Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/11/1996

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. 1. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({0}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesjagdgesetzes und des Waffengesetzes - Drucksache 13/5493 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1}) Innenausschuß Rechtsausschuß b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer - Drucksache 13/5504 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({2}) Sportausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Poß, Ingrid Matthäus-Maier, Ludwig Eich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 in Kraft setzen - Drucksache 13/5510 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({3}) Haushaltsausschuß Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Weiterhin ist vereinbart worden, die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs zum Schutz der Mieter von Geschäftsraum in den Ländern Berlin und Brandenburg - Tagesordnungspunkt 3 d - abzusetzen. Außerdem mache ich auf geänderte Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam. Der in der 113. Sitzung des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1996 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Entwurf eines Gesetzes der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Werner Dörflinger, Herbert Frankenhauser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({4}), Dr. Klaus Röhl, Lisa Peters, Horst Friedrich und der Fraktion der F.D.P. zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes - Drucksache 13/4949 Überweisung: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({5}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß Der in der 114. Sitzung des Deutschen Bundestages am 21. Juni 1996 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Peter Götz, Werner Dörflinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({6}), Dr. Klaus Röhl, Horst Friedrich und der Fraktion der F.D.P. Umsetzung der HABITAT II-Empfehlungen - Drucksache 13/4951 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({7}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Wir verfahren so. Wir setzen die Haushaltsberatungen - Tagesordnungspunkt 1 - fort: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1997 ({8}) - Drucksache 13/5200 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 1996 bis 2000 - Drucksache 13/5201 Ich erinnere daran, daß wir gestern für die heutige Aussprache insgesamt 8,5 Stunden beschlossen haben. Wir kommen zu den Geschäftsbereichen des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes und der Bundesministerien der Verteidigung sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das sind die Einzelpläne 04, 05, 14, 35 und 23. Es beginnt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herr Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor knapp zwei Jahren habe ich von dieser Stelle aus im Interesse des ganzen Landes dem Bundeskanzler eine glückliche Hand gewünscht - leider vergeblich. ({0}) Ich füge hinzu, Herr Bundeskanzler: Ein kluger Mann hätte nicht vor den Landtagswahlen im März dieses Jahres, sondern generell einige Gesprächsrunden mit den Gemeinden, den Ländern, den Arbeitgebern und Arbeitnehmern veranstaltet und dann gesagt: Wir müssen aus dieser eingefahrenen Routine und den alten Gleisen heraus. Dieses Land braucht einen neuen Aufbruch und Modernisierung. Es geht so nicht weiter. ({1}) Ein kluger Kanzler hätte zu Theo Waigel gesagt - ich glaube, die beiden Herren duzen sich -: Theo, - ({2}) - Das ist durchaus eine ganz sinnvolle Ergänzung. Wenn Sie nämlich beschlossen hätten, gemeinsam nach Lodz zu fahren, wäre vielleicht mehr herausgekommen als aus dieser buchhalterischen Fortschreibung alter Versäumnisse, die dieser Haushalt darstellt. ({3}) Sie hätten dem Finanzminister auch noch den Rat geben können: „Laß den Unsinn, immer die Opposition für unsere Versäumnisse verantwortlich zu machen" , wie das gestern der Fall war. ({4}) Denn dieses Land braucht eine Regierung der zielbewußten und sozial verantwortlichen Modernisierung. Es braucht keine Regierung der primitiven Beutelschneiderei. ({5}) Dieses Land braucht eine neue Perspektive, die mutig und realistisch ist und den einzelnen Schritten Sinn und Ziel gibt, eine nüchterne Bilanz und selbstkritische Korrekturen. Nichts davon enthält Ihre Politik, nichts davon enthält Ihr Haushalt. Das ist ein ödes Weiter-so, eine eingefahrene, wirtschaftlich gefährliche, sozial unverantwortliche Routine - mehr nicht. ({6}) Ein kluger Kanzler hätte gesagt: Der Glücksfall der Einheit, der Epochenbruch des Jahres 1989/90, das sind gemeinsame Herausforderungen, die wir im Wettbewerb mit anderen Nationen und die wir im eigenen Land bestehen müssen. Ein kluger Kanzler hätte die Gelegenheit dieser Haushaltsberatungen für einen Bericht zur Lage der Nation genutzt, mit der Überschrift „Wille zur Gerechtigkeit - Wege zum Fortschritt" . Alles das enthält Ihre Politik nicht. ({7}) Wenn solche Beratungen den Sinn haben, die Linie von Politik deutlich zu machen und nicht nur in den einzelnen Entscheidungen und der Debatte darüber zu verharren, dann will ich Ihnen ein Wort des Augustinus ins Gedächtnis rufen. ({8}) - Sie werden noch einige Male Gelegenheit haben, Ihre christliche Überzeugung dadurch zu beweisen, daß Sie den Männern und Frauen, die in diesem Geiste argumentieren, mit Hohnlachen entgegentreten, so wie eben! ({9}) Dieser kluge Mann hat vor 1 500 Jahren gesagt: Staaten, die der Gerechtigkeit entbehren, sind eine große Räuberbande. ({10}) Wenn Gerechtigkeit in der gleichen Würde jedes einzelnen Menschen wurzelt, dann verletzen Sie eine historische Erfahrung und eine Grundlage, die wir für die Zukunft unverzichtbar brauchen. Ihre Politik ist zutiefst ungerecht gegenüber den Menschen in Deutschland. ({11}) Vor wenigen Wochen hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz gesagt - ich bin gespannt, ob das Hohnlachen sich fortsetzt -: Was wir vor allem brauchen, ist eine gerechtere Lastenverteilung, die die gesamte SolidargeRudolf Scharping meinschaft umfaßt und dem unterschiedlichen Leistungsvermögen Rechnung trägt. Die Überforderung unserer sozialen Sicherungssysteme ist doch in erster Linie darauf zurückzuführen, daß den Beitragszahlern entgegen diesem Gebot der sozialen Gerechtigkeit zunächst sachfremde Aufgaben aufgebürdet wurden. Recht hat der Mann, und Sie sollten damit beginnen, endlich zu beherzigen, daß Gerechtigkeit für die Zukunft das tragende Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung zu sein hat. ({12}) Bischof Lehmann fährt fort: Soziale Leistungen sind kein Luxusgut, das man sich nur in besseren Zeiten leisten kann. Sie sind vielmehr ein Gebot sozialer Gerechtigkeit. Wie vereinbart sich mit diesem Anspruch die Politik einer Koalition, die, im Osten wie im Westen des Landes, gegenüber den Frauen und den Männern, gegenüber den Älteren und den Jüngeren, eine gerechte Perspektive nicht entwickelt? Mit Blick auf die F.D.P. habe ich manchmal den Verdacht, daß sie gar nicht mehr den Willen hat, eine gerechte Perspektive zu entwickeln. ({13}) In einer Predigt, von der ich weiß, daß sie dem Bundeskanzler viel Ärger gemacht hat, und zwar sichtbaren Ärger, hat der Präses der Rheinischen Landeskirche in der Ludwigskirche in Saarbrücken am 3. Oktober gesagt: Eine Gesellschaft, die sich weigert, den Anwälten der Schwachen Gehör zu schenken, verspielt ihre Zukunft. Ein Staat, der nicht in der Lage ist, die Schwachen vor den Ellenbogen der Starken zu schützen, verliert seine Würde. Gebt den Zynikern keine Chance. Zukunft kann gewonnen werden. Ich füge hinzu: Mit Ihrer Politik wird Zukunft verspielt, wird Zukunft gefährdet. ({14}) Sie geben den Anwälten der Schwachen kein Gehör mehr, sondern denunzieren sie sogar als diejenigen, die scheinbar an Besitzständen festhalten würden. Eine zynische Argumentation gegenüber den Wohlfahrtsverbänden und den Menschen, um die sich diese Wohlfahrtsverbände kümmern! ({15}) Das alles begründen Sie dann mit weltweiten Herausforderungen. Ich will darauf gleich noch eingehen. Sie weisen darauf hin, so sei das eben. Manche von Ihnen haben immer gerne Lord Dahrendorf zitiert. Er hat im September, in diesem Monat, ein hochinteressantes Gespräch geführt. Ich sage das mit Blick auf die F.D.P. Lord Dahrendorf erklärt: „Ich bin in den letzten Jahren ganz von allen Theorien abgekommen, die entweder einen Primat der Ökonomie oder einen Primat der Politik postulieren." Er sagt, daß wir uns um mehr soziale Kohäsion und Solidarität kümmern müssen, daß in anderen Ländern in einer gewissen Weise die Gesellschaft dem Wettbewerb geopfert worden sei, Gott sei Dank noch nicht - ich zitiere ihn: noch nicht! - unter Gefahr für die freiheitlichen Institutionen. Ich halte Ihnen das deshalb entgegen, weil Ihre Politik nicht nur das Gebot der Gerechtigkeit, nicht nur die Perspektive für die Zukunft verletzt und belastet, sondern weil sie auch weit hinter den internationalen Anforderungen und weit hinter den internationalen Diskussionen zurückbleibt. Ihre Debatte ist für die Zukunft gefährlich. Sie ist provinziell. ({16}) Dann begründen Sie alles das mit den Erfordernissen der deutschen Einheit. Es gibt einen klugen Mann, ({17}) der einmal gesagt hat: Als erste Maßnahme wird sich eine Währungsneuordnung, die Eingliederung in unser Währungssystem, als unerläßlich erweisen. Damit vollzieht sich zwangsläufig eine Anpassung des Preis- und Lohnniveaus an die in der Bundesrepublik herrschenden Verhältnisse. Mit diesem Prozeß - so fuhr er fort wird die wirtschaftliche Lage schonungslos offengelegt. Es kann kein Zweifel bestehen, daß das Resultat betrüblich, vielfach sogar niederschmetternd sein wird. Das heißt, daß wir mit einem starken Leistungsgefälle zwischen Ost und West rechnen müssen und daß sich daraus schwerwiegende Konsequenzen für die sozialen Verhältnisse der Bevölkerung ergeben werden. Das war Ludwig Erhard 1953. Er war damals schon schlauer als Helmut Kohl mit seinem gefährlichen wirtschaftlichen und sozialen Illusionismus und den Folgen, die wir heute dafür tragen müssen. ({18}) Denn Helmut Kohl hat damals im Deutschen Bundestag wortwörtlich in der Sitzung am 12. September gesagt: ({19}) - Warum lachen Sie über die Äußerung Ihres Kanzlers? Das verstehe ich überhaupt nicht. ({20}) Wann je wollen die Deutschen die Frage der Einheit auch wirtschaftlich meistern, wenn nicht jetzt, da wir von der wirtschaftlichen Dynamik der DDR alle profitieren . . ({21}) - Wissen Sie, ich bin der Meinung, es ist ganz vernünftig, die Politik dieser Regierung und der sie tragenden Koalition mit den eigenen Ansprüchen zu konfrontieren. ({22}) Sie haben die Menschen belogen. Sie haben Illusionen erzeugt. Jetzt gehen Sie zu denselben Menschen hin und sagen: Ihr seid selbst schuld. Das nenne ich eine zynische und für die Demokratie sogar gefährliche Argumentation, weil es dazu führt, daß Sie nicht Ihre Politik korrigieren, sondern die Opfer Ihrer Politik zu den Schuldigen erklären. Das ist unverantwortlich. ({23}) Ein kluger Kanzler hätte die deutsche Einheit und den Epochenbruch genutzt, um eine neue Perspektive zu entwickeln. Er hätte darauf geachtet, wie das Wertgefüge ist und was für eine soziale Ausgestaltung der Demokratie unverzichtbar ist. Von daher erhalten die aktuellen Debatten ihren eigentlichen Stellenwert. Man könnte über Einzelheiten Ihrer Entscheidungen sinnvoll streiten. Da sie aber in eine seit Jahren sichtbare Generallinie gehören, die nicht mehr Gerechtigkeit als Ausfluß der Würde jedes einzelnen Menschen und als gleichberechtigtes Prinzip betrachtet, und weil Sie unter schwierigen wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Verhältnissen auch nicht mehr in den Kategorien der gleichen Zumutbarkeit denken, wird Ihre Politik zu einer Gefahr für die Zukunft. ({24}) Sie versperren den Weg, Sie blockieren die Kräfte. Deutschland hätte die Kraft. Es hat verantwortungsbewußte Menschen; es hat kluge Ingenieure; es hat qualifizierte Arbeitnehmer; es hat genügend sozial verantwortliche Menschen. Sie blockieren diese Kraft. Sie werden zu unserem größten Hindernis auf einem fortschrittlichen, modernen Weg in die Zukunft. ({25}) Kürzung der Lohnfortzahlung, Aushöhlung des Kündigungsschutzes, die Heraufsetzung der Altersgrenze für den Rentenbezug bei Frauen - das alles ist, für sich genommen, schon ärgerlich und ungerecht, es ist aber zugleich die Fortsetzung einer Politik, die den sozialen Zusammenhalt unseres Landes immer stärker reduziert, immer stärker mindert und die kühlen Egoismus an die Stelle sozialen Zusammenhaltes setzt. Das ist auch gegen unsere ökonomischen Interessen. Denn wer das international vergleicht - und das tun Sie ja so gerne -, der wird feststellen, daß im Gefolge Ihrer Politik der Anteil der Arbeitnehmer am gemeinsam Erwirtschafteten immer weiter abgefallen ist, jetzt schon deutlich unter das Niveau Großbritanniens, Japans oder der USA. Er wird feststellen, daß bei aller Notwendigkeit der Unternehmensgewinne, der Investitionen usw. eine Wirtschaft ohne Kaufkraft nicht funktionieren kann. ({26}) Er wird feststellen, daß wir in Deutschland mit den Familien schlechter umgehen als fast alle europäischen Länder, ja sogar schlechter als Mexiko. ({27}) Ja, das ist die Wahrheit, selbst wenn Sie es nicht zur Kenntnis nehmen wollen: Ein verheirateter Industriearbeiter mit zwei Kindern hat in Deutschland nach den Abzügen weniger als sein Kollege in fast allen europäischen Ländern. Sie haben die Familien zum Lastesel der Nation gemacht, Sie haben Sonntagsreden gehalten und sechs Tage in der Woche gegen Ihre eigenen Prinzipien gehandelt. ({28}) Wenn Sie schon so gerne international vergleichen, dann sage ich: Bitte vollständig! Dann fragen Sie sich doch einmal - und die Antwort liegt auf der Hand -, warum in Deutschland das wirtschaftliche Wachstum so schwach ist, warum die Erwerbsquote in Deutschland zurückgeht und die Arbeitslosigkeit steigt, warum wir, anders als alle unsere Wettbewerber, das bescheidene wirtschaftliche Wachstum kaum noch mit einem Wachstum der Beschäftigung verbinden. Eine Politik, die mit zukunftsweisendem Realismus an diese Herausforderung ginge, eine Politik, Herr Bundeskanzler, die den Menschen Mut machte, statt den Mißmut zu fördern, eine solche Politik würde die globalen Herausforderungen als Chance zu neuer Gestaltung annehmen und sie nicht zum Vorwand für gesellschaftliche Konfrontation im eigenen Land mißbrauchen. Eine solche Politik würde Stärken ausbauen und Schwächen beseitigen; sie würde dafür sorgen, daß Deutschland im globalen Wettbewerb ein festes, ein wetterfestes, ein stabiles Haus auf dem gemeinsamen europäischen Kontinent bleibt. Eine solche Politik würde Globalisierung, die ja stattfindet und gegen die Opposition zu machen überhaupt keinen Sinn hat, nicht als Falle, nicht als Angriff auf Wohlstand und Gefahr für die Demokratie verstehen, sondern sie würde auf internationale Kooperation setzen und dafür sorgen, daß von Deutschland entsprechende Signale kommen. Sie, Herr Bundeskanzler, Sie ganz persönlich haben im Juli 1994 bei dem Weltwirtschaftsgipfel einen Vorstoß unserer amerikanischen Freunde, die dabei übrigens von den Franzosen unterstützt wurden, zuRudolf Scharping rückgewiesen. Sie haben es abgelehnt, in den Welthandelsabkommen soziale und ökologische Mindeststandards zu vereinbaren. Sie haben das abgelehnt. ({29}) In anderen Ländern ist die Bereitschaft dazu da, und ich möchte wissen, wie die Bundesrepublik Deutschland jetzt in die neue Runde über die Welthandelsabkommen gehen will. In Rio große Reden schwingen, auf der Folgekonferenz in Berlin große Reden halten und dann nicht die Chance wahrnehmen, gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten soziale und ökologische Mindeststandards zu vereinbaren und damit eine Möglichkeit der Kooperation zu nutzen, das ist unverantwortliche Politik. ({30}) Ein Kanzler mit einem zukunftsweisenden Realismus würde Deutschland fest in Europa verankern. Ich bestreite Ihnen Ihr aus meiner Sicht außerordentlich glaubwürdiges europäisches Engagement nicht. Aber, Herr Bundeskanzler, ich füge hinzu: Auch wenn das so ist, glauben Sie denn im Ernst, daß ein Europa, das nur für die Stabilität des Geldes, der Aktienkurse und der Währungen, nicht jedoch für die Stabilität der sozialen Beziehungen und der Beschäftigung zuständig ist, funktionieren kann und von den Menschen akzeptiert wird? Ich glaube es nicht. Solange Sie nicht anfangen, jedesmal offensiv zu widersprechen, wenn eine Entlassung in einem großen Industrieunternehmen zugleich zu einer Siegesfanfare an der Börse gemacht wird, ({31}) verletzen Sie die wirtschaftlichen Zukunftserfordernisse und den Anspruch Ihrer eigenen Politik. ({32}) Sie waren es, Herr Bundeskanzler, der in Florenz alle Initiativen zu einer gemeinsamen europäischen Beschäftigungspolitik blockiert hat. Ich kann nur warnen: Verwechseln Sie nicht permanent das Ansehen, das Deutschland genießt, und den Respekt wegen seines großen wirtschaftlichen und politischen Gewichts mit persönlicher Wertschätzung. Manches ist auch der Tatsache geschuldet, daß dieses Land gebraucht wird. Viele beklagen, daß dieses Land unter Ihrer Führung nicht das Notwendige, nicht das Mögliche tut, um in Europa die Stabilität der Währung und des Geldes mit der Stabilität der sozialen Beziehungen zu verknüpfen und Beschäftigungspolitik zu betreiben. ({33}) Auch dadurch erhalten die aktuellen Entwicklungen ihren langfristigen Ort. Viele warnen vor den Gefahren; manche machen Gestaltungsvorschläge. Aber in Deutschland sinkt die Erwerbsquote, und die Arbeitslosigkeit steigt. Das Wachstum bleibt bescheiden, folglich das Wachstum bei den Arbeitsplätzen ebenso; es findet überhaupt nicht mehr statt. Die Lohnquote in Deutschland ist dramatisch niedrig. Die Lohnstückkosten sind in Deutschland deshalb gestiegen, weil Sie aus der deutschen Einheit die finanziell und finanzpolitisch . falschen Schlüsse gezogen haben, mit dem Ergebnis, daß die D-Mark heute überbewertet ist und Arbeitsplätze ausgelagert werden. Das ist nicht eine Frage der Schwäche des Standorts oder der Unwilligkeit der Arbeitnehmer, sondern die ganz normale Folge der Markterschließung und der Tatsache, daß mit der Aufwertungsdynamik der D-Mark als Folge Ihrer Politik automatisch eine schwere Beschädigung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbunden ist. ({34}) Ich plädiere für das europäische Haus auch deshalb, weil es dabei nicht nur um betriebswirtschaftliche oder Konkurrenzerfordernisse geht, sondern weil zivilisatorische Modelle miteinander ringen. Wohlstand und soziale Sicherheit, Individualität und gegenseitige Verantwortung, Freiheit und gemeinsame Rücksichtnahme - das neu zu verbinden und stärker zu befestigen ist die Aufgabe deutscher Politik. Sie werden dieser Aufgabe nicht gerecht. ({35}) Ein weitsichtiger Kanzler würde helfen, daß es verläßliche Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Modernisierung gibt. Wir brauchen eine Regierung, die den Menschen Mut macht und verläßliche Rahmenbedingungen zur Modernisierung in Deutschland setzt, anstatt immer neue Gefahren für den sozialen Frieden heraufzubeschwören. ({36}) Wir brauchen eine Regierung, die endlich mit diesem würgenden und entwürdigenden Wettlauf um Ausbildungsplätze in jedem Jahr Schluß macht. Es ist eine Schande für ein reiches Industrieland, daß Regierung und Arbeitgeber immer nur mit Worten allerlei beschwören, anstatt endlich dafür zu sorgen, daß in den nächsten Jahren jeder junge Mensch garantiert einen Ausbildungsplatz erhält. Das brauchen wir für die Zukunft. ({37}) Ein weitsichtiger Kanzler hätte nicht diese Appelle, diese symbolischen Gesten - du, du, du; ich nehme euch nicht mehr im Flugzeug mit! - verwendet. Man macht sich doch als Kanzler einer reichen Industrienation lächerlich, wenn man nur solche symbolischen Gesten anwendet, anstatt dafür zu