier ganz eindeutig sagen, daß ich dies für eine Katastrophe hielte: nicht für die schon weit über Europa hinaus aktiven Konzerne und noch weniger für die großen Finanzfonds, die die einzelnen Standorte um so leichter gegeneinander ausspielen können, je zersplitterter deren politischer Wille ist - das Kapital kann mit einem solchen Zustand leben -, aber für die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften, die das nicht können. ({2}) Die Globalisierung der Märkte ist so weit fortgeschritten, daß es nur noch eine Chance gegen den weltweiten Unterbietungswettbewerb um niedrige Steuersätze und fallende Sozialstandards gibt: Das ist der politische Wille der Regierungen, sich nicht durch das internationale Finanzkapital erpressen zu lassen. Wir haben uns als demokratische Sozialisten nie eine Illusion über das bisher entworfene Europa gemacht. Aber wir sehen in einem geeinten Europa, das sich insbesondere auch den osteuropäischen Ländern öffnet, die einzige Chance, um aus der Globalisierungsfalle weltweiten Kaputtkonkumerens herauszukommen. Natürlich verbinden wir damit andere Motive als diese Bundesregierung. Wir wollen ein Europa des sozialen Ausgleichs und der Solidarität. Sie aber wollen ein Europa, das den Standort Deutschland um den Standort Europa erweitert. Wir wollen ein Europa, das die Gefahren der Globalisierung für die Menschen mindert. Sie aber konstruieren ein Europa, das noch mehr Verzicht, noch mehr Sozialabbau und noch mehr Arbeitslosigkeit riskiert, um den Standort Europa zum Gewinner eines weltweiten Vernichtungswettbewerbs zu machen. ({3}) Abgesehen davon, daß dieser Standortkrieg die Spaltung der Welt vertieft, daß er weder die sozialen noch die ökologischen Probleme lösen wird, sondern weltweit religiösen Fundamentalismus, Nationalismus und Irrationalismus befördert, werden die Ziele dieser Politik nicht einmal in Europa aufgehen. Es macht doch keinen Sinn, den Weg zur Währungsunion durch monetäre und fiskalische Konvergenzkriterien einzuschnüren, die die staatliche Leistungsfähigkeit abbauen, Millionen Menschen desillusionieren und die Beseitigung von Massenarbeitslosigkeit und Armut ins nächste Jahrtausend verschieben. ({4}) Am Ende dieser vermeintlichen Durststrecke wird genau das verspielt sein, was die globale Herausforderung bestehbar macht, nämlich motivierte Beschäftigte, ein hohes Qualifikationsniveau und sozialer Friede. Würde diese Bundesregierung beim Stichwort „Binnenmarkt" nicht nur an die Gestaltung des Marktes denken, sondern auch an die Ausgestaltung eines europäischen Sozialraums, dann wäre es ihre wichtigste Aufgabe, in Dublin neue Schwerpunkte zu setzen. Inzwischen fordern zwei Drittel der Mitgliedsländer die Einbeziehung beschäftigungspolitischer Bestimmungen in den Vertrag bzw. ein eigenständiges Kapitel zur Beschäftigungspolitik. Die Bundesregierung aber blockiert die europäische Beschäftigungspolitik. Sie tut dies mit dem windigen Hinweis auf die nationale Verantwortlichkeit, obwohl sie national gerade damit beschäftigt ist, die Beschäftigungspolitik drastisch zusammenzustreichen. ({5}) Eine Mehrheit der Länder unterstützt gleichzeitig die Forderung nach Einbeziehung des Sozialprotokolls in den Vertrag. Hier blockiert die Bundesregierung nicht nur; sie widersetzt sich sogar der Durchführung des 4. Armutbekämpfungsprogramms. Dabei reicht es auch nicht aus, wenn der Bundeskanzler am Samstag in Dublin einräumt, man könne ein Beschäftigungskapitel in den Vertrag aufnehmen, „wenn es darum geht, einen Anstoß zu geben". Darum geht es nicht. ({6}) Manfred Müller ({7}) Es geht weder um verbale Anstöße noch um Beschwörungsformeln. Die Regierungskonferenz muß zu konkreten Vorhaben finden. Sie muß sich von dem gerade auch von dieser Bundesregierung gepflegten Aberglauben verabschieden, daß die entgrenzten Märkte von sich aus Vollbeschäftigung und Wohlstand sichern könnten. Dagegen spricht sogar die neoliberale Theorie. ({8}) Dagegen sprechen vor allen Dingen die Tatsachen: Ein Markt, der keine andere Sprache als die Sprache der maximalen Rendite versteht, ein Markt, dessen Zeithorizont nicht weiterreicht als bis zur nächsten Bilanzpressekonferenz, verspielt nicht nur das Humankapital, sondern auch Menschenrechte, Demokratie und menschliche Überlebensfähigkeit. ({9}) Europa hätte die Chance, die die Nationalstaaten mehr und mehr nicht mehr haben. Europa könnte der sozialen Kälte des Weltmarktes einen neuen Sozialkontrakt entgegensetzen und der Verwirklichung der Menschenrechte eine neue Basis geben. Dies ist auch der Inhalt der von uns zur Regierungskonferenz vorgelegten Anträge. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich auf der Regierungskonferenz für die Verankerung von einklagbaren Grundrechten in den Vertrag einzusetzen, wozu dann letztlich nach unseren Vorstellungen auch gehört, daß alle mit ständigem Wohnsitz in der Europäischen Union lebenden Menschen die gleichen politischen, sozialen und kulturellen Rechte genießen. Schließlich ist es nach unserer Auffassung unerläßlich, daß das Thema „Beschäftigungs- und Sozialpolitik" auf die Tagesordnung kommt und zu eindeutigen Beschlüssen führt. Das ist nicht nur die Position der PDS, sondern auch der Tenor von immer mehr namhaften Europäern, Parteien, Regierungen. Es ist der Wille, die mögliche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Gemeinschaft nicht auf dem Altar der Haushaltsdisziplin zu opfern. Ein Unternehmer des vergangenen Jahrhunderts - der Mann hieß übrigens Friedrich Engels - hat einmal gesagt: Die Menschen erreichen, was sie wollen; aber was dabei herauskommt, ist meistens anders, als sie es sich vorgestellt haben. Ich gönne jedem die Schadenfreude, daß dieses Zitat so ausgezeichnet auf das schmähliche Scheitern des ersten sozialistischen Versuchs paßt. ({10}) Aber seien Sie nicht so sicher, daß es Ihrem Europakonzept anders ergehen wird! ({11}) Es könnte sein, daß die fiskalischen und monetären Ziele erreicht werden. Es ist sogar denkbar, daß die Reform der Institutionen gelingt. Aber wenn Sie das Beschäftigungsproblem und das Problem zunehmender sozialer Spaltung nicht lösen, wird ein Europa herauskommen, das selbst Sie sich anders vorgestellt haben. Danke schön. ({12})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort zu einer Kurzintervention hat Professor Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege Müller von der Gruppe der PDS hat sich eben noch einmal für den Antrag seiner Gruppe in Sachen Grundrechtscharta ausgesprochen. Ich fordere die PDS- Gruppe auf, diesen Antrag zurückzuziehen. Dabei geht es mir weniger darum, daß es sich in Teilen um ein Plagiat handelt; denn wir hatten einen solchen Antrag im Frühsommer 1995 mit der Einladung zu einem Workshop versandt, auch Ihnen zugesandt, und im September tauchte dieser Antrag - allerdings verändert - als Antrag hier an den Bundestag auf. Entscheidend ist für mich, daß er erhebliche Weglassungen enthält. Ich will nur ein Beispiel nennen. Wir formulieren zum Eigentumsrecht in Europa nicht nur, daß Eigentum und Erbrecht gewährleistet werden, sondern wir fügen einen Satz hinzu, den Sie erstaunlicherweise weglassen. Wir wollen zur besseren Bekämpfung von organisierter Kriminalität und von Regierungskriminalität formuliert haben: Kriminell erworbenes Eigentum wird nicht geschützt. Warum lassen Sie das weg? Das Wichtigste aus meiner Sicht ist aber, daß ein solcher Antrag das ganz wichtige Ziel einer europäischen Grundrechtscharta gefährdet. Unsere Vorstellung ist, durch eine solche Charta deutlich zu machen, daß sich Europa von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Wertegemeinschaft mit gemeinsamen Menschen- und Bürgerrechten, also Grundrechten, weiterentwickeln muß. Diese Vision kann aber nur Wirklichkeit werden, wenn wir einen öffentlichen Diskussionsprozeß in den Mitgliedstaaten und danach in den Parlamenten unter Federführung des Europäischen Parlaments in Gang setzen. Dieses Ziel verträgt es nicht, wenn ein Mitgliedstaat oder eine kleine Partei eines Staates gewissermaßen mit dem Versuch der Lehrmeisterei vorangeht. Das beschädigt das Ziel. Meine Auffassung ist - das ist auch die Überzeugung der SPD-Fraktion, übrigens auch der Mehrheit im Rechtsausschuß -: Unterlassen wir jeden Versuch einer Bevormundung, erst recht einer Bevormundung durch die Gruppe der PDS! In Sachen Grundrechte sollten wir etwas zurückhaltender und etwas bescheidener sein. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Möchten Sie antworten? - Herr Müller.

Manfred Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002740, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Kollege Professor Meyer! Ich bin bisher davon ausgegangen, daß wir die Regierungserklärung der BundesregieManfred Müller ({0}) rung zum bisherigen Verlauf der Maastricht-Folgekonferenz hier kritisch erörtern. Ich meine, wir haben die von Ihnen aufgeworfene Frage bereits ausführlich im Ausschuß und am Rande von Ausschußsitzungen erörtert. Ich habe Ihnen im einzelnen nachweisen können, daß Ihr Vorwurf eines Plagiats völlig unangebracht ist. Wenn es im übrigen um soziale Grundrechte und um demokratische Prinzipien geht, dann gibt es nicht viele Prinzipien, von denen wir abweichen können, wenn wir sie zusammenfassen. Das heißt, daß die SPD-Fraktion in ihrer Erarbeitung eines Grundrechtekatalogs zu einem vergleichbaren Ergebnis wie die PDS kommt. Das ergibt sich aus der Sache selbst. Insofern bitte ich in dieser Frage die Oppositionsparteien, sich nicht mit solchen Vorwürfen untereinander von der eigentlichen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner abhalten zu lassen. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Debattenredner hat der Kollege Ottmar Schreiner das Wort.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst zwei Bemerkungen zu Herrn Haussmann machen. Herr Haussmann hat hier vorgetragen, der SPD-Parteivorsitzende Oskar Lafontaine wolle das deutsche Sozialsystem der ganzen Welt überstülpen. Die Rede, auf die Sie sich beziehen, können Sie in Teilen im „Handelsblatt" vom 9. Oktober 1996 nachlesen. Bezogen auf die von Ihnen angegriffene Passage heißt es dort: Notwendig seien auch „verbindliche Normen für die Staatengemeinschaft, die die elementaren Rechte der Arbeitnehmer festschreiben, um Sozialdumping und Ausbeutung zu unterbinden" . Können Sie dem folgen? ({0}) - Nein, das ist auf diese Rede und die in den entsprechenden Zeitungen abgedruckten Passagen bezogen. Weiter heißt es: Deshalb unterstütze er die Initiative der amerikanischen Regierung ... - Lafontaine unterstütze also die Initiative der amerikanischen Regierung, Herr Haussmann! ... für weltweite soziale Mindeststandards für die WTO-Konferenz im Dezember in Singapur, sagte Lafontaine. ({1}) Herr Haussmann, Sie haben dann der SPD vorgehalten, wir beschäftigten uns hier mit Nickeligkeiten. Wenn die Frage der dramatischen Arbeitslosigkeit in Europa - das war auch das zentrale Anliegen in der Rede der Kollegin Wieczorek-Zeul - für Sie eine Nickeligkeit sein sollte, dann sind Sie die wahre Nickeligkeit in diesem Haus hier. ({2}) Ja, meine Güte, das ist doch die zentrale Kritik der SPD bislang gewesen, daß es keine Antwort der Bundesregierung - weder national noch auf europäischer Ebene - dazu gibt, wie die extrem hohe Arbeitslosigkeit in Europa und in Deutschland zurückgedrängt werden kann. Wir haben auf der europäischen Ebene inzwischen weit mehr als 20 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose. ({3}) In zahlreichen Gegenden finden 20 Prozent der Jugendlichen keine Arbeit. In Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit ist nahezu die Hälfte der jungen Menschen erwerbslos. Das ist die Situation. Wir sollten diese gesellschaftliche Ausgrenzung, Herr Haussmann, nicht als Nickeligkeit bezeichnen, sondern als das, was sie ist. Sie ist eine Tragödie, die das Leben der Menschen ruiniert. ({4}) Sie zerstört das soziale Gefüge, innerhalb dessen wir leben und von dem wir abhängig sind, und greift damit die Grundlagen unserer Demokratie an. Angesichts dieser Entwicklung, Herr Haussmann, läuft die Europäische Union aus der Sicht vieler Bürgerinnen und Bürger Gefahr, ihren Sinn zu verlieren. Vor 50 Jahren lag dieser Sinn auf der Hand. Es ging darum, den Krieg unmöglich, ja undenkbar zu machen. Heute ist die größte und unmittelbarste Furcht der Europäer auf die Arbeitslosigkeit, den Verlust gesicherter Lebensverhältnisse, die Armut und die Zukunft des sozialen Schutzes gerichtet. In dieser für den Fortgang der europäischen Einigung äußerst besorgniserregenden Etappe gießt die Politik der Bundesregierung auch noch Öl ins Feuer. Die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland ist national wie europäisch der eigentliche Bremsklotz für eine zukunftsorientierte Beschäftigungspolitik. Ich werde Ihnen das belegen. Wir Sozialdemokraten bestreiten angesichts der im übrigen von Ihnen zu verantwortenden hohen Staatsverschuldung und im Hinblick auf die sogenannten Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrages nicht die Notwendigkeit, die Staatsverschuldung zurückzuführen. Die Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung müssen allerdings zwei Bedingungen erfüllen: Sie dürfen das wirtschaftliche Wachstum nicht gefährden und müssen gleichzeitig sozial ausgewogen sein. Beide Ziele stehen in einem engen Zusammenhang, und beide Ziele werden von der Politik dieser Bundesregierung grundlegend verletzt. Von sozialer Ausgewogenheit kann überhaupt keine Rede sein. Ihre Kürzungspolitik - ich wiederhole meine Argumente aus den Debatten der letzten Monate - trifft ausschließlich die normalen Arbeitseinkommen, Familien mit Kindern, chronisch Kranke und Behinderte. Alle anderen sind außen vor oder werden sogar noch beschenkt, zum Beispiel durch die von Ihnen geplante Abschaffung der Vermögensteuer. Meine Damen und Herren, die Abschaffung der Vermögensteuer ist von den Vertretern der Koalitionsfraktionen in den letzten Monaten unter Hinweis auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juni letzten Jahres immer wieder mit dem Hauptargument vorgetragen worden, die Vermögensteuer sei verfassungswidrig und man müsse sie daher abschaffen. Gestern hat das Bundesfinanzministerium - ich zitiere aus einer dpa-Mitteilung von gestern; ausgerechnet das Bundesfinanzministerium gibt der SPD jetzt Schützenhilfe bei der von ihr verlangten Beibehaltung der Vermögensteuer - erklärt, es sehe verfassungsrechtlichen Spielraum für diese Steuer, die die Koalition 1997 abschaffen will. Meine Damen und Herren von der Koalition, diejenigen, die uns in den letzten Monaten hier immer wieder vorgetragen haben, man stehe auf Grund des Verfassungsgerichtsurteils unter einem geradezu automatischen Zwang, diese Steuer abzuschaffen, haben dieses Parlament nachweislich belogen. Sie haben diesem Parlament nachweislich die Unwahrheit gesagt. ({5}) Sie haben wider besseres Wissen üble Stimmungsmache betrieben. Sie diskreditieren den europäischen Einigungsprozeß zutiefst, wenn Sie unter Hinweis auf die Konvergenzkriterien von Maastricht einen sozialpolitischen Amoklauf nach dem anderen betreiben. Gleichzeitig begründen und verstärken Sie mit dieser Politik einen beschäftigungspolitischen Teufelskreis. Unser konjunkturelles Hauptproblem ist die schleppende Binnennachfrage. Sie schöpfen mit ihrer Kürzungspolitik ausschließlich bei den Schichten unserer Bevölkerung Kaufkraft ab, deren Einkommen ganz überwiegend zur Güternachfrage eingesetzt wird. Diese auch beschäftigungs- und wachstumspolitische Fehlentwicklung ist nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa verhängnisvoll, weil Deutschland als mit Abstand größtes EU-Land eine Vorreiterrolle ausübt. Sie übt einen stummen Zwang auf andere Länder aus, ihrerseits aus Wettbewerbsgründen in Sozialleistungen massiv einzugreifen. So entsteht eine sozialpolitische Abwärtsspirale, bei der alle Länder verlieren und niemand gewinnt. Genau das ist das verhängnisvolle Ergebnis Ihrer Politik, meine Damen und Herren. ({6}) Außenminister Kinkel hat in seinem Beitrag heute morgen wiederum gefordert, man müsse deregulieren, deregulieren, deregulieren. Das ist offenkundig die Antwort auf die hohe Arbeitslosigkeit. Herr Kinkel, wohin eine rein angebotsorientierte Politik, die Absenkung der Arbeitskosten und der Abbau oder die Beseitigung sozialer Schutzrechte der Arbeitnehmer führen, zeigt das Beispiel Großbritannien. Die Politik der dortigen Regierung ist gänzlich gescheitert und hinterläßt ein zutiefst zerrüttetes und zerklüftetes Land. Ich will ihnen einige Zitate aus dem „ManagerMagazin" vom September dieses Jahres vortragen. Dort heißt es: In einer Stadt wie Glasgow sind 70 Prozent der Bürger auf staatliche Hilfe angewiesen, um ihre Miete zahlen zu können. Es heißt dort: Die Bilanz nach 17 Jahren konservativer Politik ist mithin kläglich. Nach wie vor weist Großbritannien eine nur schwächliche Industrie auf. Nach wie vor ist das Außenhandelskonto negativ. Zusätzliche Jobs wurden kaum geschaffen ... Der Präsident des britischen Arbeitgeberverbandes, ein Herr Turner, sieht inzwischen nur noch einen einzigen Ausweg - ich zitiere immer noch das „Manager-Magazin" -: „Die Reallöhne müssen wieder stärker steigen." Nun die Schlußkommentierung des „ManagerMagazins": Die Wahlkampagne der Konservativen muß für viele Briten ... wie Hohn klingen: „Ja, es tat weh. Ja, es hat funktioniert", prangt da auf großen Werbeplakaten. Die britische Tageszeitung „The Guardian" hat den Wahlspruch auch gleich korrigiert: „Ja, es hat wehgetan, aber nicht allen gleich, und funktioniert hat es schon gar nicht." Das ist genau Ihre Situation. Sie haben vielen wehgetan, aber längst nicht allen. Sie haben eine extreme Sozialschieflage produziert. ({7}) Beschäftigungspolitisch wird uns das nicht weiterhelfen, sondern - ganz im Gegenteil - noch weiter in den Sumpf führen. ({8}) Meine Damen und Herren, der ganze Unsinn der Ideologie, die Arbeitskosten seien das eigentliche Problem der Arbeitslosigkeit, zeigt sich an wenigen Vergleichszahlen. Weltweit haben die Länder mit den höchsten Arbeitskosten, die Schweiz und Japan, die niedrigste Arbeitslosenquote. Weltweit haben die Länder mit den niedrigsten Löhnen die höchste Arbeitslosigkeit. Das gilt auch für die Europäische Union. Stichwort Irland und Spanien: höchste Arbeitslosigkeit, niedrigste Löhne im EU-Vergleich. Daß man Haushalte auch anders, sozial ausgewogen, konsolidieren kann, hat im übrigen sozialdemokratische Sparpolitik in den Ländern gezeigt, in denen Sozialdemokraten auf europäischer Ebene Verantwortung tragen. Man kann diese sozialdemokratische Konsolidierungspolitik mit vier Gemeinsamkeiten kennzeichnen - das gilt für Dänemark, Österreich, Holland und Schweden -: Erste Gemeinsamkeit. Im Gegensatz zu Deutschland wurde die Konsolidierungspolitik in Zusammenarbeit oder mit Unterstützung der Gewerkschaften erarbeitet und umgesetzt. ({9}) Sie haben den Gewerkschaften den Stuhl vor die Tür gesetzt; Sie haben ihnen mit der Faust ins Gesicht geschlagen und sie vom runden Tisch verjagt. Zweite Gemeinsamkeit. Kürzungen bei den sozialen Transferleistungen wurden mit wesentlich höheren Belastungen für vermögende Bürger verbunden. Sie haben das genaue Gegenteil gemacht. Sie haben die vermögenden Bürger nicht nur nicht höher belastet, sondern Sie wollen sie endgültig und endlos entlasten. Dritte Gemeinsamkeit. In der Arbeits- und Sozialpolitik sollte der Schwerpunkt von der Versorgung zur Reaktivierung verschoben werden. Das heißt: weg von reinen Lohnersatzleistungen und hin zur aktiven Arbeitsmarktpolitik. Herr Blüm, Sie sind der Kronzeuge dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland das genaue Gegenteil betreibt. ({10}) Der Minister Blüm will in den nächsten Jahren 300 000 aktive Arbeitsmarktinstrumente in Ostdeutschland abschaffen und brüstet sich, er werde damit 17 Milliarden DM sparen. Der Preis, den die Ostdeutschen zahlen werden, liegt in der Arbeitslosenquote, die - regional unterschiedlich - bis auf 50 % steigen wird. ({11}) Sie sind wirklich ein Kahlschlagonkel. Ihre Politik hat mit Sozialpolitik überhaupt nichts mehr zu tun. ({12}) Welche Vorschläge gibt es eigentlich für eine europäische Beschäftigungsinitiative? Wir wollen diese Initiative zum festen Bestandteil des Maastrichter Vertrages machen. Ich will Ihnen vorlesen, was der österreichische Bundeskanzler dazu meint. Er sagt: Es muß auch sichergestellt werden, daß konkrete Regelungen für die Umsetzung einer Beschäftigungsinitiative formuliert werden. Eine Möglichkeit dazu sehe ich in der Schaffung eines eigenen Kapitels, in dem die beschäftigungspolitischen Grundsätze und Zielsetzungen konkretisiert werden. Es sollte auch ein Überwachungsverfahren sowie ein politisches Sanktionsverfahren im Fall von Abweichungen von den Zielsetzungen geschaffen werden, etwa ähnlich dem, was im Bereich der Wirtschaftspolitik zur Erfüllung der Maastricht-Kriterien angewendet wird. Er sagt weiterhin: Daß von konkreten Vorgaben im Vertrag sehr wohl eine starke Wirkung auf die Politik der Mitgliedstaaten ausgeht, zeigen nicht zuletzt die Bestimmungen über die Währungsunion, die zum Allgemeingut wirtschaftspolitischer Handlungsweisen wurden. Ich frage Sie: Können Sie sich diesen Überlegungen des österreichischen Bundeskanzlers, den Sie ja hin und wieder sehr schätzen, anschließen? Wenn ja, müssen Sie sich gleichzeitig dem Antrag der SPD- Bundestagsfraktion anschließen, denn nichts anderes ist unser Begehren. ({13}) Meine Damen und Herren, Europa - ich darf dies zum Schluß sagen - ist mehr als eine Wirtschafts- und Währungsunion. Europa hat ein Zivilisationsmodell zu vertreten. Politische Demokratie, wirtschaftliche Entwicklung, gesellschaftliche Teilhabe, soziale Solidarität und kulturelle Vielfalt sind die tragenden Säulen dieses Modells. Sie sind uns allen in Europa gemeinsam, allen sprachlichen und historischen Differenzen zum Trotz. Es lohnt sich, dieses Zivilisationsmodell offensiv und glaubhaft zu vertreten. Herzlichen Dank. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will wieder zum Thema reden, nämlich zur Erklärung der Bundesregierung zur Europapolitik. ({0}) Der engagierte Vortrag des Vorredners verleitet ihn vielleicht dazu, heute abend beruhigt einzuschlafen, weil er meint, seine Meinung wieder einmal gesagt zu haben. ({1}) Er hat aber nicht nur am Thema vorbeigeredet; er hat damit auch keinen neuen Arbeitsplatz geschaffen - im Gegenteil. Wenn Sie uns vorwerfen: „Deregulieren, deregulieren wollen Sie", muß ich zurückfragen: Wollen Sie regulieren, regulieren? Ist das Ihre Antwort? ({2}) Das sind die alten Antworten, die Sie immer gefunden haben und die Sie nie zum Ergebnis geführt haben. ({3}) Christian Schmidt ({4}) Wenn Sie nach einem Konjunkturprogramm und staatlichen Zuschüssen rufen, dann muß ich Sie darauf hinweisen - Sie haben das offensichtlich übersehen -, daß in den letzten Jahren das größte Konjunkturprogramm Europas in Deutschland abgelaufen ist - nämlich durch die Befriedigung des Nachhol- und Konsumbedarfs in den neuen Bundesländern -, was ganz in Ihrem Sinne war. Daß das nicht ausgereicht hat, auf Dauer unsere Probleme zu lösen, zeigt, daß es eben keine konjunkturellen Probleme sind, die mit Ihren alten Methoden lösbar sind, daß es sich vielmehr um strukturelle Probleme handelt. Herr Schreiner, wenn Sie noch jemanden brauchen, mit dem Sie über diese Fragen diskutieren können, dann empfehle ich Ihnen Mitglieder Ihrer neuen Gruppe „SPD 2000 plus". Nach den Thesen Ihrer jüngeren Kollegen gehören Sie wie Herr Dreßler vermutlich zu denen, die die Vergangenheit und nicht die Zukunft repräsentieren. Aber ich möchte wieder zum Dubliner Gipfel und zu Maastricht zurückkommen. Ich lese hier in dem Antrag, daß kein Zwischenbericht vorgelegt worden sei, daß das alles nicht vorangehe und daß nichts passiere. Ich weiß nicht, ob die Dynamik solch einer auf ein Jahr angesetzten Konferenz richtig verstanden worden ist. Wichtig ist, was als Ergebnis herauskommt, und wichtig ist, daß beim regulären Gipfel, der im Dezember in Dublin stattfinden wird, ein Vertragsentwurf vorgelegt wird. Die Zwischenschritte, Zwischenergebnisse und Berichte sind für uns allenfalls Wasserstandsmeldungen. Sie sagen noch überhaupt nichts darüber aus, wie die Dynamik der zweiten Hälfte der Regierungskonferenz ausfallen wird, in der erfahrungsgemäß natürlich die entscheidenden Weichenstellungen zu treffen sind. Insofern gehen die Anträge, soweit sie hier von den Grünen und der SPD gestellt worden sind, in diesem Punkt ins Leere. Ich möchte mich in meinem Redebeitrag aber vor allem mit der Außenpolitik beschäftigen. Dazu hat mir Kollege Haussmann eine leicht problematische Vorlage gegeben. Es gibt innerhalb der CSU weit mehr Übereinstimmungen, sehr verehrter Herr Kollege Haussmann, als Sie es darzustellen versucht haben. ({5}) - In Ihrem Sinne. Wir werden bei der Außenpolitik, auf die ich mich konzentrieren will, ebenso wie in anderen Bereichen an einem Strang ziehen. Die Zielsetzungen sind klar, sie sind auch klargemacht worden. Es sind auch die Defizite der europäischen Außenpolitik oft genug beklagt worden. Vorschläge liegen auf dem Tisch. Ich erinnere an das gemeinsame Papier des deutschen und französischen Außenministers, an die Initiative von Kohl und Chirac zur Flexibilität. Das hat übrigens nichts mit einem Kerneuropakonzept, das berüchtigt sein soll, zu tun, sondern mit der Frage, wie man die europäische Außenpolitik in den nächsten Jahren aktiv gestalten kann. In mancher amerikanischen Amtsstube - besser gesagt: in manchem Department - gibt es eine Neigung, die europäische Außenpolitik nicht ernst zu nehmen. Wie anders soll man denn die Bemerkungen von Außenminister Christopher verstehen, die Europäer sollten sich auf das Zahlen beschränken, denn davon verstünden sie etwas? Natürlich könnten wir schon die Zahlen auf den Tisch legen und dabei den Wettbewerb mit den amerikanischen Freunden mit Fug und Recht bestehen. Aber sowohl diese in Teilen völlig unberechtigte und völlig unangemessene Kritik von amerikanischer Seite als auch das ihr anderenteils zugrunde liegende strukturelle Defizit der europäischen Außenpolitik können uns alle in Europa eigentlich nicht ruhig schlafen lassen. Hier geht es nicht um die Scheidelinie von glühendem Europäertum und nationaler Denkweise. Es ist einfach der Zwang der Fakten, der uns Europäer in der Außenpolitik zu einer gemeinsamen Linie zwingt. Die zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die noch am ehesten in der Lage wären oder sich in dieser Lage wähnen, mit nationalen Mitteln eine Außenpolitik zu markieren und durchzusetzen, haben auch selbst in der Vergangenheit den Nachweis nicht erbringen können, daß eine solche Position heute noch tragfähig ist. Zweifelsohne hat die französische Initiative in Bosnien im letzten Jahr den Dayton-Prozeß vorangebracht und die Initialzündung gegeben. Aber genauso wahr ist, daß Frankreich allein nie in der Lage gewesen wäre, auf diesem Weg voranzuschreiten. Auch die britische Politik ist, wenn man einmal vom Falklandkrieg absieht, in den letzten Jahren nicht dadurch aufgefallen, daß sie Konfliktlösungen oder Krisenbewältigung etwa im nationalen Alleingang hätte erreichen können. Deswegen ist es erfreulich, daß der Gutmeinende aus den Äußerungen von John Major in Dublin eine gewisse Bereitschaft zur Akzeptanz der Flexibilitätsklausel herauslesen kann, zumindest die Bereitschaft, sie zu bedenken. Staatsminister Hoyer, ich wünsche Ihnen allen Erfolg und Glück in den Verhandlungen mit den britischen Freunden, wenn es darum geht, in den nächsten Monaten diese wohlmeinende Interpretation in Vertragsform zu kleiden und umzusetzen. ({6}) Die Prinzipien der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sind hier vorgetragen worden. Ich will noch einmal auf die Mehrheitsentscheidung, auf die Frage der gemeinsamen Analyse- und Planungskapazität sowie auf die Flexibilitätsklausel verweisen. Diese Grundlagen müssen mit der Regierungskonferenz umgesetzt werden. Auch ist die Person des außenpolitischen Repräsentanten der EU unverzichtbar. Die Erfahrungen mit den Troika-Missionen sind ja nun nicht in allen Fällen so unübertrefflich positiv, daß wir nicht darangehen könnten, das Konzept zu verbessern. Dennoch wird die außenpolitische Stärke der Europäischen Union wohl auch in Zukunft nicht darin liegen, sich in jedem Bereich mit den USA und möglicherweise auch mit Rußland in einen Wettlauf um Geschäftsvermittlerpositionen zu begeben. Christian Schmidt ({7}) „Nun singt mal schön", hat bekanntermaßen Bundespräsident Heuss den Soldaten der damals neugegründeten Bundeswehr entgegengerufen. „Nun vermittel' mal schön", könnte man versucht sein, Dick Spring auf seinem Weg zu den Nahost-Vermittlungen mitzugeben. Wir wünschen ihm in der Tat Erfolg. Erfolg schon deswegen, weil es zum friedlichen Ausgleich zwischen Israel und seinen Nachbarn unter Wahrung der beiderseitigen Sicherheitsinteressen nur eine Alternative gibt, und die heißt Krieg. Deswegen sind wir alle sehr besorgt. Es darf im Friedensprozeß nicht so weit kommen, daß man Zweifel an der Friedensbereitschaft einer oder aller Konfliktparteien hegen kann. Ariel Sharon hat interessanterweise gestern einen Satz gesagt, der aufhorchen läßt. Er sagte, daß man ohne Kompromiß, auch ohne schmerzhaften, nicht zu einem Frieden kommen könne. Ich kann nur sagen: Sehr wahr. ({8}) Übrigens: Wenn es im Nahen Osten keinen Frieden gibt, gibt es in Europa auch keine Sicherheit vor Terrorismus. Deswegen haben wir selber ein nachhaltiges Interesse am Gelingen des Friedensprozesses und wünschen allen Beteiligten viel Erfolg und großen Einsatz. Aber auch der heute wie damals richtige Beschluß des Europäischen Rates, der auf dem Essener Gipfel getroffen wurde, nämlich privilegierte Beziehungen zu Israel einzugehen, ist für Europa Verpflichtung. Wir müssen uns hier einschalten. Es besteht allerdings für mich schon die Frage, ob die Europäische Union nicht in gewissen Fällen besser beraten wäre, zuerst die möglichst enge Abstimmung mit den USA zu suchen und nicht Demonstrationen um der Demonstrationen willen vorzuführen. Hervé de Charette's Erfahrungen in diesem Jahr bei seiner Mission in Israel und im Nahen Osten sollten Frankreich und Europa zu denken geben. Zielsetzungen sollten also erst zu Hause koordiniert und straffe Entscheidungsfindungen und Aktions- und Sanktionsfähigkeit nachgewiesen werden. Mit dieser Eintrittskarte versehen kann die Europäische Union glaubhaft nachhaltige Außenpolitik betreiben. Die Europäer können mehr als nur zahlen, wenn sie nur wollen, Mr. Secretary Christopher. Hinsichtlich des Zwangs zur Einigung und des Erfolgsdrucks noch einmal ein Wort an unsere britischen Partner: Ich bin davon überzeugt: Wenn die Regierungskonferenz bei der Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik keine vertraglich verankerten Formen finden wird - die muß sie finden, um Erfolg zu haben -, dann wird sich die Notwendigkeit gemeinsamer Aktionen andere Wege bahnen, dann werden Ersatzlösungen gefunden werden müssen, die uns nicht befriedigen können, die nur die zweit- oder drittbeste Lösung sein werden, die aber Probleme und Schwierigkeiten aufwerfen, von denen gerade die britische Position allzumal direkt betroffen sein wird. Deswegen mein dringender Appell, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik so ernst zu nehmen, wie sie ist, nämlich die Alternative klarzumachen: Entweder wir Europäer schaffen nun mit Anschluß der Briten eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, oder wir laufen Gefahr, in einen außenpolitischen Nihilismus abzugleiten. In Europa steht viel auf dem Spiel. Die Bundesregierung hat sehr präzise Vorschläge eingebracht. Sie hat im Gegensatz zu dem hier erweckten Eindruck die Tagesordnung bisher ganz intensiv bestimmt und wird das auch in Zukunft tun. Es ist aber nicht klug, in allen Bereichen seine Positionen in der öffentlichen Debatte so weit hinauszuposaunen, daß sie später zu einer Frage von Status und Gesichtswahrung werden bzw. es anderen schwerer ermöglichen, mit an Bord zu kommen. Deswegen weiter so. Weiter auf dem Aufstieg zum Dubliner Gipfel! Ich hoffe, daß im Dezember nach dem Dubliner Gipfel der Abstieg in das konkrete Tal der Arbeit beginnen kann. Nach unten geht es bekanntermaßen immer schneller. Der Druck wird auch größer. Diesen brauchen wir. Im Jahre 1997 muß dann für Europa eine handlungsfähige außenpolitische Struktur erreicht sein. Ansonsten versündigen wir uns an der Zukunft unseres Kontinents. ({9})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es wird jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sprechen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Nicht pauschale Polemik und Kritik an einzelnen Punkten, auch nicht eine Inflation von Anträgen und Vertragsformulierungen kann die richtige Unterstützung der schwierigen Verhandlungen der Bundesregierung, die sie zu führen hat und derzeit führt, sein. ({0}) Vielmehr hätte ich mir eine möglichst breite Übereinstimmung in wesentlichen Grundfragen europäischer Politik gewünscht. ({1}) Dublin hat zweierlei deutlich gemacht: zum einen den überzeugenden Willen vieler Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die Regierungskonferenz weiterzubringen; zum anderen natürlich die Schwierigkeiten und den dornigen Weg, der noch vor uns liegt. Etwas anderes war realistischerweise nicht zu erwarten. Meine Damen und Herren, auf dem Weg zu mehr Demokratisierung, Transparenz, Bürgernähe und auch Stärkung der Bürgerrechte ist es schwierig, die Mitgliedstaaten mit sehr unterschiedlichem Verfassungsverständnis auf einen breiten Konsens, auf Mindeststandards zu vereinigen. Aber gerade mit Transparenz, mit begründeten und nachvollziehbaren Entscheidungen auf europäischer Ebene kann man die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union von der Notwendigkeit gemeinschaftlichen Handelns überzeugen. Dabei ist für die F.D.P. die notwendige Vertiefung der Europäischen Union nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer Ausweitung ihrer Zuständigkeiten. Denn Vorstellungen von einer Gemeinschaft mit möglichst umfassender Zuständigkeit in allen Lebensbereichen und auch von einer zentralistischen Organisationsform, die überreguliert ist, gehören sicherlich der Vergangenheit an. ({2}) Vertiefung bedeutet für uns, daß die Handlungsund Entscheidungsfähigkeit der Gemeinschaft überall dort gewährleistet und verbessert wird, wo ihr Tätigwerden nach dem Subsidiaritätsprinzip bejaht werden kann. Deshalb sprechen wir uns dafür aus, das im Maastrichter Vertrag verankerte Subsidiaritätsprinzip zu konkretisieren und konsequent weiterzuformulieren, aber natürlich auf der Grundlage der Präzisierungen, die es 1992 beim Europäischen Rat von Edinburg gegeben hat. 150 zurückgezogene Vorschläge der Kommission aus dem vergangenen Jahr sind ein Zeichen dafür, daß allein die Diskussion über Subsidiarität dazu führt, daß die Kommission sehr genau prüft und überlegt: Sind die Vorschläge wirklich notwendig für eine europäische Vereinheitlichung, oder ist es nicht doch in vielen Lebensbereichen besser, die Mitgliedstaaten da, wo es wirklich angemessen ist, nationale Regeln treffen zu lassen? Aber für uns ist auch ganz klar: Subsidiarität darf nicht Vorwand und Einfallstor für Renationalisierung der Politik sein. Wir werden es nicht hinnehmen, daß manche Ministerpräsidenten vielleicht mit diesem Vorwand versuchen, Kompetenzen zurückzuholen - zum Schaden Europas. ({3}) Mehr Bürgernähe und Demokratie in der Union werden aber auch dadurch erreicht, daß die Rechte der Bürgerinnen und Bürger in der Union erweitert werden. Es geht gerade um die Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, auch gegen einen auf europäischer Ebene. Ich verstehe nicht, warum hier nicht auch von der Opposition hervorgehoben wurde, daß wir im Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Bundestages beschlossen haben, daß das Diskriminierungsverbot im Vertrag verankert werden soll, daß wir uns für die Gleichberechtigung einsetzen wollen, die noch stärker im Vertrag von Maastricht verankert werden soll, und daß wir uns einig sind, daß in einer über die Regierungskonferenz hinausgehenden Perspektive ein Grundrechtekatalog geschaffen werden soll. Lassen Sie uns das doch gemeinsam vertreten! Das ist unsere Forderung an die Bundesregierung: hier erste Schritte zu gehen und bei der Regierungskonferenz erste Weichen zu stellen. ({4}) Lassen Sie mich noch ein Wort zum Bereich der Innen- und Justizpolitik, der dritten Säule, sagen. Da ist es unstreitig - ich möchte diesen Konsens hervorheben -, daß es in der Visapolitik, der Zollzusammenarbeit und der Asylpolitik zu einer Vergemeinschaftung kommen soll. Wir alle wissen, daß Zuwanderung und grenzüberschreitende Kriminalität - wenn überhaupt, dann - mit einigermaßen Erfolg nur auf europäischer Ebene gesteuert und bekämpft werden können. Auch da war es der Europaausschuß, der durch seine nachdrückliche und vor allen Dingen gut getroffene Entschließung, den Europäischen Gerichtshof in das Europol-Übereinkommen aufzunehmen, mit dazu beigetragen hat, daß die Bundesregierung durch diese Unterstützung einen Erfolg erzielen konnte. Ich meine, wir sollten in einer europapolitischen Debatte hier im Bundestag auf diesen wichtigen Zwischenschritt hin zum Abschluß der Regierungskonferenz eingehen und gerade diese Gemeinsamkeiten deutlich machen. Zum Schluß darf ich für die F.D.P.-Fraktion klarstellen, daß wir nicht sehen, daß mit dem Ansatz der flexiblen Integration ein Kerneuropa und eine Spaltung der Europäischen Gemeinschaft verfolgt wird. Wir halten es vielmehr für richtig, daß eine möglichst breite Übereinstimmung über die zu erreichenden Ziele herbeigeführt wird, es aber wie bei der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion die Möglichkeiten gibt, diese gemeinsamen Ziele mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zu erreichen, damit sich Europa in dem von uns so definierten Sinne weiterentwickeln kann. Wer nämlich im Interesse Deutschlands handelt, der muß europäisch handeln. Und wer heute Patriot ist, der muß Europäer sein. Vielen Dank. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile der Kollegin Dr. Susanne Tiemann das Wort.

Dr. Susanne Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002819, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die europäische Integration ist gekennzeichnet von Konsens und Konflikt; dies drückt sich auch in dieser Debatte aus. Sie drückt sich aus im Konsens darüber, daß wir dieses Europa nicht nur auf wirtschaftlichen Grundlagen bauen wollen, sondern daß wir auch eine soziale Komponente wollen. Sie drückt sich aber auch im Konflikt darüber aus, wie diese soziale Komponente zu gestalten ist. Darüber müssen wir sprechen. Die soziale Marktwirtschaft ist für uns das Credo und das Gesellschaftsmodell, das wir auf unser Europa der Zukunft übertragen wollen. Für uns darf Europa nicht nur ein großer Markt werden. Alle berechtigten Bestrebungen, Europa wettbewerbsfähig zu gestalten, dürfen nicht dazu führen, irrigerweise nur die wirtschaftlichen Aspekte der europäischen Einigung zu stärken. Vergessen wir doch nicht, meine Damen und Herren, daß nach der Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der Bewußtwerdung der individuellen Menschenrechte die Bismarcksche Reform Ausdruck der zweiten und nicht minder wichtigen Stufe der Aufklärung über die soziale Verantwortung von Gesellschaft und Staat ist und daß dies unsere europäische Tradition ist! ({0}) Sie darf im Europa der Zukunft nicht verschüttet werden. Nun erkenne ich an, daß sich die Opposition etwas schwertut bei der Frage: Wie sollen wir die soziale Dimension gestalten? Welche Initiativen sind hierzu zu ergreifen? Sehen wir uns einmal an, was von dieser Bundesregierung seit über zehn Jahren für die soziale Dimension Europas geleistet worden ist: Es war vor zehn Jahren auf dem Rat in Hannover, als auf deutsche Initiative europäische Sozialpolitik überhaupt erst wieder belebt worden ist. Es war Deutschland, das in Essen 1994 maßgebliche Anstöße für das konkrete Beschäftigungsprogramm der Europäischen Union gesetzt hat. Ich meine, wir sind im Laufe der Jahre bei der Herausbildung der sozialen Dimension einen ganzen Schritt auf diesem Wege vorwärtsgekommen. Um aber den europäischen Konsens sozialer Verantwortung dauerhaft zu manifestieren und in der Praxis wirksam werden zu lassen, fordern wir die umfassende Schaffung von sozialen Mindeststandards für alle Bereiche. Das ist der Weg, den wir für den geeigneten halten. In diesem Zusammenhang muß ganz klar bedauert werden, daß die Europäische Kommission seit geraumer Zeit keine Richtlinienvorschläge mehr vorlegt, um solche Mindeststandards zu schaffen. Bloße Programme, wie es sie zur Zeit gibt, reichen nicht aus. Ich fordere deshalb den zuständigen EU-Kommissar, Herrn Padraig Flynn, auch von dieser Stelle auf, zu dieser Politik der Schaffung von Mindeststandards durch Richtlinien zurückzukehren und neue Vorschläge vorzulegen. Dabei kann er sich auch auf den Katalog beziehen, der im Beitrag der Bundesregierung zum Grünbuch der Kommission über die Sozialpolitik enthalten ist, also zum Beispiel in bezug auf Leiharbeit, die Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben, auf Berufsberatung und Arbeitsvermittlung und auf viele Dinge mehr. Meine Damen und Herren, wir sind uns ebenfalls einig darin, daß entscheidend sein wird, wie Europa die große Herausforderung der Arbeitslosigkeit bewältigt, und daß davon abhängen wird, welches Vertrauen die Menschen in die zukünftige europäische Entwicklung haben werden. Kein Zweifel, Sozialpolitik kann heute auch in Europa nicht mehr isoliert betrieben werden, zu sehr verflochten sind alle Lebenssachverhalte und damit gerade auch der Arbeitsmarkt und all das, was mit ihm zusammenhängt. Das Schlagwort von der Globalisierung gilt ohne Zweifel gerade auch für die soziale Dimension. Kooperation und Koordination müssen deshalb mehr als je zur Devise werden. Das kennen wir ja aus dem Bereich der Wirtschaftspolitik in Europa seit vielen Jahren. Aber wir müssen auch etwas anderes beachten. Gerade im Bereich des Sozialen tritt die Vielfalt Europas besonders anschaulich hervor, in Gestalt von sozialen Sicherungssystemen, die tief im historischen und gesellschaftlichen Bewußtsein der einzelnen Nationen verankert sind. Das wird aber auch an den vielen Arten deutlich, Wirtschaftspolitik zu betreiben, die auf die jeweiligen wirtschaftlichen und regionalen Gegebenheiten abgestimmt werden kann. Gerade hier würde jede Vergemeinschaftung der Politik, wie es in den Anträgen der Opposition gefordert wird, zu einem konfliktträchtigen Einheitssystem führen und die Effizienz der Problemlösung beeinträchtigen. ({1}) Die jeweilige nationale Verantwortung - das kommt noch hinzu - würde verschleiert, damit die Suche nach Problemlösungen erschwert. ({2}) Letztlich würden wir mit einer solchen Einheitspolitik auch immer nur neue Zahlungsforderungen der Mitgliedstaaten provozieren. ({3}) Das kann nicht der Sinn von Sozialpolitik und auch nicht von Beschäftigungspolitik in Europa sein. Wir wenden uns deshalb gegen eine neue Kompetenz auf europäischer Ebene auf dem Gebiet der Beschäftigung, gegen jede neue Institution, die sich, wie wir wissen, nur wieder mehr oder weniger um sich selbst drehen müßte. Ich glaube, die Bürger haben genug von Kompetenzen, von Institutionen und von Bürokratie auf europäischer Ebene. Es muß darauf ankommen, auf der Basis des gemeinsam formulierten Beschäftigungsziels - das ist ja bereits 1994 geschehen - Informationen auszutauschen, Lösungen zu diskutieren und dort, wo sich konkrete Kooperation anbietet, zu konzertieren, ansonsten die Probleme aber unter Beibehaltung der europäischen Sicht mit national und regional zugeschnittenen Methoden anzugehen. Auf diese Weise liegt die Verantwortung für die Maßnahmen klar zutage. Dies bedeutet Verwirklichung der Subsidiarität, und sie ist - wie meist, so auch hier - das allerbeste Rezept. ({4}) Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion wird viel auf diesem Wege beitragen; denn sie bedingt ja die enge Kooperation der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken, aber unter Wahrung der Vielfalt der Nationen. Letztlich wird das Rezept für die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen eben nicht in der Finanzierung von Beschäftigung durch öffentliche Mittel zu suchen sein, sondern in der Stärkung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Darauf haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ja auch längst geeinigt, wenn sie im Konsens ihre Grün- und Weißbücher auf die Trias Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung abstellen und nicht etwa auf die Devise: Beschäftigung durch Kompetenzvergemeinschaftung und öffentliche Finanzierung. Die Bundesrepublik Deutschland - ich bezeichne sie als ein Urland der sozialen Marktwirtschaft - kann, meine ich, über diese Entwicklung mehr als froh sein, eine Entwicklung, die sich der Überwindung von staatswirtschaftlichem Merkantilismus, Planwirtschaft und Manchester-Kapitalismus gleichermaßen verschrieben hat. Wir sollten diese Entwicklung mit allen Kräften vorantreiben und sie nicht mit einem neuen Kompetenzgewirr und Institutionengefüge verschütten. Wir brauchen eine stabile Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte in Koordination auf der einen Seite und die Flexibilität der Arbeitsmärkte, die Senkung der Arbeitskosten und der Belastung mit Steuern und Abgaben auf der anderen Seite. Meine Damen und Herren von der Opposition, diese Senkung der Kosten gerade für die Unternehmen ist auf europäischer Ebene bereits Konsens und in allen Beschäftigungsprogrammen enthalten. Sie werden neue Leistungs- und Innovationskräfte wecken. Die Verbesserung unserer Bildungssysteme wird für die Wettbewerbsfähigkeit Europas ebenso entscheidend sein wie die Neuorientierung unserer Forschungsmöglichkeiten und die Nutzung neuer Technologien. Das ist der beste Beschäftigungspakt. Die Grundlinien dafür sind in den Papieren von Madrid, Turin, Essen und Cannes längst enthalten, während wir offenbar noch nach alteingefahrenen Vorstellungen von staatlicher Interventionspolitik diskutieren. Sie werden durch neue Kompetenzen und neue Institutionen keinen einzigen Arbeitsplatz schaffen. Ein soziales Europa kann kein Europa der Vergemeinschaftung von Verantwortung sein, sondern nur ein Europa, in dem durch Koordination und Kooperation eigene Verantwortungen für den funktionierenden Sozialstaat wirksam wahrgenommen werden. Auch soziale Grundrechte, wie sie von der Opposition immer wieder gefordert werden, können keinen Ersatz für konkret verantwortete Aktionen bilden. Ein Recht auf Arbeit, Bildung, Wohnung usw. klingt wunderschön, verkommt aber zu einem leeren Programmsatz, wenn es nicht auf die praktischen Voraussetzungen zu seiner Verwirklichung trifft. Wir lehnen derartige formale Garantien ab, weil sie falsche Erwartungen wecken würden - als wäre Arbeit schon mit ihrer rechtlichen Postulierung geschaffen. Worthülsen sind kein Ersatz für innovative Wachstums- und Beschäftigungspolitik. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Bemühen, das Sozialprotokoll in den Maastrichter Vertrag zu integrieren. Wir brauchen im Vertrag jedoch keine besonderen Bestimmungen für eine europäische Beschäftigungspolitik und auch keine Überwachung durch eine europäische Bürokratie. Es kann auch nicht so sein, daß wir die deutsche Tarifautonomie für ein Linsengericht auf europäischer Ebene verkaufen, was wir durch eine vergemeinschaftete Politik unweigerlich täten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Redezeit, Frau Kollegin.

Dr. Susanne Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002819, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Statt dessen müssen wir den sozialen Dialog in Europa fördern. Wir müssen hierzu Institutionen, die es bereits gibt, nämlich den sozialen Dialog, den Wirtschafts- und Sozialausschuß, den Ausschuß der Regionen, noch besser als bisher nutzen. Die Quintessenz unserer heutigen Debatte muß also lauten: für die soziale Dimension als gleichwertiger Partner der wirtschaftlichen und politischen Dimension

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin.

Dr. Susanne Tiemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002819, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich komme zum Schluß -, für eine Politik realistischer Minderstandards, gegen eine inflationäre Programmpolitik und für die historisch und regional gewachsene Vielfalt der sozialen Sicherungssysteme. Die Bundesregierung bekennt sich dazu. Wir unterstützen sie dabei. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5734. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Der Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/4922 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Forderungen an die Konferenz zur Überprüfung des Maastricht-Vertrages zur Schaffung eines europäischen Beschäftigungspaktes und einer europäischen Sozialunion, Drucksache 13/4922 Nr. 2 a: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/ 4002 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einer gemeinsamen Beschäftigungs- und Sozialpolitik, Drucksache 13/4922 Nr. 2 b: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Vizepräsident Hans Klein Drucksache 13/4072 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Beschlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Regierungskonferenz 1996 als Wegbereiterin für eine soziale und ökologische Reform der Europäischen Union, Drucksache 13/4922 Nr. 2 c: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/4074 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenommen. Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu den Grundrechten für die in der Europäischen Union lebenden Menschen, Drucksache 13/4499: Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der PDS auf Drucksache 13/2457 abzulehnen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage - ({0})

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Unsere Fraktion beantragt, über diesen Antrag abzustimmen. Das hatten wir auch mitgeteilt. Es ist aber anscheinend nicht entsprechend ausgedruckt worden. Wir wollen hier über den Antrag der SPD auf Drucksache 13/5723 abstimmen. Das ist auch vereinbart worden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das liegt dem Tagungspräsidium nicht vor. ({0}) - Ja, schön, aber dann müssen die Geschäftsführer dies dem Tagungspräsidium mitteilen. Daß mitten im Abstimmungsprozeß ein solcher Antrag gestellt wird, ist schon höchst ungewöhnlich. Es ist ja die Zeit da, das vorher zu sagen. Sie wollen also - ({1}) - Ja, bitte. Wenn Sie die Änderung noch einmal verbal formulieren, können wir gleich über den Antrag abstimmen.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wollen, daß über den Antrag der SPD auf Drucksache 13/5723 abgestimmt wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, entgegen der ursprünglichen interfraktionellen Vereinbarung, den Antrag der SPD auf Drucksache 13/5723 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen, beantragt die Fraktion der SPD, über den Antrag jetzt abzustimmen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e sowie die Zusatzpunkte 3 bis 6 auf: 3. a) Vereinbarte Debatte zur Deutschen Einheit b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Aufbau Ost - Chancen und Risiken für Deutschland und Europa - Drucksache 13/5657 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Finanzausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Zweite und Dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur teilweisen Erstattung des bei der Währungsunion 1990 2 : 1 reduzierten Betrages vorerst für ältere Bürgerinnen und Bürger sowie Alleinerziehende - Drucksache 13/1737 - ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({2}) - Drucksache 13/3785 - Berichterstattung: Abgeordneter Reiner Krziskewitz d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Entwurf eines Verfahrensgesetzes zu Artikel 44 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Eini- Vizepräsident Hans Klein gungsvertrag - vom 31. August 1990 - Drucksachen 13/1080, 13/4005 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer Hans-Joachim Hacker e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Gruppe der PDS Anpassung, Änderung und Ergänzung des Einigungsvertrages sowie konsequente Verwirklichung der in ihm enthaltenen Rechtsansprüche der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer - Drucksachen 13/2226, 13/4412 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Hacker Dr. Michael Luther Dr. Dietrich Mahlo ZP3 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern ZP4 Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner Schulz ({5}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aufbau Ost wirksam voranbringen - Drucksache 13/5722 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({6}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt und der Fraktion der SPD Eine Zuspitzung der sozialen und wirtschaftlichen Krise in Ostdeutschland abwenden - Drucksache 13/5732 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({7}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, Ernst Bahr, Wolfgang Behrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bericht der Bundesregierung zur deutschen Einheit - Drucksache 13/5731 Nach einer - hoffentlich nicht in Frage gestellten - interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor genau einer Woche hat sich die deutsche Vereinigung zum sechstenmal gejährt. Das ist vielfach Anlaß gewesen, Bilanz zu ziehen: in Zeitungsartikeln, Interviews und Fernsehdiskussionen und heute im Bundestag. Man kann Bilanz allein an Hand volkswirtschaftlicher, gesamtwirtschaftlicher Daten ziehen, also in DMark, in Straßenkilometern oder in Wohnungseinheiten. Aber damit würde der Bedeutung dieses Jahrestages für das Land und die Menschen nur zum Teil Rechnung getragen. Ich weiß sehr wohl, diese gesamtwirtschaftlichen Daten sind nur die eine Seite der Medaille. Bilanz ziehen, das heißt für Millionen von Menschen, abzuwägen, was für sie persönlich, für ihre Familie und ihre Freunde die deutsche Einheit gebracht hat. Das kann man auch in Zahlen tun, aber nicht nur. ({0}) Ich weiß, es gibt eine nicht geringe Anzahl von Menschen in Ost- und auch in Westdeutschland, die sich subjektiv als Verlierer der Einheit sehen. Für sie mag die Tatsache, den Arbeitsplatz verloren zu haben, mehr gelten, als nunmehr in einem Rechtsstaat zu leben und sich frei äußern und bewegen zu können. Ich habe für diese Menschen Verständnis, und wir müssen alles daransetzen, um vor allem mit der Arbeitslosigkeit, und das gerade in den neuen Bundesländern, fertig zu werden. ({1}) Niemand hat dafür ein Patentrezept, auch die Opposition nicht, die das fairerweise auch einräumt. Die Bundesregierung ist jedoch überzeugt: Die Arbeitslosigkeit läßt sich zurückdrängen; sie läßt sich in dem Maße zurückdrängen, wie es gelingt, die Wirtschaft im vereinten Deutschland auf den globalen Märkten wettbewerbsfähiger zu machen. Ich weiß, für denjenigen, der heute keinen Arbeitsplatz hat, ist dies kaum ein Trost. Aber niemand darf vergessen: Erstens. Es hat nie eine realistische, von Wunschdenken freie Alternative zur raschen Einführung der Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern gegeben. Wer ernsthaft behaupten wollte, daß es eine solche Alternative gegeben hätte, verkennt bewußt die ökonomische und die gesellschaftliche Situation der DDR im Jahre 1990. Zweitens - das scheint mir sehr wichtig -: Es gibt eine übergroße Mehrheit von Menschen in West und Ost, die mit der deutschen Einheit Zufriedenheit, Befreiung und ein großes Glücksgefühl verbinden, und zwar unabhängig davon, ob sich das auch in Mark und Pfennig ausdrücken läßt. Meine Damen und Herren, wir haben beileibe nicht alles erreicht, was wir uns gewünscht und vorgenommen haben, aber wir haben immens viel erreicht und viel mehr erreicht, als wir zu hoffen geBundesminister Dr. Günter Rexrodt wagt hatten. Vor allem: Was wir erreicht haben, haben die Menschen in Ost und in West gemeinsam erreicht. Nichts wäre gelaufen, nicht eine Mark hätte etwas gefruchtet ohne den enormen Einsatz und die gewaltige Reformbereitschaft der Menschen in Ostdeutschland. ({2}) Hier sind Umbrüche in allen Lebenssituationen bewältigt und persönliche Anpassungsleistungen erbracht worden, von denen sich im Westen bis heute so mancher keine rechte Vorstellung macht oder auch machen will. Genauso unverzichtbar für die gemeinsame Aufbauleistung war in den vergangenen Jahren aber auch das persönliche Engagement vieler Westdeutscher in Wirtschaft und Verwaltung. Auch dürfen wir die jährlichen West-Ost-Transfers für Sozialleistungen und Investitionen in dreistelliger Milliardenhöhe nicht vergessen. Es ist eine Gemeinschaftsleistung, die hier erbracht worden ist, die sich sehen lassen kann und auf die wir alle stolz sein können. ({3}) Die Bundesregierung hat vor kurzem den zweiten Bericht zum Aufbau Ost vorgelegt. Er enthält volkswirtschaftliche Gesamtdaten, an denen keiner vorbeigehen kann. Die Habenseite der Bilanz ist beachtlich und ermutigend. Die Leistung pro Beschäftigten hat sich in der ostdeutschen Wirtschaft seit 1991 mehr als verdoppelt. Die Investitionsquote ist mit über 50 Prozent mehr als doppelt so hoch wie zu Zeiten des westdeutschen Wirtschaftswunders in den 50er und frühen 60er Jahren. Es gibt heute in Ostdeutschland über 500 000 mittelständische Unternehmen mit zusammen mehr als 3,4 Millionen Beschäftigten. Die Bruttoeinkommen je Beschäftigten stiegen in den letzten vier Jahren um 80 Prozent. Ich möchte auch die Verbesserungen der Infrastruktur, die 6 Millionen Telefonanschlüsse, die es heute gibt, sowie die Tatsache erwähnen, daß 90 Prozent der Bundesfernstraßen - das sind 11 000 Kilometer - und 4 500 Kilometer Schienenstrecke ausgebaut oder neugebaut worden sind. Mehr als die Hälfte aller Wohnungen in den neuen Bundesländern wurden mit Bundesmitteln saniert oder modernisiert. So weit, so gut, meine Damen und Herren. Dem steht eine Sollseite gegenüber, die ich nicht verschweigen möchte. Auf ihr haben wir zu verzeichnen: Der Anteil der ostdeutschen Produktion an der ostdeutschen Nachfrage ist mit knapp zwei Dritteln nach wie vor sehr gering. Produktivität und Lohnentwicklung klaffen weiterhin ganz erheblich auseinander. Die industrielle Basis in den neuen Ländern ist viel zu schmal. Vor allem: Von denen, die in Ostdeutschland arbeiten wollen, hat derzeit jeder vierte keine Beschäftigung auf dem normalen Arbeitsmarkt. 25 Prozent der Arbeitsplätze fehlen. Meine Damen und Herren, trotz allem, was wir erreicht haben, ist Ostdeutschland wirtschaftlich gesehen nach wie vor nicht gesund. Aber wir dürfen uns die gewaltige Aufbauleistung auf der anderen Seite auch nicht kleinreden lassen, besonders nicht angesichts des bedrückenden Erbes von vier Jahrzehnten Planwirtschaft. Es ist zu einfach, die Schuld für die Sollseite, die nach wie vor offen ist, bei der Bundesregierung oder bei den Prinzipien und Konzepten unserer Wirtschaftspolitik abzuladen. Tatsache ist, daß wir vier Jahrzehnte Planwirtschaft, vier Jahrzehnte mangelnder Vorbereitung der ostdeutschen Wirtschaft auf den Weltmarkt zu bewältigen haben. Das kann man eben nicht in drei Jahren. ({4}) Angesichts dieses Erbes ist die Notoperation deutsche Einheit erstaunlich gut verlaufen. Wenn Sie ins Ausland sehen, werden Sie das auch überall bestätigt finden. Wir müssen uns auf etwas längere Zeithorizonte einstellen, bis sich die ostdeutsche Wirtschaft im Wettbewerb behauptet, genügend Chancen für Einkommen und Beschäftigung bietet und nicht mehr auf die Transfers aus dem Westen angewiesen ist. Der Aufbau Ost wird um so eher gelingen, je schneller wir die noch bestehenden strukturellen Defizite abbauen können. ({5}) An erster Stelle möchte ich hier die im Vergleich zu Westdeutschland viel zu hohen Lohnstückkosten nennen, deren Differenz in letzter Zeit wieder größer geworden ist. Für die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe ist sie eine enorme Hypothek. Ich weiß sehr wohl, daß dies gerade im Osten Deutschlands ein höchst sensibles Thema ist. Aber an der ökonomischen Selbstverständlichkeit, daß nur gezahlt werden kann, was auch erwirtschaftet worden ist, führt kein Weg vorbei. Wer dies auf Dauer mißachtet, gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit, den Bestand der Unternehmen und damit die Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern. ({6}) Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht gibt es keinerlei Spielraum mehr für undifferenzierte Lohnerhöhungen und für eine schnelle generelle Lohnangleichung. Den Wunsch danach kann man subjektiv für die Betroffenen nachvollziehen, hierfür ist aber objektiv kein Spielraum vorhanden. Wir brauchen vielmehr eine Lohnpolitik, die der unterschiedlichen Lage in den Betrieben gerecht wird, die insbesondere dort Zurückhaltung übt, wo die Produktivität hinter den Löhnen herhinkt. Gefordert sind eine Differenzierung, Flexibilität und Kreativität. In vielen ostdeutschen Unternehmen haben Management und Belegschaft dem schon gemeinsam Rechnung getragen. Meine Damen und Herren, die ostdeutschen Unternehmen brauchen auch an anderer Stelle Entlastung. Hier müssen die Maßnahmen greifen, mit denen die Bundesregierung die Standortbedingungen in ganz Deutschland verbessert. Zusammen mit der anstehenden Steuerreform und der Reform der Alterssicherungssysteme bilden diese Maßnahmen aus unserer Sicht ein in sich geschlossenes Konzept, ein Konzept für mehr Wachstum und Beschäftigung. DaBundesminister Dr. Günter Rexrodt mit verbreitern wir auch die gesamtwirtschaftliche Basis für die Erwirtschaftung der weiter notwendigen Transfers. Ostdeutschland wird weiterhin auf eine besondere Unterstützung aus dem Westen angewiesen sein. Hierzu steht die Bundesregierung ohne Wenn und Aber. ({7}) Hier möchte ich zwei Punkte in besonderer Weise ansprechen. Dies ist erstens die Wirtschaftsförderung Ost. Meine Damen und Herren, wir werden die Wirtschaftsförderung Ost auf absehbare Zeit auf hohem Niveau fortsetzen. ({8}) Die Strukturen dafür liegen mit unserem mittelfristigen Förderkonzept bis Ende 1998 fest. Schwerpunkte bleiben die Investitionen vor allem im verarbeitenden Gewerbe und im Mittelstand. Im Haushaltsentwurf 1997 stellen wir trotz der äußerst knappen Mittel das dafür Notwendige zur Verfügung. Über die Einzelheiten der Förderung nach 1998 werden wir früh im Jahre 1997 entscheiden, und dies auch mit Blick auf die Ergebnisse und Vorschläge der Steuerkommission. Ein Aspekt erscheint mir besonders wichtig, das ist das private Kapital, das wir in Ostdeutschland insbesondere für Forschung und Entwicklung brauchen. Hier schafft die Bundesregierung zur Zeit wichtige Voraussetzungen für die Belebung des Marktes für Wagnisfinanzierung. Wir wollen es zum Beispiel Kapitalbeteiligungsgesellschaften erleichtern, ebenfalls die günstige steuerliche Behandlung von Unternehmensbeteiligungsgesellschaften in Anspruch nehmen zu können. Wir wollen für mittelständische Unternehmen den Börsengang erleichtern und in dem Zusammenhang die Prospekthaftung und die Publizitätspflichten verändern. Davon werden innovative kleine und mittlere Unternehmen in ganz Deutschland, vor allem aber im Osten, profitieren. Speziell mit Blick auf Ostdeutschland haben wir vor kurzem gemeinsam mit den neuen Bundesländern eine Investoren-GmbH gegründet. Deren Aufgabe ist es, zielgerichtet Investoren aus dem Ausland anzusprechen und weltweit für den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland, für den Wirtschaftsstandort neue Bundesländer zu werben. Ich bin sehr froh darüber, daß es gelungen ist, den Aufsichtsrat dieser neuen Gesellschaft unter anderem mit hochrangigen Vertretern der deutschen Wirtschaft, und zwar mit solchen, die weltweite Kontakte und Verbindungen haben, zu besetzen. Neben der Förderung und der Fortsetzung der Förderung möchte ich einen zweiten Punkt ansprechen: die ABM. Wir werden zwar die arbeitsmarktpolitischen Instrumente weiter zurückfahren, aber wie bisher, das heißt, in Ruhe und mit Augenmaß, und das heißt auch, in Abhängigkeit von Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Ländern insgesamt, in der jeweiligen Region sowie unter lokalen und betrieblichen Aspekten. ({9}) - Ich komme darauf, Frau Fuchs. - Es kann nicht sein, daß die ABM-Entlohnung teilweise deutlich über dem liegt, was am ersten Arbeitsmarkt verdient werden kann. ({10}) Das ist - das wissen Sie genau - nicht selten der Fall, und das müssen wir abstellen. Es kommt darauf an, die Kosten pro Maßnahme, die in Ostdeutschland relativ hoch sind, zu senken. Ich sage ausdrücklich, Frau Fuchs: Es wird keinen Kahlschlag geben; aber wir müssen die Förderung bei ABM mit Augenmaß und unter Beachtung der regionalen Arbeitsmarktverhältnisse zurückfahren. Wir haben uns das ausdrücklich unter Beachtung der Arbeitsmarktlage vorgenommen, nicht blindlings, nicht schematisch und nicht generell irgendwelchen Statistiken folgend, sondern so angelegt, wie es die Situation in der jeweiligen Region und bei der jeweiligen Maßnahme verlangt. Auch Länder und Kommunen müssen ihren Beitrag zum Aufbau Ost leisten, zum Beispiel durch mehr und ernstgemeinte Privatisierungen bei Wasser und Abwasser. Der Kompromiß bei den kommunalen Altschulden schafft bei den Kommunen Spielräume. Diese müssen jetzt gezielt für Maßnahmen genutzt werden, die in den Kommunen Wachstum und Beschäftigung fördern. Die Kommunen haben hier Handlungsspielräume, um in diesem Sinne tätig zu werden. Auf der anderen Seite bleibt die westdeutsche Wirtschaft aufgefordert, ihr Engagement in Ostdeutschland zu verstärken. Dringend nötig ist eine zweite Welle von Investitionen insbesondere in der Industrie. Wir haben in den Jahren 1991 und auch noch 1992 erfreulicherweise eine erste Welle gehabt, die dann aus nachvollziehbaren, aber nicht akzeptablen Gründen abgeflacht ist. Wir brauchen nun eine neue Welle von Investitionen. Dazu möchte ich die deutsche Wirtschaft ausdrücklich auffordern. ({11}) Wichtig bleibt im übrigen auch künftig die Unterstützung der Europäischen Union beim Aufbau Ost. Den unmittelbaren innenpolitischen wie auch europapolitischen Zündstoff, der im Spannungsverhältnis von Beihilfegewährung und Beihilfekontrolle liegt, werden wir entschärfen, haben wir schon entschärft. Nun ist der nächste Schritt, daß wir zu Art. 92 Abs. 2 c des EG-Vertrages über Sonderhilfen auf Grund der deutschen Teilung in wenigen Monaten - Ziel ist bis Weihnachten - ein Modell realisieren, mit dem sowohl die Europäische Union als auch wir unter Beachtung der unvergleichbaren Sondersituation der neuen Länder leben können. Wir wollen im übrigen auch die großen Einzelfälle, die auf dem Tisch liegen - Sket, die Werften, Bestwood und andere -, in Gesprächen mit der Europäischen Union lösen. Schwierige und harte Verhandlungen erwarte ich über die Förderkulisse der Gemeinschaftsaufgabe, wo es erste Gespräche bereits vorgestern abend gegeben hat. Ich werde mich - das sage ich auch mit Blick auf die eigenen Reihen - mit allem Nachdruck dafür einsetzen, daß der von Bund und Ländern beschlossene Rahmenplan in Brüssel Zustimmung findet. Das ist ein schwieriges Geschäft; aber das Engagement der Bundesregierung steht hier außerhalb jedes Zweifels. ({12}) Die Vollendung der Einheit, das menschliche, kulturelle und gesellschaftliche Zusammenwachsen von Ost und West auf allen Ebenen, hat sich seit dem 3. Oktober 1990 als schwieriger erwiesen, als viele zunächst erwartet und viele erhofft hatten. Wir sollten darüber aber nicht vergessen, wieviel mehr es an Verbindendem als an Trennendem zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland gibt. Das Verbindende zu bewahren und auszubauen und das noch Trennende zu beseitigen ist unsere gemeinsame Aufgabe. Der Aufbau Ost kann nur als Gemeinschaftsaufgabe gelingen. Das ist kein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft. Daß wir gute Chancen haben, den Weg fortzusetzen und erfolgreich zu sein, kann jeder erkennen, der vorurteilsfrei auf das schaut, was wir geschafft haben. Das läßt auch keinen Zweifel daran: Wir sind auf dem richtigen Weg und wir werden diesen Weg fortsetzen. Schönen Dank. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Rolf Schwanitz.

Rolf Schwanitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach Ihrer Rede, Herr Bundesminister Rexrodt, verstehe ich schon, daß es der Bundeskanzler vorgezogen hat, sich mit dem Präsidenten der Republik Peru zu treffen. ({0}) Das war die alte Rhetorik, die wir schon seit Jahren kennen, das Abspulen von Statements aus der Vergangenheit nach dem Motto: „Weiter so". ({1}) Was wir heute von Ihnen hätten erwarten können, wäre eine kritische und schonungslose Bilanz der wirtschaftlichen Situation im Osten; dazu von Ihnen kein Wort. ({2}) In den vergangenen Monaten haben wir einen atemberaubenden Absturz der wirtschaftlichen Tätigkeit in den neuen Bundesländern erlebt. Die Wachstumsraten sind von 9,6 Prozent im vierten Quartal 1994 auf minus 1,2 Prozent im ersten Quartal 1996 zurückgefallen. Mich alarmiert dieser wirtschaftliche Absturz, Sie, Herr Minister, offensichtlich nicht. Was steht hinter diesen Zahlen? Hinter diesem Absturz werden die elementaren Schwächen des wirtschaftlichen Aufbaus in Ostdeutschland sichtbar. Das sind keine konjukturellen Auf und Abs, wie wir sie von den üblichen zyklischen Bewegungen aus der Vergangenheit kennen. Hier werden tiefgreifende Strukturverwerfungen sichtbar. Mehr noch: Hier wird deutlich, daß das Aufbaukonzept dieser Bundesregierung für Ostdeutschland am Ende ist. Sie, Herr Bundesminister Rexrodt, stellen sich heute hier hin und tun so, als sei überhaupt nichts passiert. ({3}) Die Wirtschaftsdaten des Jahres 1996 und die Prognosen für 1997 machen eines ganz deutlich: Die wirtschaftliche Aufholjagd in den neuen Ländern gegenüber dem Westen ist praktisch zum Erliegen gekommen. Der wirtschaftliche Aufbau stockt jedoch nicht nur. Wichtige Wirtschaftsdaten zeigen uns, daß der Osten gegenüber dem Westen wieder zurückfällt. Das ist im Herbst 1996 die wirkliche Situation. ({4}) Die Wirtschaftsdaten für Ostdeutschland zeigen seit anderthalb Jahren einen eindeutigen Trend: Es ist ein Trend, der besagt, daß die ostdeutsche Wirtschaft kaum mehr schneller wächst als die westdeutsche. Alle Wirtschaftsinstitute sagen das. Nur der Bundeskanzler faselt noch von „blühenden Landschaften", Sie, Herr Minister Rexrodt, von den „Wirtschaftswunderjahren" in Ostdeutschland oder die CDU/CSU-Fraktion - vor kurzem in einer Presseerklärung - vom „starken Aufschwung" im Osten im nächsten Jahr 1997. So biegen Sie sich die Wirklichkeit zurecht. ({5}) Meine Damen und Herren von der Koalition, hören Sie mit diesen Albernheiten auf. Hören Sie auf, die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern zu beschönigen und zu verharmlosen. ({6}) Mit diesen Märchen schaden Sie uns allen, nicht nur der Glaubwürdigkeit und Verläßlichkeit Ihrer Politik. Sie schaden aber vor allem den Menschen in Ostdeutschland, weil Sie das Vertrauen überhaupt in die Politik zerstören und mit Hoffnung und Wünschen der Menschen in Ostdeutschland Schindluder treiben. ({7}) Dürfen Sie sich eigentlich wundern, wenn in den Ländern der Europäischen Union der Eindruck entstanden ist, daß sich die Lage in Ostdeutschland allmählich normalisiert hat und besondere Hilfen deshalb nicht mehr notwendig sind? Das ist doch der Kern des Konflikts zwischen Sachsen und der Europäischen Kommission. Die Arbeitnehmer in Zwickau und in Chemnitz löffeln jetzt die Suppe aus, die die Bundesregierung den neuen Ländern eingebrockt hat. ({8}) Sie, Herr Minister, haben es in Brüssel versäumt, die Schwere und das wahre Ausmaß der Probleme des wirtschaftlichen Aufbaus in Ostdeutschland klarzumachen. Es gibt keine Region in Europa mit solchen Problemen wie die neuen Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland. Doch Sie haben die Probleme Ostdeutschlands schöngeredet und kleingeschrieben. Das geht schon los bei der unsäglichen Prognose des Bundeskanzlers im Herbst 1990, in drei bis fünf Jahren sei der Wirtschaftsaufbau in Ostdeutschland geschafft, und es reicht bis in die jüngst auf den Tisch gelegten Regierungsdokumente hinein. Im übrigen, der Bundeskanzler hat seine fatalen Äußerungen von damals bis jetzt kein einziges Mal korrigiert: Im Gegenteil, noch am 2. September 1995 meinte er - ich zitiere -: Sie sind da, die blühenden Landschaften, das läßt sich nicht leugnen. Sie machen es der EU-Kommission wirklich einfach. Karel van Miert braucht nur die Bundesregierung und den Bundeskanzler zu zitieren, um die Notwendigkeit von Hilfen für Ostdeutschland weiter in Zweifel zu ziehen. ({9}) Es sind ja nicht nur Ihre Worte, es sind auch Ihre Taten, die die glaubwürdige Vertretung ostdeutscher Interessen in Brüssel untergraben. Sie, die Bundesregierung ist es doch, die die Finanzierung des wirtschaftlichen Aufbaus unterminiert. Sie sind es doch, die die investiven Ausgaben des Bundes für Ostdeutschland kürzen. Sie sind es doch, die die steuerliche Investitionsförderung brutal zusammengestrichen haben. Und Sie sind es doch, die die Arbeitsmarktpolitik - hier gerade wieder bestätigt - für Ostdeutschland aushöhlen wollen. Karel von Miert braucht Ihnen doch nur Ihre eigene Politik vorzuhalten. Warum sollte eigentlich die Europäische Kommission Ostdeutschland höchste Prioritäten in der Förderung zuerkennen, wenn Sie es selbst noch nicht einmal machen? Das gibt doch gar keinen Sinn, meine Damen und Herren. ({10}) Meine Damen und Herren, jeder weiß, der wirtschaftliche Aufbauprozeß ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Jeder weiß, daß von einer selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung, ja, von einer funktionierenden Marktwirtschaft in den neuen Ländern noch keine Rede sein kann. Kurt Biedenkopf hat doch recht, wenn er darauf hinweist, daß der Aufbauprozeß, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost noch 70 Jahre dauert, wenn der wirtschaftliche Trend der letzten anderthalb Jahre auch in Zukunft anhält. Nur, wer soll denn das eigentlich in Deutschland aushalten? Das halten weder die Menschen in Ostdeutschland noch die Menschen in Westdeutschland aus. Wenn die Arbeitsplätze nicht in die neuen Länder kommen, dann gehen die Arbeitskräfte zu den Arbeitsplätzen in den Westen. So einfach ist das, meine Damen und Herren. ({11}) Deshalb brauchen wir mehr als eine Politik des bloßen „Weiter so". Wir brauchen einen neuen Anfang. Wir brauchen eine grundlegende Neuorientierung des wirtschaftlichen Aufbaukonzepts für Ostdeutschland. Wir brauchen eine umfassende Bilanz der bisherigen Förderpolitik. Wir brauchen eine ungeschönte Bewertung der Förderinstrumente. Wir brauchen eine schonungslose Aufdeckung der Fehlentwicklungen und Mißstände beim bisherigen wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland. ({12}) Meine Damen und Herren, das größte Problem von allen ist die Arbeitslosigkeit. Ich stelle immer wieder fest, daß den meisten Menschen in Westdeutschland die katastrophale Lage des ostdeutschen Arbeitsmarktes überhaupt noch nicht bekannt ist. Wer weiß denn schon in den alten Bundesländern, daß 75 Prozent aller Arbeitnehmer in Ostdeutschland nach 1989 ihren Arbeitsplatz verloren haben? Wenn ich das einmal auf westdeutsche Verhältnisse hochrechne, heißt das, daß sage und schreibe 21 Millionen Beschäftigte in den alten Bundesländern innerhalb weniger Jahre ihren Arbeitsplatz verloren hätten. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was das für die soziale und politische Stabilität der Bonner Republik bedeutet hätte. Nur, den Menschen in der ehemaligen DDR hat man - ich sage es offen - die soziale Katastrophe zugemutet. ({13}) Wer weiß denn schon in Westdeutschland, daß seit der Vereinigung 40 Prozent der Arbeitsplätze in der ostdeutschen Gesamtwirtschaft und 80 Prozent der Arbeitsplätze in der ostdeutschen Industrie vernichtet wurden? ({14}) Woher sollten es die Westdeutschen auch wissen, wenn sie von einer Bundesregierung regiert werden, die systematisch die Probleme auf dem Arbeitsmarkt ignoriert, kleinredet, frei nach dem Motto: Kopf in den Sand, und weg ist das Problem. ({15}) Meine Damen und Herren, deshalb sagen wir: Hände weg von den arbeitsmarktpolitischen MaßRolf Schwanitz nahmen! Hände weg von den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen! Hände weg von den Maßnahmen für Fortbildung und Umschulung! In den nächsten Jahren darf es noch nicht zu einer Absenkung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in Ostdeutschand auf westdeutsches Niveau kommen. Das hat nichts mit Privilegien für Ostdeutsche zu tun. Das sind notwendige Maßnahmen, die die soziale Katastrophe abmildern und politische Destabilisierungen in Ostdeutschland verhindern. Das ist doch wohl im Interesse von allen in Ostdeutschland und in Westdeutschland. ({16}) Ich füge hinzu: Es ist auch kein Ausweg, wenn die ABM-Tarife abgesenkt werden, wie es manchen Kollegen aus der Koalition heute hier wieder vorschwebt. Eine Absenkung der ABM-Löhne auf 75 Prozent des Tariflohns einer Branche bedeutet in Wahrheit, daß die Arbeitnehmer, die in ABM beschäftigt sind, weniger in ihrer Lohntüte haben, als ein Arbeitsloser mit Arbeitslosengeld oder mit Arbeitslosenhilfe. Und im übrigen: Ein paar Wochen Arbeit in einer ABM beim Teichentschlämmen oder bei Forstarbeiten in den Wäldern, bei Wind und Wetter ({17}) und bei 90 Prozent Tariflohn würde ich manchem in diesem Hause auch wünschen. Dann gingen manche leichten Sprüche dieser Koalition nicht so einfach über die Lippen. ({18}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es gibt keinen Weg an einer klaren Entscheidung vorbei. Wir brauchen das derzeitige Niveau der Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland auch weiterhin. Jetzt darf die Rutschbahn nach unten nicht noch steiler werden. Ich weiß nicht, welcher Abgeordnete aus Ostdeutschland, unabhängig davon, welcher Partei er angehört, hierfür überhaupt seine Stimme geben kann. ({19}) Arbeitsmarktpolitik ist wichtig, existentiell wichtig für Ostdeutschland. Doch Arbeitsmarktpolitik ist nur eine Hilfe für den Notfall. Im besten Fall ist sie eine Brücke für den ersten Arbeitsmarkt. Entscheidend kommt es darauf an, Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Daran sind viele beteiligt, zuerst und vornehmlich die Tarifvertragsparteien. Ostdeutschland wird aber nicht von den unsichtbaren Händen des Marktes allein aufgebaut, wie es sich einige Steinzeitliberale von der F.D.P. so vorstellen. ({20}) Gerade beim Aufbau neuer Wirtschaftsstrukturen ist ganz besonders auch der Staat gefordert. Auch bei knappen Kassen bleibt dies richtig. ({21}) Heute kommt es darauf an, die finanziellen Hilfen dort zu konzentrieren und zu verstärken, wo sie am dringendsten gebraucht werden: beim Wiederaufbau der Industriebasis in Ostdeutschland. Für mich heißt das: Wir müssen gerade auch dem privaten Unternehmenssektor verstärkt unsere Aufmerksamkeit schenken. Hier müssen zukunftssichere, innovative und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen, denn die fehlen in Ostdeutschland noch in Millionenhöhe. Wir sagen deshalb: Laßt uns doch noch in diesem Winter Maßnahmen zur Stärkung der industriellen Basis in den neuen Ländern ergreifen. Wenn Sie uns in diesen Dingen schon nicht glauben, fragen Sie, was Unternehmerverbände, was Wirtschaftswissenschaftler oder was Banken zu diesen Dingen sagen. Es ist Zeit zum Entscheiden. ({22}) Es ist absurd, daß die Bundesregierung alle zwei Jahre neu über die Konditionen der steuerlichen Investitionsförderung für Ostdeutschland entscheidet. Das muß doch entweder zu hektischen Überreaktionen oder zu einem lähmenden Attentismus führen. Deshalb sagen wir: Die steuerliche Investitionsförderung für Ostdeutschland einschließlich Berlins muß in einem mittelfristig angelegten Programm auf der Basis der Förderanstrengungen von 1996 - hier unterscheiden wir uns offensichtlich noch sehr stark - festgeschrieben und über das Jahr 1998 hinaus verlängert werden. ({23}) Auch bei einer grundlegenden Reform der Einkommen- und Körperschaftsteuer darf die steuerliche Investitionsförderung für Ostdeutschland in den nächsten Jahren nicht zur Disposition stehen. ({24}) In dem von meiner Fraktion eingebrachten Antrag fordern wir eine Aufstockung der Investitionszulage für Ausrüstungsinvestitionen im industriellen Sektor auf 15 Prozent sowie eine 20prozentige Investitionszulage für das mittelständische verarbeitende Gewerbe. Wir brauchen diese Korrektur des Jahressteuergesetzes 1996 so bald wie möglich. Jeder, der etwas von der Sache versteht, weiß, daß eine 5prozentige Investitionszulage im Kern nichts bringt, reine Mitnahmeeffekte hat. Dadurch wird keine zusätzliche Investition angeregt und kein zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen. Das ist eigentlich nichts anderes als Geldverschwendung. ({25}) Roll Schwanitz Wir müssen jetzt handeln. Wir müssen Motzen und nicht kleckern, bevor es zu spät ist und die Konjunkturdaten uns noch weiter in den Keller gehen. Meine Damen und Herren, ein Wort zum Altschuldenkompromiß vom vergangenen Mittwoch; Herr Rexrodt hat ihn auch angesprochen. Wir begrüßen die Überführung der kommunalen Altschulden in den Erblastentilgungsfonds. Das ist eine alte Forderung der SPD, die noch im Juni von den Koalitionsparteien, übrigens auch mit allen Stimmen der CDU- Abgeordneten aus den neuen Bundesländern, hier abgelehnt worden ist. Es ist richtig, daß dies jetzt korrigiert worden ist. Wir begrüßen auch ausdrücklich, daß die ostdeutschen Kommunen nun endlich Sicherheit vor den ungerechfertigten Forderungen des Bundes haben. Was wir kritisieren, ist die hälftige Übernahme des Schuldendienstes durch die neuen Länder. Das ist ungerechtfertigt: erstens weil die GAW bereits selber ihre Forderungen - oder Teile ihrer Forderungen - fallengelassen hat, zweitens wegen eines notwendigen Sanierungsabschlags auf Grund maroder Bauten in den ostdeutschen Kommunen und drittens weil Sie ungerechtfertigte Zinseszinsen einfordern - im Widerspruch zur schon längst geltenden Rechtsprechung. Wenn schon ein Kompromiß erzielt werden soll, dann muß man auch von einer gerechten Verhandlungsbasis ausgehen. Die Gesamtforderungen des Bundes von 8,4 Milliarden DM sind es jedenfalls nicht. Deshalb sagen wir grundsätzlich ja zu dem gefundenen Kompromiß, aber wir sagen nein zu der hälftigen Übernahme des Schuldendienstes. ({26}) Meine Damen und Herren, Herr Bohl meinte nach den Altschuldenverhandlungen am vergangenen Mittwoch, nun, nachdem ein solcher Kompromiß zustande gekommen sei, könnten auch die 250 Millionen DM aus dem DDR-Parteienvermögen ausgezahlt werden. Mir hat diese Äußerung eines Ministers der Bundesrepublik Deutschland fast die Sprache verschlagen. Ich halte es für unerträglich, was die Bundesregierung sich hier geleistet hat. ({27}) Um Druck auf die Verhandlungspartner beim Altschuldenpoker auszuüben - hier ging es nicht um irgendwelche Verhandlungspartner, sondern um Verfassungsorgane -, verweigerte die Bundesregierung - ganz ungeniert und offensichtlich ohne jedes Unrechtsbewußtsein - die Auszahlung eines Teilbetrages des Vermögens der DDR-Parteien und der Massenorganisationen. - Dies sagt übrigens sehr viel über die Glaubwürdigkeit Ihrer Wirtschaftsförderung für Ostdeutschland, Herr Rexrodt. ({28}) Dieses Vermögen steht dem Bund gar nicht zu, ja er verwaltet es noch nicht einmal treuhänderisch. Das tun die BvS und die Unabhängige Kommission. Das Verhalten der Bundesregierung ist eindeutig rechtswidrig. Es verstößt ganz offensichtlich gegen den klaren Auftrag des Einigungsvertrages. Das Schlimme dabei ist, daß die Bundesregierung das weiß und sich trotzdem darüber hinwegsetzt. Wir haben aus dieser, wie ich meine, einmaligen und unentschuldbaren Erpressungssituation die Konsequenz gezogen. Wir werden dem Deutschen Bundestag einen Antrag vorlegen, mit dem erreicht werden soll, daß die treuhänderische Verwaltung des DDR-Parteienvermögens der BvS entzogen und den neuen Ländern übertragen wird. Denn es geht nicht an, daß die Umstände, die zu diesem Altschuldenkompromiß geführt haben, in dieser Republik Schule machen. ({29}) Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Aufbau Ostdeutschlands steht an einem Wendepunkt. Ein bloßes „Weiter so!" führt die neuen Länder ins soziale und wirtschaftliche Abseits. Gefragt ist eine grundlegende Neuorientierung des wirtschaftlichen Aufbaukonzepts für Ostdeutschland. Gefragt ist aber auch eine Reihe von sozialen und wirtschaftlichen Sofortmaßnahmen, ein „Feuerwehrprogramm", damit es nicht zu einer weiteren Zuspitzung der Krise in den neuen Ländern kommt. Das ist der Inhalt unseres Antrages, den wir heute dem Deutschen Bundestag zugeleitet haben. Entscheidend kommt es in den nächsten Tagen und Wochen darauf an, daß die Bundesregierung und die Arbeitgeberverbände ihre Konflikt- und Konfrontationsstrategie aufgeben. Die Menschen in unserem Land sind zu grundlegenden Reformen und notwendigen Veränderungen bereit, und sie sind auch bereit, notfalls dafür Opfer zu bringen. Vor allem die Menschen in Ostdeutschland haben das in den letzten Jahren unter Beweis gestellt. Aber für Klientelpolitik, wie sie von Ihnen in den letzten Monaten vorgeschlagen und betrieben wurde, haben sie kein Verständnis. Herzlichen Dank. ({30})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Paul Krüger, Sie haben das Wort.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Lage in Ostdeutschland ist in der letzten Zeit wieder häufiger Thema von Debatten im Deutschen Bundestag. Dies ist einerseits erfreulich; es zeigt aber andererseits, vor welchen Problemen wir in Ostdeutschland noch stehen. Diese Tatsache ist ferner ein Ausdruck der enormen Aufbauleistung, die wir vollbracht haben. Trotzdem befinden wir uns noch in einer schwierigen Situation. Das Bild, das Herr Schwanitz hier gezeichnet hat, das Horrorszenario, ist nach meiner Meinung kein Beitrag zum Aufbau in den neuen Bundesländern. ({0}) Mit Falschbehauptungen und dem Verschweigen der tatsächlichen Entwicklungen, die in den neuen Bundesländern stattfinden, kommen wir nicht weiter. Es ist schon erschreckend, wenn ich höre, mit welchen Falschbehauptungen, die hier bezüglich der steuerlichen Förderung und der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geäußert wurden, Sie auf die Menschen in den neuen Bundesländern losgehen. Ich möchte deshalb versuchen, ein realistisches Bild der Situation in den neuen Ländern zu zeichnen - hören Sie gut zu, Herr Schwanitz! -: Wir schätzen ein, daß die Eigenleistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft noch zu schwach ist. Wir sagen, daß die Lohnstückkosten erheblich zu hoch sind. Die industrielle Basis ist zu schmal, und die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in den Unternehmen sind zu gering, weil in der Tat ein Großteil des Entwicklungspotentials brachliegt. Dies alles sind Indikatoren, die die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland kennzeichnen, die aber auch den gesamten Standort Deutschland in ganz beträchtlichem Umfang belasten. Gerade deshalb ist es wichtig, die Situation weder optimistisch noch pessimistisch, sondern realistisch zu beurteilen und mit Besonnenheit auf diese Herausforderungen zu reagieren. ({1}) So gilt es nüchtern zu konstatieren, daß es trotz der enormen Anstrengungen der Vergangenheit - darüber hat Bundesminister Rexrodt berichtet - nicht möglich war, aus einer maroden Zentralverwaltungswirtschaft einen selbsttragenden Aufschwung zu organisieren. Selbst bei pointierter Darstellung der Probleme ist das im Antrag der SPD formulierte Szenario zumindest als übertrieben und unrealistisch zu bezeichnen. ({2}) Aber immerhin scheint die SPD die neuen Länder nunmehr als politisches Thema entdeckt zu haben, nachdem wir bereits seit 6 Jahren erfolgreich mit dem Aufbau in den neuen Bundesländern beschäftigt sind. ({3}) Sie tut dies jedoch übertrieben miesmacherisch und unglaubwürdig. Sie verunsichert die Wirtschaft vor allem dadurch, daß sie den Standort Ostdeutschland schlechtredet. Noch schwerer wiegt jedoch, daß sie die Bevölkerung in Ostdeutschland irreführt und verunsichert. ({4}) Wenn Ihr Kollege Schreiner heute behauptet, wir hätten demnächst in den neuen Bundesländern eine Arbeitslosenquote von 50 Prozent, ({5}) dann frage ich mich, ob Sie sich ausmalen können, welche verheerende Wirkung diese Behauptung hat. Es ist verantwortungslos, so zu reden. ({6}) Im Gegensatz zu Ihrer Behauptung, meine Damen und Herren von der SPD-Opposition, hat die Bundesregierung im vorliegenden Bericht ein sehr realistisches Bild der Situation dargestellt. Sie erwähnt nicht nur die Aufbauleistung, wie sie - ich sage nur diese eine Zahl - durch einen Nettotransfer von insgesamt 900 Milliarden DM für alle sichtbar geworden ist - die Entwicklungen und die Veränderungen sind den Menschen in den neuen Bundesländern bewußt -, sondern die Bundesregierung stellt auch ausdrücklich fest, daß weiterhin Schwierigkeiten und Defizite bei der wirtschaftlichen Erneuerung in Ostdeutschland bestehen. - Dies zeigt, daß die Antragsteller von der SPD anscheinend den Bericht der Bundesregierung nicht gelesen haben. ({7}) Wahrscheinlicher ist jedoch, daß sie ihn zwar gelesen - das beweisen die vielen Fakten in Ihrem Antrag, die Sie aus diesem Bericht abgeschrieben haben -, ihn aber nicht zur Kenntnis genommen haben. Sie sind offensichtlich schlecht informiert, auch Sie, Frau Lucyga. Zum Beispiel haben wir die von Ihnen in Ihrem sogenannten Feuerwehrprogramm geforderte 20prozentige Investitionszulage für das mittelständische verarbeitende Gewerbe schon vor zirka vier Jahren eingeführt. Leider ist diese Zulage von der EU später auf 10 Prozent abgesenkt worden, weil die Förderhöhe der EU zu hoch erschien. Wir haben immerhin schon vor vier Jahren in den Bereichen gehandelt, in denen Sie heute Ihre Forderungen aufstellen. ({8}) Wenn die SPD das Augenmerk auf die Entwicklung der investiven Ausgaben des Haushalts lenkt, so liegt sie ausnahmsweise einmal goldrichtig. Besser wäre es jedoch gewesen, Sie würden diese Forderung dort umsetzen, wo Sie in direkter Regierungsverantwortung stehen. ({9}) Vergleichen wir einmal wichtige Kennzahlen in den Haushalten der unionsregierten und der SPD-regierten Länder: Niedersachsen und das Saarland haben mit 10,9 Prozent bzw. 10,4 Prozent die niedrigste Investitionsquote der westdeutschen Flächenländer, zum Beispiel gegenüber Bayern mit 18,2 Prozent - fast doppelt so hoch. Niedersachsen hat unter Schröder mit 42,6 Prozent die mit Abstand höchste Personalausgabenquote aller westdeutschen Flächenländer und hat demgegenüber die Ausgaben für Innovationsförderung drastisch zurückgeführt. Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und das Saarland haben mit 50,9 bis 58,9 Prozent den höchsten Anstieg der Kreditmarktverschuldung seit 1989. Demgegenüber steht Bayern mit 18,8 Prozent, was nur einem Drittel entspricht. ({10}) Nicht von ungefähr sagte der Kollege Rudolf Scharping im „Stern", Ausgabe 28/95, über seinen TroikaGenossen: „Gerhard Schröder hat in Niedersachsen den Landeshaushalt total ruiniert." Genau das gleiche Bild - das ist bemerkenswert; Sie haben ja verlangt, daß ich über die neuen Länder rede - zeigt sich leider in den neuen Ländern: Das CDU-regierte Sachsen hat mit 31 Prozent die höchste Investitionsquote und zugleich mit 3 619 DM pro Einwohner die niedrigste Kapitalmarktverschuldung, ({11}) während die SPD-regierten Länder Sachsen-Anhalt und Brandenburg mit 27,7 bzw. 27,4 Prozent die niedrigsten Investitionsquoten und mit 5 963 bzw. 7 343 DM pro Einwohner eine rund doppelt so hohe Kreditmarktverschuldung wie Sachsen aufweisen. „Was ,lernt' uns das?", haben Sie eben gefragt. Deutlicher kann man wohl kaum lernen, welche Politik es braucht und welche es nicht braucht, um die anstehenden Probleme in den neuen Bundesländern zu lösen, um Arbeitsplätze zu schaffen und um die Weichen für die Zukunftsgestaltung zu stellen, meine Damen und Herren. Wenn ich die Arbeitslosigkeit zwischen SPD- und unionsregierten Ländern vergleiche, komme ich auf ein noch makabereres Bild; ich erspare mir das. ({12}) Ratschläge von der SPD sind das letzte, was uns in dieser Situation helfen könnte. ({13}) Deshalb werden wir unseren Kurs des kontinuierlichen Aufbaus der Infrastruktur, der konsequenten und zielgerichteten Investitionsförderung, der Unterstützung unternehmerischer Initiativen und nicht zuletzt der nachhaltigen Innovationsförderung konsequent fortsetzen, wie es auch Bundesminister Rexrodt hier dargestellt hat. ({14}) Trotz all dieser Bemühungen bleibt ein Hauptproblem in den neuen Bundesländern die hohe Arbeitslosigkeit. ({15}) - Hören Sie gut zu! - Deshalb bleibt es unumgänglich, die Anzahl arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, zum Beispiel ABM und Maßnahmen nach § 249 h AFG, aufrechtzuerhalten, solange die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation keine Entspannung auf dem Arbeitsmarkt zuläßt. Dies entspricht übrigens einem Beschluß der Koalitionsfraktionen zum „Bündnis für mehr Wachstum und Beschäftigung" vom April dieses Jahres. Auch das haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, oder Sie wollen es nicht zur Kenntnis nehmen. ({16}) - Herr Rexrodt hat das hier erst interpretiert. ({17}) Gleichwohl gilt es, die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik effektiver zu gestalten und aufgetretene Fehlentwicklungen abzustellen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, wenn Sie mir die Zeit nicht anrechnen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Natürlich nicht.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, darf ich Ihr feuriges Plädoyer dafür, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auch künftig in Ostdeutschland unverzichtbar sind, dahin deuten, daß Sie dem vorgesehenen Arbeitsförderungs-Reformgesetz nicht zustimmen werden?

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Lucyga, ich werde dem Gesetz, so wie es sich mir jetzt darstellt, wahrscheinlich mit großer Freude zustimmen, weil wir eine ganze Menge an Änderungen hineingebracht haben, ({0}) die dazu führen werden, daß wir die Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern nicht nur kostengünstiger, sondern vor allem viel effizienter gestalten und auf mehr Wirtschaftskraft hinführen werden. ({1}) Ich werde Ihnen dazu, wenn Sie bereit sind, zuzuhören, nachher einige Beispiele nennen. Gleichwohl gilt es - ich wiederhole es -, die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik effektiver zu gestalten. Insbesondere, meine Damen und Herren, können wir es nicht hinnehmen - das sagte der Wirtschaftsminister bereits -, daß einzelne ABM-Kräfte eine höhere Entlohnung erhalten als bei einer gleichen Tätigkeit in daneben existierenden Wirtschaftsunternehmen. Die hierzu vorgesehene Absenkung der ABM-Entlohnung hat aber gleichermaßen für Ost und West zu gelten. Bei aller Notwendigkeit arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ist zu beachten, daß sie von vielen Menschen nur als eine spezifische Form der Arbeitslosigkeit empfunden werden. ({2}) Reden Sie einmal mit den Menschen! - Um dem entgegenzuwirken und dauerhafte Lösungen zu erreichen, gilt es, die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in ihrer Gesamtheit so auszurichten, daß sie besser als bisher geeignet sind, Menschen schrittweise in die Wirtschaft und damit in dauerhafte Arbeitsplätze zu integrieren. Damit erhalten die Betroffenen eine reelle Chance zur Einbindung in den Arbeitsmarkt und empfinden die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nicht mehr als bloße Beschäftigungstherapie. Der Entwurf des neuen AFRG, Frau Lucyga, setzt dies bereits mit einer Reihe von Maßnahmen um: Durch Begünstigung von Vergabe-ABM, das heißt durch eine stärkere Vermittlung von ABM-Kräften direkt in Wirtschaftsunternehmen, werden Teilnehmer an ABM künftig näher an den ersten Arbeitsmarkt herangeführt. Bei der Neugründung von Unternehmen können künftig Einstellungszuschüsse für die Beschäftigung von Arbeitslosen gewährt werden. Durch die Erweiterung des Anwendungsbereiches von § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes können künftig auch denkmalpflegerische Maßnahmen sowie Maßnahmen zur Verbesserung des Wohnumfeldes durch Lohnkostenzuschüsse in Vergabe gefördert werden, wenn Wirtschaftsunternehmen hierzu Arbeitslose einstellen. Um der besonderen Situation in den neuen Bundesländern stärker als bisher gerecht zu werden, ist es richtig, Maßnahmen nach § 249h für alle Bereiche der Wirtschaft zu öffnen. Der befristete Einsatz von Arbeitslosen im Sinne von „learning by doing" ist jedoch pro Unternehmen auf einen minimalen Anteil der Belegschaft zu begrenzen, um Einflüsse auf den Wettbewerb und vor allem Mitnahmeeffekte zu verhindern oder zu minimieren. ({3}) Zu denken ist hierbei an eine Förderungsdauer von einem Jahr, wobei die Förderung auf kleine und mittlere Unternehmen begrenzt sein sollte. Damit können wir ein Instrumentarium schaffen, das der großen Zurückhaltung der Unternehmen hinsichtlich Neueinstellungen entgegenwirkt und Arbeitslosen eine wirkliche Chance bietet, sich zu qualifizieren, sich auf einem neuen Arbeitsplatz zu bewähren und sich damit eine dauerhafte Anstellung zu sichern. Auch im Bereich von Fortbildung und Umschulung ist eine konsequentere Orientierung auf den späteren Einsatz in einem Unternehmen anzustreben. Maßnahmen sind also stärker als bisher auf die konkreten Bedürfnisse der Unternehmen in den jeweiligen Regionen zuzuschneiden. Meine Damen und Herren, das Kardinalproblem aber, vor dem wir derzeit in den neuen Ländern stehen, sind die viel zu hohen Lohnstückkosten. Da der Begriff "Lohnstückkosten" die Kurzformel für das Verhältnis zwischen ausgezahlten Löhnen auf der einen Seite und erzeugter Produktionsleistung auf der anderen Seite darstellt, ergeben sich für uns zwei Schwerpunktaufgaben: Zum einen sind die Lohnkosten mit der im jeweiligen Betrieb erreichten Produktivität in Einklang zu bringen. - Immerhin erkennt auch die SPD in ihrem jüngsten Antrag endlich einmal diesen Zusammenhang an. - Zum anderen ist die Steigerung des Produktivitätsniveaus durch Innovation, durch neue und bessere Produkte und Verfahren von gleichrangiger Bedeutung. - Hierauf müssen wir unser Augenmerk genauso konzentrieren wie auf den Abbau der hohen Lohnkosten. - Je höher der Gebrauchswert von Erzeugnissen und Dienstleistungen, je größer ihre Absatzchancen, desto höher können die gezahlten Löhne sein. Beide Aufgaben können wir aber nur mit Aussicht auf Erfolg angehen, wenn wir die Menschen für das Mitmachen gewinnen. Nur wenn Betriebe und Mitarbeiter bei der Lohnvereinbarung Augenmaß walten lassen und ihre Innovationspotentiale ausschöpfen, wird es uns gelingen, diese Probleme zu meistern. Die erfolgreiche Bewältigung dieser Herausforderungen setzt vor allem Innovationsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft voraus.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bin sofort am Ende meiner Rede. Gerade die Menschen in den neuen Ländern haben ein in den Unzulänglichkeiten des DDR-Systems ständig geschultes und in der Nachwendezeit immer wieder neu erprobtes Improvisationsvermögen, ungebrochene Kreativität und ein hohes Niveau besonders in der wissenschaftlich-technischen Ausbildung sowie eine große Übung im Umgang mit Risiken und vor allem im Umgang mit und in der Bewältigung von Veränderungen. Wenn es uns gelingt, diese Stärken besser als bisher zu nutzen, werden wir auch die zweite Hälfte des Weges beim Aufbau Ost mit Kontinuität und Zuversicht meistern. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ottmar Schreiner das Wort.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe mich zu einer Kurzintervention gemeldet, weil Kollege Krüger mich kritisiert hat, ich hätte in unverantwortlicher Weise falsche Zahlen in die Welt gesetzt. Herr Kollege Krüger, ich habe heute morgen in meinem Beitrag in der Europadebatte darauf hingewiesen, daß dann, wenn es bei den Plänen der Bundesregierung bleibt, nämlich die Arbeitsmarktinstrumente in Ostdeutschland an das westdeutsche Niveau anzugleichen, und wenn die ökonomische Wertschöpfungskette in Ostdeutschland weiter einen eher pessimistischen Verlauf nimmt, in Ostdeutschland an die 300 000 Menschen jährlich zusätzlich arbeitslos werOttmar Schreiner den, die bislang in Überbrückungsmaßnahmen tätig sind, so daß dann in einzelnen Regionen in Ostdeutschland die Arbeitslosigkeit an die 50 Prozent heranreichen kann. Das sind Aussagen von Sachverständigen in den Anhörungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu den in Rede stehenden Gesetzentwürfen der Bundesregierung gewesen. ({0}) Nichts anderes habe ich gesagt. Es macht überhaupt keinen Sinn, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Die ostdeutschen Abgeordneten der CDU/ CSU müßten in ihrer Fraktion wie ein Mann stehen, um dieses Drama zu verhindern. ({1}) Ich will bei dieser Gelegenheit ein Zweites ansprechen. Sie haben - wie ich finde, zu Recht - auf die Lohnstückkostenproblematik in Ostdeutschland hingewiesen, die tatsächlich besteht. Aber Sie haben mit keinem einzigen Satz gesagt, wie Sie diese Problematik auflösen wollen. Sie werden die Problematik nicht dadurch auflösen können, daß Sie die Löhne weiter absenken. Dann werden nämlich in Ostdeutschland, wo wir inzwischen ein dem westdeutschen angenähertes Preisniveau haben, Hungerlöhne gezahlt werden, von denen die Menschen sich nicht ernähren können. ({2}) Das heißt, es kann nicht darum gehen, die Löhne abzusenken. Ich versuche, Ihnen das an einem kleinen Beispiel deutlich zu machen: Ich war vorige Woche in der Nähe von Dresden in einer Maschinenbaufabrik, ({3}) die seit 1835 besteht. Sie stellt Maschinen für Produktion von Schokolade her. Sie hat einen einzigen Konkurrenten, der in der Schweiz sitzt. Ich fragte die Firmenvertreter: Wie können Sie eigentlich damit konkurrieren? - Ihre Antwort: Das ist ganz einfach. Wir zahlen 17 DM pro Stunde, und die Schweizer Firma zahlt 29 DM pro Stunde. In unserer Fabrik in der Nähe von Dresden stehen Maschinen aus dem Jahre 1926. Wir haben nicht das Geld, den Maschinenpark so zu modernisieren, daß wir auf längere Sicht konkurrenzfähig bleiben, weil die neuen Eigner aus Westdeutschland sich weigern, irgendein finanzielles Risiko einzugehen und in das Unternehmen zu investieren. Wenn der nächste Modernisierungsschub in der Schweiz kommt, steigt dort die Arbeitsproduktivität, und das ostdeutsche Unternehmen steht dann in der Tat vor der Pleite. Die einzige Möglichkeit, konkurrenzfähig zu bleiben, wenn der Maschinenpark nicht erneuert werden kann, wäre, weiter die Löhne abzusenken. Dann hätten Sie das Hungerlohnproblem in Ostdeutschland. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein ostdeutscher CDU-Kollege hier dafür plädieren kann, die schwierige Lohnstückkostenproblematik in Ostdeutschland dadurch aufzulösen, daß die noch verbliebene Industriearbeitnehmerschaft in Ostdeutschland in Hungerlöhne hineingepreßt wird. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Krüger zur Replik.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Schreiner - ({0}) - Herr Schreiner, unabhängig davon, ob das lieb war oder nicht, finde ich es unverantwortlich, den Menschen in den neuen Ländern so etwas zu servieren, ({1}) weil gerade sie besonders verunsichert sind, weil sie - das wissen wir beide - mehr als in den alten Bundesländern wirklich Arbeit suchen, weil sie wirklich arbeiten wollen, aber im Moment auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Arbeit finden. Deshalb habe ich einen großen Teil meiner Rede diesem Problem gewidmet. - Ich weiß nicht, möglicherweise haben Sie nicht zugehört. - Ich habe den Menschen versichert, daß wir, solange der Arbeitsmarkt sich nicht entspannt - das entspricht der Beschlußlage der ganzen Koalition, ({2}) die Sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen; genau deshalb ist es unverantwortlich, den Menschen etwas anderes zu sagen -, die Maßnahmen umsetzen, die Gott sei Dank jetzt schon im AFRG festgeschrieben werden, so daß sie ganz schnell wirken, die dazu führen, daß sie sich nicht in irgendwelchen ABM-Gesellschaften sinnlos beschäftigt fühlen müssen, sondern daß sie tatsächlich stärker an den ersten Arbeitsmarkt herangeführt werden, ({3}) und die sogar durch Unternehmensneugründungen und stärkere unternehmerische Initiative dazu beitragen, daß mehr wirtschaftliches Wachstum entsteht. Ich halte das für einen besseren Weg als den Weg, den ich als Horrorszenario bezeichnet habe, das die SPD-Länder derzeit entwerfen, indem sie quasi mit sozialistischen Methoden, ({4}) Dr. Ing. Paul Krüger die wir lange genug kennengelernt haben, ihre Haushalte überstrapazieren und somit nicht zu mehr Beschäftigung und schon gar nicht zu mehr Wirtschaftskraft kommen. ({5}) Das Beispiel Dresden kann ich jetzt im Detail nicht nachvollziehen. Herr Schreiner, ich bin häufig in Unternehmen in den neuen Bundesländern. Darum bemühen wir uns, wenn wir es auch nicht immer garantieren können: daß alle Unternehmen, die ein gutes Konzept haben, die eine Chance am Markt haben, ausreichend finanziert werden. Dazu haben wir im letzten Jahr die „Runden Tische" eingeführt, um abzusichern, daß die Unternehmen auch im internationalen Geschäft, wo sie stärker wirksam werden müssen, wettbewerbsfähig werden. Wir haben damit eine ganze Reihe guter Erfolge erzielt. Wir sind gar nicht in der Lage, das ganze Spektrum an vielfältigen Maßnahmen, die wir durchführen, um Unternehmertum in den neuen Bundesländern zu stärken und damit genau das zu tun, was Herr Schwanitz hier angeprangert hat, um also letztlich Arbeitsplätze zu sichern, in einer kurzen Rede darzustellen. Ich würde Sie aber bitten, sich tatsächlich intensiver mit den Maßnahmen zu beschäftigen, die wir für die neuen Bundesländer ergreifen. Als ich Ihren Namen heute erwähnte, Herr Schreiner, ging es mir nur darum, darzustellen, daß ich es nicht für gut halte, wenn die Menschen verunsichert werden, wenn sie mit Verzweiflung infiziert statt gegen Verzweiflung immunisiert werden und ihnen keine Hoffnung gegeben wird. Ich denke, wir können gerade hinsichtlich der Menschen in den neuen Bundesländern mit Optimismus und Zuversicht in die Zukunft schauen. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sechs Jahre deutsche Einheit - und wo stehen wir heute? Allein diese Fragestellung verrät das eigentliche Problem. Die deutsche Einheit ist weitaus besser als ihr Ruf; das kann man allenthalben im Ausland hören. ({0}) Die Befürchtung, es könne ein national aufgeblähtes, großspuriges Deutschland entstehen, ist glücklicherweise ausgeräumt worden. Von Osteuropa aus betrachtet sitzen die deutschen Brüder und Schwestern längst wieder im warmen Wasser, in einer großen, bequemen Familienwanne und streiten sich um die Luxusseife. Das Problem ist allerdings: Sie sitzen Rücken an Rücken und reden mehr übereinander - und zwar schlecht - als miteinander. ({1}) Nicht das verflixte siebte Jahr oder die Tatsache, daß der Euphorie Ernüchterung und Enttäuschung gefolgt sind, ist unser Problem, sondern dieser rasende Stillstand, dieses unheimliche Grummeln und Grollen unter einer verkrusteten Oberfläche. Wenn wir einmal ehrlich sind in diesem Hause, richtig ehrlich, was uns selten gelingt, dann hat doch niemand in Ost und West in den 80er Jahren mit dieser Wiedervereinigung gerechnet. Vielleicht liegt da der Grund, daß es uns nicht gelungen ist, diesen Freudentaumel für einen Bewußtseinswandel zu nutzen; denn: Wo findet wirklich eine neue Politik statt, außer in Feiertagsreden und Regierungsabsichtserklärungen, wie wir sie hier heute wieder gehört haben? Wo findet die neue Wirtschafts-, Sozial-, Medien-, Bildungs-, Technologie- und Außenwirtschaftspolitik statt, eine Politik, die wir in diesem Epochenumbruch, in dieser Zeitenwende wirklich brauchen? Offenbar hält die Bundesregierung ihre Einsparpolitik - es ist keine Sparpolitik, weil sie keine Rücklagen für Zukunftsinvestitionen bildet; das wissen Sie genausogut wie ich - schon für Politik an sich oder für Reformpolitik. Das ist sie aber eben nicht. Leider wurde der Osten allzuschnell auf Einheitsmaß gebracht, ohne daß genau hingeschaut wurde, was dort überhaupt war und was man behalten konnte oder ob das, was übergestülpt wird, paßt. Stichworte: 13. Schuljahr - damit plagen wir uns heute herum -, Polytechnische Oberschulen, Polikliniken. ({2}) - Aber warum wurde die Vereinigung denn nicht für eine Verwaltungsreform genutzt? Warum stoßen wir erst im Versorgungsbericht auf haushohe Probleme bei der Übertragung des Berufsbeamtentums? Warum haben wir nicht gleich den Ansatz zu einem Neuzuschnitt der Bundesländer gewagt? Warum mußten wir uns erst eine gescheiterte Fusion von Berlin und Brandenburg einhandeln? ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe eine Zwischenfrage im Hinblick auf Ihre Bemerkung zum 13. Schuljahr, die, wenn ich Sie richtig verstanden habe, doch wohl bedeutet, daß Sie vorschlagen, das Modell „13. Schuljahr" nicht in den Osten zu holen, sondern sich darüber Gedanken zu machen, ob das Modell „12. Schuljahr" nicht auf den Westen übertragen werden könnte. Die Frage an Sie als Politiker einer Partei, die in einer Landesregierung Verantwortung mitträgt, ist, ob ich Sie richtig verstehe, daß Sie mit dafür sorgen werden, sich mit dafür einsetzen werden, daß das 12. Schuljahr als Modell angeboten wird und das 13. Schuljahr nicht eingeführt werden muß.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben das völlig richtig verstanden. Ich habe hier ein Plädoyer für zwölf Schuljahre gehalten. Ich habe das selbst so erlebt. ({0}) Ich glaube, daß man nach einer solch kurzen Zeit ein sehr profundes Abitur ablegen kann. Wir müssen diese Debatten hier führen. Denn ich halte nichts davon, daß man, so wie Sie, Herr Westerwelle, die Programmatik über den „Playboy" verkündet; dann sind wir wirklich beim „nackten Populismus" angelangt. ({1}) Ich meine, daß wir hier diese Debatten führen sollen. Wir haben es verpaßt, die Inventur mit der Machtfrage zu koppeln. ({2}) - Ich habe ihn durchgeblättert, weil ich Ihren Namen auf dem Titelblatt gesehen habe. ({3}) Ich dachte, ich finde ein Bild von Ihnen da drin. ({4}) Warum wurde die Veränderungsbereitschaft Ost nicht gleich mit der Veränderungsnotwendigkeit West verbunden? Warum wurde diese mutige Entscheidung zur Einheit Deutschlands dann mit einer solch kleinmütigen Politik untersetzt? Das ist eigentlich der Inhalt der Großen Anfrage, die man nach sechs Jahren deutscher Einhei an die Bundesregierung richten muß. Wieso brauchen wir zehn Jahre für einen Umzug von Bonn nach Berlin? Wenn ich den merkwürdigen Antrag sehe, der heute auf der Tagesordnung steht, dann gibt es sogar eine Gruppe, der das noch zu schnell geht. Also: Warum ist die Sofortabwicklung Ost nicht von einer Umstellung West begleitet worden? Die Preisfrage der inneren Einheit ist doch weniger die, was es kosten wird oder wie lange es dauern wird, bis sich die Lebensverhältnisse im Osten denen des Westens angenähert haben werden, sondern die Preisfrage ist: Wie lange wird der Westen, die alte Bundesrepublik, brauchen, sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen? Viel zu lange haben die alten Bundesländer im weltpolitischen Schatten der Mauer und im Aufwind ständiger Einkommenszuwächse gelebt und sich daran gewöhnt, daß man Wohlstand und Freiheit in Anspruch nehmen kann und für beide eine dauerhafte Garantie hat. Wann werden Sie einsehen, daß das heute wieder neu erarbeitet und verteidigt werden muß? Ich habe eher den Eindruck, daß heute die Entwicklung im Osten instrumentalisiert wird, um eine Säule dieser Gesellschaft, die Soziale Marktwirtschaft, einzureißen. Denn bald geht es nicht mehr nur um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sondern wahrscheinlich um die Löhne selbst; bald geht es nicht mehr nur um die tarifliche Arbeitszeitregelung, sondern um die Flächentarife selbst. Ich habe ebenfalls den Eindruck, daß es nicht mehr um die Gesundheitsreform geht, sondern darum, wann die Patienten finanziell zusammenbrechen. ({5}) Das sind, meine ich, die Probleme, an denen wir heute kranken. Ich frage mich: Warum ist denn ausgerechnet die rigorose Methode der DDR übernommen worden? Da, wo wir eine steuerfinanzierte Pflegeversicherung brauchen, ist - ritsch, ratsch - von oben ein kirchlicher Feiertag abgeschafft worden. Das ist die Methode DDR. So hat man den arbeitsfreien Samstag eingeführt, ohne Volksmurren. Warum haben wir denn nicht aus den Negativerfahrungen dieses Systems gelernt? Wir haben doch beispielsweise erlebt, wie ein System zusammenbrechen muß, wenn es zu Massenflucht kommt. Momentan gibt es bei uns eine Massenabwanderung von Arbeitsplätzen. Wir haben erlebt, wie ein System bankrott gegangen ist, als es total überschuldet war. Also reden wir auch über die Finanzierung der Einheit, weil die Probleme von heute, die Staatsverschuldung, die leeren öffentlichen Kassen, mit den Versäumnissen von gestern zusammenhängen. Heute kann man mit der billigen und unterschwellig vorgetragenen F.D.P.-Parole „Keine müde Mark mehr für den Osten" ({6}) sogar die Stimmung im Westen ausnutzen, um den Solidarbeitrag abzuschaffen. Dem ist vorausgegangen, daß die Regierung Kohl/ Genscher so getan hat, als könne man den Aufbau Ost ohne Steuererhöhung finanzieren. Das Resultat sind exorbitante Schulden und die Zweckentfremdung der Sozialversicherung. Ein Schwindel folgt dem anderen - Schattenhaushalte, Milliardenlücken, Milliardendefizite. Hier müßte eigentlich der Finanzminister sitzen, aber der sitzt nicht auf der Regierungsbank; denn wir haben keinen Finanzminister, sondern den Vorsteher eines Verschiebebahnhofs. Wer sich das Einsparpaket genau betrachtet, der merkt, daß das ein Ergebnis der verfehlten EinheitsWerner Schulz ({7}) politik der Bundesregierung ist. Heute werden Ost und West durch eine Vermögensgrenze getrennt. In den ersten drei Jahren nach der deutschen Einheit ist die Zahl der Millionäre im Westen sprunghaft, um 40 Prozent, gestiegen. Es hat sich offensichtlich für einige gelohnt, daß es in der Folge der deutschen Einheit hochrentable Staatsanleihen gab. Aber nicht nur die materiellen Probleme bedrükken uns. Die Deutschen leben mental und kulturell immer noch in zwei Gesellschaften. Die Neugierde hat nachgelassen. Es gibt einen Rückzug auf das jeweils Vertraute. An die Stelle von Begegnungen und Gesprächen treten heute Vorwürfe und Klischeebilder. Aber ich denke, wir haben uns noch eine Menge zu sagen. Es gibt noch viele Austauschmöglichkeiten. Deshalb brauchen wir eine Wiederbelebung des Dialogs, wir brauchen Städtepartnerschaften, wir brauchen Schüler- und Kulturaustausch. Warum veranstalten wir nicht ein Pfingsttreffen der Jugend in Berlin unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten? Ich weiß, das gab es zu DDR- Zeiten. Das war aber nicht nur FDJ-Propaganda; sondern da gab es Ost-West-Begegnungen. Dahin sind viele aus kulturellen Ansprüchen hingefahren. Überlassen wir doch nicht alle Erfahrungen der PDS. Auch das ist ein Problem der deutschen Einheit. ({8}) Im Juni haben wir das letzte Mal über den Aufschwung Ost diskutiert. Es gibt nicht viel Neues zu berichten. Der Aufschwung ist zum Erliegen gekommen, obwohl der Aufbau noch längst nicht abgeschlossen ist. Im Schatten dieser staatlichen Rotstiftpolitik gibt es keine Konjunkturbelebung. Allein die Anzahl der Insolvenzen sagt etwas über die katastrophale Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung aus. Die Fakten sind bekannt: Infrastruktur und Lebensqualität kommen viel schneller voran als Industrie, Dienstleistungsgewerbe, Arbeitsplätze und Export. Die Kostenstruktur im Osten ist einschneidend. Es handelt sich nicht nur um die Lohnkosten, sondern auch um höhere Energiekosten, höhere Wasser- und Abwasserkosten, also um kommunale Kosten. Dazu gehört auch die vorhandene Risikobereitschaft, der kein ausreichendes Risikokapital gegenübersteht. Das alles sind bekannte Fakten. Auch die Forderungen sind bekannt: Wir brauchen eine andere Förderpolitik - keine Pauschalförderung mehr, sondern neue Wege der Absatzförderung, der Importsubstitution; denn der beste Markt für den Osten ist noch immer Ostdeutschland selbst. Wir brauchen ein zielorientiertes Konzept für eine mittelständische Wirtschaft usw. Die wohl wichtigste Erkenntnis im sechsten Jahr der deutschen Einheit lautet aber: Der Osten hat seine Sprache wiedergefunden. Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl steigen - gewiß auch durch die enormen Eigenleistungen im Zuge der völligen Lebensumstellung. Was Meinungsumfragen nicht zutage fördern, ist: Der Osten hat seinen Witz wiedergefunden. Es gibt wieder politische Witze; es gibt Kanzlerwitze, es gibt Kohl-Witze. ({9}) Einer dieser neuen Witze - es ist keiner - könnte so lauten: Die Ostdeutschen beschweren sich beim Kanzler, daß er seine Versprechen - blühende Landschaften, keine Steuererhöhungen - gebrochen hat. Darauf der Kanzler: Nun jammert nicht rum; ich geb' euch ein neues Versprechen - Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000. ({10}) Allein, die Sprache ist verräterisch. Halbierung würde bedeuten: 2 Millionen Arbeitslose im Westen, 2 Millionen Arbeitslose im Osten. Wenn die Anzahl der ABM gesenkt wird, wie Sie das vorhaben, werden wir uns dem annähern. Aber wer ABM abschaffen oder ihre Anzahl senken will, muß natürlich auch sagen, wie der Aufbau Ost ohne zweiten Arbeitsmarkt vorankommen soll, wie all die Projekte im Bereich der Kulturarbeit, der Sozialarbeit, der Altenpflege, der Denkmalpflege usw. weiter ohne ABM durchgeführt werden können. Der Osten ist auf ABM angewiesen. Das hat er sich, glaube ich, nicht gewünscht und ausgedacht. Die Leute würden lieber Arbeit als ABM annehmen. Ich will noch auf einen anderen Zusammenhang hinweisen, den ich für wichtig halte, und zwar den zwischen Demokratie und Sozialstaat. Auch das zeigt sich im sechsten Jahr der deutschen Einheit: Das Vertrauen in die Demokratie, in die Soziale Marktwirtschaft ist in Mißtrauen umgeschlagen - besonders im Osten, ein Trend, den Sie aber auch im Westen verfolgen können. Es ist modern geworden, den Sozialstaat als unbezahlbar ad acta zu legen. Sicherlich brauchen wir mehr soziale Staatsbürger im Sozialstaat. Darüber kann man sich sehr schnell verständigen. Wir brauchen also mehr Eigenverantwortung, mehr Selbstorganisation. Aber wir dürfen den Zusammenhang zwischen Demokratie und Sozialstaat nicht aufgeben. ({11}) Ich sage Ihnen klipp und klar: Jeder Arbeitslose, jeder Obdachlose ist ein Demokrat weniger in diesem Land. Jede fehlende Lehrstelle bewirkt den Arbeitslosen und Erwartungslosen, womöglich auch den Gewalttäter von morgen. Die Regierung fühlt sich in diesem Land offenbar mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie solidarischer als mit denen, die wirklich Hilfe brauchen und verlangen. Aber es gibt auch eine deutsche Gemeinsamkeit: Das ist die Sorge um die Zukunft. Im Osten scheint es mehr die Unsicherheit zu sein, ob man das Ärgste bereits hinter sich hat oder ob man jetzt in einem System lebt, das mal bessere Zeiten erlebt hat. Im WeWerner Schulz ({12}) sten geht die Befürchtung um, daß der Osten die Zukunft vorausnimmt. Vielleicht sollten wir uns die Worte des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko zu eigen machen: Grenzenloser Optimismus ist Mangel an Wissen, grenzenloser Pessimismus Mangel an Phantasie. ({13}) Zwischen übertriebenem Optimismus und Pessimismus sollte der Weg des vereinten Deutschlands liegen. Mit Wissen und Phantasie müssen wir in ein gemeinsames Europa gehen - diesmal haben wir die Chance, etwas aufzubauen und nicht wieder etwas zu zerstören, was uns in diesem Jahrhundert schon zweimal gelungen ist - haben wir die Chance, den dafür erforderlichen ökologisch-sozialen Strukturwandel - das ist das Thema des nächsten Jahrhunderts - voranzubringen. ({14})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Uwe Lühr, Sie haben das Wort.

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Kollege Schulz - vielleicht hören Sie mir einmal zu -, ich möchte mich bei Ihnen für diese Rede bedanken, für die zum Ausdruck gekommene Tiefsinnigkeit, für diese Nachdenklichkeit. Sie werden verstehen, daß ich natürlich nicht allen Intentionen Ihrer Rede folgen kann. Aber über einige Dinge sollten wir intensiv nachdenken. Dafür schönen Dank! ({0}) Aber eines will ich hier gleich richtigstellen: Es hat niemals, zu keiner Zeit, die Drohung der F.D.P. gegeben - auch nicht eine versteckte - dahin gehend, daß wir die Förderinstrumente, die Transferleistungen nach Osten in irgendeiner Art und Weise beschränken wollten, solange sie gebraucht werden. ({1}) Ich lege Wert auf diese Feststellung. Das war eine boshafte und arglistige Unterstellung. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, „nichts wird so bleiben, wie es einmal war" - so hatte der ehemalige Bundesaußenminister die Perspektiven für das wiedervereinigte Deutschland gekennzeichnet. Wir alle, Westdeutsche wie Ostdeutsche, haben das Alarmsignal offensichtlich überhört, kurzerhand unterbunden oder umgeleitet in falsche Hoffnungen, die allerdings auch durch die Politik genährt wurden. Heute muß man den Satz, so meine ich, ergänzen: Nichts war so und nichts wird sich so entwickeln, wie wir Deutschen es uns damals gedacht hatten. Jede Seite hatte ein nicht ganz stimmiges Bild der eigenen und der anderen. „Keinem wird es schlechter gehen" war eine Garantie, die augenscheinlich gleich zu Beginn eingelöst wurde, in Ost und West: Die Konjunktur sprang an, die Währungsunion - mit dem Umtausch der Ostmark von 1 : 1 und 1: 2 - machte die Ostdeutschen im Vergleich zu ihren östlichen Nachbarn vorübergehend zu Königen. Der Aufschwung Ost sollte sich selbst tragen. Aber diese Hoffnung trog. Ich habe hohen Respekt vor der Art und Weise, wie die Menschen in Ostdeutschland die mit der Einheit verbundenen Umbrüche und Umstellungen, die ja in fast jeden Lebensbereich hineinwirken, gemeistert haben und nach wie vor meistern. Ich habe einen ebenso hohen Respekt vor all denen, die sich in Westdeutschland zur Verfügung gestellt haben und mit ehrlichem Engagement nach Ostdeutschland gekommen sind, um hier Hilfe beim Aufbau und bei der Umstellung zu leisten. Dennoch wurde die gemeinsame Freude von den Problemen des Alltags verschlissen, ist sie zusehends der Ernüchterung gewichen - und das alles, obwohl wir als Gesamtstaat, aufgenommen von unseren europäischen Nachbarn, die Hälfte unserer Soldaten nach Hause schicken konnten, obwohl in den neuen Bundesländern zum Beispiel eine Rentnergeneration solidarisch aufgenommen wurde in ein soziales Sicherungssystem, das dynamisch an die Lohnentwicklung gekoppelt ist, obwohl modernste Verkehrsinfrastruktur, Fernmelde- und Datenübertragungssysteme installiert wurden. Wissen wir ostdeutschen Abgeordneten eigentlich noch, daß wir 1990 und 1991 unsere Familien oder unsere Wahlkreisbüros nur unter größten Schwierigkeiten hier von Bonn aus erreichen konnten? Obwohl Gesundheits- und Bildungswesen, ja, fast alle Lebensbereiche innerhalb erstaunlich kurzer Zeit auf den so heiß erstrebten Weststandard gebracht werden konnten, empfinden sich doch viele Menschen nicht als Gewinner dieser Einheit. Weststandard war nun auch die Meßlatte der ostdeutschen Befindlichkeiten. Ich beklage das nicht, aber ich stelle das fest. Zum Weststandard gehört der Begriff des Besitzstandes. Der Besitzstand, ein in Westdeutschland zunächst nur mit Eigentumsgarantie gehätscheltes Privileg des nicht konkursfähigen öffentlichen Dienstes, wurde zu einer Falle des deutschen Arbeitsmarktes in Ost wie in West. Das Besitzstandsprinzip schließt Korrekturen nach unten aus und gilt - wie könnte es anders sein - natürlich nur für die, die Besitzstand haben, nämlich einen tariflich abgesicherten Arbeitsplatz. Anstatt nun den Fehler der Politik zu kompensieren, die die Problemzone der neuen Bundesländer unter anderem in ein Niedrigsteuergebiet hätte wandeln müssen, powerten westdeutsche Gewerkschaftsfunktionäre die ostdeutschen Löhne und Gehälter mit Macht nach oben, oftmals über die Schwelle der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe. Natürlich ist richtig, daß die DDR-Industrie in einem beispiellosen Chaos zusammengebrochen ist, aber es ist auch richtig, daß es keine objektive Alternative für sie gab. Bei fast völligem Fehlen des Dienstleistungssektors in der ehemaligen DDR und staatlich verhinderter Arbeitslosigkeit mußte diese Industrie die verdeckte Arbeitslosigkeit auf Kosten der Substanz über 40 Jahre hindurch finanzieren. Natürlich ist richtig, daß für Ostdeutsche fehlendes Eigenkapital das am häufigsten anzutreffende Investitionshemmnis ist, aber es ist auch richtig, daß für potentielle Investoren in Ost- wie Westdeutschland oder gar im Ausland gilt, daß die zu geringe Renditeaussicht das bedeutendste Innovationsproblem ist. Natürlich ist richtig, daß teilweise Preise und Mieten Westniveau erreicht haben, während die Einkommen infolge von Arbeitslosigkeit nicht einmal durchschnittliches Ostniveau erreichen. Es ist aber auch richtig, daß in vielen Fällen die Höhe der Mieteinnahmen nicht einmal die Renovierung der maroden Bausubstanz zuläßt. Deshalb ist selbstverständlich die Forderung gerechtfertigt, daß für spezifische Mängel in den neuen Bundesländern die staatliche Förderung solidarisch fortgesetzt werden muß. Wenn man jetzt auf Grund genauerer Kenntnis die Voraussage wagen kann, daß die besondere Förderung voraussichtlich noch ein Jahrzehnt anhalten muß, dann werden wir diese Forderung eben auf zehn Jahre anlegen müssen und das auch können. Wir werden weiter auf dem Weg, den wir eingeschlagen haben, vorankommen; denn er ist insgesamt erfolgreich, wenn auch in der Debatte um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ABM und andere wichtige Detailfragen der Blick auf die sichtbaren Erfolge nach sechs Jahren deutscher Einheit, die ich bereits genannt habe, verstellt ist. Viele Probleme, die sowohl Ostdeutschen als auch Westdeutschen als Einigungsfolgen erscheinen, sind es in Wirklichkeit nicht, sondern sie sind Folgen der weltweiten Veränderungen, der Globalisierung, denen sich die Bundesrepublik alt vor der Wiedervereinigung nicht oder nicht genügend gestellt hat, denen sich jetzt die Bundesrepublik neu aber stellen muß. ({3}) Zunehmender Mangel an Arbeitsplätzen und wachsende Staatsquoten zum Zweck der sozialen Absicherung formen sich in dieser Zeit nicht nur bei uns zu einem Strudel, in dessen Sog nicht nur die Sozialsysteme zu kollabieren drohen, sondern auch die demokratische Stabilität insgesamt. Natürlich ist es eine hohe Zeit für die Pessimisten und Schwarzseher, was die Zukunft unseres Landes, Europas, ja der Welt insgesamt angeht. Diesmal gründet sie sich nicht auf ökologische Schreckensmeldungen wie das Abschmelzen der Pole oder das Wachsen des Wüstengürtels, sondern auf andere Trends, denen wir angeblich tatenlos zusehen oder durch unsere politische Gestaltung noch Vorschub leisten. Das beginnt bei dramatisch steigenden Arbeitslosenzahlen trotz anlaufender Konjunktur und Arbeitsmarktpolitik, der Umkehrung der Alterspyramide, explodierender Sozialkosten, trotz Dämpfungsgesetzen und Reformen, reicht über eine nicht auszugleichende Deckungslücke im Haushalt 1997 bis zu der vom „Spiegel" entdeckten Globalisierungsfalle. Das Verhängnis ist aber nicht unausweichlich. Politik kann Auswege aufzeigen, und ich denke, die Bundesregierung und die sie tragende Koalition haben das getan. Die Wege, die wir jetzt eingeleitet haben, müssen aber natürlich auch die am Arbeitsmarkt beteiligten Akteure, nämlich die Tarifpartner, gehen. Der Staat muß seine Einnahmen begrenzen und senken, seine Ausgaben anpassen und seine Aufgaben einschränken, um auch künftig zukunftsfähig zu sein. Noch zu wenig im Blickfeld der Öffentlichkeit ist der eigentliche Garantieschein, der diese notwendigen Reparaturen vor Ort rentierlich erscheinen und werden läßt, nämlich die europäische Einigung. Die europäische Integration, die für alle Partner, aber vor allem für Deutschland wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt brachte und bringt, steht kurz vor einer ihrer wichtigsten Phasen: der Vollendung des Binnenmarktes in der Union durch eine einheitliche Währung. Sie ist darauf angelegt, daß es nur Gewinner gibt. Es hat in der Geschichte kein ähnliches Projekt gegeben; ein Vorbild gibt es dafür also nicht. Deshalb sind Mut und Vertrauen zur Verwirklichung dieser Vision gefragt. Meine Damen und Herren, ich habe meine Rede mit einem Zitat des ehemaligen Bundesaußenministers begonnen. Lassen Sie mich mit einer lang gestellten Forderung des Kollegen Genscher schließen: Vor der deutschen Einheit war es üblich, daß die Bundesregierung jährlich vor diesem Hohen Hause einen Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland abgegeben hat. Ich denke, es ist nun höchste Zeit, und es wäre ein Stück hin zu gesamtdeutscher Identität, wenn die Bundesregierung jährlich einen Bericht zur Lage der Nation im vereinten Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa abgäbe. Dieser Forderung schließe ich mich mit Nachdruck an. Danke. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat die Kollegin Christa Luft.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sechs Jahre liegen seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland hinter uns. Damit sind wir schon die doppelte Frist über den Zeitpegel hinaus, den der Bundeskanzler 1990 für die Errichtung blühender Landschaften gesetzt hatte. Kein Zweifel kann daran beDr. Christa Luft stehen, daß es auf manchen Gebieten Fortschritte gibt. Es wäre töricht, das zu leugnen. Aber was weder der vorgelegte Bericht noch der Debattenbeitrag des Bundeswirtschaftsministers deutlich gemacht haben, ist zumindest zweierlei. Erstens. Die mit der Einigung der beiden deutschen Staaten gegebene Chance, in beiden Teilen Deutschlands und damit eben für das Ganze neue Antworten auf die globalen und auch regionalen Herausforderungen der Zeit zu finden, ist bisher vertan worden. Statt dessen wurde den neuen Ländern all das, was es an überholten, an auslaufenden Strukturen in den alten Ländern gibt, oktroyiert. Daraus ergeben sich jetzt demotivierende Fristen für die Angleichung des ökonomischen und sozialen Niveaus. Auch CDU- Politiker und viele Wirtschaftsforschungsinstitute gehen inzwischen davon aus, daß selbst dann, wenn es in den neuen Ländern in den nächsten Jahren wenigstens 4 Prozent Wachstum - das ist schon wenig genug - geben würde, eine Angleichung des wirtschaftlichen Niveaus auf 80 Prozent des jetzigen westdeutschen Niveaus bis zum Jahr 2028 dauern würde. Die Zeitspanne von 1996 bis zum Jahr 2028 nennt sich dann die zweite Hälfte des Weges, den wir noch vor uns haben. Ich dachte immer, der Wirtschaftsminister hat mit Wirtschaftspolitik nicht viel am Hut, das sagt er selbst. Aber daß er nun auch mit Wirtschaftsmathematik nichts am Hut hat, ist schon verwunderlich. ({0}) Denn die zweite Hälfte könnte im Grunde nicht länger sein als die erste Hälfte, so jedenfalls habe ich es in der Schule gelernt. ({1}) Die zweite Problematik, die ich bei dem Eingangsstatement des Ministers vermißt habe, ist, daß im Einigungsvertrag doch Festlegungen enthalten sind, die zum Teil bisher nicht eingehalten worden sind, zum Teil sogar bewußt übersehen werden. Dadurch werden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten für ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger konserviert. Ich nenne nur den „treuhänderischen" Umgang mit dem Volkseigentum, bei dem es überhaupt nicht gelungen ist, irgendwelche Vergaben von Anteilsrechten an die Bürgerinnen und Bürger vorzunehmen. Es ist sogar die Chance für sehr viele, für Millionen Menschen vertan, durch eigene Arbeit zur Einkommensbildung und zur Eigentumsbildung beizutragen. Ich erinnere an die Fortgeltung der Bodenreform, die einigungsvertraglich festgelegt ist; immer wieder wird sie in Zweifel gezogen. Ich erinnere an den Vertrauensschutz für die Außenwirtschaft. Er ist aber viel zu schnell ausgelaufen. Man müßte weitere Fakten hervorheben. Wir haben zur Einhaltung des Einigungsvertrages und zur Rechtswahrung dortiger Festlegungen Anträge eingebracht und fordern vor allen Dingen Gestaltungswillen der Bundesregierung im Interesse der Allgemeinheit. Ich kann aus meinem Umfeld nur sagen: Ich kenne in Ostdeutschland nur Menschen, die mit Kreativität, mit Selbstbewußtsein, mit ihren Erfahrungen zu der Gestaltung eines neuen einheitlichen Deutschlands beitragen wollen. Wirtschaftspolitik, ich sagte es schon, wird vom Wirtschaftsminister dezidiert abgelehnt. Die Marktgläubigkeit und die wirtschaftliche Abstinenz haben nun aber Millionen Menschen in den neuen Bundesländern mit Arbeitslosigkeit, mit Aussichtslosigkeit bezahlen müssen. Weitere Hunderttausende von Menschen bangen nach dem Streichpaket, das beschlossen worden ist, um ihren Arbeitsplatz. Ausbildungsplätze sind inzwischen Luxus geworden. Sie werden, Herr Minister, so viele kostspielige Existenzgründerprogramme gar nicht auflegen können, wie Ihre Politik dabei ist, täglich Beschäftigungsverhältnisse zu vernichten. Es ist also schon eine andere Politik erforderlich als immer nur ein „Weiter so". Zugesehen hat die Regierung, wie mit Hilfe der Treuhand auf dem Binnen- und dem Außenmarkt mißliebige ostdeutsche potentielle Konkurrenz aus dem Weg geräumt worden ist. Immobilien konnte man gut gebrauchen, das Forschungs-Know-how hat man gern genommen, die Kundenkarteien selbstverständlich auch. Alles andere, vor allem die Belegschaften, ist auf dem Müll gelandet. ({2}) Ein Großunternehmen nach dem anderen ist zerlegt und damit als möglicher Wettbewerber auf überregionalen und internationalen Märkten ausgeschaltet worden. SKET Magdeburg ist das aktuellste Beispiel. Es ist eine über die Grenzen hinaus bekannte traditionsreiche Firma. Sie soll offenbar die nächste sein, die von den wenigen 1 000-Mann-Unternehmen in den neuen Ländern zergliedert werden und ausbluten soll. Die Hälfte der Belegschaft bangt nach dem neuerlichen Sanierungskonzept um blaue Briefe. Diese Menschen haben aber auch die These der Bundesregierung im Ohr, sie wolle die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 halbieren. Was ihnen jetzt ins Haus steht, ist eine Halbierung der Belegschaft. Herr Minister, diese Menschen schätzen sehr wohl die neu gewonnenen individuellen Freiheiten. Wer aber um seinen Arbeitsplatz zittern muß und darum, ob er seine Familie morgen noch ernähren kann, der macht von Redefreiheit und Pressefreiheit keinen Gebrauch. Wir erleben dies täglich. Insofern kommen auch diese individuellen Freiheiten in große Gefahr, wenn es mit dem Sozialabbau so weiter geht. ({3}) Herr Minister, lassen Sie nicht zu, daß aus der in den neuen Bundesländern ohnehin arg deformierten Unternehmenslandschaft nun auch die letzten Großbetriebe verschwinden. Sonst müßten Sie wirklich aufhören, über die Rolle des Mittelstandes zu reden. Ohne Großbetriebe hat der Mittelstand in den neuen Ländern keine Korsettstange. Dann müssen Sie sich bitte auch von der anderen These verabschieden. Es ist von der öffentlichen Hand viel Geld bereitgestellt worden, um über Sonderabschreibungen, Steuervergünstigungen, Investitionszulagen usw. große Handelseinrichtungen auf der grünen Wiese, viele neue Bürohochhäuser zu errichten. Gemessen daran ist das, was zum Markterhalt und zum Ausbau von Märkten für die ostdeutschen Unternehmen getan wurde, kaum erwähnenswert. ({4}) Wir haben in den neuen Bundesländern eine Absurdität: Dort soll eine Marktwirtschaft entstehen, aber es gibt dort weit und breit keine Märkte. Dies ist in der Tat absurd. Die von dem Bundesminister erwähnten 11 000 Kilometer ausgebaute Bundesstraßen sind für die ostdeutschen Unternehmer sicher auch wichtig. Aber, Herr Minister, die Existenz ostdeutscher Unternehmen ist dadurch nicht sicherer geworden. ({5}) Ich behaupte, daß davon vor allem die westdeutschen Produzenten und Lieferanten profitiert haben, die im Osten einen jährlichen Mehrabsatz von 220 bis 250 Milliarden DM haben, ohne dafür zu investieren oder ihrerseits die Bezüge in den neuen Ländern zu erhöhen. ({6}) Natürlich wissen wir auch, daß Sanierung der Wirtschaft sowie Erhalt und Schaffung von Arbeitsplätzen Geld kostet. Niemand sollte versuchen, das drukken zu wollen. Hierin sind wir uns wohl einig. Wir fordern: Verzichten Sie 1997 auf die Absenkung des Solidarzuschlages, beginnen Sie sofort mit der energischen Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht und nicht erst dann, wenn Sie sich nach langwierigen und noch Jahre anhaltenden Diskussionen über eine Steuerreform einig sind. Auch für die stärkere Besteuerung von Spekulationsgewinnen - das diskutiert inzwischen selbst die Koalition, man höre und staune

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ihre Redezeit, Frau Kollegin.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- und für ein entschiedenes Vorgehen gegen Subventionsbetrug müssen Sie nicht bis 1999 warten. Bitten Sie die zur Kasse, die inzwischen aus der deutschen Einheit Gewinne geschöpft haben, ohne sich an den Risiken und an den Kosten beteiligen zu wollen! ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist um.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluß. Lassen Sie die Hände weg von der Kürzung der ABM-Mittel im Osten, bevor sich dort die Beschäftigungsverhältnisse nicht gebessert haben. Hören Sie auf, diese ABM-Maßnahmen zu diffamieren. Dort werden Werte geschaffen, dort werden kommunale Pflichtaufgaben gelöst, die sonst keine Finanzierungsgrundlage haben. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer Kurzintervention auf den vorhergehenden Redner, auf den Kollegen Lühr, hat sich der Kollege Gysi gemeldet. Ich erteile ihm hiermit das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident, der Kollege Lühr hat erklärt, daß es den Gewerkschaftsfunktionären zu verdanken wäre, daß die Löhne im Osten zu hoch sind und über das Niveau gehen, das sich bestimmte Unternehmen leisten können. ({0}) Herr Lühr, darf ich Sie daran erinnern, daß die Löhne, aber nicht nur die Löhne, sondern sämtliche Einkommensschienen in den neuen Bundesländern nach wie vor wesentlich geringer sind als in den alten Bundesländern, ({1}) daß aber die Lebenshaltungskosten zum Teil fast schon über westdeutschem Niveau liegen und daß deshalb dieser Vorwurf an die Gewerkschaftsfunktionäre völlig falsch ist. Dann hätten Sie eine Politik machen müssen, die die Lebenshaltungskosten entsprechend gering hält. ({2}) Im übrigen liegt es auch in Ihrer Verantwortung, daß die Treuhandanstalt den Hauptauftrag Privatisierung und nicht Sanierung hatte. Die Sanierung aber wäre Voraussetzung gewesen, um die Unternehmen zu erhalten. Das Fehlen der Sanierung ist die eigentliche Ursache für den Verlust von Unternehmen. Zum Schluß haben Sie erklärt, daß Sie den Vorschlag von Herrn Genscher unterstützen, daß die Bundesregierung jährlich eine Erklärung zur Lage der Nation abgibt. ({3}) Dem stimme auch ich voll zu. Ich hätte nur von Ihnen erwartet, Herr Kollege Lühr, daß Sie dann auch erklären, warum Sie vor zwei Jahren, als wir diesen Antrag in den Bundestag eingebracht haben, dagegen gestimmt haben, daß die Bundesregierung jährlich eine solche Erklärung abgeben muß. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Lühr zur Replik.

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gysi, es ist immer leicht, etwas aus dem Zusammenhang herauszugreifen. Ich habe in meiner Rede versucht, auf all diese Zusammenhänge hinzuweisen. Tatsache ist, daß es natürlich erstrebenswert ist, im Osten so schnell wie möglich gleiche Verhältnisse im Lohn- und Einkommensniveau zu erreichen. Aber das muß so sozialverträglich und so sinnvoll wie möglich passieren. Da ist es für mich schon ärgerlich gewesen, daß zu Beginn der 90er Jahre viel zu hohe Tarife vereinbart wurden. Das hat Ostdeutschland einen entscheidenden Standortvorteil hinsichtlich Investitionen für Arbeitsplätze genommen. Teilweise haben die leider überhöhten Löhne und Einkommen dazu geführt, daß im Osten massenhaft Arbeitskräfte freigesetzt wurden. Das kann ich nicht als sinnvolle Ökonomie betrachten. Deshalb leben wir in einem Zwiespalt: Wir müssen gleiche Verhältnisse so sozialverträglich wie möglich, aber auch so effizient wie möglich herstellen. An diesem Prozeß wird gearbeitet. Hier haben meines Erachtens nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die anderen Tarifpartner leichtfertig gehandelt. Das halte ich für eine negative Entwicklung, die die Menschen in Ostdeutschland besonders schwer trifft. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Ulrich Petzold das Wort.

Ulrich Petzold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001700, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht der Bundesregierung „Aufbau Ost - Chancen und Risiken für Deutschland und Europa" beeindruckt mit seinen Zahlen über die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern und rückt manches gerade, was der Bevölkerung in letzter Zeit - bewußt oder unbewußt - an Horrorberichten vorgesetzt wurde. Für mich ist interessant, daß die Bundesregierung in ihrer Einschätzung durchaus eine breite Unterstützung findet. Sogar die Landesregierung Sachsen-Anhalts, die nun wahrlich nicht im Verdacht einer zu großen Nähe zur Bundesregierung steht, führt durch ihren Wirtschaftsminister aus: ... derzeitige Bestellungen im verarbeitenden Gewerbe Sachsen-Anhalts deuten auf eine deutliche Verbesserung der Situation hin. Der Wirtschaftsminister fährt fort: Wir können daher mit Zuversicht auf die kommende Entwicklung blicken, zumal sich die Belebung der Konjunktur in den alten Bundesländern auch auf uns auswirkt. Wenn der Wirtschaftsminister des Bundeslandes mit den brisantesten Konjunkturdaten der Bundesrepublik dem Aufbau Ost eine derartige Wirkung bescheinigt, sollte man das nicht einfach vom Tisch wischen. ({0}) Selbstverständlich, die Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern sind enorm. Die Defizite beim Anteil des verarbeitenden Gewerbes in den neuen Bundesländern an der gesamtdeutschen Bruttowertschöpfung sind sehr hoch. Sieht man sich jedoch das Verhältnis der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe zu den Gesamtarbeitsplätzen in den neuen Bundesländern an, so stellt man fest, daß dieses Verhältnis durchaus den Zahlen in den USA entspricht. Es ist für die Zukunft fraglich, ob in diesem Verhältnis eine größere Steigerung möglich ist. Für eine Steigerung der Bruttowertschöpfung wären umfangreiche Existenzgründungen notwendig. Hier stellt jedoch das Wirtschaftsforschungsinstitut Halle fest: Sie - das heißt die Existenzgründer scheitern nicht selten an einem Kostenproblem, das mit der geringen Produktivität einhergeht. Die Durchschnittslöhne liegen nach der Berechnung der Wirtschaftsforscher aus Halle bei 72,4 Prozent des Westniveaus, gemessen an der gegenüber dem Westen geringeren Produktivität. ({1}) Von 55 Prozent muß ein Unternehmer im Osten also immer noch einen Lohnkostennachteil von fast einem Drittel im Vergleich zu seinem westdeutschen Konkurrenten ausgleichen. ({2}) Genau auf die gleiche Wunde legte eine Gruppe hochrangiger EU-Beamter ihren Finger, als sie Mitte September die neuen Bundesländer besuchte. Catherine Day aus dem Kabinett von Sir Leon Britten formulierte unterschwellig den Vorwurf, daß man bei einer so hohen Arbeitslosigkeit im Osten nicht so hohe Löhne zahlen könne. Man braucht diese Ansicht nicht zu teilen; aber es ist schon bedeutsam, wie Beamte in Brüssel über die neuen Bundesländer denken. Wichtig für die neuen Bundesländer war jedoch die Feststellung des Generaldirektors des Generalsekretariats Marc Lepoivre aus Belgien, daß das Wohlstandsgefälle zwischen Ost- und Westdeutschland bei weitem krasser ist als zwischen Flandern und Wallonien, welches in seiner Heimat zu immer wiederkehrenden Spannungen führt. Ich hoffe, daß in diesem Zusammenhang die Auffassung der EU-Beamten zur Ausgleichsklausel des Art. 92 Abs. 2 c des EW-Vertrages eine Änderung erfuhr. Ich gehe davon aus, daß mir die übergroße Mehrheit von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, in meinen Behauptungen zustimmt, daß ein Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile, die durch die Teilung Deutschlands entstanden sind, in den neuen Bundesländern noch längst nicht erreicht ist. Nähme man als Basisjahr das Jahr 1939, in dem 23 Prozent der deutschen Bevölkerung auf dem Gebiet der neuen Bundesländer lebten, müßte man von einem Anteil an der Industrieproduktion von 26,5 Prozent, einem Anteil am Maschinenbau von annähernd 30 Prozent, einem Anteil an der Chemieproduktion von über 30 Prozent und von einem Anteil an der Automobilindustrie von zirka 26 Prozent ausgehen. Die Forderung des Art. 92 Abs. 3 c des EWG-Vertrages, wonach „Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete" nur zulässig sind, „soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft", darf noch nicht als Grundsatz auf alle Investitionen in den neuen Bundesländern restriktiv angewendet werden. Soweit dieser Artikel zur Anwendung kommt, sollte gerade das Interesse der Gemeinschaft dahin gehen, daß durch eine intensive Förderung die Schere zwischen Nachfrage und Eigenleistung, die nirgendwo in Europa so weit offen ist wie in den neuen Bundesländern, wieder stärker geschlossen wird. ({3}) Nach Art. 92 Abs. 2 c des EWG-Vertrages muß in den neuen Bundesländern noch umfangreiche Hilfe zum Ausgleich der Teilungsnachteile infolge des kommunistischen Machtstrebens geleistet werden. Genauso wie im November 1991 Außenminister Genscher die Beibehaltung des Abs. 2 c im Art. 92 durchsetzte, ist jetzt ein Einsatz der Bundesregierung für die Ausgestaltung dieses Absatzes im EWG-Vertrag erforderlich. Die ostdeutschen CDU-Abgeordneten des Bundestages stehen dabei voll an der Seite der Bundesregierung. ({4}) Eine sinnvolle Investitionsförderung in den neuen Bundesländern darf nicht an Bedenkenträgern in Brüssel scheitern. Solche haben wir bei der Förderung von investiven Maßnahmen der Infrastruktur an anderen Stellen wahrlich genug. Die allmähliche Überwindung des Wohlstandsgefälles zwischen Ost- und Westdeutschland, deren Ansätze für jeden zu sehen sind, der nur sehen will, sind eine Chance für Deutschland und Europa. Nur so kann die europäische Integrationsfähigkeit nachgewiesen werden. Schafft Europa diesen Schritt nicht, wird sich die Begeisterung der Bevölkerung in zukünftigen Beitrittsländern in sehr engen Grenzen halten. Die Menschen in den neuen Bundesländern zeigen, daß sie durchaus bereit sind, für den Aufbau ihres Landes Nachteile und Lasten in Kauf zu nehmen. In einem Vortrag erläuterte gestern der Präsident des Verbandes Schiffbau und Meerestechnik, Dr. Ache, die Notwendigkeit, Investitionshilfen für die vom Vulkan-Betrug geschädigten ostdeutschen Werften in vollem Umfang zur Verfügung zu stellen. Beeindruckend war dabei die Schilderung, wie die Beschäftigten der Werften durch Verzicht auf übertarifliche Zahlungen bei gleichzeitiger Modernisierung die Lohnstückkosten auf einen Punkt bringen, an dem sich Schiffbau in Deutschland wieder ohne Subventionen trägt. Nicht destruktive Schuldzuweisung und Verharren in Pessimismus, sondern ein Werben für Vernunft und arbeitsplatzschaffende Investitionen bringt unser Land voran. Optimistische Realisten sind gefragt. Der Bericht der Bundesregierung zum Aufbau Ost stimmt uns darauf ein. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun bekommt das Wort die Kollegin Anke Fuchs.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch zu Beginn des siebten Jahres der deutschen Einheit gehöre ich zu denen, die die deutsche Einheit als Glück für unser Volk, für unser Land begreifen, ({0}) und ich stimme all denen zu, die sagen, daß wir sehr viel Positives erreicht haben. Sie wissen, daß ich mich in Sachsen mit mäßigem Erfolg engagiert habe. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich seit dieser Zeit die Entwicklung in Ost und West aufmerksam verfolgt und versucht habe zu helfen. Ich denke, auch heute muß man wieder einmal feststellen: In der Tat, es hat sich vieles bewegt, es hat manches sehr gut funktioniert, und wir sollten alle miteinander nach wie vor froh darüber sein, daß es gelungen ist, die deutsche Einheit wiederherzustellen. ({1}) Gleichwohl kann man, wenn es Schwachstellen gibt, Herr Minister Rexrodt, nicht sagen: Vieles ist gut gelaufen, und das, was nicht gut gelaufen ist, können wir nicht ändern: Die Botschaft des heutigen Tages ist: Der Kollege Krüger freut sich darüber, daß es weitere 200 000 Arbeitslose in Ostdeutschland geben wird; denn er will ja den ABM-Kürzungen zustimmen. ({2}) Herr Rexrodt sagt: Es ist noch viel zu tun. Das heißt also: Wer arbeitslos ist, bleibt arbeitslos; denn ändern wollen Sie Ihre Politik ja nicht. Es sei alles richtig eingefädelt; es ist alles so, wie es halt ist; wir machen weiter so. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Sie nehmen die steigende Arbeitslosigkeit auch im Osten weiterhin in Kauf, meine Damen und Herren. Das müssen Sie sich dann aber auch so vorhalten lassen, zumal Sie dagegen nichts tun wollen und auch nichts tun werden. ({3}) Ich will auf die grundsätzliche Diskussion eingehen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krüger?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Fuchs, weil ich jetzt nicht sicher bin, ob Sie heute morgen dabei waren, als ich meinen Debattenbeitrag geleistet habe - sonst hätten Sie eigentlich das Folgende zur Kenntnis nehmen müssen -, frage ich Sie: Nehmen Sie denn jetzt zur Kenntnis, daß ich heute morgen ganz deutlich gesagt habe, daß ein Abbau der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in den neuen Bundesländern nur in einem Maße erfolgen kann, wie das die Arbeitsmarktdaten in bezug auf den ersten Arbeitsmarkt zulassen werden, und daß wir es im Gegensatz zu dem, was hier immer behauptet wird, ({0}) nicht zulassen wollen, daß eine Erhöhung der Arbeitslosenzahl in den neuen Ländern durch ein Zurückfahren der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen erfolgt? Dies wurde bereits im April dieses Jahres so beschlossen. Ich frage Sie zum zweiten - ich habe schon eine Frage gestellt -: Ist Ihnen bekannt, daß wir das im April dieses Jahres beschlossen haben, und ist Ihnen auch bekannt, daß wir darüber hinaus ein ganzes Spektrum von Maßnahmen mit dem AFRG beschließen werden, was dazu führen wird, daß die Arbeitskräfte in den neuen Bundesländern, die wirklich arbeitswillig sind - und das sind die meisten von ihnen -, tatsächlich auch eine Chance bekommen werden, besser in den ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden, als das bisher der Fall war? Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? Denn dann, Frau Fuchs, könnten Sie eine solche Rede, wie Sie sie eben gehalten haben, nicht halten. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wir haben uns ja über diese Frage schon einmal unterhalten; aber ich merke, an Ihren Positionen hat sich überhaupt nichts geändert. Sie werden weiterhin zustimmen, wenn ein Konzept auf dem Tisch liegt. Herr Rexrodt hat gesagt: Wir werden ABM zurückfahren; es müsse da auch zurückgefahren werden. Sie wollen jetzt die Sätze der Entlohnung ändern. Deswegen bleibe ich dabei: Sie freuen sich darüber, daß es in Ostdeutschland weiter steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Löhne gibt. Das ist weiterhin Ihre Politik. ({0}) Aber ich wollte zu der Frage zurückkommen: Sind die Schwierigkeiten, die wir heute haben, eigentlich vom Himmel gefallen, oder sind sie Ergebnis einer aus meiner Sicht falschen Politik? Es gibt die grundsätzliche theoretische Frage: Wie überführe ich eigentlich eine zentrale Kommandowirtschaft bzw. Planwirtschaft in eine soziale und ökologische Marktwirtschaft? Das ist der eigentliche Kern der ökonomischen Frage. Dazu müssen wir sagen: Sie haben dabei mit Ihren Instrumenten versagt. Darauf möchte ich gern noch einmal eingehen. Sie haben die Einheit auf Pump finanziert oder einseitig zu Lasten der Beitragszahler. Das war ökonomisch falsch. ({1}) Sie haben mit einer übertriebenen Eigentumsideologie nach der Devise „Rückgabe vor Entschädigung" dafür gesorgt, daß Investitionen verzögert und verhindert wurden. Diese Entwicklung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern bewußt von Ihnen herbeigeführt worden. Deswegen müssen Sie sich jetzt auch die Nachteile auf Ihrem Schuldenkonto verbuchen lassen. Sie haben doch - ich erinnere an all die Debatten - immer wieder gesagt: Die Marktwirtschaft wird es schon richten. Ich glaube sogar, mancher von Ihnen hat gedacht, die unternehmerische Wirtschaft wird die Ärmel hochkrempeln, sie wird drüben investieren, und dann wird alles funktionieren. Es ist aber anders gekommen. Die westdeutsche Wirtschaft hat den Konjunkturboom genutzt und Gewinne gemacht, aber nicht im Osten investiert. Diese Entwicklung ist folgerichtig eingetreten. ({2}) Meine Damen und Herren, was haben Sie selbst den Menschen erzählt? Sie haben von den blühenden Landschaften gesprochen, und der Bundeskanzler hat noch am 2. September 1995 gesagt: Die blühenden Landschaften sind da, das läßt sich nicht leugnen. - Sie haben zu Beginn des Jahres 1990 den Eindruck erweckt: Keinem wird es schlechter gehen; allen wird es besser gehen; wir zahlen es aus der Portokasse. Dann haben Sie die Preise freigegeben. Was sollten Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eigentlich anderes machen, als dann für zwei bis drei Jahre - so kurz war es doch terminiert - Löhne zu vereinbaren, die auch Kaufkraft mit sich bringen, damit man die steigenden Mieten und die steigenden Preise überhaupt bezahlen konnte? Das war damals ein richtiges Konzept. ({3}) Aus Ihren zwei bis drei Jahren werden jetzt allmählich mindestens zehn Jahre bis 15 Jahre. Deswegen muß man doch fair darüber nachdenken: Woher kommen denn solche Tarifabschlüsse? Wie kann es denn angehen, daß die Unternehmer zusammen mit den Gewerkschaften diese beschlossen haben? Wenn wir uns richtig erinnern, wurde gesagt: Das muß für diese - aus Ihrer Sicht definierte - kurze Übergangszeit so sein; denn sonst gibt es soziale Umbrüche, die wir alle nicht wollen. Zu solchen Umbrüchen ist es dann aber gekommen, weil sich Ihre Sprüche nicht bewahrheitet haben und klar wurde, daß man die marode Wirtschaft mit einer „mixed policy" frei nach Karl Schiller hätte aufbauen müssen: Soviel Staat wie nötig, soviel Markt wie möglich. Sie haben allein auf den Markt gesetzt. Mit den Folgen müssen wir heute fertigwerden. Daran schließt sich die Frage nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an. ({4}) - Auf die Transferleistungen komme ich gleich. Ich erinnere an die Debatten, die dann stattfanden, als Sie selbst merkten, daß der Arbeitsmarkt einAnke Fuchs ({5}) bricht. Damals haben Sie doch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen immer noch abgelehnt. Wenn Sie eine Politik gemacht haben, die die Arbeitsmarktpolitik begleitete oder auch für Investitionen sorgte, dann haben Sie sie zu spät und zu zögerlich gemacht, weil Sie diese Instrumente eigentlich gar nicht wollten. Mit diesen fatalen Grundsätzen müssen wir uns heute auseinandersetzen. ({6}) Ich komme zu den Transferleistungen. Es bleibt dabei, Herr Kollege von der F.D.P.: Wir haben die Transferleistungen erbracht - das finde ich auch in Ordnung; ich habe nichts dagegen -, aber sie sind doch ökonomisch falsch eingesetzt worden. Es macht überhaupt gar keinen Sinn, wenn ein Teil der Transferleistungen dazu genutzt wird, um Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zu bezahlen. Ich möchte, daß die Menschen Arbeit haben, damit sie Steuern und Beiträge zahlen können. Dazu haben Sie keinen richtigen Beitrag geleistet, weil Sie von einer falschen ökonomischen Grundsatzposition ausgegangen sind. Das bleibt Ihr Fehler. ({7}) - So ein Quatsch. Sie haben davon überhaupt keine Ahnung. Es bleibt aber doch wohl wahr: Die Planwirtschaft in eine soziale und ökologische Marktwirtschaft zu überführen ist mehr, als Herrn Rexrodt sagen zu lassen, Wirtschaft finde in der Wirtschaft statt. Hierzu braucht man ein Geflecht von Instrumenten. Das haben Sie nicht genutzt. ({8}) Ich finde, die Folgen sind auch deswegen so fatal, weil neben der positiven Seite, die ich vorhin ausdrücklich erwähnt habe, die Menschen das Vertrauen in die Demokratie verlieren. In Abgrenzung zur PDS will ich Ihnen sagen: Ich möchte, daß unsere soziale Demokratie der Sieger in dieser Auseinandersetzung ist. ({9}) Ich bin traurig darüber, daß" die Menschen in Ostdeutschland als erstes die Negativseite der Marktwirtschaft kennengelernt haben, nämlich Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Lebensverhältnisse, wie ich sie uns im Westen nie gewünscht hätte. ({10}) Das liegt doch daran, daß Sie es so wollen. Sie wollen doch auch heute Sozialabbau. Sie setzen doch auch heute auf eine Konfliktstrategie und sind nicht bereit, die vernünftigen ökonomischen und sozialen Instrumente zu nutzen, um Vertrauen in die Demokratie zu festigen und Vertrauen in die Demokratie auch in Ostdeutschland zu verankern. ({11}) Arbeit und bezahlbare Wohnungen sind die Grundbedürfnisse und die andere Seite der Freiheit. Wenn es nicht gelingt, bei den Menschen in Ostdeutschland diese Grundbedürfnisse zu befriedigen, dann müssen wir uns doch nicht wundern, wenn sich das Vertrauen in eine demokratische Entwicklung nicht festigen kann. Nun tun Sie doch nicht so, als wüßten Sie nicht, welch brisante Situation schon entstanden ist und wie schwer es sein wird, für demokratisches Verständnis, für demokratisches Miteinander zu werben, wenn die Menschen selbst erst einmal jeden Tag um ihre eigene Existenz kämpfen müssen. Auch darum geht es in dieser Auseinandersetzung. ({12}) Ich habe mich ein bißchen gefreut, als der Wirtschaftsminister sagte - man höre und staune -: „Wirtschaftsförderung heute erspart Sozialleistungen von morgen." Diesen Satz mußte er aufnehmen, weil er Herrn Biedenkopf zuliebe in der Europäischen Union für die Subventionen für das Volkswagenwerk kämpfen muß. Herr Rexrodt, ich verspreche Ihnen: Alles, was Sie zu diesem Thema in Richtung Europa sagen, werden wir uns anschauen. Dann wollen wir doch mal sehen, welche wirtschaftspolitischen Instrumente Sie in Europa richtig finden, die Sie hier bei uns ablehnen. Wie kann es denn sein, daß Sie, wenn wir versuchen, Stabilität in den Arbeitsmarkt zu bringen oder Investitionsprogramme aufzulegen, für einen Abbau von Subventionen eintreten, aber andererseits in einem eleganten Brief an die Europäische Union sagen: „Wirtschaftsförderung heute erspart Sozialleistungen von morgen"? Ich bin mit diesem Satz einverstanden. Sie können sicher sein, wir werden Sie immer wieder an diesen schönen Satz erinnern. Meine Hoffnungen, daß Sie doch von einem liberalen Wirtschaftspolitiker zu einem Wirtschaftspolitiker à la Karl Schiller werden, sind zwar nicht groß; aber ein Stückchen in die richtige Richtung könnte es durchaus gehen. Das wäre gar nicht so falsch. ({13}) Nun habe ich eine Bitte an Herrn Lühr. Herr Lühr, Sie haben zu Recht gesagt: Der Deutsche Bundestag hat im Mai beschlossen, daß die Bundesregierung aufgefordert werde, jedes Jahr einen Bericht zur deutschen Einheit vorzulegen. Das hat sie aber schlicht nicht gemacht. Wir als Parlamentarier dürfen uns nicht gefallen lassen, daß ein Auftrag des Deutschen Bundestages schlicht nicht erledigt wird. ({14}) Denn Herr Rexrodt hat heute eine schwache Rede zur schlechten wirtschaftlichen Situation in Ostdeutschland vorgetragen, eine Rede ohne Perspektive für die Menschen: Alles bleibt so, wie es ist; wir nehmen die Arbeitslosigkeit in Kauf. Das war kein kompetenter Bericht der Bundesregierung zur Lage in Ost und West. Herr Lühr, springen Sie in diesem Anke Fuchs ({15}) kleinen Punkt einmal über Ihren Schatten; da ist der Kanzler auch nicht so böse. Sie dürfen heute gerne unserem Antrag zustimmen, der das parlamentarische Recht durchsetzen will und besagt: Wir mißbilligen, daß die Bundesregierung ihrem Auftrag, einen Bericht vorzulegen, immer noch nicht nachgekommen ist, und fordern sie auf, diesen Bericht noch in diesem Jahr vorzulegen. Vielleicht helfen Sie uns, daß wir eine Mehrheit bekommen. Dann können wir diesen Punkt, der, so finde ich, auch unser Selbstverständnis berührt, vielleicht einvernehmlich miteinander regeln. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe der Abgeordneten Christa Reichard das Wort.

Christa Reichard (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002757, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Unglaubliches geschehen. Wer hätte vor zehn Jahren daran geglaubt? Ich konstatiere, und dies mit Freude und Dankbarkeit, Herr Schwanitz, daß die Flüsse sauberer geworden sind, daß die Luft klarer ist und daß der Müll geordnet entsorgt wird, und das seit sechs Jahren. ({0}) Frau Fuchs, es gibt auch blühende Landschaften. ({1}) Sie müssen nur mit offenen Augen durch das Land gehen ({2}) und sich bewußt machen, daß die Blüte und die Ernte zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden und daß wir natürlich noch etwas tun müssen. Die Blumen müssen noch gepflegt und gegossen werden, damit wir ernten können. ({3}) Im Herbst riecht es inmitten unserer Städte mehr nach gefallenem Laub als nach Rauch, wie noch zu DDR-Zeiten. Die Elbe liegt nicht mehr im Todeskampf. Wir haben ein schlimmes Umwelterbe übernommen, die Folgen des real existierenden Sozialismus. Dazu fällt mir immer wieder das Bibelwort ein: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen." Was sind das für Früchte, die uns überlassen worden sind? - Nur drei Prozent der Wasserläufe und ein Prozent der stehenden Gewässer waren ökologisch intakt. Eine Abwasserbehandlung fand gar nicht oder nur unzureichend statt. Die DDR war Weltmeister im CO2- Ausstoß. Von 11 000 Müllablagerungen besaßen nur 120 den Charakter einer geordneten Deponie. Altlasten aus Industrie, Bergbau und Militär sind so gigantisch, daß sie kaum zu beziffern sind. ({4}) Wunderbare Landschaften und Naturräume sind uns trotz alledem erhalten geblieben, aber nicht als Früchte des Sozialismus; die Zerstörung hat vielmehr glücklicherweise nicht flächendeckend stattgefunden. Diesen Teil des Erbes wollen wir gern bewahren; wir wollen auch etwas dafür tun. Für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Ländern war und ist die Verbesserung der Umweltsituation von hoher Bedeutung, und sie wird es auch bleiben, wie wir dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung entnehmen können. Wir sind auf gutem Weg, aber noch lange nicht am Ziel. Kein Unternehmer, kein Arbeitnehmer und sicher auch keiner von Ihnen möchte mit seiner Familie in ökologisch belasteten Gebieten leben. Eine Voraussetzung für Gewerbeansiedlung ist der Anschluß an die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Niemand will auf Altlastenverdachtsflächen Investitionen tätigen. Eine enge Verbindung zum wirtschaftlichen Aufbau ergibt sich auch aus der Tatsache, daß infolge der Umweltsanierung ein erhebliches Auftragsvolumen für die mittelständische Wirtschaft entsteht. Wenn Sie mit dem Auto durch die neuen Länder fahren, müssen Sie sehr häufig stehen, verursacht durch die vielen Baustellenampeln auf Grund von Arbeiten an der Kanalisation. Beträchtliche Investitionen für den Ausbau der Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung sind erforderlich. Es wird also auch weiterhin umfangreiche Aufträge an die Wirtschaft geben. Allein in Sachsen wird das Gesamtinvestitionsvolumen im Bereich der Wasserversorgung und Abwasserentsorgung auf 40 Milliarden DM geschätzt, die nicht nur durch öffentliche Mittel, sondern auch durch Gebühren zu erbringen sind. Ständig steigende Gebühren sind besonders in den neuen Ländern ein umstrittenes Dauerthema. Ich möchte endlich erleben, daß die steuerliche Gleichbehandlung von öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Organisationsformen umgesetzt wird. ({5}) Durch Wettbewerb sollen Kostenminderung und Gebührensenkung erreicht werden. Mehr als 20 Milliarden DM sind in den nächsten Jahren für die Beseitigung ökologischer Altlasten vorgesehen. Auch dies hat wirtschaftliche Auswirkungen. Das größte zusammenhängende Umweltprojekt in Deutschland ist die Sanierung der Braunkohlegebiete. Ein Gutachten zu arbeitsmarktpolitischen Effekten der Braunkohlesanierung besagt u. a., daß durch das Auftragsvolumen - neben den beschäftigungspolitischen Maßnahmen in diesem Bereich - allein 1995 3 450 Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt gesichert werden konnten. Rund 7 Milliarden DM werden von 1993 bis 1997 für die Braunkohlesanierung investiert. Es ist jetzt an der Christa Reichard ({6}) Zeit, den Rahmen für die Zeit bis 2002 festzulegen, um die bisher erreichten Erfolge nicht in Frage zu stellen. 13 Milliarden DM werden vom Bund für die Wismut-Sanierung zur Verfügung gestellt, ein Riesenprojekt. ({7}) Der Rückbau der Kernkraftwerke in Rheinsberg und Greifswald hat begonnen. Die ökologische Sanierung in den neuen Ländern führt dazu, daß neue Technologien entstehen. Mit Hilfe der gewonnenen Erfahrungen können wir auch einen wichtigen Beitrag zur Lösung von Umweltproblemen in Mittel- und Osteuropa leisten. Dort mitzuhelfen liegt in der Verantwortung gerade der neuen Länder. ({8}) Mit besonderer Freude konnte ich nach mehrjähriger Beteiligung an der Vorbereitung die Eröffnung des Internationalen Transferzentrums für Umwelttechnik mit dem hübschen Kurznamen ITUT und dem Sitz in Leipzig erleben. Vor allem für die mittelständischen Unternehmen soll mit Hilfe dieses Instituts der Weg zu neuen Märkten erleichtert werden. Beim Export von Umwelttechnik können wir einen Beitrag sowohl für eine gesunde Umwelt als auch für die Sicherung von Arbeitsplätzen im eigenen Lande leisten. Jeder Schritt zählt auf dem steinigen Weg zum selbsttragenden Wirtschaften. Das ist und bleibt unser Ziel. Bei aller Dankbarkeit für die auch weiterhin benötigten Transfers wollen wir uns doch das Vermögen bewahren, zwischen der geschenkten und der erarbeiteten Mark zu unterscheiden. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Türk.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Werte Frau Kollegin Fuchs, Sie haben ja davon gesprochen, daß die Menschen den Glauben - ich hätte bald gesagt: an die Bürokratie - an die Demokratie verlieren. ({0}) Ich glaube nicht, daß dies daran liegt, daß wir nichts tun. Vielmehr hat es etwas damit zu tun, wie wir miteinander umgehen, und insbesondere damit, daß wir uns gegenseitig blockieren. Dieses Affentheater - so sehe ich das jedenfalls - haben die Leute wirklich über. Ich habe jetzt wieder auf einem Volksfest gemerkt - da unterhält man sich mit den Menschen -, daß es die Leute insgesamt schlecht finden, daß wir in der Situation, in der sich Deutschland befindet, nicht miteinander klarkommen. Aber jetzt zum Thema. Es geht ja immer noch um den Aufbau Ost. Das hat der Wirtschaftsminister eindeutig klargemacht, auch wenn ihm keiner von der SPD zugehört hat, wie ich feststellen mußte. Der Aufbau Ost ist für die deutsche Einheit wichtig; aber die Einheit wird nur gelingen - das muß man auch immer wieder sagen -, wenn wir den Strukturwandel nicht nur im Osten, sondern gerade in ganz Deutschland herbeiführen. Das heißt, wir müssen in den neuen Bundesländern neue Strukturen schaffen und die Verkrustungen hier im Westen aufbrechen, die immer stärker werden, wenn wir so weitermachen wie bisher und weiterhin über die Verhältnisse leben. Der gute Leitsatz „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" ist leider verschüttet worden. Wenn wir unseren Sozialstaat nicht kaputtmachen wollen, müssen wir jetzt endlich mit den Reformen anfangen. Wir versuchen das; aber wir werden immer wieder blockiert. Dann ist es natürlich sehr schwer, Reformen auf die Bahn zu bringen. Das bedeutet aber auch, daß wir erst denken müssen, bevor wir verteilen. Wir dürfen also nicht planlos verteilen; das kann nicht gutgehen. Falsch wäre es, sich bei den Einsparungen vor allem am Aufbau Ost schadlos zu halten - das sage ich ganz eindeutig -; denn der selbsttragende Aufschwung ist noch nicht erreicht, wie es hier heute schon viele festgestellt haben. Aber das tun wir auch nicht. Dieser Aufschwung kann auch noch nicht erreicht sein, weil eben 45 Jahre in sechs Jahren nicht aufzuholen sind. Das ist ganz realistisch, unabhängig von dem Spruch, den es da gibt. Wenn Sparen und effizienter Mitteleinsatz notwendig sind, muß natürlich versucht werden, alle daran zu beteiligen. Das ist für mich klar. Wir brauchen Spargerechtigkeit; so möchte ich das einmal nennen. Anderenfalls braucht man sich nicht zu wundern, wenn das nicht akzeptiert wird. Aber dafür sorgen wir auch. Die Steuerkommission denkt darüber nach, wie wir Steuerprivilegien bei Arbeitnehmern und Unternehmern beseitigen können. Durch den Abbau von Vergünstigungen und die Beseitigung von Mißbrauchsmöglichkeiten sind Milliarden einzusparen; das muß man immer wieder betonen. Ich habe kein Verständnis dafür, daß bereits im Vorfeld dieses Nachdenkens Klientelpolitik betrieben wird, die diese Reform schon wieder blockiert. Zur Gerechtigkeit gehört zum Beispiel auch, daß alle Abstriche bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall machen. Wenn wir das von den Bürgern fordern, dann müssen wir bereit sein, das auch für uns selbst gelten zu lassen. ({1}) Die F.D.P. steht dazu. Wir erneuern unseren Vorschlag, sofort in Verhandlungen einzutreten und das auch bei den Abgeordneten zu machen. ({2}) Da wir gerade von der Gerechtigkeit beim Sparen sprechen: Das Sparen kann nicht nur den Bund betreffen, sondern muß auch die Länder und Gemeinden betreffen. Da sind gemeinsame Anstrengungen erforderlich. Obwohl das allen klar ist - jedenfalls beJürgen Türk teuern es alle -, leisten wir uns weiterhin ideologisch verbrämte Schaukämpfe und erheischen dafür noch Beifall. Ich glaube nicht, daß wir insgesamt dafür Beifall erhalten. Herr Schwanitz, ich spreche Sie jetzt direkt an. Sie wissen, welchen Schaden die Gewerbekapitalsteuer - ein altes Thema - in Ostdeutschland anrichten würde, wenn wir sie denn 1997 einführen müßten. Meine Eindrücke diesbezüglich sind noch frisch: Wir haben gestern mit der VEAG, mit der ostdeutschen Stromindustrie gesprochen. Für die wäre dies eine zusätzliche Belastung von 100 Millionen DM pro Jahr. Das kann man doch nicht wollen. Das gleiche gilt für die betriebliche Vermögensteuer. Lassen Sie uns doch endlich diese Ideologiekiste beiseite packen und wirklich pragmatische Dinge angehen. ({3}) - Wir beide müssen uns wahrscheinlich aufeinander zu bewegen. Das ist richtig. Ob wir uns weiterin aus ideologischen Gründen eine Blockade leisten können, ist wirklich die Frage. Ich denke schon, daß die Menschen kein Verständnis mehr für unser Pingpongspiel, bei dem nichts herauskommt, haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle verlieren - davon bin ich überzeugt -, wenn wir nicht endlich zu einem konstruktiven Meinungsstreit zurückkehren. Mir ist gesagt worden, daß es das früher einmal gegeben habe. Wenn die Zeiten hart sind, dann sollte man den Streit zwar nicht vergessen, aber man sollte doch einen ergebnisorientierten Streit führen. Warum nicht einmal Wettbewerb miteinander? Warum immer gegeneinander? Es mag ja sein, daß das eine Illusion ist. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist. Das bedeutet: Wer die besten Ideen hat, bekommt die meisten Punkte. Das klingt sehr illusionär. Aber, Herr Schwanitz, wir haben das schon einmal geschafft. Bei dem dringenden Problem der Anpassung des Bergbaurechtes haben wir ganz pragmatisch zusammengesessen und Ergebnisse erzielt. ({4}) - Ja, wir haben uns gegenseitig geholfen und dabei meines Erachtens alle gewonnen. Vielleicht schaffen wir das auch bei dieser umstrittenen ABM-Problematik. ({5}) Natürlich kann es nicht nur pauschale Kürzungen geben - genauso wenig wie pauschale Aufstockungen. Die Frage ist, wie wir die knappen Mittel effizienter einsetzen. Wir haben uns viel zu selten die Frage gestellt, wie wir durch einen effizienteren Mitteleinsatz erreichen können, daß nicht mehr Menschen arbeitslos werden. Das gilt nicht nur für den ABM-Bereich. Eine weitere Frage ist: Wie können wir erreichen, daß wieder mehr Menschen in den ersten Arbeitsmarkt gelangen? Darüber muß man sich einfach einmal austauschen. Ich bin sicher, daß man dann auch zu einer Lösung kommt. Warum kann das nicht innerhalb einer Arbeitsmarktkommission bearbeitet werden? Man könnte in dieser Kommission gemeinsam darüber nachdenken: Wie kommen wir zu einem besseren Ergebnis, so daß wir am Ende nicht mehr Arbeitslose haben, sondern weniger?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Türk, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Luft?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Türk, wir beide kommen aus den neuen Bundesländern. Ich möchte Sie erstens fragen: Stimmen Sie meinem Eindruck zu, daß das Ergebnis der Arbeitsbeschäftigungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern nicht irgendwelche dünnen Bretter sind, die die Menschen bohren, die im ABM-Bereich beschäftigt sind, sondern daß es unter anderem um Tätigkeiten geht, die, da sie Aufgabe der Kommunen sind, keinerlei Finanzierungsgrundlage hätten? In den ostdeutschen Kommunen werden soziale und kulturelle Pflichtaufgaben zu einem ganz großen Teil durch ABM-Maßnahmen erfüllt, weil es keine anderen Finanzierungsquellen gibt. Können Sie mir zweitens zustimmen, daß es in weiten Teilen durch ABM eine Wertschöpfung gibt? Ich nenne Ihnen aus meinem Wahlkreis ein Beispiel: Dort werden durch ansonsten arbeitslose Bauarbeiter Industriebrachen demontiert - und dies bei weitem nicht zum Tariflohn der Bauarbeiter. In Magdeburg und Merseburg sind arbeitslose Wissenschaftler dabei, in Form von ABM-Maßnahmen ehemalige DDR- Patente im Hinblick auf ihre Verwendungsmöglichkeiten für kleine Unternehmen und Handwerksbetriebe durchzuchecken. Sie werden dabei fündig. Ich finde, das sind Dinge, die hier gesagt werden müssen, damit wir von der Diffamierung der ABM- Maßnahmen wegkommen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Sie überschreiten die Möglichkeiten einer Frage. Sie können sie nicht zu einer Kurzintervention umgestalten.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Meine Frage war also: Stimmen Sie mir erstens zu, daß im Osten sehr viele Pflichtaufgaben der Kommunen über ABM erledigt werden, weil es anderweitig keine Finanzierung gibt, und stimmen Sie mir zweitens zu, daß im Osten in vielen Fällen ABM zu Wertschöpfungen führen? ({0})

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich stimme Ihnen natürlich zu, daß ABM ein sinnvolles Brückeninstrument sind. Das schließt aber nicht aus, daß wir uns gemeinsam darJürgen Türk über Gedanken machen müssen - ich schlage eine Arbeitsmarktkommission vor -, wie wir sie effizienter machen. In dieser Arbeitsmarktkommission, wenn sie zustande kommt, müssen wir das differenziert betrachten. Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, wie große ABM effizienter werden. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir die notwendigen ABM-Stellen für soziale Infrastruktur bei den Kommunen absichern; mein Vorschlag ist, die Mittel umzuschichten und aus ABM Dauerarbeitsverträge zu machen, wenn gewährleistet und abgesichert ist, daß die Stellen wirklich notwendig und nicht nur Beschäftigungstheorie sind. Da stimme ich Ihnen zu.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Türk, gestatten sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht? - Bitte schön, Herr Brecht.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Türk, Sie haben eben so wortreich die Notwendigkeit gemeinsamer Aktionen der ostdeutschen Abgeordneten beschworen. Ist Ihnen bekannt, daß es eine solche gemeinsame Gesprächsrunde gegeben hat und daß diese Gesprächsrunde von seiten der Koalition aufgelöst wurde?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mir ist bekannt, daß es das gegeben hat und daß es da nicht weitergegangen ist. Ich habe bei meiner Anmerkung eineindeutig - man muß ja der Realität Rechnung tragen - gemeint, daß wir, Koalition und Opposition, sprich Bundesrat, uns auf dieser Ebene nicht weiter blockieren sollten. Wenn wir schon bei Vorschlägen wie der Arbeitsmarktkommission sind: Ich finde, daß wir zu einem Stabilitätspakt II kommen müssen. So etwas gab es ja schon einmal. Der Stabilitätspakt I steht. Jetzt ist es einfach notwendig, daß Bund, Länder und Gemeinden ein Paket II hinkriegen. ({0}) - Das wollen wir doch erst zustande bringen. Das setzt voraus, daß wir erst einmal miteinander reden und dann etwas Vernünftiges aufschreiben. Dazu dürfen nicht nur punktuelle Sparmaßnahmen gehören - ich glaube, das ist das unintelligenteste -; vielmehr müssen wir Systemveränderungen vornehmen. Da bringe ich meinen alten Punkt: das kameralistische System. Es ist ein Unsinn, daß Bund, Länder und Gemeinden in der Situation, in der wir uns befinden, immer noch das Dezemberfieber bekommen und am Ende des Jahres alles rausschmeißen, was rauszuschmeißen ist. Das müssen wir gemeinsam abschaffen. ({1}) Das bringt Milliarden. Aber dazu muß man sich zusammentun. ({2}) Dann wird man sicher eine Lösung finden. Jedenfalls geht es so nicht weiter. ({3}) Man kann nicht nach dem Motto verfahren: Wir haben das immer schon so gemacht. Das bekommen wir immer gesagt: Wir haben das immer schon so gemacht; im Westen ist es so gelaufen, also muß es weiter so laufen. - Das ist ein falscher Gedankenansatz. Man kann hier wirklich aus unseren schlechten Erfahrungen in der DDR lernen. Die DDR ist an diesem System kaputtgegangen; das ist so. Noch ein Beispiel, ohne das übertreiben zu wollen, wo viele Milliarden zu holen sind - ich spreche als Bauingenieur -: Das Prinzip „Straße auf, Straße zu, Straße auf" kostet Milliarden. Warum kann man nicht in einen solchen Stabilitätspakt schreiben: Wir bilden Bauteams oder setzen private Planungsbüros ein, um diese Leistungen zu koordinieren? Das bringt Milliarden. Das ist keine Illusion oder Wunschvorstellung. In Holland beispielsweise macht man das so. Dort redet man nicht darüber, sondern man macht es einfach. Was mich immer wieder aufregt - ich sprach gerade von Holland -, ist, daß wir nicht über unseren deutschen Tellerrand blicken können. ({4}) Wir reden ({5}) und beschimpfen uns, machen Polemik. Wir sind nicht in der Lage, einmal in die USA zu gucken und zu sehen, wie die 10 Millionen Arbeitsplätze schaffen. ({6}) Deswegen muß man ja nicht gleich amerikanische Verhältnisse einführen. ({7}) - Oder die Neuseeländer. Wie haben die es geschafft, in drei Jahren von zwölf auf sechs Prozent Arbeitslosigkeit zu kommen? Das kann man sich doch einmal anschauen und sollte nicht einfach, wie Frau Fuchs es das letzte Mal getan hat, sagen: Neuseeland ist weit. Natürlich kann man sich angucken, wie die das gemacht haben. Das klappt dort. ({8}) - Wir brauchen nicht nach Neuseeland zu gehen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Sie müssen zum Abschluß kommen.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es reicht, wenn wir nach Cottbus gehen; sie sind ja eifrige „Spiegel"-Leser. Die Cottbusser jedenfalls sind der Meinung, vom Lebensgefühl her die Nummer eins in Ostdeutschland zu sein. Ich denke, das ist eine Gegend, die man sich einmal ansehen könnte. Dort hat sich etwas getan. Ich lade Sie herzlich ein, einmal nach Cottbus in den Spreewald zu kommen und sich ein Bild davon zu machen, wie man so etwas machen kann. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe nun dem Abgeordneten Dr. Joachim Schmidt das Wort.

Dr. - Ing. Joachim Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn hier heute über den Aufbau Ost diskutiert und debattiert wird, dann darf ein Gebiet nicht ausgeklammert werden: die Forschung. Ich möchte mich zur Situation und zur Zukunft der Forschung in den neuen Bundesländern äußern und beginne mit zwei Thesen. Erstens. Ohne weitere verstärkte Forschung und Entwicklung wird der Aufschwung in den neuen Bundesländern nicht fortgeführt werden können. Deshalb bleibt der Erhalt und die Entwicklung der ostdeutschen Forschungslandschaft auch für die Zukunft eine zentrale Aufgabe deutscher Forschungspolitik. ({0}) Zweitens. Wir sind hinsichtlich der Konsolidierung und der Entwicklung der Forschung in den neuen Bundesländern vorangekommen, sind aber erst auf halbem Wege. Deshalb ist eine weitere Unterstützung dieser Forschung über einen längeren Zeitraum unbedingt erforderlich. Dies gilt insbesondere für die Industrieforschung. ({1}) Im Lichte dieser Thesen ist zu fragen: Was ist erreicht worden? Welche Aufgaben müssen in Zukunft noch gelöst werden? Zuerst ist festzustellen, daß die Defizite, die die Forschung in der DDR belastet haben, im wesentlichen überwunden sind. Diese Schwächen lassen sich aus der Sicht langjähriger eigener Erfahrungen wie folgt beschreiben: Wir hatten ein Ausrüstungsniveau, das im Schnitt nicht internationalem Standard entsprach. Daraus resultierten unter anderem auch personelle Überbesetzungen. Die vor allem aus der Abschottungspolitik der DDR resultierenden Forschungsthemen waren mit der Öffnung der Märkte von heute auf morgen, insbesondere in der Industrieforschung, in überwiegendem Maße nicht mehr aktuell; ihre Bearbeitung mußte verständlicherweise sofort eingestellt werden. Die Gewinnung zukunftsträchtiger und wettbewerbsfähiger Forschungsfelder war deshalb eine der Schlüsselaufgaben für die ostdeutsche Forschung nach 1990. Die Umsetzung der Forschungsergebnisse vollzog sich in der DDR in relativ bescheidenem Umfange. In viel zu vielen Fällen war der Endpunkt von intensiver und mit beachtlich hohem intellektuellem Aufwand betriebener Forschungsarbeit der Panzerschrank, der natürlich innovationspolitisch den Rang eines Papierkorbes hatte. Dies gilt nicht mehr. Die Ausrüstungen in den Forschungseinrichtungen, im übrigen auch in denen der Industrieforschung, sind gut. Die ostdeutschen Forschungseinrichtungen arbeiten fast ausnahmslos auf wettbewerbs- und zukunftsträchtigen Wissenschaftsfeldern, und die Motivation der Mitarbeiter in Forschung und Entwicklung läßt nichts zu wünschen übrig. Die gesamte Forschungslandschaft im Osten wurde evaluiert, die außeruniversitäre Forschung zum Beispiel durch den Wissenschaftsrat. Später evaluierte die Treuhandanstalt die entstandenen Forschungs-GmbHs. Diese Evaluierung steht den Forschungseinrichtungen in den alten Ländern noch bevor. Sie ist ebenso sicher notwendig. Dabei sollten die gleichen Grundsätze und Maßstäbe angewendet werden, die im Osten galten. ({2}) Bei diesem globalen Umstrukturierungsprozeß einer Forschungslandschaft wurden natürlich auch Fehler gemacht. Die schwerwiegendste Fehleinschätzung unterlief dem Wissenschaftsrat, als er postulierte, daß an den Hochschulen der DDR keine Forschung betrieben worden sei. Das Gegenteil war der Fall. Deshalb war das Wissenschaftler-Integrations-Programm, das positiv evaluierte Forscher der ehemaligen Akademie der Wissenschaften an den Hochschulen ansiedeln sollte, keine glückliche Konstruktion. ({3}) Ich bin deshalb froh, daß es nach Auslaufen des WIP Ende 1996 mit vereinten Kräften gelungen ist, den noch in diesem Programm tätigen Forschern eine faire Chance zu sichern, weiter aktiv Forschung zu betreiben. Die außeruniversitäre Forschung kann als konsolidiert angesehen werden. Trotzdem ist eine ausgewogene außeruniversitäre Forschungslandschaft zwischen Ost und West noch nicht entstanden. Dabei sind die Aktivitäten der Fraunhofer-Gesellschaft anzuerkennen; die der Max-Planck-Gesellschaft sind auf jeden Fall noch steigerungsfähig. Die ostdeutsche Industrieforschung hat infolge des totalen Umbruchs der Wirtschaft eine dramatische Reduzierung erfahren: von 86 000 Beschäftigten im Jahre 1990 auf 16 000 derzeit. Der strukturelle Anpassungsprozeß hat auch zu einem überproportionalen Abbau der Industrieforschungs- und Entwicklungskapazitäten geführt. Gegenwärtig hat sich die Industrieforschung auf niedriDr.-Ing. Joachim Schmidt ({4}) gem Niveau stabilisiert. Das ostdeutsche Industrieforschungspotential beträgt zur Zeit nur etwa 4 Prozent der in den alten Bundesländern vorhandenen Industrieforschungskapazitäten. In struktureller Hinsicht ist festzustellen, daß in den Betrieben die FuE-Kapazitäten unterentwickelt sind. Hauptträger der Industrieforschung sind die innovativen Einrichtungen, die vor allem aus den Forschungszentren und Forschungsinstituten der ehemaligen Kombinate hervorgegangen sind. Sie sind die hauptsächlichen Partner der kleinen und mittelständischen Betriebe, die keine eigenen Forschungskapazitäten unterhalten. Der Aufwärtstrend in der Forschung ist vor allem der staatlichen Förderung durch Bund und Länder seit 1991 zu verdanken. Seit diesem Zeitpunkt wurde die ostdeutsche Forschung mit weit mehr als 3 Milliarden DM jährlich durch den Bund unterstützt. Es kann als erfreuliche Tatsache festgestellt werden, daß auch im Haushalt 1997 Kürzungen für die ostdeutsche Forschung vermieden werden konnten. ({5}) Welche Schlüsse sind aus dieser Bilanz zu ziehen, und welche Aufgaben müssen noch angepackt werden? Erstens. Die gesamtdeutsche Forschungslandschaft ist noch nicht harmonisiert. Wissenschaftliche Neuansiedlungen in den neuen Bundesländern sind daher weiter dringend geboten. Wir freuen uns, daß mit dem Fusionsreaktor „Wendelstein VII X" in Greifswald eine wichtige Forschungsinvestition für Mecklenburg-Vorpommern zustande kommt. Zweitens. Für die Industrieforschung müssen folgende Maßnahmen getroffen werden. Da der Mangel an Eigenkapital das Haupthindernis für Innovationen in Ostdeutschland darstellt, muß der Zugang zu Risikokapital unbedingt erleichtert und verbessert werden. Die verstärkte Wiederansiedlung von Forschung und Entwicklung in den produzierenden Betrieben stellt die forschungspolitische Hauptaufgabe dar. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, das dieser Aufgabe gewidmete BMWi-Programm „Personalförderung Ost" über das Jahr 1997 hinaus auf hohem Niveau weiterzuführen. ({6}) Wir können uns aber auch vorstellen, daß dieses Programm mittelfristig durch eine Innovationszulage abgelöst wird, nach der Zuschüsse für „weiche" Investitionen, vorzugsweise in den kleinen und mittelständischen Unternehmen, vom Gesetzgeber festgeschrieben werden. ({7}) Die wirtschaftsnahen innovativen Einrichtungen müssen auch weiterhin angemessen unterstützt werden; dazu ist das BMWi-Programm „Marktvorbereitende Industrieforschung" auf hohem Niveau fortzuführen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Braune?