sorgen, daß im Handwerk und im Mittelstand die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Ausbildung gestärkt werden und daß die anderen, die sich heraushalten, wenigstens an der Finanzierung der Ausbildung beteiligt werden. Sie machen die Politik lächerlich, wenn Sie so fortfahren. ({38}) Diese Politik führt uns nicht in eine wirtschaftlich moderne Zukunft. Sie gefährdet eines der größten Potentiale, das Deutschland hat: die Qualifikation seiner Menschen, ihre Phantasie, ihr Verantwortungsbewußtsein. Das ist nicht ein quantitatives Problem nach dem Motto: Wir haben es mit Hängen und Würgen geschafft, jetzt auf nur noch 20 000 oder 50 000 zu kommen. - Es ist ja schon schlimm genug, wenn gesagt wird: Es sind „nur noch" 20 000 oder 50 000. - Nein, eine verantwortungsbewußte und weitsichtige Politik würde sagen: Es muß von vornherein in die Energie und in die Ausbildung der jungen Leute selbst investiert werden und nicht in den Wettlauf um einen Ausbildungsplatz. ({39}) Eine verantwortungsbewußte und weitsichtige Politik würde zur Kenntnis nehmen, daß Deutschland noch nie so viele gut ausgebildete Frauen hatte wie heute. Sie würde ihnen eine Chance geben. Sie würde dafür sorgen, daß Gleichberechtigung nicht nur als Postulat im Grundgesetz steht, sondern in der wirtschaftlichen Alltagsrealität erfahren wird. Ein weitsichtiger Kanzler würde neue Technologien, Forschung und Entwicklung voranbringen und nicht einfach zusehen, wie sein Zukunftsminister - wie er sich manchmal so stolz nennen läßt - wunderschöne Reden hält ({40}) und gleichzeitig sein Finanzminister alles reduziert, was für die Zukunft Deutschlands auf innovatorischem Gebiet notwendig ist. ({41}) In Japan sitzen die Verantwortlichen zusammen und machen eine gemeinsame Perspektive: Japan nach 2000. In den USA sitzen sie mit den Unternehmen und mit vielen anderen zusammen und fragen: Wie sieht zivile Verantwortung, wie sieht Solidarität in einer globalen Wettbewerbsgesellschaft aus? Japan und die USA diskutieren solche Fragen, mittlerweile sogar auch Großbritannien. Wer gelesen hat, was gestern und heute in den französischen Zeitungen über die Folgen der deutschen Wirtschafts- und Währungspolitik für den europäischen Zusammenhalt steht, wird nachdenklich werden und hinzufügen: Man kann im globalen Wettbewerb nicht bestehen, wenn man innovatorisch und technologisch eine Provinz bleibt. Und Sie machen Deutschland auf diesem Gebiet zu einer Provinz. ({42}) Der Bundespräsident sagt zu Recht: Die Zukunftsfähigkeit entsteht im Kopf. Herr Rüttgers sagt übrigens auch zu Recht: Wir stehen am Beginn eines Zeitalters des Wissens. ({43}) Sogar der Bundeskanzler sagt, daß Forschung, Technologie und Innovation immer mehr zu den entscheidenden Quellen für Wachstum und Arbeitsplätze von morgen werden. Ja, wenn das alles stimmt: Wie können Sie dann verantworten, daß Ihre Politik nicht der Modernisierung dient, sondern daß auf den wichtigsten Zukunftsfeldern zusammengestrichen wird? Wie wollen Sie das verantworten? ({44}) Ein weitsichtiger Kanzler würde die soziale und ökologische Modernisierung unseres Landes zum Leitbild der Entwicklung machen und sie nicht verkommen lassen zu einem Abfallprodukt betriebswirtschaftlicher Kalkulation. ({45}) Sie machen weder die soziale noch die ökologische Erneuerung unseres Landes zum Leitbild für die Zukunft. Sie suggerieren, daß man unter dem Druck des weltweiten Wettbewerbs Wohlstand und soziale Sicherheit, Individualität und gegenseitige Verantwortung, Freiheit und gemeinsame Rücksichtnahme nicht mehr miteinander verknüpfen könnte. Sie suggerieren, daß wir den Sozialstaat abbauen müßten. Aber tatsächlich ist es doch so, daß Ihre Unfähigkeit bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Wurzel allen Übels ist. ({46}) Sie suggerieren, wir müßten billiger werden als die anderen, obwohl jeder weiß, daß wir besser bleiben müssen als die anderen. Noch sind wir wettbewerbsfähig. Für die Zukunft muß jedoch einiges getan werden. Dieser Haushalt aber, diese Politik, das, was Sie in den letzten Jahren gemacht haben, führt nur zu dem, was jüngst der „Spiegel" ausführlich beschrieben hat: Wir verlieren die Köpfe. Junge, risikobereite Menschen gehen ins Ausland. Allerdings werden wir weder die soziale noch die ökologische Modernisierung unseres Landes schaffen, wenn sich dieser Trend fortsetzt. Wir sind auf diese Qualität der Köpfe angewiesen, und es ist ein bedenkliches Zeichen, daß immer mehr ins Ausland gehen. ({47}) Deshalb würde ein mutiger Kanzler Recht und Ordnung auch in der Wirtschaft durchsetzen und nicht suggerieren: Immer weniger, immer weiter runter mit den sozialen Standards, immer mehr Vernachlässigung von diesem und jenem, insbesondere der ökologischen Modernisierung. Er würde, Herr Bundeskanzler, vielmehr sagen: Recht und Ordnung gelRudolf Scharping ten auch in der Wirtschaft. Wer Menschen ausbeutet - und nichts anderes sind die 590-Mark-Jobs -, ({48}) darf davon keinen Wettbewerbsvorteil haben! ({49}) Ich bin mal sehr gespannt, ob sich die Koalition wenigstens darauf verständigt, jenen einen Beitrag zur Rentenversicherung abzuverlangen, die eine normale Tätigkeit haben und gleichzeitig nebenbei noch einen solchen Job ausüben. Ein mutiger Kanzler würde Recht und Ordnung auch durchsetzen beim Entsendegesetz, bei illegaler Beschäftigung, er würde es durchsetzen in der Arbeitswelt, in der Wirtschaft und gegenüber der wachsenden Bedrohung durch organisierte Kriminalität. Ein modernes Land muß auch die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger ganz ernst nehmen. Sie ist eine Parallele, die Wechselseite der Medaille zur Freiheit. ({50}) Aber das, was Sie uns vorgelegt haben zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, was Sie uns vorgelegt haben zur Korruption - erinnern Sie sich an die ganzen Debatten über Geldwäsche usw. -, ist alles halbherzig; es ist alles unbrauchbar, was Sie gemacht haben. Das Wachstum der Korruption und der organisierten Kriminalität bestätigt, daß Sie die Sicherheitserfordernisse der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr so ernst nehmen, wie es einem demokratischen Rechtsstaat gebührt. ({51}) Ein mutiger Kanzler würde sagen: Es geht so nicht weiter. Man kann Steuerhinterziehung nicht als ein Kavaliersdelikt behandeln, schon deshalb nicht, weil damit die demokratischen Institutionen geschädigt werden, vom Verfall der öffentlichen Moral gar nicht zu reden. Ein Staat, der einem Steuerschuldner, Steuerhinterzieher und Steuerflüchtling zweistellige Millionenbeträge erläßt - das ist ja in Deutschland geschehen -, ({52}) und die Politikerinnen und Politiker, die das verantworten, verlieren jedes moralische Recht, jede Glaubwürdigkeit, wenn sie bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das abkassieren wollen, was sie anderen hinterherwerfen. Es ist obszön, was Sie mit den Familien und dem Kindergeld im Verhältnis zur Vermögensteuer treiben. ({53}) Wir plädieren für Entlastung, für Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von Unsicherheiten, für Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von Bedrohungen im Alltag, für Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von immer neuen sozialen Ungewißheiten, für Entlastung von Steuern, Entlastung von Bürokratie. Diese Debatte findet an einem Tag statt, an dem ein sogenannter Sozialexperte ankündigt, ja, da müsse halt in der Arbeitsmarktpolitik, da müsse da und dort eben weiter reduziert werden. - Könnten Sie denn nicht einmal auf die Idee kommen, daß Gemeinsinn und Gemeinwohl einen höheren Stellenwert haben als Egoismus? Muß eine sich christdemokratisch nennende Politik immer stärker den kühlen, nackten Egoismus, der sich vielerlei Rücksichtslosigkeiten ergibt, fördern, anstatt zur Schaffung von Gemeinsinn und Gemeinwohl einen fairen Lastenausgleich zu entwickeln? Müssen Sie sich dem Diktat der F.D.P. beugen, die nach der Methode handelt: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht? Müssen Sie sich dem wirklich beugen? ({54}) Offenkundig müssen Sie das ja; offenkundig wird das bei Ihnen zum Teil auch noch richtiggehend überhöht. Ich habe mit großem Erstaunen - nicht im Sinne einer Überraschung, sondern einer Bestätigung für einen kaltherzigen Kurs - gelesen, was der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU jüngst im „Focus" gesagt hat: Bei den unteren Einkommensschichten sei alles gemacht; da gebe es überhaupt keinen Spielraum mehr. Das heißt doch auf gut deutsch: Die Entlastung muß woanders ansetzen. Wir sagen: Die Entlastung muß bei denen ansetzen, die mit ihrer Leistung, mit ihrer alltäglichen Arbeit, mit ihren Chancen und Möglichkeiten, mit ihrem Verantwortungsbewußtsein und ihrem Können als Arbeitnehmer, als Ingenieure, als Handwerker das Land am Laufen halten. Für sie muß Entlastung her, damit sich Arbeit und der Einsatz für unsere Zukunft lohnen. ({55}) Das ist der Grund, weshalb wir für eine Senkung der Lohnnebenkosten plädieren. Sie haben, systemwidrig und unvernünftig, die Finanzierung der deutschen Einheit zu einem ganz, ganz großen Teil in die Sozialversicherung verbannt. Jetzt versuchen Sie, den Menschen einzureden, der Sozialstaat sei zu teuer. Dazu sage ich: Nein, uns kommt Ihre Unfähigkeit zu teuer, nicht nur die, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, sondern auch die, zu einer fairen Finanzierung des gemeinsamen Aufbaus in Deutschland beizutragen. ({56}) Das ist der Grund, weshalb wir für eine Entlastung bei den Arbeitseinkommen plädieren; das ist der Grund, weshalb die Lohnnebenkosten herunter müssen, und das ist der Grund für uns, einen fairen Lastenausgleich anzumahnen. Mittlerweile schreibt ja sogar die Zeitschrift „Capital" ausdrücklich: Es fehlt das Geld; der Konsum geht zurück, weil die Nettolöhne sinken. Inzwischen hat es- sich bis dort herumgesprochen; das ist gut so. Bei Ihnen hat es sich allerdings noch nicht herumgesprochen. Ich bin ganz sicher, es wird auch schwer werden, Ihnen klarzumachen, was jeder in der Bevölkerung sofort versteht: Deutschland, das Land unter den Industriestaaten, das seine Arbeitsplätze, über die Arbeitnehmer und ihre Einkommen genauso wie über die Arbeitgeber und ihre Gewinne und Beiträge am stärksten belastet und seine Vermögen am geringsten, handelte schier widersinnig, wenn es in dieser Situation auch noch die Vermögensteuer abschaffen wollte. Das wäre ein schierer Widersinn. ({57}) Ein einziges Mal will ich mit einer Zahl argumentieren. Würden die Vermögen in Deutschland so besteuert wie in jenem Land, das man das Mutterland des Kapitalismus nennt, nämlich wie in den USA, dann hätten wir 50 Milliarden DM mehr in der öffentlichen Kasse. Die SPD allerdings sagt: Wir wollen diese 50 Milliarden DM nicht behalten; der Druck in Hinsicht auf Haushaltskonsolidierung und Ausgabendisziplin muß erhalten bleiben. Also, laßt uns einmal überlegen, ob wir nicht wie die Schweden, die Amerikaner, die Briten und andere den Beziehern besonders hoher Einkommen - nicht im Sinne von Neid, sondern im Sinne jener Aufforderung, die John F. Kennedy einmal so formuliert hat: Fragt nicht immer, was das Land für euch tun kann; tut etwas für das Land - einen solidarischen Beitrag abverlangen, so daß wir dann den Solidaritätszuschlag abschaffen und die Lohnnebenkosten senken können, damit Arbeitsplätze entstehen. Alle haben einen Vorteil davon, alle. ({58}) Sie sind zu einem fairen Lastenausgleich nicht in der Lage. Manche von Ihnen können nicht; manche von Ihnen wollen nicht. Die Leidtragenden sind die Bürgerinnen und Bürger, aber auch die Gemeinden, der Ort, an dem Demokratie am unmittelbarsten erfahren wird, an dem die Gestaltung des Alltagslebens stattfindet, an dem der kulturelle Reichtum unseres Landes gepflegt oder beschnitten wird, je nach Situation. Die Leidtragenden sind die Menschen im Osten Deutschlands, sind die Schwächeren in Deutschland. Ein Land aber, in dem es einen fairen Lastenausgleich gibt, würde, Herr Bundeskanzler, dafür sorgen, daß mehr Perspektive, mehr Hilfe, mehr Mut entstehen. Es ist hochinteressant zu sehen: In Amerika gibt es, angestoßen von klugen Leuten, in den Unternehmen und in der Öffentlichkeit seit langem eine Diskussion über die gegenseitige Verantwortung. Die große Mehrzahl der amerikanischen Unternehmer sagt mittlerweile: Wir haben eine Verantwortung für die Produkte, ihre Qualität, die Gewinne, die Erträge; wir haben aber auch eine Verantwortung für die Arbeitsplätze und für die soziale Stabilität. In den USA gibt es eine Diskussion über den Kommunitarismus, gegenseitige Verantwortung. Sogar in Großbritannien gibt es sie mittlerweile, während Sie hier jeden Versuch, gemeinsame Verantwortung einzuklagen, denunzieren. Sie sind unfähig, die Teilhabegesellschaft zu verwirklichen, ({59}) die Teilhabegesellschaft, die nicht nur auf den Ertrag des investierten Geldes schaut, sondern auch auf den Ertrag des investierten Könnens, der investierten Leistung, der investierten Arbeit, die Teilhabegesellschaft, die Eliten fördert, aber auch fordert, Arbeitnehmer am Produktivkapital beteiligt, Gleichberechtigung ernst nimmt, den Schwachen hilft. Das wäre eine Politik, die Deutschland zur Zeit vermißt, eine Politik, die der Demokratie inneren, nämlich sozialen, Halt geben würde, eine Politik, die Jüngeren Mut machen würde, Engagement und Begeisterung wecken könnte, weil sie eine Perspektive für die Zukunft eröffnen würde, eine Politik, die Gerechtigkeit verwirklichen könnte, anstatt das Ringen um Gerechtigkeit abzutun mit dem Hinweis darauf, das gehe betriebswirtschaftlich nun mal nicht mehr. Meine Damen und Herren, ich weiß, manchmal kommt man in die Gefahr, sich wie Sisyphos zu bewegen, jener Mann, den Homer den Klügsten unter den Menschen genannt hat, keinen Philosophen, aber auch keinen Trickser. Man erzählt sich, daß es Sisyphos gelungen sei, den Tod zu fesseln, daß dieser sich aber befreit habe. Sisyphos habe ihn ein zweites Mal fesseln können - unter der Bedingung, daß er, von Zeus auferlegt, den Stein immer den Berg habe hinaufrollen müssen. ({60}) Nur dann sei Frieden zwischen den Menschen und zwischen den Völkern zu sichern. Mag sein, daß angesichts der Sturheit, die sich als Prinzipientreue tarnt und angesichts der Ignoranz Ihrer Politik das Anargumentieren gegen Ihre Politik und für eine bessere Perspektive unseres Landes manchmal den Charakter einer Sisyphosarbeit annimmt. Aber, Herr Bundeskanzler, anstatt mit einer in Teilen ja verständlichen, selbstzufriedenen Attitüde dem Tag entgegenzusehen, an dem Sie Konrad Adenauer in bezug auf die Amtsdauer als Bundeskanzler überholen, sollten Sie den Lebensstandort Deutschland wieder ernster nehmen: ({61}) für die Arbeitnehmer und die Arbeitslosen, für die abhängig Beschäftigten und für die Selbständigen, für die Frauen und für die Männer, für die Ostdeutschen und für die Westdeutschen, für die Jungen und für die Alten. Deutschland braucht eine mutige, realistische Politik, zielbewußt und leidenschaftlich. ({62}) Alles das ist Ihre Politik nicht mehr. Wir aber werden so sein: mutig, realistisch, zielbewußt und leidenschaftlich. ({63}) So sind wir als Opposition, und so wollen wir auch nach 1998 Deutschland regieren. ({64})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Wolfgang Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scharping, ich bin nicht in Mexiko gewesen. Ich weiß nicht, ob Sie in Mexiko waren. Ich jedenfalls glaube nicht, daß es den Familien in Mexiko besser geht als denen in Deutschland. Das glaube ich nicht. ({0}) Sie haben heute morgen viele bedeutende Menschen der Geschichte und der Gegenwart zitiert. Sie haben sich gelegentlich über die Reaktion meiner Kollegen auf solche Zitate echauffiert. Ich finde, das Zitieren von Persönlichkeiten ist gegenüber demjenigen, der zitiert wird, häufig eine unfaire Geschichte. Sie haben Bischof Lehmann aus seiner Rede auf dem Sozialgipfel des Deutschen Gewerkschaftsbundes zitiert. Ich möchte Ihnen gern zwei Sätze vorlesen, die ebenfalls in dieser Rede enthalten sind. Wenn man richtig zitieren wollte, müßte man das Ganze zitieren. ({1}) - Verzeihen Sie. Ich will auf die Fragwürdigkeit der Methode aufmerksam machen ({2}) - ja, natürlich - und denjenigen, der von Ihnen zu Unrecht für eine einseitige Position in Anspruch genommen wird, in Schutz nehmen. Deswegen muß es zitiert werden. ({3}) Ich zitiere aus der korrigierten Fassung der Rede von Bischof Lehmann vom 9. Mai 1996. Da steht zum Beispiel auf Seite 4: Bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen muß man mitunter den Eindruck gewinnen, der Sozialstaat sei eine unaufhörlich sprudelnde Quelle, die in unserer Gesellschaft jeden Besitzstand gewährleistet und für alle alle Wohltaten freihält. Auch bei Ihrer Rede konnte man diesen Eindruck gewinnen. ({4}) Auf Seite 5 dieser Rede heißt es: Die wirtschaftliche und auch absehbare demographische Entwicklung, der hohe Stand der Arbeitslosigkeit, die angespannte Haushalts- und Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte einschließlich der Situation der Sozialversicherungsträger machen weitere einschneidende Einsparungen und die Überprüfung sowohl der Einnahmemöglichkeiten als auch der Ausgaben des Sozialstaats unabweisbar. Soweit Bischof Lehmann in der von Ihnen zitierten Rede. ({5}) Das zeigt doch, daß Sie diesen Mann in einer völlig einseitigen Weise zu Unrecht in Anspruch genommen haben. ({6}) - Jetzt lassen Sie mich doch erst einmal anfangen, Frau Matthäus-Maier. Das braucht ja seine Zeit. ({7}) Ich habe mir bei Ihrer Rede immer überlegt, Herr Kollege Scharping: Worin unterscheiden wir uns? ({8}) Denn ich will versuchen, auf den Kern zu kommen. Sie haben ein Bild von unserem Land und von den Problemen gezeichnet, in dem ich mich nicht wiederfinde. Vielleicht sind Sie dabei doch mehr in Mexiko gewesen. Sie haben davon gesprochen, der Bundeskanzler blockiere weltweit die sozialen und ökologischen Mindeststandards. Ich glaube, wir sind in sozialer wie in ökologischer Hinsicht weltweit eher vorbildlich als an der unteren Grenze. ({9}) Sie haben davon gesprochen, der Bundeskanzler blockiere in der Europäischen Union die Stabilität der sozialen Beziehungen. Aber selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund kommt Jahr für Jahr zu