Dr. - Ing. Joachim Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin im Moment stimmlich nicht so ganz auf der Höhe. Ich würde gern meine Rede zu Ende bringen. Wenn Herr Braune dann eine Kurzintervention macht, würde ich, soweit ich mit meinen Stimmbändern dazu noch in der Lage sein werde, darauf antworten.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, bitte fahren Sie fort.

Dr. - Ing. Joachim Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Beschleunigung des Transfers von Forschungsergebnissen in vermarktbare Produkte mit Spitzenniveau und der Unterstützung risikoreicher und besonders innovativer FuE-Vorhaben gebührt forschungspolitischer Vorrang. Das zur Lösung dieser Aufgabe in Vorbereitung befindliche BMBF-Programm „FUEGO" muß angemessen finanziell ausgestattet werden. Die Förderung besonders innovativer Existenzgründungen ist konsequent fortzusetzen. Das dafür vorgesehene Anschlußprogramm „FUTOUR" muß kurzfristig umgesetzt werden. ({0}) Als Ergebnis vieler Gespräche mit Vertretern der ostdeutschen Industrieforschung möchte ich nachdrücklich darauf hinweisen, daß die Bearbeitungszeiten der BMBF- und BMWi-Förderprogramme durch die Projektträger unbedingt zu verkürzen sind. Die Zusammenarbeit zwischen der westdeutschen Wirtschaft und den Forschungseinrichtungen in den neuen Bundesländern ist erheblich zu intensivieren. Die vom BMWi, der Wirtschaftsinitiative „Wir" und den Spitzenverbänden der westdeutschen Industrie und des Handwerks initiierten Aktivitäten werden nachhaltig unterstützt. Ich komme zum Schluß und möchte noch ein Problem ansprechen, das aus meiner Sicht für das Fortkommen der ostdeutschen Forschung besonders wichtig ist. Ich bin für eine kritisch-konstruktive Bilanz. Aber Kassandrarufe, die den Niedergang der Forschung im Osten gebetsmühlenartig thematisieren und dieser Forschung eine unterentwickelte Qualität bescheinigen - wobei vielleicht auch noch Krokodilstränen vergossen werden -, schaden dieser Forschung und nützen ihr nichts. ({1}) Vor allem werten sie die Arbeit derer ab, die im Osten mit hohem intellektuellem Aufwand und mit fachlicher Kompetenz bemüht sind, Forschungsergebnisse zu erzielen, die im internationalen Wettbewerb Bestand haben. Wer der ostdeutschen Forschung wirklich helfen will, muß für ihre weitere Unterstützung nachhaltig werben und muß denen, die Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({2}) Forschung betreiben, Mut und Motivation vermitteln. Dazu möchte ich Sie alle einladen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich zu einer Kurzintervention das Wort dem Abgeordneten Tilo Braune.

Tilo Braune (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002635, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. Eigentlich sollte es eine Frage an Herrn Schmidt werden. Aber aus einer Frage kann man ja auch eine Feststellung machen. Wenn ich Herrn Schmidt richtig verstanden habe, dann hat er mitgeteilt, daß die Wissenschaftler und Forscher in der ehemaligen DDR auf den Gebieten Medizin, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften lediglich für den Papierkorb gearbeitet haben und daß ihre Arbeit unsinnig und qualitativ schlecht war. Ich möchte dies auf das schärfste und entschiedenste zurückweisen. Dies ist eine völlig sinnlose Polemik und schiebt den Schwarzen Peter in eine falsche Richtung. Wie anders wäre es zu erklären, daß die Akademiewissenschaftler, die in dem von Herrn Schmidt als unsinnig oder als falsch gestrickt bezeichneten Wissenschaftler-Integrations-Programm arbeiten, mehrfach positiv evaluiert wurden und damit ihre wissenschaftliche Qualifikation und ihre Leistung nachgewiesen haben? Ich denke, Herr Schmidt sollte es nicht dabei belassen, zur Unterstützung der Wissenschaft aufzurufen, sondern sich zu Taten bekennen und die vielen Anträge der SPD zur Weiterführung eines modifizierten Integrations-Programms in der Wissenschaftslandschaft unterstützen. Das sollte nicht, wie es in den Ausschüssen in der Vergangenheit leider immer wieder geschah, durch Gegenstimmen der Koalitionskollegen verhindert werden. Das ist der eigentliche Fakt. Danke schön. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Dr. Schmidt, Sie können darauf antworten.

Dr. - Ing. Joachim Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will zunächst sagen, Herr Braune, daß das eine ausgesprochen unfaire Interpretation meiner Rede ist. Entweder haben Sie nicht zugehört, oder Sie haben nicht kapiert, was ich gesagt habe. ({0}) Mein lieber Freund, ich habe in der DDR 30 Jahre lang in vielen Forschungseinrichtungen Forschung betrieben - Sie wahrscheinlich so gut wie keine; jedenfalls habe ich bisher nicht den Eindruck gewonnen. Ich will zitieren, was ich gesagt habe: Die Umsetzung der Forschungsergebnisse vollzog sich in der DDR in relativ bescheidenem Umfange. In viel zu vielen Fällen war der Endpunkt von intensiver und mit beachtlich hohem intellektuellem Aufwand betriebener Forschungsarbeit der Panzerschrank ... Wenn Sie behaupten, ich würde den Forschern mangelnde Ausbildung, mangelnde wissenschaftliche Kompetenz unterstellen, dann ist das einfach eine Unverschämtheit. ({1}) Ich würde meinen ehemaligen Fachkollegen damit ein schlimmes Attest ausstellen. Die Forschung in der DDR hätte mehr zustande bringen können. Daß sie es nicht tat, lag nicht an der Ausbildung; es lag auch nicht an der Motivation und am Einsatz. Es lag am System und auch an einer bornierten Führung, die für Forschung und für Forschungsergebnisse de facto wenig übrig hatte. Ich habe 20 Jahre lang in einem großen Forschungszentrum des größten DDR-Kombinates gearbeitet. In diesem Kombinat waren wir immer fünftes Rad am Wagen - leider. Deshalb kann ich Ihnen nur eines sagen, Herr Braune - und ich sage das mit Bedacht -: Wir haben in der letzten Legislaturperiode im Forschungsausschuß versucht, möglichst viel Gemeinsames für die ostdeutsche Forschungslandschaft zu schaffen. Das ist gelungen. Daran waren alle beteiligt, auch Leute Ihrer Fraktion. Ich bin auch weiterhin dazu bereit. So etwas geht aber nur, wenn gegenseitiges Vertrauen vorhanden ist. Mit solchen Bemerkungen, die aus der Luft gegriffen sind und alles auf den Kopf stellen, was ich gesagt habe, kommt ein solches Vertrauen nicht zustande; das kann ich Ihnen sagen. Die Schuld liegt nicht bei uns; die Schuld liegt eindeutig bei Ihnen. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Da kann man sehen, wie schön die deutsche Sprache ist: Wenn einer zum anderen sagt „mein lieber Freund", dann meint er es meistens gar nicht so. ({0}) Die Aussprache ist damit geschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/5657, 13/5722 und 13/5732 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Dann kommen wir zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS zur teilweisen Erstattung des bei der Währungsunion 1990 reduzierten Betrages. Das ist die Drucksache 13/1737. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/3785, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/1737 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition und der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Grünen in zweiter Lesung abgelehnt worden ist. Damit entfällt die weitere Beratung. Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zum Entwurf eines Verfahrensgesetzes zu Art. 44 des Einigungsvertrages, Drucksache 13/4005. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der PDS auf Drucksache 13/1080 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition, der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen worden ist. Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zur Anpassung, Änderung und Ergänzung des Einigungsvertrages sowie zur konsequenten Verwirklichung der in ihm enthaltenen Rechtsansprüche der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer, Drucksache 13/4412. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2226 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen angenommen worden ist. Dann kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD zum Bericht der Bundesregierung zur deutschen Einheit auf Drucksache 13/ 5731. Wer dem Antrag der Fraktion der SPD zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Antrag der Fraktion der SPD mit den Stimmen der Koalition bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS sowie des Abgeordneten Lühr abgelehnt worden ist. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19a bis 19k und den Zusatzpunkt 7 auf: 19. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schiedsverfahrensrecht ({1}) - Drucksache 13/5274 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Geheimschutzübereinkommen der WEU vom 28. März 1995 - Drucksache 13/5320 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung ({3}) - Drucksache 13/4983 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({4}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen - Drucksache 13/5419 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({5}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Erste Beratung des von der Gruppe der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vertriebenenzuwendungsgesetzes - Drucksache 13/5594 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß Finanzausschuß ({6}) Rechtsausschuß f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung der wohngeldrechtlichen Überleitungsregelungen für das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet ({7}) - Drucksache 13/5729 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({8}) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Rechtsausschuß g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. Mai 1996 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 13/5686 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Ulrike Höfken, Michaele Hustedt, Vera Lengsfeld und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Umfassender Schutz für Meeressäuger - Drucksache 13/5007

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Albert Schmitt ({1}), Gila Altmann ({2}), Helmut Wilhelm ({3}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzierung der Schienennahverkehrsinfrastrukturen sicherstellen - Drucksache 13/5198 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({4}) Haushaltsausschuß j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Rosel Neuhäuser, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS Kostenlose Überlassung oder Übertragung des ehemaligen Truppenübungsplatzes Weberstedt an den Freistaat Thüringen zu Zwecken des Naturschutzes - Drucksache 13/5590 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Wolfgang Bierstedt, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS Modifizierung des 100 Millionen DM- Hilfsprogramms für die Binnenschiffahrt - Drucksache 13/5593 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({6}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß ZP7 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({7}) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Arbeitsförderung ({8}) - Drucksachen 13/5676, 13/5730 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({9}) Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Dann kommen wir jetzt zu Tagesordnungspunkt 20. Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20a bis 20d, Drucksachen 13/4792 bis 13/4795, auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 30. Januar 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Peru über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/4792 - ({10}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({11}) - Drucksache 13/5618 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 21. Januar 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Namibia über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/4793 - ({12}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({13}) - Drucksache 13/5619 - Berichterstattung: Abgeordneter Siegmar Mosdorf c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 28. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Litauen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/4794 - ({14}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({15}) - Drucksache 13/5620 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 30. März 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Kuwait über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 13/4795 - ({16}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({17}) - Drucksache 13/5621 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf den Drucksachen 13/5618 bis 13/5621, die Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich über die vier Gesetzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Ich bitte diejenigen, die den vier Gesetzentwürfen zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Gesetzentwürfe bei Enthaltung der Gruppe der PDS angenommen worden sind. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20e auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesjagdgesetzes und des Waffengesetzes - Drucksache 13/5493 - ({18}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({19}) - Drucksache 13/5677 Berichterstattung: Abgeordneter Ernst Bahr Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt auf Drucksache 13/5677, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Zustimmung im übrigen angenommen worden ist. Damit treten wir in die dritte Beratung und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20f auf: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Jahressteuergesetzes ({20}) 1997 ({21}) - Drucksachen 13/4839, 13/5359 - ({22}) aa) Erste Beschlußempfehlung und erster Bericht des Finanzausschusses ({23}) - Drucksache 13/5758 - Berichterstattung: Abgeordnete Detlev von Larcher Gisela Frick Friedrich Merz Uwe-Jens Rössel Christine Scheel bb) Erster Bericht des Haushaltsausschusses ({24}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 13/5759 Berichterstattung: Abgeordnete Dankwart Buwitt Dr. Wolfgang Weng ({25}) Karl Diller Oswald Metzger Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Bundesregierung eingebrachten Entwurf. Der Finanzausschuß empfiehlt, den von ihm verabschiedeten Teil in der Ausschußfassung anzunehmen, dem Gesetzentwurf den Titel „Umsatzsteueränderungsgesetz 1997" zu geben und den übrigen Teil des Jahressteuergesetzes 1997 einer späteren Beschlußfassung vorzubehalten. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der dargestellten Maßgabe zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf in zweiter Lesung einstimmig angenommen worden ist. Wir treten in die dritte Beratung und Schlußabstimmung ein. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Gesetzentwurf mit gleicher Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20g auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({26}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Susanne Kastner, Ulrike Mehl, Michael Müller ({27}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Notwendige Grundsätze der guten fachlichen Praxis beim Düngen in der Düngeverordnung Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch - zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erforderliche Maßnahmen zur Umsetzung der EU-Nitratrichtlinie im Rahmen der Düngeverordnung - Drucksachen 13/2524, 13/3064, 13/3957 Berichterstattung: Abgeordneter Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Wir kommen zur Abstimmung des Antrags der Fraktion der SPD. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 13/2524 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses auf Ablehnung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der SPD und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS abgelehnt worden ist. Wir kommen zur Abstimmung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3064 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20h auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({28}) gemäß j 93a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({29}) des Rates betreffend die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durch die Kommission zur Feststellung von Betrug und Unregelmäßigkeiten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaft - Drucksachen 13/4137 Nr. 2.55, 13/5209 Berichterstattung: Abgeordnete Peter Altmaier Dr. Jürgen Meyer ({30}) Dr. Helmut Lippelt Ich gehe davon aus, daß Sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20i auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familien, Senioren, Frauen und Jugend ({31}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über die ausgewogene Mitwirkung von Frauen und Männern am Entscheidungsprozeß - Drucksachen 13/4137 Nr. 2.63, 13/5195 - Berichterstattung: Abgeordnete Ortrun Schätzle Ingrid Holzhüter Rita Grießhaber Heidemarie Lüth Diejenigen, die der Beschlußempfehlung zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS bei Zustimmung im übrigen angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20j auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({32}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Begrenzung von Emissionen aus der Titandioxid-Industrie - Drucksache 13/5275, 13/5550 Nr. 2.3, 13/5710 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Paziorek Dietmar Schütz ({33}) Vera Lengsfeld Dr. Rainer Ortleb Der Ausschuß empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 13/5275 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung bei Stimmenthaltung der Gruppe der PDS und bei Zustimmung im übrigen angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20k auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({34}) Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 13/5664 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Bertold Reinartz Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Gruppe der PDS und bei Zustimmung im übrigen angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 201 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({35}) zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/96 - Drucksache 13/5580 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Der Ausschuß empfiehlt, in dem Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und einen Prozeßvertreter zu bestellen. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung bei Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Zustimmung im übrigen angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20m auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 143 zu Petitionen ({37}) - Drucksache 13/5614 Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5735 vor, über den wir dementsprechend zuerst abzustimmen haben. Wer dem Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der verschiedenen Fraktionen und Gruppen der Opposition abgelehnt worden ist. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses. Wer für die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, Sammelübersicht 143, stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit der gleichen Stimmenmehrheit angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20n auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 145 zu Petitionen ({39}) - Drucksache 13/5616 Auch dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5736 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer diesem Änderungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß der Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses, Sammelübersicht 145. Wer für diese Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung, Sammelübersicht 145, mit derselben Stimmenmehrheit angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 o auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 140 zu Petitionen - Drucksache 13/5611 Dazu gibt es keinen Änderungsantrag. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung bei Stimmenthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20p auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({41}) Sammelübersicht 141 zu Petitionen - Drucksache 13/5612 Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltungen im übrigen angenommen worden ist. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20q auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({42}) Sammelübersicht 144 zu Petitionen - Drucksache 13/5615 Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes. Frau Kollegin Probst, Sie möchten das Wort zur Geschäftsordnung haben, bitte schön.

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte etwas zum nächsten Tagesordnungspunkt sagen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haltung der Bundesregierung zu Forderungen nach Einführung einer AutobahnVignette Frau Kollegin Probst, zu diesem Tagesordnungspunkt möchten Sie das Wort zur Geschäftsordnung? - Bitte.

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte im Namen meiner Fraktion gemäß § 42 der Geschäftsordnung die Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung beantragen. Ich sehe Herrn Wissmann nicht und denke, er ist nicht im Raum. Diese Aktuelle Stunde betrifft ihn ganz gravierend. Meine Fraktion möchte ihn hier haben. Wir glauben, daß er sich vor dieser Aktuellen Stunde nicht drükken sollte. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Probst, ich habe Sie akustisch leider nicht verstehen können. Ich frage noch einmal, was Sie verlangen.

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich beantrage nach § 42 der Geschäftsordnung die Herbeirufung eines Mitglieds der Bundesregierung, Herrn Minister Wissmann, bitte. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, darf ich einen Vorschlag machen?

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Machen Sie das.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Der Parlamentarische Staatssekretär des Ministeriums, also der politische Vertreter des Ministers, ist anwesend. Wenn Sie auf der Herbeirufung des Ministers bestehen, werden wir selbstverständlich darüber abstimmen. Ich schlage Ihnen aber vor, daß wir gleichwohl mit der Aussprache zur Aktuellen Stunde beginnen. ({0})

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir können über die Herbeirufung gerne abstimmen lassen. Wenn Herr Wissmann trotzdem noch kommt, freuen wir uns natürlich darüber. Im übrigen verstehe ich Ihren Vorschlag nicht richtig. Wenn Sie etwas anderes meinen, müßten Sie sich etwas deutlicher ausdrücken.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Probst, ich höre, daß der Minister hierher unterwegs ist. Wenn Sie auf der Abstimmung bestehen, führen wir sie durch.

Simone Probst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002753, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich denke, daß wir dann, wenn er hierher unterwegs ist, die Sitzung solange unterbrechen können, bis er hier ist. Im übrigen halte ich meinen Antrag aufrecht. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Wird zu dem Antrag das Wort gewünscht? - Bitte schön.

Andreas Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001999, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Wir werden den Antrag ablehnen. Wir halten das für eine Schaufensterdebatte. Der zuständige Parlamentarische Staatssekretär und der Bundeskanzler sind anwesend. Wir hören gerade, daß der Bundesverkehrsminister kommt. Ich finde, das ist ein Schaufensterantrag. Wir werden ihn ablehnen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich sehe eine weitere Wortmeldung. - Bitte schön, Frau Kollegin.

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind sehr dafür, daß der Minister bei dieser Debatte anwesend ist. Wenn er aber nun schon auf dem Wege ist, dann, denke ich, können wir beginnen und mit seiner Anwesenheit - hoffentlich in Kürze - rechnen. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das enthebt uns nicht einer Abstimmung über den gestellten Antrag. Wir treten in die Abstimmung ein. Wer dem Antrag auf Zitierung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Dann stelle ich fest, daß der Antrag mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des Hauses im übrigen abgelehnt worden ist. Wir können also in die Debatte eintreten, wobei wir alle davon ausgehen, daß die Erklärung des Staatssekretärs zutrifft und der Minister auf dem Wege ins Parlament ist. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Albert Schmidt das Wort.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auf geht's zum Fingerhakeln! Das war schon der richtige Auftakt. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Präsident! Ich begrüße besonders herzlich Herrn Staatsminister Wiesheu, grüß Gott. Sie können heute beweisen, ob das, worüber wir heute zu diskutieren haben, ein Alleingang war oder nicht. Es geht im Moment um einen Streit auf der politischen Bühne um die Einführung einer allgemeinen Autobahngebühr. Um dieses Thema streiten sich ein Blinder und ein Einäugiger. Der Blinde heißt Matthias Wissmann, auf dem Wege hierher. Er verschließt beide Augen vor der schlichten Tatsache, daß der Straßenverkehr durch Stauschäden und Umweltschäden nun einmal in erheblichem Maß externe Kosten verursacht, die der Allgemeinheit aufgelastet werden, anstatt verursachergerecht den Autofahrern aufgebürdet zu werden. Überhaupt - so hören wir von Herrn Wissmann - sei über die AutobahnVignette, die im Gespräch ist, allenfalls ein Betrag in der Größenordnung von 60 Millionen DM bei den ausländischen Autofahrern abzukassieren. Dem stünden aber Systemkosten von 640 Millionen DM Albert Schmidt ({0}) gegenüber. Also Augen zu, Hände in den Schoß, Fuß aufs Gaspedal, und so weitermachen wie bisher. Der Einäugige auf der anderen Seite dieser Streitbühne ist Edmund Stoiber. Er sagt dem Kollegen Wissmann zum einen ganz öffentlich und Bonn direkt, daß er nicht rechnen könne. Zum zweiten verlangt er die Einführung genau dieser Autobahn-Vignette, um bei allen Pkws abzukassieren. Dann aber - jetzt höre man genau zu - soll den deutschen Autofahrern über die Absenkung der Kfz-Steuer zumindest ein Teil dieser Mehrkosten wieder zurückgegeben werden, den Ausländern dagegen nicht. Schon wird in erfrischender Offenheit deutlich, gegen wen das eigentlich geht, nämlich gegen unsere europäischen Nachbarn. Europa läßt grüßen; die Globalisierung schreitet fort in Bayern. Herrschaftszeiten, Herr Wiesheu: Wissen Sie, worum es Ihrem Chef dabei eigentlich geht? Gilt das Verursacherprinzip nur für Ausländer? Verursachen denn deutsche Autofahrer keine Staukosten und keine Umweltschäden? Oder wie ist es mit denjenigen, die nach der Einführung der Autobahngebühr vermehrt von der gebührenpflichtigen Autobahn auf die gebührenfreie Bundesstraße ausweichen? Da bekommen wir dann den Verkehrszuwachs. Den Anwohnerinnen und Anwohnern dort kann man schon heute zu der Portion Extralärm, die sie dann bekommen, gratulieren. Den Lärm sollten wir dann vielleicht nicht in Dezibel messen, sondern in „Stoiber", plus drei „Stoiber" neue bayerische Maßeinheit für vignettenbedingten Zusatzlärm an Ortsdurchfahrten. Das wär doch was. ({1}) Aber es geht Ihnen ja nicht wirklich um Verkehrsminderung oder Lärmminderung, sondern Ihnen geht es um etwas anderes. - Herr Oswald, hören Sie genau zu, worum es den Bayern geht. - Der Unterhäuptling Günther Beckstein hat das sehr offen ausgesprochen. Er sagt nach einer dpa-Meldung von vorgestern, der Etat für den Fernstraßenbau werde dauernd gekürzt. Herr Staatssekretär Carstens, könnten Sie dem Mann einmal die Haushaltspläne der letzten drei Jahre zuleiten, damit ihm deutlich wird, daß gerade beim Straßenbau nicht gekürzt worden ist? Da sind wir noch immer bei 10 Milliarden DM. Beim Schienenausbau ist gekürzt worden; da sind wir im Moment bei 7 Milliarden DM. ({2}) Dann sagt Herr Beckstein weiter in Sachen Vignette, am Ende müsse bei der Autobahn-Vignette etwas für den Straßenbau übrigbleiben, denn sonst „rechnet sich die Sache nicht". Darum geht es also; das ist des Pudels Kern: mehr Straßenbau und dadurch wieder mehr Verkehr. Da paßt dem Herrn Stoiber die Zuständigkeit des Bundeskanzlers nicht. Er kann es nicht erwarten, Herr Bundeskanzler, Sie zu beerben. Er übt das Regieren schon vorher einmal ein bißchen in München. Aber wenn ich Sie so gelassen da sitzen sehe, muß er wohl lernen, noch etwas Geduld zu haben. ({3}) Er könnte ja zwischenzeitlich den Freistaat Bayern als Königreich ausrufen. Dann könnte König Edmund noch ein paar andere Bundesgesetze freihändig gleich mit außer Kraft setzen, das Schwangerenberatungsgesetz usw. Es würden ihm sicherlich noch ein paar einfallen. Aber zurück zur Jahresvignette. Sie funktioniert nach dem Rasenmäherprinzip: Wer 30 000 km auf der Autobahn fährt, bezahlt das gleiche wie der, der bloß 1 000 km fährt. Das ist genauso schwachsinnig, als wenn jeder die gleiche Stromrechnung zahlen müßte, egal wieviel Strom er verbraucht hat. Das kann es nicht sein. Wer seine Jahresmarke gekauft hat, der nützt sie natürlich auch aus und fährt um so mehr. Oder Sie müssen eine Tagesvignette einführen. Wenn Sie sie einführen, dann haben Sie natürlich so viel Verwaltungsaufwand, daß es sich überhaupt nicht mehr rechnet. Oder Sie müssen zurück ins Postkutschenzeitalter und müssen alle paar Kilometer eine Schranke aufstellen und abkassieren. Also, meine Herren Streithansel, ein Vorschlag zur Güte. - Herr Wiesheu, darf ich noch einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Ich will ja den Streit gerne schlichten. - Erhöhen Sie doch endlich, schrittweise und berechenbar, die Mineralölsteuer. Das trifft punktgenau die, die viel fahren, viel, und die, die wenig fahren, trifft es weniger. Sie haben keine Einführungskosten, keine Systemkosten, keine Verwaltungskosten. Sie brauchen nur Zapfsäulen, und die stehen eh schon da.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Geben Sie dann diese Einnahmen zurück an die Menschen, indem Sie Bus und Bahn als Alternative ausbauen, indem Sie die Sozialversicherungsbeiträge und die Lohnnebenkosten senken. Das schafft Arbeitsplätze und Verkehrsverlagerung. Das hat Ihr bayerischer CSU-Landtagskollege Josef Göppel übrigens schon begriffen. Wissen Sie, wie er das nennt? Er nennt es Einstieg in die ökologische Steuerreform. Ich hoffe, das kommt Ihnen irgendwie bekannt vor.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gleich fertig, Herr Präsident. - Man sollte die Hoffnung nie aufgeben, daß die göttliche Eingebung auch noch auf die CSU herniederkommt, und sei es in Gestalt ihres eigenen Umweltarbeitskreises. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Wolf Bauer.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Aktuelle Stunden kann man im allgemeinen unter das Motto stellen: Man darf über alles reden, aber nicht länger als fünf Minuten. Warum also sollen wir uns nicht auch einmal, oder besser gesagt: noch einmal, über Autobahnbenutzungsgebühren für Pkw unterhalten? Worüber wir allerdings nicht reden sollten und nicht reden dürfen, ist eine weitere Belastung der deutschen Steuerzahler und vor allem auch der deutschen Autofahrer. Denn zu einer weiteren Belastung würde es zwangsläufig kommen, wenn wir in Deutschland eine Autobahnvignette für Pkw einführten. Ich gebe gerne zu, daß es sehr öffentlichkeitswirksam ist, zu fordern, ausländische Autofahrer an den Kosten für den Bau und die Unterhaltung des deutschen Straßennetzes zu beteiligen. All jene, die diese populistische Forderung erheben, müssen aber auch erklären, wie dieses Ziel zu erreichen ist. In diesem Zusammenhang möchte ich ein altes deutsches Sprichwort, wenn auch in etwas abgewandelter Form, gebrauchen: Den Sack schlägt man, den Esel trifft man. Der Esel ist hier der deutsche Autofahrer, der dann zusätzlich zu den jährlich über 80 Milliarden DM an Kraftfahrzeug- und Mineralölsteuer auch noch eine Autobahnbenutzungsgebühr von 2,4 Milliarden DM bezahlen soll. Zwar wird von den Befürwortern einer Autobahnvignette ein Ausgleich für die deutschen Autofahrer angedeutet; aber bei dieser Andeutung ist es bis heute geblieben. Denn jeder, der sich auskennt, weiß, daß ein Ausgleich, zum Beispiel über eine Senkung der Kraftfahrzeugsteuer, für den deutschen Autofahrer aus EU-rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Diese Vorgehensweise fiele unter das Diskriminierungsverbot. ({0}) Auch in Österreich wird es eine Kompensation in dieser Form nicht geben, wenn dort eine Vignette eingeführt wird. Aber nicht nur der geforderte Ausgleich für den deutschen Autofahrer ist nicht möglich, sondern auch eine Zweckbindung der Einnahmen aus diesen Autobahnbenutzungsgebühren für Bau und Unterhaltung deutscher Autobahnen ist nicht zu erreichen. Ich schlage daher den Befürwortern einer Autobahnvignette vor, erst diese Probleme zu lösen und dann die Frage zu stellen, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Höhe eine Autobahnbenutzungsgebühr für Pkw eingeführt werden soll. Hinzu kommt, daß zunächst einmal in einem Gesamtkonzept festgelegt werden muß, was aus der Kraftfahrzeugsteuer letztendlich überhaupt werden soll. Soll sie in Form einer emissionsbezogenen Steuer zur Lösung umweltpolitischer Probleme herangezogen werden? Oder soll sie auf die Mineralölsteuer umgelegt werden? In beiden Fällen wäre es nicht möglich - abgesehen von EU-rechtlichen Bedenken -, sie auch noch zur Kompensation für eine eventuell einzuführende Autobahnbenutzungsgebühr zu verwenden. Auch konnte bisher der Nachweis nicht geführt werden, daß bei errechneten Einnahmen von 2,4 Milliarden DM durch eine eventuell einzuführende Vignette wesentlich mehr als 60 Millionen DM von ausländischen Autobahnbenutzern in die Bundeskasse fließen würden. Die Einführung einer Vignette ist nichts anderes als die Einführung einer neuen Abgabe, meine Damen und Herren. Da wir uns aber alle hier in diesem Hohen Haus zum Ziel gesetzt haben, die Steuern und Abgaben zu senken und damit unsere Bürger spürbar zu entlasten, ist die jetzt geführte Vignettendiskussion oder, wie sie neuerdings genannt wird, der Pickerlstreit überflüssig wie ein Kropf. Mehr denn je gilt: Jede weitere Belastung des deutschen Steuerzahlers durch Steuern, Abgaben, oder Soziallasten muß unbedingt verhindert werden. Außerdem ist nicht einzusehen, daß der mehr als geplagte ländliche Raum noch weiter benachteiligt wird. Mehr als in den Ballungsgebieten sind die Bewohner des ländlichen Raumes auf das Autofahren angewiesen und damit auf die Benutzung von Autobahnen. Hinzu kommt, daß es durch die Einführung einer Vignette zu Verlagerungen auf das nachgeordnete Straßensystem kommen wird. Diese werden zwangsläufig auch zu einer stärkeren Belastung der Ortsdurchfahrt führen. Zusätzliche Abgase, mehr Lärm und eine erhöhte Unfallgefahr sind die Folgen. ({1}) Auch der Fremdenverkehr würde vor allem in grenznahen Bereichen beeinträchtigt. Wenn ich zum Beispiel an meinen Wahlkreis denke und hier besonders an die Eifel, dann bin ich davon überzeugt, daß zum Beispiel viele Kurzurlauber aus den Nachbarländern diese Region meiden würden, wenn ein Besuch hier mit zusätzlichen Kosten durch eine Autobahnbenutzungsgebühr für Pkw verbunden wäre. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß neun von 15 EU-Ländern keine Autobahnbenutzungsgebühr für Pkw erheben. Meine Damen und Herren, die Haltung der Bundesregierung zur Forderung nach Einführung einer Autobahnvignette ist durch wiederholte klare Aussagen unseres Bundesverkehrsministers eindeutig belegt. Sie findet meine volle Unterstützung. Ich bedanke mich. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Frau Kollegin Professor Monika Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich war eben doch etwas erstaunt, endlich zu hören, was auf Ihrer Seite geMonika Ganseforth dacht wird. Beim Beifall habe ich allerdings gesehen, daß nur etwa die Hälfte auf Ihrer Seite Beifall geklatscht hat. ({0}) Der Minister ist jetzt da, ich bin gespannt, was er sagt und wie es aus den anderen Reihen tönt, von denen, die keine Hand gerührt haben, zum Beispiel vom Vorsitzenden des Verkehrsausschusses. Es war natürlich auch sehr interessant, von Ihrer Seite zu hören, daß es eines Konzeptes bedarf, um das Hin und Her mit der Vignette, mit der Kraftfahrzeugsteuer usw. endlich zu beenden. Es hat Jahre gedauert, um das von dieser Seite zu hören. Wir freuen uns und schließen uns dem nur an. Wir wissen ja alle: Mit dem Verkehr muß etwas geschehen. Mit der Verkehrslawine geht es so nicht weiter. Die Menschen stöhnen unter der Belastung durch die immer mehr anwachsende Verkehrslawine, vor allem durch den Lkw-Verkehr. Gegenmaßnahmen sind überfällig. Nur hilft uns dieser unseriöse Umgang mit dem Thema, wie es von Ihrer Seite jetzt wieder als verspätete Sommerlochdebatte behandelt wird, nicht weiter, sondern untergräbt geradezu die Möglichkeiten tatsächlicher Maßnahmen. Es sind reine Abkassierungsversuche, die diskutiert werden. ({1}) Sie schüren gegenüber unseren Nachbarn, die sich im Interesse ihrer Bevölkerung zur Wehr setzen, Vorbehalte und blockieren die nötigen. Entscheidungen. Sie verhalten sich nicht EU-konform. Denn wir brauchen endlich einen Abbau der Subventionen für den motorisierten Straßenverkehr und marktwirtschaftliche Instrumente zur verursachergerechten Anlastung der Kosten. Die Preise im Verkehrsbereich decken bei weitem nicht die externen Kosten, besonders nicht im Straßenverkehr, ganz besonders nicht im Lkw-Verkehr, aber auch nicht im Luftverkehr. Der Verkehr hat viele Kosten, die nicht in die Preise eingerechnet werden. Das größte Risiko dabei ist die Klimaveränderung. Der Treibhauseffekt, das Waldsterben, die Versauerung der Böden und des Wassers gehen auf den Verkehr zurück. Die bodennahe Ozonbelastung, die Beeinträchtigung der Lebensqualität in den Städten, der Flächenverbrauch, die Zerschneidung der Landschaft, die Lärmbelastung, die Unfallkosten - all dies ist nicht in die Kosten des Verkehrs einbezogen und gehört sozusagen internalisiert, es sei denn, die Allgemeinheit trägt die Kosten. Die Allgemeinheit beinhaltet nicht nur den Steuerzahler; denn vor allen Dingen werden auch die nachfolgenden Generationen für diese Kosten zur Kasse gebeten. Sie sind schwer zu ermitteln. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, das IW, hat sieben Arbeiten verglichen, die versucht haben, diese externen Kosten auszurechnen. Die Marge bei diesen sieben Instituten liegt zwischen 45 und 220 Milliarden DM. Das ist die Spannbreite für die externen Kosten pro Jahr, die von den Instituten ausgerechnet werden. Daß allerdings vor allem im LkwVerkehr Kosten entstehen, wird von niemandem bestritten, noch nicht einmal von den hartgesottenen Lobbyisten in diesem Bereich. Daher gibt es keine sinnvolle Maßnahme ohne Internalisierung der externen Kosten - so heißt dieser schreckliche Fachausdruck. Die EU nennt das in ihrem Grünbuch sehr viel schöner und anschaulicher faire und effiziente Preise im Verkehr. Das ist nötig. Der EU-Kommissar Neil Kinnock hat bei seinem Besuch in der letzten Sitzungswoche im Verkehrsausschuß noch einmal engagiert für das Grünbuch der EU und damit für faire und effiziente Preise im Verkehr geworben und dieses Konzept vorgestellt. Es mag Ihnen nicht gefallen, aber es ist genau der richtige Weg, die Kosten denen anzulasten, die sie verursachen. Die EU hat die Kosten der Überlastung der Infrastruktur mit schätzungsweise 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts berechnet. Unfälle schlagen mit 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu Buche, Luftverschmutzung und Lärm mit etwa 0,6 Prozent. Alles in allem ist nach dem Grünbuch mit 250 Milliarden ECU externer Kosten pro Jahr zu rechnen. Das wird auf die Allgemeinheit abgewälzt. Es ist dringend nötig, dieses Konzept der Internalisierung voranzubringen. Ihnen fällt dazu nur lauter Wenn und Aber ein. Statt dessen publizieren Sie dann diesen Vignettenunsinn, der nicht fahrleistungsbezogen ist. Wir brauchen eine Schwerverkehrsabgabe für alle Straßen, nicht nur für die Autobahnen, Roadpricing-Modelle für Lkw und nicht für Pkw. Aber auch ein Ökosteuermodell ist Gebot der Stunde. Dazu brauchen wir konzeptionelle Überlegungen zur Verkehrsvermeidung.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit Ihren jährlichen Abkassierungsvorschlägen verhindern Sie geradezu die notwendigen Schritte. Danke schön. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Kollegen Horst Friedrich das Wort.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja immer schön, wenn man sich auf die EU, insbesondere auf Herrn Kinnock und seinen Auftritt bezieht. Man sollte dazu allerdings ergänzen, daß sich die gleiche EU konstant weigert, die vorgesehene Gebühr für den Schwerlastverkehr gemäß dem deutschen Vorschlag sachgerecht und wettbewerbsneutral für alle zu erhöhen. Man weigert sich mit mindestens genauso fadenscheinigen Argumenten, wie Sie sie uns immer unterstellen, ganz konstant, diese Erhöhung durchzuführen. Bei der ganzen Debatte macht es vielleicht Sinn, sich noch einmal zu überlegen, wie der Sachstand ist. In Deutschland werden vom deutschen Autofahrer rund gerechnet 90 Milliarden DM Steuerlast über Kfz- und Mineralölsteuer abgefordert. Dafür gehen -wenn ich Ali Schmidt zitieren darf - 10 Milliarden DM in den Straßentitel, hiervon sind ungefähr knapp 8 Milliarden DM investiv. Beim deutschen Autofahrer ist damit - ich darf den ADAC zitieren - die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Deswegen hat diese Bundesregierung in Übereinstimmung mit der Koalition, auch der F.D.P. gesagt, daß eine weitere einseitige Erhöhung der Kosten nicht darstellbar ist. Das heißt im Umkehrschluß: Wer neue Gebühren verlangt, muß entsprechende Alternativen für den Ausgleich aufzeigen. Wie das mit der Vignette dann aussieht, ist schon dargestellt worden. Wenn wir die Vignette einführen, um den ausländischen Verkehr zu treffen - neun von 15 EU-Ländern haben keine Straßenbenutzungsgebühr; das ist immer noch die Mehrheit -, wofür man sogar Verständnis haben kann, dann muß man das entsprechend ausgleichen, und das muß auch europarechtlich darstellbar sein. Da habe ich meine Zweifel. Ich habe auch erkleckliche Zweifel, daß die Länder, die hier so mutig voranschreiten, bereit sind, zum Beispiel mit ihrem Anteil, bei der Kfz-Steuer, zu verzichten. Bei dieser Ausgangssituation kann man nicht umhin, zu sagen: Es gibt mit Sicherheit noch ein bißchen Klärungsbedarf. Adolf Dinglreiter und andere haben ziemlich deutlich gemacht, wie es eigentlich tatsächlich ausschaut. Auf diesem Weg sollte man weitergehen und sich erst dann nach außen wagen. Es gibt allerdings einen Problempunkt, den ich auch nicht unerwähnt lassen will. Es ist tatsächlich - das hat die Haushaltsdebatte gezeigt - bei den Investitionen eine bestimmte Grenze erreicht worden, die auch im Interesse des Arbeitsmarktes und des Bauarbeitsmarktes in Deutschland nicht unterschritten werden darf. Man kann der Meinung sein, daß dieses System allein durch Staatsfinanzierung nicht mehr entsprechend zu finanzieren ist. Man überlegt sich dann eine stärkere Beteiligung von Privatkapital, wie es beim Transrapid vorgesehen ist, ({0}) wie es auch bei anderen Verkehrsträgern möglich ist und wie es zum Beispiel nach der Bahnreform gegen streckenbezogene Gebühr auch bei der Bahn, wenn es einen diskriminierungsfreien Zugang von Dritten auf den Schienenstrecken gibt, möglich ist. Darüber, so etwas auch für Straßen einzuführen, kann man sich ruhig Gedanken machen. Aber dann muß es ein in sich schlüssiges Angebot sein. Es muß stimmig sein. Es darf nicht zusätzliche Kosten verursachen. Es muß tatsächlich für alle Beteiligten annehmbar sein. Das muß dann diskutiert werden, wenn man die Zahlen konkret zur Verfügung hat, um sich die Mühe zu machen. Man muß die Zahlen, die hier zur Debatte stehen, noch einmal Revue passieren lassen: Der Anteil der ausländischen Lkw liegt bei knapp über 10 Prozent; im Pkw-Bereich sind wir nach den neuesten Darstellungen noch nicht einmal bei 10 Prozent. Die können hinterfragt und strittig werden. - Lieber Dio, das sage ich, weil ich dich schon wieder sehe. - Das mag alles sein. ({1}) Klar ist auch eines: Wenn man seriös überprüft, brauchen wir aus einer solchen Maßnahme, wenn es wirklich etwas nützen soll, einen Betrag zwischen 3 und 5 Milliarden DM. Über den muß seriös nachgedacht werden, durchaus in kontroverser Diskussion, aber bitte nicht mit dem vorgeschobenen Argument, wir bräuchten eine Vignette. Das wird in dieser Legislaturperiode nicht mehr stattfinden. ({2})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Winfried Wolf das Wort.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesverkehrsminister äußerte: „Der Tote trägt die Kerze selber." Er spricht damit nicht einen tragischen Vorfall im früheren Verkehrsleben des jetzigen bayerischen Verkehrsministers an. Wissmann spricht von Wiesheus Projekt einer Autobahnvignette. Dort, wo ersterer eine Totgeburt erkennt, sieht letzterer den leuchtenden Fingerzeig des Straßenverkehrsheiligen Christophorus. Bei diesem Vignettenprojekt springen drei Aspekte ins Auge: Erstens. Es geht um einen nationalen Alleingang. Ausgerechnet diejenigen, die die Europäische Union und Maastricht II im Wappen führen, bemühen sich hier erstaunlich wenig um eine europaweit einheitliche Regelung. Zweitens. Es geht schlicht um Geld für leere Staatskassen. -Transrapid, überteuerte ICE-Trassen, Autobahnen müssen finanziert werden. Das Gegenteil von Umweltpolitik findet statt. Gut 80 Prozent aller Pkw hätten nach den Schweizer Erfahrungen diese Vignette. Weitere Fixkosten entstehen zusätzlich zu fester Kfz-Steuer, fester Versicherung und Garage, was zu möglichst viel weiterem Pkw-Verkehr verleiten muß. Darüber hinaus werden Transit- und Fernverkehr auf Bundes- und Landstraßen verlagert. Drittens. Es geht vor allem um das Geld der Fahrer von Autos ohne deutsches Nummernschild. CSULandesgruppensprecher Hinsken äußerte sich dazu mit geschlitzten Ohren: „Da müssen wir eben kreativ sein." Sprich: Deutsche Pkw-Fahrer werden zum Beispiel durch eine abgasbezogene Kfz-Steuer entlastet, so daß vor allem die nichtdeutschen Pkw-Fahrer blechen. Wir erinnern uns: Am Ende des Theaters von 1994 um eine Lkw-Autobahnnutzungsgebühr stand die nackte Reduzierung der Besteuerung deutscher Lkw. Die Folge war eine Explosion des Lkw-Verkehrs und eine Schwindsucht des Güterverkehrs auf der Schiene. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das diesjährige Vignetten-Sommertheater wird durch einen Bericht aus dem Blatt „Die Bunte" angereichert. Ich zitiere: Wilde Jagd auf der Autobahn Basel-Karlsruhe. Ein deutscher Mercedes-Fahrer prescht mit Tempo 180, dahinter ein Opel mit Schweizer Kennzeichen. Als der Schweizer den Deutschen stoppen will, kommt es zum Unfall. Grund der Verfolgung: Der Mercedes-Fahrer war an der Grenze ertappt worden, nachdem er die Schweiz ohne Autobahnplakette durchquert hatte. Anstatt bei der Ausreise die vom Schweizer Zoll geforderten 100 Fränkli Strafe zu zahlen, gab der deutsche Kaufmann Gas. Ein Schweizer Patriot nahm die Verfolgung auf. Vorgeschlagen wird uns nun die schwarz-rot-güldene Vignette. Autobahnpatrioten können dann darüber wachen, daß Fremdlinge unser Autobahnwesen nicht parasitär nutzen. Das ist nichts anderes als die allseits beklagte Wegelagerermentalität - europaweit verallgemeinert. Natürlich gibt es eine Alternative zur Autobahnvignette. Wie wäre es mit dem folgenden schlichten Rezept: Man nehme die Feststellung im Grünbuch von EU-Kommissar Kinnock, wonach der Kfz-Verkehr nur einen Teil seiner Kosten deckt. Man rühre in die bisher zu niedrigen Kfz-Verkehrspreise diese externen Kosten des Pkw-Verkehrs ein. Man berechne den Preis für jede Schnitte vom Verkehrskuchen nach der Menge des Verzehrs und Verkehrs; also: Kosten entsprechend dem Konsum. Man lasse die Mehreinnahmen in transparenter Form einer konsequenten Politik der Verkehrsvermeidung und dem öffentlichen Verkehr zukommen. Diese Schonkost für Mensch und Natur bedeutet auch Tempobeschränkungen - das heißt eine diesbezügliche Angleichung an alle europäischen Staaten - und Beschränkungen für den Lkw-Verkehr. All das zusammen wäre ein guter Einstieg in eine Politik der Verkehrswende. Danke schön. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe nun das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Manfred Carstens.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatsminister des Freistaates Bayern! Seit einigen Wochen erleben wir erneut eine Diskussion über die Einführung einer Pkw-Vignette. Diese Diskussion steht sicherlich im Zusammenhang mit der Entscheidung Österreichs, dort eine allgemeine Maut einzuführen. Insofern habe ich Verständnis dafür, daß das Thema auch bei uns, insbesondere im Süden unseres Landes, eine Rolle spielt. ({0}) Wenn es darum geht, eine solche Frage sachlich anzugehen, müssen die Fakten auf den Tisch kommen. Ich darf erwähnen, daß der anwesende Bundesverkehrsminister ({1}) und sein Parlamentarischer Staatssekretär in dieser Frage - und nicht nur in dieser Frage - vollständig übereinstimmen. Wir haben in diesem Fall damit zu tun, daß es im Ergebnis zu nichts anderem als einer weiteren Belastung der deutschen Autofahrer, die nichts mehr mit Gerechtigkeit zwischen inländischen und ausländischen Autofahrern zu tun hätte, käme. Das wäre das Ergebnis. Was viele in unserem Land nicht wissen, ist, daß eine Vignette, die auf Ausländer beschränkt wäre, durch EU-Recht ausgeschlossen ist. Diese Feststellung muß am Anfang stehen: Wenn schon eine Vignette, dann für alle. Die deutschen Autofahrer, die die deutschen Autobahnen naturgemäß häufiger benutzen als die ausländischen Autofahrer, müßten dann entsprechend zahlen. Die Argumentation der Vignetten-Befürworter, deutsche Autofahrer müßten fast überall im Ausland zahlen, erinnert mich ein wenig an das alttestamentliche „Auge um Auge, Zahn um Zahn". Damit kommen wir aber dem Ziel einer gerechteren Behandlung der deutschen Autofahrer nicht näher. Es ist eben schon darauf hingewiesen worden, daß in neun Ländern der EU keine Pkw-Vignette vorhanden ist. In fünf anderen Ländern - zusätzlich zu Österreich - gibt es eine Pkw-Vignette bei ausgesuchten Straßen, die, soweit ich informiert bin, allesamt entsprechend finanziert wurden. Österreich ist das erste und bislang einzige Land der EU, welches eine allgemeine Pkw-Maut auf Autobahnen einführt. Wenn Deutschland dem nun folgte, könnte man sicher sein, daß viele andere Länder in der EU nachzögen. Ich muß hier ganz deutlich sagen: Ich habe mir das Europa der Zukunft nicht so vorgestellt, daß Zoll- und Mautregelungen längst vergangener Zeiten wieder eingeführt werden. Das Gegenteil ist zumindest anzustreben. ({2}) Die Einführung eines solchen Vignettensystemes würde Verwaltungskosten in Höhe von schätzungsweise 600 Millionen DM jährlich verursachen. In Vorgesprächen der letzten Tage und in Diskussionen in den Ausschüssen ist diese Summe gelegentlich anParl. Staatssekretär Manfred Carstens gezweifelt worden. Ich persönlich gehe davon aus, daß sie, wenn sie denn überhaupt angezweifelt werden kann, eher sehr niedrig angesetzt ist. Denn wir haben bei der Lkw-Vignette bei etwa 500 000 beteiligten Lkws ein Kostenvolumen von zirka 80 Millionen DM, ({3}) während es sich um etwa 40 Millionen Pkws handelt, also um 80mal mehr Fahrzeuge. Wir haben hierfür das Achtfache der Lkw-Kosten angesetzt. Insofern muß man davon ausgehen, daß diese Schätzung eher systemfreundlich ist. Wenn man bedenkt, daß es um solche Kosten geht, muß man ja den Gesamtzusammenhang herstellen. Es würde des weiteren ein erheblicher Verwaltungsapparat für die Kontrolle der Pkws errichtet werden müssen. Diejenigen, die jetzt die Lkws kontrollieren, reichten ja bei weitem nicht aus, um in ganz Deutschland die Kontrolle der Pkws durchzuführen. Leidtragende wären also letzten Endes die deutschen Autofahrer, die etwa 2 bis 3 Milliarden DM zahlen müßten; das ergeben die Schätzungen. Ein großer Teil dieses Betrages würde durch Verwaltungskosten in Höhe von mindestens 600 Millionen DM aufgebraucht. Zudem wäre es ein Irrglaube, zu meinen, daß diese Belastung durch Entlastungen an anderer Stelle kompensiert werden könnte; denn dies wirft schwerwiegende EG-rechtliche Probleme auf. ({4}) Das Stichwort dazu heißt Diskriminierungsverbot. Im übrigen würden die ausländischen Verkehrsteilnehmer - das ist ein wesentlicher Punkt - von den erwarteten Einnahmen nur einen Anteil von deutlich unter 10 Prozent zahlen. Meine Damen und Herren, das ist eben ein Betrag, der nicht annähernd die Kosten deckt, die durch eine Einführung der Pkw-Vignette entstünden. Hinzu kommt, daß die Einnahmen auch nicht sozusagen automatisch für den Straßenbau zur Verfügung stünden. Einer Zweckbindung dieser Einnahmen stehen bei uns fiskalpolitische und haushaltsrechtliche Gründe entgegen. Auch die Einnahmen aus der Lkw-Gebühr - das gehört ebenfalls hierzu -, die wir ja zu Recht erheben, da die Lkws starke Kostenverursacher sind, fließen den allgemeinen Einnahmen des Bundes und nicht einem Straßenbautitel zu. Wenn ich das alles nun bewerte, die Fakten aneinanderreihe und abwäge, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß das hinreichend Gründe sind, die dafür sorgen sollten, daß wir das Thema „Einführung der Pkw-Vignette" nun schleunigst einstellen sollten. Danke schön. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile der Abgeordneten Angelika Graf das Wort.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aristoteles, ({0}) der Begründer antiker Wissenschaft überhaupt, bezeichnete die Politik einst als vernunftbegründete und zielgerichtete Wissenschaft. Die Probleme der Politik, also die Frage, wohin die Menschen wollen, seien mit Logik, Verstand und auf rationaler Diskursebene zu lösen. Wenn wir allein die Diskussion der letzten Wochen um die Autobahnvignette betrachten, hat es aber den Anschein, daß sich die Regierungsparteien allen voran die CSU - fest vorgenommen haben, Aristoteles zu widerlegen. Wo ist denn da das vernunftbegründete Denken und Handeln? Regieren speziell in dieser Debatte nicht eher Emotionen? Ich zitiere den Kollegen Dr. Jobst aus dem „Express" vom 20. September 1996: Es ist ungerecht, daß die deutschen Autofahrer die Abgezockten in Europa sind. Er hat ja recht. Ich gebe ja zu, daß die österreichischen Mautgebühren am Brenner ein großes Ärgernis für viele Autofahrer, speziell aus Oberbayern, sind. Keiner von uns empfindet Freude darüber, wenn ab 1. Januar 1997 Österreich gegen die Bedenken der EU den verkehrspolitisch falschen Weg der Autobahnvignette wirklich beschreitet. Warum aber - außer aus einem billigen Populismus heraus - fordern einige Herren aus der CSU und der CDU genau denselben falschen Weg für Deutschland, nach dem Motto, das der Herr Staatssekretär schon angesprochen hat: „Auge um Auge, Zahn um Zahn"? ({1}) Das Mittel selbst wird doch damit nicht besser. Die Autobahnvignette verdrängt den Verkehr auf die nachgeordneten Straßen. Wer die Vignettenkosten sparen will, wird bei dem dichten Straßennetz in Deutschland nämlich auch ohne Autobahn zurechtkommen. Ich möchte Sie auf eine kleine Gemeinde aus meinem Wahlkreis hinweisen. Die Gemeinderäte der bayerisch-österreichischen Grenzgemeinde Kiefersfelden wissen aus Erfahrung, daß viele Durchreisende schon jetzt den Weg über die sogenannte kleine Grenze' suchen. Sie fürchten, daß nach der Einführung der österreichischen Vignette die Umwegfahrer, die sparen wollen, den Ort verstopfen werden. Sie schrieben am 20. März 1996 an die regionalen Abgeordneten: Der Ausflugsverkehr in grenznahe Ski- und Erholungsgebiete in Tirol würde den Weg nicht mehr über den Autobahngrenzübergang, sondern durch unsere Gemeinde nehmen und uns in unAngelika Graf ({2}) zumutbarer Weise schädigen, nur um Autobahnmaut zu sparen. Nach der Einführung der Autobahnvignette in Deutschland wird das, was in Kiefersfelden befürchtet wird, überall in der Republik geschehen. Herr Bauer ist bereits darauf eingegangen. Nicht rationale Logik oder neue Ideen sind der Hintergrund der Forderung nach einer Vignette, sondern billiger Revanchismus, den der deutsche Bürger teuer bezahlen wird. Die Vignette beschert den deutschen Steuerzahlern - wir haben es gerade gehört - Mehrkosten von 2,4 Milliarden DM. Das rechnet sich doch nicht. Den Bürgern wahrheitswidrig zu versprechen, daß sie mit der Vignette nicht mehr als bisher zahlen müßten, ist weiterhin fahrlässig und fördert die Politikverdrossenheit. ({3}) Dabei ist Umwelt- und verkehrspolitisch kein einziger Vorteil dieser Vignette erkennbar. Ich zitiere: Diese Form der Gebührenerhebung ist nicht an die tatsächliche Benutzung einer bestimmten Strecke gebunden, sondern muß für einen Zeitraum entrichtet werden, unabhängig davon, wie hoch die Verkehrsleistung in diesem Zeitraum ist. Der Vollständigkeit halber darf ich auf die Stelle des Zitates hinweisen: Es war die Presseerklärung 51/ 96 des Bundesministers für Verkehr vom 6. März 1996, mit der zu der österreichischen Vignette ablehnend Stellung bezogen worden ist. Man muß kein allzu scharfer Analytiker sein, um zu erkennen, was Sie hier abziehen. Es herrscht das schiere Chaos. Der Kollege Bauer ist dagegen. Die Kollegen von der CSU sind zum Teil dagegen, zum Teil aber offensichtlich auch dafür. Es ist sehr eigenartig. Wie gesagt, nicht einmal in der CSU herrscht Einigkeit. Während der bayerische Ministerpräsident Stoiber und, so nehme ich an, auch Sie, Herr Wiesheu, schon eine Konzeption für die Einführung einer Autobahnvignette erarbeiten lassen und eine Initiative im Bundesrat ankündigen, sieht CSU-Landtagsfraktionschef Glück nach Pressemeldungen noch „Diskussionsbedarf in der Fraktion". Auch Theo Waigel ist nicht begeistert. Den Eindruck von Chaos unterstreicht noch eine andere Stimme aus der CSU-Landtagsspitze. „Vorschneller Populismus, der nur dazu diene, die Volksseele an den Stammtischen zu beruhigen", sei das, stellt der verkehrspolitische Sprecher der CSU-Landtagsfraktion, Adolf Dinglreiter, diese Woche im „Focus" fest. ({4}) Solche Vorschläge seien, meint Herr Dinglreiter, „nicht zu Ende gedacht" und hätten nur den Zweck, unter dem Eindruck leerer öffentlicher Kassen eine neue Einnahmequelle - ich füge hier hinzu: auf Kosten der kleinen Leute - zu erschließen. Ich stimme dem Herrn Dinglreiter nicht oft zu, aber wo er recht hat, da hat er recht. Vielleicht sollten Sie sich einmal mit ihm unterhalten. ({5})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun erteile ich dem Abgeordneten Eduard Oswald das Wort. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines habe ich auf jeden Fall von meiner Vorrednerin gelernt: Mit Aristoteles kann man die Verkehrsprobleme der Gegenwart auf jeden Fall nicht lösen. ({0}) Das zweite, Frau Kollegin: Um die Einheit und den politischen Willensbildungsprozeß innerhalb der CSU brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. ({1}) Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich persönlich der Einführung einer Vignette zurückhaltend gegenüberstehe. ({2}) Andererseits muß man die Forderungen nach Einführung einer Autobahnvignette in Deutschland tatsächlich unter dem Gesichtspunkt sehen, daß sie die Möglichkeit bietet, auch den ausländischen PkwFahrer zu den Infrastrukturkosten heranzuziehen. ({3}) ({4}) Der deutsche Autofahrer wird schließlich in vielen anderen Ländern auch zur Kasse gebeten. Fährt man zum Beispiel von hier an die spanische Mittelmeerküste, ist man schnell um 150 DM ärmer, und zwar pro Fahrt. Ringsherum, sieht man einmal von Dänemark und den Beneluxländern ab, werden zeit- oder streckenbezogene Gebühren erhoben bzw. ist deren Einführung geplant. Sie müssen verstehen, daß dieses Thema in Bayern und in Baden-Württemberg etwas anders diskutiert wird als in vielen anderen Regionen. Für viele ist das Faß übergelaufen, als Österreich ankündigte, ab dem 1. Januar 1997 die Straßennutzungsgebühr einzuführen. Die Verwunderung und Verärgerung darüber war nicht nur in Bayern groß; bei der Vignette handelt es sich keineswegs um eine rein bayerische Marotte. Schließlich hat auch der baden-württembergische Ministerpräsident Teufel Sympathie für die bayerischen Pläne bekundet. Auf der anderen Seite stehen wir aber vor einer Fülle von Fragen, die wir - ich sage das ganz offen - ohne Aufgeregtheit, fachlich fundiert prüfen müssen. Herr Kollege Schmidt, zur Mitte dieser Debatte müssen wir feststellen, daß sie nicht den von Ihnen gewünschten Erfolg gebracht hat. Sie müssen sich da zukünftig mehr einfallen lassen. ({5}) Das hat ganz sicher nicht dazu beigetragen. Wir müssen ganz aktuell, zeitnah untersuchen, wie hoch tatsächlich der Anteil ausländischer Kraftfahrzeuge auf Deutschlands Straßen ist, um die Frage zu beantworten, ob die ausländischen Autofahrer überhaupt einen nennenswerten Beitrag zu den Einnahmen aus einer Vignette leisten können. Ich glaube, es hat nicht viel Sinn, dabei auf die Zahlen von Anfang der 90er Jahre zurückzugreifen, da diese doch zunehmend angezweifelt werden. Wir werden auch prüfen müssen, ob der vom Bundesverkehrsministerium errechnete, immens hohe Kostenanteil von 24 Prozent an den Gesamteinnahmen tatsächlich realistisch ist oder ob es hier nicht ein erhebliches Einsparpotential gibt. Schließlich rechnen zum Beispiel die Österreicher mit einem Kostenanteil von 9 Prozent, und auch die Lkw-Straßennutzungsgebühr wird bei uns mit einem Kostenanteil von 10 Prozent erhoben. Hier muß wirklich noch einmal vorurteilsfrei und ergebnisoffen untersucht werden, ob das Kosten-Ertrags-Verhältnis tatsächlich so schlecht ist, wie derzeit in der politischen Diskussion behauptet wird. Schließlich, so denke ich - hier sind wir an einem wirklich entscheidenden Punkt angekommen -, werden wir auch prüfen müssen, ob die Einführung einer Vignette für Pkw tatsächlich zu Verkehrsverlagerungen auf das nachgeordnete Straßennetz mit allen damit verbundenen negativen Auswirkungen auf Verkehrssicherheit und Umwelt führt. Es ist für mich eine ganz entscheidende Frage, wie sich dies auf die Parallelstraßen und insgesamt auswirkt. Verkehrssicherheit, Umweltbelastung, Fahrten durch die Dörfer - dies alles sind ganz wichtige Punkte. Diese müssen wir in die Diskussion einbeziehen. ({6}) Hier sollten wir uns auch die Erfahrungen in unseren Nachbarländern zu eigen machen. Ganz zum Schluß ist die für den deutschen Autofahrer wohl wichtigste Frage zu klären, nämlich: Ist es möglich, die Vignette für den deutschen Autofahrer kostenneutral einzuführen? Es darf nämlich nicht der Eindruck entstehen, als solle wiederum nur der Autofahrer belastet werden. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich auf die ganze Diskussion zurückblicke, auch auf ihren bisherigen Verlauf, kann ich feststellen, daß viele Fragen aufgeworfen worden sind, ({8}) daß aber gleichzeitig wenige wirklich schlüssige Antworten gegeben worden sind. ({9}) Deshalb plädiere ich dafür, diese Diskussion offen, emotionslos und natürlich vor allen Dingen ergebnisoffen zu führen. In diesem Zusammenhang ist auch der Vorstoß der Bayerischen Staatsregierung zu sehen. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Gila Altmann, Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dieser Diskussion fühle ich mich als Preußin natürlich total in der Minderheit. Nichtsdestotrotz möchte ich meiner Genugtuung über den Fortgang dieser Debatte und die Ablehnung der CDU - Dr. Jobst wurde ruhiggestellt; die F.D.P. eiert noch ein bißchen herum zwischen Loyalität und Lokalkolorit - Ausdruck geben. ({0}) Gut, daß Sie da sind, Herr Wissmann; denn vielleicht ist es heute ein historischer Moment, wenn auch die Grünen fordern: Gnade für Matthias Wissmann! ({1}) Die Lage ist ernst: Umzingelt von Vignetten-Staaten, wehrt sich ein kleines Land in der Mitte Europas, angeführt von seinem Verkehrsminister, verzweifelt gegen die Einführung von Wegezöllen. Italien, Frankreich, Portugal und Spanien tun es, die Schweiz und Tschechien tun es. Österreich darf es tun, ab 1997 sogar mit dem Segen der EU. Überall um uns herum wird abkassiert, nur hier nicht. Aber dank Herrn Stoiber und seinem Adjutanten, Dr. Jobst, soll sich das jetzt ändern. Jetzt sind auch die anderen dran. Gemeint sind unsere Nachbarn. Die eigenen Landsleute sollen eine Beruhigungspille und einen Großteil der Kfz-Steuer zurückbekommen. Das hält Herr Dr. Jobst für gerecht. ({2}) Ganz abgesehen davon, daß man seinen Nachbarn nicht unbedingt vors Schienbein tritt, stellt sich vor allem die Frage: Welche Kfz-Steuer meinen Sie eigentlich? Meinen Sie die alte, die Ende dieses Jahres ausläuft? Meinen Sie die, die gerade von der EU kassiert worden ist? Oder meinen Sie dieses Stufenmodell, über das Frau Merkel gerade in Brüssel zu verGila Altmann ({3}) handeln versucht, um zu retten, was nicht zu retten ist? ({4}) Fakt ist doch: Die Bundesregierung hängt zur Zeit im europäischen Richtliniengestrüpp fest, und nichts Genaues weiß man nicht. Vielleicht ändert sich das ja nächste Woche. Bleibt noch die Frage nach dem Verfallsdatum der Kfz-Steuer; denn sie soll doch im Jahre 2002 abgeschafft werden - und das, obwohl Herr Stoiber und Herr Jobst sie für die Gerechtigkeit so dringend brauchen. Ist das nun eine zeitlich begrenzte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Finanzbeamte? Oder gehen wir in die Verlängerung? Wenn nicht: Gibt es dann eine extra Rückerstattungssteuer? Ein wahrhaft ausgefeiltes Konzept, made in Bayern. ({5}) Übersehen haben Sie allerdings in Ihrem Eifer, daß das mit der Vignette auch schon einmal schiefgegangen ist. Vor eineinhalb Jahren hat nämlich der Europäische Gerichtshof eine deutsche Entscheidung für eine Vignette für Lkw verworfen, die nach demselben Strickmuster aufgezogen war. Haben Sie das schon vergessen, Herr Jobst? Oder reicht diese eine Blamage mit der Kfz-Steuer nicht? Brauchen Sie noch eine? Herr Wissmann auf alle Fälle scheint an dieser Stelle lernfähiger zu sein, wenn er sagt: So ein Schmarren kommt mir nicht in die Tüte. ({6}) Deshalb sind wir an dieser Stelle gnädig mit ihm; denn wo er recht hat, hat er recht. ({7}) Aber - jetzt kommt natürlich das Aber - er hat sich leider keinen Zentimeter weiterbewegt. Denn davon, daß wir die Verkehre verteuern müssen, um endlich die externen Kosten in die Gesamtrechnung einbeziehen .zu können, um Schadstoffe, CO2-Emissionen und den Lärm reduzieren zu können ({8}) - ja, Sie glauben es immer noch nicht; deswegen sage ich es immer wieder ({9}) ist leider nicht die Rede. Da kneift Herr Wissmann. Sie merken es schon: Es geht um die Erhöhung der Mineralölsteuer. Da will er nicht heran, hat er es doch im Juni noch Herrn Henkel vom Bundesverband der Deutschen Industrie mit Brief und Siegel gegeben, daß - jetzt zitiere ich aus dem Brief - „er Forderungen nach einer drastischen Erhöhung des Treibstoffpreises ins Leere laufen lassen wird." Ich muß sagen, Herr Wissmann: So geht das nicht; mit Ihrer Verweigerungshaltung kommen Sie auf Dauer nicht weiter. Ich verweise noch einmal auf das Ifo-Gutachten, das Sie selbst in Auftrag gegeben haben, aber auf dem Sie immer noch sitzen und das Sie nicht herausrücken. In diesem Gutachten wird nachgewiesen, daß die Mineralölsteuer das wichtigste Mittel ist, um die Verkehrs- und Umweltprobleme wirkungsvoll anzugehen. Auch das Märchen von den Arbeitsplatzverlusten wird gleich mit entkräftet. Insofern bitte ich auch die SPD: Leiern Sie ihm das Gutachten doch aus den Rippen! Dann können wir endlich über das Konzept diskutieren. ({10}) Eine Kostenanlastung über den Benzinpreis ist einfach, transparent, funktioniert auch ohne Kfz-Steuer, hat eine hohe Lenkungswirkung und ist vor allem im nationalen Alleingang möglich. Das heißt also: Der neue Crash auf der EU-Ebene unterbleibt. Genug Geld kommt ebenfalls herein, um eine Verlagerung des Verkehrs auf Bus und Bahn zu fördern, so daß der Verkehr eben nicht - wie es hier schon angesprochen worden ist - auf wegezollfreie Bundes- und Landstraßen verlagert und die Wohnbevölkerung über Gebühr belastet wird. Das kann man sehr schön in Frankreich besichtigen. Das genau ist der Effekt der Vignette, wie sie die bayerischen Kollegen wollen. Zum Schluß also noch ein guter Rat von mir, Herr Wissmann: Sagen Sie bitte den Bürgern, was sie erwartet, und zeigen Sie dieser bajuwarischen Laienspielschar, welches Stück hier gegeben wird! Danke. ({11})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Staatsminister Wiesheu. ({0}) Staatsminister Dr. Otto Wiesheu ({1}): Herr Präsident! Hohes Haus! Ich bin doch etwas über die Art und Weise überrascht, wie hier über dieses Thema diskutiert wird. ({2}) Als ob es sich um eine spontane und populistische Aktion handeln würde! Eigentlich müßte jeder, der sich einigermaßen mit dem Thema befaßt, wissen, daß es diese Diskussion seit über 10 Jahren gibt ({3}) Staatsminister Dr. Otto Wiesheu ({4}) und daß diese Diskussion von verschiedensten Seiten und unter unterschiedlichen Aspekten geführt worden ist. ({5}) Um zu widerlegen, daß es sich hier um einen momentanen bayerischen Alleingang handelt, verweise ich nur darauf, daß bereits mein Vorvorgänger Anton Jaumann diese Diskussion geführt hat. ({6}) Es ging seinerzeit darum, daß Autobahnbenutzungsgebühren bei EG-Partnern abgebaut werden sollten. ({7}) Das war die erste Zielsetzung - Herr Kollege Carstens, darin sind wir uns durchaus einig -, aber diese Zielsetzung ist leider nirgends erreicht worden. ({8}) Es ist seinerzeit bereits die Festlegung getroffen worden, daß dann, wenn diese Harmonisierung in absehbarer Zeit nicht gelingen sollte, in der Bundesrepublik Deutschland ausländische Autobahnbenutzer zur Deckung der Wegekosten herangezogen werden sollten. Seinerzeit hat es auch entsprechende Pressemeldungen gegeben, ob in der „Süddeutschen Zeitung", in der „Frankfurter Rundschau", im „Münchner Merkur" oder in anderen Zeitungen. Das war damals kein neues Thema, und es ist auch heute kein neues Thema. Dieses Thema ist auch auf Bundesebene aufgegriffen worden. Ich erinnere an den Verkehrsminister Zimmermann, der bereits Regelungen für die Autobahnvignette umsetzen wollte. Als aber die EU verlangt hat, das bis zur Tagesvignette herunterzudividieren, und der bürokratische Aufwand dadurch zu groß geworden wäre, hat man es seinerzeit gelassen. Die gleiche Forderung ist vom Verkehrsminister Warnke erhoben worden; die gleiche Forderung ist von seinem Nachfolger Krause erhoben worden, der zum Beispiel in mehreren Interviews gefragt worden ist, wie das denn mit der Vignette aussehe, und der dann regelmäßig gesagt hat: Sie wird zunächst für Lkw eingeführt, dann aber genauso für den Pkw. Ich verweise auf den „Spiegel" vom 13. Juli 1992 und den „Stern" vom 5. November 1992. Die Minister waren alle mit dieser Meinung nicht allein. Deswegen wundern mich die Beiträge der Opposition. Es hat am 5./6. Februar 1992 auf Schloß Krickenbeck im Nettetal eine Konferenz der Verkehrsminister, der Umweltminister und der Raumordnungsminister gegeben. Beteiligt waren die zuständigen Minister und Senatoren der Länder und des Bundes. Es waren also alle an dem Thema Interessierten dabei. Im Rahmen der Diskussion um die Bahnreform, um die Neuordnung des Verkehrswesens insgesamt und die Verlagerung von Verkehr von der Straße auf die Schiene ist beschlossen worden: Voraussetzung für eine Liberalisierung und Deregulierung im Verkehrsbereich und auch im Schienenbereich muß eine Harmonisierung vor allem der Fiskalbelastungen im Bereich der Europäischen Gemeinschaft sein. Internationale Verkehre sind insbesondere durch Einführung eines EG-konformen Abgabesystems an den Wegekosten zu beteiligen. Das war der einstimmige Beschluß aller Minister. ({9}) Alle politischen Fakultäten waren daran beteiligt. Darum wundere ich mich über die heutigen Beiträge der Opposition. Darum frage ich mich, wo Aristoteles seinerzeit war, Frau Graf. Darum wundere ich mich, was der Vorwurf des Populismus soll. Alle Minister, die für diese Bereiche zuständig waren, haben das einstimmig beschlossen. Das ist noch nicht lange her; das war im Jahre 1992. Der Beschluß war die Grundlage für die weitere Diskussion der Bahnreform. Das war einmal eine gemeinsame Basis. Da ging es auch nicht um das Thema „Auge um Auge, Zahn um Zahn". Ich wundere mich schon, warum heute plötzlich viele dagegen sind und dagegen polemisieren. Ich erinnere auch daran, daß im gleichen Zeitraum in einer Sondersitzung zum Thema Bahnreform ein Beschluß der CDU/CSU-Fraktion gefaßt wurde. Dort ist eine Arbeitsgruppe zu den „Modalitäten für eine Straßenbenutzungsgebühr" eingesetzt worden, und zwar zu einer zeitbezogenen, nicht zu einer streckenbezogenen Straßenbenutzungsgebühr; denn man war der Meinung, die streckenbezogene sei mit einem Investitionsaufwand von 5 Milliarden DM zu teuer. Was daraus dann geworden ist, ist mir nicht bekannt. Ich erinnere auch daran, daß der Kollege Wissmann einen Pilotversuch zum Thema Roadpricing gemacht hat. Wenn der erfolgreich verlaufen wäre und es bestimmte Probleme nicht gegeben hätte, hätte man dieses Roadpricing doch auch für Pkw eingeführt. Man hat den Versuch doch nicht um seiner selbst willen gemacht. Man darf doch nachfragen, was denn dann mit dem Thema einer zusätzlichen Belastung gewesen wäre. Welche Überlegungen gab es im Rahmen des Roadpricing für die Kompensation? Man kann diese Gegenargumente nicht nur vorbringen, wenn es um die Vignette geht, und beim Roadpricing nicht. ({10}) Ich bitte hier um eine ernsthafte Diskussion. Wenn sich das Thema Roadpricing auch nicht bewährt hat, was ich verstehe, so ist damit die Diskussion um die Vignette doch noch nicht beendet. Man muß sie weiterführen. Wir wollen sie auch weiterführen. Die Diskussion kann man auch nicht einseitig beenden, Herr Bundesminister. Das sind der Sachstand und der bisherige Ablauf. Ich komme jetzt zu ein paar Argumenten, die vorhin vorgebracht worden sind. Der Bundesverkehrsminister sagt nein zur Vignette; er hat dafür Argumente vorgebracht. Staatsminister Dr. Otto Wiesheu ({11}) Erstens. Es wurde gesagt, welche Einnahmen man durch die Vignette erzielte, wenn man die Preise zugrunde legte, die in Österreich gelten. Bei dem Gutachten ist leider etwas übersehen worden: Man hat nur die Pkw berücksichtigt, nicht aber die kleinen Lkw bis zu 12 Tonnen, die in Österreich einbezogen sind und bei uns einbezogen werden müßten. Sie finden sich im Gutachten nicht. Die Zahlen sind deswegen nicht zutreffend; sie sind falsch. Im Vergleichsbeispiel fehlt rund 1 Milliarde DM. Zweitens. Bei den Anteilen der ausländischen Kfz am Gesamtverkehrsaufkommen arbeitet man mit Schätzungen. Es gibt in unterschiedlichen Gutachten ganz unterschiedliche Schätzungen, die um 100 Prozent auseinander liegen. Man müßte sich erst einmal darauf einigen, welche Daten man zugrunde legt. ({12}) Das ist bisher nicht der Fall. Drittens. Bisher konnte noch niemand erklären, warum die Kosten der Erhebung bei uns 24 Prozent und in Österreich 10 Prozent ausmachen sollen. ({13}) Es kommt darauf an, wie man das organisiert. Wenn man dafür einen riesigen neuen Apparat aufzieht, wird es teuer. Wenn man den Vertrieb über bereits vorhandene Verkaufsstätten abwickelt - seien es ADAC-Stellen oder Tankstellen, seien es Shops, oder sonstige Läden -, dann kommt das relativ billig. Es lassen sich beide Wege wählen. Nur, wenn man die Kosten der einen Erhebungsmöglichkeit sehr hoch ansetzt, kommt man zu Zahlen, die in der Diskussion für die Ablehnung der Maut günstig sind. Aber diese Zahlen möchte ich in der Diskussion nicht zugrunde legen, weil sie meines Erachtens aus der Luft gegriffen sind. ({14}) Wir legen schon Wert darauf, daß man dieses Thema exakt und gründlich durchdiskutiert. Die Zahlen, die hier aufgetischt sind, kann ich, weil sie in anderen Ländern nicht gelten, so auch nicht akzeptieren. Vierter Punkt. Wir sind natürlich der Meinung, daß die hier eingenommenen Mittel zweckgebunden für den Straßenbau ({15}) und für den kombinierten Verkehr verwendet werden sollen. Natürlich hat bei der Verwendung der Haushaltsmittel derzeit der Straßenbau im Osten Präferenz, aber auch im Westen besteht die Notwendigkeit, noch einige Straßen fertigzustellen und zu bauen. ({16}) Der Vergleich, den ein Vertreter der Grünen eben gezogen hat - die Mittel seien nicht weniger, sondern mehr geworden -, ist falsch. Denn die Volumina der notwendigen Baumaßnahmen sind durch die erforderlichen Maßnahmen im Osten Deutschlands erheblich gestiegen. ({17}) - Aber nicht proportional dazu. Sonst hätten wir nicht die Probleme, die wir derzeit mit den Baumaßnahmen im Westen haben.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Staatsminister, zu den Fürsorgepflichten des Präsidenten gehört es, Sie darauf hinzuweisen, daß Sie im Begriff sind, mit Ihrer Redezeit die Zehn-Minuten-Grenze zu überschreiten. Staatsminister Dr. Otto Wiesheu ({0}): Ich danke für den Hinweis. Ich mache es ganz kurz. Darum muß man auch darüber reden, auf welche Art und Weise die notwendigen Maßnahmen im Straßenbau insgesamt finanziert werden können, insbesondere unter Berücksichtigung des Verkehrszuwachses, der in den nächsten Jahren zu erwarten ist. Zum Thema Kompensation sage ich nur ganz kurz - ich könnte dazu Weiteres sagen; mit Rücksicht auf die Zeit will ich es nicht tun -: Man möge sehen, wie die anderen Länder das machen. Elf der europäischen Nachbarländer haben strekken- oder zeitbezogene Wegekosten. Deren Bürger benutzen natürlich alle unser Wegenetz. Ein komischer Touch kommt in diese Diskussion immer dadurch hinein, daß man behauptet, dies sei quasi eine ausländerfeindliche Maßnahme. Ich wundere mich, daß das in keinem anderen Land Europas, in dem man für die Straßenbenutzung zur Kasse bittet, so gesehen wird. Wir müssen uns natürlich der Diskussion stellen, daß wir diejenigen, die das Straßennetz benutzen, auch zu den Bau- und Unterhaltskosten des Straßennetzes heranziehen. In der Anlastung der Wegekosten auf alle Verkehrsteilnehmer waren wir uns eigentlich immer einig. Die bundesdeutschen Verkehrsteilnehmer zahlen Kfz-Steuer, zahlen Mineralölsteuer, ({1}) während andere, die dieses Streckennetz benutzen, je nach Lage und Umständen möglicherweise gar nichts zahlen. Angesichts dessen frage ich mich, was in diesem Zusammenhang die bisherige Diskussion des Themas durch die Opposition soll. Ein Schlußsatz: Wir sind der Meinung, das Thema gehört jetzt auf den Tisch. Es muß erneut diskutiert werden. Wir werden die Argumente, die hier vorgebracht werden, natürlich werten und sichten, sind aber der Meinung, daß Logik und Konsequenz der Staatsminister Dr. Otto Wiesheu ({2}) Politik der letzten zehn Jahre nicht einfach gekippt und über den Haufen geworfen werden können. Es kann auch nicht plötzlich alles falsch sein, was zehn Jahre richtig war. Deswegen: Wir sehen natürlich Diskussionsbedarf. Wir haben das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Wir werden es weiter verfolgen. Herzlichen Dank. ({3})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer, CDU/CSU.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht verwunderlich, daß die Einführung der Straßenbenutzungsgebühr in Österreich aktuelle Diskussionen auslöst und daß diese in der Grenzregion, insbesondere im Bundesland Bayern, stärker geführt werden als in anderen Regionen Deutschlands. Allerdings löst diese Diskussion gelegentlich auch einen Meinungswandel aus: Denn ich habe vor vier oder sechs Wochen eine Erklärung von Ihnen, Herr Dr. Wiesheu, gelesen, in der Sie sich gegen Straßenbenutzungsgebühren ausgesprochen haben. Also, wir sind mitten drin im Fluß der Diskussion. ({0}) Ich möchte nur darum bitten, daß wir die Fakten richtig zur Kenntnis nehmen: Auch mit Österreich gibt es doch in nahezu zwei Dritteln der EU-Staaten keine Benutzungsgebühren. Von „überall abkassiert" zu reden, so als seien wir umstellt, ist von der Sache her einfach nicht zutreffend. In den Bereichen, wo die Unterschiede wettbewerbsrelevant sind, wo harmonisiert werden muß - beim Lkw-Verkehr -, wurde in Deutschland und in den anderen Kernländern eine entsprechende Belastung eingeführt. Wir bemühen uns um eine angemessene Erhöhung des Betrages. Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Diese Koalition und die sie tragenden Parteien haben gemeinsam dem Bürger versprochen, daß in dieser Legislaturperiode - bis 1998, solange unser Mandat des Bürgers reicht - keine neuen Steuern und Abgaben eingeführt und keine Erhöhung von Steuern und Abgaben vorgenommen werden. Dieses Wort muß unter allen Umständen gehalten werden. Weder die Koalition noch ich persönlich als Abgeordneter bin bereit, daran irgendeinen Zweifel aufkommen zu lassen. ({1}) Diskussionen muß man führen, aber man muß sie in ein Timing einordnen, das man sich selbst definiert hat. Darüber hinaus hat jedenfalls meine Fraktion das Ziel, die Steuer- und Abgabenbelastung bis 2000 - so haben wir es beschlossen - auf das Niveau zurückzuführen, das vor der Wiedervereinigung bestanden hat. Man muß sich darüber im klaren sein: Wenn man mehr belastet und draufsattelt, dann wird der Zug in der Gegenrichtung aufs Gleis gesetzt. Auch dort sind enge Grenzen gesetzt. Würde man die Kompensation für deutsche Autofahrer, weil sie nicht beliebig abkassierbar sind, vornehmen, dann verstößt das entweder gegen EU- Recht und wäre diskriminierend - das haben wir beim Schwerlastgebührengesetz vor dem EuGH bereits erlebt - oder aber das Ziel, mehr Geld für Straßenbau und -unterhaltung, das sich ohnehin nur verwirklichen ließe, wenn es politisch als Zweckbindung gewollt wäre, würde völlig verfehlt werden. Ich sage ganz deutlich: Trotz aller Bemühungen der Verkehrspolitiker ist es uns dort, wo es noch stärker begründbar wäre, bei der Lkw-Vignette, nicht gelungen, die Zweckbindung zu erreichen. Das muß man in aller Deutlichkeit aussprechen. Gleiche Finanzmittel, allerdings unter Inkaufnahme erheblichen Verwaltungsaufwands und erheblicher Verwaltungskosten, wären kaum sinnvoll. In einem Fall sind das 400 000 bis 500 000 Lkw, im anderen Fall mit ausländischen Kfz zusammen etwa 43 Millionen Pkw. Das sind völlig andere Dimensionen, die man nicht ignorieren darf. Wir sind uns einig, daß eine zeitbezogene Vignette für Lenkung oder Verkehrsvermeidung weniger sinnvoll ist als streckenbezogene, nutzungsabhängige Anlastung von Wegekosten. Es fehlt jedoch an jeder tatsächlichen Voraussetzung, letztere in einem Schnellschuß umzusetzen. Es darf bei dem Thema - ich nehme die Hinweise von Minister Wiesheu gern auf - keine Denk- und Diskussionsverbote geben. Auf der anderen Seite muß man sagen: In der Diskussion sind zu viele Fragen offen, um nun horrido und hurra zu schreien. Welche Modelle sind gefragt? Wie kann Verlagerung von Verkehr ins nachgeordnete, weniger verkehrssichere System vermieden werden? Das würde dazu führen, daß sich unsere erfreuliche Verkehrsunfallbilanz verschlechtern würde. Betrachten wir die Autobahnen: Wie kann vermieden werden, daß gerade Gemeinden in der Grenzregion durch Umfahrung besonders belastet werden? Wie ist das Ganze in das Schicksal und die Entwicklung der Kfz- und der Mineralölsteuer einzuordnen? Man kann doch die verschiedenen Belastungsarten und -höhen nur im Zusammenhang diskutieren. Man muß auch die europäische Wettbewerbssituation sehen. Wie wirkt sich eine grundlegende Lohn- und Einkommensteuerreform für Berufspendler aus? Dort ist die Frage der Entfernungspauschale mit konkreten Sätzen jedenfalls in der Diskussion in meiner Partei angesprochen worden. Auch das spielt eine Rolle. Ich glaube, der Ansatz, der an den Stammtischen diskutiert wird, man könne durch die Belastung ausländischer Kfz so viel Geld erhalten, daß es damit schon einseitig gut begründbar wäre, geht fehl. Wir brauchen über die verschiedenen Modelle gar nicht zu streiten. Insgesamt ist der Faktor nicht so enorm, sondern man muß ganz deutlich sagen: Das Ganze macht nur Sinn, wenn zusätzlich auch deutsche Dirk Fischer ({2}) Autofahrer belastet werden. Anders ist das rechtlich auch schwer ausgestaltbar. ({3}) Ich möchte von der SPD eindeutig wissen: Wenn der von Bayern angekündigte Bundesratsantrag gestellt würde - Elke Ferner ist die letzte Rednerin, sie kann Aufklärung darüber geben -, wird dann die Mehrheit der SPD-regierten Länder im Bundesrat dafür stimmen oder dagegen? ({4}) Dann wissen wir im Grunde genommen, was sich im Bundesrat abspielen wird. Den Grünen möchte ich sagen: Wenn Sie die Meinung der die Bayerische Staatsregierung tragenden Partei, was die zukünftige Entscheidung bei diesem Thema angeht, für so wesentlich halten, haben Sie das Ergebnis der Bundestagswahl in sehr erfreulicher Weise für das Jahr 1998 vorweggenommen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Die Zeit, Herr Kollege.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Ende. Die Grünen gehen davon aus: Diese Koalition gewinnt 1998, und deswegen ist die Meinung der CSU so wichtig. ({0}) Das ist ein sehr erfreulicher Nebeneffekt dieser Diskussion. Auch in Zukunft werden wir dieses Thema weiter diskutieren. Für diese Legislaturperiode ist das Wort gegeben: Es geschieht nichts. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Karin Rehbock-Zureich, SPD.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Während die Chaostage in Hannover in diesem Jahr weitgehend ausfielen, toben sie anscheinend zur Zeit im Verkehrsministerium. Wenn ich daran denke, welche Europadebatte wir heute morgen geführt haben, und wenn von dem Kollegen Friedrich für das Versagen der Bundesregierung im Verkehrsbereich die EU verantwortlich gemacht wird, dann kann ich mich nur wundern. ({0}) Es ist anscheinend ein Vignettenchaos auf der Tagesordnung dieser Bundesregierung, dieses Verkehrsministers. Herr Wissmann versucht schon seit längerem weiszumachen, daß das Ziel einer verursachergerechteren Belastung des Straßengüterverkehrs über eine Verdreifachung der Gebühr der zeitbezogenen Vignette verfolgt werden soll. Absehbar ist, daß dies scheitern wird. Dies ist aber nicht ein Versagen der EU. Die Kommission hat vielmehr Vorschläge vorgelegt. Auch hat Herr Wissmann im Laufe der Diskussion einen Brief an Herrn Kinnock geschrieben, in dem er androht, bei Scheitern der Verdreifachung der Vignettengebühr werde es von seiten Deutschlands ein Fahrverbot für bestimmte Strekken und auch ein ganzjähriges Fahrverbot am Wochenende für Lkw geben. Ich denke, dies ist sicherlich nicht der Verhandlungston, um zu Ergebnissen zu kommen. Warum haben Sie sich nicht für die einfachere Lösung, für gerechtere Straßenbenutzungsgebühren, die von den gefahrenen Kilometern abhängig sind, eingesetzt? Mit der Forderung einer zeitabhängigen Vignette werden Sie Schiffbruch in der EU erleiden. Das ist nicht der erste Schiffbruch, den diese Verkehrspolitik erlitten hat. Dies wird sicherlich ein ähnliches Fiasko werden wie der dilettantisch gemachte Gesetzentwurf zur Änderung der Kfz-Steuer. Mit Erstaunen habe ich wahrgenommen, wie Herr Bauer dazu aufgefordert hat, jetzt in die Diskussion darüber einzutreten. Diese Diskussion hätten Sie natürlich schon längst führen müssen. Die Bundesregierung hat diesen Gesetzentwurf einen wichtigen Schritt zum Umwelt- und Klimaschutz genannt. Nun ist er beerdigt. Hier ist nicht die EU die Verantwortliche, sondern dieser Verkehrsminister. Nun diskutieren wir eine Vignettenpflicht auf Autobahnen, aber nur für ausländische Pkw-Fahrer. Auch hier ist voraussehbar, daß es nach EU-Recht eine solche Vignettenpflicht nicht geben wird. Denn Herrn Stoiber müßte eigentlich bekannt sein, daß dieses Vorhaben in Brüssel so ganz sicherlich nicht mitgetragen wird. Wo bleibt insgesamt die Logik in der Verkehrspolitik? ({1}) - Diesen Eindruck habe ich auch. Herr Hinsken, bei Ihnen dauert es manchmal eben sehr lang. Deswegen haben Sie die Vignettenpflicht gefordert. ({2}) So dreht sich das Karussell von konzeptionslosen und nicht durchführbaren Modellen, von Schnellschüssen, Vignettenpflicht und Unhaltbarkeiten bei der Kfz-Steuerreform und der Verdreifachung der Vignettengebühr im Lkw-Verkehr. So präsentiert sich eine Verkehrspolitik der Bundesregierung, die sich immer auch als Musterknabe der EU dargestellt hat, jedoch langsam zum Problemfall wird. ({3}) Es zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß keine Konzepte angedacht werden. Herr Bauer hat zwar angekündigt - ich würde es sehr begrüßen, wenn es in diese Richtung geht -, daß die Förderung und Entwicklung eines für Menschen und Umwelt erträglicheren Verkehrs angedacht wird. Aber Herr WissKarin Rehbock-Zureich mann hat die Zügel in seinem Ressort wohl nicht mehr in der Hand. Wir benötigen endlich Konzepte, die die Herstellung verbrauchs- und emissionsarmer Fahrzeuge fördern. Wir benötigen Konzepte, die weitere Verkehrszuwächse vermeiden und eine Verlagerung möglichst hoher Straßenverkehrsanteile auf umweltfreundliche Verkehrsträger bewerkstelligen. Wir benötigen Konzepte, die die Kosten im Straßengüterverkehr gerecht an die Verursacher weiterreichen. Für uns Sozialdemokraten besitzt ein Konzept der ökologischen Ausrichtung unseres Steuersystems oberste Priorität.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Zeit, Frau Kollegin.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluß. - Hierdurch kann die ökologische Modernisierung Gestalt annehmen. Ich fordere Sie auf, diese Konzepte endlich in Ihre Überlegungen mit einzubeziehen. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Georg Brunnhuber, CDU/CSU.