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Bitte setzen Sie in Europa die soziale Dimension durch; das kann keiner besser als Sie. Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund vertraut also darauf, daß unser weit überdurchschnittliches Niveau sozialer Sicherheit und sozialer Stabilität in Europa möglichst gesichert wird. ({0}) Sie sprechen von Dingen, in denen ich die Wirklichkeit unseres Landes und auch die wirklichen Probleme, die wir haben, nicht erkennen konnte. Ich habe mir überlegt: Woran mag es liegen, daß wir zu so unterschiedlicher Betrachtung kommen? Vielleicht liegt es daran, daß Sie zu sehr auf öffentliche Systeme vertrauen, daß Sie Gerechtigkeit mit einem möglichst hohen Anteil an Staatsquote, an Steuern und Sozialabgaben gleichsetzen. Vielleicht kommen Sie deswegen zu dem Satz - von dem ich glaube, daß er falsch ist -, ein Mangel an Gerechtigkeit blockiere die Kräfte in unserem Lande. Ich meine vielmehr, daß ein Übermaß an Bürokratie, ein zu breit gewordener öffentlicher Korridor, zu hohe Steuern und Abgaben die Kräfte der Kreativität in unserem Lande blockieren. ({1}) Ich hätte Bischof Lehmann nicht zitiert, wenn Sie ihn nicht in die Debatte eingeführt hätten, weil auch ich ihn nicht einseitig in Anspruch nehmen will. ({2}) - Verzeihen Sie, die ist mir während der Rede von Herrn Scharping von Mitarbeitern zugeschickt worden; so funktioniert es in unserer Fraktion. ({3}) Angesichts dessen, was notwendig ist, geht es im übrigen nicht darum, die Menschen in unserem Land mit Begriffen wie „Opfer" oder „Schuldige" zu bezeichnen; das tut kein Mensch. Es geht vielmehr darum - das ist auch der Auftrag dieser Debatte, und das erwarten die Menschen in unserem Lande von uns -, daß wir uns mit den Sorgen auseinandersetzen und Antworten auf die Fragen geben, die die Menschen haben: Wie geht es weiter? Was bringt die Zukunft? Die Menschen spüren, es verändert sich viel. Wenn ich es richtig sehe, sind es im wesentlichen zwei Entwicklungen, die den Menschen Sorge und Angst vor der Zukunft machen. Es ist nicht so, daß es den Menschen heute schlecht geht; das ist ein Zerrbild. Es geht uns gut. Die Frage lautet: Wie können wir dieses Maß an Wohlstand und sozialer Sicherheit zukunftsfest machen und auch in der Zukunft bewahren? Was die Menschen ängstigt, sind Auswirkungen einer technischen Entwicklung, der Rationalisierung und technologischen Revolution, die dazu führen, daß mit immer weniger Arbeitskräften immer mehr produziert wird und daß wir in der industriellen Produktion selbst bei wirtschaftlichem Wachstum nicht mehr so viele Arbeitsplätze haben. Die andere Entwicklung ist, daß der Wettbewerb um Investitionen, Arbeitsplätze, Wohlstand und soziale Sicherheit in der Welt härter geworden ist, daß Entfernungen nicht mehr groß sind, Grenzen nicht mehr trennen, daß die Welt enger zusammenrückt. Das Ganze nennt man Globalisierung. Wie wir mit diesen Auswirkungen fertig werden, das ist die eigentliche Frage. Auf diese Frage müssen wir Antworten schaffen. Die Menschen sind sehr viel weiter, als Sie in Ihrer Rede zugrunde gelegt haben. In einer deutschen Tageszeitung kann man heute die Untersuchung des Instituts in Allensbach, Frau Köcher, lesen. Es ist hochinteressant, daß während der Wochen verständlicher Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit und Richtigkeit auch von Ausgabenbegrenzungen die Zustimmung zu einer solchen Politik in der Bevölkerung dramatisch gewachsen ist. Frau Köcher schreibt: Doch während sie - die Mehrheit die Proteste begrüßt, orientiert sich die große Mehrheit der Bevölkerung bereits in eine andere Richtung. Die Demonstrationen sind ein Ventil, dem Unbehagen über unpopuläre Maßnahmen Ausdruck zu verleihen. Als Indiz dafür, daß die Bevölkerung Front gegen die angekündigten Maßnahmen macht, taugen sie wenig. Je mehr sich die Kontroverse zuspitzt, desto mehr wächst in der Bevölkerung die Überzeugung, daß die angekündigten Sparmaßnahmen notwendig sind. Im Frühsommer waren davon 44 Prozent überzeugt, Ende August bereits 64 Prozent. Die Menschen sind viel weiter, Herr Kollege Scharping, als Sie in Ihrer Rede zugrunde gelegt haben. ({4}) Es nützt doch nichts, Ängste zu schüren angesichts dieser Entwicklungen, die besorgniserregend genug sind: die technische Revolution genauso wie die Globalisierung. Aber was schon gar nichts nützt, Herr Ministerpräsident Lafontaine, ist, zu sagen: Der Standortwettbewerb ist keine Lösung. Wir können aus diesem Wettbewerb nicht aussteigen. Es wäre schön; aber es hilft nichts. ({5}) - Sie haben einen ganzen Aufsatz unter dieser Überschrift geschrieben; das ist die Überschrift Ihres Aufsatzes. Dafür sind Sie ja wohl selber verantwortlich, wenn Sie einen solchen Aufsatz veröffentlichen. Sie haben diesen Aufsatz unter der Überschrift „Der Standortwettbewerb ist keine Lösung" veröffentlicht. Wir haben ihn alle gelesen. ({6}) Im übrigen ist das der Duktus Ihrer Argumentation. Wenn man ein wenig genauer prüft, was dahintersteckt, dann scheint es mir so zu sein, daß das nicht ungefährlich ist. Es ist nicht das Platte, daß man, wenn man im Fußball zur Halbzeit 2 : 0 hinten liegt, so wie gestern abend eine mir sehr sympathische Mannschaft, sagt: Da gehe ich lieber heim; der Gegner ist mir zu stark; das hat ja keinen Sinn. ({7}) Dahinter steckt etwas Gefährlicheres. Dahinter steckt meines Erachtens der Versuch von Oskar Lafontaine, dem SPD-Vorsitzenden, Ängste der Menschen zu schüren. ({8}) Herr Kollege Lafontaine, ich erkenne in dieser Polemik gegen Entwicklungen, die stattfinden und denen wir nicht ausweichen können, dieselbe MeDr. Wolfgang Schäuble thode, mit der Sie Ängste gegen Aussiedler oder gegen die Europäische Währungsunion geschürt haben. ({9}) Ich halte das für verantwortungslos. Im übrigen: Wer sich so gegen weltweite Entwicklungen wehrt, der verschweigt doch zunächst einmal, daß wir in Deutschland, die wir ein höheres Maß an Wohlstand und sozialer Sicherheit als zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte und als die meisten anderen Menschen auf dieser Welt haben, diesen Wohlstand und diese soziale Sicherheit zu einem erheblichen Teil gerade dem technischen Fortschritt und der internationalen Arbeitsteilung verdanken. Wir haben einen viel höheren Exportanteil als alle anderen Industrieländer. Deutschland, bezogen auf die alten Bundesländer, hat einen Exportanteil von 32 Prozent, die Vereinigten Staaten von Amerika von 10 Prozent und Japan von 9 Prozent zum Vergleich. Wir sind in die weltweite Arbeitsteilung viel stärker eingebunden als irgendein anderes Land. Wer aus der Globalisierung aussteigen will, wer neue Handelsschranken errichten will, wer Regionalisierung oder eine Festung Europa will ({10}) - Herr Lafontaine; das ist die Politik der SPD; er ist ihr Vorsitzender -, der legt Hand an die Wurzeln unseres Wohlstands. Deswegen halte ich das für den falschen Weg. ({11}) Er macht meines Erachtens ein Zweites - man muß ja auf die Gefahren aufmerksam machen -: Er legt Hand an die Fähigkeit und Bereitschaft, unserer weltweiten Verantwortung gerecht zu werden. In unserer einen Welt leben heute sechs Milliarden Menschen, und in 30 Jahren werden es zehn Milliarden sein. Von diesen werden dann noch 10 Prozent Europäer sein. Die 20 Prozent Menschen in den Industrieländern verursachen heute drei Viertel aller Kohlendioxidemissionen. Wenn wir unsere Verantwortung für die ökologische Stabilität und für soziale Gerechtigkeit auf dieser Welt sowie für die Überlebensfähigkeit der Menschen ernst nehmen wollen, dann können wir doch nicht aus unserer globalen Verantwortung aussteigen. Wer sich wie Lafontaine gegen die Globalisierung wendet, der will den Menschen im Grunde einreden: Wir haben für andere Teile dieser Erde keine Verantwortung. - Das eine hängt mit dem anderen zusammen. ({12}) Wer meint, er könne uns, die Menschen, in der plumpen Art Ihrer Zwischenrufe davor bewahren ({13}) - ja, Sie; genau Sie meine ich -, daß wir uns mit Entwicklungen in anderen Teilen der Erde auseinandersetzen müssen - das ist nämlich der tiefere Grund der Lafontaineschen Argumentation -, der legt Hand an unsere Fähigkeit, unserer Verantwortung für diese eine Welt, für globale, soziale und ökologische Entwicklung gerecht zu werden. ({14}) Deswegen sage ich Ihnen: Ich glaube nicht, daß dies der richtige Weg ist. Ich bin anderer Meinung, und ich begründe, warum ich einer anderen Meinung bin. Ich glaube, wir können diese Probleme, diese Entwicklungen nicht dadurch lösen, daß wir uns davor abschotten. Wir können auch nicht aussteigen; wir müssen vielmehr unserer Verantwortung gegenüber der europäischen Entwicklung gerecht werden. Niemand setzt sich mehr als diese Bundesregierung und dieser Bundeskanzler dafür ein, daß der Weg zur europäischen Einigung unumkehrbar ist, aber nicht mit dem Ziel, daß Europa eine Festung wird und sich gegen Entwicklungen auf anderen Kontinenten abschottet, sondern mit dem Ziel, daß Europa eine stärkere Fähigkeit erlangt, seine Verantwortung für diese eine Welt wahrzunehmen. ({15}) Niemand setzt sich stärker als die Union, die Koalition und die Bundesregierung dafür ein, daß wir auch in Zukunft unserer außenpolitischen Verantwortung gerecht werden. Wenn wir über die Grundfragen deutscher Politik diskutieren, gehört auch diese Feststellung dazu: Wir sind in dieser Legislaturperiode große Schritte gegangen, um unsere Beiträge für den Frieden in Europa zu leisten und um zu erreichen, daß die gewaltigen Spannungen zwischen den Kontinenten nicht immer weiter wachsen, daß wir vielmehr eine Chance haben, auch in Zukunft Frieden und Freiheit zu sichern und zu bewahren. Der Weg der Bundesregierung ist richtig, und wir werden sie dabei weiter unterstützen. ({16}) Das weltweite Zutrauen in die Politik dieser Bundesregierung, mit der wir diesen Beitrag leisten, ist ungebrochen. Die Erwartungen sind manchmal so groß, daß man fast schon die Sorge haben könnte, Herr Bundeskanzler, unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten würden überschätzt. Wir müssen den Erwartungen gerecht werden und dazu gehört, daß wir auch in Zukunft unsere wirtschaftliche Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, unsere soziale Stabilität und auch unsere innere Sicherheit bewahren. Die Menschen in vielen europäischen Ländern schauen in diesen Tagen auf diese Debatte und die Entscheidungen des Deutschen Bundestages, weil sie eine Antwort auf die Frage suchen: Gibt es in Deutschland die politische Kraft, die die notwendigen Veränderungen durchsetzt? Wenn wir dies nicht schaffen, werden viele Menschen ihre Hoffnungen zurücknehmen müssen. ({17}) Wenn wir darüber reden, daß wir unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten müssen - woran kein Weg vorbeiführt, weil wir aus dem Standortwettbewerb nicht aussteigen können -, dann muß man die Frage anschließen, woran es liegt, daß der Anteil ausländischer Direktinvestitionen an den Investitionen insgesamt für den Zeitraum 1990 bis 1993 - nach dem Gutachten des Ifo-Instituts - in den Niederlanden 13 Prozent, in Großbritannien 12 Prozent, in Frankreich 8 Prozent und in Deutschland 1,5 Prozent beträgt. ({18}) Woran liegt es, daß zehnmal soviel deutsches Kapital im Ausland investiert wird wie ausländisches Kapital in Deutschland? Dies verursacht einen Transfer von Arbeitsplätzen ins Ausland und schwächt unsere Wettbewerbsfähigkeit. ({19}) - Es hat zum Beispiel damit zu tun, daß die Gewerbekapitalsteuer immer noch nicht abgeschafft ist. Genau damit hat es zu tun. ({20}) Sie werden doch nicht im Ernst bestreiten wollen, daß investiertes Kapital in Deutschland höher besteuert wird als in irgendeinem anderen vergleichbaren europäischen Land, jedenfalls in einem eben von mir erwähnten europäischen Land. Wenn investiertes Kapital in Deutschland höher besteuert wird als in anderen Ländern, dann ist dies die Ursache für die Entwicklung, daß immer mehr Investitionen und damit Arbeitsplätze aus Deutschland abwandern. Dies müssen wir ändern, wenn wir unsere Verantwortung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ernst nehmen. ({21}) Folgender Satz - Herr Scharping hat ihn heute morgen gesagt; Frau Matthäus-Maier hat ihn gesagt - ist bezeichnend: Der Sozialstaat ist nicht zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit ist zu teuer; deswegen müssen wir sie bekämpfen. - Schon richtig. Aber dann lassen Sie sie uns bekämpfen. Was müssen wir tun, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen? Wir müssen die Rahmenbedingungen für Investitionen verbessern. Das ist das erste. ({22}) Das heißt: Es muß jetzt endlich die Unternehmenssteuerreform zustande kommen. Die Gewerbekapitalsteuer muß abgeschafft werden. Es wurde auch gesagt, daß der Weg der Sozialdemokraten, die Besteuerung unternehmerischer Erträge weiter zu erhöhen, falsch ist. Dies ist Gift für die Arbeitsplätze und für die wirtschaftliche Entwicklung. ({23}) - Sie haben Ihr Programm nicht gelesen. ({24}) - Wahrscheinlich haben sie es gar nicht gelesen. Ihr Programm läuft darauf hinaus, unternehmerische Erträge höher zu besteuern - mit Hilfe der Vermögensabgabe oder indem Sie den Spitzensteuersatz nicht senken - als nach dem heutigen Stand. Sie vergessen gelegentlich, daß auf Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Spitzensteuersatz heute schon 47 Prozent beträgt. Wenn Sie 50 Prozent nicht unterschreiten wollen, dann kommen Sie nicht zu einer Senkung. Wenn Sie gleichzeitig noch die Bemessungsgrundlage im unternehmerischen Bereich nachhaltig verbreitern wollen, dann führt das zu einer höheren Unternehmensbesteuerung. Das ist nach unserer Überzeugung der falsche Weg. ({25}) Im übrigen will ich Ihnen zu der Vermögensteuerdiskussion folgendes sagen. Ich weiß, diese Diskussion verführt Oppositionspolitiker. Sie glauben, daß die Argumentation, daß die Vermögensteuer gesenkt, aber das Kindergeld nicht erhöht werde, in der Öffentlichkeit ankommt. ({26}) - Ja, das ist die demagogische Untergrenze dessen, was noch erträglich ist. ({27}) - Lassen Sie mich doch einmal versuchen, ein paar Argumente wenigstens anderen darzulegen, auch wenn Sie diese nicht hören wollen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist - Theo Waigel hat das gestern ausführlich und überzeugend dargelegt - eine weitere Erhebung der Vermögensteuer nur in engen Grenzen und im Grunde nur bei mittleren Einkünften möglich. Wir sind uns, wenn ich das richtig verstanden habe, immer noch einigermaßen einig, daß wir Betriebsvermögen, also investiertes Kapital, in Zukunft nicht mehr der Vermögensteuer unterwerfen wollen. Sie sollten bitte akzeptieren - der Bundesfinanzminister hat die Zahl gestern genannt -: 58 Prozent der Vermögensteuer entfallen heute auf Betriebsvermögen. Sie sollten bitte auch zur Kenntnis nehmen, daß die Länderfinanzminister, von denen Sie die Mehrheit stellen, darauf hingewiesen haben, daß dann, wenn man nur noch die restlichen 42 Prozent des Vermögens besteuert, die Erhebungskosten der Vermögensteuer ungefähr die Hälfte des Steuerertrags auffressen. Das macht keinen Sinn. ({28}) - Sie können anderer Meinung sein, aber lassen Sie mich doch unsere Position begründen, und lassen Sie uns dann abwägen, wer die besseren Argumente hat. Unser Vorschlag ist nicht, die Vermögensteuer auf Nichtbetriebsvermögen ersatzlos abzuschaffen, sondern unser Vorschlag ist, die Vermögensteuer mit der Erbschaftsteuer zusammenzufassen. Das ist eine Steuervereinfachung, die denselben Ertrag bringen soll. Der Vorschlag kann so blöd nicht sein, denn auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck von der SPD hat genau diesen Vorschlag gemacht. ({29}) Wir sollten keinen Weg gehen, der keinen Sinn macht und die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindert. Wir sollten auch nicht in dieser demagogischen Art diskutieren, sondern uns mit der Sache auseinandersetzen. Wie toll das gelegentlich geht, ist mir bei der Lektüre des Protokolls des Bundesrates vom 5. Juli dieses Jahres aufgestoßen. Sie reden davon - auch Sie, Herr Scharping, haben das heute wieder getan -, man solle endlich die Schlupflöcher schließen, die Sonderabschreibungen beseitigen und dafür sorgen, daß die Reichen auch wirklich Steuern bezahlen. Herr Voscherau hat vor einiger Zeit einmal törichterweise gesagt, in Hamburg würde kein Millionär mehr Steuern bezahlen, woraufhin ihn sein Finanzsenator darauf hingewiesen hat, das solle er nicht sagen. Aber der Vorgang ist bemerkenswert. Der Ministerpräsident des Saarlands, Lafontaine, der zugleich SPD-Vorsitzender ist, hat in der Bundesratssitzung am 5. Juli 1996 gesagt: „Blockieren Sie nicht länger - das habe ich hier schon zehnmal vorgetragen - den Abbau überflüssiger Steuersubventionen ...". Eine Weile später sagte er, daß „Einkommensmillionäre die Einkommensteuer über Abschreibungsbedingungen eben gegen Null führen können" . Eine Stunde später hat die Bundesratsmehrheit mit der Stimme des Saarlandes den Antrag, Sonderabschreibungen für Flugzeugbau und Schiffbau abzuschaffen, abgelehnt. ({30}) - Ich habe das Protokoll da. ({31}) - Wir sind ja von Ihnen gewohnt, daß Sie jeden Tag das Gegenteil von dem sagen, was Sie am vorherigen Tag gesagt haben, aber innerhalb einer Stunde ist ein wenig zu schnell. ({32}) Die Lateiner sagen: Venire contra factum proprium. Das Handeln gegen das, was man selbst als Ursache gesetzt hat, ist eine derartige Zumutung für das Funktionieren unserer demokratischen Prozesse, daß ich wirklich meine, man sollte jetzt endlich damit aufhören. Die SPD sollte endlich aufhören zu beklagen, daß die Neuverschuldung im Haushalt 1996 zu groß ist, zumal uns die sozialdemokratische Mehrheit daran gehindert hat, rechtzeitig notwendige Spargesetze durchzusetzen. ({33}) - Aber Herr Kollege Fischer, nach dem Grundgesetz brauchen wir für die Mehrzahl der Steuergesetze und für viele andere Gesetze die Zustimmung des Bundesrates. Derzeit hat die SPD im Bundesrat die Mehrheit, und sie hat viele Gesetze blockiert. ({34}) - Aber Herr Kollege Lafontaine, wenn Sie das auch noch bestreiten, dann ist es ja auch gut. Aber ich sage Ihnen, die Wahrheit ist, daß beispielsweise die Unternehmenssteuerreform seit mehr als einem Jahr mangels Zustimmung im Bundesrat blockiert ist. Das ist unverantwortlich. ({35}) Wenn wir Antworten auf die Frage suchen, wie wir angesichts der Entwicklungen, die wir nicht bestreiten können und die vielen Menschen Sorge machen, deren Ängste wir aber nicht ausbeuten sollten, die Probleme lösen können, dann bin ich im Gegensatz zu Ihrer Argumentation ganz sicher, daß wir nur dann mehr Kräfte für notwendige Dynamik und Kreativität freisetzen werden, wenn wir die Staatsquote senken und das Geflecht öffentlicher Apparate und Strukturen von den öffentlichen Haushalten in Bund, Ländern und Gemeinden bis hin zu den Sozialversicherungsträgern ein wenig verringern. Wenn wir die Staatsquote senken wollen - und das müssen wir -, dann führt kein Weg an einer Ausgabenkürzung vorbei. Die Sozialdemokraten haben bis auf den heutigen Tag nicht einen einzigen Vorschlag gemacht, wie man Ausgaben kürzt. Sie machen gelegentlich Vorschläge zur Umschichtung, wie man die eine Einnahme durch die andere ersetzt, wie man Steuern und Abgaben da und dort erhöht. Aber wenn Sie die Staatsquote senken wollen - nach unserer Überzeugung muß sie gesenkt werden, wenn wir langfristig die Probleme lösen wollen -, führt kein Weg an Ausgabekürzungen oder an einer Begrenzung des Ausgabeanstiegs vorbei. Das ist die bittere Wahrheit; aber schon Kurt Schumacher hat gesagt: Politik beginnt mit der Betrachtung der Realität - und der können Sie nicht ausweichen. Der nächste Schritt ist, daß wir darauf setzen müssen, technischen Fortschritt zu fördern und uns in Spitzenprodukten neuer Technik neue Märkte zu erschließen. Wir müssen die Blockade von technologischen Neuerungen durch die Opposition, durch die Linke, durch Rot-Grün endlich aufheben. ({36}) - Der uralte Hut ist leider immer noch auf Ihren Köpfen, denn nach wie vor versuchen die beteiligten SPD-Landesregierungen den Bau der Transrapidstrecke mit allen Mitteln zu verhindern. Dabei geht es dort konkret um Zukunftsfähigkeit. ({37}) Das können Sie doch nicht bestreiten. ({38}) - Sie lenken immer ab. Man muß ja auch einmal konkrete Beispiele nennen. Es hilft nichts, mit den allgemeinen Sprüchen von Augustin bis sonstwohin die Debatten zu bestreiten. Lassen Sie uns doch über konkrete Sachverhalte reden. Wenn wir die Transrapidstrecke zwischen Hamburg und Berlin nicht bald zustande bringen, wenn der Transrapid nicht bald fährt, dann werden Sie erleben, daß wir den Wettlauf um diese Technologie wieder gegen die Japaner verlieren. Dann haben wir wiederum Arbeitsplätze verspielt. ({39}) Deswegen ist Ihre Politik der Verzögerung und der Blockade gefährlich für die Chance, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Deswegen bitte ich Sie, sie aufzugeben und bei Ihren Landesregierungen darauf hinzuwirken, daß dieser Versuch nicht fortgesetzt wird. Das ist ja Ihr Problem. Sie halten auf der einen Seite die großen Reden, wie der Herr Lafontaine in bezug auf die Sonderabschreibungen, aber wenn es konkret wird, stimmen Sie dagegen. Wir sind uns im Grundsatz manchmal alle einig. Selbst Herr Scharping hat von Flexibilisierung gesprochen. Aber wenn es darum geht, zu flexibilisieren, sind Sie dagegen. Wir haben im Bundestag Maßnahmen zum Abbau von Bürokratie beschlossen. Im Bundesrat hat man große Reden zugunsten der Entbürokratisierung gehalten, und anschließend hat man den Vermittlungsausschuß angerufen und das Gesetz vorläufig blockiert. Als wir um den Ladenschluß gerungen haben, hat die SPD sich verweigert. ({40}) - Sie können ja andere Flexibilisierungsvorschläge machen. Aber machen Sie doch mal einen, ({41}) so wie Sie auch einmal einen Vorschlag machen könnten, wie wir Ausgaben senken. Blockieren Sie nicht alles! Es wird auch über den Kündigungsschutz geredet. ({42}) - Überstundenabbau, das Thema eignet sich für die Demonstrationen am Samstag. Da kann man Überstundenabbau fordern. Aber wenn man konkret darüber reden will und sich den Kopf zerbricht, was man tun könne, und nicht nur die Menschen beschimpft, dann ist es doch wohl besser, die Arbeitsbedingungen zu flexibilisieren und dafür zu sorgen, daß ein Handwerksmeister, der vielleicht für die nächsten sechs Monate eine bessere Auftragslage hat, auch jemanden einstellen kann und sich nicht sagen muß, das könne er nicht, weil er ihn lebenslänglich anstellen müßte. Dann kann er ihn nämlich nicht einstellen. ({43}) - Entschuldigung, das weiß ich. Auf diesen Zwischenruf habe ich gewartet; denn das haben Sie schon gestern gesagt. Natürlich könnte man dies über befristete Arbeitsverhältnisse regeln. Die aber, gnädige Frau, haben Sie allerdings auch im Bundestag abgelehnt. ({44}) - Sie haben sie abgelehnt. Ich rede davon, daß Sie jedes Maß an Flexibilisierung, jeden konkreten Schritt in diese Richtung boykottieren. Herr Scharping, Sie haben unser Programm für Wachstum und Beschäftigung hier in einer Weise karikiert, die für Ihren Stil spricht. ({45}) Ich will Ihnen noch einmal unser Ziel vortragen: Wir setzen in dem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung darauf, daß die Chance besteht, insbesondere bei kleineren Unternehmen, Neugründern und Selbständigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dort wollen wir ansetzen, von der Kapitalausstattung bis hin zu Förderprogrammen. Der Finanzminister hat gestern berichtet, daß von der Kreditanstalt für Wiederaufbau bis September schon so viele Kredite vergeben worden sind wie im gesamten Vorjahr. ({46}) Im Niedersächsischen Landtag hat der Kollege Stock von der CDU kürzlich die Frage eingebracht, warum das Land Niedersachsen seine Mittel für Eigenkapitalhilfeprogramme zurückgefahren habe. Daraufhin hat der niedersächsische Wirtschaftsminister Fischer am 4. September 1996 - ich habe das Protokoll da - geantwortet: Die Konditionen des Eigenkapitalhilfeprogramms des Bundes sind so hervorragend, insbesondere bei Laufzeit und Zins- und Tilgungsgestaltung, daß wir töricht wären, mit unseren ohneDr. Wolfgang Schäuble hin knapp bemessenen Landesmitteln dagegen anzukonkurrieren. ({47}) Herr Scharping ist gerade hinausgegangen, was auch in Ordnung ist. ({48}) - Das ist auch schön. Ich bitte um Entschuldigung für meinen Irrtum. Wenn mir aber Schlimmeres nicht geschieht, können Sie ganz gut damit leben. ({49}) Wenn Sie sich ein bißchen mehr mit der Wirklichkeit in unserem Lande beschäftigen, können Sie nicht solche verzerrten Bilder darstellen, wie Sie es heute morgen getan haben. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Ich will mich jetzt nicht mit der Frage beschäftigen, warum Niedersachsen seine eigenen Anstrengungen, Existenzgründer zu fördern, einstellt; denn das ist ein gesondertes Problem. Aber die Würdigung unserer Politik und unserer Bemühungen ist immerhin der Erwähnung wert. Ich glaube übrigens auch nicht, daß wir in unserem Land einen Mangel an Beschäftigung haben. Wir haben vielmehr einen Mangel an Nachfrage nach Arbeit zu den Preisen, die reguläre Arbeit in Deutschland kostet. ({50}) Deswegen glaube ich nicht, daß Ihre Theorie, die Sie auch heute morgen vertreten haben - Sie haben La-fontaines Ansicht übernommen; das ist bei Scharping neu -, daß man nämlich durch die Stärkung der Massenkaufkraft unsere strukturellen Probleme lösen könne, bei der heutigen Problemlage die richtige Lösung bietet. Meiner Meinung nach ist die Arbeit in Deutschland zu teuer. Wenn Arbeit noch teurer wird - und Stärkung der Massenkaufkraft heißt in Wahrheit Arbeit teurer machen -, dann werden wir noch weniger Nachfrage nach Arbeit haben. Das Ergebnis wird eine noch höhere Arbeitslosigkeit sein. ({51}) - Ich lasse Ihnen das Recht, anderer Ansicht zu sein. Im Gegensatz zu Ihnen schreie ich auch nicht jedesmal dazwischen, wenn Sie andere Meinungen vertreten. Ich nenne Ihre Meinung und begründe, warum ich anderer Ansicht bin. So wünsche ich mir die parlamentarische Auseinandersetzung. ({52}) In den Wettbewerb, wer am lautesten schreien kann, möchte ich ungern eintreten. Ich bleibe dabei: Meine Überzeugung ist - dafür argumentiere ich; daran werden Sie mich nicht hindern -, daß wir bessere Chancen haben, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen - in diesem Ziel sind wir uns doch einig -, wenn wir versuchen, die Arbeit nicht weiter zu verteuern, wenn wir versuchen, flexibler zu werden, auch Angebote zu schaffen, die dafür sorgen, daß sich die Nachfrage nach Beschäftigung tatsächlich ausweiten kann. Dort setzen wir an.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, ja.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schäuble, wir stimmen doch darin überein, daß die Arbeitskraft heute zu teuer ist. Ist es aber nicht gerade Ihre Politik, die die Arbeitskosten in die Höhe getrieben hat? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schily, in dem zweiten Teil Ihrer Frage stimmen wir nicht überein. Wir streiten uns doch jetzt mit Herrn Scharping - er hat uns das vorgeworfen - darüber, daß unsere Vorschläge, die Arbeits- und Lohnzusatzkosten zu begrenzen, falsch seien. Sie wollen die Umsetzung dieser Vorschläge verhindern. Wieso erklären Sie jetzt, wir stimmten überein? Wenn wir wirklich übereinstimmen, dann stimmen Sie unseren Gesetzen zu. ({0}) Am Freitag werden wir über die Einsprüche des Bundesrats abstimmen. Sie wollen jede Einsparung, ob im Bereich der Gesundheitskosten oder der gesetzlichen Krankenversicherung, verhindern. Herr Scharping, Sie haben heute morgen - ich war dabei - die Anhebung der Altersgrenze in der Rentenversicherung als etwas besonders Unsoziales beschrieben. Angesichts einer demographischen Entwicklung, in der das Lebensalter der Bevölkerung im Durchschnitt über 75 Jahre liegt, der Zeitraum der Ausbildung immer länger wird - man wird nahezu 24 Jahre alt, bis man in das Erwerbsleben eintritt - und das tatsächliche Renteneintrittsalter unter 58 Jahren liegt, müssen wir doch korrigieren und dafür sorgen, daß das tatsächliche Renteneintrittsalter wieder über 60 Jahren liegt. Das kann man doch nicht ernsthaft bestreiten. Wer darüber so wie Herr Scharping heute morgen spricht, verweigert doch jeden Beitrag, um bezahlbare Arbeit und soziale Sicherheit in unserem Lande zu erhalten. ({1}) Im übrigen ist es eine gute Entwicklung, daß die Menschen länger in besserer Gesundheit leben können als in früheren Jahren. Darauf kann man aber nicht damit reagieren, daß man immer früher in den Ruhestand geht. Das ist die falsche Antwort auf eine gute Entwicklung. Reden Sie doch den Menschen nicht immer Ängste ein und treiben Sie sie nicht auseinander, sondern helfen Sie mit, miteinander das Notwendige und Vernünftige zu tun. Da Sie so gegen eine Selbstbeteiligung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall polemisieren, möchte ich sagen: Es gibt doch kein anderes Land in Europa, in dem noch eine 100prozentige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall existiert. Alle - überwiegend sozialdemokratische Regierungen - haben dies geändert. Man kann dann immer noch darüber streiten, ob es richtig ist oder nicht, und kann als Arbeitnehmerorganisation und Gewerkschaft auch Demonstrationen durchführen. Das ist alles richtig. Man sollte die Selbstbeteiligung jedoch nicht so diffamieren, daß die Menschen glauben: Jetzt bricht die Welt zusammen. In Wahrheit ist es so: Die Menschen können ja ihre Urlaubsansprüche anrechnen lassen. Wir haben heute 30 Urlaubstage ({2}) - Herr Fischer, hören Sie doch zu; ich wollte gerade etwas vorrechnen, Sie sind ja im Rechnen hinreichend gut - und 200 Arbeitstage pro Jahr. Das heißt, der Urlaub beträgt etwa 15 Prozent. Wenn Sie einen Tag krank sind, entsteht an diesem Tag ein Urlaubsanspruch von 15 Prozent eines Arbeitstages. Wir haben 20 Prozent Selbstbeteiligung vorgesehen. In Wahrheit geht es lediglich um etwas mehr als den Urlaubsanspruch, der während der Krankheit entsteht. Darüber kann man auch noch unterschiedlicher Meinung sein. Man sollte dies aber nicht so diffamieren, wie es die Sozialdemokraten tun. Sonst werden wir unfähig, Probleme zu lösen. ({3}) Ich habe davon gesprochen, daß andere auf uns schauen, daß wir Verantwortung für andere tragen, daß wir darauf achten sollten, was andere uns raten, und daß wir aus dem internationalen Vergleich manche Anregungen dafür schöpfen sollten, was wir tun und nicht tun können. Ich möchte Ihnen doch noch einmal in Erinnerung rufen - der Finanzminister hat es gestern erwähnt, aber man muß das auch in die Debatte heute einführen -, was die OECD in ihrem jüngsten Gutachten zur Lage in Deutschland sagt. Daß sie uns auffordert, das 50-Punkte-Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung möglichst ohne Änderung zu beschließen, ist doch eine Tatsache, die man in dieser Debatte ernst nehmen muß. Sie sagt: Angesichts der ungünstigeren Wachstumsaussichten für 1997 und der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen kündigte die Bundesregierung im April ein Maßnahmenpaket an, das eine Ergänzung zu dem im Februar bekanntgegebenen 50-Punkte-Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung darstellt. Dieses Paket gibt die Richtung für die Aufstellung des Bundeshaushaltsplans an .. . Weiter heißt es: Bei strikter Umsetzung würde das Maßnahmenpaket vom April auf der Grundlage der gegenwärtigen Projektionen ausreichen, um das Defizit-Kriterium des Maastricht-Vertrages 1997 zu erfüllen. Meine Damen und Herren, das ist das Gütezeichen für die Richtigkeit unserer Politik. ({4}) Herr Lafontaine, Sie sind in der vergangenen Woche am gleichen Tag wie ich in Den Haag gewesen. Sie wissen genau, was Ihr sozialdemokratischer Kollege, der niederländische Ministerpräsident, an Sparmaßnahmen in seinem Land durchgesetzt hat; das geht weit über unsere Maßnahmen hinaus. Sie wissen genau, mit welcher gespannten Aufmerksamkeit die Niederländer, die Franzosen und viele andere in Europa darauf schauen, ob es die Deutschen fertigbringen, ihre Probleme zu lösen. Sie hoffen alle, daß wir sie lösen, denn sie wissen, daß wir eine große Bedeutung auch für die anderen haben. Deswegen haben wir eine Verantwortung. Ich sage Ihnen: Ihre sozialdemokratischen Kollegen in Europa würden, wenn sie heute, morgen und übermorgen hier abstimmungsberechtigt wären, alle mit uns stimmen. ({5}) - Aber natürlich! Herr Kollege Scharping, dann haben Sie noch etwas gemacht, bei dem ich mich gewundert und überlegt habe: Was soll denn das? Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, er vollziehe angesichts des Ausbildungsplatzproblems nur symbolische Handlungen. - ({6}) - Ja, das weiß ich schon. Ihnen fällt, wenn ein Problem entsteht, immer nur eine Lösung ein: eine neue Bürokratie und noch mehr Abgaben. ({7}) Das ist nach unserer Überzeugung der falsche Weg. Ausbildungsplatzabgabe, Bekämpfung der dualen Ausbildung - nein! Wohl kein halbwegs redlich urteilender Mensch in Deutschland bestreitet, daß es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen Regierungschef gegeben hat, der sich höchstpersönlich und mit so großer Intensität und persönlichem Einsatz darum gekümmert hat, daß alle jungen Menschen eine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben. Herr Bundeskanzler, wir danken Ihnen dafür. ({8}) Ich weiß, Ihr Argument ist: Das reicht nicht; wir brauchen eine Ausbildungsplatzabgabe. Unser Argument ist: Das ist der falsche Weg. Noch mehr Abgaben, noch mehr Steuern, noch mehr Bürokratie lösen die Probleme nicht. Im übrigen: Hören Sie sich einmal um bei den Ausbildungsbetrieben! Ich habe bei den Industrie- und Handelskammern, bei den Handwerkskammern und in vielen Ausbildungsbereichen nachgefragt. ({9}) Zum Beispiel die Tatsache, daß die jungen Leute heute an zwei Tagen in die Berufsschule gehen, dann aber den halben Tag ab 13 Uhr nicht mehr in den Betrieb müssen, ist einer der Gründe, weshalb die Ausbildungsbereitschaft abnimmt. Wir sollten den Berufschulunterricht in den Ländern ein Stück weit reformieren, um die Aufgaben besser lösen zu können. Wenn wir schon über die Verantwortung der Länder reden, dann sollten wir auch darüber sprechen, warum die Bundesanstalt für Arbeit, wie ich glaube, Herr Arbeitsminister, eine halbe Milliarde DM pro Jahr für nicht behinderte junge Menschen, die nach Absolvierung unserer schulischen Ausbildung nicht hinreichend qualifiziert sind, ausgeben muß. Das sind doch eigentlich Aufgaben der Länder, die nicht die Bundesanstalt zu erfüllen hat. Das sind wirklich versicherungsfremde Leistungen. Sorgen Sie doch dafür, daß unser Bildungssystem in den Ländern leistungsfähiger wird. ({10}) Wir geben im übrigen für Schule und Hochschule in Deutschland im Verhältnis zur Bevölkerungszahl nicht weniger Geld aus als andere Industrieländer. Nur: Die Effizienz unserer Mittelverwendung ist geringer. Auch darüber muß geredet werden. Deswegen glaube ich, daß wir bei den Anstrengungen, die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems von der Schule bis zur Hochschule zu verbessern, in den nächsten Jahren gewaltige Fortschritte erzielen müssen. Dies wird eine Bewährungsprobe für den Föderalismus und für die Wirkungskraft des Föderalismus darstellen. Als überzeugter Föderalist kann ich nur hoffen, daß die Länder zukünftig in einem stärkeren Maß in der Lage sind, dieser Verantwortung für unsere Zukunftschancen gerecht zu werden. Man muß aber auch die Bemerkung machen - ich bin nicht sicher, Herr Scharping, ob eine solche Rede, wie Sie sie heute morgen gehalten haben, dabei wirklich hilft: Es gibt nicht nur das Problem, daß wir 3,9 Millionen Arbeitslose haben, es gibt nicht nur das Problem, daß junge Menschen Ausbildungsplätze suchen, sondern es gibt leider auch die andere Wahrheit, daß immer noch viele Arbeits- und Ausbildungsplätze in Deutschland nicht zu besetzen sind. Man muß doch fragen: Woran liegt es, daß in dieser Zeit mitten im Ruhrgebiet Tausende von Arbeitsplätzen nicht besetzt werden können, was wir alle in den Zeitungen gelesen haben? Man muß doch fragen: Woran liegt es, wenn Großunternehmen der chemischen Industrie - ich kann Ihnen die Beispiele nennen - sagen: Wir bekommen unsere Ausbildungsplätze für Chemiearbeiter nicht besetzt? Wir müssen den jungen Menschen auch sagen: Bitte, wir tun alles für eure Zukunftschancen. Es geht aber nicht immer nur auf dem bequemen Weg. Vieles, was wir an politischen Entscheidungen erörtern und prüfen, was wir dann auch durchsetzen müssen, ist nicht bequem. Der bequeme Weg führt meistens - das kann ich, der ich aus dem Schwarzwald stamme, Ihnen sagen - bergab. Bergauf ist es ein wenig anstrengender; aber es lohnt sich. Wir müssen den jungen Menschen sagen: Ihr müßt aber auch die Chancen wahrnehmen, die sich euch bieten. In einer Zeit, in der wir so sehr um Ausbildungsplätze ringen, kann es doch nicht wahr sein, daß man sich auf zu wenige Modeausbildungsberufe konzentriert und daß man in anderen Bereichen das Angebot, das vorhanden ist, nicht wahrnimmt. Das gilt genauso für die Arbeitsplätze. Man kann nicht den Bundesarbeitsminister in der einen Hälfte der Debatte kritisieren, daß die freiwilligen Leistungen bei der Bundesanstalt nicht sinken, daß dort immer noch zu viele Ausnahmegenehmigungen vom Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte erteilt werden, daß wir das erst einmal senken und die Zumutbarkeitskriterien verschärfen wollen - über alles muß man diskutieren -, aber in der anderen Hälfte der Debatte darauf hinweisen, daß die Landwirtschaft bei den Sonderkulturen die Ernte nicht einbringen kann, wenn die Bundesanstalt für Arbeit den Anwerbestopp nicht noch ein bißchen mehr lockert. Das ist doch die Wahrheit. Wenn dieses die Wahrheit ist, muß man sie aussprechen. ({11}) Das hat nichts damit zu tun, daß wir die Sorgen der Menschen nicht ernst nehmen. Aber es hat damit zu tun, daß wir den Menschen die ehrliche Antwort auf die richtigen Fragen verweigern und ihnen die Chance, die Zukunftsprobleme zu lösen, nehmen. Wir müssen in Zukunft bereit sein, einen Großteil der Arbeit, die in Deutschland nachgefragt wird, selber zu erledigen. Anders wird es nicht funktionieren. Wir müssen den jungen Menschen sagen, sie müssen ihre Chancen da nutzen, wo sie sich bieten. Wir sollten den Menschen auch sagen: Es gibt bei allen Problemen, Sorgen, Angsten doch keinen Grund zur Resignation. Es ist den Deutschen materiell nie besser gegangen als in den 90er Jahren am Ende dieses Jahrhunderts. Das kann doch niemand bestreiten. Von den politischen Rahmenbedingungen will ich gar nicht reden. ({12}) Die Menschen wissen, daß wir in guten Umständen leben. Sie machen sich allerdings Sorgen, wie wir diese Situation auch in Zukunft erhalten können. Aber wer die Zukunft verweigert, wer sich nicht wirklich der Suche nach Antworten auf die grundlegenden Fragen stellt, der wird im Grunde diesen Pessimismus schüren. Wer es mit dem Gebot der Nachhaltigkeit menschlichen Wirtschaftens oder mit der Verantwortung für kommende Generationen ernst nimmt, der muß heute die Entscheidungen treffen, die Weichen stellen, die notwendig sind, damit wir auch in der Zukunft Wohlstand und soziale Sicherheit bewahren. Das ist nicht nur ein Verteilungsprozeß. Das ist ein Prozeß, in dem wir immer wieder die Mittel erwirtschaften müssen, damit wir auch morgen in Wohlstand und sozialer Sicherheit leben können. Dazu brauchen wir die Wettbewerbsfähigkeit. Dazu müssen wir leistungsfähig sein. Dazu müssen wir auch in Zukunft arbeiten. Nur durch Leistung werden wir uns auch in Zukunft auf den Märkten behaupten, nicht indem wir sagen: Die anderen sind so unfair billig, sie arbeiten auch noch freitag nachmittags, das möchten wir aber alles nicht. - So werden wir die Zukunft verspielen. Nein, wir müssen uns bemühen. Wenn andere sich anstrengen und uns Konkurrenz machen, dann müssen wir diesem Wettbewerb standhalten. Ich sage Ihnen: Wir Deutsche können das, wenn wir nur wollen. ({13}) Ich sage Ihnen weiter: Wir werden das am besten schaffen, wenn alle Kräfte in unserer Gesellschaft mitwirken, auch alle, die politische Verantwortung tragen. Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich sage Ihnen für die CDU/CSU-Fraktion: Wir sind auch mit der Mehrheit im Bundesrat zu jeder vernünftigen Zusammenarbeit, zu jedem vernünftigen Gespräch bereit. ({14}) Die Mehrheit im Bundesrat ist genauso auf Grund demokratischer Wählerentscheidungen zustande gekommen wie die Mehrheit im Bundestag. Die Verantwortungen von Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Landesregierungen sind definiert. Wir alle haben im übrigen auch eine gemeinsame Verantwortung. Wir sind zu jedem Gespräch und zu jeder Zusammenarbeit bereit. Unser Land, die Zukunft unserer Menschen sind darauf angewiesen. Aber ich sage Ihnen auch: Es geht nicht, daß Sie nur blockieren. Bis auf den heutigen Tag haben Sie keine Alternative vorgelegt. ({15}) Ihre Reden sind immer nach demselben Strickmuster: Unsere Sparvorschläge werden diffamiert, die zu hohe Verschuldung wird kritisiert, die zu hohen Steuern und Abgaben werden kritisiert. Eigene Sparvorschläge machen Sie nicht, und anschließend fordern Sie noch zusätzliche Ausgaben. ({16}) Im Bundesrat blockieren Sie die Gesetze, und in den Ländern wächst eine Neigung, die Lösung aller Probleme dem Bund zuzuschieben und ihm zugleich die Möglichkeiten und die Mittel zu verweigern, die Probleme zu lösen. So kann der Föderalismus nicht funktionieren. ({17}) Deswegen ist meine herzliche Bitte: Lassen Sie uns in allem Ernst, in allem Streit, aber in dem Wissen um gemeinsame Verantwortung unsere Argumente austauschen, unsere Standpunkte gegeneinanderstellen, um die Erkenntnis ringen, was das Richtige ist. Lassen Sie uns streiten, lassen Sie uns unsere Verantwortung wahrnehmen. Hier im Bundestag haben wir die Mehrheit, und wir sind nach dem Wählerauftrag verpflichtet, mit unserer Mehrheit zu gestalten und zu entscheiden. Die CDU/CSU-Fraktion ist entschlossen, gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner diese Regierung zu unterstützen und ihren Beitrag dafür zu leisten, daß diese Regierung weiterhin erfolgreich für die Zukunft unseres Landes arbeiten kann. Ich sage noch einmal: Wir sind zu jeder Zusammenarbeit auch mit dem Bundesrat bereit. Wir brauchen diese Zusammenarbeit. Ich werbe dafür. Schieben Sie das nicht auf die lange Bank. Lassen Sie uns, wenn diese Woche vorüber ist, endlich schnell auch über die zustimmungspflichtigen Gesetze aus dem Programm für Wachstum und Beschäftigung miteinander verhandeln und entscheiden, damit nicht bis Ende dieses Jahres alles blockiert ist. Die Verzögerungsstrategie im Bundesrat schadet der Zukunftsfähigkeit unseres Landes, und sie hilft den Arbeitslosen nicht. ({18}) Wenn wir unserer Verantwortung gerecht werden wollen, müssen wir handeln. Reden allein hilft nicht. Wir müssen entscheiden; wir müssen im Rahmen unserer Mehrheiten, wie die Wähler sie bestimmt haben, Entscheidungen zustande bringen. Wer die notwendigen Entscheidungen und auch die notwendigen Veränderungen blockiert, gefährdet die Zukunft. Weil wir in den 50 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in diesem Land durch die Tüchtigkeit der Menschen in gemeinsamem Wirken so viel erreicht haben, haben wir, finde ich, kein Recht zu resignieren, sondern wir haben die Pflicht, gemeinsam, geschlossen und entschlossen zu handeln, damit wir auch in Zukunft in Frieden und Freiheit, in innerer und äußerer Sicherheit leben können und damit wir auch in Zukunft die Grundlagen unseres Wohlstandes und unserer sozialen Sicherheit erhalten können. Dazu ist die Union bereit, und dazu werden wir unseren Beitrag leisten. ({19})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000552, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesem Herbst ist Halbzeit für den Joseph Fischer ({0}) 13. Deutschen Bundestag und auch - in dieser Legislaturperiode - für die Regierung Kohl. Ich möchte den Appell des Kollegen Schäuble aufnehmen, in der Mitte dieser Legislaturperiode aus unserer Sicht zu versuchen, in aller gebotenen Sachlichkeit, aber auch in der notwendigen sachlichen Konfrontation, eine Bilanz der Leistung der Regierung Kohl zu ziehen - wohin hat sie dieses Land geführt; wo steht dieses Land heute? - und einen Ausblick zu geben. Ich möchte Sie, Herr Bundeskanzler, an Ihren eigenen Maßstäben messen, die Sie zu Beginn dieser Legislaturperiode angelegt haben. In der Tat wußten Sie von Anfang an - wir alle wußten es -: Diese Legislaturperiode wird für unser Land keine einfache werden. Zwei Krisen haben sich verschränkt - zwei Krisen, die sich aus sehr glücklichen Entwicklungen und als Ergebnis des Zusammenbruchs eines ganzen Weltsystems und aus dem Ende des Kalten Krieges ergeben haben. Die Wiedervereinigung mit der Notwendigkeit des Prozesses der Herstellung der inneren Einheit und eine neue Weltwirtschaftsordnung, die unter dem Prozeß der Globalisierung begriffen wird, haben sich krisenhaft verschränkt. Krise muß zunächst einmal nichts Negatives sein. Krise bedeutet Veränderungschance; diese Veränderungschance muß man nutzen. Aber natürlich kann sie auch zu einem Debakel werden, wenn man die Veränderungen nicht nutzt. Globalisierungs- und Einheitskrise stehen also als Überschrift über dieser Legislaturperiode. Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler, was sich in diesen zwei Jahren wirklich zum Besseren verändert hat. Zu Beginn dieser Legislaturperiode haben Sie die Massenarbeitslosigkeit als das drängendste Problem benannt. Gibt es eine Trendwende bei der Massenarbeitslosigkeit? Gibt es eine Trendwende hin zu einem Anstieg der Beschäftigungsquote? - Wenn Sie ehrlich sind, müssen sie nein sagen. Zum größten Problem, das wir bei der Beschäftigung haben, haben Sie - Kollege Schäuble eben wieder - die Lohnnebenkosten erklärt. Haben wir eine Trendwende bei den Lohnnebenkosten erreicht? Haben Sie die Möglichkeiten, die dagewesen wären - auch in Zusammenarbeit mit der Opposition -, genutzt, um eine Senkung der Lohnnebenkosten herbeizuführen? - Nein! Der nächste Punkt ist die Überschuldung der Staatshaushalte, meine Damen und Herren. Schauen Sie sich doch einmal an, was sich dabei in den vergangenen Jahren tatsächlich getan hat. Haben wir in diesem Bereich eine Trendwende? Onkel Theo hat gestern wieder seine Märchenstunde gehalten. Das war alles, was wir feststellen konnten. Gleichzeitig mußte er bekennen, daß er die großen Versprechungen, die er im letzten Jahr gemacht hat, nicht einhalten konnte. ({1}) - Ruhe auf der Regierungsbank! ({2}) Seine großen Ankündigungen, die Nettoneuverschuldung begrenzen zu können, kann er - so mußte er gestern kleinlaut eingestehen - nicht einhalten. Graf Lambsdorff hingegen spricht von der Gefahr, daß wir statt 4 Millionen Arbeitslose zukünftig 5 Millionen Arbeitslose bekommen und keine Halbierung, wie es der Bundeskanzler gesagt hat. Zudem prophezeit er einen weiteren Anstieg der Nettoneuverschuldung. Schauen wir uns die Situation bei den Renten an. Sind die Renten denn in diesen beiden Jahren sicherer geworden? Der Bundeskanzler hat sich zu Beginn dieser Legislaturperiode noch geweigert, über die Zukunft der Renten zu sprechen, und hat verkündet, die Renten seien sicher. Jetzt hat er mittlerweile eingestanden, daß spätestens ab dem Jahre 2013 - bei einer weiter abbrechenden Beschäftigung und einem Anstieg der Massenarbeitslosigkeit aber schon vorher! - unser Rentensystem in die Krise gerät. Wie ist die Lage beim öffentlichen Dienst? Wie ist die Lage bei der Staatsmodernisierung, einem wichtigen Beitrag, den der Gesetzgeber, den diese Regierung von selbst leisten könnte? Auch hier muß man feststellen: völlige Fehlanzeige. Wie ein Huhn auf dem Ei brütet der Innenminister über dem Versorgungsbericht, den er nicht herausgeben will, weil dann nämlich die ganze Finanzplanung dieser Regierung sofort auf den Kopf gestellt wäre. ({3}) Eine Modernisierung des öffentlichen Dienstes, ein modernes Dienstrecht, das nur über eine Änderung der Verfassung möglich ist - wir reden hier nicht über eine Abschaffung des Berufsbeamtentums, sondern über die Möglichkeit, daß der Bundesgesetzgeber mit einfacher Mehrheit seine Gestaltungskompetenz endlich wahrnimmt, um ein modernes Beamtentum, das dem 21. Jahrhundert angemessen ist, zu schaffen -, ist mit dieser Koalition, die die Innovation auf ihre Fahne geschrieben hat, nicht möglich. Sie halten an einem der ältesten und teuersten Zöpfe in diesem Lande fest. ({4}) So, Herr Bundeskanzler, ist die Situation in aller Kürze beschrieben. Aber was ist die Ursache dessen? - Die Ursache dessen ist, daß Sie, nachdem Sie die Chance der deutschen Einheit ergriffen und entschlossen umgesetzt haben, einen strategischen Großfehler gemacht haben. Sie haben geglaubt, die Bundesrepublik ({5}) ließe sich nach der Einheit einfach auf den Osten übertragen, nach dem Motto: weiter so, anstatt entschlossen Reformen anzugehen. Und heute stehen wir vor der Situation, daß all das, was den Menschen, vor allen Dingen den sozial Schwachen, angelastet wird, ein Ergebnis Ihrer verfehlten Einheitspolitik ist. Es erbittert mich, daß Sie, wenn dauernd über die Verantwortung für kommende Generationen gesprochen wird, nicht den Mut haben zu Joseph Fischer ({6}) sagen: Es war ein Fehler, daß wir die Einheit schuldenfinanziert und der heutigen Generation nicht höhere Steuern zugemutet haben. ({7}) Sie haben damals, Herr Bundeskanzler, statt Gestaltung Machterhaltung betrieben. Sie wußten ganz genau: Wenn Sie zu höheren Steuern gegriffen hätten - und die deutsche Einheit hätte über höhere Steuern finanziert werden müssen und nicht über Schulden und nicht über die Sozialkassen -, wären Sie das Risiko eingegangen, unter Umständen die Macht zu verlieren. Dieses Risiko wollten Sie nicht eingehen. Das ist das Gegenteil von verantwortlicher Politik. ({8}) Ich will Ihnen ein paar Zahlen nennen. Es gab von 1990 bis 1995 nahezu eine Verdoppelung der Staatsschulden aller drei staatlichen Ebenen - inklusive des Sondervermögens - auf heute 2 Billionen DM. Die Zinslasten haben sich in diesem Zeitraum ebenfalls fast verdoppelt, nämlich von 65 Milliarden DM auf 128 Milliarden DM. Ich sage der F.D.P., ich sage Herrn Westerwelle: Sie können sich die Sprüche „Wir wollen die Staatsschulden zurückfahren", im Interesse der nächsten Generationen wirklich schenken, weil Sie bei der Finanzierung der Einheit das Gegenteil gemacht haben. ({9}) Schaut man sich das Spektakel um den Solidaritätszuschlag an, so läßt sich die ganze Verantwortungslosigkeit einer ausschließlich an Koalitionsräson und Machterhalt orientierten Politik demonstrieren, Herr Bundeskanzler, Herr Kollege Schäuble. ({10}) Sie, Herr Kohl, Sie, Herr Waigel, Sie, Herr Schäuble, nahezu alle in der Unionsfraktion sind derselben Überzeugung wie wir, daß die Abschaffung des Solidaritätszuschlages jetzt schlicht falsch ist, daß eine Absenkung des Solidaritätszuschlages angesichts des Debakels beim Aufbau Ost, angesichts der Finanzlasten, die dort nach wie vor auf uns warten und die wir gemeinsam und solidarisch bewältigen müssen, eine falsche politische Entscheidung ist. Sie machen das nur wegen der Koalitionsräson, um eine Notbeatmung Ihres Koalitionspartners vor den letzten Wahlen hinzubekommen. Genau mit dieser Politik ruinieren Sie die Zukunftsperpektiven in diesem Land. ({11}) Ich frage Sie auch, Herr Bundeskanzler: Wo waren Sie eigentlich, der große Europäer Helmut Kohl, als der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf meinte, er könne sich über einen Entscheid der Kommission, die für mich nicht der Papst ist, die in der Kritik stehen kann, hinwegsetzen? Die Frage ist doch, ob man sich in Europa an bestimmte Verfahren hält. Denn wenn der eine meint, er müsse sich nicht an die Verfahren halten, dann werden sich dies die Duodezfürsten in anderen Teilen Europas sozusagen zum Maßstab machen. Wo war da der große Europäer Helmut Kohl? ({12}) Ich habe ihn nicht gehört, ich habe ihn nicht gesehen. ({13}) Ich nehme Ihnen Ihr Europa-Engagement - das wissen Sie - nicht nur ab, sondern ich halte es mit für den wertvollsten Teil Ihrer Leistung, der einmal in Ihrer Biographie zu beschreiben sein wird; ich sage das ganz offen. Aber, Herr Bundeskanzler, dann machen Sie doch endlich Schluß mit diesem grausamen Spiel mit Tschechien. Machen Sie doch endlich Schluß damit! ({14}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier die Gelegenheit nutzen, dem Bundespräsidenten für seine klaren Worte vor dem Verband der Vertriebenen zu danken. ({15}) Lassen Sie mich auch die Gelegenheit für die Feststellung nutzen - und ich hoffe, ich tue das für das ganze Haus -, daß Worte wie „Vaterlandsverräter" und ähnliches nicht nur den Interessen der Vertriebenen schaden, sondern daß dies in der politischen demokratischen Kultur Deutschlands nie wieder vorkommen darf. Wir wissen, was das in unserer Geschichte bedeutet hat. ({16}) Wir brauchen die Aussöhnung mit Tschechien. Ich appelliere nachdrücklich an Sie, Herr Bundeskanzler, jetzt endlich, endlich die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Es darf doch nicht wahr sein, daß einige wenige Vertriebsfunktionäre - ich weiß, die Masse der Sudetendeutschen sieht das völlig anders - und am Ende noch einige von der CSU Sie daran hindern, Ihren europäischen Auftrag, nämlich die Aussöhnung mit Tschechien herbeizuführen, endlich zu erfüllen. ({17}) Deswegen mein Appell, Herr Bundeskanzler: Ergreifen Sie endlich die ausgestreckte Hand! Doch zurück zum zentralen Thema. Die Finanzierungslüge der Einheit führt direkt zum Sparpaket. Das ist die Konsequenz. Denn damals wollte man die Einnahmen des Staates nicht erhöhen, obwohl der Joseph Fischer ({18}) Bedarf zur Finanzierung der deutschen Einheit gewaltig angestiegen ist. Man hat über Schulden finanziert, damit geriet man in die Zinsfalle, man hat die Einheit über die Sozialversicherungskassen finanziert, damit geriet man in die Falle zu hoher Lohnnebenkosten, und jetzt kommt als Konsequenz das Sparpaket. Jetzt soll die Masse der abhängig Beschäftigten plötzlich für eine völlig verfehlte Politik der Finanzierung der inneren Einheit, für diese Steuerlüge von damals, einstehen. Wir bestreiten überhaupt nicht, daß es Sanierungsbedarf gibt. Wer könnte das bestreiten? Wer könnte das bestreiten, der in den Kommunen Verantwortung trägt, der in den Ländern Verantwortung trägt? Nur, was wir nicht begreifen, beim besten Willen nicht, Herr Geißler, Herr Blüm: Wie oft wollen Sie diese Reden noch halten? Denn wenn es so weitergeht mit dieser Koalition, mit dieser Partei des organisierten Egoismus, dann werden Sie im Halbjahresrhythmus Sparpakete zu diskutieren haben, und im Halbjahresrhythmus wird dann die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft erklären müssen, warum sie zähneknirschend den letzten sozialen Sauereien immer noch zustimmt, weil irgendwelche Säulen nicht erhalten sind. Wie lange wollen Sie diese Reden eigentlich noch halten? ({19}) Wir werfen diesem Sparpaket - das für sich genommen nicht das Ende des Sozialstaates bedeutet; aber dabei bleibt es ja nicht, weil der Sanierungsbedarf mit dem, was in diesem Sparpaket drinsteckt, natürlich bei weitem nicht befriedigt ist - vor, daß die nächsten Hundertgrammportionen in Richtung Abbau des Sozialstaates selbstverständlich folgen werden, wenn diese Truppe dranbleibt. Das ist so klar wie nur etwas. ({20}) Ich frage Sie: Warum diese soziale Ungerechtigkeit in diesem Sparpaket? Nehmen Sie das Beispiel Kindergeld. Wir haben einen Vorschlag gemacht und gesagt: Haltet an der Finanzierung fest und nehmt als Gegenfinanzierung - wir haben es Ihrem Fraktionsvorsitzenden und auch dem Bundeskanzler geschrieben - die Besteuerung von Gewinnen bei der Veräußerung von Aktienpaketen, wie das im Mutterland des Kapitalismus, in Amerika, selbstverständlich ist! Das wäre eine Kleinigkeit, die aber mit der F.D.P. nicht zu machen ist; das ist völlig klar. Schauen Sie sich die Lohnfortzahlung für Schwangere an; CDU und CSU haben dies zum Bestandteil des Sparpakets gemacht, Sie dürften sich bei Ihren Positionen morgens eigentlich nicht mehr im Spiegel betrachten; ({21}) denn Sie wissen doch so gut wie ich, was das bei einer jungen Familie, bei dem knappen Einkommen bedeutet. Eine Frau wird sich nämlich, wenn sie in der Schwangerschaft Beschwerden hat, zweimal, dreimal überlegen, ob sie zum Arzt geht oder nicht. ({22}) - Ja, die nimmt einen Tag frei. Sie sind mir ein schöner Christ, wirklich wahr! ({23}) - Was ist daran Heuchelei? Ich sage Ihnen: Wir können uns in Zukunft die Lebensschützerdebatten sparen, Sie können sich die 218-Debatten sparen! ({24}) Unbeschadet davon, wo wir stehen, und ohne diesen Standpunkt zu teilen, sage ich: Ich habe großen Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen, die aus tiefster Überzeugung in der Frage der Abtreibung anderer Meinung sind als ich, aber ich dachte, daß wir wiederum in dem Punkt einig sind, eine kinderfreundliche Gesellschaft zu wollen. Zum Ja zum Kind gehört auch, daß man in der Schwangerschaft auf ärztliche Fürsorge zurückgreifen kann, ohne dafür Lohnabzüge in Kauf nehmen zu müssen, daß wir eine entsprechende Ausstattung mit Kindergärten in diesem Lande haben und insgesamt eine kinderfreundliche Gesellschaft schaffen. Ich dachte, zumindest dieses positive Ergebnis der ansonsten unsäglichen 218-Debatten gäbe es. Genau davon, meine Damen und Herren, verabschieden Sie sich mit dem, was Sie hier tun. ({25}) Höhepunkt des Ganzen ist jetzt die Steuerdebatte. Sie ist bei dieser Koalition nur noch chaostheoretisch zu begreifen. Der Bundesfinanzminister hat für teures Geld eine Kommission von hochmögenden Finanzexperten einberufen. Er bekam das Ergebnis; er las es, bekam einen cholerischen Ausbruch und warf es angewidert in den Papierkorb. Ich meine das Gutachten der Bareis-Kommission. ({26}) - Nein, ich hätte das nicht gemacht, in der Tat. Wenn ich ein Gutachten in Auftrag gebe, dann versuche ich, daraus etwas zu lernen. ({27}) Bei Ihnen war das ja anders. Sie mußten mit dem Kopf in den Papierkorb eintauchen und mit den Zähnen das Gutachten wieder herausfischen, nicht wahr? ({28}) Kaum hatte er es nämlich weggeworfen - zack! -, gab es einen Politikwechsel, und die Ergebnisse der Bareis-Kommission waren plötzlich wieder angesagt; eine Steuerreform war angesagt, bei der F.D.P. vorneJoseph Fischer ({29}) weg. - Herr Westerwelle freut sich, strahlt; ein Bild - wirklich wunderbar. ({30}) - Ich bin im Moment alles andere als verkniffen, mein Lieber; das können Sie mir glauben. Wir werden überhaupt in eine ganz neue Ebene der politischen Beziehung eintreten; das verspreche ich Ihnen. ({31}) Lassen Sie mich über die F.D.P. etwas Gutes sagen. Die F.D.P. forderte nämlich vorneweg - das Steuerthema ist das Thema - eine Senkung der Steuern. Da reagieren Sie von der F.D.P. ja fast wie ein Hund, der den Futtertrog sieht. Das Senken von Steuern ist das Programm der F.D.P., und das wird es bleiben - insofern handelt es sich bei ihr um eine „one issue"-Partei -; das gönne ich Ihnen. ({32}) - Sehen Sie, da oben klatschen sie sogar noch; es ist wunderbar. Hoffentlich haben die Leute an ihren Fernsehgeräten das gesehen. ({33}) Sie haben ja durchaus noch einen nachdenklichen Flügel, der die Sommerpause zum Nachdenken nutzte, nämlich den Abgeordneten Solms. Der Abgeordnete Sohns hat nachgedacht und gesagt: Au Backe, wenn wir das durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage gegenfinanzieren wollten, dann träfe das unsere Klientel. Am Ende wählen die uns gar nicht mehr! ({34}) Daraufhin meinte der Kollege Solms: Wir sollten doch lieber erst nach 1998 die Steuerreform machen. Es gab kluge Leute im F.D.P.