Georg Brunnhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000284, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Diese Aktuelle Stunde wurde von den Grünen beantragt. Man hätte eigentlich erwartet, daß etwas Vernünftiges und auch Neues zu hören gewesen wäre. ({0}) - Frau Altmann, Sie waren wenigstens nicht ganz scheinheilig. Sie haben wenigstens zugegeben, daß Sie den deutschen Autofahrer zusätzlich zur Kasse bitten wollen, und zwar ganz gehörig. Insofern hat diese Debatte einen Wert gehabt. ({1}) Aber der Kollege Schmidt von den Grünen, der uns in das Thema eingeführt hat, hat uns vorgeworfen, wir würden uns antieuropäisch verhalten, wenn hier die Diskussion über eine Vignette geführt wird. Da kann man nur zurückfragen: Lieber Herr Schmidt, haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wer in Europa schon seit Jahren und Jahrzehnten Straßenbenutzungsgebühren kassiert? Das sind alle anderen. Wir haben 50 Jahre lang gekämpft, bis endlich die Schranken gefallen sind und wir überall frei durchfahren konnten. Die Schilderhäuschen sind gefallen, und jetzt haben alle unsere Nachbarn Kassenhäuschen aufgestellt. Das war doch nicht der Sinn von Europa. ({2}) Wenn dies so ist, muß man einmal nachsehen, wer das alles eingeführt hat. Fast überall dort, wo Sozialisten regieren, werden die Autofahrer besonders geschröpft. ({3}) Meine Damen, meine Herren, ich habe Verständnis dafür, wenn sich der deutsche Autofahrer langsam in Europa wie die Melkkuh vorkommt. Wohin er auch fährt, er muß zuerst bezahlen. Wenn er heimkommt, überlegt er sich natürlich: Menschenskinder, warum müssen wir überall bezahlen? Alle, die durch Deutschland fahren, müssen nichts bezahlen. Es ist doch kein Populismus, wenn eine Partei darüber diskutiert, sondern gelebte Bürgernähe. ({4}) Wir sind Volksparteien. Wir wollten die Wahlen gewinnen und haben sie gewonnen. ({5}) Deshalb habe ich dafür Verständnis. ({6}) Im Freistaat Bayern ist eine neue Situation dadurch entstanden, daß nun auch noch Österreich eine Straßenbenutzungsgebühr einführt. Bisher war der Freistaat Bayern und insbesondere der Minister Wiesheu wie wir der Meinung: Wir wollen in Deutschland keine Belastung für unsere Autofahrer. Wenn man wie in Bayern von Tschechien, Österreich, der Schweiz und Italien umgeben ist, von Ländern, die alle Gebühren verlangen, ist es berechtigt, darüber nachzudenken und vielleicht auch Vorschläge zu machen. ({7}) Wir von der CDU/CSU-Fraktion im Verkehrsausschuß waren uns bisher darüber einig: Wir wollen für den deutschen Autofahrer keine zusätzlichen Belastungen. Dazu stehen wir. Deshalb wird es auch so schwierig, diese Debatte ordnungsgemäß zu führen. Ich bin sehr daran interessiert, was bei dem Prüfantrag, den der bayerische Ministerpräsident gestellt hat, herauskommt. Warum sollen wir nicht ergebnisoffen diskutieren und am Schluß der gesamten Prüfung überlegen, wie wir uns letztlich entscheiden? ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben keinen Grund, uns hier auseinanderdividieren zu lassen. Was der Freistaat Bayern und der Ministerrat hier beschlossen haben und was hier diskutiert wurde, liegt gar nicht so weit auseinander. Wir wollen Gerechtigkeit auch für den deutschen Autofahrer. Das ist unsere politische Zielsetzung. ({9}) Zum Schluß noch eine Anmerkung. Hier wurde behauptet, daß diese Bundesregierung ihre Investitionen bei der Schiene gekürzt und für die Straße erhöht hätte. Ich sage Ihnen: Gerade das Gegenteil ist der Fall. Noch keine Regierung in diesem Land hat mehr ausgegeben, um die Schiene zu unterstützen, als diese Bundesregierung unter Minister Wissmann. Das muß einmal deutlich gemacht werden. ({10}) Lassen Sie uns in aller Ruhe diese Diskussion zu Ende führen. Wir werden darüber entscheiden. Sie werden eines nie schaffen: daß Sie CDU/CSU und den Freistaat Bayern auseinanderdiskutieren. ({11})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner, SPD. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Brunnhuber, Sie haben wirklich schon einmal sachlicher geredet, als Sie es gerade getan haben. Herr Wissmann, Sie können einem nur leid tun, daß Sie es hier mit so einem Chaoshaufen zu tun haben. ({0}) Die einen wollen eine Vignette, und die anderen wollen elektronisches Roadpricing auch für Pkw; beides haben Sie zu Recht abgelehnt. Da unterstützen wir Sie, Herr Wissmann, und in dieser Frage können Sie sich auf die SPD verlassen. ({1}) Insofern, Herr Brunnhuber, muß ich sagen: Wenn Sie das jetzt zeitlich in eine falsche Reihenfolge bringen, und das, wo Sie aus einem Bundesland kommen, das eine Grenze zu einem anderen westeuropäischen Land, nämlich zu Frankreich, hat, dann muß ich mich schon etwas wundern. In Frankreich gibt es schon sehr lange Mauthäuschen. Es gibt auf privat finanzierten Autobahnen - was auch bei Ihnen diskutiert wird - streckenbezogene Autobahngebühren, und zwar für alle, die diese Autobahnen benutzen, ob mit französischem, deutschem oder einem anderen Kennzeichen. Das hat überhaupt nichts mit der Öffnung des Binnenmarktes zu tun. Insofern ist das, was Sie eben hier vorgetragen haben, ein Stück unredlich. Ich muß mich schon wundern, daß Sie jetzt den Grünen anlasten, daß sie heute die Aktuelle Stunde beantragt haben. Wer treibt denn hier jeden Tag eine neue Sau durchs Dorf? Das waren weder die Grünen noch war das die SPD oder sonst jemand aus der Opposition. ({2}) Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses steht gegen den Bundesverkehrsminister, der bayerische Ministerpräsident steht vielleicht auch gegen den Bundesfinanzminister - man weiß nicht genau, was alles dahintersteckt -, Baden-Württemberg will oder will nicht, und die F.D.P. will ein Roadpricing für Pkw haben. Was eigentlich Konzept, Ziel und Sinn der Sache ist, ist überhaupt nicht zu erkennen. Das Modell ist und bleibt so, wie es jetzt vorgeschlagen worden ist, ein reines Abkassiermodell. Sie gaukeln den Menschen vor, daß Sie die Kfz-Steuer senken wollen. Da wünsche ich Ihnen viel Vergnügen, nicht nur bei den A-Ländern, sondern auch bei den B-Ländern. Außerdem wissen Sie ganz genau, daß das nicht EU-konform ist; das hat auch der Kollege Fischer eben gesagt. Damals, Herr Wiesheu, war nicht. die Frage, ob eine Jahres-, eine Monats- oder eine Wochenvignette ausgegeben werden soll, sondern es ging um die Tatsache, daß in dem Moment, wo die Schwerverkehrsabgabe eingeführt wurde, für die deutschen Lkws die Kfz-Steuer gesenkt worden ist. Das war der Hauptgrund der Europäischen Kommission, beim EuGH dagegen zu klagen. Jetzt wollen Sie das auch bei den Pkws machen; aber das funktioniert nicht. Wenn man jetzt schon einmal dabei ist, die KfzSteuer zu senken, muß man wirklich fragen - wie auch die Kollegin Altmann das eben getan hat -: Von welcher Kfz-Steuer gehen Sie denn aus? Von der Kfz-Steuer, die für drei, vier oder fünf Jahre nicht erhoben werden soll, wenn das Auto die Euro-IIINorm - die noch nicht definiert ist - erfüllt? Worin soll denn da die Kompensation bestehen? Was hier vorgetragen ist, ist sehr unausgegoren. Insofern ist das Ganze auch wirklich ein Stück weit unehrlich. Noch ein Wort zu den Erhebungskosten. Man kann sicherlich zu Recht über viele Zahlen streiten, die von dieser Bundesregierung in Umlauf gebracht werden. Aber ich denke, was Herr Carstens eben gesagt hat, ist richtig. Denn wenn wir schon heute für ein Aufkommen von etwas mehr als 700 Millionen DM aus der Lkw-Vignette 73 Millionen DM für 1997 brauchen, um diese Gebühren zu erheben, und das bei deutlich weniger Fahrzeugen, wo die Vignetten meistens en bloc gekauft werden ({3}) und es nicht so viele Teilvignetten, also Monats- oder Wochenvignetten, gibt, dann kann man wohl davon ausgehen, daß mit der Erhebung einer Pkw-Vignette ein Vielfaches an Verwaltungsaufwand und somit ein Vielfaches an Erhebungskosten verbunden wäre, zumal das Ganze dann zeitabhängig und nicht verursachergerecht, fahrleistungsabhängig, wofür wir stehen, erhoben würde. Herr Kollege Fischer, wir haben immer gesagt: Wir wollen keine Vignette für Pkw. Wir wollen auch kein Roadpricing für Pkw. Wir wollen über eine einfache Regelung, nämlich über die Erhöhung der Mineralölsteuer auf der einen Seite und durch Rückgabe über die Absenkung der Lohnnebenkosten als Kompensation auf der anderen Seite, eine kostengerechtere Anlastung auch für Pkw erreichen. Hiervon wären auch Pkw mit ausländischem Kennzeichen betroffen, weil diese auch irgendwo in der Bundesrepublik tanken müssen, zumindest deutlich öfter als Lkw, Herr Fischer. Darüber sind wir uns einig: Es gibt leider noch viel zu viele Autos, die soviel verbrauchen, daß sie eben nicht in einem Rutsch durchkommen. Insofern, denke ich, sind wir, was die Konzeption für eine vernünftige und umweltgerechte Verkehrspolitik angeht, eigentlich sehr viel konsequenter. Das, Herr Brunnhuber, was eben gesagt worden ist - Schienevorrangpolitik durch die Bundesregierung -, ist nun wirklich eine Lachnummer. Ich empfehle noch einmal einen Blick in den Haushalt und die mittelfristige Finanzplanung und bitte Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der CSU: So sehr ich Ihr Problem in der Grenznähe zu Österreich verstehen kann, ({4}) ringen Sie sich endlich dazu durch, daß wir verursachergerecht, fahrleistungsabhängig, schrittweise und berechenbar eine vernünftige Kostenanlastung im Verkehr bekommen. Unsere Konzepte dafür liegen auf dem Tisch. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem ... Strafrechtsänderungsgesetz - §§ 177 bis 179 StGB ({1}) - Drucksachen 13/2463, 13/4543, 13/4939, 13/5011 Berichterstattung: Abgeordnete Ulla Schmidt ({2}) Ich weise vorsorglich darauf hin, daß wir über die Beschlußempfehlung nachher namentlich abstimmen werden. Ich weise ferner darauf hin, daß nach unserer Geschäftsordnung eine Aussprache nicht zulässig ist. Es dürfen lediglich Erklärungen abgegeben werden. Das Wort für Erklärungen wird gewünscht. Zunächst hat die Kollegin Ulla Schmidt als Berichterstatterin und für die SPD-Fraktion das Wort.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute über einen Beschluß des Vermittlungsausschusses vom 20. Juni 1996 zu entscheiden. Darin wird empfohlen, die von Ihnen bereits beschlossene Reform der §§ 177 ff. StGB ohne die umstrittene Widerspruchsregelung in Kraft treten zu lassen. Das fatale Signal, das von der Widerspruchsklausel ausgeht, lautet: Sexuelle Gewalt ist Privatsache. Angesichts der aktuellen Diskussionen appelliere ich an Sie, noch einmal über Ihren Beschluß nachzudenken. Tag für Tag lesen wir in den Zeitungen, welche Grausamkeiten an Kindern verübt werden. Mit jedem Tag erfahren wir mehr, was hinter den Wohnungstüren geschieht. Ich frage Sie: Wie will der Gesetzgeber jemals Kinder schützen, wenn er nicht bereit ist, deren Mütter zu schützen? ({0}) Wir alle wissen: Ehefrauen werden vergewaltigt, geprügelt und flüchten ins Frauenhaus. Mit der Reform des Sexualstrafrechts soll nun der Frau das Recht eingeräumt werden, ihren Ehemann wegen Vergewaltigung anzeigen zu können. Das ist gut. Aber, als ob das alles nicht so ernst gemeint ist, erhält die Frau bis zur Hauptverhandlung Bedenkzeit. Glauben Sie denn, die Frau sei sich bei der Anzeige der Konsequenzen ihrer Entscheidung nicht bewußt gewesen? Wissen Sie denn nicht, daß eine Anzeige in fast allen Fällen erst das vorläufige Ende einer jahrelangen Kette von Demütigungen, Körperverletzungen und sexueller Gewalt ist? Wenn eine Frau dann bereit ist, durch eine Anzeige einen Schlußstrich zu setzen, dann braucht dieser Schritt die uneingeschränkte Unterstützung des Gesetzgebers. ({1}) Statt dessen setzen Sie das Signal, die Frau solle noch einmal darüber nachdenken. Der Täter erhält von Ihnen die fragwürdige Chance der Amnestie, eine Gelegenheit, straffrei auszugehen, die ihm bei keinem anderen Offizialdelikt zugestanden wird. Weder bei gefährlicher Körperverletzung noch bei versuchtem Totschlag, weder bei Raub noch bei Erpressung, was ja auch in Ehen vorkommen kann, erhält er Sonderrechte. Bei keinem Verbrechen dieser Art wurde jemals die Einführung einer Widerspruchsklausel zur Aufrechterhaltung der ehelichen Bindung bis heute überhaupt nur angedacht. ({2}) Dabei weiß jeder Täter, jeder Ehemann, daß die Vergewaltigung die tiefste Demütigung und Erniedrigung einer Frau ist, und dieser Ehemann wird weiter demütigen. Ein Mann, der dazu fähig ist, seine Ehefrau zu vergewaltigen, bringt auch die nötige Penetranz auf, die Ehefrau zum Widerspruch zu drängen, ungeachtet der Familienmitglieder, die vielleicht die Frau moralisch dafür verantwortlich machen wollen, mit ihrer Anzeige Schande über die Familie zu bringen. Sie setzen das Opfer unter Druck, und die Täter bleiben ungestraft. Nicht zuletzt durch das von Ihnen, Frau Bundesfrauenministerin, geförderte Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt ist Tatsache: Täter, die für ihr Tun nicht verantwortlich gemacht werden, fallen immer wieder in das alte Muster zurück. Das heißt im Klartext, der Kreislauf der Gewalt wird fortgesetzt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie heute mit Ihrem Gesetz die zwingende Einleitung eines Strafverfahrens nicht mehr von der Schwere eines Verbrechens, sondern allein von der Existenz Ulla Schmidt ({3}) eines Trauscheines, nicht einer Beziehung, abhängig machen, sanktionieren Sie das gesellschaftlich vorherrschende Denken: Mit der Ehe gibt die Frau ihre sexuelle Selbstbestimmung auf. ({4}) Es ist für mich schon schwer verständlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn eine Partei, die die Familie immer wieder als das höchste Gut im Munde führt, Ehefrauen für weniger schätzenswert hält als jede andere Frau. Und so ganz nebenbei werden mit Ihrem Gesetz Körperverletzungen im Zusammenhang mit einer Vergewaltigung gleich mit zu den Akten gelegt. Dies ist einzigartig im Strafrecht, und ich sage Ihnen dazu: So stellen wir uns den Schutz von Ehe und Familie nicht vor. ({5}) Ich bitte Sie, werfen Sie einen kurzen Blick auf den schleswig-holsteinischen Landtag. Er hat sich am 16. August 1996 einstimmig, also auch mit den Stimmen von CDU und F.D.P., gegen die Widerspruchsklausel ausgesprochen. Ich appelliere an Sie im Deutschen Bundestag: Folgen Sie dem Beschluß des schleswig-holsteinischen Landtages! Stimmen Sie heute dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu, daß deutlich wird in diesem Land: Sexuelle Gewalt gegen Kinder, gegen Mädchen, gegen Frauen und gegen Ehefrauen ist keine Privatangelegenheit, sondern ein Verbrechen, das der Gesetzgeber ahndet, mindestens genauso wie schwerer Raub und andere Körperverletzungen. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Horst Eylmann, CDU/CSU.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon seit über zehn Jahren streiten wir uns über die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, und je länger der Streit dauert, um so weiter entfernt er sich von der Realität, und um so schriller werden die Töne. Es ist unübersehbar - das haben die Ausführungen meiner Vorrednerin deutlich gemacht -, daß die Diskussion an einem Übermaß an Emotion und einem beklagenswerten Defizit an kriminologischem Wissen sowie polizei- und gerichtspraktischer Erfahrung leidet. ({0}) Ideologisch aufgeladen war die Atmosphäre schon immer. Viele Männer befürchteten und viele Frauen erhofften sich, nach der Gesetzesänderung würden nun die vergewaltigenden Ehemänner zu Dutzenden vor die Gerichte geschleppt. ({1}) Das war eine völlig unrealistische Perspektive, nicht etwa, weil in der Ehe nicht vergewaltigt wird - die Erfahrungen der Frauenhäuser sprechen ja eine deutliche Sprache -, sondern weil das kriminologische Basiswissen völlig verdrängt wurde, daß bei Straftaten im sozialen Nahraum in den meisten Fällen keine Strafanzeige erstattet wird. Wir kennen das im übrigen auch vom sexuellen Kindesmißbrauch innerhalb der Familie. Die eheliche Vergewaltigung war auch in der Vergangenheit nicht straflos; sie konnte nur nicht angemessen bestraft werden, was sich besonders bei den Extremfällen, die vor Gericht kamen, als unhaltbar erwies. Wie in der Vergangenheit, so wird auch in Zukunft die Anzeige einer ehelichen Vergewaltigung eher zu den Ausnahmen gehören. Aber diese Fehleinschätzung wird ja noch durch die Hysterie übertroffen, mit der zur Zeit um den Widerspruch gefochten wird. Dabei ist es ja wahr: Wenn eine Vergewaltigung - ob nun innerhalb oder außerhalb der Ehe - angezeigt worden ist, wird nicht selten vom Täter oder von Angehörigen versucht, das Opfer dazu zu bringen, in der Hauptverhandlung die Aussage zu verweigern. Diese Versuche wird es auch in Zukunft geben. Ich mache mir da keine Illusionen. Wer diese Gefahr beseitigen will, muß das Aussageverweigerungsrecht abschaffen oder die Verdachtsstrafe einführen. Das will aber niemand. Somit bleibt nur die Möglichkeit über, die Frauen in ihrer autonomen Entscheidung zu stärken. Es ist ja bezeichnend, ja geradezu entlarvend, daß in den vielen Papieren und Reden, die wir in diesen Wochen hören, nicht ein einziges Mal das Aussageverweigerungsrecht auch nur erwähnt wird. Dabei ist es die Aussageverweigerung des Opfers, die in 99 Prozent der Fälle eine Verurteilung des Täters verhindert. ({2}) Ich bin auf der Suche nach einem Fall, in dem es zu einer Verurteilung trotz Aussageverweigerung gekommen ist. Bislang kenne ich einen solchen Fall nicht. Vielleicht können Sie ihn mir einmal aufzeigen. ({3}) Wenn es aber solche Fälle gibt, und ich halte es nicht für völlig ausgeschlossen, zum Beispiel wenn die Frau erheblich verletzt worden ist oder Dritte die Tat beobachtet haben, dann würde auch bei einer Widerspruchslösung völlig eindeutig das besondere öffentliche Interesse bejaht mit der Folge, daß der Täter nicht straflos ausgeht. ({4}) Das ist die Realität; alles andere ist Stimmungsmache und pure Ideologie, weit entfernt von der Wirklichkeit. ({5}) Mein Fazit: Nicht die Widerspruchsmöglichkeit, sondern das Aussageverweigerungsrecht bringt das Opfer in Gefahr, unter Druck gesetzt zu werden. Wenn das aber so ist, ist der Widerspruch die ehrlichere und bessere Lösung, weil es hier zu einem offenen Gespräch zwischen dem Staatsanwalt oder Richter und dem Opfer kommt, in dem die Hintergründe des Widerspruchs aufgehellt werden können. In der Hauptverhandlung - das scheinen Sie gar nicht zu wissen - bleibt es bei der knappen Erklärung der Aussageverweigerung. Hier darf nichts erörtert oder hinterfragt werden. Über zehn Jahre haben wir benötigt, um den § 177 alter Fassung, dieses Fossil aus der Zeit der männlichen Oberherrschaft, aus dem Strafgesetzbuch zu entfernen. Auch diejenigen, die jetzt den Widerspruch ablehnen, sollten einräumen, daß das von vielen in diesem Hause angestrebte Ziel mit dem Beschluß des Bundestages zu weit über 90 Prozent erreicht ist. Wer dieses Ergebnis jetzt wegen einer Bestimmung aufs Spiel setzen will, die in der Praxis eine völlig untergeordnete Rolle spielen wird, den hindern ideologische Scheuklappen, einen Blick auf die Wirklichkeit zu werfen. Er hat auch jegliches Gespür dafür verloren, um was es sich in diesem Hause zu streiten lohnt. Wir stehen bei der Kriminalitätsbekämpfung wahrlich vor anderen Problemen und Herausforderungen und sollten der Öffentlichkeit nicht den Eindruck vermitteln, daß wir die Wirklichkeit nicht mehr zu erkennen vermögen und uns mit ideologischen Schaukämpfen die Zeit vertreiben. Ich bitte, das Vermittlungsergebnis zurückzuweisen. ({6})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 20 Millionen verheirateter Frauen in der Bundesrepublik schauen heute auf uns. Wir entscheiden heute darüber, ob ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch gegenüber ihrem Ehemann gilt oder ob die Mehrheit des Deutschen Bundestages sie zu Frauen minderen Rechts deklassiert. ({0}) Das Ziel der Strafrechtsreform, die Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Vergewaltigung, wird durch die Widerspruchsklausel zur Farce. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, wollen für Ehemänner andere gesetzliche Regelungen als für Fremdtäter. ({1}) Wir haben in den letzten Monaten vehement gegen die Widerspruchsklausel gestritten. Es ist eine unsägliche Konstruktion, bei der Vergewaltigung nicht gleich Vergewaltigung ist. Sie machen Unterschiede zwischen den Tätern, die durch nichts zu rechtfertigen sind. Bei einer Vergewaltigung durch den Ehemann kann die Anzeige zurückgezogen werden; der Täter geht straflos aus. Die Tat des fremden Täters wird hingegen auf jeden Fall verfolgt. Doch damit nicht genug: Sie verabschieden sich mit der Widerspruchsklausel auch aus der Verfolgung familiärer Gewalt; denn auch bei gefährlicher Körperverletzung oder Nötigung in Verbindung mit der Vergewaltigung soll demnächst der Strafverfolgung widersprochen werden können. ({2}) Die gefährliche Mißhandlung wird strafrechtlich in jedem Fall verfolgt. Wird das Opfer allerdings noch zusätzlich vergewaltigt, kann der Täter straflos ausgehen. Wie kommen Sie eigentlich auf eine solche absurde juristische Logik? ({3}) Dies ist ein Verstoß gegen das verfassungsrechtlich garantierte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Ein weiteres Argument gegen die Widerspruchsklausel, meine Damen und Herren von der Koalition, muß Ihnen doch in der Rechtsausschußanhörung klargeworden sein: Bei sexueller Gewalt in Beziehungen handelt es sich um einen Gewaltkreislauf, in dem die sexuelle Gewalt der Gipfel der Eskalation ist. Sie wissen, daß es zu diesem Kreislauf gehört, daß nach der Eskalation eine Phase der Reue und der Zuwendung des Täters eintritt und der gewalttätige Mann beteuert, daß dieses Mal das letzte Mal gewesen sei. Sie wissen auch, wie sehr Frauen es verinnerlicht haben, Mitleid zu haben, es noch einmal zu versuchen, alles zu vergessen, ihre eigene Angelegenheit hintanzustellen. Mit dieser Widerspruchsklausel verstricken Sie die Frauen juristischerseits genau in dieses Beziehungsmuster.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin, einen Augenblick bitte. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist entschieden zu laut im Saal! ({0}) Wenn man hier oben schon nichts mehr hören kann, kann ich mir nicht vorstellen, daß man der Rede unten folgen kann. Außerdem bitte ich um ein bißchen mehr Fairneß gegenüber der Rednerin.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie bewirkt, daß der Gewaltkreislauf nicht durchbrochen, sondern fortgeführt wird. Eine solche Regelung können Sie nicht allen Ernstes wollen. Ihnen ist doch bekannt, daß auch ohne die Widerspruchsklausel - Herr Eylmann hat es gerade gesagt - jedes Opfer immer die Möglichkeit hat, den Prozeß zu Fall zu bringen, wenn es die Aussage verweigert. Das gilt sowohl für Ehefrauen als auch für fremde Opfer. Ein Sonderrecht für Ehemänner ist deshalb absolut überflüssig. ({0}) Ich kann es nicht glauben, daß Sie die Integrität von Ehefrauen so geringachten, daß der Ehemann als Täter straflos ausgehen soll. Ich appelliere vor allem an Sie, liebe Kolleginnen in der Koalition. Ich weiß von einigen, daß sie die Widerspruchsklausel von ihrem Gewissen her nicht mittragen können. Andere haben bereits erklärt, daß sie der Streichung der Widerspruchsklausel zustimmen werden. Nicht nur in der CDU-Fraktion in Schleswig-Holstein - auch viele andere wollen endlich die Gleichbehandlung von ehelicher und nichtehelicher Vergewaltigung. Ich weiß, werte Kolleginnen, daß auf Sie enormer Druck ausgeübt worden ist, daß Frauen gesagt wurde, sie würden bei der Aufstellung der Liste demnächst nicht mehr berücksichtigt. Es ist auch bezeichnend, daß bei diesem frauenpolitischen Thema ersten Ranges für die Koalition heute nur Männer sprechen. Was bedeutet denn das? ({1}) Dennoch bitte ich Sie: In der Frage der massivsten Grenzverletzung, die einem Menschen in der Ehe zugefügt werden kann, darf es hier keinen Koalitionszwang geben. Sie dürfen nicht wegen des Friedens in der Koalition jetzt die Frauen verraten. Stimmen Sie dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zu! Ich danke Ihnen. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Ulrich Irmer, F.D.P.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion wird mit Mehrheit dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses widersprechen. ({0}) Ich betone, daß ich sehr viel Verständnis dafür habe, daß und wie emotional diese Debatte geführt wird. Es handelt sich hier um ein Thema, bei dem insbesondere Frauen in der Lage sind, ihre Geschlechtsgenossinnen, die Opfer wurden, zu verteidigen, und sie haben recht. Frau Schmidt hat sehr nachdrücklich die Situation eines Gewaltkreislaufs in Familien geschildert. Hier muß etwas geschehen, und wir haben durch die Verabschiedung des Gesetzes die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Der Streit geht jetzt nur noch um die Frage: Ist die Widerspruchslösung vernünftig oder ist sie unvernünftig? Ich sage noch einmal: Ich verstehe all diejenigen, die sich aus dem Gefühl heraus veranlaßt sehen, der Widerspruchslösung nicht zuzustimmen. Aber ich möchte noch einmal darlegen, daß diese Widerspruchslösung gar nicht zu den Konsequenzen führt, wie sie hier geschildert worden sind; denn wir haben vorgesehen, daß die Frau den Widerspruch gegenüber dem Staatsanwalt oder dem Gericht erklären muß. Herr Eylmann hat schon darauf hingewiesen, daß sich selbstverständlich eine Erörterung über die Gründe, die die Frau zu einem Widerspruch gebracht haben, anschließt. Es ist zum Beispiel der Fall denkbar, daß der Täter - der Ehemann, der seine Frau vergewaltigt hat - inzwischen nicht mehr in der Familie ist, daß aber Kinder da sind, die ernährt werden wollen; der Mann ist zum Unterhaltszahlen verpflichtet. Wenn der eingesperrt wird, so könnte die Frau überlegen, habe ich niemanden mehr, der den Unterhalt zahlt. ({1}) - Augenblick! - Diese Überlegung könnte im Interesse der Frau sein. Es ist zu Recht gesagt worden: Die Widerspruchslösung birgt die Gefahr in sich, daß der Täter erneut Gewalt oder Drohungen einsetzt, um die Frau zum Widerspruch zu veranlassen. - Diese Gefahr ist ohne jeden Zweifel gegeben; sie ist aber beim Zeugnisverweigerungsrecht auch gegeben. Nur, der Unterschied ist der: Wenn die Frau mit Gewalt oder Drohung dazu gebracht wird, das Zeugnis zu verweigern, dann hat das Gericht diese Erklärung schlicht hinzunehmen; das Gericht kann nicht mehr fragen, kann nicht mehr feststellen und darf nicht einmal untersuchen, ob die Frau vielleicht unter Druck oder Gewaltandrohung steht. Deshalb halte ich es im Interesse des Selbstbestimmungsrechts der Frauen für notwendig, die Widerspruchslösung beizubehalten, damit die Frau erklären kann, ob sie ihre Aussage aufrechterhält oder nicht. Wenn der Staatsanwalt oder das Gericht den Eindruck hat, hier wird Gewalt, Druck auf die Frau ausgeübt, dann zieht die Staatsanwaltschaft das Verfahren an sich und sagt: Wir erklären das öffentliche Interesse, und wir ermitteln und verfolgen weiterhin von Amts wegen. - Der Widerspruch spielt dann überhaupt keine Rolle mehr. Wer dieses nicht will, wer diesen zweiten Teil der Selbstbestimmung der Frau vorenthalten will, der erkennt nicht, daß es Situationen geben kann, in denen eine Frau in großer Notlage sagt: Im Interesse aller Beteiligten, vor allem der Kinder, ist es, daß hier nicht die Gerechtigkeit geübt wird, die an sich erforderlich wäre. - Insofern bleibt die Frau Herrin eines Verfahrens gegenüber einem strikt angewandten Vergeltungs- und Gerechtigkeitsprinzip. Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen zu erläutern, weshalb wir es uns nun wirklich nicht leicht gemacht haben, weshalb wir die Gefühlsaufwallungen verstehen, weshalb wir aber mit gutem Gewissen der Meinung sind, daß die Widerspruchslösung sinnvoll ist. Ich danke Ihnen. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Darf ich um ein wenig mehr Ruhe bitten. - Ehe Sie beginnen, verehrte Kollegin Schenk: Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen daß sie genau darauf achten, ob auf der Abstimmkarte ihr Name steht. Es hat beim Einordnen manchmal schon Fehler und deswegen hinterher Überraschungen gegeben. Bitte werfen Sie einen Blick auf Ihre Stimmkarte! Dies ist nur ein vorsorglicher Hinweis. Das Wort hat die Kollegin Christina Schenk, PDS.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als erstes möchte ich von dem Kollegen Irmer wissen, wie er darauf kommt, daß eine Frau, die Anzeige gegen ihren Ehemann erstattet, die Strafverfolgung nicht will, es also so nicht gemeint haben soll. Wenn sie dann tatsächlich ihre Meinung geändert haben sollte, hat sie immer noch die Möglichkeit des Zeugnisverweigerungsrechtes. Die Widerspruchsklausel ist komplett überflüssig. ({0}) Sie ist auch der inakzeptabelste Teil des Gesetzentwurfs der Konservativen. Daher ist es nur folgerichtig, wenn der Vermittlungsausschuß diese Widerspruchsklausel ablehnt. Meine Damen und Herren, heute wird sich hier entscheiden, ob es eine Chance dafür gibt, die eheliche mit der außerehelichen Vergewaltigung gleichzustellen, oder ob eine Hintertür für gewalttätige Ehemänner offenbleibt. Ich möchte deshalb noch einmal hier den Versuch unternehmen, die Absurdität der bislang von konservativer Seite vorgebrachten Argumente zugunsten der Widerspruchsklausel darzustellen. Zunächst möchte ich noch einmal sagen, daß die Widerspruchsklausel ein Novum im deutschen Strafrecht ist. Bei keinem anderen Verbrechen - sei es Körperverletzung, sei es Nötigung - gibt es die Möglichkeit, daß der Widerspruch des Opfers die Strafverfolgung beenden kann. Da stellt sich doch die Frage, warum ausgerechnet bei einem Verbrechen, das besonders schwerwiegende Folgen für das Opfer mit sich bringt, wenn es im persönlichen Nahfeld begangen wird, der Täter derart geschont werden soll. Hinzu kommt noch - das ist in der Öffentlichkeit leider unbemerkt geblieben -, daß sich die Widerspruchsklausel nicht nur auf den Tatbestand der Vergewaltigung, sondern auch auf die schwere und einfache Körperverletzung bezieht, sofern diese Tat im Zusammenhang mit der Vergewaltigung begangen worden ist. Das heißt, wenn der Ehemann seine Frau nicht nur vergewaltigt, sondern sie zusätzlich mit einer Waffe schwer verletzt, kann es sein, daß er ohne jegliche Strafe davonkommt. Ich will Ihnen ganz klar sagen, was Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, hier heute wollen: Sie wollen ein Gesetz zum Schutz prügelnder und vergewaltigender Ehemänner durchsetzen. Anders ist die Widerspruchsklausel nicht interpretierbar. ({1}) Der Bundesjustizminister, Herr Schmidt-Jortzig, hat in einer früheren Diskussion darauf verwiesen, daß sexuelle Gewalt in der Ehe nicht grundsätzlich, wie er gesagt hat, sondern nur unter bestimmten Umständen zum Gegenstand eines Strafverf ahrens werden könne. Der Kollege Eylmann hat ebenfalls in einer früheren Diskussion dargestellt, daß die eheliche Vergewaltigung erst dann zwingend ein Offizialdelikt werden soll, wenn es sich um einen Wiederholungstäter handelt oder die Tat mit, wie er sagte, „besonderer Brutalität" begangen worden ist. Meine Damen und Herren, die Vergewaltigung in der Ehe ist, gerade weil sie in einer Beziehung stattfindet, ein massiver Vertrauensmißbrauch, der das Opfer in besonderer Weise trifft und verletzt. Eine Vergewaltigung in der Ehe ist immer - immer! - besonders brutal. Es gibt keine harmlosen Vergewaltigungen im personalen Nahbereich. ({2}) Die Symptome bei den in der Ehe vergewaltigten Frauen zeigen das: Sie haben das Gefühl, einer allgegenwärtigen Bedrohung ausgesetzt zu sein, sie haben schwere Depressionen und psychosomatische Beschwerden bis hin zu Fehl- und Frühgeburten usw. Ich möchte noch einmal ganz deutlich sagen, daß die Vergewaltigung in der Ehe in der Regel kein singuläres Ereignis ist. Es handelt sich fast immer um Wiederholungstaten, wie auch die aktuelle Forschung gezeigt hat. Zum Schluß möchte ich noch zu der in der Vergangenheit aufgestellten Behauptung, die Widerspruchsklausel eröffne für den Täter die Chance zur Therapie, ganz klar sagen: Täter haben die stärkste Motivation, Hilfe zu suchen, wenn die Frauen sie verlassen haben, und Frauen haben die größte Chance, aus der Opferrolle herauszukommen, wenn sie den Täter verlassen. Die Widerspruchsklausel verhindert genau das. Statt die Frau in ihrem Bemühen, sich gegen die Gewalt zu wehren und sich aus der gewalttätigen Beziehung zu befreien, zu unterstützen und ihr - im übrigen auch dem Mann - zu helfen, aus diesem Kreislauf der Gewalt herauszukommen, trägt die Widerspruchsklausel dazu bei, daß Täter und Opfer im Gewaltzyklus gefangen bleiben. Das, Herr Eylmann und Herr Irmer, ist das eigentliche Problem. Es geht weniger um die Druckausübung; da mag es Möglichkeiten geben. Aber daß Sie die Psychodynamik einer solchen gewalttätigen Beziehung vollkommen verkennen, das ist das Problem. ({3}) Es ist empörend, daß die Aufrechterhaltung einer längst zerstörten Ehe - das ist die Ehe, wenn in ihr Gewalt vorkommt - Vorrang vor dem Schutz der körperlichen Integrität von Frauen erhalten soll. Das, meine Damen und Herren, ist der eigentliche Skandal: daß hier im Bundestag Entscheidungen getroffen werden, die an den Realitäten vollständig vorbeigehen und den vorhandenen Sachverstand, der bei den Frauenhausinitiativen bis hin zu den Frauenministerien der Länder vorhanden ist, komplett ignorieren. Danke. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Weitere Wortmeldungen für Erklärungen nach § 90 unserer Geschäftsordnung liegen mir nicht vor. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben schriftliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vorgelegt, die mit dem Einverständnis des Plenums zu Protokoll genommen werden. Das sind: Professor Gisela Frick, Birgit Homburger, Jürgen Koppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Irmgard Schwaetzer *), Wilma Glücklich **) und Gert Willner ***). Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/5011. Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Kann ich davon ausgehen, daß alle Urnen besetzt sind? - Das scheint der Fall zu sein. Ich eröffne die Abstimmung. - Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme abgegeben? Oder ist hier noch jemand, der das bisher vergessen hat? - Das scheint der Fall zu sein. - Noch einmal die Frage: Ist noch jemand anwesend, der nicht abgestimmt hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ihnen später bekanntgegeben. ****) Wir setzen die Beratungen jetzt fort. - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen, weil wir sofort zu einer weiteren Abstimmung über eine Empfehlung des Vermittlungsausschusses kommen. Vorne auf der rechten und auch auf der linken Seite bitte Platz nehmen! - Herr Kollege Schuster, Herr Kollege Scheu, bitte! *) Anlage 2 **) Anlage 3 ***) Anlage 4 ****) Seite 11505A Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 9 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes ({1}) - Drucksachen 13/1207, 13/4788, 13/5254, 13/5641 Berichterstattung: Abgeordneter Michael Müller ({2}) Das Wort zur Berichterstattung, so ist mir von den Geschäftsführern gesagt worden, wird nicht gewünscht; das Wort zu Erklärungen nach § 90 der Geschäftsordnung auch nicht. Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/5641? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 sowie den Zusatzpunkt 10 auf: 5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Neuordnung von Selbstverwaltung und Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung ({3}) - Drucksache 13/5724 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit ZP10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Sofortprogramm zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in den Krankenkassen - Drucksache 13/5726 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Lohmann, CDU/CSU.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in Deutschland keinen Streit über die Qualität der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Nein, wir streiten im Grunde seit Jahren lediglich über die Wege aus der Kostenmisere der gesetzlichen Krankenversicherung. Selbst einschneidendste Maßnahmen, gelegentlich „Kostendämpfung pur" genannt, haben, wenn überhaupt, nur kurzzeitige Erfolge gehabt. Wolfgang Lohmann ({0}) Die Koalition hat aus diesen Erfahrungen, Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten, die Konsequenzen gezogen und sich für eine Kehrtwende entschieden, die staatlichen Dirigismus und Zentralismus hinter sich läßt und statt dessen einen Weg hin zu mehr Eigenverantwortung und Gestaltungsfreiheit für die Selbstverwaltung der Krankenversicherung beschreitet. Diese Philosophie hatten wir in zwei Gesetzen verwirklicht, dem sogenannten GKV-Weiterentwicklungsgesetz und dem Krankenhaus-Neuordnungsgesetz 1997, die, wie Sie wissen, vom Bundesrat am 12. September 1996 abgelehnt wurden. Wer nun geglaubt hat, wir legten die Hände in den Schoß, täuscht sich. Bereits heute beraten wir den ersten Teil der Umsetzung unserer Eckpunkte vom 24. September dieses Jahres - sie werden gelegentlich als Vorschaltgesetz bezeichnet -, die eingebracht werden, um den Beteiligten Planungssicherheit zu geben. Der Unterschied zwischen, so will ich einmal sagen, alter und neuer Gesundheitsreform liegt weniger im Inhalt, sondern mehr darin, daß diese Reform ohne Zustimmung des Bundesrates realisiert werden kann und soll. ({1}) Viele Kommentare der vergangenen Tage erweckten den Eindruck, als wagten wir quasi eine Revolution, da angeblich eine Gesundheitsreform ohne die SPD nicht möglich sei. - Meine Damen und Herren, wir werden das Gegenteil beweisen. ({2}) Die Öffentlichkeit muß darüber informiert werden, daß sich die SPD in Sachen Gesundheitspolitik selbst auf das Abstellgleis manövriert hat. ({3}) Sie hat durch das Aufstellen von unannehmbaren Forderungen ein Sondierungsgespräch einer Arbeitsgruppe im Vermittlungsausschuß zum Scheitern gebracht. Jeder, der dabeigewesen ist, weiß, wie weit wir von einer Einigung entfernt waren.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfaff?

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte dem Kollegen Pfaff heute eigentlich zumuten, meinem Gedankengang zu folgen und möglicherweise hinterher in seiner Replik darauf einzugehen. Deswegen möchte ich gerne fortfahren. Nun mußte ich allerdings zu meiner Überraschung einer Ticker-Meldung vom 8. Oktober entnehmen, daß der SPD-Fraktionsvorsitzende, Herr Scharping, auf eine Zusammenarbeit bei der Gesundheitsreform dringe und es sich dabei sogar, wie er sagt, um ein „formelles Angebot" von seiner Seite handele. Das war am 8. Oktober. Im Schnellverfahren hat dann die SPD-Fraktion ein von Rudolf Dreßler erarbeitetes Papier in einigen wenigen Punkten geändert und als Vorschlag der Arbeitsgruppe Gesundheit der SPD-Fraktion beschlossen. Allein die Wandlung der Dreßler-Vorschläge vom 30. September 1996 zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe Gesundheit der SPD, die dann von der Fraktion - dem Vernehmen nach: nach heftigen Auseinandersetzungen - beschlossen wurden, wäre eine eigene Debatte wert. Den Umstand, daß bei der gestrigen Pressekonferenz Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Rudolf Dreßler nicht zugegen war, mag jeder so bewerten, wie er möchte. Meine Damen und Herren, ich kann mir nicht denken, daß dieses sogenannte „formelle Angebot" wirklich ernstgemeint ist. Wer sich nämlich in der Sozialpolitik der unbequemen Botschaft, daß wir uns eine „Politik des Immer-mehr" im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr leisten können, verweigert, ist nicht in der Lage, brauchbare Reformvorschläge zu unterbreiten. Eine Diskussion über eine Neuordnung von Risiko- und Lastenzuweisung im Sozialrecht ist aber unvermeidlich, wie wir meinen. Dabei steht außer Frage, daß jedem Menschen, unabhängig von seinem Alter und seinem Einkommen, die Unterstützung der Solidargemeinschaft in allen Fällen zukommen muß, in denen er selbst überfordert ist. Dieser umfassenden Versorgung der sogenannten großen Risiken muß aber auf der anderen Seite eine stärkere Inanspruchnahme des einzelnen für die übrigen Bereiche gegenüberstehen. Nicht alles, was der Gesundheit förderlich ist, muß und kann auch solidarisch finanziert werden. ({0}) Wer weiterhin glaubt, die Solidargemeinschaft müsse für jede Befindlichkeitsstörung und für die Förderung des allgemeinen Wohlbefindens zuständig sein oder bleiben, riskiert letztendlich den Kollaps der solidarischen Krankenversicherung. Der Sozialstaat ist überfordert, wenn pausenlos Solidarität gepredigt, dabei aber das unverzichtbare Gegenstück der Solidarität, nämlich die Subsidiarität, außer acht gelassen wird. Was wir brauchen, ist ein Umdenken aller Beteiligten, auch eine Bewußtseinsänderung in der Bevölkerung. Das ist wahr. Deswegen sei es kurz gesagt: Wir stehen vor einer Richtungsentscheidung. Genau über diesen Ansatz wollten wir mit der SPD im Vermittlungsausschuß, Herr Professor Pfaff, diskutieren. Wir haben aber noch nicht einmal den Einstieg in eine solche Diskussion geschafft, und auch das Sofortprogramm der SPD, das heute vorgelegt worden ist, enthält dazu keine einzige Aussage. Aber auch unabhängig von dieser Richtungsentscheidung, zu der die SPD anscheinend nicht fähig ist, lassen andere Punkte des Sofortprogramms erkennen, daß eine Verständigung mit Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, nicht möglich erscheint. Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, sich von Phantomen zu lösen. Wolfgang Lohmann ({1}) Seit der Verabschiedung des Gesundheitsstrukturgesetzes 1992 beschwören Sie im Einklang mit einem Teil der Krankenkassen die Listenmedizin. Selbstverständlich finden wir in Ihrem Papier die Forderung, die Streichung der Positivliste rückgängig zu machen und dadurch eine Qualitätsverbesserung in einem 6 Milliarden DM umfassenden Marktsegment herbeizuführen. Das soll angeblich zu Einsparungen von mindestens 2 Milliarden DM führen. Ich nenne das Irreführung der Öffentlichkeit, Herr Kirschner. Denn ehrlich wäre es, wenn Sie der Bevölkerung sagen würden: Wir streichen alle diese Arzneimittel aus dem Pflichtenkatalog der gesetzlichen Krankenversicherung, und Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, haben das in Zukunft selbst zu bezahlen. Klartext: 100 Prozent Zuzahlung für Kranke und Behinderte, die diese Medikamente weiterhin wollen oder benötigen. Gleichzeitig müßten Sie aber die Ärzte verpflichten, nicht auf andere Arzneimittel auszuweichen, so sie denn kostenträchtiger sind. Wie ist nun unsere Position? Ich sehe es nicht als Aufgabe der Politik an, Arzneimittel in angeblich wirtschaftliche und angeblich unwirtschaftliche zu unterteilen. Es ist die Aufgabe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, eine Qualitätsprüfung vorzunehmen. Es ist anschließend Aufgabe des Arztes, den Versicherten bei Bedarf das notwendige Medikament zu verschreiben. ({2}) Es ist und bleibt die Aufgabe des Arztes, den Patienten gegebenenfalls davon zu überzeugen, daß er ein über lange Jahre eingenommenes Medikament eigentlich nicht benötigt. Aus dieser Verantwortung wird ihn die Politik nicht mit einer Liste entlassen. Ich bin jedenfalls dazu nicht bereit. ({3}) Fazit also: Es gibt schon grundsätzliche Differenzen zwischen Koalition und Opposition. Außerdem muß man, wenn man die Presse und sonstige Massenmedien aufmerksam verfolgt, sagen: Es geht in Ihrer Fraktion munter zu. Rudolf Scharping und Rudolf Dreßler fordern die unverzügliche Stillegung von 40 000 Krankenhausbetten. ({4}) - 40 000. Hier muß doch die Frage erlaubt sein, warum man sich nicht schon längst mit den SPD-Ministerpräsidenten zusammengesetzt hat, die für die Umsetzung dieses Vorschlags zuständig sind. Die Mehrheit der SPD-Fraktion hat diesen möglichen Konflikt mit den Ländern natürlich sofort erkannt und diese Forderung schnell aus der Endfassung des Papiers gestrichen. Fazit: Der Öffentlichkeit wird eine abgestimmte Haltung zwischen SPD-Bundestagsfraktion und SPD-Ländern vorgegaukelt, die es offensichtlich nicht gibt. Ich nenne das wieder Irreführung der Öffentlichkeit. Auch Sie, Herr Kollege Kirschner - er telefoniert gerade -, beteiligen sich an solchen Desinformationen. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Ich weiß, Herr Kollege Lohmann, Sie wollen nicht. Aber ich muß Sie fragen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich antworte darauf: Ich will auch wirklich nicht.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Er will nicht.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er will nicht, ist einfach dickköpfig heute, Herr Professor. Er will einfach nicht. ({0}) Ich will, wenn ich will, aber nicht, wenn Sie wollen. Herr Kirschner, ich hatte Desinformationen. In einem Aufsatz von Ihnen lese ich: Dem Finanzierungsproblem auf der Einnahmenseite stehen Unwirtschaftlichkeiten und Versorgungsdefizite im Gesundheitssystem gegenüber. Beispiele für unzweckmäßige, unnötige oder unwirtschaftliche Gesundheitsleistungen sind die immer noch vorhandenen Fehlbelegungen im Krankenhaus. Ich frage Sie: Warum haben Sie diese Passage aus Ihrem Papier gestrichen, wenn das, was Sie sagen, richtig ist, was ich gar nicht bestreiten will? ({1}) - Ja natürlich, sonst könnte ich nicht daraus zitieren. Mit dem Beitragsentlastungsgesetz löst die Koalition genau dieses Problem. Mit einer von Ihnen bekämpften generellen Absenkung der Pflegesätze um jeweils 1 Prozent in den nächsten drei Jahren wollen wir die durch die Einführung der Pflegeversicherung abgebaute Fehlbelegung mit einem Gesamtvolumen von 2,4 Milliarden DM in Ausgabensenkungen der Krankenkassen wiederfinden. Wir würden sie nicht wiederfinden, wenn wir sie nicht erzwungen hätten. Während Klaus Kirschner also einerseits vorhandene Fehlbelegungen feststellt, kam er in der gestrigen Pressekonferenz zu dem Ergebnis - ich zitiere Sie erneut; das ist alles veröffentlicht worden -: Die vorgegebenen Einspareffekte des sogenannten Beitragsentlastungsgesetzes sind absolut unrealistisch. Allein die hier angelegten Luftbuchungen betragen rund 4,2 Milliarden DM. Was gilt denn nun eigentlich: Fehlbelegungen oder Luftbuchungen? Es kann wohl nur eines von beiden richtig sein. ({2}) Wolfgang Lohmann ({3}) Vielleicht machen Sie es gleich, wenn Sie sprechen, etwas konkreter. Meine Damen und Herren, es sollte niemand die Hoffnung hegen, wir könnten uns mit einer Richtungsentscheidung nicht durchsetzen. Als Beleg dafür können wir auf insgesamt fünf Gesetze verweisen - an der Spitze das Beitragsentlastungsgesetz -, die wir binnen Jahresfrist im Alleingang durchgesetzt haben. Wie schon gesagt: Wir haben keinen Anlaß, von unseren festgelegten Grundsätzen Stärkung - manchmal auch Vorfahrt genannt - für die Selbstverwaltung und Stärkung der Eigenverantwortung abzuweichen. Folgerichtig sollen alle Maßnahmen und Regelungen des GKV-Weiterentwicklungsgesetzes, so sie zustimmungsfrei zu gestalten sind, noch einmal auf den Weg gebracht werden. Unser gesetztes Ziel wollen wir mit der Ausweitung der Versichertenrechte und der Ausweitung der Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung im Vertrags- und Leistungsbereich erreichen. Zudem - das meinen wir jedenfalls - bieten wir Antworten auf nicht gelöste Probleme im stationären Bereich und neue Wege in der zahnmedizinischen Versorgung. Kern des Ganzen - deswegen die heutige Debatte über das als Vorschaltgesetz bezeichnete Gesetz - ist die Erschwerung von Beitragserhöhungen. Die Eckpunkte, die wir veröffentlicht haben, werden in drei Gesetzen umgesetzt. Heute debattieren wir über das 1. GKV-Neuordnungsgesetz. Das 2. GKV-Neuordnungsgesetz folgt Mitte November; wir werden Sie also mit dem, was wir machen, wieder sehr anstrengen. Die Neuauflage des Psychotherapeutengesetzes soll noch in diesem Jahr eingebracht werden. Damit komme ich zum heutigen Debattengegenstand, dem 1. GKV-Neuordnungsgesetz, das eigentlich nur vier Regelungen enthält, die ich kurz nenne. Die Kasse, die zukünftig Beitragserhöhungen vornimmt, muß gleichzeitig bestehende Zuzahlungen erhöhen. Darin sehen wir eine hohe Hürde für Beitragsanhebungen. Ein Beispiel: Wenn die Kasse X den Beitragssatz um 0,4 Prozentpunkte anhebt, dann hat das für die Versicherten die Konsequenz, daß für ein Medikament der Stufe 1 statt 4 DM 8 DM gezahlt werden müssen und im Krankenhaus in den ersten vierzehn Tagen die Zuzahlung pro Tag von 12 auf 16 DM erhöht wird. Wir sind der festen Überzeugung, daß eine solche Methode die Krankenkassen dazu veranlassen wird, alles, aber auch alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, endlich ihre Schularbeiten zu machen, um dort, wo sie es können, auch zu Kosteneinsparungen zu kommen, das heißt die Wirtschaftlichkeitsreserven auszuschöpfen, was sie bisher bei weitem nicht getan haben. ({4}) Wir werden sogar den Druck auf die Krankenkassen noch erhöhen, und zwar dadurch, daß den Versicherten für diesen Fall ein außerordentliches Kündigungsrecht eingeräumt wird. Das heißt, im Fall von Beitragserhöhungen kann der Versicherte mit dem kurzfristigen Austritt aus dieser Krankenkasse reagieren. Unser Vorschlag der konditionierten Beitragssatzanhebung kann natürlich zu zusätzlichen Belastungen der Versicherten führen, wobei die chronisch Kranken von den erhöhten Zuzahlungen besonders betroffen wären. Es war deswegen unser besonderes Anliegen, eine Lösung für diese Versichertengruppe zu finden. Ein genereller Verzicht auf sämtliche Zuzahlungen kam auf Grund der bekannten Finanzlage der Krankenversicherungen nicht in Frage. Unsere Lösung besteht darin, den sozialen Schutz chronisch Kranker dadurch zu verbessern, daß, wenn sie wegen derselben Krankheit länger als ein Jahr in Behandlung sind, die Obergrenze der Überforderungsklausel - Sie kennen das; derzeit liegt sie bei 2 Prozent - vom zweiten Jahr an auf 1 Prozent gesenkt wird. Das ist ein wesentlicher Schritt gegenüber denjenigen, die immer schon - und nicht immer zu Unrecht - beklagt haben, daß die chronisch Kranken von Zuzahlungen logischerweise immer am stärksten betroffen sind. Die Reaktionen der Kassenfunktionäre auf unsere Eckpunkte und den hier vorliegenden Gesetzentwurf sind mit dem Wort „heftig" sehr milde umschrieben. ({5}) - Ich befleißige mich einer vornehmen Ausdrucksweise, jedenfalls in diesem Hohen Hause hier. - Hochrangige Kassenfunktionäre drohen sogar gerichtliche Schritte an. Die Versichertenvertreter der Selbstverwaltung im Arbeitskreis der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung äußern sich wie folgt - ich zitiere das einmal; die Opposition wird jetzt jubeln, weil Sie das so ähnlich sehen -: „staatlicher Dirigismus", „kurzatmige Kostendämpfungsgesetze", „Zerstörung des Solidaritätsprinzips in der GKV", „unerträgliche Risikoselektion", „Störung des Arzt-Patienten-Verhältnisses". Alles das, was Sie gleich sagen werden, ({6}) haben die bereits gesagt. Man weiß nicht, wer von wem abgeschrieben hat. Jedenfalls ist es schon einmal gesagt worden. Dies ist - das ist das eigentlich Interessante - exakt dasselbe Vokabular, das von Leistungserbringern im Jahr 1992 bei der Entstehung des Gesundheitsstrukturgesetzes verwendet wurde, was wir ja, Sie werden sich entsinnen, gemeinsam verabschiedet haben. Wir wissen auch: Alle diese angedrohten Horrorentwicklungen sind eben nicht eingetreten. Das ist das Drohpotential, was immer wieder vorgebracht wird. Auf die Selbstdarstellung der Krankenkassen - auch das ist wieder vorsichtig ausgedrückt - wird, so vermute ich einmal, Minister Seehofer in seinem Wolfgang Lohmann ({7}) Beitrag noch näher eingehen. Persönlich halte ich das Verhalten und die Äußerungen der Kassenfunktionäre für, gelinde gesagt, enttäuschend. Wir bieten den Krankenkassen, wie oft gefordert, zahlreiche zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten an. Man kann nicht oft genug betonen, daß es sich dabei um Angebote handelt. Keine Kasse ist gezwungen, von diesen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Nur wer will, kann Selbstbehalte und Beitragsrückgewähr in seinen Satzungen vorsehen. Mit dem 2. GKV-Neuordnungsgesetz - das ist heute nicht Gegenstand der Verhandlungen - werden wir den Krankenkassen die Möglichkeit einräumen, fünf bisherige Pflichtleistungen jetzt durch Satzung nach Art und Inhalt gestalten zu können. Das einzige, was den Krankenkassen im Moment einfällt, ist die Drohung mit der Streichung dieser Leistungen. So ist es nicht verwunderlich, daß sich inzwischen Logopäden- und Ergotherapeutenverbände an die Politik gewandt haben, weil sie Sorge haben, daß die Krankenkassen die Streichung dieser Leistungen wahrmachen. Ich habe diese Sorge nicht. Denn auch alle Versichertenvertreter müßten einer solchen Maßnahme zustimmen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Lutz Freitag als Versichertenvertreter solch einer unsozialen Maßnahme, dem völligen Streichen einer Gestaltungsleistung, zustimmen würde. Denn dann würde er selbst Verantwortung für das tragen, was er „Zerstörung der solidarischen Krankenversicherung" nennt. Ich bin gespannt, wie er reagieren wird. Das Empörende an den Äußerungen der letzten Tage dieser Funktionäre ist, daß nicht ein einziger konkreter Nachweis dafür vorgelegt wurde - obwohl wir und vor allem der Minister immer wieder darum gebeten haben -, daß die Krankenkassen mit bereits vorhandenen Mitteln gespart haben: kein Wort zur Einschränkung bei freiwilligen Leistungen, kein Wort zur Rückforderung an die Leistungserbringer wegen zu hoher Grundlohnschätzung, ({8}) kein Wort zur Überschreitung des Arzneimittelbudgets, kein Wort zur nicht genutzten Wirtschaftlichkeitsprüfung, kein einziger Beitrag zur Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven im System. ({9}) - Ich kann lauter reden, ich habe ja das Mikrophon. Lediglich die Forderung nach einem ausgabenbezogenen Globalbudget wird in schönem Einvernehmen mit Ihnen erhoben. Keine Information der Öffentlichkeit darüber, daß eine Überschreitung dieses Globalbudgets erst im ersten Quartal des Folgejahres festgestellt werden kann; kein Wort dazu, wie man diese Überschreitung wieder zurückholen will; keine Information über den Umstand, daß eine entsprechende Rechnungsführung bei den Kassen im Zeitalter des Computers zum großen Teil überhaupt nicht existiert. Damit fehlt jedes Frühwarnsystem, das mögliche Überschreitungen frühzeitig anzeigen könnte.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Lohmann, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr!

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich am Ende, wenn auch nicht - Herr Kirschner würde sich das wünschen - am Ende meiner Kräfte. ({0}) Deshalb setzen wir konsequent bei der Einnahmeseite an. Wir werden diese Vorstellungen auch durchsetzen. Ich appelliere an dieser Stelle an die Verantwortlichen in der gesetzlichen Krankenversicherung, jetzt nicht ihr Heil im Schulterschluß mit der Opposition zu suchen, ({1}) sondern an diesen Vorschlägen und bei deren Umsetzung konkret mitzuarbeiten. Nur so kann letztlich das oft in den Raum gestellte Zweiklassensystem vermieden und eine vernünftige Regelung gefunden werden. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel, SPD.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lohmann, im Gesundheitswesen, so habe ich Anfang der Woche Minister Seehofer in einem „ARD"-Interview sagen hören, gehe es nicht so einfach zu wie beim Schafskopfspiel. Alles sei etwas komplizierter. Da haben Sie, Herr Lohmann, Ihren Minister heute widerlegt. Bei Ihnen hörten sich die Gründe für die Probleme der Krankenversicherung und ihre Lösungen ganz einfach an. Sie lösen nämlich überhaupt keine Probleme mit Ihren Vorschlägen. ({0}) An Sie gerichtet, Herr Minister Seehofer: Ich kenne Ihre Künste beim Schafskopfspiel nicht, Ihre Kunst als Gesundheitsminister kennt jedoch inzwischen jeder. Man muß leider feststellen, das Gesundheitswesen scheint etwas zu kompliziert zu sein. Vielleicht wären Sie besser beim Schafskopfspiel geblieben. ({1}) Dann wäre uns allen jedenfalls das heillose Chaos erspart worden, in das Sie unser Gesundheitswesen mittlerweile gestürzt haben. ({2}) Es ist genau das von Ihnen und der übrigen Bundesregierung angerichtete Chaos, das Ihr heute zur ersten Lesung vorliegendes GKV-NeuordnungsgeRegina Schmidt-Zadel setz - wieder so ein schöner Ausdruck - so fragwürdig macht. Es ist dieses Chaos und Ihr Herumwurschteln, das uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten dazu veranlaßt hat, mit unserem Sofortprogramm zur Stabilisierung der Finanzentwicklung in den Krankenkassen eine kompetente Alternative vorzulegen. ({3}) Sie unternehmen mit Ihrem Gesetz den völlig untauglichen Versuch, etwas neu zu ordnen, obwohl Sie die Unordnung zuvor selbst herbeigeführt haben. Das ist auch sehr gut. ({4}) Dieses Gesetz ist nichts weiter als ein Baron-Münchhausen-Gesetz. Sie wollen sich am eigenen Schopf aus einem selbstgemachten Sumpf ziehen. ({5}) Warum stehen die gesetzlichen Krankenkassen eigentlich vor einem Milliardendefizit? Wenn es nach Ihnen geht, sind immer die Krankenkassen schuld. Sie haben das gerade auch ausgeführt: zu hohe Verwaltungsaufgaben, zuviel Schnickschnack und Verschwendung. Das ist alles ganz einfach, so wie beim Schafskopf. Nein, meine Damen und Herren, die Wahrheit sieht ganz anders aus. Da ist zunächst einmal die seit Jahren ansteigende Massenarbeitslosigkeit, gegen die diese Bundesregierung nichts unternimmt und die den Krankenkassen Beitragsverluste in Milliardenhöhe beschert. ({6}) Da ist die Abwälzungspolitik der Bundesregierung, die der gesetzlichen Krankenversicherung Kosten aufbürdet, die sie zuvor aus der Arbeitslosen- und Rentenversicherung herausgerechnet hat. ({7}) 5 Milliarden DM haben Sie mit Ihrem Verschiebebahnhof allein in den letzten Jahren der GKV ans Bein gebunden. Sie haben mit Ihrem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz den Kassen zwangsweise eine Beitragssenkung um 0,4 Prozentpunkte und damit weitere Einnahmeverluste beschert. Gleichzeitig verschulden Sie mit diesem Gesetz auch noch Beitragsmindereinnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden DM aus der Krankenversicherung der Rentner. Luftbuchungen hat Klaus Kirschner das genannt. Das sogenannte Beitragsentlastungsgesetz macht nach unseren Berechnungen zusätzlich über 4 Milliarden DM aus, wahrlich Luftbuchungen. ({8}) Das sind Milliarden aus den Taschen der Versicherten, die Sie der Pharmaindustrie auf den Gabentisch legen, indem Sie ohne Not die bewährten Festpreise bei patentgeschützten Medikamenten wieder aufheben. Herr Minister, hier liegen doch die wahren Gründe für die Milliardendefizite der gesetzlichen Krankenversicherung, hier werden doch in Wahrheit die Milliarden in den Sand gesetzt. Genau hier hätten Sie den Hebel mit Ihrem sogenannten Neuordnungsgesetz ansetzen müssen; denn nichts bedarf mehr und dringender einer Neuordnung, Herr Minister, als Ihr gesundheitspolitischer Scherbenhaufen, den wir zur Zeit vor uns liegen haben. ({9}) Sie wollen die Krankenversicherung nicht neu ordnen, sondern Sie wollen eine andere Ordnung schaffen. Sie wollen unser bewährtes Gesundheitswesen in eine andere Ordnung bringen. Ihr 1. GKV-Neuordnungsgesetz geht genau in diese Richtung. Den ersten Schritt haben Sie bereits mit dem vor vier Wochen verabschiedeten sogenannten Beitragsentlastungsgesetz vollzogen. Mit der gesetzlich verordneten Beitragssenkung um 0,4 Prozentpunkte haben Sie zwei wichtigen und bewährten Prinzipien der GKV, nämlich der Selbstverwaltung und der Finanzhoheit der gesetzlichen Krankenkassen, schweren Schaden zugefügt. ({10}) Mit dem gleichen Gesetz wollen Sie eine weitere Bresche ins System schlagen, indem Sie die Gesundheitsförderung auf die betriebliche Prävention beschränken. Die außerbetriebliche Prävention liquidieren Sie aus dem Sozialgesetzbuch. Diese sollen die Kassen nur noch mit Versichertengeldern finanzieren. Ergebnis: Die Prävention ist der erste Bereich, in dem die solidarische, hälftige Finanzierung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht mehr existiert. Diesen Weg, den Sie mit dem sogenannten Beitragsentlastungsgesetz geebnet haben, ({11}) bauen Sie heute mit Ihrem ersten sogenannten Neuordnungsgesetz zur Straße aus, ehe Sie dann mit der weiteren Umsetzung Ihrer Eckpunkte zur dritten Stufe der Gesundheitsreform quasi auf der Autobahn unser bewährtes Gesundheitssystem im Eiltempo verlassen. ({12}) Mit dem heute zur Beratung anstehenden Neuordnungsgesetz wollen Sie die gesetzlichen Krankenkassen zur Beitragsstabilität zwingen, indem Sie Beitragserhöhungen mit einer Erhöhung der Zuzahlungen koppeln und gleichzeitig die sofortige Kündigungsmöglichkeit durch den Versicherten einräumen. Was da angeblich so clever aussieht, ist auf den zweiten Blick ({13}) ein Eingeständnis gesundheitspolitischer Hilflosigkeit. Weil Sie die Kosten nicht in den Griff bekommen, nehmen Sie mit diesem Gesetz die Krankenkassen gleichsam in Geiselhaft. Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, der Weg, den Sie da beschreiten, führt Sie heraus aus unserem solidarischen Krankenversicherungssystem. Sie geben die hälftige Finanzierung auf. Sie opfern das Prinzip der Sachleistung. Sie führen Wahl- und Regelleistungen ein. Sie erhöhen die Zuzahlungen. ({14}) Sie treiben die gesetzlichen Kassen in einen gnadenlosen Konkurrenz- und Verdrängungskampf. Sie stürzen vor allen Dingen die Versicherten so in Unsicherheit, daß vor jedem Arztbesuch ein Besuch bei der Verbraucherzentrale notwendig wird. ({15}) - Die kommen auch noch, keine Angst! - Ich appelhere daher an Sie: Kehren Sie um! Lassen Sie uns gemeinsam - darauf lege ich Wert - unser bewährtes System der gesetzlichen Krankenversicherung reformieren und verbessern! Es stecken mehr Chancen zum Sparen im System als außerhalb. Wir haben Ihnen das mit unserem Sofortprogramm deutlich gemacht und vorgerechnet. Sie können Milliarden sparen, wenn endlich das umgesetzt wird, was Fachleute - übrigens auch aus Ihrem Haus, Herr Minister - seit langem fordern, nämlich den Vorrang für den Hausarzt. Es muß Schluß sein mit der Unsitte, für jedes Wehwehchen direkt zum teuren Facharzt zu gehen. Es muß wieder zur Regel werden, daß der Hausarzt in begründeten Fällen die Patienten zum Facharzt überweist. Dazu muß die Patienten-Chipkarte, die das Übel mit verursacht hat, so geändert werden, daß nur noch ein direkter Facharztbesuch je Quartal möglich ist. Dazu muß aber auch der Hausarzt gestärkt werden. Er muß bei der Budgetierung der ambulanten ärztlichen Versorgung so berücksichtigt werden, daß sich seine zentrale Rolle bei der ärztlichen Versorgung in der Höhe des Budgets auch widerspiegelt. Ein ausreichendes Budget ist für den Hausarzt lebenswichtig. Ein ausreichendes Hausarztbudget wiederum ist für die GKV lebenswichtig. Die sektorale Budgetierung, die Ende letzten Jahres ausgelaufen ist, muß mit Beginn des nächsten Jahres durch ein Globalbudget bei den Krankenkassen ersetzt werden. ({16}) Nur mit diesem Globalbudget sind die Kassen in der Lage, ihre gesamten Ausgaben zu steuern und ihre Maßnahmen zur Ausgabenbegrenzung zu koordinieren. ({17}) Trotz strikten Sparens werden auf absehbare Zeit die fehlenden Einnahmen das Hauptproblem der Krankenkassen bleiben. Die Gründe habe ich zu Beginn genannt. Es kommt darauf an, die Einnahmenseite der Krankenkassen zu stärken. ({18}) Die SPD schlägt daher vor - hören Sie gut zu -, die Grenze für die Beitragsbemessung und für die Versicherungspflicht auf das Niveau der Rentenversicherung anzuheben. ({19}) Dadurch wird nicht nur die Einnahmenseite gestärkt, es wird gleichzeitig auch eine Beitragsentlastung möglich. Wenn zusätzlich auch noch die geringfügig Beschäftigten sozialversicherungspflichtig werden, könnte der durchschnittliche Beitragssatz noch einmal um 0,1 Prozent gesenkt werden. Mit diesen kurzfristig zu realisierenden Maßnahmen, zu denen ich ausdrücklich auch die Rücknahme der Kürzung der Lohnfortzahlung nenne, bringt dies den Kassen 1 Milliarde DM zurück. So können Sie innerhalb des Systems sinnvoll und effektiv sparen. ({20}) - Herr Lohmann, Sie haben nicht einmal unsere Papiere gelesen. ({21}) Die SPD hat Ihnen für eine weitere Reform des Gesundheitswesens mit unserem Gesetzentwurf eine Grundlage vorgelegt, auf der eine mittel- und langfristige Sanierung des Gesundheitswesens möglich ist. Wir wollen hier in Bonn keine Spielereien mehr. Wir wollen Ernsthaftigkeit. Wir wollen auch nicht Schafskopf spielen. Wir wollen etwas für die Patientinnen und Patienten tun. ({22}) Kehren Sie doch zu diesen Grundlagen zurück! Bleiben Sie bei der solidarischen Krankenversicherung! Stoppen Sie Ihren Weg - das ist wirklich eine Aufforderung an Sie - in die unsolidarische privat finanzierte Zweiklassenmedizin, die Sie vorhaben! Das ist der Weg, den Sie beschreiten. Hier machen wir nicht mit. ({23})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich komme noch einmal zu Tagesordnungspunkt 4, Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Strafrechtsänderungsgesetz, zurück. Ich gebe das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt. Es sind 648 Stimmen abgegeben worden. Mit Ja haben 320, mit Nein haben 327 Abgeordnete gestimmt. Es gab eine Enthaltung. Die Beschlußempfehlung ist abgelehnt. ({0}) Vizepräsident Hans Klein Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 645 ja: 319 nein: 325 enthalten: 1 Ja SPD Brigitte Adler Gerd Andres Robert Antretter Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Klaus Barthel Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Rudolf Bindig Lilo Blunck Arne Börnsen ({1}) Anni Brandt-Elsweier Dr. Eberhard Brecht Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Hans Martin Bury Hans Büttner ({2}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Peter Conradi Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Deichmann Karl Diller Dr. Marliese Dobberthien Peter Dreßen Rudolf Dreßler Freimut Duve Ludwig Eich Peter Enders Petra Ernstberger Annette Faße Elke Ferner Lothar Fischer ({3}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Dagmar Freitag Anke Fuchs ({4}) Katrin Fuchs ({5}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Norbert Gansel Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Günter Graf ({6}) Angelika Graf ({7}) Dieter Grasedieck Achim Großmann Karl Hermann Haack ({8}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Dr. Liesel Hartenstein Klaus Hasenfratz Dieter Heistermann Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Monika Heubaum Uwe Hiksch Reinhold Hiller ({9}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({10}) Frank Hofmann ({11}) Ingrid Holzhüter Erwin Horn Eike Hovermann Lothar Ibrügger Wolfgang Ilte Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({12}) Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ernst Kastning Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Hans-Ulrich Klose Dr. Hans-Hinrich Knaape Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Nicolette Kressl Volker Kröning Thomas Krüger Horst Kubatschka Eckart Kuhlwein Konrad Kunick Christine Kurzhals Werner Labsch Brigitte Lange Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Klaus Lohmann ({13}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({14}) Winfried Mante Dorle Marx Ulrike Mascher Christoph Matschie Ingrid Matthäus-Maier Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Herbert Meißner Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({15}) Ursula Mogg Michael Müller ({16}) Jutta Müller ({17}) Christian Müller ({18}) Volker Neumann ({19}) Gerhard Neumann ({20}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Doris Odendahl Günter Oesinghaus Leyla Onur Manfred Opel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Willfried Penner Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Dr. Eckhart Pick Joachim Poß Rudolf Purps Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Otto Reschke Dr. Edelbert Richter Günter Rixe Reinhold Robbe Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Günter Schluckebier Horst Schmidbauer ({21}) Ulla Schmidt ({22}) Dagmar Schmidt ({23}) Wilhelm Schmidt ({24}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({25}) Dr. Emil Schnell Walter Schöler Ottmar Schreiner Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({26}) Brigitte Schulte ({27}) Reinhard Schultz ({28}) Volkmar Schultz ({29}) Ilse Schumann Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({30}) Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold Bodo Seidenthal Lisa Seuster Horst Sielaff Erika Simm Johannes Singer Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Dietrich Sperling Jörg-Otto Spiller Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Dr. Peter Struck Jörg Tauss Dr. Bodo Teichmann Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Wolfgang Thierse Dietmar Thieser Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Siegfried Vergin Günter Verheugen Ute Vogt ({31}) Karsten D. Voigt ({32}) Hans Georg Wagner Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({33}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({34}) Jochen Welt Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz Berthold Wittich Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben Hanna Wolf ({35}) Heidi Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Gila Altmann ({36}) Marieluise Beck ({37}) Volker Beck ({38}) Angelika Beer Matthias Berninger Annelie Buntenbach Amke Dietert-Scheuer Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Andrea Fischer ({39}) Joseph Fischer ({40}) Rita Grießhaber Gerald Häfner Antje Hermenau Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Manuel Kiper Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Vera Lengsfeld Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller ({41}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Egbert Nitsch ({42}) Cem Özdemir Gerd Poppe Dr. Jürgen Rochlitz Halo Saibold Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({43}) Vizepräsident Hans Klein Wolfgang Schmitt ({44}) Waltraud Schoppe Werner Schulz ({45}) Marina Steindor Christian Sterzing Manfred Such Dr. Antje Vollmer Ludger Volmer Helmut Wilhelm ({46}) Margareta Wolf ({47}) F.D.P. Gisela Frick Birgit Homburger Jürgen Koppelin Sabine LeutheusserSchnarrenberger Dr. Irmgard Schwaetzer PDS Wolfgang Bierstedt Petra Bläss Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Dr. Ludwig Elm Dr. Ruth Fuchs Andrea Gysi Dr. Gregor Gysi Hanns-Peter Hartmann Dr. Uwe-Jens Heuer Dr. Barbara Höll Gerhard Jüttemann Dr. Heidi Knake-Werner Rolf Köhne Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth Dr. Günther Maleuda Manfred Müller ({48}) Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Steffen Tippach Klaus-Jürgen Warnick Gerhard Zwerenz Nein CDU/CSU Ulrich Adam Peter Altmaier Jürgen Augustinowitz Dietrich Austermann Heinz-Günter Bargfrede Franz Peter Basten Dr. Wolf Bauer Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({49}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Rudolf Braun ({50}) Paul Breuer Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({51}) Hartmut Büttner ({52}) Dankward Buwitt Manfred Carstens ({53}) Peter Harry Carstensen ({54}) Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Gertrud Dempwolf Albert Deß Renate Diemers Wilhelm Dietzel Werner Dörflinger Hansjürgen Doss Dr. Alfred Dregger Maria Eichhorn Wolfgang Engelmann Rainer Eppelmann Heinz Dieter Eßmann Horst Eylmann Anke Eymer Use Falk Jochen Feilcke Dr. Karl H. Fell Ulf Fink Dirk Fischer ({55}) Leni Fischer ({56}) Klaus Francke ({57}) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich Erich G. Fritz Hans-Joachim Fuchtel Michaela Geiger Norbert Geis Dr. Heiner Geißler Michael Glos Wilma Glücklich Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Joachim Gres Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl Hermann Gröhe Claus-Peter Grotz Manfred Grund Horst Günther ({58}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({59}) Gerda Hasselfeldt Otto Hauser ({60}) Hansgeorg Hauser ({61}) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Manfred Heise Dr. Renate Hellwig Ernst Hinsken Peter Hintze Josef Hollerith Dr. Karl-Heinz Hornhues Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Peter Jacoby Susanne Jaffke Georg Janovsky Helmut Jawurek Dr. Dionys Jobst Dr.-Ing. Rainer Jork Michael Jung ({62}) Ulrich Junghanns Dr. Egon Jüttner Dr. Harald Kahl Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Volker Kauder Peter Keller Eckart von Klaeden Dr. Bernd Klaußner Hans Klein ({63}) Ulrich Klinkert Dr. Helmut Kohl Hans-Ulrich Köhler ({64}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Hartmut Koschyk Manfred Koslowski Thomas Kossendey Rudolf Kraus Wolfgang Krause ({65}) Andreas Krautscheid Heinz-Jürgen Kronberg Dr.-Ing. Paul Krüger Reiner Krziskewitz Dr. Hermann Kues Werner Kuhn Dr. Karl A. Lamers ({66}) Karl Lamers Helmut Lamp Armin Laschet Herbert Lattmann Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Werner Lensing Christian Lenzer Peter Letzgus Editha Limbach Walter Link ({67}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({68}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({69}) Julius Louven Sigrun Löwisch Dr. Michael Luther Erich Maaß ({70}) Dr. Dietrich Mahlo Erwin Marschewski Günter Marten Dr. Martin Mayer ({71}) Wolfgang Meckelburg Rudolf Meinl Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Rudolf Meyer ({72}) Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Elmar Müller ({73}) Engelbert Nelle Bernd Neumann ({74}) Johannes Nitsch Claudia Nolte Dr. Rolf Olderog Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({75}) Dr. Gerhard Päselt Dr. Peter Paziorek Hans-Wilhelm Pesch Ulrich Petzold Anton Pfeifer Angelika Pfeiffer Dr. Gero Pfennig Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Dr. Winfried Pinger Ronald Pofalla Dr. Hermann Pohler Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Dieter Pützhofen Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Rolf Rau Helmut Rauber Peter Harald Rauen Otto Regenspurger Christa Reichard ({76}) Klaus Dieter Reichardt ({77}) Dr. Bertold Reinartz Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Roland Richter Roland Richwien Dr. Norbert Rieder Dr. Erich Riedl ({78}) Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({79}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Adolf Roth ({80}) Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Dr. Jürgen Rüttgers Roland Sauer ({81}) Ortrun Schätzle Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Ulrich Schmalz Bernd Schmidbauer ({82}) Andreas Schmidt ({83}) Hans-Otto Schmiedeberg Hans Peter Schmitz ({84}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Vizepräsident Hans Klein Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Dr. Dieter Schulte ({85}) Gerhard Schulz ({86}) Frederick Schulze Diethard Schütze ({87}) Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Wilfried Seibel Heinz-Georg Seiffert Rudolf Seiters Johannes Selle Bernd Siebert Jürgen Sikora Johannes Singhammer Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Dr. Gerhard Stoltenberg Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Michael Stübgen Egon Susset Dr. Rita Süssmuth Michael Teiser Dr. Klaus Töpfer Gottfried Tröger Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gunnar Uldall Wolfgang Vogt ({88}) Dr. Horst Waffenschmidt Dr. Theodor Waigel Alois Graf von Waldburg-Zeil Dr. Jürgen Warnke Kersten Wetzel Hans-Otto Wilhelm ({89}) Gert Willner Bernd Wilz Willy Wimmer ({90}) Matthias Wissmann Dr. Fritz Wittmann Dagmar Wöhrl Michael Wonneberger Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Cornelia Yzer Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer Wolfgang Zöller F.D.P. Ina Albowitz Dr. Gisela Babel Hildebrecht Braun ({91}) Günther Bredehorn Jörg van Essen Dr. Olaf Feldmann Paul K. Friedhoff Horst Friedrich Rainer Funke Hans-Dietrich Genscher Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({92}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Walter Hirche Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer Detlef Kleinert ({93}) Roland Kohn Dr. Otto Graf Lambsdorff Uwe Lühr Günther Friedrich Nolting Dr. Rainer Ortleb Lisa Peters Dr. Klaus Röhl Helmut Schäfer ({94}) Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Hermann Otto Sohns Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Jürgen Türk ({95}) Enthalten Cornelia Schmalz-Jacobsen Wir kommen zurück zu Tagesordnungspunkt 5 und Zusatzpunkt 10. Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Herr Lohmann, ich komme kurz auf Ihre Rede zu sprechen. Daß Sie stolz darauf sind, jenseits des gesellschaftlichen Konsenses Gesetze durchzusetzen, zeugt meines Erachtens nur von Ignoranz und einem autokratischen Politikverständnis. ({0}) Herr Lohmann, die großen Risiken abzusichern war vor 150 Jahren bitterste Notwendigkeit. Heute, an der Schwelle zum Jahr 2000, hat sich Gott sei Dank ein ganzheitliches Gesundheitsverständnis durchgesetzt. Es sträubt sich in mir, wenn ich mich als Gesundheitspolitikerin ständig mit falschen Kosten- und unsinnigen Standortargumenten auseinanderzusetzen habe, und zwar nur, weil diesem Gesundheitsminister ein Gesundheitswesen auf einem hohen zivilisatorischen Niveau, das als solches ein Ausdruck großer Standortqualität ist, ein Mißbrauchstatbestand schlechthin zu bedeuten scheint. Besonders unerträglich ist, daß die Fragen der zukunftsweisenden Solidarsysteme unter bewußter Leugnung ihrer systemimmanenten Reformpotentiale politisch dazu mißbraucht werden, das Sozialstaatsgebot zu unterminieren. Mit dumpfer Arbeitgeberrhetorik betreibt diese Regierung de facto die Substanzauszehrung der Solidarkassen. Ich werde Ihnen sagen, worin sich das zeigt. ({1}) - Die Dinge sind kompliziert. Mit Plumpheit, Plattheiten und vor allem mit Kürzungsexzessen macht man dieses hocheffiziente System kaputt. Das ist wohl wahr. ({2}) ({3}) Zur akuten Finanznot: Die genaue Bezifferung der Kosten der deutschen Einheit liefert uns die Regierung nicht. Aber daß mit den Geldern aus den Solidarkassen die Angleichung der Lebensverhältnisse im Osten geleistet wurde, daß ein hocheffizientes und wirkungsvolles Gesundheitswesen zerschlagen worden ist, das sehr kostenträchtig ist, fließt auch in die Entwicklung der Lohnnebenkostenquote ein. Diese Kosten benennen Sie nicht. Diese Kosten benennen Sie nicht. Ich glaube, es würde den Menschen wie Schuppen von den Augen fallen, wenn sie erfahren würden, wieviel sie darüber hinaus in die Solidargemeinschaft investiert haben für Bereiche, die eigentlich steuerzufinanzieren wären. Noch ein anderes: Die Regierung verschuldet die Defizite selber, indem sie die Pharmaindustrie subventioniert. An drei Punkten sei das gezeigt: Verzicht auf die Positivliste, Abschaffung der Festbetragsregelung für patentgeschützte Arzneien und Wegfall preisgünstiger Reimportarzneien. Gäbe es diese Gesetze nicht, gäbe es in den Kassen der Krankenkassen 3,5 Milliarden DM mehr pro Jahr. ({4}) Dazu kommen die Mehrbelastungen von etwa 5 Milliarden DM pro Jahr aus den bekannten Kostenabwälzungen der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung. Weil Sie die Staatsverschuldung drücken müssen - unter anderem zur Erfüllung der Kriterien von Maastricht -, wird mit den Solidarkassen Raubbau betrieben. Ein Weiteres ist die Pervertierung des Spargedankens durch die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dieser Fehlgriff kostet geschätzte Mindereinnahmen von 1 Milliarde DM. Welch bodenlose Frechheit, den Kassen Mißmanagement vorzuwerfen! Führt man sich vor Augen, daß Sie, Herr Seehofer, androhen, die Lohnnebenkostenquote auf Blockkonfrontationszeiten zurückzuführen, dann kann man guten Gewissens sagen, daß Sie die deutsche Vereinigung und die aktuellen Probleme der Massenarbeitslosigkeit dazu benutzen, die soziale Marktwirtschaft durch einen deutschen Thatcherismus abzulösen. Wir Grünen waren von diesen grassierenden Denkblockaden und diesen in-witzigen Sparobsessionen nie befallen. ({5}) Wir haben immer gesagt: Wenn die Gesundheitsinteressen der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt rücken, dann werden auch die Reformpotentiale deutlich. Wenn es sich bei der Politik um Ziele der Qualitätsverbesserung und Kosteneffizienz handeln und man mit ernstem Willen hinschauen würde, wo eigentlich die ökonomische Aushöhlung stattfindet, dann fände man auch die Reform- und Gesetzesnotwendigkeiten für die Hereinholung der 20 bis 30 Milliarden DM, die jährlich durch die verfehlte Strukturplanung im ambulanten und stationären Bereich verlorengehen. Aber dann geht man natürlich an ganz bestimmte Besitzstände, an die Sie nicht herangehen wollen. ({6}) Wir haben keine Scheu davor, sie zu benennen. Für eine solche Politik braucht man eigentlich nicht viel Mut. Aber man muß sich entscheiden, auf wessen Seite man steht. Der Gesundheitsminister hat das getan. Der mutige Lobbyknacker von einst hängt heute am Bändel derselben. Er bedient die Interessen der Pharmaindustrie. ({7}) Das wäre eigentlich zu belästern, wären die Konsequenzen für die Gesellschaft insgesamt und für die Kranken im besonderen nicht so fatal. Mit der Verknüpfung von Beitragssatzerhöhungen und mehr Selbstbeteiligung werden ausschließlich Kranke geprügelt. Wer jetzt für ein Medikament 3 DM zuzahlen muß, wird hernach etwa 7 DM zuzahlen müssen. Sie haben 125prozentige Steigerungsraten vorgesehen. Finden Sie das eigentlich in Ordnung? Noch vor einem Jahr wollten Sie, Herr Minister Seehofer, die Zuzahlungen doch abschaffen, weil sie gänzlich unsinnig und unsozial sind. ({8}) Wenn durch arme Kassen arme Versicherte vertrieben werden - Stichwort: Kassenwechsel -, wird die Monopolisierung der Kassenlandschaft forciert, aber in der Versorgungsstruktur wird überhaupt nichts optimiert. ({9}) Wir wissen doch, daß die Satzungs- und Wahlleistungen, wenn sie kommen, sofort die Leistungsausgrenzung nach sich ziehen. Was bedeutet das? Es heißt, wer arm ist, ist arm dran. Die Regierung spricht eine unmißverständliche Sprache. Eine Unterschichtendiskriminierung machen wir Grünen allerdings nicht mit. Während sich Besserverdienende außerhalb der Solidarpflicht in Privatkassen beheimaten, sprechen wir uns wirklich dafür aus, die Solidarpflichtigkeit und die Beitragspflichtigkeit zu erweitern. Insofern sind die Vorschläge, die heute vorgestellt wurden - auch die seitens der Sozialdemokratie -, jene, die wir schon vor über einem Jahr hier im Deutschen Bundestag eingebracht haben. ({10}) Alle Leistungskürzungen und Selbstbeteiligungen sind zurückzunehmen, die Kosten der deutschen Vereinigung sind zu akzeptieren oder durch Steuern zu finanzieren, die Einnahmen der Kassen sind zu stärken, die Ausgabenentwicklung ist an das Bruttosozialprodukt anzubinden und an ein Globalbudget anzulehnen. Denn nicht die sinkende Lohnquote als Folge der Massenarbeitslosigkeit darf die Orientierung sein. Was Gesundheit kosten soll, ist immer eine eminent gesellschafts- und demokratiepolitische Frage. Um sinnvoll zu sparen, braucht das deutsche Gesundheitswesen alles andere als Deregulierung und Konkurrenz. Es braucht eine verbreiterte solidarische Finanzierung. Deshalb sind die Vorschläge richtig und vernünftig, denn Gleichheit und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen sind ein hoher Wert, der nicht dem Machtpoker, den Machtinteressen und den Regierungsmachtinteressen geopfert werden darf. Gesundheitspolitik hat nur ein Ziel: Gesundheit zu erhalten und den Kranken zu dienen. Sie darf vor allen Dingen niemals andere Interessen bedienen. Das ist die Politik, die wir vertreten. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Thomae.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Abgabenlast im Sozialversicherungssystem erweist sich zunehmend als kritischer Faktor bei der Sicherung des Standortes Deutschland. ({0}) Der Export von Arbeitsplätzen ins Ausland, der Rückgang der Investitionen und die Globalisierung der Märkte zwingen uns zum Handeln. Von daher will die Koalition die 40-Prozent-Marke der BelaDr. Dieter Thomae stung im Sozialversicherungsbereich im Jahre 2000 unbedingt erreichen. Dies ist festes Ziel der Koalition. Dazu bedarf es auch der Anpassung in der Sozialpolitik, vor allen Dingen im Sozialversicherungsbereich und hier auch im Krankenversicherungsbereich. ({1}) Meine Damen und Herren, wenn die Beitragslasten nicht begrenzt werden, geht aber auch die Bereitschaft zur Solidarität verloren, und das ist mittlerweile der Fall. Denn die Grenzen der Umverteilung über die Mechanismen der gesetzlichen Krankenversicherung sind nach Auffassung der Koalition erreicht. ({2}) Die Absicherung der wesentlichen Krankheitsrisiken und der Kosten, die uns im einzelnen überfordern, muß das Sozialsystem weiter leisten. Mehr soll es auf keinen Fall. Und, meine Damen und Herren: Die Koalition hat bereits frühzeitig Regelungen auf den Weg gebracht, die dazu geführt hätten, daß die Anforderungen erfüllt und Veränderungen erreicht werden könnten. Dieser Gesamtansatz ist von der Opposition und auch vom Bundesrat abgelehnt worden. Letzte Woche hat nun die Koalition gehandelt. Sie hat das erste Reformwerk auf den Weg gebracht. ({3}) Grundlage dieses Reformpakets ist die solidarisch finanzierte Krankenversicherung. ({4}) Aber, meine Damen und Herren, im Gegensatz zu Ihnen formulieren wir auch die Subsidiarität, die Eigenverantwortung und die Freiheitlichkeit. ({5}) Nur mit diesen Maßnahmen können wir den medizinischen Fortschritt bei sich verändernder Alterspyramide und bei sinkender Lohnquote finanzieren. Dabei ist Beitragssatzstabilität kein Wert an sich, aber ein ungebremster Anstieg ist weder für die Versicherten noch für die Arbeitgeber zu verantworten. Daher, meine Damen und Herren, werden die Anreize, wirtschaftlich mit den Versichertengeldern umzugehen, in diesem Entwurf konsequent verbessert. Die Steuerungselemente müssen noch intensiver eingesetzt werden, so daß nicht notwendige Leistungen weder verordnet noch genehmigt werden. Deshalb brauchen wir, damit bei Beitragserhöhungen in Zukunft höhere Hürden übersprungen werden müssen, Maßnahmen, die die Krankenkassen wirklich zwingen, ihre Spielräume bei der Ausgabensteuerung auszuschöpfen. ({6}) Die Krankenkassen dürfen Ihre Beiträge nur erhöhen, wenn sie gleichzeitig die Zuzahlung für die Versicherten erhöhen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, daß man, bevor man über Rationierung diskutiert, alle Rationalisierungsreserven ausschöpft? Wenn dem so ist - Ihr Minister hat vor ein paar Monaten von Rationalisierungsreserven von 25 Milliarden geredet, ({0}) ich selber denke, es sind eher 50 Milliarden -, wie wollen Sie diese 25 bis 50 Milliarden Rationalisierungsreserven auf der Leistungsanbieterseite nutzbar machen? ({1})

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Schuster, wenn Sie meiner Rede noch einen Augenblick zuhören: Genau das steht drin, und ich werde Sie darauf aufmerksam machen, wenn diese Passage kommt. Also, meine Damen und Herren, das zwingt zu harten Verhandlungen mit den Leistungserbringern - das ist es, meine Damen und Herren - und zu Kostendisziplin bei den Leistungen, die sie sich selbst genehmigen, natürlich auch. Auch die Krankenkassen müssen in ihrem Verwaltungsbereich und in ihrem Marketingbereich wohlüberlegter handeln als in der Vergangenheit. ({0}) Für Unwirtschaftlichkeit und Verschwendung können die Beiträge nicht mehr erhöht werden, weil die Versicherten dann zu einer anderen Krankenkasse wechseln. Das ist das Instrument für eine vernünftige Geschäftspolitik der gesetzlichen Krankenkassen. Wenn sie Beiträge erhöhen, dann, meine Damen und Herren, kann der Versicherte sofort wechseln. - Bitte schön.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter Thomae, ist Ihnen bekannt, daß die Verwaltungsausgaben in den gesetzlichen Krankenversicherungen mit zirka fünf Prozent ein Drittel der Ausgaben in der privaten Krankenversicherung ausmachen, die ja Ihre Partei so hochjubelt? Wo wollen Sie denn hier konkret noch sparen?

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin sicher, daß bei den Verwaltungskosten in vielen Bereichen noch gespart werden kann. Vor allen Dingen hat sich ja in den letzten Wochen und Monaten gezeigt, daß im Marketingbereich und im Präventionsbereich Ausgaben getätigt wurden, die nach unserer Auffassung nicht im Bereich der gesetzlichen Krankenkassen getätigt werden können. ({0}) Herr Professor, ein Unterschied zwischen gesetzlich und privat ist ja: Bisher hatten die gesetzlich Versicherten keine Möglichkeit, gegenüber ihren Versicherungen zu reagieren. Die haben sie in Zukunft. Und das ist das entscheidende Instrument. Mit der von der Koalition eingeleiteten Rechtsveränderung besteht Anlaß zur Hoffnung, daß die Krankenkassen nun diese Spielräume verantwortungsbewußt nutzen und daß damit auch die Mentalität verändert wird. Die bisherige Großzügigkeit, wenn sie von den Krankenkassen wirklich fortgeführt wird, wird dazu führen, daß dort Arbeitsplätze, aber auch Vorstandsposten und eventuell die Existenz dieser Kasse gefährdet werden können. Das, meine Damen und Herren, wird den Wettbewerb intensivieren. Während die Beitragssätze, die nur um zehntel Prozentpunkte schwanken, bisher keinen Anlaß zu Massenbewegungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen gaben, kann der Unterschied, bei der Selbstbeteiligung der Versicherten aber schnell anders aussehen. Dafür sorgt die Wahlfreiheit im Falle von Beitrags- und Zuzahlungsanhebungen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Thomae, könnten Sie der Öffentlichkeit erklären, welchen Mechanismus Ihr angekündigtes Gesetz auslöst, wenn beispielsweise die Krankenkassen gezwungen sind - ich sage sehr wohl: gezwungen sind -, Beitragserhöhungen vorzunehmen, dies gleichzeitig zu einer Erhöhung der Zuzahlungen führt und zugleich das Recht auf Kündigung zum Ende des Monats entsteht? Teilen Sie meine Auffassung, daß dies dann die Kassen dazu zwingt, ({0}) die Beiträge nicht zu erhöhen ({1}) - hören Sie bitte zu - und damit letzten Endes - das kündigen Sie ja in Ihren Eckpunkten an - bisher notwendige Leistungen in einer Größenordnung von neun Prozent herauszunehmen mit der Konsequenz, daß Kranke in Zukunft notwendige Leistungen nicht mehr erhalten werden? ({2})

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kirschner, auch dieses wird gleich folgen. Ich werde gleich auf den Kern- und den Gestaltungsbereich kommen, in dem die Krankenkassen natürlich reagieren können, wenn es notwendig sein sollte, die Beitragssätze zu erhöhen. Warten Sie einen Augenblick ab, Sie werden die Lösung bekommen. ({0}): Die sind so ungeduldig!) Dabei wird im Gesetzgebungsverfahren noch darüber zu reden sein, wie wir mit dem Tatbestand umgehen, daß Krankenkassen stärker als geplant durch Zahlungen in den Risikostrukturausgleich belastet werden. Hier sehen wir von der Koalition noch wirklichen Handlungsbedarf und müssen eine optimale Lösung finden. Diese Koalition hat aber auch den Schutz für chronisch Kranke verbessert. Sie hat natürlich, wie bisher auch, für Jugendliche und Kinder die Nichtzuzahlung beibehalten und hat die Rechte der Versicherten verbessert. Die Patienten werden nämlich in Zukunft Anspruch auf Information über die abgerechneten Leistungen erhalten. Ich sage sehr bewußt, meine Damen und Herren - ich weiß, daß dieses Wort Sie reizt -: Wir werden die Wahl zwischen Sachleistung und Kostenerstattung ermöglichen. Dies halten wir heute gegenüber den gebildeten Bürgern unserer Nation für den richtigen Weg. ({1}) Der Bürger ist heute in der Lage zu entscheiden und muß nicht das anonyme Sachleistungssystem weiter ertragen. Leistungen wie die Krankenhausbehandlung, die ärztliche und zahnärztliche Behandlung, die Arzneimittel und die Anschlußheilbehandlungen sollen von allen Krankenkassen in gleichem Umfange angeboten werden. Ich bekenne aber auch, meine Damen und Herren: Um die großen Leistungen, wie große Operationen, bei dieser Alterspyramide zu finanzieren, haben wir einen Gestaltungsrahmen für die Krankenversicherung geschaffen. Dorthin gehören gewisse Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen. Die werden zwar auch weiter paritätisch finanziert, aber die Krankenkassen können mit Selbstbeteiligung, mit Selbstbehalt und Beitragsrückgewähr stärker auf die Inanspruchnahme dieser Gestaltungsleistungen Einfluß nehmen. Hier ist es wichtig, ehrlich gegenüber den Versicherten zu sein. Wenn wir die medizinischen Leistungen in den hochinnovativen Bereichen weiter finanzieren müssen und wollen - wir wollen keine Wartelisten; Sie waren teilweise selber mit in Skandinavien und haben gesehen, was Wartelisten bedeuten -, ({2}) dann muß der Versicherte bei geringeren Leistungen selber mehr Eigenverantwortung übernehmen. Bei uns bedeutet das auch mehr Eigenbeteiligung. ({3}) Das ist das Konzept der Koalition im Gegensatz zu Ihrem Konzept der Budgetierung, das eine ZweiKlassen-Medizin vorprogrammiert. Schauen wir uns die Verhältnisse in England und Schweden an! Ich rede gar nicht von englischen Verhältnissen im Krankenhaus. Wenn Sie bedenken, daß dort zwischen vier und sechzehn Menschen in einem Zimmer lieDr. Dieter Thomae gen, würde ich mir sehr gut überlegen, dieses englische System zu kopieren, wie Sie es wollen. ({4}) - Schauen Sie sich England an, Herr Schmidt, dann werden Sie ganz bescheiden zurückkommen. ({5}) - Jetzt mache ich mal weiter. ({6}) Beim Zahnersatz, meine Damen und Herren, haben wir die Prophylaxe verbessert. In Ihrem Gesetzentwurf lese ich nichts darüber. Die Prophylaxe wird bei den Jugendlichen und auch bei den Erwachsenen verstärkt. Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir den Festzuschuß. Wir wollen weg vom prozentualen Zuschuß. Warum? Sie wissen doch, daß bei der Härtefallregelung Mißbrauch getrieben wird und daß bei den hohen Zahnersatzanforderungen, also bei den teuren Leistungen, die Zuschüsse höher sind. Wir wollen eine gerechte Verteilung, einen Festzuschuß für alle, weil wir das für verantwortbar halten. ({7}) Wenn Sie das nicht kapieren, möchte ich Ihnen das gerne nachher erklären. ({8}) Das Krankenhaus stellt einen der schwierigsten Bereiche dar. Im Krankenhaus wird es kein Landes-budget geben, es werden keine Landeskrankenhausgesellschaften kommen, und eine globale Budgetierung wird es nicht geben. Vielmehr wird über die Selbstverwaltungslösung und über Feinsteuerungsinstrumente gearbeitet. Feinsteuerungsinstrumente habe ich auch in Ihren Entwürfen entdeckt. In bezug auf die Krankenhäuser gibt es sicherlich hier und da gemeinsame Ansatzpunkte. Meine Damen und Herren, wir wollen natürlich auch die Fallpauschalen. Wir wollen mit den Fallpauschalen verstärkt die Liegezeiten verkürzen. Die Liegezeiten sind in Deutschland gegenüber anderen europäischen Staaten zu hoch. Darum müssen wir mit aller Macht die Fallpauschalen erweitern. Ich unterstütze auch den Vorschlag, Betten abzubauen. Wenn wir das nicht schaffen, können wir das System nicht auf Dauer sichern. Aber dann bitte auch mit den entsprechenden Bundesländern, die dies fordern! Die Bundesländer, die von SPD und Grünen geführt werden, haben bis heute nicht bewiesen, daß sie bereit sind, in nennenswertem Umfang Betten abzubauen. Man liest es, aber in Nordrhein-Westfalen tut sich nichts. ({9}) - Sie haben in Nordrhein-Westfalen vieles angekündigt und nichts realisiert. Meine Damen und Herren, nun zu Ihrem Konzept der monistischen Finanzierung. Die wollen wir auch. Aber ich bin froh, auch bei Ihnen zu lesen: beitragsneutral. Dann viel Spaß dabei, dies mit Ihren Bundesländern beitragsneutral zu ermöglichen! ({10}) Ich mache sofort mit, wenn Sie es schaffen, dies zu realisieren. Sie sehen, meine Damen und Herren: Die Koalition hat ein geschlossenes System. Wir wissen, wohin wir wollen. Wir wissen, daß wir den Bürgern sagen müssen, daß es einen Kernbereich und einen Gestaltungsbereich gibt. Sie wissen, daß wir über Vertragsverhandlungen Rationalisierungsreserven aufdecken können. Dann fordern wir die Kassen auf, diesem Konzept zu folgen. Ich bin sicher, daß wir dann das System auf diese Art und Weise ({11}) wirklich sichern, im Gegensatz zu den Vorstellungen der SPD, die über Budgetierung und Planwirtschaft unser System ruinieren werden. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ruth Fuchs.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gesundheitliche Versorgung der Menschen soll offensichtlich auch weiterhin ein Hauptfeld des sozialen Kahlschlags bleiben. Aus der bisherigen umfassenden und solidarischen Krankenversicherung soll eine nur noch teilweise gemeinschaftlich getragene mit steigenden privat zu finanzierenden Zusatzleistungen werden. Damit ist die Regierung dabei, ohne Not ausgerechnet das zu zerstören, was zum Erhaltenswertesten am Gesundheitswesen dieses Landes zählt. Die Eckpunkte der Koalition zur Fortführung der dritten Stufe der Gesundheitsreform und das heute zur Debatte stehende sogenannte 1. GKV-Neuordnungsgesetz zeigen, wo die Regierungsparteien inzwischen angekommen sind. Alles zielt nur noch darauf, wie Beitragserhöhungen für die Krankenkassen nachhaltig erschwert und wie die weiter wachsenden Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung einDr. Ruth Fuchs zig und allein auf die Versicherten abgewälzt werden können. ({0}) Erhöhungen der Beitragssätze sollen automatisch zu drastischen Steigerungen der bestehenden Zuzahlungen führen, und die Versicherten erhalten für diesen Fall kurzfristige Kündigungsrechte. Hinzu kommt, daß dieses Gesetz, dessen erste Lesung wir heute erleben, bereits rückwirkend zum 8. Oktober dieses Jahres in Kraft treten soll. ({1}) Angesichts ihrer unausweichlich weiter wachsenden Defizite soll den Kassen nichts anderes mehr übrigbleiben, als ihre Versicherten - nunmehr allerdings in eigener Regie - weiter drastisch zu belasten. Das jetzt in den Vordergrund gestellte und in bemerkenswerter Weise modifizierte Schlagwort „Neuordnung der Selbstverwaltung" heißt zusammen mit der Eigenverantwortung der Versicherten in Wahrheit also nichts anderes, als daß es in Zukunft vor allem die miteinander konkurrierenden Krankenkassen sein sollen, die ihre Finanzmisere durch Leistungskürzungen und Zuzahlungserhöhungen selbst zu bewältigen haben. ({2}) Damit wird die soziale Gerechtigkeit in der gesundheitlichen Versorgung zunehmend den Kräften des Marktes überlassen. Exakt darauf reduziert sich im Kern die regierungsamtliche Gesundheitspolitik, die wir jetzt als Fortführung der dritten Stufe der Gesundheitsreform offeriert bekommen. ({3}) Das aber, meine Damen und Herren, kann - noch dazu vor dem Hintergrund deutscher Sozialgeschichte - nur noch als eine dramatische Fehlentwicklung bezeichnet werden. Selbstverständlich gibt es zu dieser verheerenden Politik realistische Alternativen - vorausgesetzt, man will sie politisch. Der von der SPD-Fraktion heute ebenfalls eingebrachte Antrag zeigt eindeutig in eine solche, sehr wohl machbare und im Grundsatz zweifellos richtige Richtung. ({4}) Denn niemand, der die Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen dauerhaft auf solide Grundlagen stellen will, wird um das herumkommen, was seit langem elementar notwendig ist. Kurzfristig und als erstes müssen die enormen Wirtschaftlichkeitsreserven durch echte Strukturreformen, die an den tatsächlichen Konstruktions- und Steuerungsfehlern des Systems ansetzen, erschlossen werden. Jeder Schritt auf einem solchen Weg ist zu begrüßen. Zweckdienlich und darüber hinaus ein Gebot sozialer Gerechtigkeit ist es auch, wenn die Solidargemeinschaft der Versicherten deutlich gestärkt wird. Längerfristig jedoch wird es unserer Meinung nach sogar unumgänglich sein, daß auch Bund, Länder und Gemeinden in die Lage versetzt werden, sich entsprechend ihrer unabweisbaren Verantwortung zu höheren Anteilen an der Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung zu beteiligen. Die Politik der Koalition für das Gesundheitswesen ist dagegen nicht nur kurzatmig und konzeptionslos; sie ist inzwischen auch im höchsten Grade unglaubwürdig. Sie ändert bekanntlich nichts an den Fehlsteuerungen, die auf seiten der Leistungsanbieter zur Verschwendung der von der Versichertengemeinschaft aufgebrachten Mittel führen. Man muß es immer wieder sagen: Es sind vor allem die Vergütungsformen in der Ambulanz, die künstliche Trennung von ambulantem und stationärem Sektor, die Mißstände im Arzneimittelbereich und weitere Strukturmängel, welche zu den gravierenden Unwirtschaftlichkeiten des Systems führen. ({5}) Aber nicht einmal der ohnehin bescheidene Reformansatz mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 wurde durchgehalten. Im Gegenteil: Die Anbieterseite, allen voran die notleidende Pharmaindustrie, erhielt ein zusätzliches Milliardengeschenk nach dem anderen. Die Stichworte dazu sind bekannt: Positivliste, Aufhebung der Festbetragsregelung für patentgeschützte Medikamente, Abgabepflicht reimportierter Arzneimittel und anderes mehr. Zugleich wurden politische Entscheidungen getroffen, die zu den bekannten Verschiebebahnhöfen zwischen den Sozialversicherungszweigen und zu Einnahmeverlusten der gesetzlichen Krankenversicherung in Milliardenhöhe führten. Wenn dann das Beitragsaufkommen - wohlgemerkt: als Ergebnis schwerer politischer Fehler und Versäumnisse - nicht reicht und weitere Beitragserhöhungen für alle Beteiligten tatsächlich kontraproduktiv werden, wird den Versicherten und Kranken kaltschnäuzig erklärt: Wer künftig eine umfassende Versorgung erhalten will, muß sie eben über die wahrlich nicht geringen Beitragssätze hinaus zusätzlich aus der eigenen Tasche bezahlen. Wer dazu nicht in der Lage ist, hat eben Pech gehabt. Daran kann auch das Trostpflästerchen, das Sie bei den Härtefallregelungen eingebaut haben, überhaupt nichts ändern. ({6}) Die zentrale Aufgabe der Politik im Gesundheitswesen, allen Menschen eine gleichermaßen erreichbare und leistungsfähige gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen, wird von der Koalition immer weniger erfüllt. Letztlich läuft alles nur auf eine Bewertung hinaus. Herr Minister, Herr Möllemann - ist er jetzt vielleicht doch schon zur Gesundheitsdebatte erschienen? -, ({7}) Herr Lohmann, wie heißt es so kurz und treffend: gewogen und zu leicht befunden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Horst Seehofer.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin Schmidt-Zadel, ({0}) bekanntlich muß ein Politiker oder eine Politikerin nicht immer alles sagen, was wahr ist. ({1}) Aber das, was man sagt, muß wahr sein. ({2}) Liebe Frau Schmidt-Zadel, Sie haben hier als eine der Ursachen für die aktuellen Finanzprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung beispielsweise genannt, daß seit dem Jahr 1995 weniger Beiträge für Arbeitslose an die gesetzliche Krankenversicherung zu bezahlen sind und daß dies ein Einnahmeausfall von 5 Milliarden DM für die gesetzliche Krankenversicherung bedeutet. Das ist richtig. (Zuruf von der SPD: Wer ist daran wohl schuld? Nur, zur Wahrheit hätte gehört, daß Sie hinzufügen: Wir haben als SPD-Bundestagsfraktion diesem Gesetz im Zuge der Rentenreform zugestimmt. - Das hätten Sie hinzufügen müssen; das hätte zur Wahrheit gehört. ({3}) Sie haben auch verschwiegen, daß mit Ihrer Zustimmung auf der anderen Seite eine Entlastung der Krankenversicherung in einer Größenordnung von 4 bis 5 Milliarden DM erfolgt ist, und zwar durch die Pflegeversicherung, seit deren Einführung die Krankenversicherung die Pflegehilfe nicht mehr zu bezahlen hat. ({4}) Sie haben zweitens gesagt, wir würden der Pharmaindustrie dadurch Milliardenbeträge nachwerfen, daß wir die Festbetragsregelung bei patentgeschützten Arzneimitteln gelockert hätten. Auch hier zur Wahrheit: Frau Schmidt-Zadel, warum verschweigen Sie hier der Öffentlichkeit, daß diesem Gesetz im Bundesrat die SPD-Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Hessen mit dem Bemerken zugestimmt haben, der Gesetzentwurf sei für den Wirtschaftsstandort Deutschland positiv? Warum verschweigen Sie das hier? ({5}) Sie haben drittens gesagt - ich habe mir das notiert, weil es unglaublich ist, wie sich die Meinungen ändern -, ({6}) wir brauchten ausreichende Hausarztbudgets, diese seien lebenswichtig. Nun hat die Koalition im Jahr 1995 durch Gesetz die Budgets für Hausärzte in Deutschland um 600 Millionen DM erhöht. Sie haben dagegen gestimmt, aber heute stellen Sie sich hin und sagen, dies sei aber lebenswichtig. ({7}) Frau Schmidt-Zadel, ich bin wirklich für kontroverse Diskussionen - da bin ich nicht so zart besaitet -; aber ich würde Sie doch bitten, sich der Wahrheit zu bedienen, wenn Sie künftig wieder an dieses Pult gehen. Sie haben in diesen drei Punkten nur die halbe Wahrheit gesagt. Die halbe Wahrheit aber ist auch eine Unwahrheit. ({8}) Meine Damen und Herren, Politik beginnt bekanntlich mit der Betrachtung der Realitäten. Nach den vielen, vielen Falschmeldungen gerade des heutigen Tages möchte ich zwischen der aktuellen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung und dem unterscheiden, was langfristig an Herausforderungen auf uns zukommt. Ich beginne einfach einmal mit einem ganz kleinen Ausschnitt aus dem Alltagsablauf eines Ministers. Das sind keine Ausreißerfälle, sondern mir kommt das in einer ungezählten Zahl von Fällen beinahe stündlich, jedenfalls täglich über den Weg. Es handelt sich dabei um Probleme, die das ganze Dilemma unserer gesetzlichen Krankenversicherung aktuell deutlich machen. Meine Damen und Herren, unsere gesetzliche Krankenversicherung leidet nicht an Schwindsucht auf der Einnahmenseite, sondern unsere Probleme sind auf die Verschwendungssucht auf der Ausgabenseite zurückzuführen. ({9}) Ich bekomme täglich Briefe von Ärzten, von Patienten, von Versicherten, in denen mir mitgeteilt wird, daß Krankenkassen rechtswidrig Leistungen erbringen. ({10}) Ich rede noch gar nicht von der Verschwendung innerhalb des Rechts. So heißt es zum Beispiel in einem Brief: Wir zahlen Ihnen selbstverständlich außervertragliche Zahnfüllungen in der Größenordnung von mehreren tausend DM. Einige haben sich an mich gewandt - ich hätte das trotz ausreichend besetzter Pressestelle gar nicht mitbekommen - und mir geschildert, daß in Niedersachsen eine Anzeige einer großen Kasse mit dem Slogan „Be happy - Ja, ich will auch auf der Sonnenseite stehen" erschienen ist. Dann hieß es: Wenn Sie bei uns Werbematerial anfordern, dann bekommen Sie einen Fotoapparat. ({11}) Mir haben dann einige Leute, die nicht auf der Schattenseite des Lebens stehen, sondern viel verdienen, mitgeteilt, daß auch sie das angefordert haben und auf diese Weise für ihre Kinder Kameras von der gesetzlichen Krankenversicherung erhalten hätten. Meine Damen und Herren, ich könnte unzählige Beispiele dafür nennen, daß am Gesetz vorbei oder durch Marketing und Verschwendungsmaßnahmen alljährlich Milliarden in der gesetzlichen Krankenversicherung verschwendet werden. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ein Beispiel aus meiner Sprechstunde der letzten Tage: ein kleines Mädchen, mit schwersten Mißbildungen geboren. Die Diagnose der Ärzte: ausgeprägte Mund-Kiefer-GaumenSpalte, ausgeprägte zusätzliche Mißbildungen im Gesicht, die das Atmen und die Nahrungsaufnahme fast unmöglich machen und das Seh- und Sprechvermögen weitgehend beeinträchtigen. Angesichts der Schwere der von Geburt an vorliegenden Mißbildungen mußte dieses Mädchen bis heute 21mal operiert werden, 14mal davon von einem Spezialisten in Paris. In diesem Fall gab es bisher nie Probleme, weil Frankreich bekanntlich zur Europäischen Union gehört und diese Operationen in Frankreich deshalb von der deutschen Krankenversicherung bezahlt wurden. Diese Operationen hatten ungeheuer positive Wirkungen. Ich habe mich selber davon vergewissert. ({12}) - Das ist kein Einzelfall. Ich könnte Ihnen Hunderte ähnlicher Fälle aufzählen, die mir wöchentlich in Briefen oder während der Sprechstunde geschildert werden. Vor kurzem - darin liegt das Problem - mußte das Mädchen in der Schweiz operiert werden, weil der Spezialist, der es 14mal in Paris operiert hatte, in Pension ging und nun in der Schweiz weiter praktiziert. Diese letzte Operation hat 17 000 DM gekostet. Es war ein schwieriger, aber erfolgreicher Eingriff. Die Krankenkasse hat 3 760 DM erstattet. Wegen der verbleibenden rund 13 000 DM sind die Eltern zu mir gekommen. Ich habe ihnen gesagt: Die Krankenkasse mag formaljuristisch vielleicht korrekt gehandelt haben. Ich habe aber miterlebt, wie es auf diese Eltern, die 15 Jahre von Leid, Tragik und Verzweiflung begleitet worden sind, wirken muß, wenn die Krankenkasse ausgerechnet in ihrem Fall wegen dieser 13 000 DM zu knausern und zu sparen beginnt und die Eltern auf der anderen Seite miterleben, wie für Photokameras und andere außergesetzliche Leistungen Gelder ausgegeben werden. ({13}) Das ist das Problem unserer gesetzlichen Krankenversicherung. Wir haben nicht zu wenig Geld. Das Geld wird vielmehr für die falschen Zwecke eingesetzt. Ich wiederhole, daß wir in Deutschland für viele Schwerkranke und chronisch Kranke da und dort noch zu wenig tun und für viele leichte Fälle und für Fälle zur Erhöhung des persönlichen Wohlbefindens viel zuviel Geld ausgeben. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Ja.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben jetzt mehrmals den gesetzlichen Krankenversicherungen unterstellt, daß sie Werbegeschenke oder ähnliches verteilt haben. Nachdem ich nun über 20 Jahre in der Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenversicherung aktiv war, weiß ich, daß die Krankenkassen von den Sozialministerien immer wieder kontrolliert und geprüft wurden, ob sie solche Ausgaben getätigt haben. In Baden-Württemberg zum Beispiel, wo ich das näher übersehen kann, wurde von den zuständigen Ministerien, die insbesondere solche Dinge akkurat geprüft haben, dieser Vorwurf gegenüber den AOKs, BKKs und IKKs, die dies nie machen durften, nie erhoben. Denn nur die Ersatzkassen sind zu den Personalchefs mit den Geschenken gekommen, die Sie erwähnt haben. Würden Sie folglich wenigstens einschränken, daß es hier große Unterschiede zwischen den Ersatzkassen, den Privatkassen und den Primärkassen gibt? Würden Sie mir weiterhin zugestehen, daß in dem Fall, den Sie gerade eben geschildert haben, eine zuständige gesetzliche Krankenkasse überhaupt nicht anders handeln konnte, weil sie die Vorschriften des Sozialgesetzbuches nun einmal achten mußte? Sie können das nicht als formaljuristisch abtun. Die Krankenkasse muß, weil die Gesetze so sind, so handeln. Es tut einem manchmal weh - ich habe solche Fälle selber erlebt -, wenn ein Gesetz einer Krankenkasse verbietet, einmal Gnade vor Recht ergehen zu lassen und zu helfen. Sie müssen dann eben die Gesetze ändern, damit so etwas möglich wird.