-Präsidium, vorneweg den Generalsekretär ({35}) - bitte -, die daraufhin sagten: Nein, nein, das muß das Wahlkampfthema werden, mein lieber Solms. Eine gar zu große Nachdenklichkeit können wir uns in der Situation, in der wir sind, nicht erlauben. ({36}) Die Konsequenz ist: Die F.D.P. möchte jetzt, daß die Steuerentlastung vor dem Wahltag kommt, die Gegenfinanzierung nach dem Wahltag. ({37}) Dem Finanzminister schwant darob Schreckliches, zu Recht. Die CSU ist empört; Theo Waigel ist empört. Da hinein kam dann noch aus dem obersten Olymp, zwischen dem Streicheln von Kühen und dem Plätschern im See, die Äußerung des Bundeskanzlers: Die Mehrwertsteuer muß erhöht werden. Damit war das Chaos perfekt. ({38}) Also, meine Damen und Herren: Wat wollen Sie denn nu? Das ist die entscheidende Frage; das müssen Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Daraus werden wir Sie nicht entlassen. Wenn Sie verantwortliche Politik machen wollen, Herr Bundeskanzler, und nicht nur einen Koalitionspartner wieder einmal mit Hilfe eines Sauerstoffzeltes über Wahlhürden retten wollen, dann müssen Sie den Menschen sagen, daß eine Steuerentlastung, eine Nettoentlastung, angesichts der Haushaltslage, der Aufgaben der Einheit und der benötigten Zukunftsinvestitionen nicht drin ist. ({39}) Wir müssen eine Steuerreform machen, weil unser heutiges Steuersystem im Grunde genommen diejenigen bevorteilt, die nominal einem hohen Spitzensteuersatz unterliegen. Wenn ich das sage, so hat das nichts mit einer Neidkampagne zu tun. Die Hauptlast tragen diejenigen, die in die Progression hineingeraten; das ist der entscheidende Punkt. ({40}) Gut organisierte Vermögen können völlig legal ihre Steuerlast tendenziell gegen null bringen; ich gönne das den Leuten. Ich sage Ihnen aber: Wir sind für einen abgesenkten Steuersatz, sowohl unten als auch oben, und für einen linear-progressiven Tarif; etwas anderes ist mit uns nicht zu machen. Zu finanzieren wäre das ausschließlich über eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, über den Wegfall von Umgehungstatbeständen legaler Art und von Steuersubventionen und ähnlichem. Das ist mit uns zu machen. Aber wenn Sie den Leuten erzählen, wir könnten bei diesen Haushaltsschulden, die wir haben, bei diesen Aufgaben - Aufbau Ost, Zukunftsinvestitionen - zu einer Nettoentlastung kommen, dann heißt das, diesen Staat, diese Gesellschaft weiter in die Krise zu führen, die Zukunft nicht zu gestalten, sondern sie zu vertun. ({41}) Ich komme noch zu Ihren internationalen Beispielen. Natürlich wird in diesem Zusammenhang immer Amerika angeführt. Schauen Sie sich doch einmal den Zustand der Infrastruktur, des Bildungssystems, der Kriminalität in diesem Lande an. ({42}) Ich möchte Amerika nicht schlechtmachen. Die Frage ist nur: Wollen wir eine solche Gesellschaft? Oder wollen wir eine andere Gesellschaft, die diese Konflikte nicht so verursacht, wie wir das in Amerika erleben, sondern die am solidarischen GrundcharakJoseph Fischer ({43}) ter der Sozialen Marktwirtschaft festhält, von der Sie sich verabschiedet haben. ({44}) Deswegen: keine Nettoentlastung; Steuergerechtigkeit durch Steuervereinfachung; Senkung der Steuersätze linear-progressiv durch Streichung von Subventionen und Steuergeschenken; keine Gegenfinanzierung durch Einkommensteuersenkung, durch Mehrwertsteuererhöhung, denn das wäre wirklich dem sozialen Faß den Boden ausgeschlagen. ({45}) Daß die kleinen Leute die Steuersenkung für die Millionäre zu bezahlen haben, wäre nun wirklich das allerletzte. ({46}) Wir müssen die Vermögensteuer beibehalten und ausschöpfen. Da können Sie mir erzählen, was Sie wollen. Ihre Sorgen, Herr Kollege Schäuble, um die Kosten der Steuervereinnahmung hätten Sie sich meiner Meinung nach auch an anderer Stelle machen sollen; dann wären Sie glaubwürdiger. Die KfzSteuer ist unglaublich aufwendig einzunehmen. ({47}) Die Umstellung auf die Emissionsteuer - auf die Abgasemission - wird noch viel, viel teurer. Unseren Vorschlag, sie in die Mineralölsteuer zu integrieren, sollten Sie einfach übernehmen; dann hätten Sie einen Glaubwürdigkeitsgewinn, wenn Sie in so großer Sorge sind. ({48}) Wir sind für die Beibehaltung der Vermögensteuer. Ich will es noch mal ganz deutlich sagen, damit das klar wird: Wir wollen, daß gerade unter den Bedingungen der Krise, unter den Bedingungen struktureller Veränderungen, die vermutlich alle treffen, vielleicht sogar schwer treffen werden, die besitzenden Schichten in diesem Land bereit sind, gemäß dem, was sie tragen können, die Lasten zu schultern und zu übernehmen. Wir dürfen die Lasten nicht dauernd bei den am schlechtesten Organisierten, bei den Schwächsten der Schwachen abladen. Nur dann wird das funktionieren; nur dann wird dieses Land demokratisch zusammenhalten. ({49}) Wenn das nicht der Fall ist, dann gebe ich eine ganz pessimistische Prognose für die Zukunft dieses Landes, egal unter welcher Regierung. Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt ansprechen. Bei all diesen Debatten frage ich mich, ob wir nicht alle miteinander zu kurz springen. Was ist denn, wenn wir nie mehr Vollbeschäftigung bekommen? Von Norbert Blüm habe ich ein schönes Zitat gelesen. Er sagte: „Unsere Rentenversicherungsträger haben kein Problem, wenn wir wieder Beschäftigungszuwachs haben. " Aber was ist denn, wenn wir die Vollbeschäftigung auf Grund von internationalen Entwicklungen, auf Grund einer Produktivitätsrevolution, bei der immer weniger Arbeitnehmer immer mehr produzieren, nicht mehr bekommen? Müssen wir dann nicht über grundsätzliche Reformen nachdenken? Was heißt „Abschied von der Arbeitsgesellschaft" für Lebenszeit, für Arbeitszeit? Bei aller Notwendigkeit der Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit wird sehr schnell ein Grenzwert erreicht werden, ab dem es nicht weitergeht. Was heißt das: Das Wichtigste sind Bildung und Ausbildung? Müssen wir die nicht in die gesamte Lebensarbeitszeit integrieren? Was heißt es, daß neues Lebensalter enstanden ist? Gott sei Dank leben alte Menschen 30 Jahre und noch mehr jenseits ihres Arbeitslebens weiter. Das hält unser Rentensystem so nicht aus. Müssen wir nicht über ein neues Verhältnis von Arbeitszeit und Lebenszeit, in der neue Familien gegründet werden, in der auf allen Hierarchieebenen mit voller Kraft malocht werden muß, zur Lebensarbeitszeit nachdenken? Was heißt das für Teilzeit auf allen Ebenen? Ich kann Ihnen noch keine richtig operativen Antworten geben; das gebe ich ganz offen zu. Das wäre eine Überforderung. Die Fragen müssen aber gestellt werden. Ich werde den Verdacht nicht los, daß Globalisierung bedeuten wird, daß unsere traditionelle Arbeitsgesellschaft fundamental in die Krise geraten wird und wir nur die Alternative haben werden, diese Krise zu individualisieren; das heißt, ein Teil wird Globalisierungsgewinner, der andere Teil Globalisierungsverlierer sein mit all den fatalen Folgen für den Bestand unserer Demokratie. In der Konsequenz heißt das für mich, daß wir eine andere Vision entwickeln und im Widerstreit - nur so kommen die besten Ergebnisse heraus - in unserem Land gemeinsam durchsetzen müssen. Diese Vision möchte ich ansprechen. Ich will Ihnen gleich die Antwort geben. Seien Sie etwas geduldig! Ich möchte jetzt noch ein wenig in der Analyse bleiben. Überall - auch Kollege Schäuble hat es gerade wieder gesagt - gibt es Überbevölkerung, Umweltzerstörung und Unterentwicklung. Das sind die drei Geißeln des 21. Jahrhunderts. Wir als eine der führenden Industrienationen werden zur Lösung dieser Probleme beitragen müssen oder wir werden sie mit allen fatalen Folgen verschärfen. Wir müssen dann auch den Mut haben, unserer Bevölkerung zu sagen, daß es die Zuwächse der Vergangenheit vielleicht nicht mehr geben wird. Das heißt aber nicht nur quantitativ weniger; denn wir bewegen uns dann in einem neuen Dreieck, Kollege Schäuble. Wir haben dann die Grenzen des Wachstums auf der einen Seite, die Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf der anderen Seite, und drittens haben Joseph Fischer ({50}) wir die Zukunft unserer Demokratie. Sie muß mehrheitsfähig und rechtsstaatlich, nicht autoritär organisiert sein. Dieses Dreieck muß im Widerstreit der Parteien gestaltet werden. Das setzt voraus, daß man den Mut hat, der Bevölkerung entschlossene Reformen zuzumuten. ({51}) - Nein, das wollen Sie eben nicht. Sie wollen Ihre Klientel abfüttern, das ist das Gegenteil von entschlossenen Reformen. ({52}) Ich will Ihnen einmal etwas von einem klugen Kritiker der F.D.P. vorlesen. Ich zitiere aus der „FAZ": Die Globalisierung wird bisher überwiegend von ökonomischen Interessen vorangetrieben. Die F.D.P. verweigert eine politische und geistige Flankierung, die der wirtschaftlichen Leistung humane und soziale Ziele zur Seite stellt. Dabei kann es nicht im Interesse der Menschen dieser Welt sein, von einer verselbständigten Weltökonomie regiert zu werden. Wettbewerb ist erwünscht, aber menschliche Gesellschaften, die nur durch Gewinnstreben und Konkurrenz zusammengehalten werden, können auf Dauer nicht bestehen. Ich finde, das ist eine hervorragende Kritik an Ihrer Position, ({53}) und ich danke dem Forschungsminister Rüttgers für diese treffende Analyse seines Koalitionspartners. Vielen Dank. ({54}) Sie nutzen auch die Chance der Krise der Umwelt nicht. Lassen Sie mich noch einen Punkt, der mir wichtig ist, ansprechen. Wenn es so ist - vieles spricht dafür -, daß nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik, anders als noch in den 70er Jahren, mehr und mehr ins Hintertreffen gerät - das heißt, kaum noch zu machen ist -, dann müssen wir, wenn wir an einem solidarischen Gesellschaftsentwurf namens Soziale Marktwirtschaft festhalten, über die Beteiligung der abhängig Beschäftigten am Produktivvermögen neu nachdenken. Das erhält meines Erachtens eine völlig neue Qualität. ({55}) Wenn es in der internationalen Konkurrenz rückwärts geht und die Lasten gemeinsam getragen werden sollen und müssen, dann müssen auch die Erfolge, wenn es wieder aufwärtsgeht, gemeinsam getragen werden, und zwar dauerhaft. Das setzt meines Erachtens eine völlig neue Diskussion der Beteiligung der Masse der abhängig Beschäftigten auch mit Blick auf unser soziales System am Produktivvermögen voraus. Auch hier wäre eine notwendige Reformdebatte endlich zu beginnen. Ich möchte die Oppositionsparteien dazu aufrufen, das zu tun. Man sollte sich nicht davon irremachen lassen, daß das Thema von vorgestern sei. Es ist ein modernes Thema, das neu auf die Tagesordnung der Geschichte im Prozeß der Globalisierung gesetzt wird, und so sollte es auch diskutiert und entsprechend umgesetzt werden. ({56}) Nein, meine Damen und Herren, was Sie bei der Umweltpolitik versäumt haben, möchte ich im einzelnen gar nicht aufzählen. Sie haben die Chancen, mit der Energiesteuer endlich ein Absenken der Lohnnebenkosten herbeizuführen, völlig vertan. Das hätten Sie schon längst machen können. Das wissen auch Sie. ({57}) Ein neues Energiesystem und eine Verkehrswende wären auch im Hinblick auf die damit zusammenhängenden Arbeitsplätze sinnvoll. ({58}) - Ach was, alles Sprüche. Eine Opposition muß, mein lieber verehrter Herr Schäuble, Vorschläge machen. Ich freue mich auf 1998, wenn aus den Sprüchen Taten werden und Sie Ihre Sprüchlein weiter aufsagen dürfen. Das sage ich Ihnen. ({59}) Nein, wir brauchen den Mut, und es gibt überhaupt keinen Grund für oppositionelle Verzagtheit. Damit sollte endlich einmal Schluß sein. ({60}) Ich habe mir Ihre Halbzeitbilanz angesehen. Es gibt überhaupt keinen Grund für oppositionelle Verzagtheit. ({61}) Wir sollten diesen Marktradikalen - man kann doch die Ergebnisse in den USA unter Gingrich und Reagan und in Großbritannien unter Maggie Thatcher betrachten - unsere Vision entgegenhalten. Wir haben die Vision einer sozialen Bürgergesellschaft, die demokratisch und gerecht zusammenhält und gleichzeitig der Verantwortung für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung auf dieser unserer Erde gerecht wird. ({62}) Joseph Fischer ({63}) Bis 1998 wird es eine Auseinandersetzung um die Frage geben: Gehen wir den marktradikalen wirtschaftsliberalen Weg, von dem ich weiß, daß viele in der Union ihn nicht wollen -, oder gehen wir den Weg hin zu einer sozialen zivilen Bürgergesellschaft? Diese entscheidende Frage wird sich in den kommenden zwei Jahren verstärkt stellen. ({64})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt das Wort.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man hat Herrn Fischer angemerkt, daß ihm der gute Erholungsprozeß und die Beständigkeit der F.D.P. doch schwer zu schaffen machen. Sie sind nicht ein Ergebnis des Vorhabens der Steuerrefom, sie sind ein tiefes Ergebnis der Themen der Zeit und des notwendigen Wandels, den wir in Deutschland brauchen. ({0}) Wer sich diesem Wandel entzieht, wer sich diesem Wandel nicht stellt, wer Veränderungen verdrängt, wer im Bundesrat blockiert, wer Flexibilisierung verhindert, wer Läden noch früher schließen will, als es heute möglich ist, wer zu Steuerreformen nicht fähig und zu Haushaltseinsparungen nicht in der Lage ist, der bietet keine Zukunftschance für dieses Land. Das ist die Situation der Opposition. ({1}) Das hat nichts damit zu tun, daß man sich sozialen Fragen zuwenden muß. Aber es geht nicht um Marktwirtschaft plus Sozialpolitik. Diese Addition wird nicht funktionieren. Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards hat soziale Züge und Zwecke verfolgt. Sie kann aber nicht nur so gesehen werden, daß Marktwirtschaft mit Verteilung kombiniert wird. Marktwirtschaft selbst bändigt im Wettbewerb, ({2}) Marktwirtschaft selbst beschränkt Macht. Die Länder, in denen Wettbewerb ausgeschaltet ist, haben Machtstrukturen, nicht die Länder, die Wettbewerb zum Funktionieren bringen. ({3}) Das ist der tiefe Unterschied zwischen Freien Demokraten und Grünen. Herr Fischer, Sie haben ein neues Zukunftsmodell entworfen. Ich hoffe, daß sich Ihre Rede nicht ausschließlich an Fisherman's Friends gerichtet hat. ({4}) Bei uns ist der Eindruck, daß momentan die Kursbestimmung bei den Grünen eine notwendige Herausforderung für Sie ist. Sie stehen - das muß man der deutschen Öffentlichkeit sehr offen sagen - vor genau den gleichen Herausforderungen wie auch die Regierung. Die Frage ist nur, ob wir den Mut haben, sie hier so anzusprechen, wie sie die Menschen wissen. Die heute in der „FAZ" veröffentlichte Umfrage zeigt, daß die Menschen um tiefe Veränderungsnotwendigkeiten wissen, sich aber nur ungern öffentlich zugestehen, wo angesetzt werden muß. Ich sage für die Freie Demokratische Partei, weil es jeder weiß, ganz offen: Es gibt kein Rentensystem der Welt, wie immer es geartet ist, das bei längerer Lebenserwartung, wie wir sie dank hoher medizinischer Leistungsfähigkeit heute haben, bei immer früherem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben finanziell tragfähig wäre. Deshalb liegt der entsprechenden Gesetzesvorlage die Konsequenz der Erkenntnis dieses Sachverhalts zugrunde und keine Bösartigkeit gegenüber denen, denen wir heute sagen: Es ist nicht mehr zu finanzieren, mit durchschnittlich 57,8 Jahren in Rente zu gehen. ({5}) Wer die Konsequenz nicht zieht, sagt in Deutschland nicht die Wahrheit. Wir sagen die Wahrheit, und Sie führen die alten Verteilungskämpfe. Es gibt kein Land der Welt, das einen solchen Urlaubs- und Feiertagsanteil, solch hohe Löhne und solch hohe Lohnnebenkosten als Konsequenz sozialer Sicherungssysteme hat. Auch die Menschen wissen das. Sie wissen, daß sich unsere sozialen Systeme heute als Barrieren gegen Beschäftigung entwickelt haben. Wer das nicht neu austariert, wer dieses neue Austarieren verschiebt, der wird niemals einen Beitrag zu mehr Arbeit in Deutschland leisten. ({6}) Es ist nicht ein Freier Demokrat, der Ihnen das vorträgt, meine Damen und Herren aus der Opposition, es ist Klaus von Dohnanyi, der das mehrmals publiziert hat. Es ist heute an der Zeit, die Politik, die wir auch in einer sozialliberalen Koalition der 70er Jahre gemacht haben, zu überdenken, und zwar dahin gehend, ob denn nicht all das, was wir an Sozialem in Gang gesetzt haben, heute deshalb überprüft werden muß, weil jeder spürt: Es richtet sich gegen Beschäftigung. ({7}) Wir dürfen niemals die Erkenntnis verdrängen, daß Wohltaten bei manchen auch Antriebslosigkeit erzeugen - wir haben es mit Menschen zu tun, für die wir arbeiten -, daß Wohltaten von manchen ausgenutzt werden. Ich frage zurück, ob es in Deutschland nicht auch ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl bei denen gibt, die eine Arbeit annehmen, während ein Nachbar oder jemand im Freundeskreis diese Arbeit nicht annimmt, der aber über soziale Sicherungssysteme gegebenenfalls genauso viel erhält wie der Mensch, der Arbeit annimmt. Auch dies ist eine Gerechtigkeit, die wir benennen und formulieren müssen. ({8}) Die ständigen Reparaturen an ineffizienten Systemen, dieses Stück sozialdemokratischer Politik ist zu Ende, weil das nicht mehr ausreicht. Lord Dahrendorf spricht von einem Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Er meint damit nicht die Notwendigkeit sozialdemokratischer Grundströmungen, die man in einer Demokratie braucht. Er meint damit vielmehr sozialdemokratisches Denken, das an seiner Grenze angekommen ist, ({9}) und zwar weil es nicht nur darum geht, wer soziale Maßnahmen kappen will und wer nicht, sondern weil wir alle wissen, wie die Einnahmesituation öffentlicher Haushalte und die Beschäftigung in Deutschland aussehen. Die Frage ist nur, ob man das zur Kenntnis nimmt oder ob man es verdrängt, ob man in Debatten so tut, als wäre das, was die Koalition macht, alles nicht nötig, und bei den Menschen den Eindruck erweckt, man müsse nichts verändern, man müsse soziale Maßnahmen nicht korrigieren. Wenn wir sie heute nicht korrigieren, werden wir weder Beschäftigungslosigkeit bekämpfen noch eine Zukunftsvoraussetzung schaffen. Wir bekämpfen das. Wir strengen uns an. Wir nehmen auch Kritik in Kauf. Denn wir halten das für notwendig. ({10}) Es kommt noch auf weitere wichtige Klarstellungen an. Es reicht nicht - das ist zutiefst auch im Bericht der OECD zum Ausdruck gebracht worden -, Haushalte mit Sparanstrengungen zu versehen, Lohnnebenkosten, soweit sie in unserer Verantwortung sind, zu reduzieren und soziale Sicherungssysteme zu verändern. Im Kern rät die OECD zu einer gänzlichen Bildungsstrukturreform in Deutschland, und zwar aus gutem Grund. Unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten wir nur, wenn neben Steuerreformen und Haushaltskonsolidierungen ein Potential ausgeschöpft wird, das den Kern der Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes ausmacht. Das sind die Menschen, die sich in Bildungs- und Qualifizierungssystemen in Deutschland befinden. Wahr ist aber auch, daß wir die alten ideologischen Diskussionen, welche Schulform der anderen überlegen sei, in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland beiseite schieben müssen. Die Gesamtschule hat sich dem Gymnasium nicht als überlegen erwiesen. Die Hochschulreformen stocken, weil die Hochschulen selber nicht in der Lage sind, Studiengänge anzubieten, um die jungen Menschen einem berufsqualifizierten Abschluß früher zuzuführen. Manche verdrängen klare Leistungsfeststellungen. Unser verehrter Herr Bundespräsident hat das System, das wir seit Jahren haben, mit dem Hinweis gebrandmarkt: Der Ernstfall wird immer weiter hinausgeschoben. Wer in der Grundschule keine Noten geben will, versündigt sich an der Zukunftsfähigkeit der Kinder. ({11}) Wer in Deutschland darüber diskutiert, ob man unbedingt 13 Jahre bis zum Abitur braucht, der verschiebt den Berufseintritt in den Wettbewerb der Volkswirtschaften für die deutsche nachwachsende Generation um ein Jahr. ({12}) Kompetenz entsteht nicht dadurch, daß man möglichst lange ausbildet. Kompetenz kann auch dadurch entstehen, daß man sich im Beruf weiterentwickelt. ({13}) Wir haben im beruflichen Bildungssystem die Notwendigkeit, das ungeheuer gute Wettbewerbsmodell Deutschlands neu zu stabilisieren. Der schulische Teil im berufsbildenden Schulwesen in den Ländern ist zu überprüfen. Es ist wahr, daß ein Lehrling heute dem Betrieb zu lange - ich kann diesen Ausdruck ohne Scheu nennen - entzogen wird, wo doch die Kompetenz des dualen Systems in gleichgewichtigen Anteilen von Schule und Betrieb entsteht. Ein Lehrling muß in der Lebenswirklichkeit des Betriebes Kompetenz gewinnen und nicht nur durch den Unterricht in der Schule. Wir Deutschen besitzen ein Denken, das durch Verkrustungen, die Herr Fischer auch noch trägt, gekennzeichnet ist. Er hat sich noch nicht von der Vorstellung verabschiedet, Leistung sei eine Kategorie der Ellenbogengesellschaft. Leistung ist ein Stück Lebenserfüllung von Menschen, die Freude gibt. ({14}) Es ist ein völlig falscher Weg - wie ihn SPD und Grüne in den Ländern gehen -, eine Integration Behinderter ins öffentliche Schulwesen auf Teufel komm raus zu machen. Kinder brauchen Lernerfolge. Wenn ein behindertes Kind in der Sonderschule Lernerfolge hat, ist das besser, als im allgemeinen Schulwesen durch Mißerfolge frustriert zu werden. ({15}) Dieses falsche Denken hindert uns daran, Talente wirklich auszuschöpfen. Wir vergeuden Talente in unseren Ausbildungsstrukturen; wir haben zu lange Ausbildungszeiten und verpassen dadurch viele Chancen. Die Steuerreform, die wir durchführen wollen, ist keine Steuerreform für nur einen Teil der Gesellschaft. Sie ist notwendig, damit in Zukunft Arbeit in Deutschland wieder besser möglich wird. Dafür wird diese Steuerreform gemacht. ({16}) Ich wiederhole es zum Mitschreiben: Unsere Vorschläge zur Steuerreform, die wir in der Koalition nach Vorlage der Reformkommission gemeinsam beraten und entscheiden werden, sind nicht erarbeitet worden, um irgend jemandem die Taschen zu füllen. Sie werden mit aller Konsequenz umgesetzt, um mehr Beschäftigung in Deutschland zu erzeugen. Das ist unser Ziel. ({17}) Wir wollen eine Tarifentlastung für jeden Normalverdiener in Deutschland. Wir möchten die Substanzbesteuerung abschaffen, die mittelständische Betriebe heute daran hindert, Eigenkapital zu bilden. Wenn man sich wie Herr Scharping an die junge Generation wendet und an den Bundeskanzler appelliert, er sollte sich um die Lehrstellen kümmern - das tut er; das tun wir alle -, dann muß man aber auch die Gewerbekapitalsteuer abschaffen. Sie ist ein Hindernis für die Beschäftigung in vielen kleinen und mittleren Betrieben. ({18}) Ich sage ganz klar: Je früher eine Steuerreform in Kraft gesetzt werden kann, desto besser ist es für die ökonomische Entwicklung. Dieser Streit wird nicht mit Fingerhakeleien ausgetragen. Wir werden uns darüber vielmehr nach Abschluß der Vorlage der Reformkommission in der Koalition unterhalten. Ich sage Ihnen eine Lösung voraus, die die Koalition freuen und die Opposition erzürnen wird. Diese Lösung werden wir gemeinsam durchsetzen - mit dieser Koalition und mit keiner anderen. So haben wir es vor. ({19}) Ich will zum Thema Steuerreform noch folgendes sagen. Es war seit dem vergangenen Sommer ein absurdes Schauspiel, daß wir zunächst gebeten wurden - mit dem Signal aus der SPD, man sei gegebenenfalls zu Gesprächen bereit und brauche noch etwas Zeit, um das Bewußtsein in den eigenen Reihen zu verbreitern, daß die Gewerbekapitalsteuer eine Substanzsteuer sei -, bei dem Thema Gewerbekapitalsteuer noch etwas zuzuwarten. Wir haben dann etwas zugewartet und jetzt versteift sich die ganze Situation wieder, Frau Matthäus-Maier. ({20}) Die Gewerbekapitalsteuer muß von jemandem bezahlt werden, der überhaupt noch keinen Gewinn erzielt hat und der sich einen Kredit bei der Sparkasse holt, um eine betriebliche Investition zu tätigen. Das ist die absurdeste Steuer, die ich überhaupt kenne. Die muß weg! Morgen! ({21}) Wenn wir, Herr Kollege Fischer, schon über Ref ormen reden, wenn wir dieses Land modernisieren wollen, dann reden Sie bitte einmal auch in Ihren Reihen über die absurdeste Veranstaltung, die die Arbeitsmärkte zum Erliegen und zum Erstarren bringt: die Flächentarife in der heutigen Form. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht in der Lage sind, das System der Flächentarife zu reformieren, ({22}) dann werden mittelständische Betriebe größere wirtschaftliche Schwierigkeiten bekommen. ({23}) Es ist absurd, daß man den Betrieben nicht mehr eigene Dispositionsmöglichkeiten bei Arbeitszeit und Löhnen gibt. ({24}) Es ist wahr, daß Daimler-Benz Löhne bezahlen kann, die der mittelständische Betrieb im Erzgebirge nicht zahlen kann. Es ist wahr, daß saisonale Auftragslagen bei dem einen Betrieb im Frühjahr und bei dem anderen im Herbst auftreten. Trotzdem werden sie daran gehindert, dieser Tatsache bei den betrieblichen Dispositionen Rechnung zu tragen. ({25}) Wenn Sie nicht Optionen für mittelständische Betriebe möglich machen, dann macht uns das Tarifkartell von Arbeitgebern und Gewerkschaften die Flexibilisierungsmöglichkeiten zunichte. Kein Land ist im Bereich des Arbeitsmarktes so erstarrt wie Deutschland. ({26}) Das merkt man an den Zwischenrufen, an welchen Tabus man hier rührt. Wir haben in Deutschland bei manchen Systemen Religionswächter, die ein Verbot aussprechen, darüber überhaupt zu diskutieren. Aber nicht der Bundeskanzler und diese Koalition haben allein Verantwortung für Arbeit in Deutschland, sondern auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben Verantwortung und müssen diese wahrnehmen. ({27}) In Deutschland ist weitestgehend das öffentliche Denken verbreitet, der Staat solle alles lösen und die Regierung sei für alles zuständig und an allem schuld, obwohl wir ein verfassungsrechtliches Geflecht haben, in dem es viele Verantwortlichkeiten gibt. Diese Leute treten jedoch immer beiseite, wenn es ernst wird, zeigen auf den Bundeskanzler und sagen, die Regierung solle es richten, ({28}) und drücken sich im Freundes- und Bekanntenkreis vor klarer Auskunft. Wenn die Flächentarifverträge, wie wir sie in Deutschland haben, von den beiden TarifvertragsDr. Wolfgang Gerhardt parteien nicht reformiert werden, ist das ein Hindernis für Beschäftigung in Deutschland. ({29}) Deshalb ist die Aussage von hier an viele, die politische Mitverantwortung haben: Wenn wir jetzt nicht die Kraft aufbringen, erstarrte Systeme zu verändern, dann wird uns ein Veränderungsdruck überrollen, der viel dramatischere gesellschaftliche Zustände in unserem Land herbeiführt, als wir sie nur erahnen können.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Gerhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Luft?

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Gerhardt, entschuldigen Sie, ich bin eine Weile übersehen worden, daher kommt meine Zwischenfrage erst jetzt. - Sie sagten vorhin, Betriebe im Erzgebirge könnten die Tariflöhne nicht zahlen. Sie wissen doch sicherlich so gut wie ich, daß in den neuen Bundesländern schon jetzt 60 Prozent aller Unternehmen nicht in Unternehmensverbänden sind und folglich keine Tariflöhne zahlen. Sie sind im Sommer durch die Regionen der neuen Bundesländer gefahren. Dort haben Sie sicher erfahren, daß viele Menschen dort für 2 000 DM oder 2 500 DM brutto im Monat arbeiten. Können Sie diesen Menschen bitte sagen, wohin Ihr Rat gehen soll? Sollen die Löhne noch weiter gesenkt werden, damit mehr Arbeit entsteht? Das ist meine erste Frage an Sie. Zweitens. Sie sagten, es gebe so oft den Ruf nach dem Staat. Ich habe im Sommer eine Äußerung von Ihnen gelesen. Vielleicht war es eine nicht autorisierte, aber jedenfalls haben Sie gesagt: „Dieser Ausbildungsnotstand in der Bundesrepublik Deutschland erfordert, daß der Staat nicht blind danebensteht. " Vielleicht können Sie uns sagen, in welcher Richtung Sie hier staatliche Aktivitäten für notwendig halten. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. Die erste Frage gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß Ihre Schilderung aus den neuen Ländern zutrifft. Sie zeigt die ganze Unwahrheit dieses Tarif kar-tells, das Flächentarifverträge nicht reformiert. Der gesamte DGB weiß, daß diese Tarife in den Betrieben im Grunde nicht gezahlt werden. Mein Appell geht dahin, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen und die Flächentarifverträge zu reformieren. ({0}) - Ich sage noch einmal an die Sozialdemokraten: Das ist die Wahrheit. Sie wissen, daß viele Betriebe ausscheiden. Sie wissen, daß heute viele Betriebsräte ihre eigenen Vereinbarungen machen. Wenn aber jemand im Deutschen Bundestag sagt: „Reformiert das System, das erkennbar nicht funktioniert", dann erzählen Sie, er wolle irgend jemandem ans Leder. Wenn der Deutsche Gewerkschaftsbund - er ist mir wichtig als Tarifpartner - auch in Zukunft eine Rolle spielen soll, muß er sich verändern und ein Stück umdenken. Zur zweiten Frage der Kollegin Luft. Ich halte das duale System für notwendig. Im dualen System gibt es die Pflicht der Wirtschaft auszubilden. Deshalb sage ich sehr offen - wie auch andere aus der Koalition -: Wenn die Arbeitgeber am dualen System festhalten wollen, müssen sie jetzt ihrer Pflicht nachkommen, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Immer gehen wir zunächst den freiwilligen Weg. Aber ich sage genau das, was die Bundesregierung macht: Wenn zu Beginn einer Ausbildungszeit junge Menschen ohne Ausbildungsplatzchance sind, weil keine Ausbildungsplätze angeboten werden, dann hat die Bundesregierung in den letzten Jahren - dazu bekenne ich mich - immer die Kraft gehabt, Haushaltsmittel zur Verfügung zu stellen. ({1}) Denn unsere Auffassung war: Kein Mensch aus der jungen Generation soll in das Leben entlassen werden, ohne daß ihm dieses Land eine Ausbildungschance vermittelt. Das ist die Haltung. So sehe ich das.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Kollege Gerhardt, nun hat sich noch Herr Dreßen zu einer Frage gemeldet.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darf ich jetzt meine Rede fortsetzen? Wir haben doch heute die Gelegenheit, politische Betrachtungen im Zusammenhang anzustellen. Ich will noch einen Punkt ansprechen, der neben diesen Themen aus unserer Sicht wichtig ist. Es geht nämlich im Kern schon um die Frage, wie freiheitliche Gesellschaften heute Energien aufbringen können, ohne nur auf materielle Anreize zu sehen. Zutiefst sind die großen politischen Veränderungen der letzten Jahre ja auch Notwendigkeiten gewesen, die uns im Westen jetzt gesellschaftlich voll erreichen. Vielleicht haben einige gedacht, es würde die 17 Millionen Deutschen in den neuen Ländern betreffen, doch wir spüren, daß Mauer und Stacheldraht auch für uns im Westen bequeme Einrichtungen waren. In unserem Denken haben wir Politik durch Verteilung gemacht. Die ganze Sozialdemokratische Partei konnte lange Jahre theoretisch an Wohlfahrtsstaatsmodellen arbeiten. Wir hatten jährliche Wachstumsraten. Wir haben Wahlkämpfe nach dem Motto „Wer bietet mehr?" geführt. Diese Zeiten sind zu Ende. Jetzt erweist sich, ob man politische Kraft aufbringt, sich umzustellen und auf die Substanz freiheitlicher Gesellschaften wieder zurückzukommen, auf die Kernerfolge ihrer Geschichte. Das sind in unserem Land eine föderative Grundordnung und staatliche Institutionen, die eine freiheitliche Demokratie institutionell absichern. Das ist in unserem Land eine marktwirtschaftliche Ordnung, die Produktivität ermöglicht und die im weltweiten Vergleich zur Sozialpolitik befähigt. Das ist in unserem Land die technische Höchstleistungsfähigkeit gewesen - wir müssen sie wieder stärker zurückgewinnen - und die Kompetenz aller Berufe, die wir in diesem Land haben. Das ist in unserem Land die klare Erkenntnis gewesen, daß sich die Außenpolitik europäisch einbetten muß, daß sie Bündnispartner braucht, daß wir Deutschen auf Grund unserer geographischen Lage und unserer Geschichte wie kein anderes Land auf das Vertrauen der anderen angewiesen sind. Das war Staatsräson, das war nicht Beliebigkeit in der Außenpolitik. Uns muß immer bewußt sein, daß eine freiheitliche Gesellschaft ihre Freiheitlichkeit nur erhalten kann, wenn sie die Quellen nicht zuschüttet, die Freiheitlichkeit gespendet haben. Im Verlauf der Debatten der letzten Jahre haben sich in Deutschland viele ans Werk gemacht, diese Quellen zu verschütten. Es ist nicht mehr das Bewußtsein erzeugt worden, wie Produktivität entsteht, sondern es ist ein Schlagabtausch darüber geführt worden, wie verteilt werden kann. Man muß wieder darauf hinweisen, daß wir jetzt vor der Herausforderung stehen, Produktivität in Deutschland zu erzeugen, um denen, die Hilfe brauchen, helfen zu können. Das muß wieder öffentlich gesagt werden. Das ist die Aufgabe dieser Koalition. Deshalb ist sie von den Menschen gewählt worden. Wir sind nicht gewählt worden, um Wahrheiten nicht zu sagen, Konflikte zuzuschütten und Lagen zu verdrängen. Wir haben ein Mandat, weil die Menschen uns zutrauen, ihnen eine Zukunftschance durch Modernisierung und Reformbereitschaft zu geben - dem wollen wir gerecht werden. ({0}) Wir wollen also für den Strukturwandel offener sein. Herr Scharping hat heute morgen eine Modernisierungsrede gehalten. Ich fange da einmal beim Thema Steinkohlebergbau an und frage mich, welche Modernisierung durch Strukturwandel dort stattfindet. Ich frage den saarländischen Ministerpräsidenten, wie er denn in seinem Land die Kohlepolitik im Strukturwandel vertritt. Bisher habe ich da nur Besitzstandswahrer gesehen. Mutig waren die Herren nicht. ({1}) In Niedersachsen schüttet ein Ministerpräsident in der letzten rot-grünen Legislaturperiode den öffentlichen Haushalt mit 9000 Stellen zu. Dann langt er gewaltig in den kommunalen Finanzausgleich hinein, nimmt den Kommunen das Geld weg, tritt hier als wirtschaftspolitisch sachkundiger Sprecher auf, wird einmal entlassen und dann wieder installiert. Jetzt ist er im Gerede für neue Aufgaben. Das ist doch keine Modernisierung! Das ist doch die Kampfkraft eines Hühnerhaufens, die sich dort entwickelt hat. Das ist keine Reform in Deutschland. ({2}) Ich glaube nicht, daß dieses Land - eigentlich war immer die Opposition die treibende Kraft für Veränderungen und Reformen - jemals eine so modernisierungs- und reformunfähige Opposition gesehen hat, wie wir sie heute haben. Ich möchte Sie deshalb ermuntern; das käme ja auch uns entgegen, wenn das etwas konzeptioneller würde. Meine Damen und Herren, wir sind nicht allein auf der Welt, es gibt nicht nur deutsche Branchen und deutsche Befindlichkeiten. Wir müssen sehen, daß in anderen Kulturkreisen dieser Welt kulturell gewachsene Arbeitshaltungen da sind, die höchst effektiv sind. Ich möchte nicht, daß wir diese Systeme kopieren; sie neigen auch sehr zu autoritärer Führung. Aber klar ist, daß wir diesen Wettbewerb, wie das der Kollege Schäuble gesagt hat, nur gewinnen können, wenn wir ihn aufnehmen. Wenn wir so tun, als gäbe es ihn nicht, dann werden wir in große Schwierigkeiten geraten. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, auch in Deutschland über ganz einfache Tugenden zu sprechen. Was ist Solidarität? Ist derjenige solidarisch, der, obwohl es ein Sicherungssystem gibt, zunächst einmal etwas für sich selbst tut, bevor er das System in Anspruch nimmt? Oder ist derjenige solidarisch, der sagt: Da es ein Sicherungssystem gibt, nehme ich es in Anspruch? Ist derjenge solidarisch, der nach einer Krankheit sagt: Es geht mir wieder etwas besser; ich gehe zurück an meinen Arbeitsplatz, weil die Kollegen sonst so viel zu tun haben? Oder ist derjenige solidarisch, der sagt: Ich könnte j a noch drei Tage länger zu Hause bleiben? - Wir reden hier über ganz einfache Tugenden. - Trägt derjenige zum Sozialprodukt einer Gesellschaft bei, der leistungsbereiter und leistungsfähiger ist als andere? Müssen wir nicht ihm eine Chance geben? Oder ist derjenige solidarisch, der sagt: Es gibt einen staatlichen Transfer; vielleicht muß ich nicht bis an die Grenze meiner Leistungskraft gehen? ({3}) Nein, wir kolportieren einen völlig falschen Solidaritätsbegriff. ({4}) Ich fühle mich mit denen solidarisch, Herr Scharping, die zuallererst, wenn sie morgens aufstehen, daran denken, was sie für sich selbst tun könnten und sollten. Wenn wir mit denen nicht solidarisch sind, werden wir denen, die das nicht schaffen, nicht helfen können. ({5}) Das ist die Wahrheit. Man muß den Menschen einmal sagen, daß sie in der Politik Befürworter haben, die ebenfalls ihrem Beruf nachgehen, die etwas leisten wollen. Nur so können wir jenen helfen, die Hilfe brauchen. ({6}) Meine Damen und Herren, die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist, seit es dieses Land gibt, wenn auch über manch kritische Auseinandersetzung, glücklicherweise erfolgreich gewesen, da in bestimmten geschichtlichen Abschnitten bei unterschiedlichen Konstellationen, rückblickend betrachtet, nach heftigen Auseinandersetzungen richtige Entscheidungen getroffen worden sind. Das hat für uns manche Tabuschwellen gebracht. Hierbei denke ich zum Beispiel an die Diskussion über die Oder-Neiße-Linie. Ich will aber sagen: Wir sind souverän genug, um bei manchen Tabus offen zu sagen, wie wir das sehen. Ich halte Vertreibung für ein großes Unrecht; diesen Menschen ist extremes Leid zugefügt worden. Ich habe auch die Enteignungen in den Jahren von 1945 bis 1949 für Unrecht gehalten und halte sie noch heute für Unrecht. Ich darf daran erinnern, daß auch Menschen enteignet worden sind, die in der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 waren. Denen - das muß ich uns in Gesamtdeutschland sagen - ist bitteres Unrecht geschehen. Das waren keine Junker. Das waren Menschen, die für die Zukunft Deutschlands einen guten Beitrag geleistet haben. ({7}) Heute einfach zu sagen - das spreche ich bewußt an - „Das ist geschehen", wäre mir zu kurz. Wir können Geschichtsbücher nicht umschreiben. Aber die Ereignisse nach 1945 haben so vielen Menschen Leid zugefügt, daß wir als Deutsche das auch aussprechen dürfen. Wir müssen nur wissen, daß es damit nicht angefangen hat. ({8}) Der Beginn des Leids wurde zuvor durch eigene, durch deutsche Politik veranlaßt. ({9}) Wir haben nun mit nahezu allen Nachbarländern normale Beziehungen. Wir haben freundschaftliche Bande entwickelt. Wir haben Grenzen überwunden. Diese wollen wir ohnehin durchlässiger machen; sie sollen ihre alte Funktion verlieren. Wir wissen, daß wir auf dem Weg nach Europa keine Alternative haben. Ich erkläre für die Freie Demokratische Partei: Wir werden alsbald zu einem deutsch-tschechischen Abkommen kommen. ({10}) Es ist an der Zeit. Das weiß die Koalition insgesamt. Dies wird jetzt zu Ende gebracht. Dann werden wir eine Übereinkunft haben, die tragfähig und versöhnlich ist und in der die politischen Streitfragen in gegenseitigem vertrauensvollen Einvernehmen geklärt sind. Ich danke dem Bundesaußenminister für seine schwierigen, aber guten Verhandlungen ({11}) und wünsche, daß diese jetzt zum Abschluß kommen. Wir werden das auch tun. Wir befinden uns in einer Koalition, die gut zusammenarbeiten will, bei der man nicht wöchentlich Druck macht. Wir legen aber Wert darauf, daß wir in diesem Herbst dieses Übereinkommen zu Ende bringen. ({12}) Ich sage das, weil der Mainzer Bischof Lehmann recht hat, wenn er sagt, daß Wiedergutmachung nicht nur ein materieller Vorgang ist, sondern vor allem ein geistiger. Das verlangt Größe und Souveränität auf allen Seiten. Wir bringen die auf. Der tschechische Staatspräsident Havel hat sie auch aufgebracht. Wir sollten die Völker beider Staaten nicht mehr allzu lange warten lassen. Die Außenpolitik befindet sich bei Klaus Kinkel in guten Händen. Er kennt die Notwendigkeiten internationaler Beziehungen Deutschlands. Er treibt keine Eskapaden. Er muß nach den großen Veränderungen der letzten Jahre kritische Situationen bewältigen. Er hat diese Leistung in einer Arbeitshaltung vollbracht, die ihm internationale Anerkennung verschafft. Wir wollen das in diesen sicheren Händen belassen. Herr Scharping, das sage ich an dieser Stelle, weil ich vor wenigen Tagen zur Kenntnis genommen habe, welche Alternative Sie der Koalition entgegensetzen wollen. Ich glaube, in bezug auf die Reformfähigkeit im Innern und die Geradlinigkeit nach außen bietet ein rot-grünes Bündnis keine Alternative - schon gar nicht, wenn Sie die PDS mit einkalkulieren. Deutschland braucht zuallerletzt eine solche Konstellation. Sie ist reform- und modernisierungsunfähig, kann die sozialen Sicherungssysteme nicht rechtzeitig reformieren und weiß noch nicht einmal richtig, wie ein Arbeitsplatz entsteht. Sie nährt eher den Glauben, das käme über staatliche Haushalte statt über Menschen, die sich anstrengen, schlaflose Nächte verbringen und Risiken eingehen, um Arbeitsplätze zu schaffen. ({13}) Dieses Land ist aus der Katastrophe von 1945 mit Prinzipien herausgekommen, die in dieser Koalition bzw. bei den Freien Demokraten beheimatet sind. Dabei wollen wir es auch belassen. Wir haben Schwierigkeiten, aber wir tun unser Bestes, um über Gesetze und Kanzlermehrheit - am Freitag - eine Chance für mehr Beschäftigung in Deutschland und damit für die Grundfestigkeit einer stabilen Demokratie zu schaffen. Das kann uns nicht bis zum letzten Arbeitslosen gelingen. Das können wir nicht zusagen. Das wird auch nicht übermorgen gelöst sein. Aber die Menschen mögen erkennen, daß wir uns in die richtige Richtung bewegen. Die OECD hat uns das bestätigt. Sie hat uns sogar zu weitergehenden Schritten ermuntert. Warum sollten wir also ablassen, das in dieser Koalition weiter zu pflegen? Auf weitere gute Zusammenarbeit! ({14})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Vorsitzenden der Gruppe der PDS, Dr. Gregor Gysi, das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gerhardt, Sie haben gerade auf die