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege, das ist unser Problem. Ich habe beobachtet, daß Sie mir offensichtlich nicht voll zugehört haben. Ich habe bewußt den Vergleich gewählt, daß die Krankenkassen - nicht alle natürlich; es gibt auch hervorragende Krankenkassen; überwiegend ist es aber so, wie ich es Ihnen geschildert habe; Sie wissen das ganz genau - in einem Fall wie selbstverständlich ungesetzliche Leistungen erbringen, und zwar dort, wo man wirklich sagen kann: Es ist nicht notwendig und eher eine Werbemaßnahme als eine medizinisch notwendige. Wenn es dann aber um ein Kind geht, das von Geburt an behindert ist, 21 Operationen benötigt und dessen letzte Operation deshalb von dem gleichen Mediziner durchgeführt werden mußte, weil er es in Paris bereits 14mal mit großem Erfolg operiert hatte, dann ist zu fragen, ob es richtig ist, daß an diesem Kind nun gespart werden soll, nur weil der Mediziner seinen Standort wegen seiner Pensionierung wechseln mußte. Diesen Gegensatz wollte ich darstellen: Im einen Fall werden großzügig, sogar am Recht vorbei Leistungen gewährt; im anderen Fall, wo es medizinisch notwendig ist, wird plötzlich übergenau auf das Gesetz geachtet. Das ist mein Punkt. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfaff? - Bitte. ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Dieser Schweizer Fall ist nach meiner tiefen Oberzeugung rechtlich korrekt abzuwickeln, ohne daß man das Gesetz ändert. Herr Professor Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, können Sie uns erstens sagen, wie groß die Satzungsleistungen sind, über die die Kassen tatsächlich verfügen, und welches Einsparpotential Sie sehen, zweitens, welche Wirkungen von der Rechtsprechung ausgehen, wenn beispielsweise gegen Verweigerung von Leistungen geklagt wird und dann vorgebliche Gestaltungsfreiheiten durch die Rechtsprechung eingeengt werden, und drittens, welche Instrumente Sie den Kassen zur Mengensteuerung gegeben haben, um genau die Dinge zu verhindern, die Sie jetzt beklagen?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Professor Pfaff, zur Mengensteuerung bei ungesetzlichen Leistungen braucht man kein neues Instrument, sondern nur die Rechtstreue der Krankenkassenvorstände. Das ist ganz einfach. ({0}) Zum zweiten will ich Ihnen nur zwei Dinge nennen. Die Marketingmaßnahmen haben mittlerweile eine Größenordnung weit oberhalb von 1 Milliarde DM erreicht. Sie steigen halbjährlich um zweistellige Prozentsätze. Nehmen Sie jetzt noch die Verwaltungskosten hinzu. Wir kritisieren nicht das Niveau der Verwaltungskosten bei der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern die Steigerungsrate. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind bei der gesetzlichen Krankenversicherung im Westen der Bundesrepublik Deutschland in einer Zeit, in der die gesamte öffentliche Hand ihre Verwaltungskosten einfriert oder zurückführt, die Verwaltungskosten um annähernd 6 Prozent gestiegen. Meine Damen und Herren, wenn ich nur diese beiden Positionen zusammennehme, komme ich schon auf 2 Milliarden DM, die für Verwaltung und Marketing ausgegeben werden und die nach meinem Dafürhalten besser für chronisch Kranke und Schwerkranke ausgegeben würden. Das ist doch unser Problem. ({1}) - Jetzt keine Zwischenfrage mehr. Meine Damen und Herren, angesichts der aktuellen Situation schlagen Sie von der SPD ein Global-budget für die Krankenversicherung auf der Ausgabenseite vor, auf der Basis von 1995 nach der Einkommensentwicklung fortgeschrieben. Das gleiche schlagen die Krankenkassen vor. Wir sagen: Wir halten momentan keine Beitragserhöhungen für notwendig, weil zunächst Unwirtschaftlichkeiten abgestellt werden können. Jetzt frage ich mich einmal, wo wirklich der politische Dissens liegt. ({2}) Sie sagen: Die jetzigen Ausgaben reichen, um die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf hohem Niveau weiterzuführen. Auch wir sagen: Das reicht - deshalb keine Beitragserhöhung. Können wir nicht wenigstens darüber Konsens herbeiführen, daß wir momentan nicht auf der Einnahmenseite Probleme haben, sondern damit, daß auf der Ausgabenseite Verschwendungssucht und Unwirtschaftlichkeit herrschen, und daß es das primäre Ziel der Gegenwart sein muß, diese Verschwendungssucht zu beenden? ({3}) Nun kann man überlegen, auf welchem Weg man das tut. Wir haben auch den Vorschlag geprüft, auf der Ausgabenseite zu budgetieren. ({4}) Wir haben geprüft: Was ist aus den Budgets der letzten drei Jahre geworden? Da hatten wir eine Ausgabenbudgetierung. ({5}) Wir sind auf folgendes Problem gestoßen: Es gibt viele Sektoren, wo Sie zwar den Preis budgetieren können, aber nicht die Menge. Dies hat dazu geführt, Herr Professor Pfaff, daß die Ausgaben für stationäre Kuren, die wegen der Budgets drei Jahre lang nicht stärker hätten steigen dürfen als die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland, tatsächlich um 50 Prozent im Westen der Bundesrepublik DeutschBundesminister Horst Seehofer land und um annähernd 500 Prozent im Osten der Bundesrepublik Deutschland gestiegen sind. Ein anderes Beispiel sind die Fahrkosten. Da haben wir die Preise budgetiert, so daß die Benutzungsentgelte nicht stärker steigen dürfen als die Löhne. Aber das hat die Krankenversicherung nicht davor bewahrt, daß die Menge explodiert ist. ({6}) Bei einer großen bundesweiten Kasse sind die Taxikosten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um 60 Prozent gestiegen, im Westen um 36 Prozent. Damit wird deutlich, daß wir dieses Instrument nicht für die Zukunft vorschlagen können, weil es in der Vergangenheit versagt hat. ({7}) Das können Sie doch nicht vorschlagen. Wir wollen auf der sicheren Seite sein. ({8}) Deshalb haben wir gesagt: Ein Globalbudget ({9}) - nein, jetzt nicht mehr, Herr Kirschner - kommt für uns nicht in Frage, weil wir damit in den letzten drei Jahren keinen Erfolg gehabt haben. Das ändert aber nichts daran, Herr Kirschner, daß wir beide der Meinung sind: Das Finanzvolumen, das die gesetzliche Krankenversicherung im Moment hat, fortgeschrieben mit der Einkommensentwicklung, reicht zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung der Bevölkerung aus. Deshalb gibt es keine Notwendigkeit, die Beiträge zu erhöhen. Ich stelle fest: In diesem Punkt sind Sie, die Krankenkassen und wir der gleichen Meinung. Wir streiten uns nur darüber, auf welchem Weg man erreichen kann, daß wir in absehbarer Zeit keine Beitragserhöhungen brauchen. Wir beschreiten diesen Weg: Wir stellen der Krankenversicherung hohe Hürden auf, die sie überspringen muß, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, die Beiträge erhöht. Wir halten dies nicht für nötig; deshalb glauben wir die hohen Hürden auch verantworten zu können. Wenn nämlich eine Krankenkasse in absehbarer Zeit die Beiträge erhöht, dann nicht deshalb, weil dies medizinisch notwendig ist, sondern weil sie ihre Beitragsmittel nicht mit der gebotenen Sorgfalt verwaltet. In diesem Punkt sind wir, Opposition und Koalition, einer Meinung. Deshalb sagen wir: Wenn eine Krankenkasse trotz unwirtschaftlicher Mittelzuwendung ihre Beiträge erhöht, dann soll sie ihren Versicherten erklären, daß deshalb auch die Selbstbeteiligung steigt. Der Versicherte kann sich gegen diese Unwirtschaftlichkeit dadurch wehren, daß er diese Kasse innerhalb von vier Wochen verläßt. Eine andere Kasse muß ihn aufnehmen; es besteht Kontrahierungszwang. ({10}) Das ist meines Erachtens ein verantwortliches Instrument, um auch bei Krankenkassen mehr Verantwortung und Augenmaß für die wirtschaftliche Mittelverwendung zu erreichen. Dies wird, meine Damen und Herren, zu sehr disziplinierten Vertragsverhandlungen zwischen Krankenkassen und Ärzten und ({11}) zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern führen. Tun Sie doch nicht so, als wenn die Krankenkassen in Zukunft mit den Ärzten und Krankenkassen vertraglich riesige Steigerungsraten vereinbaren und anschließend gegenüber ihren Versicherten vertreten könnten, daß sie deshalb die Beiträge und die Selbstbeteiligung erhöhen müssen! Das, was Sie hier aufbauen, ist doch lebensfremd. Zum Gesichtspunkt der Solidarität. Ich habe es schon in der letzten Bundestagsdebatte gesagt: Die Kosten für Kuren sind innerhalb von drei Jahren um 50 Prozent zu Lasten der Krankenversicherung gestiegen, die Kosten für Taxifahrten im gleichen Zeitraum um 45 Prozent. ({12}) Die Kosten im Arzneimittelbereich steigen im Moment um 8 bis 10 Prozent, auch die Kosten für Massagen. Ein neues Feld, das Gesundheitsmarketing, mit Steigerungsraten von 17 Prozent ist entstanden. Angesichts dessen bitte ich, darauf Rücksicht zu nehmen: Wenn man Menschen, die es nicht nötig haben, weil sie sich selbst helfen könnten, sich aber nicht selbst helfen wollen, über eine Solidarversicherung im Rahmen des Sozialsystems hilft, dann ist das automatisch gegenüber jenen unsolidarisch, die eine Leistung nicht in Anspruch nehmen, weil sie sich, wo es zumutbar ist, selbst helfen. ({13}) Ich möchte das noch einmal am Beispiel der Kosten für Taxifahrten deutlich machen: In einem mittlerweile hochmotorisierten Land wie der Bundesrepublik Deutschland, wo in manchen Familien, in denen die Kinder volljährig sind, das zweite und dritte Auto vor der Tür stehen, wo man mobiler ist als je zuvor - ich beziehe den öffentlichen Personennahverkehr mit ein -, die Taxikosten in den Bereichen, wo kein Liegendtransport und keine fachliche Begleitung wie im Rettungswagen erforderlich ist, dies also nur aus Bequemlichkeit erfolgt, innerhalb von drei Jahren um 45 Prozent zu Lasten der Krankenversicherung steigen, ist doch jede Tochter dumm, die ihre Mutter zum Arzt fährt, zwei Stunden wartet und sie dann nach Hause fährt, wenn sie in der Sprechstunde miterleben muß, wie ein junger Mensch kommt und sagt: Stellen Sie mir den Taxischein aus, damit ich zu Lasten der Krankenversicherung nach Hause fahren kann. Wir müssen sehr Obacht geben, meine Damen und Herren, daß derjenige, der in unserem Land noch bescheiden und zur Eigenverantwortung bereit ist, geBundesminister Horst Seehofer genüber den Egoisten und den Cleveren nicht der Dumme ist. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie noch Zwischenfragen oder nicht mehr?

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Nein. - Deshalb richten wir diese hohen Hürden auf. Es ist genug Geld für eine qualitativ hochwertige Versorgung vorhanden; wir müssen das Geld nur für die Zwecke verwenden, bei denen es medizinisch angezeigt ist und bei denen man aus sozialen Gründen eine Eigenverantwortung nicht zumuten kann und der soziale Schutz der Gemeinschaft greifen muß. Das ist unsere Grundüberzeugung, wie Solidarsysteme in der Zukunft gestaltet werden sollen. ({0}) Die SPD hat einen Vorschlag vorgelegt, der typisch SPD ist - ich sage das ohne jede Polemik -: ({1}) Es ist die Wiederholung von Rezepten der letzten 20, 30 Jahre. Schauen Sie: Wir reformieren in der Krankenversicherung wie in anderen Sozialversicherungssystemen, weil uns die Lohnzusatzkosten zunehmend Sorge machen, und das nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus, sondern auch deswegen, weil immer höhere Abgaben auch die verfügbaren Arbeitnehmereinkommen drastisch schmälern. ({2}) In dieser Situation, in der wir über Parteigrenzen hinweg der Meinung sind, die Lohnzusatzkosten, auch die gesetzlich veranlaßten, müßten zunächst einmal stabilisiert und mittelfristig zurückgeführt werden, beantwortet die SPD die zentrale Frage der Kostenentwicklung in der Krankenversicherung damit, daß sie die gesetzlichen Lohnzusatzkosten erhöht. Ich werde das jetzt auch Ihnen, Herr Professor Pfaff, weil ich weiß, daß diese Berechnung wahrscheinlich von Ihnen stammt, versuchen zu beweisen. Sie machen der Öffentlichkeit weis, wir bräuchten nur die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze zu erhöhen, dann hätten wir über 10 Milliarden DM mehr und könnten damit die Beiträge senken. Bestimmte Personen seien zwar mehr belastet, aber insgesamt gebe es eine Entlastung. ({3}) Professor Pfaff, wenn Sie die Menschen, die zwischen 6000 und 8000 DM verdienen, wirklich zur Beitragsleistung heranziehen, dann bekommen Sie innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung Zusatzeinnahmen - wegen der zusätzlichen 2000 DM, die dann abgabenpflichtig sind - in Höhe von 4,3 Milliarden DM. Ich habe jetzt noch nicht unterstellt, daß man bei einer 25prozentigen Beitragserhöhung aus der gesetzlichen Krankenversicherung herausgehen kann. Denn Sie, Herr Kirschner, sagen in einem Interview heute völlig zu Recht: Natürlich müßte man so wie in den letzten 30 Jahren eine Übergangsregelung schaffen, schon aus verfassungsrechtlichen Gründen und aus Gründen des Vertrauensschutzes. Ich unterstelle jetzt einmal: Es gibt keine Übergangsregelung; jeder freiwillig Versicherte mit einem Einkommen von oberhalb 6000 DM bleibt in der gesetzlichen Krankenversicherung. Trotzdem bringt dies nur 4,3 Milliarden DM; das wären 0,25 Beitragssatzpunkte. Wenn ich weiter unterstelle - das hat der Kollege Dreßler gestern öffentlich gesagt -, daß dann etwa 500 000 Personen von der privaten Krankenversicherung in die gesetzliche Krankenversicherung gehen, dann bringt das zusätzlich 4,7 Milliarden DM, also insgesamt 9 Milliarden DM. Nur, diese Rechnung ist wieder die typische Brutto-netto-Rechnung. Denn man muß bei der Rechnung durch Abzug entsprechend berücksichtigen, daß Menschen, die von der privaten in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln, natürlich leistungsberechtigt sind und Leistungen in Anspruch nehmen. Dies ergibt unter Zugrundelegung von Durchschnittswerten in der gesetzlichen Krankenversicherung einen Betrag von 2,3 Milliarden DM. Sie, Herr Kirschner, sagen in einem Interview, das ich heute gelesen habe, völlig richtig: Natürlich kann man einem Versicherten in der privaten Krankenversicherung, der vielleicht 30 Jahre lang Beiträge zur privaten Krankenversicherung bezahlt hat, nicht am 1. Januar 1997 sagen: Sie sind zwangsweise Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung. - Natürlich müßten wir eine Übergangsregelung mit dem Ziel schaffen, daß diese Person ein Wahlrecht bekommt. Das würde dazu führen, daß sich dieser Betrag von 4,7 Milliarden DM gar nicht ergäbe. Wenn man für ein Jahr - so war es in der Vergangenheit oft, wenn man etwas bezüglich GKV und PKV gemacht hat - ein Wahlrecht einführt, so daß jemand, der in der gesetzlichen Krankenversicherung ist, in die private Krankenversicherung gehen darf und derjenige, der in der privaten Krankenversicherung ist, in der PKV bleiben oder zur GKV wechseln darf, dann werden Sie erleben, daß die für die gesetzliche Krankenversicherung günstigen Risiken in die private Krankenversicherung gehen und diejenigen in der privaten Krankenversicherung, die glauben, daß sie in der gesetzlichen Krankenversicherung einen für sie günstigeren Beitrag zu zahlen haben, die aber ein großes Risiko darstellen, in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln. ({4}) Das Ganze erinnert mich an die Diskussion der letzten Monate, an brutto, netto und Mexiko. ({5}) Die von Ihnen vorgeschlage Regelung führt in diese Richtung. Sie erreichen damit nicht 0,6 Beitragssatzpunkte, sondern höchstens 0,25. Man kann doch die Explosion bei den Lohnzusatzkosten nicht damit beantworten, daß man für einen erheblichen Teil der Bevölkerung die Lohnzusatzkosten erhöht. Das kann doch nicht die richtige Antwort sein. Diese Richtungsentscheidung ist die Zäsur zwischen Opposition und Koalition. Wir sind der tiefen Überzeugung: In der Bundesrepublik Deutschland leisten wir uns in manchen Sozialsystemen mehr, als unsere Volkswirtschaft leistet. Deshalb gibt es nur eine Antwort: daß wir die Ausgaben wieder nach den Einnahmen richten und nicht immer wieder neue Einnahmequellen erschließen. ({6}) Was heute durch die Gazetten ging - „Der Seehofer fällt um", „Jetzt gibt es doch eine Ausnahme vom Zusammenhang zwischen Beitragserhöhung und Selbstbeteiligung" -, ist alles Quatsch. Ich werfe das nicht den Journalisten vor, die es objektiv nicht wissen konnten. Darunter sind aber auch einige, die von uns informiert worden waren, und zwar bevor wir das veröffentlicht haben. Es ist völlig offen, ob wir bei einer Krankenkasse, die Verpflichtungen im Rahmen des Risikostrukturausgleichs hat, eine Ausnahme von diesem Mechanismus machen. Es könnte auch sein - das haben wir in der Koalition ausdrücklich besprochen, und zwar schon vor einiger Zeit -, daß der Risikostrukturausgleich insoweit entfällt, als dadurch Beitragserhöhungen notwendig würden. Herr Pfaff, ich darf Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen - auch damals in Lahnstein stammten manche Berechnungen von Ihnen -: Mit den heutigen Informationen zum Risikostrukturausgleich, die sich in den letzten vier Jahren ergeben haben, würde ich mir schwer überlegen, dem Deutschen Bundestag noch einmal ein solches bürokratisches Ungeheuer vorzuschlagen. ({7}) Insgesamt wird es bei der Qualität der medizinischen Versorgung und beim solidarischen Schutz bleiben. Ich weise noch einmal darauf hin, daß es beim vollen Schutz für jene Menschen bleibt, die sich Selbstbeteiligungen nicht leisten können, weil sie nur über ein geringes Einkommen verfügen. Ein Rentnerehepaar mit bis zu 2 300 DM Rente ist von jeder Zuzahlung zu Arzneimitteln, zu Heilmitteln und zu Fahrkosten befreit. Niemand muß für diese Zwecke mehr als zwei Prozent seines Bruttoeinkommens aufwenden, wenn er nicht ohnehin befreit ist. Arbeitslosenhilfeempfänger sind befreit. BAföGEmpfänger sind befreit. Sozialhilfeempfänger sind befreit. Kinder sind befreit. Wir machen jetzt sogar noch eine Verbesserung, indem wir sagen: Wer dauerhaft in Behandlung ist, wer chronisch krank ist, muß für Arzneimittel, Heilmittel und Fahrkosten nicht mehr als ein Prozent seines Einkommens aufbringen. Dafür bieten wir auch die beste medizinische und pflegerische Versorgung, die es weltweit gibt. Ohne deutsche Arroganz darf man das in der Bundesrepublik Deutschland auch einmal feststellen. ({8}) Man muß der Öffentlichkeit sagen: Wenn wir zu diesem Umsteuern, zu einem Stück mehr Selbstverwaltung und Eigenverantwortung nicht bereit sind, werden wir diese Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens nicht erhalten können. Die einzige Alternative bestünde darin, Gesundheitsleistungen zu rationieren. ({9}) Es ist besser, ein Aspirin, eine Massage, eine Taxifahrt, eine Erholungskur mit höherer Selbstbeteiligung zu bezahlen als eine Hüftgelenkoperation, eine Bypassoperation, einen Krankenhausaufenthalt, eine aufwendige ärztliche Diagnostik oder Therapie. Meine Damen und Herren, es muß unser Auftrag bleiben, die großen Risiken für die Menschen solidarisch zu finanzieren, die der einzelne nicht schultern kann. Aber wir müssen den Menschen auch sagen: Bei dem Druck, der auf den Sozialsystemen lastet, und bei dieser gesamtwirtschaftlichen Lage können wir das für jedermann ohne Ansehen des Standes, des Einkommens, der Herkunft oder des Alters auf Dauer nur durchhalten, wenn wir Eigenverantwortung dort verwirklichen, wo sie den Menschen zumutbar ist. ({10}) Deshalb sage ich der Bevölkerung: Lassen Sie sich nicht verunsichern! Jeder bekommt eine umfassende solidarische Hilfe in der gesetzlichen Krankenversicherung, und zwar auf höchstem Niveau, immer dort, wo den Menschen Eigenhilfe nicht zumutbar ist. Dabei bleibt es. Deshalb bleibt unsere gesetzliche Krankenversicherung erstklassig. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält nun der Kollege Professor Pfaff das Wort.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, ich finde es erstaunlich: Ich dachte, Sie hätten eigentlich genug davon, meinen Prognosen zu widersprechen: Sie hatten im letzten Jahr mit einem „Focus"-Redakteur gewettet, daß meine Prognose nicht zuträfe, daß das Defizit des Jahres 1995 sicher mehr als 2 Milliarden DM betragen würde - ich sprach von 5 bis 6 Milliarden DM, in Wirklichkeit waren es 7 Milliarden DM im Jahre 1995 -, und ich prognostizierte zwischen 9 und 14 Milliarden DM für das Jahr 1996. Sie haben seither Ihre Wette mit dem Redakteur des „Focus" verloren, weil meine Prognosen zutrafen. Weil Sie mich so unmittelbar angesprochen haben: Ich habe prognostiziert, was mit der Bundespflegesatzverordnung im Krankenhaus passieren würde. Bitte nehmen Sie die Realität zur Kenntnis. Auch diese Prognose ist wahr geworden. Ich habe prognostiziert, was mit der EBM-Reform passieren wird. Die Realität hat die Voraussage mittlerweile eingeholt. Herr Bundesminister, ich finde es recht amüsant, wenn Sie in mir das Handwerk des Wissenschaftlers reklamieren wollen. ({0}) - Ich versuche ja auch nicht, Herrn Seehofer in reiner Demagogie zu überbieten - das ist sein Handwerk -, ({1}) aber wenn es um fachliche Aussagen geht, dann empfinde ich Ihre Worte schon als eine leichte Provokation, auch wenn sie teils freundlich, teils arrogant vorgetragen werden. Jetzt zu Ihren Zahlen: Natürlich werden diejenigen, die jetzt zwischen 6 000 und 8 000 DM verdienen, die freiwillige Mitglieder in der GKV sind, eher jene Beitragszahler sein, die eine eingeschränkte Gesundheit haben, eher jene sein, die mehrere Mitversicherte haben, eher jene sein, deren Ehefrau nicht erwerbstätig ist. Sie müssen etwas mehr zahlen; sie verursachen auch etwas mehr Kosten beim Krankengeld. ({2}) Das ist bei den angesprochenen Modellrechnungen berücksichtigt. Darüber hinaus kommt nicht die von Ihnen oder anderen genannte Zahl an Mitgliedern in dieser Kategorie dazu, sondern zirka 880 000 Personen, nämlich all diejenigen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert sind, und deren Mitversicherte, saldiert mit den GKV-Mitgliedern. Wenn man dann berücksichtigt, welche PKV-Mitglieder Beamte sind, ist klar, wer für diese Kategorie in Frage kommt. Richtig ist auch, daß die neu Hinzukommenden Kosten verursachen. Das ist aber alles berücksichtigt. Der Nettoeffekt beträgt 0,67 Prozent für das Berechnungsjahr, verehrter Herr Seehofer. ({3}) Diese Leute gehen nicht in die PKV, weil wir ja nicht nur die Beitragsbemessungsgrenze, sondern auch die Versicherungspflichtgrenze anheben wollen. ({4}) Auch das sollten Sie bitte einmal zur Kenntnis nehmen: Wir gehen eben den Weg, mehr Solidarität, nicht weniger einzufordern. ({5}) Wir gehen nicht wie Sie den verhängnisvollen Weg des Ausverkaufs der solidarischen Krankenversicherung. Wir lassen uns nicht an einer Kette mit einem Ring durch die Nase durch den Plenarsaal führen, so wie Sie sich von der F.D.P. vorführen lassen, indem Sie genau das tun, was Sie noch vor Monaten wie Herr Möllemann gegeißelt haben. ({6}) Nein, wir sagen: Der Weg über mehr Solidarität ist besser. Weil Sie die Krankenkassen, die sich hier nicht verteidigen können, vorführen wollen, frage ich Sie: Wo sind die Steuerungsinstrumente, die den Kassen wirklich zur Verfügung stehen? Wir sind doch in Lahnstein übereingekommen, das Angebot zu steuern, Überkapazitäten unter Kontrolle zu bekommen. Wir müssen den Krankenkassen mehr Steuerungsinstrumente an die Hand geben, die sie im Augenblick nicht haben. Sie beklagen die Ausweitung der Werbungskosten. Auf der einen Seite verkünden Sie im Brustton der Überzeugung mehr Wettbewerb, und auf der anderen Seite geißeln Sie die Krankenkassen, wenn ihnen dadurch, daß sie von diesem Wettbewerb Gebrauch machen, mehr Kosten entstehen - Kosten, die Sie und nur Sie zu verantworten haben. ({7}) Ein letzter Punkt, zum Risikostrukturausgleich.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Pfaff, Ihre Redezeit ist leider um.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eigentlich sollten Sie stolz sein, Herr Seehofer, daß Sie auch jetzt noch diesen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Solidarität in der GKV - es war ja nicht Ihre Initiative - mittragen können. Wenn der Staub sich setzt und der Nachruf für den Bundesminister Seehofer geschrieben wird, wird man sagen: Er begann gut, hat dann den Ausverkauf zugunsten der F.D.P. mitgemacht - und zwar aus knallharten wahltaktischen Gründen; das Jahr 1998 läßt grüßen - und war sonst nur eine kleine Fußnote in der Geschichte der Gesundheitspolitik Deutschlands. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Möchten Sie antworten, Herr Minister? ({0})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Professor Pfaff, Sie legen das Ganze unter dem Titel „Sofortprogramm" vor. Das heißt, Sie wollen damit schon im Jahre 1997 eine Wirkung entfalten. Wenn Sie die Versicherungspflichtgrenze und die Bundesminister Horst Seehofer Beitragsbemessungsgrenze hochsetzen, müssen Sie - das ist völlig unbestritten - für einige Monate, wenn nicht für ein ganzes Jahr, den betroffenen Versicherten in der PKV und in der GKV aus verfassungsrechtlichen Gründen, aus Vertrauens- und Bestandsschutzgründen, ein Wahlrecht einräumen. Das ist unbestritten; Herr Kirschner deutete das heute auch in einem Interview an. Er sagte, über Einzelheiten müsse man reden. Das ist mein Vorwurf an Sie: daß Sie etwas als Sofortprogramm verkaufen - mit einem zusätzlichen Finanzvolumen von 10 Milliarden DM oder 0,6 Beitragspunkten -, obwohl Sie ganz genau wissen, daß dies für das Jahr 1997 niemals in irgendeiner Weise für die GKV finanzrelevant werden kann. Das nenne ich Murks, das ist handwerklich nicht in Ordnung, und das muß man der Öffentlichkeit sagen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch.

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben uns in sehr bewegenden Worten den Fall eines Mädchens geschildert, das im Ausland operiert werden mußte, weil es bei uns nicht versorgt werden konnte, und bei dem die Kassen nicht die vollen Kosten für die Behandlung in der Schweiz übernommen haben. Ich habe mir Ihr Eckpunktepapier angesehen; darin steht, was in Etappen auf uns zukommen soll. Ich habe dem entnommen, daß Auslandsleistungen zu reinen Wahlleistungen, sprich: freiwilligen Leistungen der Krankenkassen, gemacht werden sollen. Wenn das der Fall ist, dann kann man davon ausgehen, daß der Familie nicht 13 Operationen bezahlt würden, sondern sie bekäme gar nichts mehr. Wenn Sie das wirklich so fürchterlich grämt, dann mache ich Ihnen jetzt ein ernsthaftes Angebot: Lassen Sie uns dafür sorgen, daß Sie entweder ein entsprechendes Abkommen mit der Schweiz schließen, auf Ihre Pläne im Eckpunktepapier verzichten oder das ansonsten im SGB V regeln. ({0}) Sie haben ganz hervorragend gesagt: Ein Ehepaar, das 2 300 DM im Monat zur Verfügung hat, braucht nicht zuzuzahlen. ({1}) - Rentnerehepaar. - Rentner essen, trinken und schlafen gewöhnlich nicht unter der Brücke. Sie brauchen eine Wohnung, und sie brauchen unter Umständen, wenn es sich um Kranke handelt, für ihren Lebensunterhalt wesentlich mehr. Ich frage Sie ernsthaft: Wie weit kämen Sie als Einzelperson mit 2 300 DM im Monat, geschweige denn ein Rentnerehepaar? Das sind nicht die goldenen Eier, die vom Himmel geholt werden, wie Sie es uns verkaufen wollen, ({2}) sondern das ist bittere Armut, die Sie hier vertreten und von der Sie sagen, es sei eine tolle Leistung Ihrerseits. Ich möchte jetzt auf die Ehrlichkeit von Abgeordneten und Politikern zu sprechen kommen. Sie haben - ich glaube, zu Unrecht - meiner Kollegin Vorwürfe gemacht. Sie haben aber selbst ganz klar gelogen: Sie haben am 4. September in Ihrer Presseerklärung mitgeteilt, daß sich aus der Schwerstpflege für 1996 eine Ersparnis in Höhe von 1 Milliarde DM ergibt, und heute tragen Sie uns vor, es seien 4 Milliarden DM. Das kann schlichtweg nicht stimmen, es sei denn, die Presseerklärungen, die Ihr Haus herausgibt, stimmen nicht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ministers Seehofer?

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das tue ich nicht. Das ist heute Stil des Hauses gewesen. Ich möchte jetzt etwas zu Ihrem Umgang mit den Krankenkassen sagen. Sie haben sich den Feind des Jahres ausgeguckt. Das war einmal die Pharmaindustrie, das waren auch schon einmal die Ärzte und andere Berufsgruppen, auch die Krankenhäuser, und jetzt sind es die Kassen. Ich denke aber, Sie machen einen großen Fehler. Die Kassen sind nichts Anonymes, sondern sie sind eine Organisation von alten, jungen, kranken und gesunden Menschen. Ihre Politik ist gegen diese Menschen gerichtet und nicht gegen irgendeine Institution. Den Krankenkassen und den Versicherten droht nun ein Defizit in Höhe von 10 Milliarden DM. Wir haben zwar gemeinsam Ausgaben im Bereich der Arbeitslosenversicherung und auch der Lastenverschiebung beschlossen, aber der Punkt ist ganz einfach der: Wir haben eine Mindereinnahme in Höhe von 5 Milliarden DM beschlossen und können jetzt nicht sagen, daß das an den Kassen spurlos vorbeigeht. Sie haben aber darauf verzichtet, Milliardenbeträge einzusparen, indem Sie die Positivliste gestrichen haben. Sie haben zusätzlich - Sie haben das selber gesagt - die Arzthonorare an der Grenze zum Milliardenbetrag erhöht, und zwar wohlwissend, daß wir in das Defizit hineingeschleudert werden. Sie haben immer wieder von der notwendigen Reform der gesetzlichen Krankenkassen gesprochen, doch Sie reformieren nicht, und Sie sorgen nicht einmal dafür, daß geltende Gesetze umgesetzt werden. Das machen Sie den Kassen zum Vorwurf. Das ist wirklich das Allerletzte. ({0}) Ich möchte jetzt ins Detail gehen: Was sind die Auswirkungen Ihrer Politik? Im ersten Halbjahr 1996 stiegen die Ausgaben der Orts- und der Angestelltenkrankenkassen für Arzneimittel zwischen 7 und 11 Prozent. Das wäre nicht geschehen, wenn Sie die mit uns gemeinsam beschlossene Positivliste umgesetzt hätten. Die Streichung dieser Liste war nicht nur politisch schlechter Stil, Herr Minister, sondern Sie haben letztendlich auch die Ärzteschaft in eine schwierige Situation gebracht, da es jetzt rechtlich unverbindliche Listen gibt, wodurch es zu Auseinandersetzungen rechtlicher Art mit der Pharmaindustrie kommt. Die Ärzte sind diejenigen, die zur Zeit im Regen stehen. Noch schlimmer ist, daß Patienten weiterhin mit therapeutisch fragwürdigen Medikamenten behandelt werden, die von der Solidargemeinschaft finanziert werden müssen. ({1}) - Wenn der Minister kein Rezept verordnet, dann frage ich mich natürlich, weshalb er und auch die Vertreter der Parteien, die hier sitzen, immer sagen, daß die Verantwortung bei den Kassen liegt. Die Kassen verordnen diese Rezepte doch auch nicht. ({2}) Der nächste Punkt ist folgender: Wenn Sie immerzu sagen, daß Sie die Eigenverantwortung stärken wollen, und sich das dann darin äußert, daß die Zuzahlungen erhöht werden, dann frage ich mich: Wie soll denn ein Patient Kompetenz zur Eigenverantwortung haben, wenn, wie Sie sagen, derjenige, der die Dinge verordnet, offensichtlich noch nicht einmal die Kompetenz hat, zu entscheiden, was medizinisch notwendig ist und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erbracht werden kann? ({3}) Wir müssen die Kompetenz doch erst einmal auf der anderen Seite erhöhen, bevor wir Eigenverantwortung bei den Patienten einfordern. ({4}) Sie haben einige der Einsparpotentiale nicht genutzt. Sie haben im Prinzip die Kassen in diese katastrophale finanzielle Entwicklung hineingetrieben, und Sie folgen auch weiterhin Ihrem Weg. Man kann das Ganze nur dann bewerten, wenn man das Vorschaltgesetz, das heute vorliegt, gemeinsam mit den bisherigen Gesetzesänderungen betrachtet. Außerdem muß man noch das Eckpunktepapier zu Rate ziehen, um tatsächlich sagen zu können, wohin der Weg bei Ihnen denn geht. Sie haben vermutlich gedacht, wenn Sie jeweils in kleinen Schritten die einzelne nicht immer tödliche Dosis verpassen, dann wird das vielleicht niemand merken; die Leute werden sich daran gewöhnen. Ich hoffe, daß sich die Leute nicht daran gewöhnen werden, sondern daß sie bei Ihnen das einklagen, was Sie von uns fordern und was wir mit dem GSG II vorgelegt haben, nämlich eine geschlossene Konzeption. Es geht nicht an, daß Schritt für Schritt Gesetze vorgelegt werden, durch die nahezu ausschließlich die kranken Versicherten belastet werden. Ich frage mich ernsthaft: Warum wird denn nicht einmal an anderen Stellen gespart? ({5}) Glauben Sie denn, daß es eine gute Sparpolitik ist, wenn Sie Präventionsmaßnahmen zu einer freiwilligen Leistung machen? Als Präsidentin der Deutschen Rheuma-Liga sage ich Ihnen folgendes: Wir haben 180 000 Mitglieder. Wir bieten in allen Landesverbänden Warmwassertraining, Gymnastik und ähnliches an. Das wird von den Kassen als Präventionsleistung finanziell unterstützt. Wenn diese Unterstützung wegfällt, dann können wir das nicht mehr anbieten. ({6}) - Die Selbsthilfegruppe kann nicht die Miete aufbringen und die ganzen Zuzahlungen leisten, die Sie vorschlagen. Sie kann dann nicht mehr funktionieren. ({7}) - Sie machen es zu freiwilligen Leistungen. Das sind einfach Dinge, die Sie akzeptieren müssen. ({8}) Das, was Sie die ganze Zeit machen, ist eigentlich nichts anderes, als eine Kostendämpfungsmaßnahme nach der anderen vorzunehmen. Das, was Sie vorhaben bzw. vorgeben vorzuhaben, nämlich die Umgestaltung, die tatsächlich erforderlich ist, nehmen Sie nicht in Angriff. Das einzige, was Sie in der letzten Zeit getan haben, ist, daß Sie die Kassen ganz massiv beschuldigen, ohne ihnen jedoch die Instrumente an die Hand zu geben, die sie benötigen, ({9}) um ein Verhandlungspartner zu sein, der mit den Anbietern im Gesundheitswesen tatsächlich gleichberechtigt ist. Dazu würde zum Beispiel auch gehören, daß man qualitativ hohe, kostengünstige Versorgungsmodelle, wie das Hausarztmodell, anbieten kann. ({10}) - Nein! Es steht zwar drin, daß die Kassen das anbieten können, allerdings nur dann, wenn die Ärzte damit einverstanden sind. Ein Schuh daraus wird erst, wenn die Kassen es auch dann anbieten können, wenn sie nicht die jeweilige örtliche KV auf ihre Seite bekommen. Das wäre ein Punkt von, ich sage einGudrun Schaich-Walch mal: gleich langen Spießen in der Auseinandersetzung. ({11}) - Die Logik muß folgende sein: Wenn ich Modelle erarbeite, dann muß ich diese auch umsetzen können. Vorhin ist uns der Kollege Thomae, der gesagt hat, er wolle antworten, aber dann letztlich nicht geantwortet hat, einige Fragen schuldig geblieben. Ich möchte ganz einfach einmal erläutern, was denn aus unserer gesetzlichen Krankenversicherung wird, wenn Ihre Pläne greifen und Sie dann mit diesem System endlich fertig sind. Die von Ihnen angekündigte Beitragssatzstabilität soll dadurch erzwungen werden, daß man, wenn man die Beiträge anhebt, zum Beispiel um 1 Prozent, die Zuzahlung um 10 DM erhöhen muß. Damit wollen Sie diese Steigerung verhindern. Das haben Sie dann noch mit den freiwilligen Leistungen und den Pflichtleistungen kombiniert. ({12}) Ihnen bleibt, wenn Sie das so machen, nur übrig, zu sagen, daß Sie unser System in ein Zweiklassensystem eingeteilt haben, nämlich in ein Wahl- und Regelleistungssystem. Sie machen die Kassen zum Buhmann. Sie haben nicht den Mut, Rationierungen selber vorzunehmen, sondern - ({13}) - Sie sollen gar keine Rationierungen vornehmen. Aber Sie haben nicht einmal den Mut, wenn Sie es wollen, es unter Ihrem Etikett zu tun. ({14}) Sie wollen die Kassen indirekt dazu zwingen, daß sie der Buhmann der Nation werden, und Sie wollen dafür die Verantwortung nicht übernehmen müssen. Das ist Ihr ganzes Ablenkungsmanöver und überhaupt gar nichts anderes. ({15}) Dann will ich Ihnen einmal an einem einzigen Beispiel zeigen, was mit den chronisch Kranken passiert. 30 Prozent der bisherigen Leistungen, die durch Rehabilitation und Kuren anfallen, werden zukünftig als Pflichtleistung der Kassen erhalten bleiben, aber nur für die Menschen, die einen Krankenhausaufenthalt hatten und anschließend eine Heilbehandlung brauchen. 70 Prozent der bisherigen Leistungen für Rehabilitation und Kur werden nur noch freiwillige Leistungen sein. Jetzt kann ich Ihnen einmal sagen, was das für chronisch Kranke und behinderte Menschen bedeutet; denn gerade bei ihnen, denen die Rehabilitation und beständiges Training sowie die Möglichkeit von Kuraufenthalten der Kompensation und dem Erhalt ihrer Restfunktionsfähigkeit dienen, verhindern sie glücklicherweise oft die frühzeitige Verrentung oder die Pflegebedürftigkeit. An dieser Tatsache ändert auch Ihre Härtefallregelung nichts. Sie ändert nur an folgendem etwas, daß es nämlich eine absolute Bevorzugung derjenigen gibt, die vorher im Krankenhaus waren, gegenüber denjenigen, die es nicht waren, obwohl im Prinzip alle die gleiche medizinische Indikation für eine Rehabilitationsmaßnahme haben sollten. In diesen Rehakliniken werde ich dann folgendes vorfinden: Diejenigen, die eine Anschlußheilbehandlung haben, nämlich 30 Prozent, werden 12 DM pro Tag zahlen, die chronisch Kranken werden 25 DM pro Tag zuzuzahlen haben, und diejenigen, deren Kasse zum Beispiel den Beitrag um 1 Prozent erhöhen mußte, werden 35 DM pro Tag zu zahlen haben - und das bei der gleichen medizinischen Notwendigkeit. Ich sage Ihnen einmal ganz ehrlich: Das nenne ich Wahnsinn, so etwas zu machen. Jetzt kommt noch der Punkt: Wie werden sich die Kassen verhalten? Dazu habe ich eine andere Einschätzung, als sie der Minister hat. Meiner Meinung nach werden die Kassen folgendes tun: Sie werden sehr schnell alles, was an freiwilliger Leistung möglich ist, ausnutzen, um Beiträge nicht erhöhen zu müssen. Es wird sicher auch einige Kassen geben, bei denen die freiwillige Leistung im Prinzip nicht mehr gewährt wird, weil sie freiwillig ist. ({16}) Dann werden bestimmte Krankheitsgruppen in die Kassen gehen, die für sie diese Leistung noch zur Verfügung stellen und sie erbringen. Sie erreichen damit gar nichts anderes, als daß in bestimmten Kassen letztendlich die Beiträge steigen müssen. Die Gruppe der freiwillig Versicherten wird dieses Solidaritätssystem verlassen, weil es ihnen irgendwann tatsächlich zu teuer wird. Sie sind diejenigen, die dieses System finanzieren. Sie sind diejenigen, die dann auch die Zuzahlungen zu tragen haben. Sie treiben sie systematisch hinaus. Damit werden Sie nichts anderes erreichen, als daß Sie Kassen mit hohen Beiträgen haben, die dann im wesentlichen aus Familien und aus armen, alten und kranken Leuten zusammengesetzt sind. Sie wissen genau, daß wir schon jetzt zum Teil in einigen Kassen damit ein Problem haben, daß 20 Prozent der Versicherten 43 Prozent der Leistungen in Anspruch nehmen, die erbracht werden müssen. Damit haben Sie gar nichts anderes getan. Sie glauben, Sie hätten etwas sichergestellt. Aber was haben Sie damit in Wirklichkeit getan? ({17}) Sie haben das Solidaritätssystem der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur ins Wanken gebracht, sondern Sie sind dabei, es aufzulösen. Sie treten dafür ein, daß sich in diesem Land etwas breiter macht: Selbstsucht und Egoismus. ({18}) - Ich finde das überhaupt nicht zum Lachen; denn Sie sind diejenigen, die sich immer beklagen, daß die Menschen nicht die rechten Werte hätten und daß es ein paar Menschen gebe, die Mißbrauch betreiben. ({19}) Das finden auch wir nicht in Ordnung. Aber Sie bestrafen alle dafür. Und warum tun Sie das? Weil Sie glauben, Sie bestrafen 30 Prozent der Bevölkerung. Aber diese 30 Prozent werden für Sie nicht wahlentscheidend sein. Ich hoffe, daß die Menschen in dieser Bundesrepublik noch wissen, was Solidarität ist und was diese Solidarität für das Zusammenleben und auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland bedeutet, ({20}) und daß sie diese Solidarität erhalten und Ihnen die Quittung geben. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Kurzintervention erhält der Kollege Peter Dreßen das Wort.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will eine Kurzintervention zur Rede von Herrn Seehofer machen. ({0}) Herr Seehofer, Sie haben in Ihrer Rede wieder mehrfach die Krankenkassen in eine bestimmte Ecke gestellt. Es ist unfair, sie in diese Ecke zu stellen. Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen. Sie haben jetzt ein paarmal die Werbungskosten der Krankenversicherung angeprangert. Auch ich bin nicht glücklich über verschiedene Werbeaktionen. Aber Sie sind doch derjenige gewesen, der die Krankenkassen dem freien Wettbewerb ausgesetzt hat. Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der Wettbewerb auch Werbung heißt. Wenn Sie die Werbung nicht wollen, dann schlage ich Ihnen Bereiche vor, in denen man Milliarden einparen kann. Dann verbieten Sie doch bitte die Werbung der gesamten Pharmaindustrie. Dafür werden nämlich Milliarden ausgegeben. - Die Werbungskosten, von denen Sie hier reden, sind nur Millionen. - Das wäre ein Punkt, wo Sie aktiv werden und die Milliarden einsparen könnten, die wir über unsere Beiträge bezahlen; denn wir bezahlen schließlich die Pillen, in denen die Werbung steckt. Bitte machen Sie damn-ter einmal einen Strich. Das zweite will ich anmerken, weil Sie immer wieder sagen, daß nicht um Kosten gefeilscht wurde. Wir haben in der Selbstverwaltung, zum Beispiel im größten Bereich Krankenhaus, bei den Pflegesatzverhandlungen ganz intensiv dafür gekämpft, daß die Kosten so niedrig wie möglich sind. Was war denn in den Fällen, in denen wir nicht zu Potte gekommen sind? Dort kam der staatliche Schlichter und hat genau das festgestellt, was die Krankenkassen wollten. Und dann werfen Sie der Selbstverwaltung vor, sie hätte nicht alles getan, um die Kosten zu senken. ({1}) Ich frage mich: Welche Mittel haben Sie ihnen denn an die Hand gegeben, um hier effektiv einzugreifen? Bisher null. Sie könnten doch ein paar Medikamente verbieten; auch das wäre auch eine Möglichkeit. Wir haben 80 000, das ist schließlich genug. ({2}) Das letzt Beispiel, das ich nennen will, sind die Taxikosten. Da haben Sie richtig schön reingelangt. Sie wissen genau, daß die Taxikosten 0,0 oder vielleicht 0,01 Prozent aller Beiträge ausmachen. Sie verwechseln das mit den DRK-Notdiensten, die fahren. Wenn Sie die abschaffen wollen, dann sagen Sie das bitte schön, wenn jemand mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren oder wenn jemand liegend in ein anderes Haus transportiert werden muß. Aber wenn Sie die effektiven Taxikosten meinen: Das sind wirklich 0,0 Prozent. Wenn Sie sagen, das sei mehr, dann verstehen Sie von der Sache sehr wenig. ({3})

Horst Seehofer (Minister:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege, habe ich richtig verstanden, daß Sie im Verwaltungsrat einer Krankenkasse sitzen? ({0}) - Sie waren drin. Dann verstehe ich jetzt vieles. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marina Steindor.

Marina Steindor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002809, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Bürgerinnen und Bürger! Das Schlußwort in dieser Debatte. Das erste Krankenkassenneuordnungsgesetz tritt heute ins Parlament, das erste in einer ganzen Reihe von hauchdünnen Salamischeiben, die uns die Regierungskoalition hier präsentieren wird, damit wir jede Sitzungswoche wieder GKVPolitik debattieren können. Das Thema ist sehr ernst, und ich sage trotzdem: Es ist die x-te Folge der Seifenoper: Ein wackerer Gesundheitsminister und seine Mannen im Kampf gegen das Böse, wobei das „Böse" ständig wechselt. Mal sind es die Krankenkassen, mal die Ärzte, mal die Krankenhäuser. Jetzt sind es die Krankenkassen. ({0}) - Manchmal wir. Selbstverständlich. - Die Krankenkassen verschwenden jetzt angeblich das Geld der Versicherten, wollen die Beiträge erhöhen, um dem Standort Deutschland zu schaden. Herr Minister, ich bin peinlich berührt von dem Auftritt, den Sie hier hatten. Sie haben Beispiele gegeben, die ans Herz gehen sollten, die Sache aber nicht getroffen haben. Ihre Politik ist zynisch. ({1}) Das erste Kapitel Ihrer Regierungs-Solidaritätsinitiative „Kranke für den Standort Deutschland", nämlich die Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, hat die Industrie sehr viel Geld gekostet und hat ihr nicht genützt. Wir beraten heute also einen Gesetzentwurf, von dem wir schon jetzt wissen, daß er aus dem Parlament nicht so herauskommen wird, wie er jetzt ist. Die Politik, die Sie inszenieren, dient einzig und allein dazu, Macht gegenüber dem Bundesrat zu demonstrieren. Sie scheinen dabei zu verdrängen, wie lächerlich Sie sich damit machen. Die Opposition soll in einem Politikfeld zum Statisten degradiert werden, ({2}) für das das Grundgesetz die Kooperation zwischen Bund und Ländern vorschreibt. ({3}) Wir beraten hier das erste Mal Ihr NOG. Ich würde sagen: Dieser Name ist verfehlt. Es ist ein Krankenkassenschrumpfungsgesetz, und es ist schon das zweite „KraSchG". ({4}) Sie fahren mit dieser Politik unser solidarisches Gesundheitssystem an die Wand. Die Liberalen freuen sich; denn ihr heute vorgetragenes Konzept des liberalen Griffs in die vorgeblich selbstbestimmten Taschen der gebildeten Bürger, auch Eigenverantwortung genannt, wird jetzt hoffähig. Seit Jahren wird in dieser Republik die Kostenkrise des Gesundheitswesens inszeniert, obwohl der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttosozialprodukt de facto nicht gestiegen ist. Das Ganze wird gemacht, um Akzeptanz für den Abbau und für den Systemwechsel unseres Krankenversicherungssystems zu erlangen. Dabei wird bewußt verschwiegen - nehmen Sie es doch einmal ernst mit Ihrem Motto; wie ist das denn mit den halben Wahrheiten und mit der Unwahrheit? -, daß die meisten Beträge des Defizits Gesetzesfolgen sind, daß diese Regierung die finanziellen Ressourcen der Kassen aushöhlt. Jetzt will sie mit diesem Gesetz die Beitragssatzerhöhungen verhindern, die dadurch entstehen, daß gesetzlich Einnahmeverluste herbeigeführt werden, daß die zunehmende Massenarbeitslosigkeit zu Einnahmeverlusten führt und daß Ausgabensteigerungen durch die Leistungserbringer vorprogrammiert sind. Was hier als unentrinnbares Schicksal inszeniert wird, ist ein geplanter Systemwechsel. Was hier als Liberalität, Wettbewerb und Gestaltung daherkommt, ist in Wirklichkeit Leistungsausgrenzung. Ich will Ihnen eines sagen, Herr Thomae: Ich war auch von Ihrem Beitrag in einigen Dingen sehr peinlich berührt. ({5}) Wir haben gestern in der Anhörung zum Transplantationsgesetz einen Beitrag eines Sachverständigen gehört, ({6}) der mit Zahlen belegt, - ({7}) - Hören Sie doch einmal zu, Herr Thomae! ({8}) - Herr Thomae, es wird Ihnen nicht gelingen, meinen Beitrag durch Ihre Zwischenrufe zu entwerten. ({9}) Ich sage es noch einmal: Wir haben gestern in der Anhörung zum Transplantationsgesetz von einem Sachverständigen gehört, ({10}) daß es schon heute belegbar und auf der Basis unserer auf hohem Niveau befindlichen Gesundheitsversorgung Rationierungen bei Wartelisten bestimmter Operationen gibt. ({11}) - Der Sachverständige kann es belegen. ({12}) Mit Ihrer Politik zeigen Sie nicht den Mut dazu, sondern Sie wollen den Kassen die Schrumpfung selbst auferlegen, und Sie wollen sich aus der Schußlinie bringen. Sie demontieren hier den bewährten Gesellschaftsvertrag zwischen Staat, Kapital und Arbeit, der die Krankheit solidarisch absicherte. Die ursprünglich gemeinsame, solidarische Absicherung des Risikos wollen Sie in ein individualistisches Jagen nach Beitragssatzvorteilen verwandeln, in ein Beitragsschnäppchenjägertum. Die Möglichkeit zum Kassenwechsel, die großkoalitionär als ein individuelles Versichertenrecht gedacht war, pervertieren und instrumentalisieren Sie als Sanktionselement für Beitragssatzerhöhungen, die Sie politisch herbeiführen. ({13}) Dreiviertel des gesundheitspolitischen Chaos in diesem Land sind Politik- und Gesetzesfolgen. Jetzt haben Sie gemerkt, daß Sie mit Ihrem Gesetz die Angestelltenkrankenkassen treffen. Das sind ja potentielle Wähler von Ihnen. Deshalb werden Sie wahrscheinlich sehr große Änderungen vornehmen. Ich habe den Beiträgen, die hier gehalten worden sind, auch entnommen, daß es Ihnen als Mittel dienen wird, den Risikostrukturausgleich wegzurationalisieren, weil er Ihnen nicht in den Kram paßt. Ich frage mich: Was hat dieses Land gewonnen, wenn hier Krankenkassen pleite gehen? Das geht doch an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger vollständig vorbei. ({14}) Sie reagieren immer erst dann, wenn Sie wäschekörbeweise Briefe bekommen und merken, daß es vielleicht wahlentscheidend sein könnte, genauso wie bei den Selbsthilfebewegungen, die Ihnen so viel Post geschrieben haben. Danach haben Sie Ihren Gesetzentwurf geändert. ({15}) Hier liegen die Vorschläge der SPD auf dem Tisch. In vielen Teilen finden wir sie gut, im Bereich der Monistik nicht. Ich komme hiermit zum Schluß. ({16}) Das Hauptziel der Gesundheitspolitik muß sein, an erster Stelle die finanzielle Aushöhlung des Systems durch die Leistungsanbieter und Leistungsverordner in den Griff zu bekommen, für ein Mehr an gesellschaftlicher Solidarität in der Finanzierung zu sorgen, die unsinnige Trennung des Sicherstellungsauftrags zwischen Krankenhausbereich und ambulanter Versorgung zu überwinden und unter dem Dach eines Globalbudgets in Ruhe die Rationalisierungsreserven zu erschließen. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 13/5724 und 13/5726 an die in der Tagesordnung genannten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6a bis j auf: Wirtschafts- und Mittelstandsdebatte a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({0}) - zu der Unterrichtung der Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Andrea Fischer ({1}), Kristin Heyne, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahreswirtschaftsbericht 1996 der Bundesregierung Vorrang für Beschäftigung" - Drucksachen 13/3601, 13/3724, 13/3714, 13/3736, 13/5227 Berichterstattung: Abgeordnete Margareta Wolf ({2}) b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({3}) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P. Den Mittelstand entlasten - zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst Schwanhold, Dr. Uwe Jens, Anke Fuchs ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Den Stillstand in der Mittelstandspolitik beenden - Anstöße zur Schaffung von Arbeitsplätzen bei kleinen und mittleren Unternehmen der Industrie, des Handwerks, des Handels und der Freien Berufe geben - zu dem Antrag der Abgeordneten Margareta Wolf ({5}), Simone Probst, Christine Scheel und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Kleine und mittlere Unternehmen stärken - Nachhaltiges Wirtschaften fördern - zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bierstedt, Dr. Christa Luft und der Gruppe der PDS Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen ({6}) der neuen Bundesländer bei der Markteinführung neuer Produkte - Drucksachen 13/2344, 13/2363, 13/2436, 13/2095, 13/3146 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Müller ({7}) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Schwanhold, Hans Berger, Lilo Blunck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neuen Jahreswirtschaftsbericht 1996 vorlegen - Drucksache 13/4717 - d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({8}) - zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Siegmar Mosdorf, Dr. Uwe Jens, Anke Fuchs ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Unterstützung deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten und Sicherung von Arbeitsplätzen durch eine umfassende Außenwirtschaftskonzeption - zu dem Antrag der Abgeordneten Siegmar Mosdorf, Ernst Schwanhold, Anke Fuchs ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neue Außenwirtschaftskonzeption zur Unterstützung deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten - Drucksachen 13/1332, 13/2236, 13/3055, 13/3063, 13/3888 - Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Anke Fuchs ({11}), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sicherung der Arbeitsplätze durch Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie - Drucksache 13/2588 - f) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Hansjürgen Doss, Dr. Wolfgang Schäuble, Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Dr. Hermann Otto Solms und der Fraktion der F.D.P. Zur Lage der deutschen Schuhindustrie - Drucksachen 13/1204, 13/2192 - g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({12}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Dr. Manuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft - Drucksachen 13/4000, 13/4089, 13/5078 - Berichterstattung: Abgeordneter Siegmar Mosdorf h) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze - Drucksachen 13/3629, 13/5080 - Berichterstattung: Abgeordneter Paul K. Friedhoff i) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({14}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Mehr Arbeitsplätze durch Erhalt und Ausbau der Infrastruktur - Drucksachen 13/3952 ({15}), 13/5170 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft und der Gruppe der PDS Flexiblere Gestaltung der Förderprogramme - Drucksachen 13/1798, 13/2929 Berichterstattung: Abgeordnete Dietrich Austermann Dr. Wolfgang Weng ({17}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Ernst Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Von der Gesundheitspolitik zur Mittelstandspolitik - das möchte ich als ersten Satz meines Beitrages hier sagen: 14 Anträge, Beschlußempfehlungen und Entschließungsanträge aller Fraktionen und der Gruppe sind heute zu beraten. Mittelstandspolitik steht wieder einmal im Vordergrund. Alle Redner werden wieder große Lippenbekenntnisse zu ihr ablegen. ({0}) Dies ist auch den einzelnen Anträgen zu entnehmen. Da heißt es, Frau Kollegin Dr. Skarpelis-Sperk, in einem SPD-Entschließungsantrag vom 20. September 1995: Die kleinen und mittleren Unternehmen und Selbständigen sind das Rückgrat der deutschen Wirtschaft .. . Wie wahr! Das kann ich unterstreichen. Wenige Wochen später stellt dann Ihr Kollege, der SPD-Abgeordnete Günther Rixe, im „Deutschen Wirtschaftsblatt" fest: Das große Problem der Selbständigen war und ist, daß die Sozialdemokraten immer glauben, daß Selbständige Ausbeuter sind, die in dieser Partei nichts zu suchen haben. Auch ihm, werte Kolleginnen und Kollegen, kann man nicht widersprechen, weil er leider recht hat. Da wäre es gut, verehrte Kollegen von der SPD, einmal zu überlegen, was jüngst der britische Labour-Vorsitzende Tony Blair gesagt hat: Eine Partei stirbt, wenn sie sich angesichts der Veränderungen in der Welt nicht selbst schnell genug ändert. Und er fährt fort: Man muß sich entscheiden, ob man den Sozialstaat reformieren oder den Niedergang der Volkswirtschaft verwalten will. Genau hier trifft er den Nagel auf den Kopf. Denn bei vielen Entscheidungen, die gerade für den Mittelstand wichtig sind, waren und sind Sie von der Opposition dagegen. Ob Anhebung der Schwellenwerte beim Kündigungsschutz, ob Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, ob dritte Stufe der Gesundheitsreform - wir haben es eben gehört -, ob Reform des Arbeitsförderungsgesetzes, ob zukunftssichere Ausgestaltung der Rentenversicherung, ob Abschaffung der Vermögensteuer, ob Entlastungen bei der Gewerbe- und Erbschaftssteuer, ob Planungsvereinfachung und Kürzung der Genehmigungsverfahren, ob Änderung der Ausbildungsordnungen, ob praxisgerechte Ausgestaltung der beruflichen Bildung, - immer waren und sind Sie dagegen und verweigern Ihre Mitarbeit. ({1}) Wie hat gestern der BDI zu Recht bei einer Pressekonferenz erklärt? Er sagt, es mute schon paradox an, wenn die Opposition im Bundestag einerseits das Loblied des Mittelstandes singe, andererseits aber via Bundesrat die Abschaffung der Vermögensteuer zum Gegenstand eines populistischen Kuhhandels mit dem Kindergeld mache. Wer so agiere, müsse sich zu Recht die Blockade der von allen geforderten neuen Welle zur Selbständigkeit vorwerfen lassen. Ich glaube, das spricht Bände und sagt alles. ({2}) Meine Damen und Herren, dem setzen wir, die Regierungsparteien und -fraktionen, unser „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" entgegen. Mittelständler sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Leider werden sie immer weniger, auch deswegen, weil sich Leistung nicht mehr lohnt. Deshalb ist Bundeskanzler Dr. Kohl beizupflichten, wenn er sagt, gerade in wirtschaftlich schwieriger Zeit brauchen wir Unternehmer mit neuen Ideen, Wagemut und der Entschlossenheit, sich trotz mancher Probleme und Ängste durchzusetzen. Der Mittelstand ist der Inbegriff von Leistung, lebendigen Wettbewerbs und gesellschaftlicher Verantwortung. Er ist Eckpfeiler unserer freiheitlichen Grundordnung und Herzstück unserer sozialen Marktwirtschaft. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich meine, daß wir mehr unternehmerische Selbständigkeit brauchen. Es muß doch allen zu denken geben, wenn von den zirka 300 000 Betrieben, die in den nächsten Jahren zur Übernahme anstehen, gut 82 000 mit zirka 1 Million Beschäftigten allein deshalb in die Krise geraten könnten, weil sich niemand mehr findet, der bereit wäre, den Betrieb fortzuführen. Für uns Parlamentarier ist es deshalb eine wichtige Aufgabe, auch für Betriebsübernahmen die Rahmenbedingungen zu verbessern. Für Neugründer muß das Eigenkapitalhilfeprogramm mit seinen günstigen Konditionen weiter fortgeschrieben und verfestigt werden. ({3}) - Genauso hoch, wie es in der Vergangenheit war. Die Konditionen sollen nicht verschlechtert werden, Frau Kollegin Dr. Skarpelis-Sperk. Wenn Sie sich recht erinnern, habe ich gestern den Bundeswirtschaftsminister in der Wirtschaftsausschußsitzung angesprochen und animiert, dies aufzunehmen und darum besorgt zu sein, denjenigen, die bereit sind, den schweren Weg zur Gründung einer eigenen Existenz zu gehen, weiterhin mit guten Konditionen zur Seite zu stehen. Für uns gilt es, eine Offensive für unternehmerische Selbständigkeit und Innovationsfähigkeit zu starten. Schließlich gibt jede Neugründung im Durchschnitt vier Menschen Arbeit. Darum müssen wir besorgt sein, daß eine neue Gründungswelle entsteht. Dazu gehört, daß Existenzgründer steuerlich entlastet werden und mittelständischen Unternehmen der Zugang zum Wagniskapital erleichtert wird. Mindestens genauso wichtig ist es, daß die Selbständigen wieder einen höheren Stellenwert in unserer Gesellschaft bekommen. Die Kultur der Selbständigkeit und die Leistung des selbständigen Unternehmers müssen bereits Themen in Schule und Ausbildung sein; so heißt es bereits im Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung. ({4}) Aber es soll ja nicht bei Worten bleiben, sondern es müssen Taten folgen. Denn gerade die Mittelständler dürfen stolz darauf sein, daß zwischen 1987 und 1994 trotz zwischenzeitlicher Rezession gerade in ihrem Bereich zwei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen wurden. Damit dies weiter geschehen kann, ist es Aufgabe von uns allen, die Rahmenbedingungen hierfür zu verbessern. Wir müssen uns auch auf die alten Tugenden besinnen und unsere Mitbürger aus der Lethargie reißen. Unternehmer zu werden muß der Wunsch und das Ziel vieler Jugendlicher werden. Da genügt es nicht, dies heute nur so in den Wind hineinzusprechen, sondern wir müssen Maßnahmen hierzu ergreifen. Wir müssen vor allen Dingen dagegen anrennen, daß weiterhin der Staat der begehrteste Arbeitgeber ist. ({5}) Viel zu viele haben in den letzten Jahren versucht, bei ihm unterzukommen, und es auch erreicht. Diesen Trend müssen wir stoppen. Meine Damen und Herren, es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß es genug Probleme für den Mittelstand gibt. Wenn man sie nicht anspräche, wäre eine Mittelstandsrede nicht vollständig. Wir, die CDU/CSU im Verbund mit der F.D.P., gehen diese Probleme an und wollen sie beseitigen. So haben wir erreicht - dies ist nachhaltig zu begrüßen -, daß seit dem 1. Juni 1996 jedes Gesetz auf seine Mittelstandsverträglichkeit hin geprüft wird. ({6}) Des weiteren ist es dringend erforderlich, die Bürokratielasten zu verringern. 58 Milliarden DM Bürokratielasten entstehen jährlich in der Bundesrepublik Deutschland. 96 Prozent davon, also 56 Milliarden DM, entfallen auf den Mittelstand. Ein Kleinbetrieb hat mit Bürokratiekosten pro Mitarbeiter von 7 000 DM jährlich zu rechnen, während ein Großbetrieb nur eine Bürokratiebelastung von 305 DM zu zahlen hat. Der Kleine muß eh 20mal mehr bezahlen als der Große. Deshalb halte ich es für richtig, den Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung, unseren Staatssekretär Dr. Kolb, zu unterstützen, ({7}) wenn er sagt, daß es eine verbindliche Vorgabe für die Bundesministerien sei, den bürokratischen Aufwand innerhalb ihrer Zuständigkeiten um mindestens 20 Prozent zu verringern. Zudem hoffe ich, daß der sogenannte Bürokratiekosten-TÜV, der momentan im Bundeswirtschaftsministerium erstellt wird und der alle Gesetze und Verordnungen auf seine kostenmäßigen Auswirkungen auf Wirtschaftsunternehmen, insbesondere auf den Mittelstand, untersucht, möglichst bald auf den Tisch kommt. Werter Herr Kollege Kolb, wir wollen Sie bei dieser gerade für unseren Mittelstand eminent wichtigen Aufgabe nachhaltig unterstützen. ({8}) - Herr Kollege Schwanhold, Sie können mir eine Frage stellen. Dann wird mir das nicht von der Redezeit abgezogen. ({9}) - So muß ich natürlich versuchen, daß ich das alles herüberbringe, und kann auf Grund dessen auf die Zwischenrufe nicht so eingehen, wie Sie es vielleicht erwarten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, auch ist dem Konzentrationsprozeß im Handel zu begegnen. Es betrifft vor allen Dingen auch mittelständische Betriebe. Denn es ist eine ungesunde Entwicklung, wenn die Großen immer größer und die Kleinen immer kleiner werden. ({10}) So muß es uns mit Sorge erfüllen, daß auf dem Lebensmittelsektor die zehn größten Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland 78 Prozent des gesamten Umsatzes kontrollieren. ({11}) Wir werden deshalb - das möchte ich für die CDU/ CSU-Fraktion schon ankündigen - in Kürze eine Große Anfrage zur Lage des Einzelhandels an die Bundesregierung einbringen. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, insbesondere die Nachfragemacht zu stoppen, Herr Kollege Schwanhold. Ich gehe davon aus, daß Sie hier mitziehen werden. ({12}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, große Sorgen bereiten uns auch mittelständische Industriezweige mit ihren Strukturproblemen, zum Beispiel in der Textilwirtschaft oder in der Schuhindustrie. Aber ich bin überzeugt, daß uns die momentane wirtschaftliche Lage und die Perspektiven für das nächste Jahr hoffen lassen. Denn wir haben zur Zeit, historisch gesehen, die niedrigste Inflationsrate seit vielen Jahren. Wir haben die niedrigsten Zinsen seit Jahrzehnten. Wir haben durch steuerliche Entlastungen eine höhere Kaufkraft. ({13}) Wir haben den Kohlepfennig abgeschafft, der nicht durch eine Stromsteuer, wie Sie sie gefordert haben, ersetzt wurde. Die Energiekosten sind teilweise um 20 Prozent niedriger als vor zwei Jahren. Auch das ist eine enorme Entlastung für unsere Wirtschaft. Die Privatisierung der Post hat mit sich gebracht, daß die Telefongebühren in den letzten Jahren um 9 Milliarden DM abgesenkt werden konnten - auch wieder ein Standortvorteil für uns in der Zukunft. ({14}) Der Kurs des Dollar liegt um 10 Prozent höher als noch vor einem Jahr. Zudem verfügen wir über beste Infrastruktur und hervorragend ausgebildete Mitarbeiter. Meine Damen und Herren, dies alles sind positive Standortfaktoren, sind Pfunde, mit denen wir wuchern können. Lassen Sie mich zum Abschluß noch feststellen, daß wir in vier Monaten den 100. Geburtstag Ludwig Erhards, des Vaters unseres Wirtschaftswunders und großen Förderers des Mittelstands, feiern können. ({15}) Ich möchte deshalb mit einem Zitat von ihm schließen und dieses ergänzen, obwohl ich das schon einmal gesagt habe. Ludwig Erhard hat ausgeführt: „Wirtschaftspolitik ist nicht alles, aber alles ist ohne Wirtschaftspolitik nichts. " Ich meine, hier noch ergänzen zu müssen: Mittelstandspolitik ist nicht alles, aber die ganze Wirtschaftspolitik ist ohne den Mittelstand nichts. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, auch das mehr beherzigen, wenn es nicht bei Lippenbekenntnissen bleibt, wenn Sie bereit sind, uns bei einer attraktiven Mittelstandspolitik, die wir umsetzen wollen, zu unterstützen, dann sind Sie auf dem richtigen Weg. Das wünsche ich und hoffe darauf, daß in Zukunft diese meine Wünsche von Ihrer Seite erfüllt werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sigrid Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Außer einem Pflichtangriff auf die Opposition und einigen mittelständischen Allgemeinplätzen ist dem Kollegen Hinsken, sosehr ich ihn sonst schätze, leider nichts eingefallen. ({0}) Von den konkreten Grausamkeiten, die insbesondere auf dem Gebiet der Eigenkapitalhilfe von dieser Koalition geplant worden sind, hat er lieber erst gar nicht gesprochen. Ich will konkreter werden, lieber Herr Kollege Hinsken, und will in diesem Hause am Beispiel einer mittelständischen Industrie, nämlich der Textil- und Bekleidungsindustrie, einmal darüber reden, wie dort die tatsächliche Situation ist. ({1}) - Nein, ich habe gerade erst angefangen. Sie dürfen Ihre Frage später stellen. Die Textil- und Bekleidungsindustrie befindet sich in einer dramatischen und sich weiter verschärf enden Lage. Für große Teile der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie und ihre noch knapp 250 000 Beschäftigten steht die Existenzfrage an. 1970 hat diese Industrie in Westdeutschland noch 880 000 Menschen beschäftigt. Wieviel sind es heute? Im Juni 1996 waren es gerade noch 223 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das heißt: Nach ungefähr 25 Jahren sind nur noch gut ein Viertel der Arbeitsplätze vorhanden. Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit und von der Regierung nahezu ungerührt weggesteckt fand der weitgehende Zusammenbruch der ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie statt. Von den 320 000 Arbeitsplätzen des Jahres 1989 waren Ende 1994 gerade noch 27 000 Arbeitsplätze übriggeblieben. Das heißt: Über 90 Prozent der gesamten Arbeitsplätze in diesem Bereich wurden vernichtet. Wenn wir uns diese Industrie insgesamt ansehen, dann kann man feststellen, daß seit 1970 mehr als 657 000 Arbeitsplätze in Westdeutschland und seit 1989 293 000 Arbeitsplätze in Ostdeutschland allein im Bereich Textil und Bekleidung weggebrochen sind, ohne daß dies der Bundesregierung bisher irgendwelche ernsthaften Anstrengungen wert war. ({2}) Vielleicht liegt es daran, daß die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie nur mittelständisch strukturiert und regional nicht konzentriert ist und daß es in diesem Bereich überwiegend Frauenarbeitsplätze gibt. Die mittelstandspolitischen Lobsprüche hören wir gemeinsam. Wenn es aber darum geht, die Arbeitsplätze in diesem Bereich zu erhalten und konkret zu helfen, dann hört man nur Allgemeinplätze von Ihnen und nichts weiter. Das bedauern wir zutiefst. ({3}) Wir Sozialdemokraten haben angesichts dieser Entwicklung bereits im Oktober des vergangenen Jahres einen Antrag eingereicht und die Bundesregierung um Information und um ein Sofortprogramm gebeten. Wir möchten Information darüber bekommen, wie die neuen handelspolitischen Regelungen im Rahmen des GATT und der WTO umgesetzt worden sind und wie sie sich für die Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland und ihre Arbeitsplätze auswirken; Informationen darüber, welche Haltung die Bundesregierung zum Bericht der Europäischen Union über die Lage der Textil- und BekleiDr. Sigrid Skarpelis-Sperk. dungsindustrie einnimmt und wie sie die darin enthaltenen Vorschläge beurteilt; schließlich Informationen darüber, welche Maßnahmen sie gegen Wettbewerbsverzerrungen wie illegale Einfuhren, Subventionen, Muster- und Designdiebstahl einleiten wird. Auf den Bericht über die außenhandelspolitischen Auswirkungen wartet der Deutsche Bundestag immer noch. Zum zweiten Punkt haben wir immerhin vorgestern - die Debatte nahte; deswegen kam nun endlich etwas - einen dicken Bericht bekommen, den wir uns noch genau ansehen werden. Über diese Information hinaus haben wir Sozialdemokraten die Bundesregierung, wie gesagt, vor einem Jahr zu einem Sofortprogramm zur Stabilisierung und Schaffung neuer, zukunftsträchtiger Arbeitsplätze in diesem Bereich aufgefordert. Dieses Programm, das nun endlich dem Deutschen Bundestag zur Debatte vorliegt, enthält acht Forderungen, die angesichts der dramatischen Lage der Textil- und Bekleidungsindustrie und im Vorfeld der Singapurer Handelskonferenz im Dezember längst hätten umgesetzt oder zumindest in Arbeit genommen werden müssen. ({4}) Drei Forderungen betreffen die Handelspolitik, fünf sind Hausaufgaben, die man in der deutschen Wirtschafts- und Forschungspolitik hätte erledigen können. ({5}) Unsere handelspolitischen Forderungen an die Bundesregierung waren und sind unverändert, im Rahmen der Welthandelsorganisation darauf hinzuwirken, daß erstens endlich verbindliche ökologische Mindeststandards im Rahmen des GATT entwickelt und vereinbart werden, ({6}) zweitens die in den Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation vereinbarten elementaren sozialen Mindeststandards endlich in das Arbeitsprogramm der Welthandelsorganisation aufgenommen werden ({7}) und drittens die im Handel mit den - ({8}) - Was heißt hier „Oskar läßt grüßen"? Wissen Sie was? Sie sollten sich einen Hauch besser informieren, bevor Sie solche Sprüche loslassen. ({9}) Der amerikanische Präsident fordert das seit Jahren, und jetzt gibt es eine Initiative der amerikanischen und der französischen Regierung für den Einbau einer Sozialcharta. Daß unser Parteivorsitzender Oskar Lafontaine sinnvollerweise solche Forderungen mit unterstützt, sollte Sie nicht zu zynischen Anmerkungen veranlassen. Vielmehr sollten Sie sich einmal fragen, warum man Herrn Rexrodt und Sie in der Frage einer Sozialcharta zum Jagen tragen muß. Es ist doch peinlich für ein deutsches Parlament, daß Forderungen wie das Verbot der Kinderarbeit gegenüber der Christlich-Demokratischen Union hier in diesem Haus eingeklagt werden müssen! ({10}) Die Bundesregierung hat doch im vergangenen Jahr in Marrakesch mitsamt den Briten zu den Verhinderern gehört. Weil Sie das Thema hier schon aufgegriffen haben, will ich Ihnen noch folgendes sagen: Der jüngste Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation zeigt eine schreckliche Realität. Hunderte von Millionen von Jungen und Mädchen bis zum 14. Lebensjahr müssen weltweit arbeiten. Der Bericht sagt: Unter Aufopferung ihrer Kindheit, Erziehung und Gesundheit tragen die Kinder zur Vergrößerung der weltweiten Arbeitslosigkeit der Erwachsenen bei. Was tut eigentlich die Bundesregierung, was tut auch dieses Parlament, „um den kleinen Arbeitssklaven zu einem lebenswerten Leben zu verhelfen"? ({11}) - Das ist Mittelstandspolitik. Fragen Sie einmal die Gewerkschaft Textil - Bekleidung und übrigens auch den Unternehmensverband, ({12}) warum beide gemeinsam eine Initiative zum Verbot der Kinderarbeit, zum Verbot der Sklavenarbeit und zum Verbot der Zwangsarbeit ergriffen haben. Fragen Sie doch einmal Ihre mittelständischen Unternehmen, bevor Sie hier so reden. Lesen Sie die Presseerklärungen, dann werden Sie dazu imstande sein. Aber wenn Sie nicht wissen, was in diesem Bereich passiert, dann seien Sie in Gottes Namen ruhig! ({13}) Die nächsten fünf Forderungen unseres Antrags sind nationale Hausaufgaben der Bundesregierung, die gerade für die mittelständischen Unternehmen von zentraler Bedeutung sind. Wir fordern die Bundesregierung auf, eine Innovationsoffensive für die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie, insbesondere im Rahmen der Forschungsförderung der AIF, zu ergreifen. Wir fordern, die Textil- und Bekleidungsindustrie in der Außenwirtschaftsförderung, insbesondere bei den Auslandsmessebeteiligungen, verstärkt zu fördern. Wir wünschen, eine Ausbildungs- und Fortbildungsinitiative mit den Schwerpunkten betriebliche und schulische Bildung und Weiterbildung auch während der Meister- und Technikerausbildung in Gang zu setzen und eine gesetzliche Kennzeichnungspflicht einzuführen und freiwillige Kennzeichnungsvereinbarungen für die Einführung eines einheitlichen Öko- und Soziallabels für Bekleidung und Haustextilien zu fördern. Schließlich fordern wir, den im Frühjahr von der Bundesregierung begonnenen Branchendialog „Textil und Bekleidung" fortzusetzen und dem Bundestag darüber zu berichten. Daß sich die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung mit diesem Branchendialog so viel Zeit lassen, stimmt uns allerdings bedenklich. Offensichtlich will man Zeit gewinnen, um sich über die Runden des Haushalts 1997 und die Ministerkonferenz in Singapur zu retten. Nur, dann wird es zu spät sein. Wehe, wenn wir uns jetzt nicht schnell und energisch bei den Wettbewerbsverzerrungen - im Innern, in der Europäischen Union, in der Handelspolitik - für diese Branche einsetzen! Denn dann können wir den Rest der deutschen Textil- und Bekleidungsarbeitsplätze abschreiben. Im Jahre 1998 wird der Handel mit den MOE-Staaten vollständig liberalisiert - zu Lasten von Textil- und Bekleidungsindustrie. Die Massenkaufkraft, die Sie, Herr Kollege Hinsken, angesprochen haben, und damit die Voraussetzungen für den Textilabsatz stagnieren seit dem vergangenen Jahr dank der unsozialen Steuer- und Gesundheitspolitik und angesichts von Millionen von Arbeitslosen. Es gibt Chancen für eine Öffnung der Auslandsmärkte, aber nur dann, wenn im ASEAN-Raum tatsächlich etwas getan wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will Ihnen etwas sagen: Die deutsche Textil- und Bekleidungsindustrie hat sich in den vergangenen Jahren durch beachtliche Innovations- und Rationalisierungsanstrengungen zu einer der modernsten Industrien entwikkelt. Wenn wir ihr jetzt nicht helfen - wir verlangen keinen Protektionismus, sondern konkrete Hilfen, damit diese Industrie und diese mittelständischen Unternehmen überleben können -, dann wird auch noch der Rest der Arbeitsplätze verlorengehen. Ich sage Ihnen: Halten Sie keine Reden zum Mittelstand, sondern helfen Sie konkret mittelständischen Unternehmen in dieser Branche! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Margareta Wolf.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Hinsken, das, was ich von Ihnen gehört habe - ich kann da nahtlos an die Kollegin Skarpelis-Sperk anschließen -, führt ein bißchen zu dem Eindruck, Sie schwebten wirklich auf Wolke sieben. Wir alle haben in der letzten Woche die Zeitungen gelesen und hoffentlich auch mit Leuten in der Bahn, auf Veranstaltungen und wo auch immer gesprochen. Vor diesem Hintergrund kann man, glaube ich, mit einer relativ großen Objektivität sagen, daß unser Land von einer großen Unsicherheit geprägt ist, daß es eine große Angst vor dem Abstieg in dieser unserer Bundesrepublik gibt und daß eine wachsende Zahl der Bevölkerung tatsächlich Angst vor Verlust ihres Arbeitsplatzes hat. Ich glaube, wir können die Debatte tatsächlich nur unter diesem Kontext führen. Herr Kollege Hinsken, „Die Zeit" schreibt in ihrer letzten Ausgabe unter der Überschrift „Wohlstand auf Abruf " : Alle spüren: Seit der Rezession 1993/94 ist in der deutschen Wirtschaft nichts mehr so, wie es vorher war: die Selbsteinschätzung von Arbeitnehmern und Unternehmern, der Blick auf die Zukunft, die Sorgen der Menschen. Dies alles hat sich geändert. Die Arbeitslosigkeit ist zum vorherrschenden Thema geworden. Jeder dritte Bundesbürger hat schon einmal an der eigenen Arbeitsstelle einen Stellenabbau erlebt. Jeder fünfte fürchtet unmittelbar um seinen Job. Vor allem aber haben die Menschen - ich denke, das sollte uns hier beschäftigen - den Glauben verloren, daß sich in den nächsten Jahren tatsächlich etwas an dem Problem Massenarbeitslosigkeit ändern wird. So sagen zwei Drittel der Befragten, daß sie glauben, daß die Zahl der Erwerbslosen eher steigen wird. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung bezeichnen die Wirtschaftslage in diesem Land als schlecht oder sehr schlecht. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung machen sich um ihre materielle Sicherheit im Alter Sorgen. Die Sorge um die Zukunft ist bei den jungen Menschen besonders groß ausgeprägt. Es sollte uns beschäftigen, daß mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt, daß die heutige Jugend es einmal schwerer haben wird als ihre Elterngeneration; dies sind wir, meine Damen und Herren. Nicht Armut gefährdet die Demokratie in diesem Land, sondern die Angst vor Armut. Angst ist keine produktive Kraft. Ich stimme Ralf Dahrendorf ausdrücklich zu, der vor kurzer Zeit gesagt hat, daß „Angst lebensgefährlich" sein könnte, „weil sie eher zu Reaktionen führt, die zu allen Arten der AbschlieBung drängen. Man will um ziemlich jeden Preis bewahren, was man noch hat". Die Debatte um den Wirtschaftsstandort Deutschland, um die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik hat ihre Berechtigung und eine Vielzahl von ernstzunehmenden Gründen. Im Rahmen der veränderten geopolitischen Ausgangsposition gehen viele Unternehmen daran, die bisherigen Dispositionen hinsichtlich des Produktionsstandortes und der Arbeitsorganisation zu überprüfen. Diese Entwicklung ist nicht neu, aber sie hat sich seit 1989 dramatisch beschleunigt. Vor diesem Hintergrund muß man sagen, daß die klassische Standortdebatte in die Globalisierungsdebatte übergegangen ist. Margareta Wolf ({0}) Ich denke, wir müssen daher folgende Fragen diskutieren: Wir müssen uns fragen: Wird sich die Mehrheit der Deutschen ihren vergleichsweise hohen Lebensstandard auch zukünftig leisten können? Meine Damen und Herren, das müssen Sie fragen. Wir müssen uns fragen: Welche Folgen für die Arbeitsmärkte haben die veränderten Dispositionsmöglichkeiten der Unternehmen und die Globalisierung der Finanzmärkte? Wir müssen uns fragen: Sind die Abgabenbelastungen unter Gesichtspunkten eines zunehmend härter ausgetragenen Wettbewerbs tatsächlich noch tragbar? ({1}) - Ach, Herr Weng, wenn Sie einmal eine Antwort hätten, wären wir dankbar. Wir müssen uns fragen: Wie antwortet die Gesellschaft, wie antwortet die Politik auf die zunehmende soziale Desintegration, und wie gehen sie mit der wachsenden Zahl von Menschen um, die auf die Solidarität dieser Gesellschaft angewiesen sind? Diese Fragen werden von Ihnen leider nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Sie setzen auf die, wie ich finde, perspektivlose Nachahmung wirtschaftsliberaler Strategien, wie wir sie aus den angelsächsischen Ländern der 80er Jahre kennen; Stichwort: den Gürtel enger schnallen. Sie fahren eine klassische undifferenzierte Kostensenkungsstrategie und können gleichzeitig nicht sagen, was Ihr 50Punkte-Programm, Ihr Programm für Wachstum und Beschäftigung, tatsächlich bringt. Die Bundesregierung hat auf meine Kleine Anfrage gesagt, das sei nicht zu quantifizieren. Der Kollege Lambsdorff geht im übrigen von einer Zunahme der Erwerbslosenquote aus. ({2}) Was wird geschehen, wenn Ihre Strategie, Herr Hinsken, keine Resonanz mehr findet? ({3}) - Das wollen wir doch einmal sehen. Aber was passiert, wenn Ihre Strategie keine Resonanz mehr findet, weil niemand mehr glaubt, daß die Einschränkung vorübergehender Natur ist - das kann man ja auch nicht glauben -, und den Einsparungen keine greifbaren Gewinne gegenüberstehen? Was wird passieren? Werden wir eine Streikwelle erleben - dazu sagen Sie nichts -, die letztendlich - das wissen wir alle - die Wirtschaft destabilisiert? Erfahrungen mit der Lohnfortzahlung haben wir erst neulich gemacht. Werden wir auf eine Entsolidarisierung der Gesellschaft hinsteuern - dazu sagen Sie nichts -, in der Kapitalbesitzer und Unternehmen sich zunehmend der inländischen Besteuerung entziehen? Fragen über Fragen! Sie sagen nichts zu der Entwicklung in Amerika; Sie sagen nicht, wer die Gewinner der Entwicklung in Amerika sind. Ich glaube, daß Sie durch die relativ undifferenzierte Fixierung auf eine reine Kostensenkungsstrategie die Angst in der Bevölkerung noch schüren. Ich möchte an diesem Punkt auf zwei bemerkenswerte Zitate hinweisen, die ich in den letzten Tagen in der Zeitung gefunden habe. „Die Zeit" vom 4. Oktober: Auf jeden Fall wollen die Bundesbürger mehr soziale Gerechtigkeit - und zwar unabhängig von ihrer politischen Couleur: Nicht nur die Wähler von SPD, Grünen und PDS beklagen, daß die Kluft zwischen Arm und Reich zu groß ist, auch rund 80 Prozent der Koalitionsanhänger teilen diese Meinung. ({4}) Meine Damen und Herren, ich denke, diese Zahl sollte aufrütteln und dazu zwingen, endlich die drängenden Fragen der Zeit zu stellen. Sie sollte dazu zwingen, die Voraussetzungen für den wirklich dringend notwendigen Strukturwandel zu schaffen - wir weisen jetzt schon seit einiger Zeit darauf hin -, anstatt immer weiter eine Wirtschaftspolitik nach dem Muster der 50er Jahre zu fahren und somit keinen Ausweg aus der Globalisierungsfalle zu finden, sondern im Gegenteil in die Globalisierungsfalle hineinzurennen. Sie nutzen überhaupt nicht die Chancen, die mit dieser Globalisierung einhergehen könnten, weil Sie sie in für meine Begriffe nationalstaatlicher Trägheit übersehen oder auch verschlafen. ({5}) Ein zweites Zitat vom 7. Oktober dieses Jahres: Eine Politik, die angesichts der Globalisierung der Wirtschaft vorrangig auf die Senkung der Lohnkosten setzt, muß nach Auffassung des Bundesbildungsministers Jürgen Rüttgers ({6}) scheitern. Sie gehe völlig an den Realitäten in Deutschland vorbei, sagte der Minister bei der 6. Bundesdelegiertenversammlung der SeniorenUnion der CDU in Heidelberg. Es könne nicht Aufgabe der CDU ... sein, in entsprechende Forderungen einzustimmen. Die Chance der heimischen Wirtschaft liege allein in hochwertigen Produkten, die teuer verkauft werden könnten .. . Daher brauche man eine konsequente Politik für Innovation, .. . Richtig, kann ich nur sagen. ({7}) Nur, meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund wachsender Arbeitslosigkeit und wachsender Zukunftsängste der Bevölkerung reichen wohlfeile Sonntagsreden nicht mehr aus. Wir brauchen endlich Margareta Wolf ({8}) konkrete konzeptionelle Rahmenbedingungen. Die Zeit der Besinnungsaufsätze ist vorbei. ({9}) Wir brauchen den Strukturwandel, damit der Standort zukunftsfähig bleibt, damit wir gerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen tatsächlich neue Arbeitsplätze in diesem Land schaffen können, damit wir endlich wieder in die Situation kommen, Zukunftsvorsorge statt Substanzverzehr zu betreiben. Der vorgestern vorgelegte Jahresbericht des Bundesumweltamtes, Herr Hinsken, hat in eine deutliche Richtung gewiesen, in eine andere als Ihr Konzept für mehr Beschäftigung. Eine Studie des niedersächsischen Umweltministeriums zeigt in eine andere Richtung. Machen Sie endlich Schluß mit dem Baukastenprinzip in Ihrer Wirtschaftspolitik! Setzen Sie endlich Rahmenbedingungen für den Strukturwandel, für die Zukunftsfähigkeit des Mittelstandes und somit für Arbeits- und Ausbildungsplätze in Deutschland! ({10}) Lassen Sie mich am Beispiel Risikokapital demonstrieren, wie Wirtschaftspolitik unter dieser Bundesregierung gemacht wird. Seit 13 Jahren reden Sie davon, daß wir einen Risikokapitalmarkt brauchen. Sie werden nicht müde, in Ihren Berichten immer wieder fleißig aufzuzählen - Herr Kolb ist der Autor -, was Sie alles an Einzelmaßnahmen planen. Ich sage „planen"; denn die Zeit vergeht, vergeht und vergeht, und es passiert einfach nichts. Die kleinen innovativen Betriebe gehen pleite, die Insolvenzrate war noch nie so hoch wie im Moment, weil es zu den unflexiblen, auf Sicherheit setzenden Bankkrediten in diesem Land nach wie vor keine echte Alternative gibt. Ihr Problem ist: Sie haben, wie ich glaube, das falsche Prinzip. Sie arbeiten und denken nach dem schon erwähnten Baukastenprinzip, anstatt echte Reformen anzupacken. Solange Sie Ihre gesamte Mittelstandsförderpolitik in erster Linie auf künstlich verbilligten Krediten aufbauen, können Sie doch nicht im Ernst glauben, daß Sie mit 20 Einzelmaßnahmen für Risikokapital die grundlegende Umorientierung hinbekommen, die unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft tatsächlich brauchen. Entscheiden Sie sich endlich für einen Bauplan, anstatt ständig kleine Klötzchen auf den Tisch zu bringen!

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin - Margareta Wolf ({0}) ({1}): Ich komme zum Schluß.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nein, Sie brauchen noch nicht zum Schluß zu kommen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weng?

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Wolf, in einem montags erscheinenden Magazin stand diese Woche, daß sich der Kollege Joseph Fischer bei Ihnen immer Rat hole, wenn es um wirtschaftspolitische Fragen gehe. Darf ich Sie fragen, warum Sie diesen Rat nur Herrn Fischer geben und ihn diesem Haus vorenthalten, warum Sie keine konkreten Vorschläge zur Verbesserung der von Ihnen so beklagten Lage machen? ({0})

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrter Kollege Weng, ich habe diesem Haus keine Ratschläge zu geben; ich habe ihm einen Antrag vorgelegt. Im Haus stehen heute zu dieser abendlicher Stunde 14 Anträge zur Beratung an. Ich habe ein Eckpunktepapier für eine zukunftsorientierte Mittelstandspolitik vorgelegt, das auch Sie kennen, weil Ihre Fraktion es angefordert hat. Dies finden im übrigen viele mittelständische Unternehmen, auch die Textilindustrie gut. ({0}) - Sie haben es wahrscheinlich noch nicht einmal gelesen. Sie sollten vielleicht erst einmal Ihre Programme mit der tatsächlichen Situation des Mittelstandes spiegeln, bevor Sie über mein Programm oder unsere Programme urteilen. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß dieses Papier vorliegt. Ich schicke es Ihnen gerne zu, denke aber, daß es vor dem Hintergrund, daß wir hier 14 Anträge zu beraten haben, etwas weit führen würde, wenn ich jetzt einzelne Punkte meines Antrages diskutierte. Das alles können Sie nachlesen. Vor dem Hintergrund dessen, daß sich die Insolvenzrate immer weiter erhöht und die Arbeitslosenquote immer mehr steigt, denke ich, daß wir die gesamte Debatte in diesen Rahmen einbetten sollten. Das habe ich für meine Begriffe getan. Ich habe Ihnen auch gesagt: Für mich ist im Moment das Hauptproblem der fehlende Strukturwandel und die Tatsache, daß wir keine Rahmenbedingungen haben, auch keine für den privaten Risikokapitalmarkt. Sie haben gesagt, wir bräuchten mehr Wagniskapital. Dadurch aber entsteht es nicht; das wissen wir. Es ist auch eine Mentalitätssache, eine Sache, die im Kopf abläuft. Wenn die Politik die Insolvenzrate senken will, wenn sie tatsächlich Rahmenbedingungen für innovative kleine Betriebe setzen will, dann brauchen wir diesen Markt, und zwar schnell - dies gerade vor dem Hintergrund der Entwicklung der EU, der Chancen, die wir in der EU haben könnten, und der Globalisierung. Margareta Wolf ({1}) Ich bedanke mich ganz herzlich für die Zwischenfrage. ({2}) Die Wirtschaft und die Gesellschaft, die das sicherheitsorientierte Bankensystem ja nunmehr seit 40 Jahren gewöhnt sind, Herr Weng, brauchen heute deutliche Anreize für eine Risikokultur. Ich habe versucht, das auszuführen. Wir brauchen heute eine steuerliche Gleichstellung für Unternehmensbeteiligungen; sonst hat der Risikokapitalmarkt hier in Deutschland keine Chance. Nur mit einer der Zukunft zugewandten ökonomischen Strategie ist tatsächlich auch die Angst in der Bevölkerung abbaubar. Ich würde mir wünschen, daß wir das wirklich zusammen machen, weil diese Angst unsere Demokratie gefährdet. Danke. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Nun gebe ich das Wort dem Abgeordneten Paul Friedhoff. ({0})

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war eine sehr qualifizierte Zwischenbemerkung der Kollegin Skarpelis-Sperk, die sagte, daß nun Erklärungen kommen. Warten Sie einmal ab; am Ende können wir dann darüber ja vielleicht diskutieren. Was Sie davon verstanden haben werden, weiß ich allerdings nicht. Ich habe in dieser Beziehung einige Probleme, zumindest mit dem Beitrag, den Sie vorhin gehalten haben. Man erkennt, glaube ich, auch aus dieser Debatte, daß die Beschäftigungspolitik in den letzten Monaten und Jahren eine große Priorität bekommen hat. Dies ist auch nicht verwunderlich. So hat der Jahreswirtschaftsbericht den Titel „Vorrang für Beschäftigung" . Das darin enthaltene 50-Punkte-Programm hat den Namen „Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze". Wir konzentrieren uns also darauf. Heute führen wir eine Debatte, in der es auch um den Mittelstand geht. Wenn man weiß, daß zwei Drittel der Erwerbspersonen in Deutschland vom Mittelstand beschäftigt werden, dann muß man einsehen, daß man mit einer Beschäftigungspolitik automatisch auch eine Mittelstandspolitik verbinden muß. Insofern ist es sinnvoll, daß man beides zusammen unter der genannten Überschrift diskutiert. Warum sind wir so daran interessiert, daß der Arbeitsmarkt diese hohe Priorität bekommt und daß wir Verbesserungen herbeiführen? Ich glaube, wir sind uns alle darüber im klaren, daß Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Armut und Verelendung ist und daß es gegen die Menschenwürde verstößt, wenn man Menschen, die selber ihr Schicksal in die Hand nehmen wollen und können, vom Arbeitsmarkt ausgrenzt und ihnen damit verweigert, daß sie ihren Beitrag selber leisten. Wenn man das volkswirtschaftlich betrachtet, wird man finden, daß es auch eine Verschwendung von Humankapital ist, wenn man diese Menschen ausgrenzt, die Gesellschaft dadurch schwächt und sie dadurch weit unter ihren Möglichkeiten bleibt. ({0}) Wenn man untersucht, woher diese hohe Arbeitslosigkeit kommt, muß man, glaube ich, eine fehlende Wettbewerbsfähigkeit vieler Betriebe konstatieren, die aus diesem Grunde keine Einstellungen, sondern Entlassungen vornehmen. Jemand, der in einem mittelständischen Unternehmen schon einmal gezwungen war, Menschen zu entlassen, weiß, daß das ein nicht so ganz angenehmer Vorgang ist. Denn mittelständische Betriebe sind von hoher sozialer Verantwortung geprägt, und die mitarbeitenden Unternehmer, die ja charakteristisch für Mittelständler sind, sind sicher auch sozial sehr kompetent. Dies ist, glaube ich, eine Riesenstärke des Standorts Deutschland. ({1}) Wir müssen letztendlich die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit beklagen; denn dadurch gehen Arbeitsplätze verloren. Wir sollten uns einige Daten vor Augen führen, um daraus Rückschlüsse zu ziehen. Die Daten, die mir dazu einfallen, besagen, daß wir auch im Jahre 1995 wiederum eine negative Leistungsbilanz hatten, daß den deutschen Direktinvestitionen im Ausland in Höhe von 50 Milliarden DM nur Direktinvestitionen ausländischer Investoren in Deutschland in Höhe von 12,9 Milliarden DM gegenüberstehen. Daß wir einen exzellenten Außenhandelsüberschuß in Höhe von 93,3 Milliarden DM haben, gehört ebenfalls dazu. Gleichzeitig gehört aber dazu, daß wir ein Defizit von 50 Milliarden DM bei arbeitsintensiven Dienstleistungen haben. Das heißt, wenn wir bei den Produkten einen Exportüberschuß erzielen können, zu deren Herstellung möglicherweise wenig menschliche Arbeitskraft nötig ist, aber in dem Bereich ein Riesendefizit haben, in dem menschliche Arbeitskraft gefragt ist, dann müssen wir uns schon überlegen: Woran liegt das? Wenn wir uns die Lohnstückkosten im verarbeitenden Gewerbe, jeweils ausgedrückt in den nationalen Währungen, einmal ansehen und dabei die zwölf wichtigsten Industrieländer betrachten, dann fällt auf, daß in dem Industrieland Deutschland seit 1989 eine Steigerung der Lohnstückkosten von 17,8 Prozent zu verzeichnen ist, während sie in den elf anderen Industrieländern insgesamt nur um 8,6 Prozent gestiegen sind. Dies sagt aber noch gar nichts aus, wenn man das nicht von den nationalen Währungen in eine Währung - meinetwegen in D-Mark - umrechnet. Wenn wir in D-Mark umrechnen, stellen wir fest, daß die Lohnstückkosten bei uns nach wie vor bei 17,8 Prozent liegen, während sie in den elf anderen wichtigsten Industrieländern sogar um 6,5 Prozent sanken. Daran können wir sehen, welche gewaltigen Probleme uns die Situation an den Devisenmärkten bereitet hat. Es handelt sich um eine Differenz von 24,3 Prozent. Bei diesen Zahlen wird klar, weswegen man in Deutschland in verringertem Umfang arbeitet, weswegen die Kleidung nicht mehr in Deutschland hergestellt wird. Im übrigen profitieren wir natürlich alle von den niedrigen Preisen, beklagen sie nicht. Wir beklagen aber, daß die Industrie abzieht. Das hat etwas mit internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu tun. Das sind Realitäten. Wenn man auf sie hinweist, heißt das nicht, daß man den Standort herunterredet. Das sind einfach die Realitäten, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, wenn wir uns über Beschäftigung unterhalten. Um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, müssen wir die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern. ({2}) Genau da setzt das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung an. Genau an dieser Stelle haben wir am Freitag, dem 13. September, eine Reihe von Gesetzen beschlossen - gegen die Opposition, die sich verweigert, weil sie diese grundlegenden Zusammenhänge nicht so beurteilt wie wir. Wir haben im Bereich der Steuern mit dem Jahressteuergesetz ganz eindeutig damit begonnen, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen, die Vermögensteuer abzuschaffen und den Solidaritätszuschlag zurückzuführen. Das haben wir vor. Wir erarbeiten darüber hinaus Vorschläge, wie wir möglichst - aus der Sicht der F.D.P. - zum 1. Januar 1998 eine grundlegende Steuerreform, die die direkten Steuern verringert, auf den Weg bringen können. ({3}) Es ist klar, daß wir bei weniger Steuereinnahmen natürlich auch weniger an Staat finanzieren können. Deswegen müssen wir den Staat zurückführen, der die Unternehmen an vielen Stellen eine Menge kostet. Ein zweiter Bereich, den wir uns vorgenommen haben, ist der der Lohnnebenkosten. Da haben wir in den letzten Jahren enorme Anstiege verzeichnet. Natürlich sind die mit der hohen Arbeitslosigkeit verbunden. Diese führt zu einem Anstieg der Lohnnebenkosten. Diese führen zu einem Anstieg der Arbeitskosten. Das führt dazu, daß man weniger wettbewerbsfähig ist. Automatisch führt das dazu, daß die Arbeitslosigkeit steigt. Wir müssen aus diesem Teufelskreis heraus. Deswegen haben wir einige Maßnahmen ergriffen, mit denen zumindest erreicht werden soll, daß wir bei den direkten Lohnnebenkosten wieder unter 40 Prozent kommen. Auch hierbei verweigert sich die Opposition leider. Wir könnten an einigen Stellen vielleicht noch mehr machen, wissen natürlich darum, daß die Opposition all die Gesetze blockieren kann, die zustimmungspflichtig sind. Wir können uns also leider nur auf einige Teilbereiche konzentrieren. Vielleicht werden zukünftige Wahlergebnisse dieses einmal ändern. Wir haben in der Rentenversicherung und in der GKV entsprechende Maßnahmenpakete geschnürt. Wir haben einen weiteren Bereich, nämlich den des Arbeitsrechtes, angegriffen. Es muß eigentlich allen klar sein, daß zum Beispiel das Kündigungsschutzgesetz den Verlust eines Arbeitsplatzes nicht verhindert. Ein Arbeitsplatz geht dadurch verloren, daß das Unternehmen zuwenig Aufträge hat. Es gibt nur einen sicheren Arbeitsplatz: Das ist ein Arbeitsplatz in einem Unternehmen, das Gewinn macht und wo für den Arbeitsplatz nicht mehr ausgegeben werden muß, als man auf ihm verdient. Wenn man das weiß, ist es ziemlich einfach, zu überblikken, daß man auf solche Arbeitsplätze setzen muß. Deswegen nützt dort kein Kündigungsschutzgesetz oder ähnliches; denn Arbeitsplätze fallen dadurch nicht weg oder werden dadurch nicht erhalten. Es geht lediglich darum: Wer wird entlassen? Dazu haben wir im Gesetz erhebliche Klarstellungen vorgenommen, damit die Rechtsunsicherheit behoben wird.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Friedhoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf?

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Friedhoff, Sie haben davon gesprochen, daß die Höhe der Lohnstückkosten ursächlich dafür ist, daß die Arbeitslosenquote heute so hoch ist. Deshalb möchte ich Sie fragen: Können Sie erstens meine Analyse bestätigen, daß die Zahl der Arbeitslosen 1990 im Vergleich zu den Folgejahren am niedrigsten war, und können Sie zweitens bestätigen, daß aus der Sozialversicherung mehr als 115 Milliarden DM für die deutsche Einheit bezahlt wurden? Sind Sie nicht vielmehr mit mir der Meinung, daß man strategisch besser gehandelt hätte, wenn man im Jahr 1990 - damals war die Solidarität der Bevölkerung dafür sehr groß - zur Finanzierung der deutschen Einheit die Steuern erhöht hätte? Jetzt hingegen ist die Akzeptanz Ihrer Strategie weitaus niedriger und vor allen Dingen nicht mit einem positiven Beschäftigungseffekt verbunden.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann vieles von dem, was Sie gerade gesagt haben, bestätigen. Allerdings glaube ich nicht, daß das Konzept, die Kosten der Einheit so über Steuern zu finanzieren, wie Sie das gerade vorgeschlagen haben, richtig gewesen wäre; denn auch höhere Steuern hätten sicher dazu geführt, daß die Arbeitskosten insgesamt gestiegen wären. Denn bei uns sind ja nicht die Nettolöhne das Problem, bei uns sind die Brutto-Brutto-Löhne - da stecken die Steuern drin - das Problem. ({0}) - Das ist das Problem, daß Sie das nicht verstehen. Ich habe erwartet, daß Sie das dazwischenrufen, Frau Skarpelis-Sperk. ({1}) - Ja, ich weiß: Sie haben das alles irgendwo in einem Seminar erlernt. Ich habe damit täglich in meinem Betrieb zu tun. ({2}) In diesem Betrieb muß ich das täglich durchfechten. ({3}) - Ich bedanke mich; das zeigt die Qualität Ihrer Zwischenrufe. Frau Wolf, ich wollte Ihnen das noch einmal deutlich machen: Ich glaube, das hätte zu höheren direkten Steuern geführt. Denn der Solidaritätszuschlag, den wir erhoben haben, bezog sich nicht etwa auf indirekte Steuern - die Vorschläge dazu, die wir damals gemacht haben, wurden nicht angenommen, liefen ins Leere -, vielmehr wurden die direkten Steuern, die die Arbeit belastenden Kosten hochgeschraubt. Wir mußten die Einheit finanzieren. Daß dies an der einen oder anderen Stelle möglicherweise anders hätte gestaltet werden können - vor allem nicht im Wege der Belastung der Arbeitseinkommen -, will ich gerne zugeben. ({4}) Ich will zum Schluß kommen: Ich glaube, daß die Maßnahmen, die wir jetzt in der Beratung haben, die Rahmenbedingungen so verändern, daß die Beschäftigung wieder steigt. Denn im Gegensatz zu dem, was hier oft gesagt wurde, will ich betonen: Auch der Arbeitsmarkt ist ein Markt, der bestimmten Regeln folgt. Angebot und Nachfrage bestimmen einen Preis. Das bedeutet: Wenn wir den Preis für Arbeit verringern, also nicht die Nettolöhne, wohl aber die Arbeitskosten verringern, dann wird die Arbeit auch wieder stärker nachgefragt. Dies ist eine Grundweisheit, die jeder, der mit Marktwirtschaft etwas zu tun hat, der sich in einem Unternehmen damit beschäftigt, kennt. Das weiß jeder Mittelständler, daß das etwas damit zu tun hat. ({5}) Aus diesem Grunde haben wir den Weg gewählt, der überall dort in der Welt, wo er gegangen worden ist, erfolgreich ist. Wir gehen davon aus, daß wir in der Koalition diesen Weg gemeinsam mit der Bundesregierung beharrlich weitergehen werden. Wir hoffen, daß die Opposition in der Zwischenzeit noch etwas davon übernimmt, damit wir viele Blockaden, die uns sonst möglicherweise ins Haus stehen, umgehen können und am Standort Deutschland wirklich weiterkommen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einen Satz vorweg: Ich will die Leistung, die bei der Neugründung und Konsolidierung kleiner und mittelständischer Betriebe, insbesondere in den neuen Ländern, in den vergangenen Jahren vollbracht wurde, nicht kleinreden. ({0}) Ich habe großen Respekt vor den Hunderttausenden in Ost und West, die den Mut zur Selbständigkeit aufbrachten und aufbringen. Ich schätze auch nicht wenige der Förderprogramme, die diesen Mut flankieren und honorieren sollen. Nur - jetzt komme ich auf Ihr „aber" -, auch im September waren fast 3,9 Millionen Menschen in diesem Land ohne Arbeit, ({1}) knapp 330 000 mehr als vor einem Jahr. Es ist offensichtlich: Die bisher genutzten Instrumente zur Schaffung neuer Arbeitsplätze reichen oder taugen nicht. Die hohe Arbeitslosigkeit führt gesamtwirtschaftlich, fiskalisch, sozial und politisch zu schweren Belastungen. ({2}) Die Antwort der Koalition auf diese Herausforderung bleibt die seit Jahren gleiche Litanei: sparen, sparen, sparen - bei Ausgaben wie bei Einnahmen. Ich will es Ihnen offen sagen, meine Damen und Herren von der Koalition: Man kann die Märkte und Menschen eines Landes auch kaputtsparen. Sie sind auf dem besten Weg dorthin. Hören Sie endlich mit Ihrer politisch motivierten Standortdebatte auf! Wenn Sie mir das schon aus Prinzip nicht abnehmen, dann glauben Sie vielleicht Roland Berger, der unlängst in der „Wirtschaftswoche" wörtlich äußerte: „Deutschland ist generell kein uninteressanter Wirtschaftsstandort". Nicht die Steuerlast für die UnterRolf Kutzmutz nehmen, sondern beispielsweise deren Manager seien hinsichtlich ihrer Kundenorientierung Standortnachteile. So weit der sicher auch von Ihnen geschätzte Unternehmensberater. Obwohl die Lage auf dem Arbeitsmarkt dramatisch ist, ziehen Sie auf Ihren alten ausgetretenen Pfaden weiter, die keine Arbeitsplätze für Millionen, sondern bestenfalls noch mehr Moneten für Millionäre bringen werden. ({3}) Gestern sparten im Wirtschafts- wie im Haushaltsausschuß die Koalitionsabgeordneten nicht mit warmen Worten für die Förderung von Innovationen, Aufbau Ost, Mittelstandsförderung oder erneuerbaren Energien. Trotz der von uns Demokratischen Sozialisten vorgelegten Deckungsvorschläge wurden die Mittel für das nächste Jahr gekürzt. Mich beeindruckten besonders die rhetorischen Purzelbäume meiner ostdeutschen Kollegen Pohler und Petzold. Leider kann man sich bei rhetorischen Purzelbäumen nicht verletzen. Wer Belege für die Diskussion im Wirtschaftsausschuß haben will, sollte das Protokoll nachlesen. Nicht einer der von oppositionellen Parteien eingebrachten Vorschläge wurde in irgendeiner Weise honoriert, nicht einer wurde für so gut befunden, um ihn in die Wirtschaftspolitik einzuordnen. Auch die zur heutigen Debatte vorgelegten Beschlußempfehlungen, die zumeist nur mit Koalitionsmehrheit abgesegnet sind, atmen nichts von einem mutigen Neuanfang. Dabei erwarten die bezahlte Arbeit Suchenden ebenso wie all jene, die sich eine selbständige Existenz aufbauen wollen, von uns zu Recht endlich neue Wege aus der Misere, die von der Politik mitverschuldet wurde. Ich will hier nur auf zwei Beispiele eingehen, die für mich Kernelemente künftiger Wirtschaftsförderung sein müssen: Aus- und Umbau von Eigenkapitalhilfe und Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung regionaler Wirtschaftsstruktur". Eigenkapitalschwäche wird von allen Seiten als Hauptmanko vieler Kleinunternehmen und Existenzgründer anerkannt. Das Eigenkapitalhilfeprogramm als Stützpfeiler muß deshalb langfristig gesichert werden. Hier pflichte ich dem Kollegen Hinsken ausdrücklich bei. Diese Sicherheit ist aber mit der abenteuerlichen Haushaltsplanung des Bundesfinanzministers nicht zu erreichen. Wir sind deshalb für die Verlagerung aus dem Bundeshaushalt in das ERPVermögen. Dabei kann man aber nicht stehenbleiben. Zugleich müssen entscheidende Schwächen der Eigenkapitalhilfe beseitigt werden. Es ist doch kein Zufall, daß die Pleitewelle im ersten Halbjahr 1996 deutlich angestiegen ist, im Westen um 11,7 Prozent, im Osten sogar um 25,6 Prozent. Es geht erstens um die stufenweise Anpassung der Zinsen an das Marktniveau. Auf Grund der großen Laufzeit der Darlehen - bis zu 20 Jahre - ist so eine gesicherte Prognose über die tatsächlichen Finanzierungskosten für den Nutzer ausgeschlossen. Auch künftig wird nicht selten der heute schon von Betroffenen kritisierte Fall eintreten, daß sich sogenannte Förderkredite als teurer erweisen als zum richtigen Zeitpunkt aufgenommene normale Bankkredite. Förderung verkehrt sich so ins Gegenteil. Abhilfe ist hier nur durch Festschreibung des Höchstzinssatzes für die gesamte Laufzeit bereits bei Mittelgewährung zu schaffen. Die entsprechenden finanziellen Mehrbelastungen müssen dann durch den Bundeshaushalt bestritten werden. Das wird für die öffentliche Hand und die Solidargemeinschaft der Sozialversicherten immer noch billiger als die Folgekosten staatlich verursachter Konkurse. ({4}) Zweitens meine ich die Länge des Antragsverfahrens. Die aktuelle Krise zahlreicher ostdeutscher Unternehmen, die in der Nachwendezeit gegründet wurden, beweist: Ein auf drei Jahre begrenzter Konsolidierungszeitraum greift eindeutig zu kurz. Betriebe und Handwerker brauchen nicht nur Gründungshilfe, sondern die Chance der Unterstützung für den „zweiten Atem" bei Konsolidierung oder gar Expansion nach der Gründungsphase. ({5}) Die Chance zur Eigenkapitalhilfe müßte daher von drei auf mindestens sechs Jahre ausgedehnt werden. Zu fragen ist, ob überhaupt eine „altersmäßige" Obergrenze vonnöten ist oder nicht vielmehr die Förderung von Betriebsgröße und Unternehmensziel - zum Beispiel von dem Beitrag zum nachhaltigen Wirtschaften - abhängig sein sollte. Dies würde aber die bisher nicht vorhandene Bereitschaft zu tatsächlicher Struktur- und Industriepolitik voraussetzen. Wirtschaft wird eben nicht nur in der Wirtschaft gemacht, sie lebt mit oder stirbt an ihren Rahmenbedingungen. Über die Verwendung öffentlicher Gelder muß öffentlich debattiert und entschieden werden. Wird der Gießkannenmethode und dem Windhundprinzip - wer zuerst kommt oder die besten Beziehungen hat, mahlt zuerst - weiter freier Lauf gelassen, so werden auch künftig Steuermillionen von Bürgerinnen und Bürgern nutzlos versickern. Die Forderung nach tatsächlicher Industrie- und Technologiepolitik und damit auch Strukturpolitik gilt ebenso für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Die Förderung muß auf die Bereiche Umwelt und soziale Infrastruktur ausgedehnt und auf Arbeitsmarktbrennpunkte konzentriert werden. Statt weiter als politisches Kaninchen auf die Schlange Globalisierung zu starren, während immer mehr High-tech-Unternehmen ihre ausgelagerten Fertigungen in kleineren Einheiten nach Deutschland zurückholen - die Gründe dafür können Sie bei Roland Berger oder beim europäischen Marktführer in der Elektronikakustik nachlesen -, müssen wir politische Voraussetzungen für regionale Wirtschaftsverflechtungen schaffen. ({6}) - Für Sie ist ein Unternehmensberater nur dann gut, wenn er genau Ihre Meinung vertritt; das habe ich inzwischen gemerkt. ({7}) Ich verlange von Ihnen ja nicht, daß Sie mir glauben. Aber es wäre ganz gut, wenn Sie mir zuhören würden. Während die Straßen im Verkehr ersticken, wird von der maßgebenden Politik der Anachronismus überregionaler Absatzmöglichkeiten der Produkte als Voraussetzung für Förderung zäh verteidigt. Drittens verweise ich auf die Schwierigkeiten, die kleine Investoren wie Handwerker haben, die zur Schaffung neuer Arbeitsplätze nur 50 000 DM oder 100 000 DM benötigen. Den Privatbanken ist der Bearbeitungsaufwand für solche Fördermittelanträge allzuoft schlicht zu groß. Statt über höhere Bankenmargen nachzudenken, sollten die Hauptleihinstitute der Länder endlich bis zu einer Förderhöchstgrenze allem als Mittelgeber auftreten dürfen. Meine Damen und Herren von der Koalition, warum erlauben Sie das nicht? Sonst soll doch überall Konkurrenz das Geschäft beleben. Mit einem Bundeswirtschaftsminister, der nur die Ohnmacht des Marktes bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur Kenntnis nimmt, mit großen Fraktionen, denen heute, am 10. Oktober 1996, zum Thema Mittelstand und Wirtschaft nichts anderes einfällt, als eine Beschlußempfehlung vom 29. November 1995 zu diskutieren, ist jedoch den Herausforderungen der Rekordarbeitslosenzahl dieser Tage tatsächlich nicht beizukommen. ({8}) Der größte Feind der leistungsorientierten Wirtschaftsgesellschaft ist die massenhafte Verweigerung von Arbeitsmöglichkeiten. Das ist keine neue Weisheit; trotzdem bleibt es eine Wahrheit. ({9})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Dann gebe ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit ein paar Zahlen beginnen. 1995 sind netto - das heißt, die Abmeldungen sind berücksichtigt - 130 000 neue Unternehmen in Deutschland entstanden. Damit ist in ganz Deutschland die Zahl der mittelständischen Unternehmen auf über 3 Millionen gestiegen. Über 500 000 mittelständische Unternehmen in den neuen Bundesländern beschäftigen mittlerweile rund 3,4 Millionen Menschen. ({0}) Wir haben im Zeitraum von 1987 bis 1995 ein Plus von 2,1 Millionen Arbeitsplätzen im Mittelstand erreicht. Übrigens gab es im gleichen Zeitraum ein Minus von 500 000 Arbeitsplätzen bei Großunternehmen. Warum nenne ich die Zahlen? Ich tue das deshalb, weil daraus folgt: Wenn wir das drückende Problem der Arbeitslosigkeit lösen wollen, müssen wir in erster Linie den Mittelstand von Ballast befreien und Freiräume schaffen, damit noch mehr Menschen zur Selbständigkeit ermutigt werden. ({1}) - Ich werde Ihnen jetzt sagen, was wir getan haben. Der Bundeskanzler hat Mitte 1995, Frau Kollegin Hoffmann, die Offensive für mehr Selbständigkeit gemeinsam mit den Sozialpartnern initiiert und sie im Rahmen des Bündnisses für Arbeit und zur Standortsicherung festgeschrieben. Frau Skarpelis-Sperk, Sie haben ein Sofortprogramm für die Textilindustrie gefordert. Ich kann Ihnen sagen: Wir haben in den letzten Monaten ein Sofortprogramm für den gesamten Mittelstand in Deutschland gemacht. Ich will Ihnen aus einem ganzen Bündel von konkreten Maßnahmen einige beispielhaft nennen: Erstens die Anhebung des Schwellenwertes im Kündigungsschutzgesetz. Ich bin sicher, Frau Kollegin Wolf, dies führt bei Betrieben bis zu 10 Beschäftigten zu Neueinstellungen. ({2}) Ich will das hier nicht quantifizieren. Aber ich möchte einen Mann vom Fach, aus der Wirtschaft zitieren, nämlich den ZDH-Präsidenten Herrn Späth, der im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Änderungen des Kündigungsschutzgesetzes gesagt hat, er rechne damit, daß dies in der Perspektive zu 500 000 neuen Arbeitsplätzen im Mittelstand führen wird. ({3}) Ich nenne zweitens die Änderungen bei der Entgeltzahlung im Krankheitsfall. Ich begrüße, daß sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß mit der gesetzlichen Absenkung der Lohnfortzahlung kein Eingriff in bestehende Tarifverträge verbunden ist. Die Tarifautonomie wird nicht ausgehebelt. Die Absenkung der Lohnfortzahlung hat ja die Wellen in den Medien hochschlagen lassen. Für mich ist eine andere Veränderung im Lohnfortzahlungsgesetz aus Sicht der kleinen und mittleren Unternehmen in der Praxis viel wichtiger, nämlich die Einführung einer Wartezeit bei der Lohnfortzahlung, und zwar deswegen, weil schlechte Erfahrungen mit der Lohnfortzahlung bei Neueinstellungen seitens der Arbeitgeber in der Vergangenheit dazu geführt haben, daß immer weniger Arbeitslose oder Bewerber auf dem Arbeitsmarkt Chancen hatten, in mittelständischen Unternehmen Beschäftigung zu finden. Ich nenne einen dritten Punkt: die Beschleunigung und Vereinfachung von Planungs- und GenehmiParl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb gungsverfahren. Mit der Verabschiedung des Gesetzespaketes im Bundestag, das heißt, mit den Änderungen beim Bundes-Immissionsschutzgesetz, beim Verwaltungsverfahrensgesetz, beim Wasserhaushaltsgesetz, bei der Verwaltungsgerichtsordnung, mit den Änderungen im Bauplanungsrecht, sind nachhaltige Verbesserungen, aus der Praxis angeregt, erreicht worden. Ich nenne ein Beispiel. Beim Bundes-Immissionsschutzgesetz werden zukünftig 85 Prozent aller Änderungen im Anzeige- statt wie bisher im Genehmigungsverfahren abgewickelt werden können. Das beste Genehmigungsverfahren erscheint mir jedoch immer noch das, das man erst gar nicht betreiben muß. ({4}) Ich nenne einen vierten Punkt: die Initiative zum Bürokratieabbau. Seit Mitte dieses Jahres werden - übrigens auf Vorschlag des Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung hin - alle Gesetze und Verordnungen hinsichtlich ihrer kostenmäßigen Auswirkungen auf Wirtschaftsunternehmen, insbesondere auf den Mittelstand überprüft. Wir nennen das den Bürokratiekosten-TÜV. Übrigens, Frau Wolf, es ist nicht ein einziger Beamter zusätzlich für diesen Bürokratiekosten-TÜV eingestellt worden. Das ist sicherlich ein Erfolg. Wir haben Anker geworfen. Aber wir müssen parallel dazu auch die bereits bestehenden Bürokratiekostenbelastungen des Mittelstandes angehen. Deswegen bin ich für die Unterstützung sehr dankbar, die der Kollege Hinsken hier signalisiert hat. Es kommt darauf an, daß sich alle Beteiligten - Bund, Länder, Gemeinden - diesem ehrgeizigen Ziel verpflichten, die Bürokratielasten für den Mittelstand um mindestens 20 Prozent zu reduzieren. Reduktion um 20 Prozent heißt eine Ersparnis von rund 12 Milliarden DM bei Gesamtbürokratiekosten von 60 Milliarden DM, die das Institut für Mittelstandsforschung errechnet hat. Diese beachtliche Einsparung und Entlastung der Wirtschaft wird möglich, ohne daß wir dafür eine Gegenfinanzierung im Haushalt erbringen müssen. Ich glaube, deswegen ist auch dieser Bürokratiekostenabbau alle Anstrengungen wert. ({5}) Es geht fünftens um eine Entlastung des Mittelstandes von Unternehmensteuern. Hier drängt die Zeit. Am 1. Januar 1997 muß das Jahressteuergesetz in Kraft treten und dem Mittelstand echte Entlastung bringen. Hier ist auch die SPD mit ihrer Mehrheit im Bundesrat gefordert und zur Mitwirkung aufgerufen. Echte Entlastung heißt für mich, daß der Fortbestand eines Unternehmens durch einen Erbschaftsfall nicht gefährdet werden darf. Entlastung heißt für mich auch, daß die betriebliche Vermögensteuer entfallen muß, ebenso die Gewerbekapitalsteuer. Die Gewerbeertragsteuer muß mittelstandsfreundlich abgesenkt werden. Ich will ganz deutlich sagen: Die Gewerbesteuer insgesamt ist für mich eine Strafsteuer für diejenigen, die in Deutschland ihr Geld in Arbeitsplätze investieren. Es ist deswegen kontraproduktiv zu dem Ziel, in Deutschland wieder mehr Beschäftigung zu erreichen. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Skarpelis-Sperk?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Bitte sehr.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolb, Sie haben gesagt, wieviel Sie der mittelständischen Industrie helfen. Aber Sie hatten - als Staatssekretär wissen Sie das - vermutlich auch einen Branchendialog. Ich wollte das einmal am Beispiel einer bestimmten Industrie deutlich machen. Wie steht es denn mit den Forderungen nach einer Erhöhung der Mittel für Forschung und Entwicklung, also für die Innovation im Textilbereich? Wie steht es mit den Forderungen nach mehr Mitteln für Weiterbildung und Schulung betrieblicher und überbetrieblicher Art im Textilbereich? Wie steht es vor allem mit einer Erhöhung der Mittel der Messeförderung? Sie sprechen hier von allen möglichen Dingen, aber nicht von den Dingen, die ich konkret angesprochen habe. Ist es denn nicht wahr, daß Sie die Forschungsmittel insgesamt gekürzt und die für die AEF nicht erhöht haben? Ist es denn nicht wahr, daß Sie die Mittel für Bildung und Weiterbildung in dem gesamten Bereich nicht erhöht haben? Ist es denn nicht auch wahr, daß Sie im Zusammenhang mit den Mitteln für die Auslandsmesseförderung gestern im Wirtschaftsausschuß einen entsprechenden Aufstokkungsantrag der Opposition abgelehnt haben?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, Sie haben Ihre Zwischenfrage wieder mit Blick auf die Textilwirtschaft gestellt. Ich finde das legitim. Sicherlich ist die Textilwirtschaft eine wichtige Branche. Aber die Bereiche, die Sie angesprochen haben - Innovationsförderung und Auslandsmesseförderung -, sind natürlich für die Wirtschaft insgesamt von Interesse. Das sind wichtige Themen. Aber es gibt Schwerpunkte, die man anders sehen und anders setzen kann. Ich versuche, Ihnen hier vorzutragen, wo die Bundesregierung und auch der Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung die Schwerpunkte sieht, wo gehandelt werden muß. Ich werde auch noch versuchen - die Zeit ist knapp -, einiges zum Thema Eigenkapital zu sagen. Weil Sie konkrete Kürzungen ansprechen: Sie wissen, daß der Haushalt des kommenden Jahres im Lichte notwendiger Einsparungen gesehen werden muß. Soweit ich das sehe, ist davon im Gesamthaushalt kein Einzeletat ausgenommen worden. NatürParl. Staatssekretär Dr. Heinrich L. Kolb lich wäre es wünschenswert, mehr Geld für Auslandsmesseförderung und für Innovationsförderung zur Verfügung zu haben. Aber wir müssen uns im Gesamthaushaltsverfahren auf das Machbare beschränken. Das tut die Koalition. Sie stellt sich dieser Verantwortung. Deswegen kann ich nur noch einmal sagen: Auch andere Initiativen sind wichtig, durch die wir zu Entlastungen der Wirtschaft kommen, ohne daß Haushaltsmittel erforderlich sind. Ich habe vorhin den Bürokratiekostenabbau genannt; das wirkt sich in den Kassen der Unternehmen genauso aus.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weng?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Bitte sehr.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages auf Antrag der Koalition gerade in dieser Woche die Mittel für die Auslandsmessen deutlich aufgestockt hat - offensichtlich ist das bei Frau Skarpelis-Sperk noch nicht angekommen ({0}) und daß darüber hinaus gerade die von ihr bezeichneten Mittel für die AIF nach der Wiedervereinigung in außerordentlicher Weise erhöht wurden und seitdem mit einem ganz großen Effekt des Transfers in die neuen Bundesländer, wo gerade der Aufbau einer solchen mittelständischen Forschung gefördert, erreicht und stabilisiert werden sollte, auf diesem Niveau verblieben sind?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Herr Kollege Weng, ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Mehr als das: Ich bedanke mich nachdrücklich für die Unterstützung, die das Hohe Haus, das letztendlich das Haushaltsrecht hat, hier im Haushaltsverfahren wahrnimmt. Ich kann nur ermuntern und ermutigen, dies auch bis zur Schlußberatung des Haushaltes hier so zu realisieren. ({0}) Ich will einen letzten Punkt nennen, nämlich die Verbesserung der Eigenkapitalausstattung der Unternehmen. Hier setze ich mich zunächst einmal dafür ein, das Eigenkapitalhilfe-Programm langfristig abzusichern und auch von den gegenwärtigen Haushaltszwängen unabhängig zu machen. Dazu soll dieses wichtige Instrument in das ERP-Sondervermögen überführt und damit auf eine dauerhaft solide Grundlage gestellt werden. Wir wollen darüber hinaus den ERP-Wirtschaftsplan im Jahre 1997 im parlamentarischen Verfahren um 2 Milliarden DM aufstokken. Auch hier bitte ich um Unterstützung. Frau Wolf, Sie sagen, wir hätten im Bereich Risikokapital nichts gemacht. Ich weiß nicht, wo Sie in den letzten Monaten und Jahren gewesen sind. Wir haben den Eigenkapitalfonds Ost mit 500 Millionen DM per anno in den Jahren 1996, 1997 und 1998 geschaffen. ({1}) Wir haben das BTU-Programm des Bundesministers Rüttgers aufgelegt, mit dem 900 Millionen DM Eigenkapital in innovativen Unternehmen aktiviert werden. Wir haben das ERP-Mittelstandsprogramm, das Sie sich einmal ansehen sollten, das durch Haftungsfreistellung der Banken eigenkapitalähnlichen Charakter hat. Ich will zum Schluß kommen. Offensive für Selbständigkeit heißt, daß wir junge Leute an die Selbständigkeit heranführen wollen und müssen. Der Kollege Hinsken hat zu Recht darauf hingewiesen, daß 300 000 Unternehmen zur Übernahme anstehen. Damit wir eine drohende Nachfolgelücke schließen können, müssen Universitäten und Fachhochschulen mehr gezielte Ausbildungsangebote für Existenzgründer und mittelständisches Führungspersonal anbieten. ({2}) Es ist auch notwendig, den Berührungsängsten und Vorurteilen vieler Menschen gegen eine selbständige Tätigkeit frühzeitig entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang werde ich auch die Kultusminister der Länder ansprechen. Jugendliche sollten bereits im Schulunterricht vorurteilsfrei mit den Chancen und den Problemen beruflicher Selbständigkeit vertraut gemacht werden. ({3}) Dieses gesellschaftspolitische Umdenken müssen wir gemeinsam anstoßen und zu einem dynamischen Prozeß verstärken. Ich hoffe auch bei diesem Anliegen auf Ihre Unterstützung und auf Ihre Begleitung. Vielen Dank. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Jetzt spricht die Abgeordnete Dagmar Wöhrl.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In unserem überregulierten, hochversteuerten, besitzstandsnostalgischen System haben wir oft nach einer Ideenexplosion nur noch die Trümmer einer gescheiterten Existenz. Was mit einem verheißungsvollen Einfall begonnen hat, erfriert oft unter einer dünnen Eigenkapitaldecke. Die Behauptung, Microsoft-Gründer Bill Gates wäre in Deutschland gescheitert, ist, glaube ich, nicht unbedingt nur als Gag gemeint. Erstens ist fraglich, ob das Computergenie bei uns überhaupt einen Kredit bekommen hätte, und selbst wenn das geklappt hätte, wäre der Garagenpionier wahrDagmar Wöhrl scheinlich am Gewerbeaufsichtsamt gescheitert. Vielleicht hätte er noch Glück gehabt und hätte einen Beamten zu einer Umwidmung überreden können. Aber spätestens bei der dann fälligen Ablösesumme für die kommunal vorgeschriebenen Pkw-Stellplätze wäre seine neue Finanzkraft erheblich geschrumpft. ({0}) Aufwendige sanitäre Einrichtungen und andere peinlich genau vorgeschriebene baurechtliche Feinheiten hätten sein Investitionskapital endgültig verschlungen. Ich wäre nicht sehr verwundert liebe Kollegen, wenn sich Bill Gates hierzulande lieber als Angestellter im öffentlichen Dienst beworben hätte. Meine Damen und Herren, wir müssen in unserem Land, in dem die Risikofreudigen zuwenig sind, dafür aber mehr als 50 Prozent der Studenten von einer Beamtenlaufbahn schwärmen, wieder den Mut, die Risikofreude, die Selbständigkeit und den Pioniergeist wachrütteln. ({1}) Wir wissen, daß in Großunternehmen und im öffentlichen Dienst in nächster Zeit keine neuen Arbeitsplätze zu erwarten sind. Es werden unter dem Globalisierungszwang eher weitere Arbeitsplätze abgebaut werden. Als Arbeitsplatzgenerator bleibt uns nur der Mittelstand, die jetzigen Selbständigen und die zukünftigen Existenzgründer. Mehr als 90 Prozent aller Unternehmen sind im Familienbesitz. Sie sichern allein 70 Prozent aller Arbeitsplätze und 65 Prozent der erarbeiteten Wertschöpfung. Familienunternehmen sind hochinnovativ. Von 62 der wichtigsten Erfindungen der letzten zehn Jahre stammten allein 49 aus kleineren Familienbetrieben. Meine Damen und Herren, wenn der Generationswechsel, der in den nächsten Jahren ansteht, nicht gelingt, können mit den Betrieben bis zu vier Millionen Arbeitsplätze verlorengehen. Nur in vier von zehn Fällen sind die Kinder des Inhabers bereit, den Betrieb zu übernehmen. Geld in Arbeitsplätze zu investieren gilt heutzutage bei vielen als fragwürdige Zukunftsinvestition. Es besteht eher der Hang, mit Geld statt mit Arbeitsplätzen Geld zu verdienen. Das bedeutet aber langfristig den Verlust einer gesunden Volkswirtschaft. ({2}) Unser Eigenkapitalhilfe-Programm und unsere ERP-Kredite haben seit 1990 alleine im Osten Investitionen in Höhe von 121 Milliarden DM angestoßen, und es wurden dadurch Millionen Arbeitsplätze geschaffen und auch gesichert. Manche ausländische Beobachter sprechen angesichts des bisher im Osten Geleisteten von einem „zweiten deutschen Wirtschaftswunder" . Wir wissen, der Aufbau Ost dauert länger, als viele ursprünglich hofften. Dennoch geht es besser und schneller voran, als das volle Ausmaß der SED-Erblast befürchten ließ. Ein Glas Wasser ist eben halb leer oder halb voll. Für die Opposition ist es leider immer halb leer. Meine Damen und Herren, obwohl wir es geschafft haben, die Selbständigenquote seit 1982 von 6,9 Prozent auf 8,5 Prozent zu steigern, liegen wir immer noch deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 11 Prozent.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Halo Saibold?

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulassen. - Bayern ist hier Spitzenreiter mit einer Selbständigenquote von rund 10 Prozent, und das auf Grund einer ehrgeizigen Innovationspolitik und eines landeseigenen Mittelstandskreditprogramms. Meine Damen und Herren, wir müssen die steuerlichen Rahmenbedingungen schaffen und den Mut zum Risiko belohnen. Menschen kann man nur zur Selbständigkeit animieren, wenn es sich lohnt, selbständig zu sein. Starre und flächendeckende Tarifverträge nehmen vielen Betrieben den Wind aus den Segeln. Unser tarifliches Regelwerk ist zu umfangreich, es ist zu bürokratisch. Es paßt eher auf das Verhältnis Großunternehmen/Gewerkschaften als auf die persönlichkeitsbezogene mittelständische Struktur. ({0}) Auch müssen wir uns immer wieder fragen: Wieviel Staat braucht das Land? Unser Staat darf den Mittelstand nicht entmündigen, indem er ihm verbissen wohltun will. Unser Gebot muß sein: Steuerentlastungen vor Finanzhilfen, Eigenkapitalbildung statt Überbesteuerung. Den Kollegen Scharping als neuen Pflichtverteidiger des Mittelstands überkommen in jüngster Zeit Ahnungen und Visionen über eine Neuorganisation der Mittelstandspolitik. Auch wenn vieles davon von der Regierung schon längst in die Wege geleitet ist, können wir diesen visionären Eifer und diesen Umdenkungsprozeß von links natürlich nur sehr begrüßen. Wir hoffen natürlich auch, daß die sogenannten hauptamtlichen Umverteiler von links, für die Gewinn immer noch ein Schimpfwort ist und die immer noch unternehmerische Leistung mit Ausbeutung verwechseln, ihre neuentdeckte Liebe für den Mittelstand auch steuerlich und tariflich unter Beweis stellen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben im Take-off einer ungeheuren technologischen Revolution. Um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben, brauchen wir eine forcierte High-Tech-Offensive und konsequente Innovationen. Die Stärke unserer Wirtschaft beruht noch viel zu sehr auf den traditionellen Technologiefeldern. Bei uns gilt immer noch die Gleichung: Hundert Mark Kartoffelchips sind gleich hundert Mark Computerchips. ({2}) Und so spezialisieren wir uns auf die Kartoffelchips und Intel macht die Mikroprozessoren. Intels Umsatz vervierfachte sich in den letzten fünf Jahren von vier auf 16 Milliarden Dollar. Die Nettogewinnmarge beträgt 22 Prozent. Ich will damit nur sagen, meine Damen und Herren, wir befassen uns zu sehr mit den Risiken neuer Technologien und viel zuwenig mit ihren Chancen. Rund 88 Prozent des sogenannten Risikokapitals werden hierzulande in traditionelle Industrien mit geringem Risiko gesteckt, und nur gut zehn Prozent fließen in Zukunftstechnologien. In den USA liegt der Anteil hier bei 62 Prozent. Man kann sagen, 4 000 Milliarden DM verschimmeln sozusagen auf Sparbüchern und Festgeldkonten. Und das ist das Geld, das den expansionswilligen Betrieben fehlt. Unser „Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze" ist auch ein umfangreiches Programm zur Verbesserung der Risikokapitalausstattung. Ich erinnere hier nur an das dritte Finanzmarktförderungsgesetz und den Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Wertpapierdienstleistungs- und Kapitaladäquanz-Richtlinie. Zu begrüßen ist hier auch die Initiative der Deutschen Börse AG, ein Börsensegment „Neuer Markt" zu schaffen. Aber unsere Mittelständler sind immer noch zu börsenscheu, auch wenn sie die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür hätten. An uns ist es nun, diese Hemmschwelle überwinden zu helfen. Im Vergleich zu Großunternehmen haben die Mittelständler durch den Gang an die Börse oftmals zusätzliche Probleme zu lösen. Konzerne verfügen ja in der Regel über die personellen und finanziellen Ressourcen für die Erfüllung der Anforderungen des organisierten Kapitalmarktes nach dem Börsengang. Mittelständische Unternehmen dagegen haben selten eine eigene Presse-, Rechts- oder Finanzmarketingabteilung. Das heißt, sie benötigen neben der Emissionsbegleitung durch die Banken zusätzlich eine Betreuung nach Aufnahme der Notierung, damit sie sich mit Fragen der Ad-hoc-Publizität oder zum Beispiel in Investor-Relations auseinandersetzen können. Leider scheut immer noch der größte Teil der deutschen Bevölkerung, auf den Aktienmarkt zu gehen. Momentan haben wir nur 5,5 Prozent Aktieninhaber. Zum Vergleich: In England sind es 15,8 Prozent. Wenn wir es schaffen könnten, zu einer höheren deutschen Börsenkapitalisierung zu kommen, würden wir auch verstärkt internationales Risikokapital anziehen und dadurch Wachstumsprozesse deutscher Unternehmen erleichtern. Meine Damen und Herren, so wie wir uns gemütlich unter der dichten sozialen Decke eingekuschelt haben, müssen wir aufpassen, daß wir unsere Zukunft nicht verschlafen. Wir müssen unsere Wirtschaftspolitik, das Bildungssystem, die Systeme der sozialen Sicherung energisch auf die neue Ära umstellen. Denn es gilt: Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Kleinen überholen die Langsamen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen; Sie müssen zum Schluß kommen.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit Sparen allein ist es nicht getan. Wir brauchen Visionen, Phantasie statt Nostalgie, Bahnbrecher statt Besitzstandsfetischisten, Mut statt Entmündigung. Mehr denn je brauchen wir in Zukunft unseren Mittelstand, denn der Mittelstand ist die Zukunft. Vielen Dank. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Jelena Hoffmann.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Zitat aus der Antwort auf die Große Anfrage der Koalition anfangen: Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland ist in hohem Maße mittelständisch geprägt. Erfolgreiche innovative kleine und mittlere Unternehmen sind daher Voraussetzung und Garant für wirtschaftlichen Erfolg und für mehr Wachstum und Beschäftigung. Schöne Worte, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, doch man sollte auch Politiker nicht nach Rhetorik, sondern nach Taten messen. Sie beschuldigen uns als Opposition immer wieder, keine konkreten Rezepte und keine konkreten Vorschläge zu machen, doch es ist genau umgekehrt. Bei Ihnen findet man nichts Konkretes. ({0}) Wir aber machen konkrete Konzepte und stellen konkrete Forderungen an die Regierung. Ihre Politik ist dagegen nicht vereinbar mit Ihren eigenen Aussagen. Fragen Sie doch Unternehmer, reden Sie mit den Unternehmerverbänden. Kleine und mittlere Unternehmen fühlen sich wie Stiefkinder und ungeliebte Gäste dieser Regierung. Ein mittelständischer Unternehmer mit 500 Beschäftigten aus Stuttgart - in meinem Wahlkreis in Chemnitz wäre das schon fast ein Konzern - hat mir vor kurzem gesagt: Frau Hoffmann, der Mittelstand stirbt und stirbt leise. Da mußte ich ihm antworten: Warum schreien Sie denn nicht, und zwar so laut, daß die Regierung aufwacht und den Stillstand in der Mittelstandspolitik beendet? Dabei kann es doch auch für Sie nicht so problematisch sein, die Fehler in Ihrer Politik zu erkennen und zu beseitigen. Um es Ihnen vielleicht leichter zu maJelena Hoffmann ({1}) chen, möchte ich einige Aspekte herausnehmen und sie näher erläutern. Ein Problem für kleine und mittelständische Unternehmen ist das des Kapitals, sei es die Eigenkapitaldecke oder das Risikokapital. Es ist nach Meinung der SPD-Bundestagsfraktion unabdingbar, zur Erneuerung der deutschen Wirtschaft das Risikokapital zu mobilisieren. Die SPD hat bereits im März vergangenen Jahres einen Antrag zum Risikokapital vorgelegt. Doch unsere Vorschläge werden von der Regierung verschleppt. Gleichzeitig wandern Sie durch Deutschland und fordern genau das, was Sie hier im Hause blockieren. ({2}) Neben der fehlenden Flexibilität in bezug auf das Risikokapital sind die Probleme der Eigenkapitaldecke symptomatisch. Bei vielen Unternehmen ist die Liquiditätslage unzureichend, Finanzierungsmöglichkeiten sind eingeschränkt oder gar nicht vorhanden. Viele Meine risikofreudige Unternehmer finden häufig überhaupt keine Hausbank, die sich bereit erklärt, sich mit ihrem Vorhaben zu beschäftigen. Versuchen Sie doch, bei einer beliebigen Bank einen kleinen Kredit für ein Unternehmen zu bekommen. Eine Privatperson bekommt schnell 20 000 DM für ein Auto. Von einem Geschäftsmann wird aber unter Umständen erst die Einzahlung von 30 000 DM verlangt, um danach eventuell 20 000 DM zum Beispiel zur Finanzierung neuer Computertechnik zu bekommen. Ich kenne aus meiner Erfahrung nur einen Fall, bei dem die Bank bereit war, das Risikokapital nur für eine Idee zur Verfügung zu stellen, ohne Sicherheit einer Immobilie oder eines Grundstückes. Eine 30jährige alleinstehende Mutter hatte nur ihre zwei kleinen Kinder als Sicherheit für das neue Geschäft und die Geschäftsidee. Nach langem Suchen hat sie eine Bank gefunden, die ihr 2,5 Millionen DM zur Verfügung stellte. Nach vier Jahren hat das Unternehmen fast 100 Beschäftigte und volle Auftragsbücher. Das hört sich wie ein Märchen an - nicht wahr? -, sollte aber vielmehr zur Routine werden. In 99 Prozent der Fälle reagieren die Hausbanken jedoch nach folgendem Prinzip: „Hast du nichts, kriegst du nichts. " Es wäre doch sinnvoll, einmal zu prüfen, ob nicht die staatlichen Banken wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau oder die Deutsche Ausgleichsbank für einen gewissen Zeitraum Existenzgründer und Investoren als Kunden aufnehmen könnten. Anstatt gesetzliche und administrative Voraussetzungen zu schaffen, werden die Bundesmittel für Existenzgründer um 120 Millionen DM gekürzt. Ein weiterer Punkt: Liquiditätsprobleme aus nicht selbst verschuldeten Gründen. Es müssen wirksame Instrumente entwickelt werden, so daß Konkurse von großen Unternehmern à la Schneider nicht auch noch kleine Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe mit in den Ruin ziehen. ({3}) Die Zahl der Pleiten von Unternehmen und Selbständigen ist in den letzten beiden Jahren jeweils um bis zu 20 Prozent angestiegen. Dadurch entsteht ein enormer sozialer und volkswirtschaftlicher Schaden. Verantwortlich dafür ist unter anderem die zu geringe Eigenkapitalquote des Mittelstandes. Sie kann automatisch in die Konkursgefährdung führen. Gerade auch in Zeiten einer wieder anspringenden Konjunktur, auch wenn sie noch so gering ausfallen mag, können kleine und mittelständische Unternehmen wegen kurzfristiger Liquiditätsschwierigkeiten bei vollen Auftragsbüchern in Konkurs gehen. ({4}) Hier brauchen wir einen Notfallfonds, um diese Unternehmen zu unterstützen. ({5}) Die Politik der Bundesregierung schwächt Nachfrage und Investitionstätigkeit des Mittelstandes. Die Mittel für die Mittelstandsförderung im kommenden Jahr werden um 8 Prozent, die für Forschung und Entwicklung um 7 Prozent gekürzt. Da liegt ein weiterer Schwerpunkt der zukünftigen Mittelstandspolitik. Auch hier hat die Bundesregierung die Entwicklung bisher ({6}) verschlafen. In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zur Forschungs- und Entwicklungspolitik wird nun festgestellt, daß gerade dieser Bereich durch die deutsche Industrie nur unzureichend abgedeckt wird. Wo bleiben nun die neuen, jungen technologieorientierten Unternehmen, die die Regierung fördern will? ({7}) Wie kann Industrieforschung in den neuen Bundesländern wieder aufgebaut werden - nachdem sie erst von dieser Regierung abgewickelt worden ist? ({8}) - Jawohl. - Wie kann ein kleines Unternehmen neue Produkte herstellen, wenn es nicht einmal in die Lage versetzt werden kann, sich eine eigene Forschungsabteilung für die Entwicklung dieser Produkte zu halten? Auf diese Fragen, meine Damen und Herren, findet die Bundesregierung keine Antwort, obwohl es dringend notwendig wäre. ({9}) Die Leistungs- und internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft hängt wesentlich von der Vielfalt und Innovationsfähigkeit des Mittelstandes ab. Besonders in Ostdeutschland ist die Situation von innovativen, zukunftsorientierten Unternehmen desolat, da sie besonders in diesen Regionen mit speziellen Problemen konfrontiert sind. Jelena Hoffmann ({10}) In den 10 Minuten meiner Rede kann ich nicht die ganze Mittelstandspolitik vom Kopf auf die Beine stellen. ({11}) Ich habe nur einige Punkte angesprochen. Alle genannten Alternativen zur gegenwärtigen Mittelstandspolitik der Bundesregierung wurden bereits mehrmals von uns eingebracht. Immer wieder hat die Koalition die SPD-Vorschläge blockiert, abgelehnt, gebremst. ({12}) Wann endlich kommen Sie zu der Erkenntnis, daß Ihre Politik verfehlt ist? Wenn Sie schon auf unsere Vorschläge nicht eingehen wollen, hören Sie doch zumindest auf Wissenschaftler, die sogar Ihnen nahestehen. Ich zitiere aus der neuesten Studie zur Mittelstandsförderung des RWI: Stellt man die Aufwendungen dem Umfang der gesamten Subventionen für den Unternehmenssektor gegenüber, dann wird deutlich, daß die Mittelstandsförderung eher marginalen Charakter hat. Ich denke, dies spricht für sich. Das muß dringend geändert werden, meine Damen und Herren. Den kleinen und mittleren Unternehmen und der gesamten Wirtschaft unseres Landes würde dies zugute kommen. Die Unternehmer werden sich dafür mit mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätzen und mehr Beschäftigung bedanken. Vielen Dank. ({13})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich muß zunächst ein Versäumnis nachholen. Ich gebe daher der Kollegin Saibold das Wort zu einer Kurzintervention auf die Rede von Frau Wöhrl. Bitte schön.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren, ich möchte in dieser Debatte einmal den Blick auf einen Bereich lenken, der eigentlich gar nicht im Bewußtsein der hier Redenden ist. Bei diesem Bereich, der der Dienstleistungsbranche angehört und der überwiegend aus kleinen und mittleren Unternehmen besteht, handelt es sich um den Tourismusbereich. 200 Milliarden DM Umsatz werden in diesem Bereich getätigt, und über 2 Millionen Arbeitsplätze hängen davon ab. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Sie haben das Wort, Frau Kollegin Saibold. Bitte, fahren Sie fort.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerade in bezug auf den Aufbau Ost und die vielen Existenzgründungen, die Frau Wöhrl angesprochen hat, möchte ich darauf hinweisen, daß der Tourismus gerade in den neuen Ländern zum Teil als rettende Lösung für viele Wirtschaftsprobleme angesehen wird. Viele Unternehmen und viele Existenzen sind gegründet worden. ({0}) - Diese Reaktion finde ich sehr interessant, weil sie zeigt, welche Beachtung diese Wirtschaftsbranche bei Ihnen findet. Über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und auch über das ERP-Programm wurden allein 1995 über 1 Milliarde DM nur in den touristischen Bereich gesteckt. Dies führte im Endeffekt dazu, daß wir eine Überkapazität von etwa 300 000 Betten in der Bundesrepublik haben. Ich habe von Ihnen nichts gehört, wie man mit diesen Problemen umgeht und welche neue Politik in diesem Bereich gemacht werden soll. Ich habe von Ihnen nichts gehört, wie man die Betriebe des Dienstleistungsbereichs stärken möchte. Offensichtlich sind diese Betriebe nicht in Ihren Überlegungen enthalten. Meiner Meinung nach geht es darum, neue Fördermöglichkeiten für die kleinen und mittelständischen Betriebe zu finden. Es geht darum, diesen Bereich nicht weiter mit Investitionen zu fördern; es geht vielmehr darum, die Betten zu füllen und nicht neue Betten zu bauen. Ich habe dazu von Ihnen keine Vorschläge gehört; ich bedaure sehr, daß man nicht daran denkt, Existenzen zu sichern, sondern daß man immer nur von neuen Existenzgründungen spricht. Frau Wöhrl, ich glaube, wir brauchen Phantasie und Flexibilität, die Sie ja angemahnt haben, vor allen Dingen auch in der Politik. Vielleicht kann man hierzu von Ihnen noch etwas hören. Danke. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Wöhrl, Sie können darauf antworten.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Dann erteile ich das Wort dem Abgeordneten Hans Michelbach.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Eine Mittelstandsoffensive ist am besten mit einer aktiven und entlastenden Steuerpolitik zu erreichen. ({0}) Für eine erfolgreiche Mittelstandsoffensive muß die Eigenkapitalbasis des Mittelstands gestärkt werden. Wichtigstes und oberstes Ziel aller Maßnahmen muß es sein, die Steuerlast zu senken und Freiräume für Investitionen zu schaffen. Nur so wird es uns gelinHans Michelbach gen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Der Mittelstand leistet einen Großteil des Steueraufkommens, nicht die Multis; der Mittelstand ist Leistungs- und Lastenträger zugleich. ({1}) Durch die gestartete Mittelstandsoffensive wird mit dem Jahressteuergesetz 1997 die Steuerlast mittelständischer Unternehmen gesenkt. Wir halten an unseren Steuerplänen fest; wir wollen uns nicht blockieren lassen. Wir reden hier über Wirtschaftspolitik und eine Verbesserung der Mittelstandspolitik. Im Finanzausschuß blockieren Sie die Abschaffung der Gewerbesteuer, die eine Sonderbelastung der deutschen Wirtschaft ist. Das paßt genau zusammen. ({2}) Wir wollen Steuersenkungen; wir wollen keine Steuererhöhungen, wie die SPD dies bei allen Reformen vorgeschlagen hat. Wir wollen Freiräume für den Mittelstand. Wir brauchen Steuervereinfachung; wir brauchen weniger Substanzbesteuerung für einen modernen Mittelstand. Folgende Steuerrechtsänderungen im Jahressteuergesetz 1997 werden unsere Mittelstandsoffensive erfolgreich werden lassen: die Ansparabschreibung von Existenzgründern, die mittelstandsfreundliche Reform der Erbschaftsteuer, die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, die Reduzierung der Gewerbeertragsteuer, die Senkung des Solidaritätszuschlags, die Korrektur der Reisekosten- und Dienstwagenregelung und insbesondere - meine Damen und Herren, darauf lege ich besonderen Wert - die Abschaffung der Vermögensteuer. ({3}) Gerade die Abschaffung der Vermögensteuer ist für uns alle ein wichtiger Impuls für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ich teile die Auffassung nicht, daß mit dem Bundesverfassungsgerichtsbeschluß eine weitere sinnvolle und gerechte Erhebung möglich ist, wie es hier verlautbart wurde. Es gibt für den Mittelständler auch keine Aufteilung von betrieblicher und privater Vermögensteuer. Der Liquiditätsabfluß für den einzelnen mittelständischen Unternehmer ist gleich, egal, ob er betriebliche oder private Vermögensteuer abführen muß. Sie wird aus selbst versteuertem Einkommen gezahlt, in ertragsschwachen Jahren sogar aus der Substanz. Vermögensteuer setzt allein an der Tatsache an, daß in einem Unternehmen notwendige Ausstattungen wie Maschinen vorhanden sind. Sie ist damit technologie- und innovationsfeindlich und gefährdet Arbeitsplätze. Die Vermögensteuer, meine Damen und Herren, wird auch nicht in erster Linie von den Superreichen, von den 20 000 Einkommensmillionären, die Sie immer mit Neid verhetzen, aufgebracht. ({4}) 1 Million Steuerpflichtige aus dem Mittelstand zahlen in Wirklichkeit die Vermögensteuer. 71 Prozent der Vermögensteuerpflichtigen haben ein zu versteuerndes Einkommen von unter 110 000 DM. Und dann sagen Sie, dies sei eine Steuer der Superreichen! Diese Doppelbesteuerung behindert gerade bei jungen Unternehmen den Aufbau von Eigenkapital. Unsere Mittelstandsoffensive wird auch bei der Reform der Erbschaftsteuer erfolgreich sein. Diese Neuregelung ist für den Mittelstand von erheblicher Tragweite. Bei den Freibeträgen werden wir mit einem breiteren Bemessungsgrundlagensystem und einem Niedrigsteuertarif und bei Betriebsübergängen mit einem Abschlag von 50 Prozent auf Betriebsvermögen vorgehen. Damit werden wir eine Generationenbrücke im Mittelstand zur Erhaltung unserer Betriebe schaffen. Das ist für uns in Zukunft das Wesentliche. Unsere Mittelstandsoffensive wird auch bei Existenzgründern erfolgreich sein. Durch die Verbesserung der Ansparabschreibung für Existenzgründer sind im Jahressteuergesetz wichtige mittelstandsfreundliche Aspekte enthalten. Die Ansparzeit wird auf vier Jahre erhöht. Die Rücklagenbildung für geplante Investitionsprojekte darf einen Höchstbetrag von 600 000 DM erreichen. Unsere Mittelstandsoffensive wird auch durch eine Korrektur beim Reisekostenrecht und bei der Dienstwagenbesteuerung erfolgreich. Meine Damen und Herren, in der Unternehmensteuerreform und in der Gemeindefinanzreform müssen wir unsere Mittelstandsoffensive weiter voranbringen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. - Durch diese steuerlichen Maßnahmen können wir unsere Mittelstandsoffensive erfolgreich abschließen. Wir brauchen keine Steuererhöhungsbetreiber, wir brauchen nicht mehr Bürokraten, wir brauchen nicht mehr Umverteiler in diesem Land. Wir brauchen mehr Unternehmergeist, wir brauchen mehr Freiräume, wir brauchen mehr Gründergeist und Menschen, die Risiken tragen. Wir machen eine erfolgreiche Mittelstandsoffensive mit unserer Steuerpolitik, und wenn Sie uns dabei nicht blockieren, dann ist es in Ordnung. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muß zunächst einmal mit einem Lob für Ernst Hinsken beginnen. ({0}) Denn Ernst Hinsken hat soeben - er hat da völlig recht - Ludwig Erhard zitiert: Wirtschaftspolitik ist nicht alles; aber ohne Wirtschaftspolitik wäre alles nichts. - Ich würde mir wünschen, wir hätten heute eine Qualität der Wirtschaftspolitik wie zu Erhards Zeiten. Das haben wir aber heute leider nicht. ({1}) Denn ich habe in Erinnerung, daß Herr Rexrodt gesagt hat: Wir brauchen in der Wirtschaft keine Politik. Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt. - Erhard hat darüber anders gedacht. Das wissen auch Sie. Auch ich weiß es, weil er aus Ulm stammt. Deshalb halten wir ihn in Ulm in guter Erinnerung, auch wenn Sie, Herr Hinsken, in Kürze seinen hundertsten Geburtstag feiern. ({2}) Ich glaube, wir diskutieren heute über ein wichtiges Thema. Wir sollten dabei nicht vergessen, daß in Deutschland der Mittelstand und das Handwerk das Rückgrat des Standortes, der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland bilden. ({3}) In Deutschland sind sehr viele Menschen im Mittelstandsbereich beschäftigt. In rund 3 Millionen mittelständischen Unternehmen werden etwa 40 Prozent der Gesamtwertschöpfung Deutschlands hergestellt. Immerhin knapp 20 Millionen Menschen sind dort direkt oder indirekt beschäftigt. 950 000 Menschen werden im Mittelstandsbereich ausgebildet. Also auch für die Ausbildung spielen der Mittelstand und das Handwerk eine große Rolle. Wir wollen, daß das auch in Zukunft so ist. Leider ist es so, daß sich die Situation des Mittelstandes seit den 60er Jahren nicht verbessert hat. Wir hatten damals 9 Millionen Selbständige; wir haben heute nur noch 3 Millionen. Wir haben schon mehrfach gehört, daß 400 000 Selbständige bis zum Jahr 2000 ihr Unternehmen übergeben wollen und dabei objektiv Nachfolgeprobleme haben. 110 000 Handwerker haben Nachfolgeprobleme. Die Eigenkapitalquote ist im Mittelstand von 30 auf 18 Prozent gesunken - und das nicht nach 14 Jahren SPD-Regierung, sondern bei einer hohen Steuer- und Abgabenquote, die Sie zu verantworten haben. ({4}) Es ist ja fast schon ein Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet diejenigen, die die höchste Steuer- und Abgabenquote veranlaßt haben, jetzt zu denjenigen gehören, die Steuersenkungsphantasien verbreiten. ({5}) Ich glaube, Sie haben da eine Arbeitsteilung: Herr Uldall sagt etwas zur Steuersenkung, und die anderen erhöhen pausenlos und kräftig die Steuern und Abgaben. Das war ja Ihre Politik der letzten Jahre. Das trifft vor allem den Mittelstand und das Handwerk. Deshalb müssen wir etwas dafür tun, daß im Steuer- und Abgabenbereich eine Entlastung des Mittelstandes und des Handwerks erreicht wird. Das ist eine Kernfrage. Darin sind wir uns, glaube ich, auch einig. ({6})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gerne.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mosdorf, können Sie mir einmal erklären, was Sie bei der Ökosteuer, der Vermögensteuer, der Gewerbesteuer, der Gemeindefinanzreform und der Unternehmensteuerreform steuerpolitisch tun wollen? Fordern Sie in Ihren Vorlagen nicht immer Steuererhöhungen?

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Kollege, ich habe Ihnen soeben gesagt: In den letzten 14 Jahren haben Sie regiert. Sie wollen doch nicht bestreiten, daß die Steuern und Abgaben in den letzten 14 Jahren deutlich gestiegen sind. Das bestreiten Sie nicht. Oder? ({0}) - Aber das bestreiten Sie nicht? Wir wollen doch fair miteinander umgehen. Das bestreiten Sie nicht? ({1}) Wir waren uns doch eben einig. Sogar der Vorsitzende des Ausschusses sagt eindeutig: Die Steuern und Abgaben sind in den letzten Jahren gestiegen und deutlich zu hoch. - Also lassen Sie uns die Steuern gemeinsam senken! Das werden wir auch tun. Dazu müssen wir die richtigen Akzente setzen und vor allen Dingen für das Handwerk und den Mittelstand etwas tun. Meine Damen und Herren, ich möchte drei Punkte ansprechen: Erstens. Mich erfüllt ein bißchen mit Sorge, daß bei der öffentlichen Vergabepolitik - Sie sind da als Bundesregierung mitverantwortlich - der Mittelstand und das Handwerk nicht ausreichend berücksichtigt werden. Ich will ein Beispiel aus Ostdeutschland anführen, weil in Ostdeutschland jetzt viele Infrastrukturentscheidungen getroffen werden. Auch Sie wissen, daß insbesondere im Verkehrsbereich Entscheidungen getroffen werden, die eigentlich einen doppelten Effekt haben könnten: Sie könnten die Infrastruktur stärken und gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen. Jetzt ist es aber so, daß in aller Regel vor allem das Verkehrsministerium und die entsprechenden Unternehmen, die da beauftragt sind, Aufträge an Generalunternehmer vergeben und kleine, mittelständische Unternehmen nicht berücksichtigen. Ich will Ihnen einmal ein Beispiel nennen: Unserem Kollegen Wieland Sorge, der sich in seinem Wahlkreis sehr intensiv um Mittelstand und Handwerk kümmert, hat ein Unternehmen „Intergeo" geschrieben. Es ging um den Bau eines wichtigen Tunnels im Rahmen eines Autobahnbaus. Das Unternehmen ist mit einer Antwort der DEGES nicht einverstanden und schreibt: ... im August hat sich unser Unternehmen bei einer Präqualifikation für Planungsleistungen bei der DEGES beworben. - Das ist die Unternehmung, die von Wissmann beauftragt ist, Straßen zu planen und zu bauen. Mit Bedauern müssen wir jedoch feststellen, daß der politische Wille und die Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Das Antwortschreiben ... zeigt schon in den Anfängen des Autobahnbaus, daß ansässige Firmen, die in unsere Region investiert und Arbeitsplätze geschaffen haben, aller Voraussicht nach keine Beteiligungschancen am sogenannten „Wettbewerb" um Leistungen für die Autobahn erhalten. Meine Mitarbeiter und ich können kein Verständnis dafür aufbringen, daß eine kompetente und ortsansässige Firma nicht einmal die Möglichkeit bekommt, ein Angebot zu legen, während unser Wirtschaftsminister und die verantwortlichen Politiker durch die Lande fahren und der ansässigen Wirtschaft versichern, daß die hiesigen Unternehmen berücksichtigt werden. Das Unternehmen schreibt weiter: Wenn diese Vorgehensweise der DEGES die Praxis ist, können wir unsere Arbeitnehmer nach Hause schicken und unseren Standort nach Berlin oder in die Karibik verlegen. Vielleicht sitzen wir dann näher an unseren zukünftigen Gehaltsempfängern. Auch auf das Risiko hin, von dieser Gesellschaft in Zukunft nicht berücksichtigt zu werden, bin ich der Auffassung, daß es sich unsere Unternehmen nicht bieten lassen sollten, von einer Lobby von Auftragsverteilern so vor die Tür gestellt zu werden. Das ist ein praktisches Beispiel aus Ostdeutschland, wie man bei der Vergabe nicht mit den dortigen Unternehmen zusammenarbeitet und gleichzeitig Aufbau Ost leistet, sondern einem Generalunternehmer den Auftrag gibt, der sich nicht um Mittelstand und Handwerk kümmert. Ich rufe dazu auf, bei der Vergabepraxis stärker an Handwerk und Mittelstand zu denken. Zweites Beispiel: Sie wissen genau so gut wie ich, daß bei der Forschungs- und Technologiepolitik die mittelständische Wirtschaft besonders auf Unterstützung angewiesen ist. In diesem Bereich gibt es insgesamt 20 Programme der Europäischen Union, 48 Programme des Bundes und 562 Programme der Länder. Jedes gutgeführte große Unternehmen hat dafür eine Arbeitsgruppe, die sich da hineinfinden kann und genau weiß, was zu tun ist. Aber bei Mittelstand und Handwerk entstehen Probleme. Wir müssen also den Mittelstand bei Forschungs- und Technologiepolitik stärker unterstützen. ({2}) Was tun Sie? Sie kürzen das Eigenkapitalhilfeprogramm um 122 Millionen DM. Sie kürzen die Forschungs- und Technologieförderung von Herrn Rüttgers für mittlere und kleine Unternehmen um 40 Millionen DM - und das in einer Zeit, in der es darum gehen muß, gerade den Kleinen und Mittleren in der Forschungs- und Technologiepolitik zu helfen. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken?

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Mosdorf, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß die VOB in den einzelnen Ländern unterschiedlich angewandt wird, daß zum Beispiel das Land Bayern hier eine positive Vorreiterrolle übernommen hat und daß es gilt, die VOB-Anwendung, wie sie in Bayern praktiziert wird, auf die anderen Bundesländer, insbesondere auf die SPD-Bundesländer, zu übertragen und darüber hinaus auch in den neuen Bundesländern anzuwenden? Ein Zweites sei hinzugefügt: Wir sind momentan dabei, die Vergabebestimmungen zu ändern. ({0}) Hier warten wir auf Ihre Unterstützung, damit dies möglichst bald umgesetzt werden kann. Sind Sie dazu bereit? Das ist meine Frage.

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, Sie wissen genau so gut wie ich, wie wir alle hier im Haus, daß wir bei der Neuregelung der Vergabebestimmungen, vor der wir stehen, gezwungen durch die internationale Entwicklung, keinen Streit haben. Aber Sie müssen zur Sache reden, und die Sache ist, daß in Ostdeutschland ganz offensichtlich westdeutsche Großunternehmen beauftragt werden, aber nicht ostdeutscher Mittelstand und ostdeutsches Handwerk. Das wäre jedoch dringend nötig, damit dort Arbeitsplätze entstehen. ({0}) Wenn Sie sagen, daß das in Bayern so ist - das kann ich nicht nachvollziehen -, dann freue ich mich darSiegmar Mosdorf über. Aber in Ostdeutschland ist es eindeutig nicht so. Ich kann Ihnen eine ganze Reihe weiterer Beispiele nennen. Aber Sie wissen doch selber: Wir müssen stärker darauf achten, daß diejenigen, die Aufträge bekommen, wirklich Arbeitsplätze schaffen. Das werden in Zukunft, gerade wenn wir uns die Globalisierung ansehen, nicht die großen Unternehmen sein. Es werden kleine und mittelständische Unternehmen sein. Die müssen wir stärken, stützen, absichern, auch durch eine entsprechende Vergabepraxis der öffentlichen Hand. Nur das habe ich hier sagen wollen. ({1}) Ich möchte einen dritten Punkt ansprechen, meine Damen und Herren, und zwar die Außenwirtschaftsförderung. Sie wissen, daß wir in der Wirtschaftspolitik intensiv über Fragen der Globalisierung reden. Es ist natürlich wahr, daß die Globalisierung am stärksten das Land trifft, das besonders exportabhängig ist. Es gibt Großunternehmen, die auf die Auslandsmärkte gehen - das halte ich für völlig richtig -, dort Fabriken bauen, auf den dortigen Absatzmärkten präsent sind und direkt für den dortigen Markt fertigen. Es gibt Konzepte, Tandem-Konzepte, mit denen man Zuliefererunternehmen mitnehmen, sie beteiligen kann. Wir haben vorgeschlagen, daß bei der Außenwirtschaftsförderung, sowohl bei der Kammer- wie auch bei der Messepolitik, stärker das Handwerk, mittelständische Unternehmen gefördert werden sollen. Sie wissen genausogut wie ich, daß Sie diese Anträge abgelehnt haben. Ich bedaure das sehr, weil es zum Beispiel für den Messebereich ein sehr wichtiger Schritt gewesen wäre; denn dies ist immer ein sehr teures Unterfangen. ({2}) - Für einen Consultant ist es kein Problem, Herr Uldall, jedoch für einen kleinen Mittelständler. Wenn er in Lateinamerika ausstellen soll, kostet das eine Menge „Holz" . Wenn er eine gute Idee, ein gutes Produkt hat, dann müssen wir ihm, so glaube ich, helfen, daß er auf diesen Märkten präsent sein kann. Er braucht entsprechende Unterstützung. Deshalb haben wir diese Anträge gestellt. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir auch mit Blick auf die Globalisierung und die Informationsgesellschaft vor einer Renaissance der Selbständigkeit stehen, daß wir deshalb ein besonderes Augenmerk auf Handwerk, Mittelstand und Existenzgründer richten müssen und hier mit einem offensiven Aktionsprogramm Akzente setzen müssen. Mein Eindruck aber ist, daß im allgemeinen in der Wissenschaft dreimal überlegt wird, bevor man etwas sagt, daß die Banken momentan dreimal überlegen, bevor sie nichts sagen bzw. nichts geben und daß die Bundesregierung dreimal etwas sagt, bevor sie überlegt. Das hilft dem Mittelstand natürlich nicht. Vielen Dank. ({3})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen und schließe damit die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zum Jahreswirtschaftsbericht 1996 der Bundesregierung auf Drucksache 13/5227. Der Ausschuß empfiehlt - in Kenntnisnahme des Berichts auf Drucksache 13/3601 -, die dazu eingebrachten Entschließungsanträge abzulehnen. Wir kommen zunächst zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum Jahreswirtschaftsbericht 1996, Drucksache 13/5227. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/3724 abzulehnen. Wer dieser Empfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Jahreswirtschaftsbericht 1996, Drucksache 13/5227, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/3714 abzulehnen. Wer der Empfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Dann stelle ich fest, daß die Empfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen und der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Gruppe der PDS zum Jahreswirtschaftsbericht 1996, Drucksache 13/5227, auf. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/3736 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden ist. Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Entlastung des Mittelstandes auf, Drucksache 13/3146, Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2344 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die BeschlußempfehVizepräsident Dr. Burkhard Hirsch lung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden ist. Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zum Antrag der Fraktion der SPD zur Beendigung des Stillstands in der Mittelstandspolitik auf, Drucksache 13/3146, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 13/2363 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist. Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Stärkung der Meinen und mittleren Unternehmen auf, Drucksache 13/3146, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2436 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen worden ist. Ich rufe die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zum Antrag der Gruppe der PDS zur Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen der neuen Bundesländer bei der Markteinführung neuer Produkte auf, Drucksache 13/3146, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2095 abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Gruppe der PDS angenommen worden ist. Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD zur Vorlage eines neuen Jahreswirtschaftsberichts 1996 auf Drucksache 13/4717 an den Ausschuß für Wirtschaft vorgeschlagen. Darf ich Einverständnis damit feststellen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Großen Anfrage der SPD zur Unterstützung deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten und zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Unterstützung deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten, Drucksachen 13/3055, 13/3063 und 13/3888. Der Ausschuß empfiehlt, diese Anträge zusammengefaßt in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Anträge in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der SPD bei Stimmenthaltung im übrigen angenommen worden sind. Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD zur Sicherung der Arbeitsplätze durch Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie auf Drucksache 13/2588 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Bericht der Bundesregierung „Info 2000 - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft", Drucksache 13/5078, Buchstabe a. Der Ausschuß empfiehlt, die Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 13/4000 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß der Bericht einstimmig zur Kenntnis genommen worden ist. Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Bericht der Bundesregierung „Info 2000" auf, Drucksache 13/5078, Buchstabe b. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 13/4089 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion der SPD gegen die Stimmen des restlichen Hauses angenommen worden ist. Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Unterrichtung durch die Bundesregierung zum Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze auf, Drucksachen 13/3629 und 13/5080. Der Ausschuß empfiehlt, unter Kenntnisnahme der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen des restlichen Hauses angenommen worden ist. Dann kommen wir zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu mehr Arbeitsplätzen durch den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur, Drucksache 13/5170. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/3952 ({0}) anzunehmen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß auch diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden ist. Dann rufe ich die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS zu einer flexibleren Gestaltung der Förderprogramme auf, Drucksache 13/2929. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/1798 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfehlung gegen die Stimmen der Gruppe der PDS mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden ist. Damit sind wir am Ende dieser vielen Abstimmungen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dietmar Schütz ({2}), Arne Fuhrmann, Eckart Kuhlwein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ökologisch und ökonomisch verantwortbarer Ausbau von Elbe, Havel und Saale - Drucksachen 13/1331, 13/4097 - Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blank b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Kubatschka, Brunhilde Irber, Robert Leidinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ökologisch verantwortlicher Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen - zu dem Antrag der Abgeordneten Albert Schmidt ({4}), Halo Saibold, Gila Altmann ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erhalt der freifließenden Donau zwischen Straubing und Vilshofen - Drucksachen 13/1390, 13/2435, 13/4240 - Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi Lemke, Gila Altmann ({6}), Dr. Manuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Variantenvergleich zwischen dem Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 17 ({7}) und der Nutzung des bestehenden Kanalnetzes mit Ausbau zweier Teilstücke der Havel - Drucksache 13/1961 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({8}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ehe ich die Aussprache eröffne, bitte ich die verehrten Kolleginnen und Kollegen, die den weiteren Beratungen des Hauses nicht folgen wollen, die anderen nicht zu stören. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Renate Blank.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das letzte Mal haben wir uns im Januar 1996 zum Thema „Ausbau von Elbe, Havel und Saale", „Donauausbau" und „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 17" unterhalten. Ich glaube, es wird uns noch länger und noch öfter beschäftigen. Für uns: Der Ausbau ist politisch gewollt und im Bundesverkehrswegeplan 1992 enthalten. Einige Bemerkungen zur Binnenschiffahrt allgemein: Da die Binnenschiffahrt ihre Vorzüge nur auf einem wirtschaftlich leistungsfähigen Wasserstraßennetz zur Geltung bringen kann, müssen die vorhandenen Engpässe beseitigt werden. Zur Verlagerung von Verkehr von der Straße auf das Wasser und zur Bildung einer Logistikkette ist eine ganzjährige Befahrbarkeit von Wasserstraßen dringend erforderlich. Meine Damen und Herren von der Opposition, es war nie beabsichtigt, beim Elbeausbau Staustufen einzurichten. Es ging immer um einen umweltfreundlichen, aber wirksamen Ausbau der Elbe. ({0}) Zur gemeinsamen Erklärung vom Bundesverkehrsminister und Naturschutzverbänden vom 5. September 1996 zur weiteren Entwicklung des Ausbaus von Elbe und Elbeseitenkanal wird sicher die Bundesregierung Stellung nehmen, da das Parlament nicht damit befaßt war. Ich verhehle aber nicht, daß ich von dieser Vereinbarung überrascht war, zumal sie leider keine Angaben über die wichtige Abladetiefe enthält. Zudem bringen Fahrten durch den Elbeseitenkanal und den Mittellandkanal natürlich auch Gebühren für die Schiffahrt mit sich. Ich gehe davon aus, daß man über diese Gebühren später auch reden kann. Hier ist die Bundesregierung sicherlich zum Gespräch bereit. Nun zum Donauausbau: Er ist vom Bundestag beschlossen; es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie. Wenn die SPD versucht, den Ausbau zu verhindern, dann geschieht das aus populistischen Gründen, mit dem Ziel, die Stimmung vor Ort anzuheizen. Auf den Antrag der Grünen gehe ich nicht weiter ein. Die Grünen und der Naturschutzbund schreien immer nach Verlagerung von Verkehr auf die Schiene und das Wasser; wenn es dann aber ernst wird, wird lauthals protestiert. ({1}) Sogar einige Kirchenmänner lassen sich vor den Karren der Grünen spannen. Ich meine, daß es besser wäre, sich mit dem Seelenheil von Bündnis 90/Die Grünen zu beschäftigen. Angesichts mancher Äußerungen könnte man glatt auch über die Kirchensteuer nachdenken. ({2}) Die Zahl der Transporte auf dem deutschen Teil der Donau und auf dem Main-Donau-Kanal ist im letzten Jahr stark gestiegen. Diese Entwicklung wird auch weiter anhalten. Die Prognosen für das Jahr 2010 sind schon jetzt zu fast 80 Prozent umgesetzt. Nun lassen Sie mich mit Erlaubnis des Präsidenten den ehemaligen Wirtschaftsreferenten der Stadt Nürnberg, einen SPD-Mann, zitieren. Dieser SPD-Mann galt als sehr kluger Mann und war auch von der Wirtschaft geschätzt. Er sagte, der Verkehr auf der Donau würde mit Sicherheit wesentlich dichter, wenn nicht zwischen Straubing und Vilshofen eine Reststrecke von 69 Kilometern einen einschneidenden Engpaß bildete: Trotz jahrzehntelanger flußbaulicher Regulierungsmaßnahmen ist eine wirtschaftliche und wettbewerbsfähige Abladung der Schiffe über 200 Tage im Jahresdurchschnitt nicht möglich. Gleichwertige Schiffahrtsverhältnisse sind nur durch einen sogenannten staugestützten Ausbau der Engpaßstrecke möglich. Er erhält die Donau weitgehend als fließenden Strom. Die Eingriffe in das Ökosystem sind ausgleichbar. Die KostenNutzen-Bewertung ergab für diese Verbesserung den Traumwert von 1 : 3,6 und bei Hinzurechnung der verminderten CO2-Belastung 1:4,6. Das bedeutet: höchste Dringlichkeitsstufe des Ausbaus. Ich zitiere weiter: Seit 1992 wird die Maßnahme in einem Raumordnungsverfahren geprüft und immer wieder geprüft. Jetzt muß endlich entschieden werden. Ich gehe davon aus, daß Sie noch in Erinnerung haben, daß dieses Zitat von einem ausgezeichneten SPD-Mann stammt. Dieser ehemalige Wirtschaftsreferent der Stadt Nürnberg hat auch sehr viel für den Hafen getan, damit Verlagerung von Verkehr auf die Binnenschiffahrt stattfinden kann. ({3}) Diesen Äußerungen eines klugen SPD-Mannes ist nichts hinzuzufügen. Deshalb lehnen wir die Anträge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ab. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Abgeordneten Ilse Schumann das Wort.

Ilse Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin in großer Sorge. Eine Binnenschiffahrt auf der Elbe ist eine angenehme Sache. Man kann sich darüber unterhalten. Kollegin Blank hat angedeutet, sie sei umweltverträglich. Das ist mein Problem. Ich komme aus dem Wahlkreis Dessau-Bitterfeld. Zu diesem Wahlkreis gehören das Biosphärenreservat „Mittlere Elbe", das bisher nicht erwähnt wurde, und der Wörlitzer Park, der von der UNESCO als Weltkulturerbe eingestuft worden ist. Diese Region ist durch den Ausbau der Elbe, der für mein Empfinden nach Plänen und Genehmigungen aus dem Jahre 1936 illegal stattfindet, bedroht. ({0}) - Das ist in der Tat ein Skandal. Es gibt eine Vereinbarung zwischen dem Verkehrsminister und den Umweltverbänden darüber, daß ein Planfeststellungsverfahren und ordentliche Untersuchungen stattfinden. Es gibt eine vom Bundesforschungsministerium finanzierte Studie, die noch nicht abgeschlossen ist und auf deren Ergebnis man zweckmäßigerweise doch warten sollte. Ich glaube, es ist nicht richtig, daß hier vollendete Tatsachen geschaffen werden. Ausbaumaßnahmen an der Elbe würden zu einer Flußvertiefung und damit zur Beschleunigung der Geschwindigkeit führen. Die Elbe fließt nicht wie der Rhein auf felsigem Grund, sondern auf Sand. Durch die erhöhte Geschwindigkeit wird sie sich tiefer in das Tal eingraben, das Grundwasser wird sinken, und der größte noch existierende Auenwald Mitteleuropas wird in seinem Bestand gefährdet. Das gebe ich zu bedenken. Ich bitte darum, noch einmal zu prüfen und ordentliche Untersuchungen vorzunehmen, damit die Sache sauber und ordentlich erfolgen kann. Wir sollten nicht Tatsachen schaffen, die uns sehr leid tun werden, weil wir damit sehr kostbare Naturschätze gefährden. Danke. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Blank, Sie können darauf antworten.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich gebe Ihnen recht, daß dieses Biosphärenreservat schutzbedürftig ist. Ich erinnere an einen Kollegen der SPD, an den von uns allen geschätzten Kollege Ewen. Mit ihm habe ich im Jahre 1992 die Elbebereisung durchgeführt. Sie sagen, die Elbe habe keinen felsigen Grund. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir bei Torgau mit unserem Schiff nicht über den Felsen hinwegkamen und auf ein Boot umsteigen mußten. Um Güter auf das Binnenschiff zu bringen, muß auch die Elbe ausgebaut werden. Wir haben uns darauf geeinigt, daß das umweltschonend passiert. Ich sage Ihnen noch etwas: Bei unserer Fahrt damals auf einem Meinen Schiff durch das Biosphärenreservat hat das Schiff die Reiher an den Buhnen überhaupt nicht gestört. Ich habe bereits ausgeführt, daß Radwege und Fußgänger an den Elbeauen wesentlich störender sind als Schiffe, die ruhig auf dem Fluß dahinziehen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dietmar Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will sofort in die Debatte eingreifen. Frau Blank, Sie haben möglicherweise unbewußt vom Ausbau gesprochen, während Ihr Haus von Unterhaltungsmaßnahmen beim Buhnenausbau redet. Vielleicht haben Sie das Thema angesprochen, weil der Buhnenausbau so massiv in die Sohle geht, daß Sie dafür alle Instrumente von UVP und Planfeststellungsverfahren brauchen. Ich werde gleich noch dazu kommen. Vielleicht war es unbewußt, daß Sie über Ausbau geredet haben. Die heutige Debatte, liebe Kolleginnen und Kollegen, betrifft einen sehr wichtigen und sensiblen Bereich, sowohl was den Bereich der Verkehrs- als auch was den Bereich der Umweltpolitik angeht. Es ist wichtig, daß die Binnenschiffahrt als Bestandteil eines integrierten Gesamtkonzepts angesprochen wird und daß der Verkehr auf Bahn und Wasserstraßen dann, wenn es möglich ist, verlagert wird. Die Wasserstraßen müssen aber außer als Transportweg auch als ein sensibler Flußteil angesehen werden. ({0}) Dazu will ich hier reden; denn erst nach einer ökologischen Prüfung mit positivem Ergebnis macht Binnenschiffahrt möglicherweise Sinn. Dies ist auch die Grundaussage unseres Antrages „Ökologisch und ökonomisch verantwortbarer Ausbau von Elbe, Havel und Saale" . In diese Richtung zielt auch der Antrag meines Kollegen Horst Kubatschka zur Donau; dazu wird er gleich noch reden. In unserem Antrag weisen wir auf die gravierenden ökologischen Probleme hin, die ein weiterer Ausbau von Elbe, Havel und Saale mit sich bringen wird. Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. haben in den Ausschüssen eine Beschlußempfehlung vorgelegt, die ein beredtes Zeugnis von der mangelnden ökologischen Sensibilität Ihrer Verkehrspolitik ablegt. Sie empfehlen, die Vorhaben in Bereich der Bundeswasserstraßen,,schnellstmöglich durchzuführen'', damit die ostdeutschen „Wasserstraßen auf europäischen Stand gebracht werden". Daß Flüsse zuallererst natürliche Gewässer und komplexe Lebensräume sind und erst in zweiter Linie Wasserstraßen, ist für Sie kein Thema. Schnell muß es gehen; das ist die Hauptsache. Deshalb sehen Sie auch keinen Anlaß zur Oberprüfung ökonomischer Eckdaten und der ökologischen Auswirkungen des Vorhabens. Und wie um dem Beschluß die Krone aufzusetzen, bekennen Sie: „Förderung der Binnenschiffahrt bedeutet aber auch, die Wasserstraßen ganzjährig befahrbar zu machen." Das steht in Ihrer Beschlußempfehlung. ({1}) Ich weiß nicht, wer Ihnen hier die Feder geführt hat; denn ganzjährige Schiffbarkeit nach europäischem Standard heißt ja möglicherweise auch, Euro-Schubverbände durch die Elbe zu führen. Dies wäre de facto eine Kanalisierung, das, was Sie im Verkehrsministerium Gott sei Dank nicht mehr wollen. Es wäre eine umweltpolitische Kriegserklärung an uns, ({2}) wenn Sie die Positionen, die Sie da hineingeschrieben haben, aufrechterhalten wollen. Gott sei Dank hat zumindest das Bundesverkehrsministerium in dieser Frage eine andere Position. Es hat nie von einem derartigen Ausbau gesprochen. Sie haben ja schon auf die Besprechung des Bundesverkehrsministers mit den Umweltverbänden am 5. September hingewiesen. Da ist das noch einmal gesagt worden. Wir haben dem Bundesverkehrsminister auch nie vorgeworfen, daß er von einem Ausbau der Elbe im Wege von Staustufen redet.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blank?

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte schön.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schütz, ist Ihnen bekannt, daß wir bei der Elbe nie von einem Vierer-Schubverband gesprochen haben, sondern von einem Europaschiff, und ist Ihnen bekannt, wieviel Lkw-Transporte durch ein Schiff vermieden werden können?

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß das, Frau Kollegin Blank. Wenn Sie in Ihrer Beschlußempfehlung aber von ganzjährigen Transporten auf der Elbe und von Euro-Standards sprechen und insoweit keine Differenzierung machen, dann müssen wir - auch weil die Abladetiefen bei Niedrigwasser so gering sind - davon ausgehen, daß Sie als Ausschuß da heranwollen, während das Verkehrsministerium das richtigerweise nicht will. Sie haben da überhaupt nicht differenziert. Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe. ({0}) Die Positionen, die noch strittig sind und die ich nur noch kurz ansprechen will, weil meine Redezeit abläuft, sind folgende: Wir sind damit einverstanden, daß das Bundesverkehrsministerium bei den Vereinbarungen mit den Umweltverbänden jetzt sagt: Wir werden die Hauptverkehre über den Elbeseitenkanal ableiten. - Wir möchten aber gerne noch einmal wissen, wie die Ausbaumaßnahmen aussehen - darauf hat die Kollegin Schumann vorhin schon hingewiesen - und ob dort Planfeststellungsverfahren oder Dietmar Schütz ({1}) auch ökologische Prüfungen im Rahmen von UVPs passieren. Das ist die erste Frage, zu der ich den Vertreter des Bundesverkehrsministeriums um Antwort bitte. Zweite Frage. Wieso soll, wenn Sie die Elbe nicht ausbauen wollen - davon gehen wir ja aus -, immer noch die Staustufe auf der Saale bei Rosenburg gebaut werden? Das ist eine Frage, die Sie auch noch nicht beantwortet haben. ({2}) Drittens - diese Frage berührt den sensibelsten Bereich -: Wie soll eigentlich der Ausbau der Havel aussehen? Zu Recht gehen Sie davon aus, daß man vom Magdeburger Kreuz Richtung Berlin nur über den Havelkanal und dann über die Havel weitergehen kann. Die Frage aber ist, wie Sie diesen Ausbau ökologisch vernünftig durchführen wollen, wenn Sie das nach den Instrumentarien für Projekte der deutschen Einheit machen, bei denen Sie die Bürgerbeteiligung hinausgeschmissen haben und eine UVP nicht durchführen wollen. Ich frage also, wie Sie gerade dieses sensibelste Stück überhaupt der Wasserstraße in den Griff bekommen wollen und wie Sie dieses Projekt der deutschen Einheit auch mit ökologischen Standards über die Bühne bringen wollen. ({3}) Elbe, Havel und Saale brauchen keine weiteren Redereien mehr, keine Pressekonferenzen und rhetorischen Beruhigungspillen. Sie brauchen eine verantwortungsvolle Verkehrs- und Umweltpolitik. Sie brauchen eine Beschlußempfehlung, so wie Sie sie von uns vorliegen haben, bei der wir nämlich gerade diese ökologische Sensibilität bei einem Ausbau dieser Maßnahmen berücksichtigen. Ich bitte Sie, dort zuzustimmen, nachdem auch der Bundesverkehrsminister das getan hat. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich gebe das Wort der Abgeordneten Halo Saibold.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich in den vier kurzen Minuten, die mir zur Verfügung stehen, trotzdem einen kleinen Blick nach Österreich werfen. Unser Nachbarland ist uns nämlich einiges voraus. Während wir hier noch um den Erhalt der letzten einigermaßen erhaltenen Flußlandschaften kämpfen, werden östlich von Wien anstatt des dort ursprünglich geplanten Donaukraftwerkes die Donau renaturiert, zugeschüttete Altarme ausgebaggert, Auwälder erhalten und am 26. Oktober 1996 das ganze Gebiet zum Nationalpark ausgewiesen. Die Schiffahrt geht ungehindert weiter, und eine touristische Nutzung wird angestrebt. Bei uns dagegen muß immer noch um den Erhalt der freifließenden Donau gekämpft werden. Staatssekretär Carstens hat mir inzwischen zweimal in diesem Jahr schriftlich bestätigt, daß die Streckenleistungsfähigkeit aller Wasserstraßen, also sowohl der Elbe und der Havel als auch der Donau, ausreicht, um das bis 2010 prognostizierte Verkehrsaufkommen zu bewältigen. Im Klartext und um es laut und deutlich zu wiederholen: Die ohnedies mehr als großzügig vorausgesagten Transportmengen auf unseren Flüssen können schon beim jetzigen Ausbauzustand transportiert werden. Warum reden, streiten und kämpfen wir dann überhaupt um die weitere Zerstörung der Donau und der Elbe? Ganz einfach: Es soll mit sehr viel nicht vorhandenem Geld und ohne Rücksicht auf die Natur die sogenannte Wirtschaftlichkeit des Transports auf diesen Flüssen gesteigert werden. Das versteht niemand. Diese Steigerung würde auch anders gehen, ohne Totalzerstörung. ({0}) Was heißt in diesem Zusammenhang „Wirtschaftlichkeit"? Wem dient diese, und wie hoch ist der Preis dafür? Natürlich lassen sich mit selbstgefälligen Prognosen und selbstgefälschten Statistiken wunderbare Vemebelungsaktionen durchführen. Auch mit den Kosten und Preisen läßt sich gut jonglieren. Was dabei allerdings auf der Strecke bleibt, ist der Wert von Auwäldern, hochrangigen europäisch interessanten Schutzgebieten und der Wert der Heimat, der sich eben nicht in Zahlen ausdrücken läßt. Eben dieser Wert von Heimat und Natur nimmt ständig zu - Herr Kalb kann davon ein Lied singen -, weil sich zum Glück immer mehr Menschen dieses Wertes bewußt werden und es deshalb ablehnen, daß eine noch einigermaßen intakte Natur unwiederbringlich und auch dazu noch unsinnigerweise zerstört wird. Die sogenannte Wirtschaftlichkeit kann auch auf der freifließenden Donau ohne Staustufen und ohne zusätzlichen Kanal erhöht werden. Diese Tatsache hat offensichtlich dazu geführt, daß in letzter Zeit - so scheint es - ein gewisses politisches Umdenken bei den derzeit Regierenden festzustellen ist. Offensichtlich gibt es einen neuen Trend. Die Regierung denkt um und überrascht ihre Abgeordneten, die nach wie vor am alten Zopf festhalten - Frau Blank hat es gerade bestätigt - im Zusammenhang mit dem Elbebeschluß. Der Totalausbau der Donau scheint erfreulicherweise zumindest im Verkehrsministerium nicht mehr oberste Priorität zu haben. Am 8. Oktober 1996 hat der CSU-Fraktionssprecher des Bayerischen Landtags, Alois Glück, gesagt: Wenn für die Schiffahrt nur an 20 Tagen im Jahr eine Wassertiefe von 2,80 m notwendig sein sollte, muß genau abgewogen werden, ob dafür zwei Staustufen sinnvoll sind. Selbst der bisherige Betonkopf Wiesheu hat am 4. Oktober erklärt, ({1}) für ihn würde die Welt nicht untergehen, wenn die Fahrrinne nicht so tief ausgebaut werden würde. Er sagte außerdem, Ministerpräsident Stoiber sei seiner Meinung. Man glaubt es kaum: Selbst in der CSU bewegt sich etwas, auch wenn Sie das noch nicht kapiert haben. ({2}) Diese neue Entwicklung war jedoch bei der Beratung unseres Antrags in den Ausschüssen nicht absehbar. Um das bereits genannte Umdenken zumindest hier in Bonn nicht zu stören, wollen wir unseren Antrag nicht zur Endabstimmung stellen, sondern die Rücküberweisung der Beschlußempfehlung an die Ausschüsse beantragen. Dort wird es dann auch möglich sein, über den von mir eingangs genannten Wert noch einmal ernsthaft zu reden, neue Untersuchungen einzubeziehen und diese in die politische Meinungsbildung mit einfließen zu lassen.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es wäre kontraproduktiv für alle Parteien, den vorliegenden Beschlußempfehlungen zum jetzigen Zeitpunkt zu folgen. Ich bin sicher, daß wir hier in Bonn -

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin, das geht nicht. Ihre Redezeit ist abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut, dann komme ich zum Schluß. - Ich bin sicher, daß Ministerpräsident Stoiber und andere ein zweites Hainburg oder ein zweites Wackersdorf an der Donau nicht riskieren wollen. Die Zeitung „Natur" ruft zur Rettung der Donau auf. Ich kann Ihnen die Zeitung gerne überlassen. Wir wollen das erreichen und bitten Sie deshalb, unserem Überweisungsantrag zuzustimmen. Danke. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Das Wort hat die Abgeordnete Lisa Peters.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren und meine Damen! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir haben heute wieder einmal die Möglichkeit, in einem Rundumschlag von fünf Minuten - für mich jedenfalls - die gesamten Möglichkeiten und Varianten des Ausbaus der Elbe, der Havel und der Saale und auf Teilstrecken auch der Donau darzustellen. ({0}) Daß das nicht umfassend möglich ist und ich mich deshalb auf wenige Aussagen zur Binnenschiffahrt beschränken muß, ist völlig klar. ({1}) Die F.D.P.-Fraktion und auch ich meinen es ernst mit der Aussage, daß in Zukunft mehr Güter umweltverträglich auf Binnenschiffen befördert werden müssen. Hier helfen keine Sonntagsreden und wiederholte Beteuerungen, sondern hier müssen Taten folgen, ({2}) und das heißt, Herr Schütz, daß Planungen auf den Weg gebracht und Ausbaumaßnahmen ausgeführt werden müssen. ({3}) Dabei ist völlig selbstverständlich, daß ein Ausbau nur umweltverträglich erfolgen kann. Daß alle Planungsvorhaben die Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich machen, ist doch wohl klar. Ich denke, daß das möglich ist, wenn alle Planungsbehörden ihre Arbeit beschleunigen - darauf lege ich großen Wert - und sorgfältig erledigen. Denn wir haben in Deutschland aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger, die grundsätzlich klagen. Das ist für mich selbstverständlich. Deshalb brauchen wir gerichtsfeste Planungen. Solche Planungen sind - ich weiß nicht, ob Herr Fischer noch da ist - nicht immer gut gelaufen; ich erinnere nur an die Planungen in Hamburg. Dadurch dauert alles länger.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Frau Kollegin Peters, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Altmann?

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß nicht, ob Sie etwas fragen wollen, was ich noch sagen möchte, Frau Altmann. ({0})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie die Zwischenfrage?

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Peters, wir kennen uns nun schon lange und wollen gemeinsam die Binnenschiffahrt stärken. Aber jetzt muß ich einmal fragen: Gehört dazu nicht auch, daß die Binnenschiffahrt größere Chancen bekommt und daß die Konkurrenz besonders durch den Lkw dadurch entschärft werden muß, daß die Preise für Transporte auf der Straße erhöht werden? ({0})

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Altmann, darauf heben Sie immer wieder ab. Ich sage nun nicht ja dazu, sondern ich sage dazu: Wir müssen das ins Verhältnis setzen. Sie wollen die Binnenschiffahrt fördern und auch die Bahn in ein besseres Licht bringen. Ich beantworte das heute nicht mit Ja; aber ich kann einigen Dingen bei Ihnen etwas abgewinnen. ({0}) Ich will fortfahren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hanewinckel?

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, das kommt gleich. Ich darf noch ein bißchen fortfahren, Frau Kollegin Hanewinckel? ({0}) Man muß nicht immer wieder erwähnen, daß die Ökonomie und die Ökologie dabei nur Partner sein können. Dies vorausgeschickt, stelle ich fest, daß gerade beim Ausbau von Wasserstraßen die Zukunft eine Rolle spielt. Wasserstraßen mit allen Bauwerken, mit Brücken und Schleusen, werden nicht für heute und nicht für 2005, sondern für zwei bis drei Generationen, für 50 bis 80 Jahre gebaut und meist nicht verändert. ({1}) Dies haben wir in dieser Woche in Berlin sehr anschaulich wahrnehmen können. Wir waren ja da. Unsere Vorfahren haben weit vorausgedacht und haben Schleusen gebaut, die heute teilweise noch voll zu nutzen sind. Wir sind genauso gehalten, für die Zukunft, für die nächsten zwei bis drei Generationen, im voraus zu denken. Dann wird auf unseren wichtigsten Flüssen und Kanälen - ich sage bewußt: wichtigsten - das größte Schiff von 110 Metern Länge fahren. Auch in der Binnenschiffahrt kann nur transportiert und abgeladen werden, wenn die Frachtraten auskömmlich sind. Sie müssen gerade auch für die Partikuliere und ihre Familien auskömmlich sein. Ich weiß, daß besonders von Partikulieren in vielen Jahren noch kleinere Schiffe gefahren werden. Aber wenn ein neues Schiff gekauft oder ein gebrauchtes erworben wird, dann wird es größer sein, weil die Rentabilität des Fahrens gegeben sein muß. Auf unseren Flüssen wird auch in 20 Jahren noch Schüttgut gefahren werden. Baustoffe, Kohle und landwirtschaftliche Produkte werden weiterhin lose befördert werden. Aber die mittelfristige Zukunft gehört einfach dem Containerschiff, auch auf Binnengewässern. Hier wird sich diese Beförderungsart durchsetzen, genau wie sie sich in den letzten 20 Jahren im Seeverkehr durchgesetzt hat und nicht mehr wegzudenken ist. Wir haben heute Techniken, die umweltverträgliches Bauen ermöglichen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, ich muß Sie fragen, ob Sie jetzt die Zwischenfragen erlauben.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, weil Sie gerade die Containerschiffe ansprechen: Wissen Sie, daß Containerschiffe eine Wassertiefe von maximal zwei Metern haben und daß bei Containerschiffen nicht die Tiefe, sondern die Brücken entscheidend sind? Bei der Durchfahrhöhe der Brücken müßten wir ansetzen, so daß wir bei der Donau mit einer Wassertiefe von ungefähr 2,20 Metern auskommen und Containerschiffe einsetzen und sie auch voll beladen könnten.

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kubatschka, Sie werden bemerkt haben, daß ich nicht von Wassertiefen, nicht von 2,20 Metern, 2,50 Metern oder 2,80 Metern gesprochen habe, sondern von Umweltverträglichkeit. Dann ergibt sich das von selbst. Ich weiß schon, daß wir derzeit in der Regel nur zweifach laden können, also zwei Container übereinander, und daß viele Brückenanhebungen oder Straßenveränderungen nötig sein werden, wenn in Zukunft dreifach übereinander geladen wird. Ich habe mir aber auch sagen lassen, daß bei modernen Schiffen manches anders möglich ist. Ich gebe ja nur zu bedenken - ich glaube, da sind wir einer Meinung -: Wenn man Straßen verändern muß, wenn man Brücken aus anderem Grunde verändern muß - wir wissen aus dem Verkehrsausschuß, daß wir noch viele Brücken verändern müssen; da sind auch Brücken dabei, die über Wasserstraßen gehen -, dann kann man dies bitte schön mit berücksichtigen. Ich habe eben gesagt: Wir bauen für die nächsten 50 bis 80 Jahre. Da können wir doch heute nicht ganz klein denken und nur fragen: Was ist heute da, was schippert heute auf den Flüssen herum? Man muß das einfach mit berücksichtigen, und dazu gehört für mich auch die Containerfracht auf Binnengewässern. Ich glaube, darauf können wir uns einigen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Und kann dann auch die Kollegin Hanewinckel ihre Zwischenfrage stellen?

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte. ({0}) - Das liegt an Ihnen. ({1})

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Peters, ich habe schon zu Beginn Ihrer Rede mit großem Interesse gehört, daß auch Sie gesagt haben, der Ausbau von Flüssen - ich möchte speziell auf die mittlere Elbe zu sprechen kommen - müsse umweltverträglich gestaltet werden. Da sind wir uns einig. Wenn eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt worden ist, können wir weiter darüber reden, wie diese bestimmten Strecken schiffbar gemacht werden können oder müssen. Ist Ihnen bewußt, daß es für den Umbau bzw. den Ausbau der mittleren Elbe keine Umweltverträglichkeitsprüfung gibt und daß wir diesen Antrag unter anderem eingebracht haben, damit das erst einmal passiert? Wenn Sie auch dieser Meinung sind, müßten Sie, denke ich, unserem Antrag heute zustimmen. ({0})

Lisa Peters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001696, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dem Antrag werde ich nicht zustimmen. Ich komme im Verlauf der nächsten zwei Minuten in meiner Rede noch darauf und spreche noch kurz an, was Minister Wissmann kürzlich zum Ausbau der Elbe und besonders zum Ausbau des Elbeseitenkanals gesagt hat. ({0}) - Die mittlere Elbe. - Daraus ergibt sich einiges. Was die mittlere Elbe betrifft, so gehe ich davon aus, daß heute nichts mehr möglich ist, was nicht umweltverträglich ist. Da sind wir, glaube ich, einer Meinung. Es wird sich alles ergeben, wenn Sie anfangen wollen zu bauen. Das ist völlig klar. ({1}) Meine Damen und meine Herren, dabei werden sich aber nicht nur die Schiffe den Flüssen anpassen müssen, wie es die Grünen fordern. Frau Altmann, Sie wissen, daß ich da nicht mit Ihnen konform gehe. Es ist schon möglich, natürlichen Ausbau und ökologischen Fortschritt zu verbinden. ({2}) Wir wollen - das sage ich für die Liberalen ganz klar -, daß Tiere und Pflanzen ihre Lebensräume und Standorte behalten. Ich bin Bäuerin, ich weiß schon, wovon ich spreche. Wir wissen aber auch, daß in unseren Landschaften an den Flüssen Menschen wohnen, die arbeiten und leben wollen. Es ist unsere Pflicht, Arbeitsplätze zu schaffen; wir dürfen nicht nur als Verhinderer auftreten. Tatsache ist, daß in den neuen Ländern in den letzten 20 Jahren kein Ausbau von Wasserstraßen stattgefunden hat. Jetzt sollen und müssen wir auch diese Regionen vernünftig und wirtschaftlich an Binnenwasserstraßen anbinden. Außerdem sind die Verbindungen in die osteuropäischen Lander herzustellen. Die zukünftigen Handelsbeziehungen, meine Damen und Herren, werden über die Havel, die Elbe und die Spree nach Berlin und dann hinaus in den Osten gehen und auch in Passau an der Donau nicht haltmachen. Darüber sind wir uns völlig klar. Wie wir dahinkommen, wird sich in den nächsten fünf Jahren zeigen. Ich spreche mich für sorgfältige Prüfungen aus. Auch der Vorschlag von Minister Wissmann zum Ausbau der Elbe, des Mittelland- und des Elbeseitenkanals kann nicht sofort verdammt werden, wie es im ersten Moment geschehen ist. Er muß diskutiert, berechnet und geprüft werden. Es geht deshalb nicht an, eine Ablehnung schon auf dem Vorweg zu treffen, mit dem Argument, dort sind Schleusen- und Kanalgebühren fällig. Da kann man, denke ich, über Veränderungen nachdenken. Die F.D.P.-Fraktion richtet bei den Baumaßnahmen den Blick in die Zukunft. Wir bauen für 50 Jahre, nicht nur für heute, und wir werden alles tun, damit die Lebensräume erhalten bleiben. Das ist auch möglich. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Abgeordneten Steffi Lemke.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Peters, ich habe sehr aufmerksam zugehört, wie Sie mehrfach ausgeführt haben, daß Ihrer Ansicht nach der Ausbau von Flüssen heutzutage nur noch nach Planfeststellung mit Umweltverträglichkeitsprüfung, nach eingehender Prüfung passieren darf. Ich muß noch einmal auf die Elbe zurückkommen. Ist Ihnen bewußt, daß genau für das, was an der mittleren Elbe an Ausbauplanungen passiert, weder eine Umweltverträglichkeitsprüfung noch ein Planfeststellungsverfahren nach bundesrepublikanischen Maßstäben vorliegt und das Bundesamt für Naturschutz genau diese Ausbaumaßnahmen, die jetzt dort stattfinden, als umweltunverträglich bezeichnet hat? Wenn ich richtig informiert bin, ist das Bundesamt für Naturschutz die Fachbehörde des Umweltbundesministeriums. Ich denke, daß es bei solchen Planungen zur fachlichen Beratung dienen sollte. Das ist dort schlicht und einfach nicht passiert. Dort wird nach Plänen von 1936 ausgebaut! ({0}) Sie können mir doch nicht erzählen, daß diese Pläne von damals auch nur irgend etwas mit heutigen Maßstäben von Ökologie zu tun haben. ({1}) Ich kann nicht verstehen, wenn Sie solche Maßstäbe anlegen, wie Sie hier vorgetragen haben, daß Sie dann diesen Ausbauplanungen zustimmen können. Fahren Sie hin! Schauen Sie sich das an! Nehmen Sie die Kollegin Blank mit, die gesagt hat, sie konnte sich 1992 die Buhnen anschauen. Die haben dort überhaupt nichts behindert. 1992 ist das schön gewesen. Diese Buhnen werden jetzt fast bis zur Mitte des Flusses vorangetrieben. Da können Sie sich demnächst nichts mehr anschauen. Gehen sie vor Ort und schauen Sie sich das an, was an Uferschotterung und Uferzerstörung im Augenblick dort betrieben wird. Sehen Sie sich das an! Sie haben die Bilder von Herrn Dörfler vom BUND inzwischen wahrscheinlich auch bekommen. Das ist nicht umweltverträglich, und das ist auch keine Ausbau- oder Instandsetzungsmaßnahme, wie es immer genannt wird, das ist eine massive Flußzerstörung, die dort zur Zeit stattfindet. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nun hat das Wort die Abgeordnete Frau Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den ersten Teil des Entschließungsantrages der Mehrheit des Verkehrsausschusses zum Ausbau von Elbe, Havel und Saale kann sogar ich unterschreiben. Sie wollen die umweltfreundlicheren Verkehrsträger Bahn und Schifffahrt stärken, um eine Verlagerung von Verkehr von der Straße auf diese Verkehrsträger zu fördern. Nur darf es einfach nicht länger bei Absichtserklärungen bleiben. Wenn man sich ansieht, wie der Weg ist, der dort beschrieben wird, auch in dem Entschließungsantrag, dann muß ich sagen, er weist in eine Richtung, die ich nicht teilen kann. Da steht nämlich, daß die vorhandenen Engpässe des Wasserstraßennetzes und insbesondere die weitgehend vernachlässigten ostdeutschen Wasserstraßen auf den europäischen Standard gebracht werden müssen. Da fragt sich schon, was europäischer Standard ist. Es drängt sich die Frage auf, von welcher Binnenschiffahrt hier eigentlich die Rede ist. Was Sie fördern, sind die Großreedereien mit den immer größer werdenden Euroschiffen, gegen die ein selbständiger Binnenschiffer ohnehin keine Chance hat. Sie tragen somit dazu bei, daß die ohnehin schon sehr ausgeprägte Unternehmenskonzentration in der Binnenschiffahrt weiter verschärft wird. Wir aber meinen, die Binnenschiffahrt ist als Güterverkehrsträger unter ökologischen und ökonomischen Gesichtspunkten dann unschlagbar, wenn sie sich in der Wahl der Schiffstypen den natürlichen Gegebenheiten anpaßt. ({0}) Der Anfang September vereinbarte Kompromiß zwischen Verkehrsminister Wissmann und verschiedenen Naturschutzverbänden zum Ausbauverzicht bei der Mittelelbe und zur Verlagerung des Verkehrs auf den Elbeseitenkanal ist ein richtiger und ermutigender Schritt für die Bemühungen zum Erhalt und zur Wiederherstellung naturnaher Fließgewässer. Es zeigt sich, daß sich außerparlamentarischer Widerstand lohnt, wenn er denn gebündelt wird und viele Partner hat. Manchmal verhelfen offenkundig auch knappe Kassen zu ökologisch vernünftigeren Lösungen. Dieser Erfolg darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß weiterhin erhebliche Eingriffe in den Flußlauf der Elbe stattfinden. Zur Zeit werden - das ist schon angesprochen worden - bei Dessau, mitten im Biosphärenreservat, Strombaumaßnahmen durchgeführt - nebenbei bemerkt, darauf wies Kollegin Lemke schon hin, nach Plänen von 1936. Durch den Bau von Buhnen wird die Fließgeschwindigkeit des Flusses künstlich erhöht, der sich dann tiefer in das Bett eingräbt und somit den Grundwasserspiegel der angrenzenden Auenwälder senkt. Die Elbtalaue ist ein ländlich geprägter, strukturschwacher Raum mit relativ hohen Anteilen der Landwirtschaft und des Tourismus an der Gesamtentwicklung. Einen Besuch im Wörlitzer Park kann ich nur wärmstens empfehlen. Das wichtigste Zukunftskapital entlang der Elbe ist die intakte Natur mit einem sanften Tourismus und einer dem Fluß angepaßten Schiffahrt. Ordnungsgemäße Planfeststellungsverfahren mit Umweltverträglichkeitsprüfung sind daher mehr als geboten. Auch darf ein Ausbau von Mittelland- und ElbeHavel-Kanal nicht dazu führen, daß vor allem in Brandenburg schützenswerte Natur zerstört wird. Die mittlere Elbe zu schützen, damit aber gleichzeitig eine Begradigung der Spree mit einem Neubau der Schleuse Charlottenburg in Kauf zu nehmen, wäre ein mehr als fragwürdiger Erfolg. Es ist heute dringend notwendig, gründlich und sachlich über Alternativen nachzudenken, sich alles genau anzuschauen, wie wir das unter anderem am Montag in Berlin gemacht haben, vorhandene Gutachten ernst zu nehmen und dann erst zu entscheiden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor einem Jahr haben wir bereits dieses Thema im Deutschen Bundestag beraten. Ich verhehle nicht, daß diese Debatte nicht nur hier, sondern auch in verschiedenen Orten entlang der Donau realistisch, nüchtern und sachlich geführt wird - außer wenn man von Gott weiß woher aus der Bundesrepublik Deutschland kommt, um Angst zu machen, aufzuwiegeln und die Leute in Schrecken und Panik zu versetzen. Das finde ich nicht gut; dagegen gehört entschieden angegangen. ({0}) Es sollte eigentlich völlig außer Frage stehen, die Donau als Binnenwasserstraße so auszubauen, daß dort in Zukunft Gütertransportverkehr wirtschaftlicher vorgenommen werden kann, also so, daß es sich insgesamt gesehen rechnet. Daran soll gearbeitet werden. Darauf aufbauend finden momentan ja verschiedene Berechnungen statt und sind wissenschaftliche Gutachten in Auftrag gegeben worden, die in Kürze vorliegen werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kubatschka?

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, Sie sprechen gerade davon, daß aus der ganzen Republik Personen an die Donau anreisen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Würden Sie zu diesen, die anreisen und Angst und Schrecken verbreiten, auch den CSU-Ortsverband Osterhofen zählen, der damit gedroht hat, beim nächsten Mal keinen Wahlkampf mehr für die CSU zu machen, oder die 15 der 17 Gemeinden an der Donau, die sich gegen den Donauausbau in dieser Form ausgesprochen haben? ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kubatschka, wenn man an der Donau wohnt, dann braucht man, wie ich meine, nicht anzureisen; dann gehört man dazu. Das könnten auch Sie wissen. Osterhofen liegt an der Donau. Sicherlich werden die Bedenken, die von dieser Seite eingebracht werden, ernst zu nehmen sein. So sind wissenschaftliche Gutachten in Auftrag gegeben worden, die überprüfen sollen, ob man an den staugestützten Lösungen festhalten muß oder diese durch flußbauliche Maßnahmen ersetzt werden können. Dabei geht es meiner Meinung nach sowieso nur darum, ob man auf die obere Staustufe in Waltdendorf verzichten kann, da man auf die untere Staustufe in Osterhofen ohnehin nicht verzichten kann. Das wird das Gutachten, das uns in Kürze mit genauen Zahlen an die Hand gegeben wird, zeigen. Dann hoffe ich schon und baue in gewisser Hinsicht darauf, daß man auch bereit ist, das zu akzeptieren, was unter dem Strich an Ergebnissen vorliegt. Schließlich geht es darum - daran lasse ich keinen Zweifel -, daß wir an einer Abladetiefe von 2,50 Metern festhalten müssen. Das heißt also, daß eine Fahrrinnentiefe von 2,80 Metern erforderlich ist. ({0}) - Sicher ist das erforderlich. Frau Kollegin Saibold, Sie haben vorhin die Situation unterhalb Wiens genannt. Es steht doch fest, und zwar für jeden, daß bei einem Gütertransport, der auf dem Schiff vom Schwarzen Meer gegebenenfalls bis Frankfurt oder bis zur Nordsee vorgenommen wird, ohne Schwierigkeiten Transporte bis Passau/Vilshofen möglich sind. Dann kommt diese Engstelle zwischen Vilshofen und Straubing. Gerade an dieser Engstelle müssen einige Korrekturen vorgenommen werden, wobei ich der Meinung bin, daß man die Ausbaustandards überprüfen sollte. Da hat sich zwischenzeitlich einiges bewegt, ({1}) nämlich daß man von der Breite abgerückt ist und I gesagt hat: Viererschubverbände müssen sich nicht unbedingt auf der ganzen Länge hier begegnen können, sondern hier kann es auch zu einem abgestimmten Begegnungsverkehr kommen. Auch dieses Zugeständnis ist bereits da. ({2}) Wenn die Ergebnisse vorliegen, ob man an der staugestützten Lösung festhalten muß oder ob man gegebenenfalls die wasserbauliche Lösung favorisiert und durchziehen kann, dann sollten wir bereit sein, das zu akzeptieren, daraus Schlüsse zu ziehen und auch eine Entscheidung, die uns von Wissenschaftlern fundiert an die Hand gegeben wird, nach außen und nach vorne zu tragen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zwischenfrage der Kollegin Saibold, bitte.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Hinsken, wenn ich Ihren Ausführungen folge, kann ich eigentlich davon ausgehen, daß Sie unserem Überweisungsantrag zustimmen würden. Denn wir wollen, daß dieses Gutachten, obwohl wir den Auftrag dafür nicht bekommen haben, weil er geheimgehalten wurde, noch in die weiteren Überlegungen einbezogen werden kann. Ich glaube, es ist wirklich nicht in Ihrem Sinne, daß man das jetzt alles ablehnt. Sie würden damit beweisen, daß die Abgeordneten aus Niederbayern und aus den Koalitionsfraktionen unnachgiebiger, unbeweglicher, unflexibler sind als selbst Wiesheu. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hier bin ich anderer Meinung. Wir brauchen diese Anträge nicht zur erneuten Beratung in den Ausschuß zu überweisen. Wir haben darüber bereits umfangreich diskutiert. Daraus resultierend wurden diese wissenschaftlichen Gutachten in Auftrag gegeben. Es steht fest, daß sowohl die Bayerische Staatsregierung als auch der Bundesverkehrsminister im Wort stehen, daß das, was an Ergebnissen vorliegt, nicht unter den Tisch fällt, sondern in die Entscheidungsfindung einbezogen wird. Wenn diese Entscheidung gefällt ist, sollte sie auch getragen werden, nachdem ich das glaube, was die in diesem Zusammenhang beauftragten Wissenschaftler uns an die Hand geben. ({0}) Das heißt für mich: Heute sollte darüber abgestimmt werden, ob diese Entschließungsanträge weitergegeben werden oder nicht. Ich plädiere dafür, daß sie nicht weitergegeben werden. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht der Kollege Kubatschka.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Deutschen fordern: Stoppt die Zerstörung des Regenwaldes! Den eigenen Regenwald, den Auwald, wollen wir aber zerstören. ({0}) Wir geben dreistellige Millionenbeträge für den Erhalt des Regenwaldes aus, aber Betonkopf Wiesheu will die Donau zerstören. ({1}) In Bayern sind wir stolz auf eine Landesgartenschau zum Thema „Revitalisierung eines Flusses in der Stadt", aber Betonkopf Wiesheu will die Donau zerstören. ({2}) Baden-Württemberg gibt hohe Beträge für den Rückbau der oberen Donau aus. Aber Betonkopf Wiesheu will die Donau zerstören. Unsere österreichischen Nachbarn errichten den Nationalpark Donauauen. Aber was will Betonkopf Wiesheu? - Die Zerstörung der Donau. ({3}) Die Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist etwas Einmaliges, eine Art Arche Noah. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kubatschka, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kubatschka, würden Sie auch SPD-Abgeordnete, die den Donauausbau positiv beurteilen, als Betonköpfe bezeichnen, wie Sie dies beim Herrn Kollegen Wiesheu getan haben?

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, Sie wissen, daß es einen einzigen SPD-Landtagsabgeordneten gibt, der dieser Meinung ist. Mit dem haben wir uns auseinandergesetzt. Nachdem er aber auf diesem Gebiet nicht beweglich war, ist er für mich auch ein Betonkopf. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine weitere Zwischenfrage? - Bitte.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kubatschka, pflichten Sie mir bei, daß es ein schofeliges, unseriöses Verhalten gegenüber Parteikollegen ist, das Sie eben an den Tag gelegt haben? ({0})

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben diese Antwort herausgefordert. ({0}) Wenn Leute dafür eintreten, die Donau in zwei Stufen mit viel Beton auszubauen, dann sitzen sie für mich im gleichen Boot und verdienen die gleiche Bezeichnung wie Herr Wiesheu. Ich würde gerne beiden eine andere Bezeichnung geben, wenn sie anfangen würden, lernfähig zu werden. Sie sind es aber nicht. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Frage des Kollegen Kalb? - Bitte.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kubatschka, wirft dies ein Licht auf das Demokratieverständnis der niederbayerischen SPD, wenn man sich so äußert, wie Sie es beispielsweise getan haben, oder wenn man sich so wie die Landesvorsitzende der SPD verhält? Sie hat heute in Osterhofen eine Pressekonferenz abgehalten, zu der der Abgeordnete Hermann Niedermeier, der in dieser Frage eine etwas andere, aber wohlgemerkt fachkundigere Meinung hat, weil er berufliche Voraussetzungen dieser Art mitbringt, gar nicht erst eingeladen wurde.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kalb, es stimmt, der Kollege aus Deggendorf ist Wasserbauer. Er hat dies gelernt vor 30, 40 Jahren. Seitdem haben sich die Erkenntnisse des Wasserbaus grundlegend geändert. Ich bin von Beruf Gewässergütler, technischer Chemiker. Wir haben den Fluß an dieser Stelle untersucht; wir haben genaue Erkenntnisse gesammelt. Wir sind näher am Puls der Zeit, an dem, was für unsere Umwelt und auch für unsere niederbayerische Heimat notwendig ist, als der Kollege Niedermeier, der nach meiner Meinung weiter auf seinen Irrtum besteht. Ich kann ihm nicht helfen und teile seine Meinung nicht; ich werde aber weiter versuchen, ihn zu überzeugen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es liegen noch zwei Wünsche nach Zwischenfragen vor. Ich bitte aber alle Kollegen, daran zu denken, daß wir noch eine sehr lange Tagesordnung vor uns haben. - Bitte.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie sich als der bessere SPD-Niederbayer verstehen? ({0})

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kalb, ich halte diese Frage für sehr billig. Ich halte niemanden, der anderer Meinung ist, für einen besseren oder schlechteren Sozialdemokraten. Ich sage: Wir sind auf diesem Gebiet fachlich einer anderen Meinung, und diese Meinungsverschiedenheit haben wir ausgestritten. Der Kollege war aber nicht zu überzeugen. Die Mehrheit der Fraktion im Landtag - einer gegen den Rest - ist anderer Meinung. Es spricht für die Kultur der SPD, daß wir diese Einzelmeinung gelten lassen. ({0}) Ich werde mich auch dafür einsetzen, daß der Kollege Niedermeier diese Meinung auch weiterhin als Betonkopf vertreten kann. ({1}) - Ja, das muß ich nach wie vor sagen. Aber ich werde dafür kämpfen, daß er seine Meinung sagen kann, auch wenn ich sie nicht teile.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kubatschka, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blank?

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kubatschka, ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die SPD dem Donauausbau, der im Bundesverkehrswegeplan vorgesehen ist, zugestimmt hat und damals keine Anmerkungen gemacht hat? Die zweite Frage: Sind Sie damit einverstanden - nachdem Sie viele Leute als Betonkopf bezeichnen -, daß wir Sie dann als Holzkopf bezeichnen oder daß wir Ihr ganzes Gerede - auf bayrisch gesagt - als G'schmarri bezeichnen?

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, zum einen habe ich nur zwei Personen als Betonköpfe bezeichnet, und den einen hat sogar der Kollege Hinsken geoutet. Ich habe das nicht gemacht. ({0}) Dann regt er sich darüber auf, daß ich ihn in dasselbe Boot setzen muß. Das war der Kollege Hinsken, nicht ich. ({1}) Übrigens, Frau Kollegin Blank, Sie haben anscheinend unseren Antrag nicht gelesen. In ihm steht „Ausbau", und wir sind für einen Ausbau. Es geht um das Wie. Der andere Ausbau funktioniert; das ist erwiesen. Es gibt mathematische Modelle, die besagen, daß wir eine Fahrrinnentiefe von 2,80 Meter mit flußbaulichen Mitteln erreichen können. Darum geht es. Von Ihnen und Ihren Anhängern wird hier die falsche Ausbaulösung verfolgt. So kommen wir nicht weiter. Wir wollen eine Lösung, die naturverbundener, ökologischer und nach meiner Meinung auch wirtschaftlicher ist. In einer Zeit, in der das Geld knapp wird, sollten wir nicht mit Hunderten von Millionen um uns werfen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhlwein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte dann weitere Zwischenfragen zu diesem Redebeitrag nicht mehr zulassen. ({0}) Ich mache das im Interesse der gesamten Tagesordnung. Ich habe jetzt nacheinander sechs Zwischenfragen zugelassen. ({1}) - Ja.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Weil ich einige Jahre in Bayern gelebt habe, darf ich mir die Frage erlauben, Herr Kollege Kubatschka, ob nicht der Begriff „Betonkopf", gemessen an dem auch von der CSU benutzten Schimpfwörterschatz, eine geradezu liebevolle Bezeichnung ist. ({0})

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Betonkopf" gegenüber dem Herrn Wiesheu möchte ich nicht als liebevoll bezeichnen. Aber meinem Kollegen Niedermeier gegenüber möchte ich es als liebevoll bezeichnen. ({0}) Ich möchte fortfahren: Mit der bisher geplanten Staustufenlösung wird diese Arche Noah zerstört. Ein Ausgleich ist nicht möglich. Wir übertreten aber auch geltendes Recht, denn wir sind dem Donauschutzübereinkommen beigetreten. Wir haben es vor einem Jahr ratifiziert. Die Staustufenlösung würde aber eine ökologische Verschlechterung mit sich bringen. Die Gewässergüte nach dem TrophiezuHorst Kubatschka stand verändert sich. Jetzt ist die Donau zwischen 2 und 3 eingestuft; beim Bau der Staustufen würde es zu einem Absinken der Güteklasse auf 3 kommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, um es klar zu sagen - ich wiederhole es -: Wir wollen beim Ausbau eine umweltverträgliche Lösung. Wir brauchen den Donauausbau mit der höchsten ökologischen Sensibilität. Dies ist nicht die Lösung über zwei Staustufen. Staustufen sind nicht notwendig. Der Karlsruher Wasserbauexperte Dr. Bernhart hat rechnerisch nachgewiesen, daß die Maximallösung von 2,80 Meter mit flußbaulichen Mitteln erreichbar wäre. Wir brauchen aber diese Tiefe gar nicht; denn unterhalb und oberhalb der geplanten Ausbaustrecke gibt es Stellen, an denen diese Maximalforderung nicht erreicht wird. Für Österreich gilt ein Regulierungsniedrigstwasserstand von 2,50 Meter. Dies ist auch die Empfehlung der Donaukommission. Die Rheinschiffahrt kommt mit Niedrigstwasserständen von 2,10 Meter aus. Dabei ist der Rhein die größte Schiffahrtsstraße der Welt. ({1}) Wenn man aber wie Herr Wiesheu die Betonlösung will, dann erfindet man einen Sicherheitsabstand von 80 Zentimetern, der noch einmal zur Eintauchtiefe zugerechnet wird: ein Sicherheitsabstand, neu erfunden von Herrn Wiesheu und speziell für Bayern entwickelt. Bei solchen Sicherheitsabständen müßten wir die Schiffahrt auf dem Rhein schlicht und einfach einstellen. Der Widerstand aber in Niederbayern ist massiv. 15 von 17 Donaugemeinden sind gegen die bestehenden Ausbaupläne. Ein Bündnis sammelt sich unter der Führung des Bundes Naturschutz, dem ich dafür danke. ({2}) Die SPD wird dieses breite Bündnis in der Bevölkerung unterstützen. Der Widerstand wird nicht zwecklos sein, wie der Widerstand der österreichischen Bevölkerung in Hainburg gezeigt hat. ({3}) Wir Bayern haben in Wackersdorf bewiesen, daß auch wir uns wehren können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, verhindern Sie ein Wackersdorf, verhindern Sie ein Hainburg! ({4}) Lehnen Sie diese Betonlösung ab! Wir brauchen keinen maximalen Ausbau; wir brauchen einen ökologischen Ausbau. ({5}) Ich hoffe, daß dies auf parlamentarischem Wege gelingt. Andeutungen von Verkehrsminister Wissmann hat es gegeben. Ich hoffe bloß, daß dies keine Seifenblasen waren. Herr Wissmann, setzen Sie sich gegen die bayerische Betonlobby durch! Nachdem noch nicht alle Gutachten vorliegen und wir als Parlament nicht ausgeschaltet werden wollen, sollten wir die beiden Anträge zurücküberweisen und noch einmal neu beraten. Ich glaube, daß wir dann zu einer besseren Lösung kommen. ({6}) Ich muß hinzufügen: Was ich von Frau Kollegin Peters soeben gehört habe, hat so ökologisch geklungen, daß ich glaube, daß Sie und die F.D.P.-Fraktion unserem Antrag zustimmen werden. Denn man darf nicht nur ökologisch tönen, um dann für Beton zu stimmen. Ich danke für das Zuhören. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Kalb.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Kürze der Zeit nur ein paar thesenartige Anmerkungen. Erstens. Die Haltung der SPD zur Binnenschiffahrt ist höchst widersprüchlich. Ich erinnere an die Große Anfrage „Perspektiven der deutschen Binnenschifffahrt" und die Aussprache hierzu am 23. Mai 1996. Die Sprecherin der SPD, Frau Kollegin Faße, kritisierte mangelndes Engagement für die Binnenschifffahrt und führte wörtlich aus: Die Sonntagsreden hören wir immer wieder: Umweltfreundlich, kostengünstig, sicher ist der Verkehrsträger Binnenschiffahrt. Sie mahnte die Vorlage eines eigenen Wasserstraßenausbaugesetzes an und führte weiter aus: Wir brauchen eine schlüssige Verkehrspolitik zugunsten der Binnenschiffahrt. Sie forderte, „daß wir einen Schwerpunkt auf den Träger Schiff setzen". Zweitens. In dem Bemühen um einen „ökologisch verantwortlichen Ausbau der Donau", wie es in der Überschrift Ihres Antrages heißt, sind wir uns sicherlich einig. Die Frage ist nur, wie und mit welcher Methode diesem Erfordernis am besten Rechnung getragen werden kann, wenn man die Ausbauziele grundsätzlich nicht in Frage stellt. Drittens. Der Ausbau hat die Ziele, die Schiffahrtsverhältnisse, wie international vereinbart und wie nach Fertigstellung des Main-Donau-Kanals wohl auch volkswirtschaftlich vernünftig und geboten, zu verbessern und dabei den Hochwasserschutz zu optimieren, das weitere Eintiefen des Flusses zu unterbinden, das Absinken des Grundwassers zu verhindern und damit schädliche Auswirkungen auf uferBartholomäus Kalb nahe Bereiche, Auwälder und Landwirtschaft vorzubeugen und die Standfestigkeit von Gebäuden und baulichen Anlagen zu sichern. Viertens. Am Ausgangspunkt der Diskussion über die jetzigen Ausbaupläne bestand auf allen Seiten bis hin zum Sprecher des Bundes für Naturschutz Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit des Donauausbaus im fraglichen Abschnitt. Allerdings habe ich Zweifel, ob dieser Konsens heute noch gegeben ist. Fünftens. Die Frage, wie und mit welcher Methode der Donauausbau erfolgen soll, muß nach gründlicher Prüfung und Abwägung und unter Berücksichtigung der verschiedenen Erfordernisse nach objektiven und sachlichen Gesichtspunkten entschieden werden. Der Sache und dem Anliegen ist nicht gedient, wenn man die Frage der Methode, Herr Kollege Kubatschka, ideologisiert und sie zur Glaubensfrage erhebt. Damit werden sachgerechte Lösungen verhindert. Sechstens. Die Anliegen und Sorgen der Bürger, insbesondere der unmittelbar Betroffenen, sind ernst zu nehmen und soweit wie möglich bei den weiteren Verfahren zu berücksichtigen. Es ist aber zwischen den berechtigten Anliegen von Betroffenen und den Absichten jener, die sich in letzter Zeit sehr lautstark zu Wort melden, genau zu unterscheiden. Manche pflegen hier Positionen der Fundamentalopposition; andere versprechen sich davon partei- oder verbandspolitische Vorteile. Der Eindruck, den Lautstärke und Heftigkeit in der Öffentlichkeit und in den Medien erzeugen, gibt kein objektives Bild der Meinung in der Bevölkerung wieder. Siebtens. Die betroffenen Bürger und Gemeinden brauchen möglichst bald Klarheit über Art und Umfang des beabsichtigten Donauausbaus, um ihrerseits notwendige Überlegungen und Planungen für die künftige Entwicklung vornehmen zu können. Die seit Jahren ungeklärte Situation bedeutet praktisch Planungsstillstand und eine faktische Aushebelung der Planungshoheit. Seit rund 30 Jahren wird über den Donauausbau diskutiert. Der Kollege Dr. Klaus Rose hat erst kürzlich eine sehr eindrucksvolle Dokumentation dazu vorgelegt. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kalb, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Saibold?

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kalb, ist Ihnen bekannt, daß es um etwa 20 bis 30 Tage geht, die die Donau vielleicht länger befahrbar wäre, wenn man sie aufstaute, wenn man einen Kanal baute usw., und können Sie vielleicht nachvollziehen, daß es nicht immer nur um Geld geht, sondern daß die Bevölkerung wirklich besorgt ist, auch wenn sie nicht direkt am Ufer der Donau wohnt, und daß es eine Bedeutung hat, ob die Donau abgespundet und das Grundwasser abgesenkt wird, also Eingriffe vorgenommen werden, die nie wiedergutzumachen sind, und daß man sich dagegen wehrt?

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Saibold, ich habe den Eindruck, es hat keinen Sinn, die Diskussion hierüber mit Ihnen und den hinter Ihnen stehenden Gruppen weiterzuführen, weil die Diskussion heute vor den Stand vor zwei, drei, vier Jahren zurückgefallen ist. Ich hatte gerade ausgeführt, daß Einigkeit darüber bestand. Ich erinnere hier an eine Anhörung in Mülheim, bei der Herr Weigert vom Bund Naturschutz dabei war, wo übereinstimmend festgestellt wurde: An einem Donauausbau geht kein Weg vorbei, da es erforderlich ist, daß der Fluß im überwiegenden Teil des Jahres schiffbar ist. Im Moment können wir an der überwiegenden Zahl der Tage im Jahr die Donau nicht voll nutzen. Das ist der wesentliche Unterschied etwa zum Rhein, den Sie, Herr Kollege Kubatschka, immer anführen. Dort geht es um 30, 40 Tage, an denen man nicht voll abladen kann. Bei der Donau geht es in etwa um 220 Tage, an denen man den Fluß nicht voll nutzen kann. Damals ist unbestritten geblieben und sogar von den Vertretern des Bundes Naturschutz unterstrichen worden: Die drohende Gefahr der Eintiefung der Donau und damit die Gefahr des Abfallens des Grundwasserspiegels macht ebenfalls einen Eingriff notwendig. Sie schütteln den Kopf. Sie wollen selbst das nicht hören, was Ihre Kolleginnen und Freunde vor Ort zugegeben haben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rose?

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich gerne. Sehr viel lieber natürlich. ({0})

Dr. Klaus Rose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001882, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kalb, haben Sie realisiert, daß es an der Donau zumindest an der Strecke zwischen Deggendorf und Vilshofen bereits zahlreiche Buhnen gibt und daß nach den Methoden, die von den Grünen favorisiert werden, zusätzliche Buhnen bis weit in den Mittelbereich der Donau gebaut werden müssen, daß aber die gleichen Buhnen heute von den Rednern Schütz und Lemke als schlecht und flußbaulich nicht richtig angesehen werden? ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Rose, mir ist dieser Widerspruch bei den Ausführungen des Herrn Kollegen Schütz und auch bei der Zwischenbemerkung der Frau Kollegin Lemke sehr, sehr deutlich geworden. Ich habe auch registrieren können, daß die Frau Kollegin Saibold sofort in eine intensive Diskussion mit ihrer Fraktionskollegin einBartholomäus Kalb getreten ist, weil sie mit ihrer Argumentation ein Kuckucksei ins Nest gelegt hat. ({0}) Sie, die Sie heute zufällig in der ersten Reihe der Grünen sitzen, ({1}) haben dazu widersprüchlichste Positionen eingenommen. Man kann nicht plötzlich bei der Donau, wie von Ihnen und durch Herrn Kubatschka von der SPD gefordert, den Methoden des Ogris' oder anderer Flußbauer folgen wollen, die erhebliche Eingriffe flußbaulicher Art erfordern. Herr Professor Ogris hat beispielsweise ausgerechnet, daß 3 bis 3,5 Millionen Kubikmeter Material notwendig wären, wenn man mit flußbaulichen Methoden die Donau entsprechend ausbauen wollte. Hier ist doch ein kompletter Widerspruch zutage gefördert worden. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf fortfahren und dann langsam zum Ende kommen, Frau Präsidentin. Wie die Erfahrungen mit Wasser- und Flußbaumaßnahmen des letzten Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts zeigen, sind solche Maßnahmen nicht nur wenige Jahre oder Jahrzehnte, sondern sehr langfristig von Bedeutung. Deshalb darf man sich bei der Entscheidung darüber nicht von augenblicklichen Stimmungen leiten lassen. Ich fordere daher - neuntens - die Entscheidungsträger in Bund und Ländern auf, in Bälde an Hand objektiver Kriterien eine klare, nachvollziehbare, für die Zukunft tragfähige, sachorientierte Entscheidung zu treffen. Im übrigen verweise ich auf meinen Redebeitrag zu diesem Thema vom 28. September 1995 in diesem Hause, den ich nicht wiederholen möchte. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Johannes Nitsch.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte hat zumindest über weite Strecken gezeigt, daß eine umweltfreundliche Bewältigung unserer wachsenden Verkehrserfordernisse ohne Binnenschiffahrt nicht möglich sein wird. Das Binnenschiff muß seinen absoluten und prozentualen Anteil gegenüber den anderen Verkehrsträgern erhöhen. Die Bundesregierung hat daher die Beseitigung von Engpässen im deutschen Wasserstraßennetz vorgesehen. Der Bundesverkehrswegeplan von 1992 enthält die heute hier debattierten Maßnahmen zur Verbesserung der Schiffahrtsverhältnisse. Ich freue mich, daß in der grundsätzlichen Beurteilung der Bedeutung der Binnenschiffahrt quer durch die Fraktionen weitgehend Konsens vorhanden ist. Wir stimmen auch darin überein, daß die Belange des Umwelt- und Naturschutzes bei der Nutzung unserer Wasserwege streng zu beachten sind. Dies kann jedoch nicht die Durchsetzung von einseitigen Maximalforderungen bedeuten. Die vorliegenden Entschließungsanträge sind darauf ausgerichtet, moderate und teilweise schon als umweltverträglich geprüfte Planungen zu erschweren, zu verzögern oder gänzlich unmöglich zu machen. Das bringt uns nicht weiter. Deshalb hat der Verkehrsausschuß die vorliegenden Entschließungsanträge zu Recht abgelehnt. Wir wollen die Interessen der Binnenschiffahrt und der Ökologie bündeln und für den größtmöglichen Ausgleich zwischen den verkehrs- und strukturpolitischen sowie den ökologischen Erfordernissen sorgen. Dafür brauchen wir einen offenen und vertrauensvollen Dialog, um die zum Teil gegensätzlichen Ziele in einem Gesamtkonzept zusammenzuführen. Dies gilt für Elbe und Donau gleichermaßen. Ein gutes Beispiel dafür ist die „gemeinsame Erklärung zur weiteren Entwicklung der Elbe und des Elbeseitenkanals" mit den Naturschutzverbänden vom 5. September. Schon bei der Aufstellung des Bundesverkehrswegeplans haben wir uns gegen eine durchgehende Stauregelung der Elbe entschieden. Damit die Elbe als freifließender Strom ohne Staustufen erhalten bleiben kann, sollen die Schiffahrtsverhältnisse auf der Mittel- und Oberelbe durch stromregulierende Maßnahmen verbessert werden, die zugleich der Erosion entgegenwirken und den Wasserstand stabilisieren. Gerade für die Erosionsstrecken werden seit 1991 umfangreiche Untersuchungen durchgeführt, um eine Sohlstabilisierung zu erreichen. Diese Konzeption bewahrt die ökologisch wertvollen Potentiale der Elbe, die Entwicklungschancen der anliegenden Häfen und Regionen und den insbesondere für Tschechien wichtigen internationalen Charakter der Elbe-Schiffahrt nach dem Völkerrecht. Die Steigerung der verkehrlichen Attraktivität des Elbeseitenkanals und der Ausbau der Oststrecke des Mittellandkanals als Teil des Projekts 17 der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit eröffnen die Möglichkeit, angemessene werkehrliche und ökologische Perspektiven für die Mittelelbe zu entwickeln. Dabei soll unabhängig von den bereits vorgesehenen Maßnahmen auf der Oststrecke des Mittellandkanals und des Elbeseitenkanals die Schiffahrt auf der Elbe zukünftig möglich bleiben. Denn die Binnenschiffahrt ist darauf angewiesen, unter Berücksichtigung der Tauchtiefen und der Fahrzeiten von den unterschiedlichen Gegebenheiten der Wasserwege Gebrauch zu machen. Hinzu kommt, daß die Elbe oberhalb Hamburgs und der Elbeseitenkanal Verknüpfungslinien auf den internationalen und nationalen Handelswegen sind. ({0}) Dies hat insbesondere für die Hafenstadt Hamburg große Bedeutung. ({1}) Ich würde vorschlagen, Frau Präsidentin, daß wir am Ende meiner Darstellung eine Fragestunde veranstalten. Dann werde ich gern alle Fragen beantworten. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Eine Fragestunde kann ich leider nicht genehmigen. Wenn Sie es wünschen, können wir es so machen, daß ich der Kollegin danach das Wort erteile. - Der Redner hat gebeten, seine Rede zu Ende vortragen zu dürfen. Es handelt sich nur noch um wenige Sekunden. Danach werden Sie aufgerufen. ({0})

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Wir brauchen also einen sinnvollen Brückenschlag zwischen den ökonomischen und den ökologischen Belangen, der mit der gemeinsamen Erklärung eingeleitet wurde. Die Gespräche mit den Verbänden werden auf regionaler Ebene bereits im November beginnen. Die gemeinsame Erklärung steht im übrigen im Einklang mit der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses, die wichtigen Wasserstraßenvorhaben in den neuen Bundesländern schnellstmöglich zu realisieren. Die Ausbausituation an der Donau ist - wie Sie wissen - völlig anders als an der Mittelelbe. Der Ausbaustandard dieser Engpaßstrecke unterscheidet sich gegenwärtig erheblich von dem der ober- und unterhalb angrenzenden Strecken. Deshalb führt kein Weg an einem Ausbau vorbei. ({0}) Das wird auch von den Naturschutzverbänden anerkannt. Umstritten ist also nicht das Ob, sondern das Wie des Ausbaus. Der Bund und Bayern haben sich im vergangenen Jahr entschlossen, die Möglichkeiten und Grenzen flußbaulicher Maßnahmen im Unterschied zu den Staustufen unter Koordinierung der Bundesanstalt für Wasserbau ergänzend untersuchen zu lassen. Am Beispiel der für flußbauliche Lösungen am ehesten geeigneten oberen Strecke sind die für einen Vergleich mit der staugestützten Lösung bewertungswichtigen Faktoren, nämlich erzielbare Wassertiefen und daraus abgeleitet die erzielbaren Abladetiefen, die Veränderungen von Hochwasser und Grundwasser, die Erosion der Flußsohle, die ökologischen Wirkungen, die Wirtschaftlichkeit und die Sicherheit des Schiffsverkehrs, geprüft worden. Wegen der Komplexität der Aufgabenstellung, deren Ergebnisse maßgeblich von den örtlich unterschiedlichen Einflußgrößen Abfluß, Gefälle, Sohl- und Krümmungsverhältnisse und der gewählten Abflußdauerlinie abhängen, haben die Untersuchungen länger gedauert, als ursprünglich angenommen. Zur Zeit werden die im Entwurf vorliegenden Ergebnisse ausgewertet, damit wir noch in diesem Monat zusammen mit unserem Vertragspartner Freistaat Bayern eine Richtungsentscheidung treffen können. Vielen Dank, Frau Präsidentin, daß Sie mir die Überschreitung der Redezeit genehmigt haben. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich bin ja gezwungen, sie zu genehmigen. Ich habe ein gewisses Problem. Ich kann jetzt keine Zwischenfragen mehr zulassen. Die Kollegen haben sich aber entsprechend gemeldet, und der Herr Staatssekretär hat gesagt, daß er sie am Ende zulassen will. Ich denke, wir führen sie als Kurzintervention durch. Zunächst hat Kollegin Faße das Wort. Der Staatssekretär kann dann auf alle Kurzinterventionen zusammen antworten.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich halte diesen Redebeitrag, geschäftsordnungsmäßig richtig, dann als Kurzintervention. Herr Staatssekretär, ich möchte Sie doch einmal auf die sehr merkwürdige Pressemitteilung der Naturschutzverbände und des Verkehrsministeriums ansprechen. Ich möchte am Anfang die Frage stellen, warum eigentlich nicht die Verbände der Binnenschiffahrt einbezogen wurden, für die Elbe eine Lösung zu finden. Es gibt wirklich Diskrepanzen in dieser Erklärung; Sie sollten doch die Möglichkeit bekommen, dazu noch einmal Stellung zu nehmen. Den Verbänden wird eindeutig gesagt, daß die Instandsetzungsarbeiten an den Buhnen - wir können es „Ausbau" nennen; wie auch immer - wie bisher geplant fortgeführt werden; es wird an der Planung und am Ausbau nichts geändert. Es gibt keine UVP für die gesamte Elbe; das war eine Forderung der Umweltverbände. Die Elbe soll wie bisher vereinbart und besprochen für die Binnenschiffahrt befahrbar sein. Die Schleuse Uelzen, die so großes Interesse findet, mußte sowieso erneuert werden. Nur dafür ist die Summe im Haushalt vorgesehen. 600 Millionen DM entdecke ich nirgends, auch keine Ansätze in der mittelfristigen Finanzplanung. Bei all den Fragen der Renaturierung haben Sie sich fein zurückgehalten und gesagt: Im Rahmen der Kompetenz des Bundes werden da Gelder einfließen. Ich frage mich, wer diese 600 Millionen DM, die als Gesamtkonzept eingebracht sind, eigentlich aufbringen soll. Ich habe den Eindruck, daß erstens die Naturschutzverbände über den Tisch gezogen worden sind - sie sind sich dessen noch nicht ganz bewußt - und daß zweitens der Binnenschiffahrt in Gesprächen und auch in öffentlichen Veranstaltungen weiter alle Möglichkeiten eröffnet werden. Das ist etwas, was nicht zusammenpaßt. Ich habe den Eindruck, an der Donau wird es ähnlich ablaufen: daß mit großem Tamtam eine Pressekonferenz gemacht wird, im Grunde aber nichts dahintersteckt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir hören nacheinander alle Kurzinterventionen. Sie können sie dann zusammen beantworten, Herr Nitsch. Die zweite Kurzintervention, Herr Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch ich habe eine Kurzintervention in Frageform, Herr Staatssekretär. Gibt es eigentlich eine Veränderung der Position des Verkehrsministers zum Ausbau der mittleren Elbe nach dem Gespräch mit den Umweltverbänden im Vergleich zu vorher? Gibt es zu irgendeiner Strecke der mittleren Elbe, also von der Saale bis vor Hamburg, ein Planfeststellungsverfahren oder eine Umweltverträglichkeitsprüfung im Rahmen des Buhnenausbaus? Ich erinnere an die Kurzintervention meiner Kollegin Schumann, die angesprochen hat, daß bei Roßlau eine große Buhne unterhalten wird, deren Ausbau 1936 stattgefunden hat. Müssen wir heute, nach 60 Jahren, nicht eine andere rechtliche Bewertung zugrunde legen? ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Kollegin Saibold, hatten Sie noch eine Kurzintervention? - Bitte. ({0}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist das Recht aller. Sie hatte sich gemeldet.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, könnten Sie vielleicht doch noch eine kurze Ausführung dazu machen, wie der Auftrag für dieses Gutachten gelautet hat? Wie war die Fahrrinnentiefe festgelegt? Ich konnte das von Ihrem Ministerium bisher nicht erfahren. Genau das ist aber der springende Punkt; denn wenn ich bei 2,80 Meter Fahrrinnentiefe bleibe, dann brauche ich eventuell die Staustufe, den Seitenkanal und vieles andere mehr. Wir wollen das nicht. Die Transportkapazitäten sind vorhanden. Alles kann in dieser Rinne fahren - vielleicht ein paar Tage weniger, wenn Sie ein paar Zentimeter von Ihrem Ausbauziel abgehen. Ich möchte dem Kollegen Kalb insofern recht geben, als ich die flußbaulichen Maßnahmen - 2,80 Meter oder noch mehr: 3,10 Meter oder 3,30 Meter; das ist alles im Gespräch - ebenfalls für einen so großen Eingriff in die Ökologie des Flusses halte, daß ich sie nicht vertreten kann. Deswegen sind wir für die Absenkung der Fahrrinnentiefe. Deswegen ist es auch so interessant, ob diese Absenkung der Fahrrinnentiefe Grundlage des Gutachtens war.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich bitte Sie, Herr Nitsch, zu antworten.

Johannes Nitsch (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001616

Gern, Frau Präsidentin. Ich komme zunächst zu den Fragen von Herrn Schütz und Frau Faße. Das Problem im Rahmen des Elbeausbaus besteht darin, daß wir zwei Dinge zu tun haben, die auf eine Reparatur hinauslaufen. Die Elbe hat feste Sohlstrecken, sie hat erodierende Sohlstrecken, sie hat anlandende Sohlstrecken, und sie hat Strecken, bei denen beides vorkommt. Wir müssen die Schiffbarkeit der Elbe wieder auf einen Stand bringen, wie wir ihn ungefähr 1913 hatten. Da haben wir 15 Millionen Tonnen auf der Elbe verschifft. Wir müssen dort, Frau Schumann, wo die Elbesohle eine Eintiefung, eine Auskolkung hat, die im Bereich Torgau zu einer Entwässerung der Elbauen führt, eine Sohlbefestigung durchführen. Das ist von Ihnen und in dem Schreiben des BUND überhaupt nicht erwähnt worden. Zu den Buhnenarbeiten, die wir in der Nähe von Roßlau durchführen, kann ich nur sagen: Sie wissen sicherlich, daß das durch Übersetzübungen der Roten Armee zerstörte Buhnen sind. Wir haben an der Elbe 6 000 Buhnen, die nach dem Wiener Kongreß gebaut worden sind. Sie sind über 100, teilweise 130, 150 Jahre alt und stellen Volksvermögen dar. Wir können dieses Volksvermögen nicht verrotten lassen. Wir brauchen diesen Schiffahrtsweg, wir brauchen diesen Transportweg. Alle Maßnahmen, die wir an der Elbe durchführen, sind Reparaturmaßnahmen. Deswegen brauchen wir keine UVS. ({0}) - Wir stellen nur den alten Zustand wieder her. Sie haben das ja auch dadurch dokumentiert, daß Sie immer wieder auf die Unterlagen von 1936 hingewiesen haben. Wir bauen also das wieder auf, was einmal an der Elbe gewesen ist. ({1}) Wir führen keine zusätzlichen Maßnahmen durch. Ich denke, es ist legitim, was wir dort machen. ({2}) Zu den Fragen von Frau Saibold: Frau Saibold, ich habe in komprimierter Form auf den Stand der Bemühungen der Maßnahmen an der Donau hingewiesen. Wir haben noch keine Veränderung von Ausbauzielen vorgesehen; ich weiß auch nicht, ob das erwogen wird. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Die Fraktion der SPD hat beantragt, die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf den Drucksachen 13/4097 und 13/4240 mit den dazugehörenden Anträgen an die Ausschüsse zurückzuüberweisen. Über diesen Antrag lasse ich zuerst abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Antrag der SPD auf Rücküberweisung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag auf Rücküberweisung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt worden. Wir stimmen nun in der Sache ab. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem ökologisch und ökonomisch verantwortbaren Ausbau von Elbe, Havel und Saale, Drucksache 13/4097. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/5733 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der Grünen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt worden. Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/4097 unter Nr. 1, den Antrag der SPD auf Drucksache 13/1331 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie einige Stimmen aus der PDS bei Enthaltung von anderen Stimmen aus der PDS angenommen worden. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/4097 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem ökologisch verantwortlichen Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen, Drucksache 13/4240. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der SPD auf Drucksache 13/1390 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Erhalt der freifließenden Donau, Drucksache 13/ 4240. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 13/2435 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden. Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 7 c. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 13/1961 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall, dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jella Teuchner, Ludger Volmer, Elisabeth Altmann ({0}) sowie weiterer Abgeordneter Bonn-Berlin-Umzug verschieben - Staatsfinanzen konsolidieren - Drucksache 13/5581 Überweisungsvorschlag: Ältestenrat Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde mit sieben Beiträgen vereinbart worden. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Friedhelm Julius Beucher.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In atemberaubender Geschwindigkeit hat die Bundesregierung in den letzten Monaten ihr Kürzungspaket durchgepeitscht. Von heute auf morgen wurden hart erkämpfte soziale Errungenschaften über den Haufen geworfen und als nicht mehr finanzierbar hingestellt. ({0}) Egal, ob bei Kindern, Familien, Rentnern, Kranken oder Arbeitslosen, also bei den Bevölkerungsgruppen, die finanziell nicht besonders gut dastehen, überall werden sinnvolle und wichtige Leistungen weggeholzt. Für die bereits beschlossene Kindergelderhöhung fehlen angeblich die finanziellen Mittel. Einzig der Berlin-Umzug soll von Kostenerwägungen vollkommen verschont bleiben. Ich fürchte, nicht allen hier im Hause ist die Finanzlage des Bundes und der Länder bewußt. Wir Antragsteller meinen deshalb, daß angesichts der katastrophalen Haushaltslage der Umzug gestreckt und realistischen Terminsetzungen angepaßt werden sollte. Baufachleute haben zwischenzeitlich gutachterlich belegt: Das Datum, hinter dem Sie herjagen, ist unrealistisch. Damit uns keine hinterhältigen Absichten in die Schuhe geschoben werden - ich bitte außer dem Stuttgarter insbesondere die Berliner, Brandenburger und Mecklenburger, genau zuzuhören -: Wir wollen den Umzug mit unserem Antrag nicht verhindern, sondern ihn den politischen und finanziellen Gegebenheiten anpassen. Unser Antrag setzt auf geordnete Umzugsplanungen, auf Luft für notwendige Einsparungen und auf die zeitliche Streckung von Haushaltsmitteln sowie auf die Reform der Ministerien. ({1}) Keiner hat etwas davon, aus Prestigegründen an einem Plan festzuhalten, der sowieso nicht funktioniert. ({2}) Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, daß die Bevölkerung - auch wenn man Umfrageergebnisse nicht besonders bewerten will - nicht hinter diesem Umzug steht. Nicht ohne Grund schwindet das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik immer mehr. Johannes Rau hat anläßlich des Wortbruchs in der letzten Bundesratsdebatte zu Recht gesagt, daß mit dessen Umzugsbeschluß auch die Glaubwürdigkeit der Politik beschädigt würde. Worauf sollen sich die Leute noch verlassen? Es ist inzwischen leider so, daß das, was gestern galt, heute Makulatur ist. Da fügt sich der Beschluß des Bundesrates leider nahtlos ein. Ähnlich sieht es mit den Ministerien aus, die in Bonn bleiben sollen. Ich erinnere an das Verteidigungsministerium. Der Minister hat bereits gesagt, daß er entgegen allen Beschlüssen mit der Spitze seines Hauses nach Berlin gehen werde. Aus anderen Häusern hört man Ähnliches. Das ist die Rutschbahn in Richtung Berlin. Soll das die faire Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn sein? Ist das die Glaubwürdigkeit der Politik? In der Spardiskussion sind der Umzug nach Berlin und die als Kompensation gedachten Umzüge nach Bonn bislang ausgeklammert worden. Das ist einfach unredlich. Auch hier müssen in veränderten Zeiten Kurskorrekturen möglich sein. In Anbetracht der totalen Haushaltsmisere ist mindestens die Strekkung der Kosten auf der Zeitschiene notwendig. Hierzu hat Norbert Bicher, ein angesehener Konespondent der „Westfälischen Rundschau", richtig festgehalten: Sparpakete fürs Volk und Umzugskartons für die Regierenden - eine unerfreuliche Aufgabenteilung, gegen die zu protestieren sich lohnt. ({3}) - Es ist gut, daß Sie nicht beurteilen müssen, was Unsinn ist. Wer wirklich glaubt, bis Ende 1999 umziehen zu können, begibt sich völlig unnötig unter überflüssigen Druck willkürlich festgelegter, enger Terminierungen und zahlt sich dumm und dusselig für die anfallenden Extrakosten. Wieso kam eigentlich der Finanzminister bereits 1993 auf den Dreh, daß bei einem Umzug 1998 1,7 Milliarden DM mehr als bei einem Umzug im Jahre 2004 zu zahlen sind? Gibt es denn wirklich bis heute keine neueren Zahlen? Wer ist so naiv zu glauben, daß das alles billiger geworden sein soll? Warum berücksichtigt eigentlich niemand die für 2002 beschlossene Verkleinerung des Bundestages? Außerdem: Durch eine Entzerrung des Umzuges stellen sich für viele ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Abfindungsprobleme nicht mehr, und es sind im Bereich der Personalwirtschaft wesentlich weniger der teureren Provisorien notwendig. Springen Sie doch endlich über Ihre selbstgebauten Hürden und geben Sie endlich zu, daß der Zeitrahmen so nicht haltbar ist! Geben Sie vor allem den Menschen, die von den Umzügen betroffen sind, eine realistische Planungszeit! ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Baumeister.

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Stimme ist heute zwar nicht die beste, aber lassen Sie mich folgendes sagen: Herr Kollege Beucher, ich schätze Sie normalerweise. Aber das, was Sie uns heute präsentiert haben, würde ich, gelinde gesagt, unter dem Wort „scheinheilig" einordnen. Ich glaube, es wäre wesentlich ehrlicher, wenn Sie, die Initiatoren, nicht für eine Verschiebung des Umzugs plädieren würden, sondern wenn Sie letztendlich ehrlich zugeben würden, daß Sie einen Umzug nach Berlin überhaupt nicht wollen. ({0}) Es geht hier darum, daß dieses Parlament am 20. Juni 1991 einen Beschluß gefaßt hat, und zwar mit Mehrheit. ({1}) Dieser Beschluß ist eine parlamentarische Entscheidung. ({2}) - Es ist eine Mehrheit gewesen, und zwar von 17 Stimmen, Hen Volmer. - Ich glaube, wir sollten uns angewöhnen, parlamentarische Entscheidungen als das zu nehmen, was sie sind, nämlich eine Entscheidung der Mehrheit. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien Sie doch ein bißchen ruhiger, wenn jemand Probleme mit der Stimme hat. Ich weiß, wie das ist.

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich, Frau Präsidentin. - Ich möchte erstens festhalten, daß diese Umzugsentscheidung von der CDU/ CSU-Fraktion nicht in Frage gestellt wird. ({0}) Zweitens möchte ich betonen, daß mit dieser Entscheidung auch ein Blick nach Bonn und Berlin verbunden ist; denn diese haben Ausgleichszahlungen bekommen. Bonn hat ein Recht darauf, sich auf diese Entscheidung, auf das Bonn-Berlin-Gesetz, berufen zu können. Drittens glaube ich, unsere Bürgerinnen und Bürger verlangen auch, daß ein Stück Glaubwürdigkeit - das war im übrigen auch das, was Herr Beucher angemahnt hat ({1}) mit unserer Politik verbunden ist. Ich will nun zu den Gründen kommen und sagen, weshalb ich glaube, daß die Verschiebung des Umzugs nicht mit Kosteneinsparungen, sondern sogar mit Mehrkosten verbunden ist. Was tut sich in Berlin? Ich kann nur für die Bauten des Deutschen Bundestages sprechen; nur dafür zeichnen wir verantwortlich. Viele dieser Dinge sind inzwischen aus dem Stadium der Entwurfsplanung in das der Ausführungsplanung hinübergegangen. Ich glaube, wenn wir hier anfangen würden zu stoppen, wäre dies mit erheblichen Entschädigungsforderungen an den Bund verbunden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Baumeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wallow?

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, angesichts der Schwierigkeiten mit meiner Stimme würde ich dies gern verschieben. Wir stimmen am nächsten Freitag ab. Ich verspreche Ihnen, daß ich Ihre Frage beantworten werde. Aber sehen Sie mir bitte nach, daß ich froh bin, wenn ich mit meinen Ausführungen zu Ende komme. Ich glaube ferner, daß die Herstellung der Bauten „Unter den Linden" und in der Wilhelmstraße Geld gekostet hat, daß ihr Leerstehen sicherlich nicht im Sinne dessen ist, was wir wollen. Ich wäre einmal gespannt darauf, wie Sie sich diesem politischen Druck, Herr Beucher und die anderen Unterzeichner stellen wollen, wenn diese Gebäude, die schon heute bezugsfertig sind, noch für eine weitere Zeit leerstehen sollen. Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß viele Gebäude in Berlin in bundeseigenem Besitz sind und daß viele Gebäude, die wir hier in Bonn haben, angemietet sind. Wenn ich mir nur überlege, wie hoch die Mietkosten pro Jahr hier in Bonn sind, dann, glaube ich, ist schon allein das ein Grund, zu sagen, daß eine Verschiebung nicht weniger Geld, sondern eher gleich viel oder gar mehr kostet. ({0}) Wenn ich den Reichstag betrachte, muß ich feststellen: Dort sind die Bauaufträge ergangen. Ich gehe davon aus, daß der Reichstag pünktlich fertig sein wird. Auch hier kann ich nur hinzufügen: Wenn wir einen Baustopp anordnen würden, wäre dies mit erheblichen Schadensersatzforderungen verbunden. Ich möchte noch betonen, daß die Baupreise im Augenblick nicht die höchste Summe erreicht haben. Wenn wir das alles anvisieren, können wir davon ausgehen, daß wir billiger umziehen, als wenn wir den ganzen Umzug verschieben. Im übrigen gilt die Glaubwürdigkeit auch für unsere Investoren in und um Berlin. Es ergibt sich für mich das Fazit, daß wir keine Mehrkosten haben, wenn wir diesen Umzug rechtzeitig in die Wege leiten. Ich möchte noch eine Bemerkung machen, ehe mir die Stimme ganz versagt. 40 Prozent des BerlinHaushaltes waren früher Bundeszuschüsse. Bei all dem, was wir bislang an Berlin gezahlt haben, müssen wir in Betracht ziehen, daß wir jährlich Bundeszuschüsse in zweistelliger Milliardenhöhe an Berlin gezahlt haben, wenn wir an die Jahre 1982 bis 1993 denken. In der Spitze war dies 1991 auf knapp 14,4 Milliarden DM angestiegen. Wenn Sie jetzt glauben, daß Berlin existieren könnte, ohne am Bundestropf zu hängen, dann ist es für uns alle eine riesige Illusion. Wir haben heute zwar noch eine Bundesergänzungzuweisung in der Größenordnung von etwa 3,7 Milliarden DM. Aber es ist ein Argument für sich, daß Berlin ohne den Umzug nicht leben kann und daß Berlin ohne den Umzug weiterhin auf Entschädigungen, auf Bundeszuweisungen, angewiesen sein würde. Ich glaube, daß dieser Umzug ein gewaltiges Konjunkturprogramm ist. Die CDU/CSU steht dazu. Wir verbinden dies auch mit der Glaubwürdigkeit einer Entscheidung des Parlamentes. Ich bin mir ganz sicher, daß wir mit äußerster Sparsamkeit zeitgerecht nach Berlin kommen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Kollegin Baumeister gute Besserung für ihre Stimme. ({0}) Es spricht jetzt der Kollege Wilhelm Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag verdient natürlich eine ordentliche Behandlung, wenngleich Wilhelm Schmidt ({0}) man sich wundert, wie intensiv er in den letzten Wochen und Monaten durch die Medien gegeistert ist und wie sehr er dort eine überproportionale Beachtung gefunden hat. ({1}) Ich will das deswegen so an dieser Stelle sagen, weil ich glaube, daß sich auch in den politischen Medien sehr viel mehr Themen finden müßten, mit denen man sich ernsthaft auseinandersetzen könnte, wiewohl ich, wie gesagt, respektiere, daß es Antragsteller gibt, die sich diesem Thema zuwenden. Es ist so, daß der Hauptstadtbeschluß vor mehr als fünf Jahren gefaßt worden ist. Damals haben wir mit knapper, aber immerhin spürbarer Mehrheit zum Ausdruck gebracht, daß die Arbeitsfähigkeit des Bundestages innerhalb von vier Jahren hergestellt sein soll. 1995 hätte das geschehen sollen. Wir sind jetzt in 1996. Wir werden frühestens 1999 den Umzug schaffen. Hier geht es um eine Verschiebung um weitere fünf Jahre. Ich glaube, man kann niemandem draußen klarmachen, daß der Deutsche Bundestag mit sich selber und seinen Beschlüssen so umgehen soll, wie das hier die Antragstellerinnen und Antragsteller intendieren. ({2}) Das, was wir überall brauchen, ist Planungssicherheit, und zwar für diejenigen, die sich sowohl in Berlin mit der Neugestaltung der Bundeshauptstadt befassen, als auch für diejenigen, die sich hier in Bonn mit der Umgestaltung der bisherigen Bundeshauptstadt und der neuen Bundesstadt befassen. Es spricht doch Bände, wenn die Oberbürgermeisterin von Bonn, wenn der Landrat des Rhein-SiegKreises und wenn viele andere hier aus der Region, die politische Verantwortung tragen und die politische Mehrheiten repräsentieren, gegen diesen Verschiebungsantrag sind und wenn sie dies aus der Überzeugung heraus sind, daß nun einmal auch für sie ihre weiteren entscheidenden Planungen auf den Weg gebracht werden müssen und nicht einer weiteren Verschiebung unterliegen sollen. Von daher kann ich für die SPD-Bundestagsfraktion nur sagen: Dieser Antrag kann keinen Rückhalt finden. Er hat in den Fraktionsführungsgremien keine Mehrheiten gehabt, noch nicht einmal eine einzige Zustimmung, und in der Bundestagsfraktion waren die Antragsteller gewissermaßen unter sich - nur, um Ihnen zu skizzieren, wie der Rückhalt hier aussieht. Ich habe auch eingangs schon betont, daß dieser Antrag in der öffentlichen Debatte im Grunde genommen überbewertet worden ist. Es liegt doch auf der Hand, daß man mit diesem Antrag so umgeht, wie er offensichtlich von den Mehrheiten dieses Hauses bewertet werden wird, nämlich ausgehend von der Tatsache, daß eine Verschiebung niemals kostenmindernd sein kann. Das kann logisch überhaupt nicht sein, auch nicht durch ein Papier des Bundesfinanzministers aus dem Jahre 1993, das man aus irgendeiner Versenkung hervorholt und das der Bundesfinanzminister selber niemals ernsthaft verfolgt hat. Von daher - das kann ich nur mit Nachdruck sagen - ist der Antrag illusorisch. Er weckt auch falsche Hoffnungen, und insofern ist er gefährlich. ({3}) - Nein, ich will das jetzt hier ausführen und keine Zwischenfrage zulassen. Wir haben noch Ausschußsitzungen, und wir hatten eine Fraktionssitzung. Ich denke, das muß nicht noch am späten Abend ausufern. Ich will allen Beteiligten, die diesen Antrag unterschrieben haben, an dieser Stelle eindeutig sagen, daß dies so herum nicht funktionieren kann, weil Verschiebung Mehrkosten bedeutet. Wir bauen in Berlin Bundesbauten für den Bundestag für 2,3 Milliarden DM. Allein die Tatsache, daß Konventionalstrafen, Leerstandskosten und die Unterhaltung vieler anderer Dinge, die damit zusammenhängen, anfallen, würde uns zusätzliche Kosten von mehr als einer halben, wahrscheinlich eher einer dreiviertel Milliarde DM bringen. Von daher kann das alles gar nicht funktionieren. Ich will auch auf die Bonner Seite eingehen, weil ich finde, daß Sie mit den Bonnern selber, die Sie oftmals vertreten, in unberechtigter Weise Schlitten fahren, nämlich in der Weise, daß die Bonner in den vergangenen Jahren für 1,989 Milliarden DM Ausgleichsbeträge kassiert haben, die sie hier einsetzen und auch einsetzen sollen. Hier sollen eine Fachhochschule und ein Technologiezentrum gebaut werden, und vieles andere passiert hier am Standort der Bundesstadt Bonn. Das ist auch richtig so. Nur berechtigt uns das überhaupt nicht, nun eine weitere Verschiebung vorzunehmen, weil das kontraproduktiv ist. Ich will auch sagen - die Zeit ist viel zu knapp, um alle Argumente hier auf den Tisch zu legen -, daß der Umzugsantrag für diejenigen, die sich mit ihm auseinandersetzen, auch in der Diktion von Illusionen begleitet ist, wenn man das Ganze mit der Überschrift „Staatsfinanzen konsolidieren" ausstattet. Das ganze Paket des Umzugs soll weniger als 20 Milliarden DM kosten, was eine Menge Geld ist. Das wollen wir überhaupt nicht unter den Tisch kehren. Aber 20 Milliarden DM über zehn Jahre finanziert, konsolidieren einen Bundeshaushalt von mehr als 400 Milliarden DM jährlich nun einmal nicht im entferntesten. Diese Illusion darf man in der Öffentlichkeit nicht wecken wollen, wenn man einigermaßen seriös bleiben will. Von daher geht das so nicht. ({4}) Wenn dann auch noch darin steht „Arbeitsplätze schaffen", dann kann ich nur sagen: Das können nur diejenigen sein, die die leerstehenden Gebäude in Berlin bewachen sollen oder ähnliches. Etwas anderes kann man an dieser Stelle mit Arbeitsplatzschaffung wahrscheinlich nicht machen, abgesehen davon, daß das zusätzlich Geld kosten würde. Insofern Wilhelm Schmidt ({5}) widerspricht sich der Antrag bei seiner dünnen Formulierungsfassung ohnehin selbst. Ich kann Ihnen allen nur empfehlen, in den Ausschußberatungen in ähnlicher Weise mit dem Antrag umzugehen. Bei aller Freundschaft, die ich gegenüber den Antragstellern sonst empfinde, kann das hier nicht zum Durchbruch kommen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung zum Hauptstadtumzug vom Juni 1991 war damals im Parlament und in der Gesellschaft sehr umstritten. Es ist lange darum gerungen worden. Aber wichtig finde ich den Satz, der letztlich mit der Entscheidungsmehrheit in der Drucksache stehenblieb, nämlich der Satz: „Die Entscheidung für Berlin soll eine Investition des Vertrauens in die Entwicklung der neuen Bundesländer sein." Ich denke, diesen Satz müssen wir sehr ernst nehmen. Er gilt heute genauso, wie er damals gegolten hat. ({0}) Im Gegenteil: In den letzten Jahren sind so viele politisch problematische Entscheidungen gefällt worden, daß er meiner Meinung nach heute noch mehr gilt. Insofern ist für mich und für die Mehrheit unserer Fraktion der Hauptstadtumzug nicht nur ein Kostenproblem und ein Organisationsproblem, sondern ganz grundsätzlich ein politisches Zeichen für den entschiedenen Willen zur Integration von Ost und West. Der Aufbau der Hauptstadt muß zum Brückenschlag für die Vereinigung werden und zu einer deutlichen Hinwendung zu Osteuropa führen. Insofern geht es auch darum, das starke Standbein Rheinschiene, das wir hier im Westen haben, durch ein zweites Standbein im Osten, nämlich den Raum Berlin, Dresden, Leipzig, Rostock, politisch wirklich zu stärken und dieses Ziel auch sehr ernst zu nehmen. Ich bitte Sie alle darum, dieses inhaltliche Ziel nicht über die Debatte über Parlamentsbauten, Tunnelkosten und Zeitplanung außer acht zu lassen. Das sollte uns wirklich einen. ({1}) Ich möchte etwas zu Ihrem und eurem Antrag sagen. Ich finde es nicht schlimm, daß sich eine Reihe von Abgeordneten gegen den Hauptstadtumzug ausspricht. Wir wissen, daß auch viele Bürger in West und - auch das sollte man nicht übersehen - in Ost nichts Positives vom Umzug erwarten, ihm gleichgültig gegenüberstehen. ({2}) Es ist auch völlig unbestritten, daß gerade in der Region Bonn diese Entscheidung für viele Menschen eine unsichere Zukunft bringt. Ich finde, das muß man sehr ernst nehmen. Aber gerade darum - das sage ich in eure Richtung, Ludger - finde ich euren Gruppenantrag sehr schlimm. Ihr Antragsteller habt nämlich nicht den Mut, euch offen gegen den Umzug auszusprechen. Das wäre eine klare Position, und damit könnte man dann auch sagen, man würde 15 Milliarden DM einsparen, um die Zahl noch einmal deutlich in den Raum zu stellen. ({3}) Statt dessen aber wollen die Antragsteller die nun schon seit fünf Jahren betriebenen vielen Verzögerungsspielchen zum Dauerspielzeug machen und betreiben eine bewußte Desorientierung der Bürger. ({4}) Ich finde es politisch wirklich unverantwortlich, mit den Sorgen der Menschen hier und mit den Sorgen und Hoffnungen der Menschen im Raum Berlin, Brandenburg, Leipzig usw. wahltaktische Spiele zu treiben. Verzögerungstaktik zum politischen Spiel zu erheben halte ich für politisch unfair. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, hättet ihr euch zu einem klaren Nein bekannt, wäre dies eine eindeutige Sache. Aber daß ihr nicht mit offenem Visier kämpft, sondern einen Antrag auf weitere fünf Jahre Lavieren stellt, das ist wirklich billige Politik, und das finde ich nicht gut. ({6}) Wir haben es schon deutlich gemacht: Die Mehrheit unserer Fraktion steht für einen zügigen, effizienten und vor allem für einen sparsamen Hauptstadtumzug. Ich denke, wir haben das schon an vielen Stellen sehr deutlich gemacht. Wir möchten außerdem - auch dazu haben wir Anträge und eine Große Anfrage gestellt -, daß die längst überfällige Verwaltungsreform mit diesem Umzug verbunden wird, daß der Umzug zum Motor der Verwaltungsreform wird. ({7}) - Doch, dafür braucht man Zeit. Wir wissen genau, wie schwerfällig Verwaltung nun einmal ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie zwei Zwischenfragen?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Friedhelm Julius Beucher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, können Sie nachvollziehen, daß die Intention des Antrages auf Verschiebung deshalb mehr Planungssicherheit beinhaltet, weil ein konkretes Datum genannt werden kann, während wir zum aktuellen Zeitpunkt und auch zum heutigen Tage feststellen müssen, daß ständig Probleme im Bereich der Bauten auftauchen, ({0}) so zum Beispiel hinsichtlich des Tunnels, den Sie vergeblich bekämpfen wollten und für den die Planung nicht mehr möglich war - mir liegt eine dpa-Meldung von heute vor -, daß die Erfahrung bei allen öffentlichen Bauvorhaben bisher die ist, daß sie erstens über die lange Zeit teurer werden und daß sie zweitens niemals in ihrem Zeitrahmen fertig werden? Kann man da nicht vernünftig sagen: Wir legen das Jahr Zweitausend und ... fest?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vor allem „und". - War das Ihre Frage? Darf ich antworten? Herr Beucher, da ich sehr intensiv mit dem Thema Umzugsorganisation in den entsprechenden Kommissionen befaßt bin, glaube ich, daß ich Ihnen ganz schlicht sagen kann: Ich hoffe, daß das Ziel, das Frau Präsidentin Süssmuth ausgesprochen hat, Umzug und Aufnahme der Arbeit in Berlin im Frühjahr 1999, vom Ältestenrat sehr bald beschlossen wird. Dann werden wir diese Klarheit haben, können uns entsprechend ausrichten, und alle Beteiligten können dann effizient und zielgerichtet auf dieses Datum hinarbeiten. Insofern kann ich gar nicht verstehen, was für Effekte Sie sich mit „2000 und" versprechen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es gibt eine weitere Zwischenfrage.

Hans Wallow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002417, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich bin mit Ihnen der Meinung, daß die Reform der alten Hoheitsverwaltung, nach der sich ja auch der Bund noch immer orientiert, längst überfällig ist. Aber sind Sie mit mir nicht auch der Meinung, daß man zum Abbau von Hierarchien, zur Überlegung, wie man vom starren Referatssystem zu politischen Prozessen, zu Reformen kommt, Zeit braucht, wenn man sich beispielsweise nicht einzelne Ministerien vornimmt und derartige Reformen ansetzt, die ich heute noch nirgendwo erkennen kann, weil eben dieser Crashumzug so durchgejagt wird?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da muß ich Ihnen umgekehrt antworten. Wir warten auf Verwaltungsreformen seit Jahrzehnten, und wir werden noch Jahrzehnte warten, wenn nicht tatsächlich endlich mal äußere Zwänge die Beteiligten dazu veranlassen, ihre Neuorganisationen auch räumlich-organisatorisch auf neue Beine zu stellen. Insofern haben Sie recht, daß dazu mehr als der Umzug gehört und echte Initiativen zur Verwaltungsreform nötig sind. Unsere Fraktion hat solche Initiativen eingebracht. Sie wissen, daß es Rechnungshofberichte dazu gibt, die das ebenfalls fordern. Insofern sollen die Beteiligten doch handeln. Wenn wir eine Große Koalition für diese Verwaltungsreform hinkriegen, dann machen wir mit. Aber wir wollen, daß auch endlich Zeitdruck entsteht. Insofern verstehe ich nicht, was Ihre Frage und Ihr Antrag damit zu tun haben und was er als Lösung dazu beiträgt; er trägt nämlich gar nichts dazu bei. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben zum Thema Umzug, gerade unsere Fraktion, zwei Große Anfragen gestellt, Anträge gerade zu dem Thema, das wir eben besprechen, die Verbindung mit Verwaltungsreformen. Wir haben auch den Antrag gestellt, einen Sonderausschuß einzurichten, um das Problem der Kosten wirklich in den Griff zu kriegen. Wir sehen nämlich tatsächlich das Problem der Kosten als sehr ernst an und sind der Meinung, daß hier längst nicht sparsam genug gewirtschaftet wird. Insofern habt ihr uns soweit als Bündnispartner, als wir einen bescheidenen und sparsamen Umzug wollen. Aber das politische Ziel darf dabei nicht aus den Augen verloren werden. Insofern sind das für uns zwei Themen, und wir bitten auch da um Unterstützung des ganzen Hauses, insbesondere des Haushaltsausschusses. Daher möchte ich alle Beteiligten auffordern, gerade auch die, die skeptisch sind, die Gegner sind, die Sorge haben, daß das alles nicht richtig funktioniert und zu teuer wird: Bitte haben Sie den Mut, an diesem Übergang von der Bonner Republik zur Berliner Republik mitzuwirken! Ich hoffe als zweites, daß wir es doch sehr ernst nehmen, daß wir in Bonn sehr weit weg sind von den Problemen in Ostdeutschland. Es darf nicht dazu kommen, daß wir aus dem Raumschiff Bonn ein Raumschiff Berlin machen, sondern wir müssen uns wirklich öffnen für die Gesellschaft, so wie sie jetzt vereint zusammenwachsen soll, woran wir wirklich mitarbeiten sollten. Danke schön. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Limbach das Wort.

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch ich bin gegen den Verschiebeantrag, aber keineswegs aus den Gründen, die die Kollegin Eichstädt-Bohlig hier soeben genannt hat. Ganz im Gegenteil. Ich kann nicht erkennen, daß es einem Bürger oder einer Bürgerin in Leipzig oder in Rostock nutzt, wenn die Gesetze, die jetzt in Bonn gemacht werden, dann nicht in Bonn, sondern in Berlin gemacht werden. Ich kann überhaupt nicht erkennen, was es nutzen sollte, die Bundesrepublik Deutschland sozusagen umzubenennen, nur weil der Regierungssitz verlegt wird. Ich glaube, der Begriff Bonner Demokratie oder Bonner Republik kommt daher, daß in Bonn das Grundgesetz, unsere gemeinsame Verfassung, erarbeitet und verabschiedet wurde und daß die Jahre in Bonn, wie ich sie auch als Historikerin beurteile, jedenfalls ganz besonders erfolgreiche Jahre für Deutschland und das deutsche Volk waren und auch die Wiedervereinigung gebracht haben. Nein, ich bin gegen diesen Antrag, weil ein schlechter oder ein falscher Beschluß nicht dadurch besser wird, daß man noch einen weiteren falschen Beschluß faßt. Ein jetzt zu fassender Beschluß einer Verschiebung wäre falsch, weil er kein Geld spart. Ein Beispiel für stillgelegte Baustellen und ihre Kosten können wir ja jeden Tag drüben an der KurtSchumacher-Straße sehen. ({0}) Ich sehe einmal ganz von den Dingen ab, die die Kollegin Baumeister zu den Finanzierungsfragen gesagt hat. Zweitens bin ich gegen diese Verschiebung, weil mit zunehmendem Abstand von dem Beschluß von 1991 manche Kolleginnen und Kollegen das, was sie hier in namentlicher Abstimmung beschlossen und vorher erarbeitet hatten, um eine Mehrheit für Berlin zu bekommen, offenbar nicht mehr ganz so ernst nehmen. Wo war der Aufschrei des Bundestages, als Ziffer 9 des Beschlusses „Umzug des Bundesrates nach Berlin" verletzt wurde? Wo sind die Aufschreie, wenn manche Ministerien ihre Aufteilung zwischen erstem und zweitem Dienstsitz in der Tat etwas eigenwillig vornehmen, urn es zurückhaltend zu sagen? Der dritte Grund ist aber der allerwichtigste. Dabei bitte ich die Berliner um Nachsicht, daß ich mich auf Bonn konzentiere, aber ich bin eine Bonner Abgeordnete. Wir haben in Bonn einen ungeheuren, politisch verursachten Umstrukturierungsprozeß zu bewältigen. Wir haben gute Ansätze und erste Erfolge aufzuweisen. Wir sind auf einem vernünftigen Weg. ({1}) Ich kann nicht erkennen, wie wir diesen Weg in fünf Jahren besser als jetzt fortsetzen könnten. Für die Zukunft unseres Landes - jetzt denke ich wieder lokal -, meiner Stadt und unserer Region nutzt dieser Antrag nicht, er schadet. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Erwiderung, bitte.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Limbach, Sie haben recht, daß dieses Ziel einer aktiveren Vereinigung dann nicht gelingt, wenn der Wille dazu fehlt. In Berlin wird es dann genauso sein, wie es auch in Bonn überwiegend ist. Als zweites haben Sie recht darin, daß es nicht von heute auf morgen geht. Ich bin aber fest davon überzeugt - die Erfahrung mache ich als Berlinerin, die praktisch täglich über die ehemalige Mauer zwischen Ost und West pendelt und in beiden Teilen lebt -, daß die Verständigung über die Probleme beider Bereiche in dem Moment wächst, wo unsere Kinder gemeinsam zur Schule gehen. Das werden dann die Kinder der vielen Ministerialbeamten und Beschäftigten und teilweise auch Kinder von Abgeordneten sein. Ich glaube schon, daß das ein sehr ernstes Moment ist. Wenn man dort wirklich lebt, schärft es einfach das Bewußtsein und die gegenseitige Wahrnehmung. In diesem Sinne möchte ich Sie bitten, daran auch mitzuwirken und es nicht zu diffamieren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Kollege Heinrich das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ein weiteres Hinauszögern des Umzugs wäre politisch falsch, würde den Umzug verteuern und wirkte sich negativ auf die innere Einheit Deutschlands aus. Dieses hat Joschka Fischer, Chef der Grünen, gesagt. Recht hat er. So wie das die F.D.P. und die CDU/CSU sehen, sind hier genau diese Punkte zu nennen. Ich habe bisher kein einziges Argument von denjenigen gehört, auch nicht in den Zwischenfragen, das nicht mit leichter Hand wegzuwischen wäre. Wir müssen uns wirklich fragen, ob dieser Gruppenantrag nicht schädlich für die Region Bonn, wie die Kollegin Limbach gerade eben gesagt hat, und für die Region Berlin wäre, wenn er denn angenommen würde. Jede Verzögerung zieht höhere Kosten nach sich. Ich würde Ihnen empfehlen: Fahren Sie nach Berlin, und reden Sie dort einmal auf dem Potsdamer Platz mit den Firmen, die dort auf Grund der Aussagen des Umzugsbeschlusses investiert haben. Reden Sie einmal mit den Unternehmen und den Menschen, mit welchen Erwartungen dort an die Dinge herangegangen wird. Da können wir jetzt doch nicht sagen: Ätsch, ätsch, wir kommen nicht, wir kommen im Jahr „2000 und" . - Das ist doch keine Politik. Ich bitte Sie! Wenn man einen Gruppenantrag einbringt, muß man schon eine gewisse Seriosität unter Beweis stellen. Das haben Sie bisher noch nicht fertiggebracht. ({0}) All denjenigen, die für die Einhaltung der Termine gesprochen haben, kann ich nahtlos beipflichten. Ich möchte aber darüber hinaus die Perspektive auf das Umzugsdatum richten. Ich möchte Ihnen sagen, daß wir möglichst schnell einen Beschluß des Ältestenrats haben wollen, in dem ein konkretes genannt wird, damit wir insbesondere in der Frage der Wohnungsfürsorge konkrete Planungen anstellen können. Wir wissen ganz genau, daß wir selbstverständlich auch einen Vorwegumzug haben wollen, weil wir die gesamte Situation entzerren wollen. Es sollen nicht alle zum gleichen Datum, im selben Monat umziehen müssen, sondern wir wollen - das haben wir im dienstrechtlichen Begleitgesetz so niedergeschrieben - selbstverständlich zwei Jahre vor dem festgelegten Umzugstermin schon Vorwegumzüge ermöglichen und nicht die Leute, die schon vorab den Umzug wagen, schlechter stellen, als diejenigen, die zum entsprechenden Termin oder danach den Umzug vornehmen. Auch diese Frage ist eine Frage der politischen Glaubwürdigkeit, ob wir dies jetzt im Ältestenrat tun. Ich meine, es ist allerhöchste Zeit, daß das stattfindet. Wir werden in Berlin nach der Wahl des Bundespräsidenten und nach der Feier zum 50. Jahrestag unseres Grundgesetzes für alle ausreichend Büroraum haben, und zwar für jeden mehr als einen Raum, jetzt rein zahlenmäßig gerechnet. In Berlin steht schon heute genügend Büroraum zur Verfügung. ({1}) - Ich rede von Büroraum. Das einzige, was fehlt, sind Ausschußsitzungssäle. Wir müssen uns noch darüber unterhalten, wie wir da etwas organisieren, wie wir das strukturieren. Hier sind noch Entscheidungen nötig. Ich empfehle jedem, der die Aussage, es sei genügend Büroraum vorhanden, anzweifelt, nach Berlin zu gehen und die Liegenschaften des Bundes einmal zu besichtigen. Dabei würde deutlich, wie gut und wie herrlich man schon heute die Büroräume dieser Gebäude nutzen kann. Ich war selber einen Tag lang unterwegs und habe mir das zeigen lassen. Es gibt genug. Wir bekommen über 1 000 Büroräume zusammen, wenn wir nur die in allernächster Nähe liegenden zählen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter, Sie haben eben von Behelfsmöglichkeiten gesprochen. Ist Ihnen bekannt, daß ein Umzug nach Berlin nur dann gegeben sein sollte, wenn das Parlament arbeitsfähig ist? Können Sie mir in diesem Zusammenhang Ihre Begriffsdefinition von „arbeitsfähig" geben?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Arbeitsfähig sind wir dann, wenn wir in Berlin unsere Büroräume haben, und zwar in ausreichender Zahl. Ich habe gerade gesagt, daß das der Fall sein wird. Zur Ausschußsitzungsmöglichkeit müssen wir uns noch etwas einfallen lassen. Es ist noch Zeit genug. Da kann man sich die Anmietung von Räumen vorstellen, man kann sich aber auch vorstellen, daß die Ausschußsitzungen noch in Bonn stattfinden. Aber ich sage Ihnen eines: Wir gehören nicht zu denjenigen, die im Mai den Bundespräsidenten wählen und sich dann wieder nach Bonn begeben und sagen: Ätsch, ätsch, wir kommen vielleicht in einem Dreivierteljahr oder in einem Jahr wieder. - Zu denen gehören wir nicht. Deshalb brauchen wir einen klaren Umzugstermin, der vom Ältestenrat entsprechend vorgegeben sein muß. Ich möchte zum Schluß noch einmal die Bedeutung ..Berlins, vor allen Dingen auch als Tor. zum Osten, herausstellen. Ich möchte noch einmal deutlich sagen, daß nicht nur in der Bundesrepublik jeder denkende Mensch, wenn er etwas von wirtschaftlichen Abläufen versteht, ein Verschieben nicht nachvollziehen könnte. Im Ausland, wo man wirtschaftliche Abläufe vielleicht weniger in den Vordergrund stellt, würde man den politischen Hintergrund aber erst recht nicht mehr verstehen, wenn wir sagen würden, wir kommen erst in fünf oder zehn Jahren, wenn wir den Umzug also noch weiter hinausschöben, als wir dies in der Vergangenheit getan haben. Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, die Ausschußberatung wird eindeutig und klar ausfallen. Wir brauchten uns über den Antrag eigentlich gar nicht so furchtbar aufzuregen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hanns-Peter Hartmann.

Hanns Peter Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002939, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der uns vorliegende Antrag fordert aus Gründen der Kostenersparnis und einer sozialverträglichen Gestaltung eine Verlegung des Umzugs von Parlament und Regierung um fünf Jahre. Die damalige Bundestagsgruppe der PDS/Linke Liste stimmte dem Umzugsbeschluß im Juni 1991 zu, weil sie sich eine stärkere Zuwendung der Politik des Bundes zu den spezifischen Problemen der neuen Bundesländer versprach. ({0}) Eine Verlegung käme dem Faktum gleich, die Augen vor den nach wie vor bestehenden Schwierigkeiten der Entwicklung, insbesondere im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, für weitere fünf Jahre zu verschließen. Durch die reale Politik sind wir inzwischen eines Besseren belehrt worden. Dennoch vertreten wir die Auffassung, daß eine Verschiebung des Umzugs die Probleme nicht lösen würde. ({1}) Die gegenwärtige Gestaltung des Umzuges sehen wir nicht nur wegen der enormen Kosten kritisch, sondern auch wegen der unzureichenden Berücksichtigung der Berliner Belange. Die geplanten städtebaulichen Maßnahmen laufen doch darauf hinaus, daß das Zentrum Berlins an die Hauptstadtbedürfnisse angepaßt wird, statt die vorgegebenen Stadtstrukturen für die Integration von Bundestag und Bundesregierung sinnvoll zu nutzen. ({2}) Dabei sollten nach unserem Willen möglichst geringe Eingriffe in die vorhandenen Strukturen erfolgen. Die Verwirklichung einer solchen Zielstellung würde zudem erhebliche Kosten sparen, ohne daß eine Verzögerung des Umzugs aus Kostengründen erforderlich wäre. An dieser Stelle ein nur winziges Beispiel: Der Bundestag will eine eigene Kita in der Nähe des Bundestages bauen. Die Kita soll 170 Plätze haben und über 10 Millionen Mark kosten. ({3}) - Das ist noch nicht vom Tisch. - Die Berlinerinnen und Berliner wissen, daß im Stadtbezirk Mitte - also in unmittelbarer Nähe des Bundestages - über 600 Plätze frei sind. Der Bezirk ist deshalb gezwungen, sieben Kitas zu schließen. An diesem Meinen Beispiel wird doch die ganze Philosophie des Umzugs deutlich: Erstens. Der Umzug ist verschwenderisch konzipiert. Zweitens. Der Umzug orientiert sich nicht an den gewachsenen Stadtstrukturen Berlins, sondern an der Isolation der bisherigen Bonner Institutionen, das heißt an der Bildung luxuriöser Regierungsghettos im Zentrum der Hauptstadt. ({4}) Aus dieser Sicht, meine Damen und Herren, ist es mehr als zweifelhaft, inwieweit eine zeitliche Verschiebung den Umzug billiger gestalten würde. Die Gruppe der PDS kann diesem Antrag daher nicht zustimmen. 20 Milliarden DM sollten nach der derzeitigen Planung für das Großunternehmen Hauptstadtumzug einschließlich der nicht unerheblichen Ausgleichsmaßnahmen für die Region Bonn ausgegeben werden. Ein Großteil dieser Summe steht für Baumaßnahmen zur Verfügung, die wir für völlig überzogen halten; dies in einer Situation, in der gleichzeitig bei denen massiv gespart wird, die eine Unterstützung am nötigsten hätten. ({5}) Hinzu kommt, daß sowohl die Berlinerinnen und Berliner als auch die Bundestagsabgeordneten absichtlich im unklaren über die tatsächlichen Kosten gelassen werden. Fleißigen Zeitungslesern wird nicht entgangen sein, daß nach einem Gutachten der renommierten Ingenieurfirma Lahmeyer International der Bau des Tunnelsystems im Bereich des Reichstages mindestens 50 Millionen Mark mehr als ausgewiesen kosten wird. ({6}) Außerdem würde der geplante Umzugstermin bei Durchführung dieses unsinnigen Mammutprojekts gefährdet. Aber nicht eine zeitliche Korrektur, sondern eine Korrektur der Art und Weise des Umzugs und des Umgangs mit den Betroffenen ist jetzt notwendig. ({7}) Es ist äußerst fragwürdig, warum für den Umbau des Reichsbankgebäudes noch einmal 200 Millionen DM verausgabt werden, nachdem es erst kürzlich saniert wurde. Man kann auch nicht akzeptieren, daß die veranschlagten Baukosten um rund ein Drittel über den Baukosten von Geschäftsgebäuden liegen. Unsere Forderungen sind deshalb im einzelnen: erstens der Verzicht auf das Tunnelsystem zwischen Reichstag und den benachbarten Bundestagsbauten, zweitens die Aufgabe des Baus der U-Bahnlinie 5, drittens die Überprüfung des Wohnungsneubauprogramms des Bundes in Berlin angesichts eines Überangebots an Wohnraum im mittleren und oberen Preissegment. Es sind aber nicht nur die Kosten, die den Umzug gegenwärtig zu einer mehr als zweifelhaften Angelegenheit werden lassen. Wenn sich Bundestag und Bundesregierung innerhalb der Stadt abschotten, sich selbst höchste Ausstattungsstandards genehmigen und keinen Fuß nach Berlin setzen, solange nicht alles fix und fertig ist, braucht sich auch niemand über die abnehmende Vorfreude der Berlinerinnen und Berliner und die sinkende Akzeptanz im ganzen Land zu wundern. Die Losung vom schnellen Umzug, meine Damen und Herren, um größere Problemnähe zu erreichen und ein Zeichen zu setzen, ist doch schon längst nicht mehr glaubwürdig. Jetzt allerdings mit einer Verschiebung des Umzuges die angestauten Probleme des Landes lösen zu wollen ist ebenso abwegig. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Kollege Ludger Volmer.

Dr. Ludger Volmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002393, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer deutschen Stadt namens Schilda haben die Bürger einst ein prächtiges Rathaus errichtet. ({0}) Als es da stand und die Bürger eintreten wollten, merkten sie, daß keine Tür eingebaut war. ({1}) An den Streich der Schildbürger erinnert mich manchmal der Beschluß zum Umzug. Die fehlende Tür ist hier der Finanzierungsengpaß. Wer vor fünf Jahren die Finanzen als Argument gegen den Umzug einwandte, wurde als Kleinkrämer beschimpft. ({2}) Deutschnationale Größe, Herr Conradi, und die euphorische Erwartung blühender Landschaften wischten die Machbarkeitserwägungen weg. Heute muß selbst der notorisch optimistische Bundeskanzler einräumen, daß der Aufbau Ost noch sehr viel Geld kosten wird, und heute werden die Rechnungen für die finanzpolitische Blindheit bei der Gestaltung der Einheit präsentiert. Sie schlagen sich als angeblicher Sparzwang nieder, der zudem die Lohnnebenkosten, die über die Finanzierung der Einheit aus den Sozialkassen aufgebläht wurden, zu Lasten der sozialen Standards senken soll. Während das erste Sparpaket noch nicht verdaut ist, kündigt der Finanzminister ein noch strikteres an. An diesem Punkt muß doch jeder einsehen, daß der Umzug etwas mit Geld zu tun hat, und es darf doch wohl nicht sein, daß er nur mit dem Geld zu tun haben kann, das unbesehen ausgegeben wird, nicht aber mit dem, das einzusparen ist. ({3}) Ich möchte hier für mich und andere erklären: Wir halten es für unerträglich, über tiefgehende Einschnitte ins soziale Netz befinden zu sollen, die Kosten für das größte Mammutprojekt nach dem Schnellen Brüter von Kalkar und der Wiederaufbereitungsanlage von Wackersdorf aber außen vor lassen zu müssen. Eine solche Verkehrung der Werte machen wir nicht mit. ({4}) Die Bundesregierung kann bis heute die gesamtstaatlichen Umzugskosten nicht beziffern. Das neueste Papier aus dem Hause Töpfer beteuert nur erneut, daß der Deckel von 20 Milliarden DM nicht gelüftet wird. Dazu sage ich: Erstens. Ich glaube es nicht. Zweitens. Die Infrastrukturkosten für Straßen, Eisenbahn und das Tunnelnetz in Berlin sind nicht einbezogen. Berlin ist so gut wie pleite. Wer finanziert denn diesen Aufwand? ({5}) Drittens. Umgesetzte Elemente des Umzugs und der Kompensation für Bonn werden nicht haushaltstransparent dargestellt. So wird die Verlagerung des Freiwilligenprogramms der UNO nach Bonn zum Beispiel aus dem Entwicklungsetat bezahlt. Dieser Etat ist im Bundeshaushalt kräftig gesenkt worden - ein böses Zeichen angesichts der wachsenden Probleme der Dritten Welt. Nun soll er auch noch den Umzug mitfinanzieren. Ein Nord-Süd-Politiker jedenfalls kann das nicht mittragen. ({6}) Selbst wenn der Umzug nicht teurer als 20 Milliarden DM würde, wäre er kaum zu verkraften. Verteilt auf zehn Jahre, belasten die Kosten den Haushalt jährlich mit etwa 2 Milliarden DM. Sind Sie sich eigentlich noch bewußt, wieviel 2 Milliarden DM in der heutigen Zeit sind, in der wegen Einsparungen in Höhe von einigen 100 Millionen DM die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gekippt wird? ({7}) Herr Kollege Conradi, als wir Antragstellerinnen und Antragsteller in den letzten Wochen herumhörten, wer denn unsere Initiative mittragen wolle, bekamen wir fast als Standardantwort zu hören: Ja, es stimme, einen so unsinnigen Beschluß wie damals werde man nicht noch einmal fassen. Die gesamte Entwicklung passe einem nicht. Man habe zwar riesige Bauchschmerzen, aber die Sache sei gelaufen. Die Fraktionsführungen nähmen einen ins Gebet, wenn man jetzt quertreibe. Mag sein. Heißt das aber nicht, daß in der Substanz ein großer Teil, wenn nicht die latente Mehrheit des Hauses davon ausgeht, daß die konkrete Umsetzung der Umzugsplanung nicht zu halten ist? Mir scheint: Es gibt nur noch einen einzigen Grund für die Beharrlichkeit, und der heißt: Staatsräson. Die Fehlentscheidung muß durchgezogen werden, koste es, was es wolle. ({8}) Ich erkläre für mich und andere: Der Umzugsbeschluß mag gelten, auch wenn er verfassungswidrig zustande kam und ein Beschluß des letzten Bundestages für die Abgeordneten des jetzigen Bundestages keine Bindungswirkung hat. Der ganze Ablauf aber gehört auf den Prüfstand. Wer unserer Initiative vorwirft, sie sei nicht konsequent genug, möge bitte nicht nur dagegenstimmen, sondern einen konseLudger Volmer quenteren Antrag vorlegen. Die Mehrheit der Bevölkerung erwartet das. ({9}) Der Umzug ist längst zum Skandalpunkt der Bildung von Staatsverdrossenheit geworden - nicht nur bei den ewigen Nörglern und Querulanten. Stellvertretend für viele Zuschriften möchte ich aus einem Brief der Bürgerinitiative „Menschen für Vernunft" aus Kleve zitieren: Zum Thema Berlin-Umzug sei noch hinzugefügt, daß sich mindestens auch die politisch Führenden fragen lassen müssen, wie man einer Bevölkerung eine neue Hauptstadt, ein politisches Zentrum aufzwingen kann, mit dem sie sich dann später auch identifizieren können muß, wenn die Mehrheit dieser Bevölkerung diese Fehlentscheidung dafür ablehnt. Geradezu perfide wird dieser Vorgang dadurch, daß die parlamentarische Mehrheit diese Entscheidung auch noch gegen den Willen derer, die Steuern zu bezahlen haben, durchsetzt, obwohl man gerade hier mit größtem Einvernehmen streichen und sparen könnte. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Matthäus-Maier das Wort.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bringe den Antragstellern viel Sympathie entgegen und unterschreibe trotzdem den Antrag zur Verschiebung des Umzugs mit fünf Jahre nicht. Die meisten wissen: Ich hielt und halte den Bonn-Berlin-Beschluß für eine schwere Fehlentscheidung, nicht nur, aber in erster Linie aus finanziellen Gründen. Ich halte ihn auch aus ökologischen Gründen für falsch. Ich bin der Ansicht, daß dies gegen den Föderalismus gerichtet ist. Es gibt viele Gründe dagegen. Wir wollen diese Debatte darüber heute nicht wiederholen. Da aber soeben die Worte Bonner und Berliner Republik fielen, kam mir der Gedanke, daß zum Beispiel in den jetzigen Zeiten ein Wort wie der Rheinische Kapitalismus ein internationales Wort dafür ist, daß man in diesem Lande nach dem Kriege Sozialpartnerschaft statt Klassenkampf eingeführt hat. ({0}) Wenn ich übrigens eine Chance sähe, zu einer Revision des Beschlusses zu kommen, würde ich bis heute einen solchen Antrag stellen. Ich sehe diese Chance aber leider nicht. Ich halte es für falsch, Illusionen zu wecken, wenn ich keine Mehrheit für diese Revision sehe. Das ist auch der Grund dafür, daß ich den Antrag zur Verschiebung um fünf Jahre nicht unterschreibe. Denn erstens würde es selbstverständlich, nachdem man einmal - gerade in Berlin - mit den Vorbereitungen so weit vorangekommen ist, zu einer Hängepartie führen, die das Ganze kaum billiger macht. Ich möchte nicht dazu beitragen, daß in Berlin mehrere „Schürmann-Bauten" entstehen. Dies wäre anders, wenn ich eine Revision des Beschlusses erreichen könnte. Ich möchte zweitens hier in der Region durch das Unterschreiben eines solchen Antrages nicht die Illusion erwecken, als könnten wir an dieser Entscheidung grundsätzlich noch etwas ändern. Drittens sehe ich eine große Gefahr für die Ausgleichsleistungen. Man hat ja offen gesagt: Wenn dieser Antrag eine Mehrheit findet, wird ab morgen im Haushaltsausschuß der Ausgleich für die Region gekappt. Wir brauchen dieses Geld zum Beispiel für die Fachhochschule im Rhein-Sieg-Kreis oder für das Projekt CAESAR in Bonn. Eines möchte ich an dieser Stelle doch noch hinzufügen, damit Sie bitte nicht unterschätzen, daß die Verbitterung in dieser Region wächst. Der Verteidigungsminister spricht sich unverhohlen gegen die Aufteilung der Ministerien in Bonn und Berlin aus. Er soll ja mit seinem Ministerium in Bonn bleiben. Er will aber ganz nach Berlin. ({1}) Da beschließt der Bundesrat mit großer Mehrheit entgegen dem, was damals beschlossen wurde: Er will umziehen. Es ist meine tiefe Überzeugung: Wenn man in dem Beschluß vom 20. Juni 1991 der Region nicht weitreichende Versprechungen gemacht hätte, nämlich auch, daß der Bundesrat jedenfalls vorläufig hierbleibt, wäre der Beschluß überhaupt nicht zustande gekommen. ({2}) Deswegen möchte ich um eines bitten: Wer die Glaubwürdigkeit der Politik einigermaßen erhalten will, muß dafür sorgen, daß der Rutschbahneffekt, der schon begonnen hat, nicht weitergeht. Das ist dieses Parlament, das sind wir den Berlinern, aber auch der Bonner Region schuldig. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5581 an den Ältestenrat vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ({0}) - Gegen die Stimme des Kollegen Conradi ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags des Abgeordneten Wolfgang Schmitt ({1}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Hermes-Bürgschaften für den DreiSchluchten-Staudamm in China - Drucksache 13/5399 Überweisungsvorschlag : Ausschuß für Wirtschaft ({2}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Zunächst bitte ich um Ihre Zustimmung dazu, die Rede des Kollegen Erich Fritz zu Protokoll geben zu dürfen. - Das ist der Fall. Dann geschieht das so.' ) Als erster hat der Kollege Wolfgang Schmitt das Wort.

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat kürzlich beschlossen, die beantragten Bürgschaften für das Drei-Schluchten-Staudamm-Projekt in der Volksrepublik China grundsätzlich zu befürworten. Ich halte das für einen weiteren zweifelhaften Schritt zur Normalisierung der deutsch-chinesischen Beziehungen ({0}) „business as usual", die alte Devise. Auf diese Weise kommt der Bundesaußenminister zu einem, denke ich, ihm willkommenen Gastgeschenk für seine nächste Chinareise. Das ist auch schon etwas. Für das Parlament ist diese Entscheidung, wo doch bekannt war, daß sich der Bundestag mit dem Thema beschäftigen wird, ein Affront. ({1}) Was soll eigentlich die parlamentarische Debatte, wenn die Entscheidung von seiten der Bundesregierung längst gefallen ist? Nur durch Hinweise der amerikanischen Umweltbewegung und aus dem Umfeld der Export-ImportBank, dem amerikanischen Pendant zu Hermes, habe ich überhaupt erfahren können, daß eine Bürgschaftszusage erteilt worden ist. Wer hier in Bonn nachfragt, bewegt sich zwischen Sprechverboten der Beteiligten in den Ministerien und kryptischen Hinweisen, die Entscheidung sei schon längst gefallen. Einen solchen Umgang mit dem Parlament würden ') Die zu Protokoll gegebene Rede wird als Anlage 5 im Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt. sich unsere amerikanischen Kollegen nicht gefallen lassen. ({2}) Die Bundesregierung sollte einmal erklären: Warum gibt es bei solchen Projekten, deren Dimension durchaus aus dem Rahmen fällt, kein Verfahren, wie es aus den Vereinigten Staaten bekannt ist? Dort können in öffentlichen Anhörungen, wie im vorliegenden Fall passiert, Firmen ihre wirtschaftlichen Interessen genauso darlegen wie Umwelt-, Entwicklungs- und Menschenrechtsgruppen die ökologischen und sozialen Bedenken - hier mit dem Ergebnis, daß die amerikanische Exim-Bank keine staatlichen Garantien für Exporte in Sachen Drei-Schluchten-Staudamm gewährt. Gleiches gilt im übrigen für Japan. Hierzulande hingegen haben wir den interministeriellen Ausschuß, in dem das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wohl seine Bedenken vortragen kann, aber offensichtlich nach dem Motto „Nur keinen Ärger" auf ein Veto verzichtet hat. Das hier zur Debatte stehende Beispiel zeigt, wie nötig ein transparentes und formalisiertes Verfahren zur Gewichtung ökologischer, sozialer und entwicklungspolitischer Faktoren ist. Damit wäre endlich für Außenstehende nachvollziehbar, welche Argumente der Regierungsentscheidung zugrunde liegen. Aber selbst die Bundesregierung, die in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage des Kollegen Hauchler zu den Hermes-Bürgschaften die Einführung eines transparenten und formalisierten Verfahrens ablehnt, betont, daß die Übereinstimmung der Vorhaben mit den wesentlichen entwicklungspolitischen Zielen der Bundesregierung untersucht werde. Sie führt weiter aus - ich zitiere -: Daneben erlangt das Kriterium der Umweltverträglichkeit zunehmende Bedeutung bei der Beurteilung der Förderungswürdigkeit eines Hermes-Geschäftes. Für Projekte, - so die Bundesregierung weiter die aus schwerwiegenden ökologischen oder entwicklungspolitischen Gründen als nicht förderungsfähig erscheinen, werden Hermes-Bürgschaften nicht übernommen. An anderer Stelle heißt es in derselben Antwort: Projekte, die geeignet sind, der Verletzung von Menschenrechten Vorschub zu leisten, sind nicht förderungswürdig im Sinne der Richtlinien für die Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen und werden deshalb nicht abgedeckt. Im Lichte dieser Antwort werden Sie zu begründen haben, warum Sie zu einer für die antragstellenden Firmen positiven Entscheidung gekommen sind. Glauben Sie ernsthaft, die beabsichtigte Umsiedlung von mehr als einer Million Menschen sei unter Wolfgang Schmitt ({3}) den derzeit herrschenden politischen Bedingungen in der Volksrepublik China menschenrechtsverträglich zu bewerkstelligen? ({4}) Allen Fachleuten ist doch klar, daß die Planung einer Umsiedlung dieser Größenordnung in keinem anderen Land der Erde die Schreibstube der Planer je verlassen hätte. Wenn überhaupt, dann wird die chinesische Regierung dieses Projekt nur mit schärfster Repression umsetzen können. Bestimmte Polizeieinheiten werden internen Quellen zufolge schon jetzt auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen vorbereitet. ({5}) Wer die innerchinesische Kontroverse in der Vergangenheit auch nur annähernd verfolgt hat, weiß, wie umstritten dieses Projekt in China selbst ist. Die Umsiedlung wirft zahlreiche ungeklärte Fragen auf: Wird es überhaupt Arbeitsplätze für die umgesiedelten Menschen geben? Das Jangtsetal, in dem der Staudamm gebaut werden soll, ist sehr fruchtbar. Schon jetzt ist klar, daß die Bauern in Gebiete mit schlechteren Böden umgesiedelt werden müssen. Um die gleiche landwirtschaftliche Produktion zu erreichen, wird schätzungsweise fünfmal soviel Land gebraucht. Nun führen gerade in jüngster Zeit die Befürworter zwei Argumente für den Bau des Staudamms an. Erstens: Nach den schweren Überschwemmungen des Jangtse sei ein wirksamerer Hochwasserschutz vonnöten. Zweitens: Der prognostizierte zukünftige Energiebedarf der Volksrepublik China erfordere die verstärkte Nutzung der Wasserkraft. Zum ersten Argument. Natürlich muß der Hochwasserschutz verbessert werden, wie es die Überschwemmungen in diesem Jahr gezeigt haben. Die Frage ist nur, wie das geschehen soll. Ob das durch diesen Staudamm erfolgen kann, ist sehr zweifelhaft. Durch die Trockenlegung von Überflutungszonen und die unkontrollierte Abholzung, durch die die Bodenerosion vorangetrieben worden ist, sind doch erst die Hochwasserrisiken verschärft worden, die in dieser Region eh schon bestehen. Dieses Problem ist uns en miniature sehr wohl aus der Bundesrepublik Deutschland bekannt. Ich erinnere nur an die Einsargung und die unkontrollierte Regulierung von Flüssen, bei der die einzelnen Dynamiken von Flußökosystemen nicht entsprechend berücksichtigt worden sind. Zum zweiten Argument Energiebedarf. Die Ineffizienz der chinesischen Industrie, auf die zwei Drittel des Energieverbrauchs entfällt, ist legendär. Hier könnte die Bundesrepublik Deutschland eine positive Rolle beim Umbau der alten Industrien spielen, beispielsweise in der Stahlindustrie, in der Düngemittelproduktion oder bei der Einführung regenerativer Energien. ({6}) Ich kann die ökologischen Probleme des Dammbaus hier nur erwähnen: der verstärkte Dünger- und Pestizideinsatz infolge der Umsiedlung auf schlechtere Böden oder das befürchtete Aussterben bestimmter Tierarten wie zum Beispiel des chinesischen Flußdelphins. Ich will aber kurz die ökonomischen Aspekte des Staudammbaus ansprechen - eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Die Baukostenschätzung beläuft sich schon jetzt auf fast 75 Milliarden US-Dollar und entspricht damit ungefähr dem Gesamtdevisenbestand der Volksrepublik China. Die Versuche, privates Kapital am US-amerikanischen Markt zu akquirieren, sind zumindest bis jetzt gescheitert. Die Weltbank hat ebenfalls abgewunken. - Die Finanzierung dieses Projekts steht offensichtlich auf wackeligen Füßen. Hier finanziell einzuspringen ist weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll. Die Kosten wird der Steuerzahler zu tragen haben. ({7}) Ich bin mir sicher, daß die Vorgehensweise der Bundesregierung allen Kollegen, die eine ernsthafte ökologische und entwicklungspolitische Debatte, auch eine über die ökonomische Sinnhaftigkeit dieses Projektes wollen, gleichermaßen absurd vorkommen muß, unabhängig im übrigen davon, wie im einzelnen die Positionen der Kolleginnen und Kollegen aussehen werden. Für alle, die sich in China selbst und international gegen das Projekt engagiert haben, bleibt die ernüchternde Erkenntnis, daß ökologische und soziale Bedenken abermals dem kurzfristigen Geschäfts- und vermeintlichen Staatsinteresse geopfert worden sind. ({8}) Exportförderung um jeden Preis, egal, wie viele Menschen darunter zu leiden haben - ich kann der Bundesregierung nur sagen: In diesem Fall werden es unglaublich viele sein. Dieser Beschluß steht in der Kontinuität Ihrer verfehlten Chinapolitik. Sie ist im übrigen ja gestern noch von unserem Kollegen Heiner Geißler - wenn man die Agenturmeldungen liest - richtigerweise, finde ich, kritisiert worden. Sie betreiben nicht nur stille Diplomatie, sondern auch stille Wirtschaftsdiplomatie. Diese Diplomatie ist so still, daß selbst das Parlament im unklaren gelassen werden soll. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Hauchler. ({0})

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Halt dich zurück", wird mir von der Regierungsbank gesagt. Ich halte mich nicht zurück. Wir reden heute über den größten Staudamm, der je in der Welt gebaut worden ist. Er soll 75 Milliarden Dollar kosten, das sind etwa 100 Milliarden DM. Herr Schmitt hat ja schon etwas über die Risiken ausgeführt. Damit sollen 18 000 Megawatt Strom erzeugt werden können. Aber die Probleme, die sich bei diesem Projekt ergeben, bedeuten ein Megarisiko. ({0}) Das muß man wissen. Trotzdem hat die Bundesregierung vor dieser Debatte offenbar entschieden - am Parlament vorbei -, ({1}) dieses Projekt auf die Schultern des Steuerzahlers zu laden. Denn ich bin sicher, die Chinesen würden nicht verlangen, daß Staatsbürgschaften gegeben werden - wenn sie denn Aufträge vergeben -, wenn sie sicher wären, daß sie die Zahlungen auf andere Weise leisten könnten. Das ist auch ein großes Risiko für den Steuerzahler. ({2}) Es ist von den Risiken gesprochen worden, nämlich von riesigen Umsiedlungsproblemen, die auch in ökonomischer Hinsicht überhaupt nicht kalkuliert sind, von möglichen Dammbrüchen mit verheerenden Wirkungen, von immensen Kunstschätzen, die in den Fluten versinken und von ökologischen Problemen. Dabei ist das Entscheidende nicht genannt worden. Entscheidend ist - darauf möchte ich den Akzent legen -: Es handelt sich hier um einen planwirtschaftlichen Dinosaurier alten Stils, den Sie unterstützen. ({3}) Da soll der Traum einer kommunistischen Staatsregierung erfüllt werden, mit Hilfe von Staatsbürgschaften des deutschen Steuerzahlers. Das ist ein Skandal. Es ist ein interessantes Bündnis von Kapital und alter Planwirtschaft, das Sie hier realisieren hel-f en. Das wirtschaftliche und finanzielle Risiko ist immens. 75 Milliarden Dollar kostet dieses Projekt. Dafür müssen die Chinesen jährlich einen Schuldendienst von mindestens 8 Milliarden Dollar leisten. Diese Gelder gehen für eine breite Entwicklung in China verloren. Der Strom, der hier erzeugt werden soll, kommt nicht den Dörfern, den Bauern und den Menschen zugute, sondern immer wieder der gleichen Großindustrie, die sich mit unseren Konzernen verbündet. Die Dimensionen sind so groß, daß die Finanzierung völlig ungewiß ist; die Rückzahlung ist ungewiß. Interessant ist ja - da müssen Sie auf der rechten Seite des Hauses einmal kritisch zuhören -: Alle privaten Banken halten dieses Projekt wirtschaftlich für völlig ungewiß; die Rentabilität ist unbekannt; die Möglichkeit der Rückzahlung ist unbekannt; die politischen Risiken sind unbekannt. ({4}) Der Beweis, daß die Finanzierung auf tönernen Füßen steht, liegt ja darin - das habe ich gesagt -, daß China keine Staatsbürgschaften verlangen und die Staaten mit einer solchen Forderung erpressen würde, wenn man sicher wäre, daß es auch auf andere Weise pünktlich zurückzuzahlen wäre. Es gibt Alternativen zu diesem Projekt. Es gibt 2 000 Standorte im Bereich des gesamten Einzugsgebietes Jangtse, die für kleinere dezentrale Energieversorgungsunternehmen in Frage kämen. Wasserkraftwerke sind da besser als Kohlekraftwerke; das ist richtig. Es gibt auch die Alternative, Energie einzusparen. Durch die Kohlekraftwerke in China wird eine unglaubliche Umweltverschmutzung verursacht. Dieses Problem läßt sich aber nicht durch ein Großkraftwerk mit neuen Risiken lösen, sondern nur dadurch, daß man dezentrale Formen der Wasserenergiegewinnung ins Auge faßt. ({5}) Die Bundesregierung hat sich trotz der Risiken für die Staatsbürgschaft entschieden. Es profitieren ganz wenige und wie immer die größten Konzerne in Deutschland davon: Siemens natürlich vorneweg, gefolgt von Voith Hydro und Liebherr. Ich wünsche diesen Unternehmen gute Geschäfte. Das kann auch in unserem Interesse sein. Aber wir wissen auch, daß gerade die Subventionen für solche Großkonzerne, für solche Großanlagen zu den geringsten Beschäftigungswirkungen führen. Es wäre besser, man würde Meinen und mittleren Betrieben im internationalen Geschäft über Hermes-Bürgschaften mehr Chancen geben. Man würde damit wahrscheinlich ökologisch, entwicklungspolitisch, aber auch beschäftigungswirksam größere Effekte erzielen. ({6}) Zu den Motiven der Bundesregierung. Ist es Wiedergutmachung für die Resolution des Bundestages zu Tibet? Soll wieder die Hand gereicht werden von seiten der Regierung, weil sich der Bundestag in der Tibet-Frage klar geäußert hat? ({7}) Oder geht es wirklich nur darum, mit dem Geld und auf dem Rücken des Steuerzahlers Subventionen für Großkonzerne in die Wege zu leiten? ({8}) Darum geht es wahrscheinlich. ({9}) Es gibt offenbar doch einen nicht auszutrocknenden Sumpf und einen Filz zwischen dieser Koalition und der Großindustrie. ({10}) Ein besonderer Skandal ist, daß die Bundesregierung, wohl wissend, daß dieses Thema den Bundestag interessiert und daß wir heute debattieren, diese Entscheidung in letzter Minute praktisch doch noch auf den Weg gebracht hat. Dies ist ein Skandal. ({11}) - Das ist ein Skandal, Herr Staatsminister, ein großer Skandal, an dem wir auch leiden werden. - Die Bundesregierung schließt damit die Öffentlichkeit von einer Debatte über solche Fragen aus. Schauen Sie in die USA: Zum selben Projekt fanden im Kongreß Anhörungen zu den ökologischen und zu den finanziellen Fragen statt. Die Dinge wurden offengelegt, in der Presse besprochen. Dann wurde entschieden. Die Bundesregierung wählt einen eigenen Weg. Sie schließt die Öffentlichkeit aus. Sie schließt die Steuerzahler davon aus, mit darüber zu diskutieren, wie auf ihre Kosten Politik gemacht wird. Das ist ein Affront sondergleichen. Ich denke manchmal: Was haben die Fraktionen auf der rechten Seite des Hauses eigentlich noch zu tun? Sie können gleich nach Hause gehen, wenn sie nicht endlich auch mal die Kraft haben, im Parlament gegenzuhalten und ihre Rechte einzuklagen. ({12}) Die Opposition hat wiederholt gehandelt: mit mündlichen Anfragen, mit Kleinen Anfragen. Es liegt ein Antrag vor. ({13}) - Natürlich haben wir gehandelt. Lassen Sie mich schließen. Folgende Forderungen richten wir an die Bundesregierung und an die entsprechende Seite des Hauses. Erstens. Revidieren Sie diese Entscheidung, ({14}) Staatsbürgschaften für dieses Projekt zu geben! Das beläuft sich auf eine Summe - sie muß auch mal genannt werden - von insgesamt etwa einer halben Milliarde DM, also 500 Millionen DM. Revidieren Sie diese Entscheidung! Lassen Sie eine öffentliche Debatte über solche Projekte und über die Haltung der Bundesregierung zu solchen Projekten zu! Sie haben noch eine Frist bis Ende Dezember. ({15}) Zweitens. Prüfen Sie doch wirklich seriös die Alternativen zu einem solchen Mammutprojekt! Es gibt diese Alternativen. Es gibt Machbarkeitsstudien. Der Trend geht weg von diesen Großprojekten. Das wissen wir seit Jahrzehnten. Viele sind gescheitert. Wir wissen aus der kommunistischen planwirtschaftlichen Ära, wir wissen aus vielen Entwicklungsländern, daß solche Projekte weder verwaltet werden können noch ökonomisch sind, noch die Chance bieten, daß die Menschen an Entscheidungen über diese Dinge mitwirken können. Prüfen Sie also das noch einmal seriös, auch bezüglich der Alternativen! Da ich gerade den Staatssekretär des BMZ hier sitzen sehe, sage ich: Nehmen Sie als Teil des Entwicklungshilfeministeriums doch einmal Ihre Verantwortung wahr! ({16}) Drücken Sie sich doch nicht ständig! Sie sitzen doch in diesem interministeriellen Ausschuß. ({17}) Ich weiß, daß Bedenken geäußert worden sind. Wo zeigen Sie in diesen Fragen einmal Rückgrat im Kabinett, um daran mitzuwirken, daß von Ihrer Seite diese Fragen ernster wahrgenommen werden? Das geht nur, wenn man auch einmal Widerstand entfaltet. ({18}) Also, prüfen Sie das! Sie sind einfach zu schlapp. Drittens und letztens. Ändern Sie endlich die grundsätzlichen Vergabebedingungen für Hermes-Bürgschaften. Es muß wie in anderen Ländern Öffentlichkeit hergestellt werden. Es ist das Geld des Steuerzahlers. Der Steuerzahler hat ein Recht darauf, gewisse Dinge zu erfahren. Schließen Sie nicht die Öffentlichkeit aus! ({19}) Die Umwelt- und Entwicklungsverträglichkeit bei diesen Entscheidungen muß eine Rolle spielen, stärker als bisher. Das ist in den USA der Fall. Die EximBank in den USA hat sich wegen der Umweltprobleme gegen eine Förderung entschieden. Wir unterlaufen das. Unterstützen Sie mit Hermes-Bürgschaften nicht ständig die heimatlosen Großkonzerne, die in Deutschland das Geld verdienen, die Gewinne ins Ausland verschieben, dort investieren und dann auch noch Subventionen vom hiesigen Steuerzahler wollen! Das müssen Sie ändern. ({20}) Die SPD stimmt dem Antrag der Grünen zu. Ich hoffe, daß auch Sie noch einmal darüber nachdenken. Danke schön. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Kollege Türk. (Wolfgang Schmitt [Langenfeld] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da bin ich ja mal gespannt!

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bekanntlich ist China im Bundestag ein sensibles Thema; das ist ja vielleicht auch nicht falsch. Allerdings könnte man meinen, daß der Bau eines Staudamms nun wirklich zu den inneren Angelegenheiten eines Landes gehört. Aber die letzten Debatten haben uns gezeigt: Bei China ist alles anders. Wir wollen dem Rechnung tragen. Die Arbeiten für dieses anspruchsvolle Wasserbauvorhaben - jetzt spricht der Bauingenieur - sind schon angelaufen. Der Drei- Schluchten-Damm am Jangtse soll drei Zwecke erfüllen: Hochwasserschutz, Stromerzeugung und Erleichterung der Schiffahrt. Das alles sind, Wolfgang Schmitt, eigentlich auch Ziele der Grünen. Wenn man das ordentlich macht, dann entspricht das eigentlich euren Forderungen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Türk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauchler?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie sagen, bei China sei alles anders. Sie haben im Grunde recht, aber umgekehrt zu dem, wie Sie es meinen: Dieses Parlament hat, wie andere Parlamente, verhindert, daß in Indien und in Nepal ähnliche Projekte verwirklicht werden. ({0}) Aber in China ist natürlich alles anders. Stimmen Sie mir zu? Für China gilt das alles nicht: die ökologischen Bedenken, die menschenrechtlichen Bedenken, die entwicklungspolitischen Bedenken und die ökonomischen Bedenken. Stimmen Sie mir zu, daß das auch so verstanden werden kann?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darauf werde ich noch eingehen. Daß so etwas in Indien verhindert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. ({0}) Man muß auf die Befürchtungen eingehen, die im Antrag geäußert werden: Befürchtet wird, daß durch Überflutung von 1 000 Quadratkilometern - das ist etwas übertrieben; in dieser Zahl ist die heutige Flußfläche eingeschlossen - ökologische Schäden entstehen und daß dieser fruchtbare Flußschlamm für Gebiete unterhalb des Staudamms verlorengeht. Ferner werden ökonomische Schäden durch hohe Investitionskosten befürchtet - Befürchtungen darf man ja äußern; das ist völlig in Ordnung - für den Fall, daß das Projekt in den Sand gesetzt wird. Man befürchtet, daß dieses Geld China in anderen Bereichen fehlt. Ich glaube nicht, daß das unbedingt unser Problem ist. Schließlich sehen die Antragsteller soziale Schäden durch Umsiedlung von mehr als einer Million Menschen. Zugegebenermaßen ist das eine riesige Anzahl. Weil dieses Projekt von deutschen Unternehmen mit realisiert wird und dafür Hermes-Bürgschaften beantragt wurden, hat ein interministerieller Ausschuß die Anträge vor Genehmigung gewissenhaft zu prüfen. Ich glaube, das ist so in Ordnung. Wir müssen darüber sprechen, daß in Zukunft die Öffentlichkeit mitzureden hat. Natürlich ist die Prüfung aus der Ferne schwer bzw. unmöglich. Ich stelle mir manchmal die Frage, Wolfgang Schmitt, wie man zu solch ganz konkretem Wissen kommen kann. Es reicht mir nicht, das einfach aus dem Gefühl heraus zu sagen. Natürlich ist das eine wichtige Sache. Vorerst möchte ich noch einmal auf einen interessanten Artikel vom 2. Oktober im „Handelsblatt" hinweisen. Dort wird das eingehend untersucht, und man ist zu anderen Schlüssen gekommen. Um sich nicht nur auf diesen Artikel zu beziehen, hat der interministerielle Ausschuß Experten auf die Baustelle zu den Planern nach China geschickt. Ich muß unterstellen: Man hat das vor Ort ordentlich geprüft. ({1}) Ich frage: Wozu gibt es Experten, Umweltexperten, Wasserbauexperten und MW-Experten, wenn sie nicht in der Lage sind, so etwas abzuschätzen? Jedenfalls hat der interministerielle Ausschuß nicht leichtfertig entschieden, sondern sich auf das Urteil der Experten verlassen; er konnte sich sicherlich auch darauf verlassen. Zu welchem Prüfergebnis kommen nun die Umwelt- und Wasserbauexperten der KfW, die zur Überprüfung der Hermes-Kreditierung Ende Juli/Anfang August die Baustelle und die chinesischen Projektvertreter besucht haben? Ich habe bereits gesagt: Die Überflutungsfläche ist natürlich riesig, aber nicht so übertrieben groß, wie das angegeben wurde. Der Jangtse bleibt weiterhin ein ganzjährig fließender Fluß, und es werden nur 8 Prozent des gesamten Jahresabflusses gespeichert. Das ist anders als beim Assuan. Ökonomisch wird das Projekt als sicher eingestuft. Die Wachstumsraten - das ist allen bekannt - spreJürgen Türk chen mehr als für sich, egal, um welches Wirtschaftssystem es sich handelt. Es ist Fakt, daß dort Wachstumsraten zu verzeichnen sind, die nicht erwartet worden sind. Durch zahlreiche einfließende Nebenflüsse wird die Wasserfüllung des Jangtse nach dem Bau des Staudamms verdoppelt. Damit ist auch das Flußschlammproblem geklärt. Es kommt neuer Schlamm, der zu Düngezwecken benutzt werden kann, hinzu. Das Argument ist also hinfällig. Die Umsiedlung von 1 Million Menschen ist natürlich ein Problem. Das brauchen wir nicht zu verniedlichen. Aber in Zukunft sind über 30 Millionen Menschen vor Überschwemmungen geschützt. Auch das ist ein Argument, das man nicht einfach wegwischen kann. Das Argument, daß die Überschwemmungen nur von den Abholzungen verursacht wurden, geht ebenso fehl; denn Überschwemmungen gab es bereits vor 100 Jahren. ({2}) Einen Monsunregen halten Sie nicht durch Wälder auf. Das ist eine nachgewiesene Sache. Der Genehmigung der beantragten Hermes-Bürgschaften ist eine hinreichende Prüfung vorausgegangen. Deswegen können und wollen wir dem Ablehnungsantrag nicht zustimmen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihre Redezeit ist vorbei, aber der Kollege Schmitt wollte noch etwas fragen.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, wenn das noch geht, bitte.

Wolfgang Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002784, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Türk, mir ist sehr wohl bekannt, daß es sowohl Argumente für den DreiSchluchten-Staudamm als auch dagegen gibt. Allerdings werden Sie mir sicherlich darin zustimmen, daß dieses Projekt auf Grund seiner Dimensionierung alles andere als ein alltägliches Staudammbauvorhaben ist. Sind nicht auch Sie der Meinung, daß es bei einem so hochsensiblen Projekt, das nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch im Ausland sehr kontrovers diskutiert worden ist - nicht nur in Kreisen der Umweltorganisationen -, besser gewesen wäre, Ihre Argumente dafür und die Argumente, die dagegen sprechen, in einem offenen Verfahren im Deutschen Bundestag zu erörtern und dann zu einer Entscheidung zu kommen? Ich würde in jedem Falle die Entscheidung der Mehrheit des Hauses respektieren, aber ich denke, es wäre besser gewesen, dies hier zu erörtern und erst danach eine Entscheidung durch die Bundesregierung zu treffen. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß mit einem solchen Verfahren der Demokratie und dem Ansehen der Regierung auch bei den Kritikern ein größerer Dienst erwiesen worden wäre?

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ganz kurz: Das schließe ich nicht aus. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält nun der Kollege Hedrich das Wort.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem das BMZ in dieser Frage mehrmals angesprochen wurde, möchte ich dazu doch ein paar kurze Bemerkungen machen. Zunächst einmal kann in keiner Weise die Rede davon sein, daß wir hier eine Entscheidung getroffen haben, die in irgendeinem Zusammenhang mit den Anträgen steht, die heute im Bundestag beraten werden. ({0}) Vielmehr mache ich darauf aufmerksam, daß der zuständige interministerielle Ausschuß der Bundesregierung, bestehend aus Vertretern des Finanzministeriums, des Wirtschaftsministeriums, des Außenministeriums und des BMZ, bereits im August über diese Frage beraten hat. Nach sorgfältiger Überlegung haben wir uns entschieden, den Anfragen deutscher Firmen nach einer Möglichkeit für Hermes-Bürgschaften zuzustimmen. Es kann also nicht die Rede davon sein, daß wir in den letzten Tagen oder möglicherweise in dieser Woche - das geistert irgendwo als Gerücht durch den Bundestag - auf Grund von Anträgen, die heute vorliegen, eine Entscheidung getroffen haben. Ich möchte noch darauf hinweisen, daß es in dieser Woche zum Beispiel keine Sitzung des interministeriellen Ausschusses zu dieser Frage gegeben hat. Das war die erste Berner-kung, Frau Präsidentin. Zweite Bemerkung. Es gibt keinen Zweifel daran - ich möchte das hier noch einmal ausdrücklich für das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum Ausdruck bringen -, daß wir uns auch im interministeriellen Ausschuß sehr schwer damit getan haben, unsere Zustimmung zu geben. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß dieses Projekt durch Entscheidungen Dritter, also auch durch Entscheidungen der Bundesregierung, in keiner Weise aufzuhalten gewesen wäre. Vielmehr geht es jetzt im wahrsten Sinne des Wortes um eine gewisse Schadensbegrenzung; möglicherweise wird der Kollege Kolb darauf noch eingehen. ({1}) Es geht jetzt darum, daß wir uns für die Installierung von Turbinen und dergleichen einsetzen, die dafür sorgen, daß durch den Einsatz von Hochtechnologie ein optimaler Effekt bei der Nutzung der Wasserenergie eintritt. Ich möchte gar nicht verhehlen - wenn Sie gestatten, Frau Präsidentin, sage ich jetzt etwas in meiner Eigenschaft als Abgeordneter; das ist ja auch zulässig -, daß ich durchaus die Bedenken vieler Kollegen verstehe. Auf Grund der Gesamtprozesse der Entscheidung sind wir aber nicht in der Lage, in diesem Zusammenhang irgend etwas aufzuhalten. Ich bin ziemlich sicher - das wird sich in kürzester Zeit herausstellen -, daß wir uns, wenn der Ausschreibungsprozeß erst einmal läuft, plötzlich wundern werden, daß nicht nur deutsche Firmen, sondern auch Finnen von Ländern dabei sind, die heute noch den Eindruck erwecken, als wären sie gegen dieses Projekt. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva-Maria Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzierung des Drei-Schluchten-Staudammes in China ist die Achillesferse für die Realisierung dieses Projektes. Allein für die Einfuhr von Bau- und Ausrüstungsgütern sind 3 Milliarden US-Dollar notwendig. Die gigantischen Gesamtbaukosten - das wurde schon angesprochen; es sind mindestens 75 Milliarden US-Dollar - sind ohne ausländische Kredite und Bürgschaften nicht aufzubringen. Die internationale Gemeinschaft hätte also noch eine reale Chance, dieses ökologisch, sozial und menschenrechtlich nicht zu verantwortende Wahnsinnsvorhaben zu verhindern, wenn sie es wollte. Amerikanischen und japanischen Behörden ist dieses Projekt finanziell und politisch anscheinend zu heiß. Sie stellen bislang keine Ausfuhrbürgschaften für das Staudammprojekt zur Verfügung. Sie wissen auch, warum: Einige der schönsten Schluchten Chinas werden über 600 Kilometer überflutet. 1,3 Millionen Menschen sollen dafür - notfalls mit militärischen Mitteln - zwangsumgesiedelt werden. Unwiderbringliche Kulturgüter werden zerstört oder beeinträchtigt. Dies alles für einen ökologischen Dinosaurier. Das „Wall Street Journal" schreibt, daß das Projekt politisch so riskant sei, „daß nur wenige Banker mit ihm in Verbindung gebracht werden wollen". Das finde ich schon interessant; denn normalerweise sind die Banker nicht so zimperlich. Sie machen eigentlich fast alles mit. Die Bundesregierung, die ständig von ihrer gestiegenen internationalen Verantwortung tönt, kennt solche Berührungsängste nicht. Das Wohl deutscher Bau- und Ausrüstungskonzerne scheint ihr wichtiger zu sein als Menschen- und Umweltrechte. Die Entscheidung des interministeriellen Ausschusses im August, Ausfallrisiken für Geschäfte deutscher Firmen im Zusammenhang mit dem DreiSchluchten-Staudamm zu übernehmen, belegt aber auch etwas anderes: Parlamentarier und Parlamentarierinnen und die Öffentlichkeit werden aus solchen Entscheidungsprozessen bewußt herausgehalten und ignoriert. Die Bundesbürokratie kam nach der Kleinen Anfrage der SPD zu diesem Thema gerade rechtzeitig aus den Startlöchern, um noch vor der sich abzeichnenden Debatte im Bundestag grünes Licht für die Hennes-Deckungen zu geben. In dem Fall haben Sie recht, Herr Hedrich. Sie haben es nämlich schon im August beschlossen. Es gab grünes Licht, obwohl es für die chinesische Energieerzeugung durchaus machbare und weniger zerstörerische Alternativen gibt. Darüber diskutieren wir im Bundestag. Allerdings kann sich der Vergabeausschuß der Bundesregierung bei seinen Hermes-Entscheidungen kaum auf ökologische, menschenrechtliche Bewertungen stützen. Sie sind bisher Schlichtweg nicht vorgesehen. Das Umweltministerium hat keinen Einfluß auf die Vergaben, von Umweltorganisationen ganz zu schweigen. Deshalb unterstützen wir eine verbindliche Vergabepraxis nach ökologischen und entwicklungspolitischen Faktoren, wie im Antrag der Grünen gefordert, natürlich nicht nur in China, sondern auch in Rußland und sonstigen Ländern. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Bürgschaft zurückzuziehen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir zunächst zwei Feststellungen. Erstens. Der Bundesregierung liegen Anträge auf Übernahme einer Ausfuhrgewährleistung, einer sogenannten Hermes-Bürgschaft, im Zusammenhang mit dem Drei-Schluchten-Projekt am Yangtse in China vor. Wegen ihrer Verpflichtung zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen antragsteilender deutscher Unternehmen kann die Bundesregierung keine Einzelheiten, weder Namen noch Zahlen, Herr Kollege Hauchler, zu den Deckungsanträgen mitteilen. Zweitens. Die Bundesregierung hat für die Geschäfte grundsätzliche Deckungszusagen übernommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, in der bisherigen Debatte sind doch viele Klischees gepflegt worden. Es ist schon erstaunlich - lassen Sie mich das zunächst sagen, Herr Kollege Hauchler -, was Sie alles in diese Entscheidung hineingeheimnist haben. Ich kann das im einzelnen gar nicht alles wiederholen. Dabei ist doch ganz klar: Die Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen ist im Haushaltsgesetz geregelt, einem Gesetz, das dieses Parlament beschlossen hat. Dieses Gesetz verweist hinsichtlich der Einzelheiten auf die Richtlinien über die Übernahme von Ausfuhrgewährleistungen. Damit ist ein klarer Rahmen für Entscheidungen des interministeriellen Ausschusses gegeben, innerhalb dessen sich dieser auch bewegt hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauchler?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Eine gestatte ich. Bitte sehr.

Prof. Dr. Ingomar Hauchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist sehr lieb, daß Sie eine gestatten. - Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß man nicht prinzipiell das Verfahren der Geheimhaltung ändern müßte? Denn das Geschäftsgeheimnis von großen Konzernen kann nicht vor dem Recht des Steuerzahlers und der Öffentlichkeit stehen, bei solchen Vorgängen, die den Steuerzahler in so großer Höhe belasten? Sie können nicht sagen, das Geschäftsgeheimnis ist wichtiger als das Recht des Steuerzahlers, wenn er einstehen muß. ({0}) Sind Sie mit mir nicht der Meinung, daß das grundsätzlich geändert werden muß? Sind Sie mit mir nicht auch der Meinung, daß, auch wenn wir den heutigen Status akzeptieren oder nicht ändern, im Prinzip das Projekt hier ohne Nennung der Firmen in seiner ganzen Problematik besprochen werden kann und daß Sie das umgangen haben?

Dr. Heinrich L. Kolb (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001171

Zum ersten bin ich nicht der Meinung, daß wir das Prinzip der Geheimhaltung ändern müssen. Ich glaube, es hat sich bewährt. Es ist mir auch kein Fall bekannt, der Anlaß gäbe, hier über eine Änderung nachzudenken. Zweitens. Wir können dieses Projekt natürlich ohne Nennung von Firmennamen oder von Zahlen besprechen. Ich tue das. Ich stelle nur fest, daß einige Abgeordnete - ich glaube, Sie waren einer von denen, Herr Kollege Hauchler - Namen und Zahlen genannt haben. Dann sollten wir uns bitte alle und insgesamt daran halten. Ich will fortfahren. Ich habe auf das Haushaltsgesetz und die Ausführungsrichtlinien hingewiesen. Diese Richtlinien stellen als Überprüfungskriterien auf die Förderungswürdigkeit und die risikomäßige Vertretbarkeit eines Geschäftes ab. Die Umwelt- und auch die Sozialverträglichkeit eines Projektes sind dabei zwei wichtige, im Rahmen der Förderungswürdigkeit zu prüfende Aspekte. Bei der Entscheidung über die vorliegenden Anträge zu dem Drei-Schluchten-Projekt wurde daher neben der wirtschaftlichen auch die umweit- und sozialpolitische Bedeutung überprüft. Da Hermes-Deckungen in erster Linie die Förderung deutscher Exporte zum Ziel haben, war zunächst zu berücksichtigen, daß sich durch das Projekt große Auftragschancen für deutsche Unternehmen mit positiven Auswirkungen auf Produktion und Beschäftigung ergeben. Nutznießer sind unter anderem auch mittelständische Unternehmen. Natürlich führt eine Beteiligung deutscher Unternehmen auch zu einer Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern, hier vor allem zu einem wertvollen Technologietransfer zum Beispiel im Turbinen- und Generatorbau. Hauptzweck des Projekts ist der Hochwasserschutz. Daneben ist das Projekt aber auch von energiewirtschaftlicher Bedeutung. Geplant ist der Bau von Wasserkraftwerken mit einer installierten Kapazität von 18 200 Megawatt. Das entspricht acht Prozent der gegenwärtigen chinesischen Stromerzeugungskapazität und kann damit 15 Kohlekraftwerke mit einer Leistung von je 1 200 Megawatt, also schon größere Einheiten, ersetzen. Das Projekt stellt damit einen wichtigen und auch umweltfreundlichen Beitrag zum Abbau des Energieengpasses in China dar. Problematisch erscheint manchen Kritikern des Projekts insbesondere die mit der Flußregulierung des Jangtse verbundene Umsiedlung von rund einer Million Menschen. Wir haben den Eindruck gewonnen, daß die notwendigen Maßnahmen in verantwortlicher und auch in finanziell abgesicherter Weise getroffen werden. Zu beachten ist auch, daß durch die Regulierung des Unterlaufs des Jangtse, der in regelmäßigen Abständen von Hochwasserkatastrophen heimgesucht wird, ein Hochwasserschutz für 20 Millionen Menschen geschaffen wird. Auch dies ist in die Abwägung mit einzubeziehen. Wir haben das getan. Wir haben auch die Auswirkungen des DreiSchluchten-Projektes auf die Umwelt geprüft. Diese Auswirkungen sind auch von den Chinesen selbst sehr sorgfältig untersucht worden. Wir meinen, daß die positiven Effekte überwiegen. ({0}) Generell gilt, daß China zu den Ländern gehört, die über die größte Erfahrung im Dammbau verfügen. Hierzu gehören auch die Wasserkraft sowie die Beherrschung von Umwelt- und Umsiedlungsproblemen. Zu den Hinweisen auf die Haltung der US-Regierung und der Weltbank in vorliegendem Antrag ist anzumerken: Die US-Regierung hat nach den Erkenntnissen der Bundesregierung nur entschieden, auf der Grundlage der ihr bisher vorliegenden Informationen keine Unterstützung für amerikanische Exporte zu gewähren. Eine abschließende Entscheidung der US-Eximbank liegt noch nicht vor. Es wurde hier gesagt, die Weltbank habe abgewunken. Nach unseren Informationen ist die Weltbank von der chinesischen Regierung überhaupt nicht um Unterstützung gebeten worden. Insofern stellt sich die Frage einer Weltbank-Beteiligung nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich empfehle Ihnen, den Antrag abzulehnen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/5399 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vor Aufruf der Tagesordnungspunkte 10, 11 und 12 will ich Ihre Zustimmung dazu einholen, daß die Kollegen ihre Reden zu diesen Tagesordnungspunkten zu Protokoll geben wollen * ). Sind Sie damit einverstanden? ({0}) - Vielen Dank. Wir müssen trotzdem noch abstimmen und haben einen letzten Punkt, zu dem auch noch debattiert wird. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 auf: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 20. September 1994 über nukleare Sicherheit ({1}) - Drucksache 13/5018 - ({2}) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) - Drucksache 13/5690 - Berichterstattung: Abgeordnete Kurt-Dieter Grill Wolfgang Behrendt Ursula Schönberger Dr. Rainer Ortleb Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zusatzpunkte 11 und 12 auf: 11. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Fortsetzung der Sanierung der Braunkohlegebiete in den neuen Ländern - Drucksache 13/5588 - 0) Die zu Protokoll gegebenen Reden werden in einem Nachtrag als Anlagen 6 bis 8 abgedruckt. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Kurzhals, Gunter Weißgerber, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Braunkohlesanierungsgesellschaften erhalten - Beschäftigungsverhältnisse sichern - Drucksache 13/5225 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß ZP12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Lengsfeld, Antje Hermenau, Werner Schulz ({6}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Braunkohlereviere ökologisch sanieren - Drucksache 13/5721 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß Es wird Überweisung der Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({8}), Dr. Herta DäublerGmelin, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems - Drucksache 13/4462 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({9}) Ausschuß für Verkehr Es wird Überweisung des Gesetzentwurfes an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Weiermann, Ernst Schwanhold, Anke Fuchs ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Montanunion-Vertrag über das Jahr 2002 fortschreiben - Drucksache 13/3526 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({11}) Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Wolfgang Weiermann.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich weiß, daß man, wenn man sich zu dieser späten Stunde noch hier hinstellt, nicht nur eitel Freude entgegengebracht bekommt. Aber ich glaube, daß in wenigen Jahren einer der wichtigsten Verträge ausläuft, die die Bundesrepublik in ihrer Geschichte jemals geschlossen hat, nämlich der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch EGKS genannt. ({0}) Bislang bestehen offenbar noch keine klaren Vorstellungen darüber, wie eine Nachfolgeregelung über das Jahr 2002 hinaus gestaltet werden soll. Dabei müßte es vor allen Dingen darum gehen - deswegen rede ich an dieser Stelle auch für die Sozialdemokratische Partei -, das bestehende Recht so weit wie möglich in ein neues europäisches Vertragssystem einzubringen. Schließlich geht es auch darum, die Chance zu nutzen, zukünftige neue EU-Mitgliedsländer in das Vertragswerk einzubinden. Der Vertrag von 1951, dessen geistiger Vater Robert Schuman war und dessen Grundhaltung wesentlich von dem ersten Präsidenten des Hohen Rates der Montanunion, Jean Monnet, bestimmt wurde, besteht im großen und ganzen aus drei Elementen: einem wirtschaftspolitischen, einem sozialpolitischen und einem außenpolitischen. Wirtschaftspolitisches Ziel war die rationelle Versorgung der Verbraucher mit Montanprodukten. Dazu wurden die nationalen Märkte zu einem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl zusammengefaßt. Sozialpolitisch sollten die Arbeits- und Lebensbedingungen für alle Beschäftigten in der Montanindustrie harmonisiert und verbessert werden. Außenpolitisches Ziel war die Ablösung der Kontrollbefugnisse der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges über die Ruhrindustrie und damit zugleich die Einleitung einer Politik der friedlichen Vereinigung der Staaten Westeuropas in Richtung auf eine politische Union. Schumans und Monnets Vorschlag lief darauf hinaus, Vormachtstreben auf dem Kontinent durch Zusammenarbeit und Gleichberechtigung zu überwinden und - beginnend mit der Zusammenarbeit im Montanbereich - die Grundlagen für ein vereintes Europa zu schaffen. ({1}) Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl war daher die Keimzelle der europäischen Einigung. Es ging bei diesem Vertrag über die Montanunion um weit mehr als nur um die Regelung über Kohle und Stahl. Deshalb heißt auch heute die Devise, mit der Tradition des Montanunion-Vertrages pfleglich umzugehen. Im Klartext: Der MontanunionVertrag darf nicht auf Null zurückgefahren werden. ({2}) Der Präsident der Europäischen Kommission, Santer, hat kürzlich betont, daß zumindest ein Teil, ein großer Teil des bestehenden EGKS-Vertrages in ein neues europäisches Recht eingebettet werden soll. Nach der uns vorliegenden Terminplanung soll die inhaltliche Klärung - deswegen reden wir heute auch darüber - bis zum 14. November 1996 erfolgen. Das ist bekanntlich in etwas mehr als einem Monat; heute schreiben wir den 10. Oktober. Anschließend sollen die Vorschläge in der Tagesordnung des Rates erörtert werden. Es wird also Zeit, meine Damen und Herren, daß die Bundesrepublik und insbesondere der Deutsche Bundestag dann, wenn er es noch kann, auf die zukünftige Gestaltung Einfluß nimmt. ({3}) Ich glaube, daß dies für uns alle - wenn ich das richtig einschätze - auch unverzichtbar ist; denn die jüngste Vergangenheit hat deutlich gemacht, daß ein ungezügelter Wettbewerb und ein ungezügelter Subventionswettlauf mit unabsehbaren Folgen wirtschaftlicher und arbeitsmarktpolitischer Art nur durch ein anerkanntes Regelwerk wie den EGKSVertrag zu steuern ist. Nach Angaben des für die Beschäftigung zuständigen EU-Kommissars Flynn hat die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl in den vergangenen zwei Jahren rund 488 Millionen ECU, das sind 932 Millionen DM, bereitgestellt, um mehr als 120 000 vom Stellenabbau betroffenen Beschäftigten der Branche bei Weiterbildung und Umbildung zu helfen. Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Das ist eine beispielhafte Vorgehensweise. Ich erinnere an dieser Stelle auch ganz bewußt an den gemeinsamen interfraktionellen Antrag von SPD, CDU/CSU und F.D.P. im Deutschen Bundestag vor zwei Jahren bzw. an die Kleine Anfrage der SPDFraktion zur „Situation der deutschen Eisen- und Stahlindustrie". In dieser Situation hat sich nun die SPD-Bundestagsfraktion entschlossen, den Ihnen vorliegenden Antrag einzubringen, der sich mit dem Auslaufen des EGKS-Vertrages und seiner Fortschreibung über das Jahr 2002 hinaus beschäftigt. Blättern Sie bitte einmal zu den Dingen zurück, die am 22. Juni 1994 über längerfristige Perspektiven der Stahlindustrie beschlossen worden sind. Da sind auch Dr. Wolfgang Schäuble und von der F.D.P.-Fraktion Dr. Hermann Otto Sohns unter den Unterzeichnern. Ich will an dieser Stelle nur nachrichtlich sagen, daß wir hier sozusagen Ernst gemacht haben mit Überlegungen, wie es denn weitergehen soll, und daß wir frühzeitig - das steht in diesem interfraktionellen Antrag - Vorsorge treffen müssen, daß bei der Einschmelzung des im Jahre 2002 auslaufenden Montanunion-Vertrages in das allgemeine europäische Vertragsrecht den Besonderheiten der Montanindustrie Rechnung getragen werden muß. Es ist auch darauf hinzuwirken, daß das Montanvermögen in Höhe von mehr als 1,5 Milliarden DM den beiden Industrien, die es aufgebaut haben - eventuell auch in Form einer Stiftung -, erhalten bleibt. ({4}) Gemeinsam mit den Partnern in der Europäischen Union und den anderen OECD-Ländern ist daran mitzuwirken, daß die osteuropäische Stahlindustrie in den Weltmarkt integriert wird, ohne daß es dabei zu schweren Erschütterungen kommt. Dazu bedarf es einer Kapazitätsbereinigung in den osteuropäischen Ländern und eines schrittweisen Verzichts auf staatliche Beihilfen sowie Zug um Zug einer Öffnung der westeuropäischen Märkte. Die unvermeidlichen Strukturveränderungen, die sich in den deutschen Stahlrevieren auch in Zukunft ergeben werden, sind durch die im MontanunionsVertrag vorgesehenen sozialen Begleitmaßnahmen abzufedern. Ich halte diesen Inhalt des interfraktionellen Beschlusses für einen wesentlichen Bestand. Meine Fraktion schlägt vor: Der Montanvertrag muß als ein bewährtes Instrument inhaltlich in den Vertrag über die Europäische Union, Maastricht II, eingebunden werden. Dies ist die Kernforderung. Denn hier handelt es sich um jenen Teil der europäischen Verträge, mit dem das gemeinsame Europa begonnen hat. Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl hat für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Europa erst eigentlich erfahrbar gemacht, weil sie über Jahrzehnte in der Lage war, eine gemeinsame Industriepolitik voranzutreiben. ({5}) Für die mittel- und osteuropäischen Länder hat heute die EGKS eine wichtige Beispielfunktion für die Bewältigung von Strukturkrisen und den wirtschaftlichen Neuaufbau. Daraus folgt, daß bei der Beratung der Fortschreibung des Maastricht-Vertrages die Instrumente des Montanunion-Vertrages zu sichern sind. Er enthält Bestimmungen, die auf homogene Massengüter, wie sie für die Montanunion typisch sind, zugeschnitten sind, so zum Beispiel ein über übliches EG-Recht hinausgehendes eindeutiges Subventionsverbot, Vorschriften, die der Transparenz des Marktes dienen, Wettbewerbsregeln, die eine flexible Reaktion auf Krisenlagen erlauben, und eine Sozialklausel, die eine Anpassung bei Beschäftigungseinbrüchen erleichtert. Diese Vorschriften sollen auch im Rahmen des allgemeinen europäischen Vertragsrechts erhalten bleiben. Ich nenne nur stichwortartig die Einrichtung des Beratenden Ausschusses, der mit einer über 40jährigen Praxis die am weitesten entwickelte und am erfolgreichsten arbeitende Einrichtung des sozialen Dialogs auf Branchenebene ist. Eine Aufgabe dieser Einrichtung würde dem Vertragsziel der vollen Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und seiner Weiterentwicklung zutiefst widersprechen. Ich darf an dieser Stelle zu meinem Schlußsatz kommen: Die Überführung des Montanunion-Vertrages im Jahre 2002 in das dann für die übrige Wirtschaft geltende europäische Recht ist eine richtige Entscheidung. Nun gilt es, Nägel mit Köpfen zu machen und die Idee des Montanvertrages in das neue Jahrtausend hinüberzutragen. Ich bedanke mich trotz der späten Stunde für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster Redner kommt Thomas Rachel.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich begrüße vor allem die zahlreichen Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages, die noch um 24 Uhr an der Debatte des Parlaments teilnehmen. ({0}) Europa - eine große Idee. Keimzelle der Europäischen Union war die Montanunion von 1952 mit dem EGKS-Vertrag, der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Diese Sonderregelung für den Montanbereich hat es zunächst aus historischen Gründen gegeben. Es war eine französische Initiative mit dem Ziel, die deutsche Schwerindustrie in ein europäisches Gesamtkonzept einzubinden und die Versorgung Frankreichs mit deutscher Kohle zu sichern. Aus dieser Montanunion ist ein Nukleus für den europäischen Einigungsprozeß geworden, der erheblich zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und zum Wohlstand in Europa beigetragen hat. ({1}) Der EGKS-Vertrag hat vor 44 Jahren einen gemeinsamen Markt ohne Binnengrenzen geschaffen, und zwar für die Sektoren Kohle und Stahl. Erst Jahrzehnte später ist es gelungen, einen gemeinsamen Binnenmarkt für die gesamte Wirtschaft der EU zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Geltungsdauer des Montanunion-Vertrages ist auf 50 Jahre begrenzt. Eine Fortsetzung des Vertrags kommt aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion nicht in Frage. ({2}) Gleichwohl bietet sich die Gelegenheit, darüber nachzudenken, welche Kernelemente für den europäischen Integrationsprozeß auch für die Zukunft Bedeutung haben. Wir sollten aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lernen. Allerdings gibt es keine Notwendigkeit, einen Sonderstatus für Kohle und Stahl in einem Maastricht-II- oder -III-Vertrag zu verankern. ({3}) Schon gar nicht ist es realistisch, geltendes Montanrecht für andere Branchen verbindlich zu machen. Worum es geht, hat der Bundestag 1994 zum Ausdruck gebracht, als er die Regierung aufforderte, frühzeitig Vorsorge zu treffen, daß bei der Einschmelzung des im Jahr 2002 auslaufenden Montanunion-Vertrages in das allgemeine europäische Vertragsrecht den Besonderheiten der Montanindustrie Rechnung getragen wird. Wir müssen nun prüfen, welche Regelungen sinnvoll waren oder welche abträglich waren. Erstens. Der Beratende Ausschuß hat viele zusammengebracht, aber wir sind als CDU/CSU-Fraktion der Meinung, daß er an Bedeutung verloren hat. Auf ihn kann verzichtet werden. Wir schließen uns insofern der Forderung des SPD-Antrages nicht an. Zweitens. Der EGKS-Vertrag sieht für Krisen und Mangellagen ein entsprechendes Quotenverteilungssystem vor. Eine vergleichbare Regelung gibt es im EU-Vertrag nicht. In der Kohlepolitik hat das Thema überhaupt keine Rolle gespielt. Anders im Bereich des Stahls. Aber die nach dem EGKS-Vertrag vorgesehenen Zwangsquoten bei manifesten Krisen in der Stahlindustrie haben in der Praxis nicht die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt, insbesondere nicht im Bereich des notwendigen Abbaus von Überkapazitäten und zum Ausgleich von Wettbewerbsverzerrungen. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt deshalb den Schlagstock behördlicher Quoten, aber auch die Festlegung von Mindest- und Höchstpreisen ab; denn sie sind ordnungspolitisch falsch und auch nicht das richtige Mittel zur Bewältigung von Krisenlagen. ({4}) Wir könnten aber nach meiner Meinung eventuell über die Fortsetzung der Marktvorausschätzungen nachdenken; denn sie haben sich als nützliche Orientierungshilfe erwiesen. Drittens: Subventionen. Im Bereich der Kohle sind Beihilfen grundsätzlich auch nach EU-Recht genehmigungsfähig. Ob und in welchem Maße Kohlebeihilfen gezahlt werden sollen, muß die Politik demnächst entscheiden. Im Bereich des Stahls sollte allerdings ein funktionierender Wettbewerb das Ziel sein. Dafür brauchen wir ein striktes Beihilfeverbot. Dies ist von entscheidender Bedeutung. ({5}) Das Subventionsverbot muß auch nach Auslaufen des Montanunion-Vertrages sichergestellt werden. Dabei ist zu beachten, daß das Subventionsverbot des EGKS-Vertrages strenger und enger ist als das des EU-Vertrages. Ich denke, wir sollten als Ziel formulieren, das Subventionsverbot des MontanunionVertrages in der juristisch klaren Form, wie es heute geltendes Recht ist - ich denke an den Subventionskodex -, auch für die Zukunft zu normieren. Viertens. Den EGKS-Vertrag durchzieht das Prinzip der Markttransparenz wie ein roter Faden. Die betroffene Industrie sagt uns, daß sich dieses Prinzip mit seinen Informationspflichten gegenüber der europäischen Behörde bewährt hat. Wir sollten diesen Gesichtspunkt ernst nehmen und überprüfen, auf welche Weise dem Anliegen entsprochen werden kann. Fünftens. Es gibt eine besondere Umlage für die Kohle- und Stahlindustrie. Es ist die einzige europäische Sonderumlage. Sie hat ein „Montanvermögen" geschaffen, um dessen Verwendung es geht. Über diese Frage muß bei Auslaufen des EGKS-Vertrages neu entschieden werden. „Geld macht sinnlich", sagt ein deutsches Sprichwort. Zumindest regt es die Phantasie an und weckt fremde Begehrlichkeiten. Da die Montanunternehmen die Umlage im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen zusätzlich zur normalen Steuerpflicht erbracht haben, ist es eine moralische Frage, daß das angesammelte EGKS-Vermögen nur so verwendet wird, daß es den Industrien zugute kommt, die es aufgebracht haben. Eine Lückenbüßerfunktion im allgemeinen Haushalt der EG oder ein ausschließlicher Zugriff über die EGKommission kann nicht der richtige Weg sein. Als CDU/CSU-Fraktion begrüßen wir deshalb den Vorschlag der Bundesregierung, eine Montan-Forschungsstiftung einzurichten. Diese entspricht für den Bereich Kohle und Stahl der geschichtlichen Entstehung dieser Sonderumlage, und sie entspricht dem Gemeinschaftsgedanken für die Zukunft. Dank gilt der Bundesregierung - ich sehe Herrn Staatssekretär Lammert -, ({6}) weil sie mit diesem Vorschlag auch dem Antrag des Bundestages von 1994 entspricht. Der Bundestag hatte nämlich beschlossen, das Montan-Vermögen in Höhe von rund 1,5 Milliarden DM den beiden Industrien, die es aufgebaut haben, eventuell in Form einer Stiftung zu erhalten. Genau darum geht es; dies ist unser gemeinsames Ziel. Wir werden nun im Deutschen Bundestag die angesprochenen Punkte in den Ausschüssen beraten. Dabei wird zu untersuchen sein, ob diejenigen Regelungen des EGKS-Vertrages, die sich nachdrücklich bewährt haben, als Sekundärrecht - zum Beispiel in Form eines Kohle- oder Stahlkodex - unterhalb des EU-Vertrages angesiedelt werden können und sollen. Die Diskussion über den Montanunion-Vertrag sollte meines Erachtens von dem Gedanken geprägt sein, möglichst viel unverfälschten Wettbewerb zu ermöglichen, so daß unrentable Kapazitäten nicht aufrechterhalten werden, um Angebot und Nachfrage schnell ins Gleichgewicht zu bringen. Manchmal ist es gut, einen Blick auf die Anfänge zu werfen, um so ein Maß für den Fortschritt und die Einsicht in die notwendigen Veränderungen zu gewinnen. Die Gründungsväter der Montanunion haben eine atemberaubende Aufgabe bewältigt. LasThomas Rachel sen Sie uns mit dem gleichen Elan und derselben Zuversicht an die vor uns stehenden Aufgaben zum Wohle des Ganzen herangehen. Herzlichen Dank. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Normalerweise würde man jetzt sagen: Das klingt nach Zugabe. ({0}) - Sollen wir darüber abstimmen? ({1}) - Nein, es war seine zweite Rede, glaube ich. Als nächste spricht Michaele Hustedt.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine mitternächtliche Debatte über einen SPD-Antrag zur Montanunion. Was sagt uns das? Warum hat sich eigentlich die stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag nicht dafür stark gemacht, daß ihr eigener Antrag zu einer bedeutsameren Zeit debattiert wird? Ich kann das nur so interpretieren - die Anwesenheit zeigt dies ja auch -, daß dies ein reiner Pflichtantrag ist, der gestellt wurde, damit man bei den Kumpeln vor Ort behaupten kann, man habe sich für sie eingesetzt. ({0}) In Wirklichkeit weiß auch die SPD, daß die Zeiten der Montanunion vorbei sind. Ich finde - gelinde gesagt -, daß dies eine doppelzüngige Politik ist. Die SPD macht es sich damit leicht - zu leicht. Für die Kumpel und die Regionen ist es schlecht, wenn man ihnen Hoffnungen macht, die dann doch wieder enttäuscht werden. ({1}) Heute sind nicht mehr Stahl und Kohle die Schlüsseltechnologien einer führenden Industrienation, wie das noch vor 44 Jahren bei der Gründung der Montanunion der Fall war. Heute sind es Informationstechnologien, Internet, Telekommunikation, moderne Verkehrssysteme, Solartechnologie, Effizienztechniken, bei denen sich die europäischen Länder bewähren müssen. ({2}) So wie die Montanunion ein Vorreiter der EU und die Steinkohle das Rückgrat des deutschen Nachkriegswirtschaftswunders war, so wird in den nächsten Jahrzehnten entscheidend sein, ob und wie wir unsere Energieversorgung auf einen optimalen Mix von Energieeinsparung, Einsatz regenerativer Energien und Restenergieerzeugung mit hohen Effizienzgraden umstellen können. ({3}) Das ist die Schlüsselfrage und nicht Stahl und Kohle. Natürlich hängt die Verlängerung der Montanunion entscheidend mit der Frage zusammen, wie lange in Deutschland noch Subventionen für die Steinkohle möglich sind. Das ist die Frage. Es entspricht den Grundprinzipien der Europäischen Gemeinschaft, staatliche Beihilfen einzuschränken. Mit dem zukünftigen gemeinsamen Markt sind solche Ausnahmeregelungen für staatlich gewährte Beihilfen - gleich welcher Art - nicht vereinbar. Großbritannien war schon vor einigen Jahren Vorreiter einer Privatisierung der Kohleunternehmen; Beihilfen werden dort inzwischen nicht mehr gewährt. Frankreich sieht eine vollständige Einstellung der Subventionierung der Kohle bis zum Jahr 2005 vor. Nur Spanien und Deutschland gewähren noch eine Kohlesubventionierung. Aus unserer Sicht ist es auch nicht sinnvoll, mit Milliardenaufwand Arbeitsplätze in einer Branche dauerhaft, ohne daß man einen Endzeitpunkt benennt - das ist die Frage bei der Montanunion -, zu subventionieren, die auch zukünftig hinsichtlich der weitaus billigeren Importkohle nicht wettbewerbsfähig sein wird. ({4}) Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt zudem völlig richtig fest, daß eine kontinuierliche Degression der Steinkohlesubvention ab dem Jahre 1999 die Versorgungssicherheit nicht gefährdet, da die Steinkohle am Weltmarkt auf Dauer in ausreichender Menge angeboten wird. ({5}) Ja, auch ich finde, daß die Politik gegenüber den Steinkohleregionen eine Verantwortung hat. Dazu bekennen wir uns auch. Diese Regionen haben in der letzten Zeit bereits enorme Anstrengungen unternommen und enorme Anpassungsleistungen erbracht. Aber unübersehbar ist auch, daß die Fähigkeit und Bereitschaft der Gesellschaft, auf Dauer Milliardensubventionen zu tragen, abnimmt, und zwar in allen Parteien und allen Bevölkerungsschichten. Das darf man den Betroffenen nicht verheimlichen. ({6}) Die alte Kohlevorrangpolitik, die faktisch zu einer ungeplanten, chaotischen Schrumpfung geführt hat, macht alles nur noch schlimmer. Sie enttäuscht die Hoffnungen der Gutgläubigen und lähmt die zukunftsorientierten Kräfte. Deswegen ist die Salamitaktik, wie sie in Kohlerunden von der Bundesregierung praktiziert wird, falsch. Die betroffenen Regionen, die betroffenen Menschen brauchen Berechenbarkeit. Sie brauchen aber auch die Wahrheit über ihre Situation. Deshalb werden wir dem SPD-Antrag nicht zustimmen. Heute darf kein junger Mensch mehr aufgefordert werden, seine berufliche Zukunft auf die Kohleindustrie in Deutschland zu setzen. Die Regionen müssen wissen, daß die Sanduhr läuft. Statt dessen muß man ihnen helfen, nach vorne zu schauen und den Strukturwandel zu bewältigen. Wir brauchen gerade in den Kohleregionen ein Bündnis für Arbeit und Umwelt mit Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen. ({7}) Zudem sollte überlegt werden, ob nicht - genau wie in der Stahlindustrie - Beschäftigungsgesellschaften gegründet werden können. Bei den Bergbaubeschäftigten sollte die Eigeninitiative für Existenzgründungen gefördert werden, und die Kohleunternehmen wie die Ruhrkohle AG müssen sich noch stärker als bisher auf neue Beschäftigungsfelder, zum Beispiel Sanierungstechnologie, orientieren. ({8}) Anstatt das Hickhack über Kohlesubvention zum jährlichen Ritual zu machen, sollten sich alle Parteien stärker darauf konzentrieren, für die Montanregionen eine Zukunft zu suchen und zu finden, die ihnen hilft, auf eigenen Füßen zu stehen. ({9}) Das verstehen wir unter verantwortungsvoller und vorwärts gewandter, aber auch sozialverträglicher Wirtschafts- und Strukturpolitik. Ich danke Ihnen. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Tauss, wollen Sie eine Kurzintervention, oder was wollen Sie? - Herr Kollege Müller.

Manfred Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002740, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS stimmt der Forderung zu, den Vertrag über die Montanunion über das Jahr 2002 hinaus fortzuschreiben. Die Regelungen des EGKS-Vertrages haben sich nicht nur über Jahrzehnte bewährt und die schweren Strukturkrisen des Montanbereiches erfolgreich abfedern helfen, sie werden auch unverzichtbar sein, wenn die osteuropäischen Länder in die Union integriert werden sollen. In diesen Ländern stehen technologische Umbrüche an, die ohne ein dem Montanvertrag ähnliches Instrumentarium kaum zu bewältigen sein werden. Denn nicht nur, daß die osteuropäischen Länder Unterstützung bei der dringend notwendigen Innovation brauchen werden; auf sie kommen gerade in der Massengüterindustrie erhebliche Beschäftigungsprobleme zu, für die es im europäischen Recht nirgendwo so weit entwickelte Problemlösungen gibt wie im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe weiterer Gründe, die für eine Vertragsverlängerung sprechen. All diese Gründe wurzeln in der schlichten Tatsache, daß der Vertrag über die Montanunion noch eine Schwerpunktsetzung hatte und von einem wirtschaftspolitischen Zielkatalog geprägt wurde, der sich den Ideen der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet fühlte. Es ist schon außerordentlich aufschlußreich, diesen Gesetzestext von 1951 mit der Wirtschaftspolitik der heutigen Bundesregierung oder dem Geist des Maastrichter Vertrages zu vergleichen. Die im EGKSVertrag entwickelten Vorstellungen sind eindeutig marktorientiert, sollen Protektionismus verhindern und Subventionen ausschließen. Viel wichtiger aber sind die Ziele, die in diesem Vertrag niedergeschrieben wurden. Die Förderung von Marktbeziehungen und freiem Wettbewerb wurde 1951 noch als Mittel und nicht als Zweck der Union formuliert. Im Vordergrund des Gesetzestextes steht, wie es wörtlich heißt, die „Steigerung der Beschäftigung", die „Hebung der Lebensführung" und des „Lebensstandards". Aktive Arbeitsmarktpolitik, wie sie die PDS für die Union fordert, ist in Art. 46 des EGKS-Vertrages bereits ausdrücklich vorgeschrieben - dies auf eine Weise, daß die Institutionen bereits vor dem Eintreten von strukturell bedingten Entlassungen beauftragt werden, sich Gedanken über neue Arbeitsplätze zu machen. Der Vertrag bleibt aber nicht dabei, Ziele zu formulieren, sondern begründet eine Entscheidungsstruktur, die vom Geist wirtschaftlicher Demokratie geprägt ist. Insbesondere der in Art. 18 des Vertrages festgelegte Beratende Ausschuß räumt den Beschäftigten mit einem Drittel der Sitze ein Mitbestimmungsrecht ein, das seitdem sonst nirgendwo in der Union nachvollzogen wurde. Was hier begründet wurde, geht weit über die durch die Europäische Betriebsräterichtlinie geschaffene Form der Information von Beschäftigten hinaus und begründet reale Mitbestimmungsmöglichkeiten. Würde der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nicht fortgeschrieben, dann gingen der Union deshalb nicht nur wichtige ökonomische Steuerungsmittel verloren, sondern auch eine Ebene der sozialen Kooperation und Demokratie. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Jetzt spricht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der SPD-Fraktion, den Montanunion-Vertrag über das Jahr 2002 hinaus fortzuschreiben, ist sicher mehr als ein rein demonstratives Manöver, wie Frau Kollegin Hustedt gerade gemutmaßt hat. Allerdings hätte es die Ernsthaftigkeit des von Ihnen, Herr Kollege Weiermann, gerade vorgetragenen Anliegens ganz sicher gefördert, wenn wenigstens eine starke Minderheit der über 40 Antragsteller aus den Reihen der SPD-Fraktion dieser ersten parlamentarischen Debatte den Glanz ihrer persönlichen Anwesenheit gegönnt hätte. ({0}) Daß der Montanunion-Vertrag für 50 Jahre abgeschlossen wurde und deswegen im Jahre 2002 abläuft, ist mehrfach vorgetragen worden. Ich will hinzufügen, daß sich der Ministerrat schon im April 1991 dafür ausgesprochen hat, ihn nicht zu verlängern, und daß der Rat im April 1994 auch das schrittweise Auslaufen der Finanzaktivitäten im Rahmen des EGKS-Vertrages beschlossen hat. Es sind nun die Fragen aufgeworfen worden - dafür gibt es in der Tat gute Gründe -, ob eventuell einzelne Bestimmungen aus dem Montanunion- bzw. EGKS-Vertrag in den EG-Vertrag übernommen werden sollen oder ob und in welcher anderen geeigneten Weise solche Regelungen auch in Zukunft sinngemäß oder ähnlich weiter Anwendung finden sollen. Dazu will ich für die Bundesregierung gerne einige erste bewertende Bemerkungen machen. Ich will mit Ihrer Bemerkung, Herr Kollege Weiermann, beginnen, daß der EGKS-Vertrag einer der wichtigsten Verträge sei, den die Bundesrepublik in ihrer Geschichte jemals abgeschlossen habe. Ich stimme dem zu - schon gar unter dem Gesichtspunkt der historischen Bedeutung, die dieser Vertrag für viele später daraus erwachsende Erweiterungen gehabt hat. Wahr ist aber auch: Dieser EGKS-Vertrag hat für eine damals ganz besonders gewichtige und politisch besonders sensible Branche zu einem Zeitpunkt Regelungen entwickelt, als es weder die Römischen Verträge, die Einheitliche Europäische Akte, einen gemeinsamen Europäischen Binnenmarkt noch die Maastrichter Verträge gab. Über den Zweck und die Notwendigkeit der damaligen Regelungen heute unter der Prämisse zu diskutieren, welche Funktion sie in den 50er Jahren hatten, geht natürlich an einer gründlich veränderten und inzwischen auch verbesserten Rechtslage vorbei. ({1}) Das muß sicher die Grundlage der Orientierung für die Ausschußberatungen sein, in denen wir uns mit diesem Thema befassen. Wenn im übrigen im SPD-Antrag mit einer Reihe von Spiegelstrichen ausdrücklich eingefordert wird, daß „folgende zentrale Punkte erhalten werden" müßten, dann geht das natürlich weit über das hinaus, was in der vorhin zutreffend zitierten EntschlieBung des Bundestages - ich glaube, aus dem Jahre 1994 - angesprochen worden ist, nämlich für die Zukunft den Besonderheiten der Montanindustrie Rechnung zu tragen. Ich will deshalb nur im Telegrammstil zu dem, was nach Auffassung der SPD-Fraktion auch in Zukunft erhalten werden müßte, Anmerkungen machen. Was den Beratenden Ausschuß für Kohle und Stahl angeht, ist zum einen darauf hinzuweisen, daß wir aus vielen guten Gründen nicht Branchenausschüsse für einzelne Industrien in Europa einrichten können und wollen. ({2}) Ich will darauf hinweisen, daß inzwischen ein eigener Wirtschafts- und Sozialausschuß in den Europäischen Verträgen verankert ist, der allgemeine Stellungnahmen zur EU-Politik abgibt und der sich selbstverständlich auch mit den besonderen Problemen dieser Branche beschäftigen kann. Was das Informationssystem betrifft, hat die Kommission auf Grund von Art. 213 des EG-Vertrages Möglichkeiten, die denen des EGKS-Vertrages durchaus entsprechen. Was besondere Absprachen und Zusammenschlüsse angeht, die nach dem EGKS-Vertrag möglich sind und nach Auffassung der SPD erhalten werden sollten, muß ich darauf hinweisen, daß Art. 85 des EG-Vertrages der Kommission die Möglichkeit gibt, im EG-Bereich Strukturkrisenkartelle zu genehmigen. Daraus ist längst eine gefestigte Praxis geworden, so daß auch insofern in den inzwischen - damals noch nicht - vorhandenen rechtlichen Rahmenbedingungen auch für die von Ihnen angesprochenen Sondersituationen Instrumentarien zur Verfügung stehen. Ein besonders sensibler Punkt ist das Subventionsverbot, das im Antrag der SPD-Fraktion noch einmal ausdrücklich angeführt wird. Dazu sage ich ganz leise: Wenn es je einen Vertrag gegeben hat, bei dem die tatsächliche Praxis sich in einer besonders deprimierenden Weise vom Wortlaut des Vertrages entfernt hat, dann ist es der EGKS-Vertrag. Denn nirgendwo ist ein Subventionsverbot verbal mit einem vergleichbaren Aufwand formuliert worden und hat sich die Praxis in einer so dramatischen Weise vom Wortlaut des Vertrages entfernt, wie es für die Montanindustrie aus manchen Gründen, die ich jetzt nicht polemisch kritisieren will, aber die ich doch feststellen muß, der Fall ist. Durch Festhalten an dieser Regelung die Behauptung einer bewährten Praxis zu erwarten, ginge an den Realitäten in einer nur noch schwer verständlichen Weise vorbei. Wir haben im übrigen im EG-Vertrag die ausdrückliche Vorschrift, daß Beihilfen - wenn überhaupt - nur mit besonderer Genehmigung möglich sind. Wir haben also ein striktes Beihilfeverbot, so daß das, was zu einem Zeitpunkt in den EGKS-Vertrag aufgenommen wurde, als es andere Gemeinschaftsverträge noch nicht gab, jetzt längst in den allgemeinen Verträgen der Europäischen Gemeinschaft sichergestellt ist. Für einen eigenständigen EGKS-Haushalt können wir keine Notwendigkeit erkennen. Ähnliches gilt für direkte Interventionsinstrumente. Die Möglichkeit, gegen Wettbewerbsverstöße vorzugehen, gibt es in den Verträgen der Europäischen Gemeinschaft. Keine Meinungsverschiedenheiten haben wir - das hat auch die Debatte deutlich gemacht - bei den Überlegungen, eine Montan-Forschungsstiftung zu errichten. Das ist im Grundsatz sowohl im politischen Bereich als auch im Bereich der Industrie und der Gewerkschaften unstreitig. Der Kollege Rachel hat schon darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung dem Rat einen solchen Vorschlag bereits förmlich zugeleitet hat. Konkrete Auskünfte der Kommission dazu liegen allerdings bisher trotz mehrfacher Aufforderungen noch nicht vor. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sicher auch in den parlamentarischen Beratungen weiter über die Schlußfolgerungen sprechen, die sich aus dem Auslaufen dieses Vertrages ergeben. Ich will aber keinen Zweifel an der Position der Bundesregierung lassen, daß dieser Vertrag tatsächlich auslaufen soll und daß wir keine Notwendigkeit erkennen können, ihn entweder zu verlängern oder, wie gerade geschildert, in seinen Kernelementen gesondert ins europäische Recht zu übernehmen. Über die sich daraus ergebenden Konsequenzen werden wir, wie in den vergangenen Monaten auch, im Gespräch mit den betroffenen Verbänden und Gewerkschaften bleiben. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Wir kommen an das Ende der Debatte. Es spricht noch der Kollege Rolf Hempelmann. ({0})

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine besondere Ehre, hier als Schlußredner einer solchen Debatte auf zutreten. Wir sprechen darüber, was mit dem EGKS-Vertrag geschehen soll. Ich kann mich nicht entsinnen, daß wir gesagt haben, wir wollten ihn verlängern. Ich glaube, wir haben beantragt, entscheidende Elemente in den Maastricht-II-Vertrag einzubinden. Das ist schon ein Unterschied, auf den ich Wert lege. Ich denke, Frau Hustedt, in unserem Antrag ist deutlich geworden, daß wir den Bereich Montan, sei es nun Stahl oder Kohle, nicht künstlich am Leben. erhalten wollen. Wir wollen durchaus vernünftige strukturverändernde Regelungen. Wir sind aber der Überzeugung, daß dies mit den Elementen aus dem Vertrag besser geht als ohne sie. ({0}) Die SPD hat als einzige Fraktion einen solchen Antrag vorgelegt. Wir haben auch schon in unserem Antrag zur Reform des Maastricht-Vertrages Stellung bezogen. Wir wollen im Zusammenhang mit Maastricht II wichtige Elemente in den Unionsvertrag einbeziehen, weil wir davon überzeugt sind, daß sie nicht nur aktuell, sondern auch zukunftsträchtig für den Montanbereich und damit für die deutsche Wirtschaft insgesamt sind. Mindestens ebenso aktuell ist das Thema hinsichtlich der Osterweiterung der Europäischen Union. Natürlich war ebenso wie in Deutschland bei den Beitrittskandidaten Polen und Tschechische oder Slowakische Republik die Bedeutung des Montanbereichs für die Volkswirtschaft einmal größer. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß diese Länder zu den 20 größten Montannationen weltweit und zu den sechs größten Montannationen in Europa gehören. Aktuell bleibt das Thema leider auch hinsichtlich der Schwierigkeiten, die bei so preissensiblen Produkten wie Kohle und Stahl auftauchen können. Mit dem EGKS-Vertrag haben wir ein bewährtes politisches Instrument, das weit über den EG-Vertrag hinausgehende Bestimmungen enthält, wie Kollege Weiermann ausführlich dargestellt hat. Wir sind der Auffassung - da gehen unsere Auffassungen auseinander -, daß das, was bisher im EG-Vertrag enthalten ist, weit hinter dem zurückbleibt, was der Montanunion-Vertrag anbietet. Ich denke, da werden wir weiter im Dialog bleiben müssen. Wir werden überprüfen müssen, inwieweit wir nicht doch am Vertrag Veränderungen vornehmen müssen, um das, was wir anscheinend alle wollen, jedenfalls die meisten von uns, auch zu erhalten. Es geht uns insbesondere um Instrumente, wie sie die Montanunion etwa im Falle von internationalen Absatzkrisen bereithält. Es geht um Strukturpolitik und Beihilfenkontrolle. Mehr noch - ich will einmal einen Blick zurück werfen, auch wenn Dr. Lammert gerade gesagt hat, Rückblicke in die 50er Jahre würden so viel nicht bringen -: Der Schuman-Plan von 1950, die Initialzündung zur Montanunion, betonte, daß es mit Europa auch darum gehe, die Erbfeinde Frankreich und Deutschland auszusöhnen. Vor einer ähnlichen Aussöhnung - das zeigen etwa die Besuche des Kanzlers - stehen jetzt im Zuge der Osterweiterung der ehemalige Westblock und der ehemalige Ostblock, steht vor allen Dingen Deutschland im Verhältnis zu Polen oder zur Tschechischen Republik. Das ist eine Verpflichtung, vor der wir nicht zuletzt im Hinblick auf den politisch sensiblen Bereich drohender Arbeitslosigkeit in den Beitrittsländern stehen. ({1}) Leider sind den großen Regierungsworten - wie üblich - dann doch keine Taten gefolgt; das gilt jedenfalls für den Erweiterungskanzler Kohl. Ihm ist die Osterweiterung zwar ein Herzensanliegen, allein es fehlt an Taten, konkret: an den notwendigen vorbereitenden Schritten. Das beherrscht der Kanzler professionell: Nicht-Politik als Politikstrategie - oder, wie es vielleicht Herr Rachel ausdrücken würde, die Dinge mit Elan auszusitzen. Ganz offenbar hat die Regierung kein wirkliches Interesse an den Inhalten des EGKS-Vertrages. Sie betont zwar, daß das Montanvermögen in eine Stiftung überführt werden soll; das wurde heute mehrfach bestätigt. Damit kein Mißverständnis aufkommt: Dies ist eine Stiftung, die dafür sorgt, daß die Gelder der Montanindustrie erhalten bleiben. Das ist hier Gott sei Dank auch noch einmal gesagt worden. Ansonsten aber scheinen Regierung und Koalition sehenden Auges auf das Absterben von EGKS und damit des Montanbereiches vorbereitet zu sein, mit allen strukturellen und arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen für uns in Deutschland, aber auch für Polen oder Tschechien. Das ist Taktik; das hat Methode. Ohne EGKS-Vertrag ist zum Beispiel die deutsche Kohlepolitik gefährdet; denn der EG-Vertrag gibt nach unserer Auffassung - wie gesagt - nichts Ausreichendes her. Kohlevernichtungspolitik ist mit uns jedenfalls nicht zu machen; ({2}) wir wollen ein konstruktives Einbeziehen der EGKSElemente in Maastricht II. Auch im Hinblick auf die Exportfähigkeit unserer Montantechnologie brauchen wir einen substantiellen und keinen Alibibergbau. Die Kommission jedenfalls hat das mit Blick auf die Montanunion immer akzeptiert. Ich komme zum Schluß. Das Desinteresse der Regierung am Montanbereich kann nur parteipolitisch erklärt werden: Kohle- und Stahlländer sind SPD-regiert. Offenbar setzt Kohl darauf, daß in einem Europa ohne Montanvertrag die Kohlehilfen irgendwann einmal mit der Mehrheit der Nichtkohleländer abgeschafft werden. Kohle als Chefsache heißt für Kohl demnach: Lippenbekenntnisse zum Erhalt eines substantiellen Kohlebergbaus bei gleichzeitiger Freigabe zum Abschuß nach Auslaufen des EGKS-Vertrages, nach dem Motto: Das war ich nicht; das hat uns Brüssel eingebrockt. Dazu sagen wir nur: Taktik erkannt, Taktik verbrannt. Dieses Schlupfloch werden wir Ihnen nicht lassen. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Paul K. Friedhoff von der F.D.P. hat seinen Debattenbeitrag mit Ihrer aller Zustimmung zu Protokoll gegeben *). Damit schließe ich die Aussprache. ({0}) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/3526 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. ({1}) - Ja, wir hier oben auch nicht. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, 11. Oktober 1996, 8 Uhr ein. Ich wünsche eine angenehme Unterbrechung. ({2}) Die Sitzung ist geschlossen.