Überflüssigkeit dieser drei Fraktionen bzw. Gruppe hingewiesen und erklärt, daß Deutschland sie nicht braucht. Ich finde, das sollten wir die Wählerinnen und Wähler entscheiden lassen. Ich muß Ihnen sagen: Wenn überhaupt, dann wird meines Erachtens die F.D.P. am wenigsten in Deutschland gebraucht. ({0}) Sie haben gerade erklärt, daß Sie Solidarität mit den Menschen üben wollen, die beim Aufstehen als erstes daran denken, was sie heute für sich tun können. Das heißt, Sie haben sich mit den Egoisten solidarisch erklärt. So würde die Ellenbogengesellschaft aussehen, die Sie hier predigen. ({1}) Sie haben sich auch widersprochen: Sie haben nämlich gesagt, daß es zur Beschaffung von Arbeitsplätzen erforderlich sei, daß die Gewerkschaften akzeptieren würden, daß die Zeit flächendeckender Tarifverträge vorbei ist. Sie haben in Ihrer Antwort auf die Frage der Kollegin Luft akzeptiert, daß 60 Prozent der Unternehmen in Ostdeutschland durch flächendekkende Tarifverträge überhaupt nicht erfaßt sind. Wenn Ihre Logik stimmen würde, dann müßte es im Osten ja massenhaft Arbeitsplätze geben. In Wirklichkeit aber gibt es dort einen gigantischen Abbau von Arbeitsplätzen. Letztlich steckt hinter Ihrer Theorie nichts anderes als der Versuch einer Schwächung der Gewerkschaften. Denn ohne flächendeckende Tarifverträge geht deren Funktion natürlich deutlich zurück. ({2}) Sie beziehen sich immer auf die internationalen Werte, nehmen aber nur die Statistiken zur Kenntnis, die Ihnen passen. Warum sagen Sie nichts über den Index für Menschlichkeit der UN? Die UN hat am 15. Juli bestätigt, daß Deutschland diesbezüglich von Platz 9 auf Platz 18 zurückgefallen ist. Das heißt, Sie haben den Grad der Menschlichkeit in dieser Gesellschaft erheblich abgebaut. Der Bundesfinanzminister hat gestern zu Beginn seiner Rede darauf hingewiesen, daß die Vorschläge aus der Opposition für die Lehrstellenabgabe unsinnig seien und daß es dem Engagement des Kanzlers zu verdanken sein wird, wenn die Jugendlichen doch noch einen Ausbildungsplatz erhalten. Auf diesen Zaubertrick, Herr Bundeskanzler, bin ich gespannt. Ich befürchte, es wird ein statistischer. Tatsache ist, daß noch immer über 100 000 Ausbildungsplätze für Jugendliche fehlen. Ich sage mit Blick auf eine Gesellschaft, die so reich ist wie die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland: Es ist ein einzigartiger Skandal, wenn Schulabgänger in Arbeitslosigkeit statt in Ausbildung entlassen werden. ({3}) Was haben wir gefordert? - Wir haben gefordert, daß die Unternehmen, die ausbilden könnten und es nicht tun, eine Abgabe leisten, die von der Bundesanstalt für Arbeit verwaltet wird, um damit Ausbildung zu finanzieren. Daran ist nichts Ungerechtes. Das wäre in höchstem Maße gerecht, auch hinsichtlich der Verteilung der Lasten. Statt dessen geht der Kanzler davon aus, daß es genügt, wenn er den Arbeitgeberverbänden zeigt, daß er beleidigt ist und sich wünscht, daß einer Bitte von ihm schneller und konsequenter entsprochen wird. Das Problem, Herr Bundeskanzler, ist nur: Die werden Ihnen etwas husten, und zwar deshalb, weil sie ein klares Interesse haben. Sie wollen nämlich den Mangel an Ausbildungsplätzen nutzen, um die Kosten für Ausbildung im Interesse ihrer Profite zu reduzieren. Es soll der Boden bereitet werden, um die Ausbildungszeit zu verkürzen, den Anteil an Berufsschulausbildung zu reduzieren, Samstags- und Sonntagsarbeit von Jugendlichen zu ermöglichen und die Ausbildungsbeihilfen zu kürzen. Wenn der politische Wille da wäre, wäre dieses Problem längst gelöst, und wir hätten nicht jedes Jahr in den Monaten Juli, August und September die gleichen Probleme bei der Unterbringung der Schulabgänger. Dann wäre es im übrigen auch möglich, den Ausgebildeten wenigstens für zwei Jahre eine Arbeitsplatzgarantie zu geben, damit sie Berufserfahrungen sammeln können und überhaupt erst in die Lage versetzt werden, soziale Sicherungssysteme in Anspruch zu nehmen, was nämlich nicht der Fall ist, wenn man nach der Ausbildung in Arbeitslosigkeit entlassen wird. Es gibt eine Fülle von Problemen in der Gesellschaft, über die zu sprechen sich lohnen würde, wozu ich aber nicht die Zeit habe. Man müßte über Außenpolitik sprechen. Man müßte über den internationalen Einsatz der Bundeswehr sprechen, der immer selbstverständlicher wird. Leider werden auch aus den Reihen der SPD inzwischen Kampfeinsätze gefordert. Ich halte diese ganze Militarisierung der Außenpolitik für verheerend. ({4}) - Doch, Karsten Voigt hat das klar unterstützt. - Und es ist für ein Land auch besonders heuchlerisch: Wenn man an dritter Stelle der Waffenexporteure der Welt steht, dann kann man nicht gleichzeitig behaupten, man schicke seine Soldaten friedenstiftend hinterher. Wer wirklich Frieden will, der muß erst einmal den Waffenexport und damit das Geschäft mit Krieg und Bürgerkrieg verbieten. ({5}) Man könnte darüber nachdenken, weshalb es der Bundesregierung gelungen ist, in der Frage der Gleichstellung der Geschlechter einen Rückwärtsgang einzulegen; weshalb es gelungen ist, die ökologische Umgestaltung völlig in den Hintergrund der politischen Diskussion zu rücken; weshalb es - leider - gelungen ist, die linken und liberalen Intellektuellen aus der Mitbestimmung des Zeitgeistes zu verdrängen; weshalb über Chancengleichheit beim Zugang zu Kultur und Bildung kaum noch gesproDr. Gregor Gysi chen wird; weshalb überhaupt Kunst und Kultur in dieser Gesellschaft immer stärker an den Rand gedrückt werden. Und es lohnt sich, über die Frage des deutschen Einigungsprozesses nachzudenken. Eines der Probleme besteht darin, daß nicht wenige in der Koalition und auch außerhalb der Koalition Ostdeutschland immer wie eine zu versteigernde Immobilie behandelt haben, in der sich unglücklicherweise auch noch Menschen tummeln. Hier bei der Haushaltsdebatte haben wir wieder erlebt, daß in erster Linie auf den Geldtransfer von West nach Ost verwiesen wird. Abgesehen davon, daß der Bundesfinanzminister jedes Mal unzulässigerweise mit Bruttozahlen statt mit Nettozahlen operiert, das heißt, nie erwähnt, was im Osten eingenommen wird, erwähnt er vor allem nicht, daß dieses Geld über den Verkauf von Dienstleistungen und Waren wieder in westliche Unternehmen zurückfließt. Und er erwähnt nicht, daß dieser Geldtransfer verbunden ist mit einem Vermögenstransfer von Ost nach West. Denn hier hat mit Hilfe der Treuhandanstalt eine geradezu gigantische Verschleuderung des ehemaligen Volkseigentums zugunsten einer kleinen Schicht Vermögender in den alten Bundesländern stattgefunden. ({6}) Mit dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung haben Sie zusätzlich dafür gesorgt, daß sich heute insgesamt ein Großteil des Grundeigentums in den neuen Bundesländern in den Händen Westdeutscher befindet. Ihre Politik ist dafür verantwortlich, daß die Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands überdurchschnittlich hoch ist und dort auch wiederum der Frauenanteil weit über dem Durchschnitt liegt. Ihrer Politik ist es zu verdanken, daß das Strafrecht im Rentenrecht fortwirkt, die Siegerjustiz fortgesetzt wird, zahlreiche Jugend- und Kultureinrichtungen geschlossen wurden, ein riesiges intellektuelles Potential im Osten brachliegt und die Arbeitgeberverbände immer dreister werden. Sie kündigen inzwischen Tarifverträge im Osten schon wenige Wochen nach ihrem Abschluß. Das würden sie sich in den alten Bundesländern - glücklicherweise - noch nicht wagen. Von einer Lohnangleichung ist aus den Koalitionsreihen nichts mehr zu hören. Offensichtlich gibt es dort die Hoffnung, daß, wenn es schon zu einer Angleichung kommt, diese im Westen auf Ostniveau erfolgt; das würde ich für den verkehrten Weg halten. Wenn Sie wissen wollen, wann die deutsche Einheit vollendet ist - das werde ich häufig gefragt -, dann kann ich Ihnen das ziemlich einfach beantworten. Die deutsche Einheit ist an dem Tage vollendet, an dem die juristische Sonderbehandlung der Ostdeutschen aufhört, an dem in Ost und West gleichverdient wird, an dem es auf Sylt so viele ostdeutsche Immobilieneigentümer wie gegenwärtig westdeutsche auf Rügen gibt ({7}) und an dem die erste Ostdeutsche in einem westlichen Bundesland zur Ministerpräsidentin gewählt wird - und sich über all das niemand in Ost und West wundert. Dann ist die deutsche Einheit vollendet. Daran können Sie sehen, wie weit wir noch von diesem Prozeß entfernt sind. ({8}) Sicherlich aber ist das alles überlagernde Thema das Thema der Massenarbeitslosigkeit und des Sozialabbaus. Millionen Menschen sind aus dem Erwerbsleben gedrängt und haben kaum noch eine reale Chance, in dieses zurückzukehren. Millionen Menschen fühlen sich dadurch überflüssig - mit allen Folgen, die das auch für ihre sozialen Beziehungen in den Familien hat. Dann höre ich in diesem Bundestag, daß auch noch den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern - inzwischen auch den Jugendlichen und den Rentnerinnen und Rentnern - vorgehalten wird, daß sie an Besitzständen festhalten würden. Denen, die wirklich viel besitzen, wird das niemals vorgehalten; nur jenen, die relativ wenig besitzen. Darin kommt schon die gesamte Ungerechtigkeit zum Ausdruck. ({9}) Wenn dann von Sozialneid gegenüber den angeblichen Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern geredet wird, dann kann einem wirklich übel werden. Gestern hat der Bundesfinanzminister in die Gruppe der Leistungsträgerinnen und Leistungsträger auch die Bundestagsabgeordneten einbezogen. Soweit er mich damit meinte, gehe ich noch mit. Aber ich will nur darauf hinweisen, daß es auch hier große Unterschiede gibt; vor allem aber, daß sämtliche sogenannten Spargesetze, die Sie verabschieden, immer die gleichen sozialen Gruppen betreffen, uns selbst nie. Eine Sozialgesetzgebung, die darauf hinausläuft, die Lohnabhängigen und die sozial Schwachen ständig zu strangulieren und die Besserverdienenden außen vorzulassen, ist eben in höchstem Maße sozial ungerecht. ({10}) Fakt ist doch, daß Deutschland das teuerste und zugleich unfähigste Management weltweit besitzt. Irgendwie gewinnt man den Eindruck, daß der Grad an Ideenlosigkeit eng mit der Höhe des Gehalts verbunden ist. Bei den Reichen und Besserverdienenden in dieser Gesellschaft stellt man Ideenfülle nur noch in Fragen der Kapitalflucht und Steuerhinterziehung fest. ({11}) - Nicht bei allen. Diese Bundesregierung will Armut nicht ernsthaft bekämpfen. Im Gegenteil: Sie leistet jeden Tag einen Beitrag dazu, sie zu vergrößern; denn es ist und bleibt eine Tatsache, daß Armut nur wirksam bekämpfen kann, wer wirksam Reichtum begrenzt. Anders wird es nicht möglich sein. ({12}) Seit 1990 gehöre ich diesem Bundestag an. Seit 1990 gab es noch kein einziges Gesetz in dieser Bundesrepublik, das Reichtum in irgendeiner Form beschnitten oder begrenzt hätte. Im Gegenteil: Die Steuergeschenke nahmen zu. Das nächste geplante Steuergeschenk ist die Abschaffung der Vermögensteuer ab 1997. Wenn eine Regelung - wie der Solidarzuschlag - auch einmal Spitzenverdiener betrifft, dann gibt es eine permanente Diskussion, wie man diese Regelung wieder reduzieren oder ganz loswerden kann. In der gleichen Zeit habe ich aber eine Fülle von Gesetzen erlebt, die die Bezüge der sozial Schwachen und der Lohnabhängigen beschränkt haben. Das reichte vom Wehrsold und von der Vergütung für Zivildienstleistende über Regelungen zur Sozialhilfe, zur Arbeitslosenhilfe, zur Arbeitslosenunterstützung, zur Abschaffung des Schlechtwettergeldes für Bauarbeiter bis hin zu dem jetzt vorliegenden umfassenden sogenannten Sparpaket, das nun fast alle sozial Schwachen und Lohnabhängigen auf einmal trifft. Wie diese Bundesregierung in Anbetracht dieser Tatsachen leugnen kann, daß es um Sozialabbau geht, ist mir schleierhaft. Ich muß allerdings hinzufügen, daß Graf Lambsdorff wenigstens in einem Interview ehrlicherweise gesagt hat, daß es gar nicht um den Umbau des Sozialstaates, sondern um seinen Abbau gehe. Diese Art von Ehrlichkeit schätze ich, weil man sich damit dann wenigstens auseinandersetzen kann. Wir haben zum Beispiel vorgeschlagen, eine Abgabe für Besserverdienende, die monatlich 5 000 DM netto oder mehr verdienen, festzulegen. Wir wollten nicht mehr, als daß sie auf ihre bisherige Steuerschuld noch 10 Prozent drauflegen. Alles, was in diesem sogenannten Sparpaket beschlossen werden soll, hätte man sich ersparen können, wenn man diesem Vorschlag gefolgt wäre. Aber in Wirklichkeit ist es eben so, daß Sie die Abgaben und die Steuern für kleinere und mittlere Einkommen stets erhöhen und die für hohe und höchste Einkommen stets begrenzen und auch noch weiter senken. Ich räume ein, daß allein ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit das Problem der Massenarbeitslosigkeit noch nicht wirksam bekämpfen würde. Aber auch diesbezüglich gibt es doch in Wirklichkeit gar keine Strategie dieser Bundesregierung für die nächsten Jahre, die das Problem auch nur lindern könnte. Indem Sie jetzt über das sogenannte Sparpaket den Lohnabhängigen und sozial Schwachen 40 Milliarden DM entziehen, entziehen Sie 40 Milliarden DM Kaufkraft, und das bedeutet nicht mehr Arbeitsplätze, sondern etwa 150 000 Arbeitsplätze weniger. Das ist die Realität! ({13}) Wenn Sie den Besserverdienenden und Vermögenden etwas entziehen würden, dann würden Sie nicht deren Kaufverhalten reduzieren, sondern deren Sparverhalten, und das wäre ausgesprochen nützlich, weil die Banken sowieso zuviel Geld haben. Wenn man denen nicht Geld entzieht, dann vergeben die kaum Kredite, auch nicht an Existenzgründer. Es gibt zahlreiche Vorschläge, wie man auch mit den Lohnnebenkosten wesentlich flexibler umgehen kann. Wieso berechnen wir die Unternehmensleistungen in die Versicherungssysteme nicht auch unter Berücksichtigung von Umsatz und Gewinn und machen das Ganze damit wesentlich flexibler, als starr nur an der Bruttolohnsumme festzuhalten? Es gäbe doch Möglichkeiten zur Veränderung, wenn man das wollte. Aber das Hauptproblem der verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik bleibt die Tatsache, daß in der Bundesrepublik in erster Linie Geld aus Geld und nicht aus Produktion und Dienstleistungen gemacht wird. ({14}) Wenn Sie das nicht verändern, wird es keine Investitionen geben. Herr Schäuble hat heute wieder ein anderes Investitionsklima gefordert. Aber nichts dergleichen geschieht in der Politik! Es gäbe doch die Möglichkeit, solche Investitionen steuerlich zu begünstigen, mit denen Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen werden, solche Investitionen neutral zu stellen, die eher Arbeitsplätze vernichten, aber jenen Anteil an Gewinnen steuerlich ganz hoch zu belasten, der nur zur Bank getragen wird, mit dem nur spekuliert wird. Aber Sie haben sogar die Börsensteuer abgeschafft. In Wirklichkeit haben Sie die Grundlage dafür geschaffen, daß aus einem großen Teil von Unternehmerinnen und Unternehmern etwas ganz anderes geworden ist, nämlich Spekulanten. Aber Spekulanten gehören einer anderen Berufsgruppe an und sollten hinsichtlich der Ergebnisse ihrer Spekulationen hoch besteuert werden. Genau das lehnen Sie ab. ({15}) - Ja, das hat aber andere Auswirkungen. Das ist schlecht zu besteuern. Sie müßten versuchen, dagegen politisch wirksam aufzutreten. Aber mit der Politik, die Sie betreiben, wird Ihnen das mit Sicherheit nicht gelingen. Deshalb bin ich diesbezüglich ganz beruhigt. ({16}) Ich denke, daß es sehr wohl möglich wäre, eine veränderte Steuerpolitik zu machen - Steuern heißen ja „Steuern", weil man damit steuern kann -, die Wirtschaftstätigkeit und Dienstleistungen wieder erleichtert und damit Arbeitslosigkeit deutlich abbaut. Das, was Sie betreiben, ist nichts anderes als Spekulationsförderung. Bejammern Sie doch nicht immer, daß der Staat zuwenig Geld habe. Sie haben den Staat mit Ihren Steuergeschenken doch erst arm gemacht, um das jetzt als Begründung zu benutzen, die Armut in dieser Gesellschaft zu verschärfen. ({17}) Sagen Sie nicht immer, daß es in dieser Gesellschaft zuwenig Geld gebe. Das private Geldvermögen hat im letzten Jahr um 8 Prozent zugenommen. Wir haben ein frei vagabundierendes Kapital von über 700 Milliarden DM. Wir haben in der Bundesrepublik Geldgeschäfte in den Banken und an den Börsen für über 2 Billionen DM. All das verläuft in dieser Gesellschaft steuerfrei. Solange Sie sich von dort das Geld nicht holen, haben Sie nicht das Recht, den sozial Schwachen und den Lohnabhängigen in die Tasche zu greifen. ({18})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile das Wort dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß in der SPD-Fraktion bei meinem bloßen Auftauchen sofort Bewegung zu verzeichnen ist. ({1}) Denn heute war bislang nicht viel Bewegung bei Ihnen. Die Generalaussprache zum Etat des Regierungschefs sei die Stunde der Opposition, so wird immer gesagt. Das ist gute parlamentarische Tradition. Wenn ich mich daran erinnere, was ich, was wir alle, gehört haben - ich verweise besonders auf das, was die Kollegen Scharping und Fischer gesagt haben -, dann hat, muß ich sagen, Wolfgang Schäuble schon recht: Wir leben offenbar in zwei verschiedenen Ländern. Wenn man Ihre alten Verelendungstheorien hört, dann weiß man nicht, wo sich die Deutschen heute aufhalten. Ich kann Ihre Theorien nicht bestätigen, und ich lebe doch so wie Sie in diesem Land. ({2}) In ein paar Punkten habe ich allerdings heute etwas dazulernen können. Ich fand es sehr gut, daß der Sprecher der Grünen, Herr Fischer, den Sozialdemokraten Mut zugesprochen hat, ({3}) daß er sie aufgefordert hat, an die Zukunft zu glauben. Das war immerhin etwas. Herr Scharping hat in seiner Rede einen weiten Weg von der Antike über den Heiligen Augustinus bis zu Augstein genommen. Das ist eine Reihe, die ich nicht nachvollziehen kann. ({4}) Aber eines ist bei diesen Äußerungen deutlich geworden: Weder die Sozialdemokraten - jedenfalls nicht Ihre Sprecher - noch der Sprecher der Grünen haben einen Beitrag, der realisierbar ist, zu den Themen, die wir an der Schwelle des 21. Jahrhunderts zu lösen haben, mitgebracht. ({5}) Sie wollen einfach nicht zugeben, wie dramatisch sich die Welt, in der wir leben, verändert hat, und daß wir - was immer gestern oder vorgestern war - dieser dramatischen Veränderung Rechnung tragen müssen. ({6}) Ich glaube nicht, daß Sie mit dieser Politik, die Sie hier gemeinsam vertreten - es ist ja das erklärte Ziel, daß Sie mit Rot-Grün und möglichst mit Unterstützung, laut oder leise, der PDS ({7}) - das ist doch nun ganz eindeutig - an die Macht wollen -, den Zukunftsvisionen Rechnung tragen werden. ({8}) Wir haben doch den Modellfall vor Augen. Dieses Haus und die Bundesstadt Bonn liegen mitten in Nordrhein-Westfalen. Wenn ich die Nachrichten und Meldungen eines jeden Tages lese, so soll das doch ein Modell für Bonn sein. So ist es doch angepriesen worden. Was ist das jetzt, was in NordrheinWestfalen stattfindet? Ein permanenter Vorgang der Reformverweigerung, der Perspektivlosigkeit und des Mißmuts. Das ist der Beitrag, der von dort kommt. ({9}) Nordrhein-Westfalen ist immer noch das größte und wichtigste Bundesland. Es kann uns bei allem Respekt vor föderalen Strukturen nicht gleichgültig sein, was in diesem wichtigen Industrieland und vor allem in diesem Zentrum an Rhein und Ruhr vonstatten geht. Es ist doch offenkundig, daß die Arbeitnehmer an Rhein und Ruhr für diese völlig verfehlte Politik die Zeche bezahlen. Ich sage Ihnen: Wir werden alles tun, damit die Menschen in Deutschland begreifen, daß das Modell, das wir in Düsseldorf sehen, völlig ungeeignet ist, die Zukunft Deutschlands zu sichern. ({10}) Ich will bei diesem Anlaß gerne die Gelegenheit wahrnehmen, ein Wort zu den Gewerkschaften zu sagen, weil ich meine, daß es wichtig ist, uns darüber auszusprechen. Denn die Gewerkschaften sind ein wichtiger Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Wenn ich dies sage, so habe ich im Verhältnis zu den Gewerkschaften nie in der Illusion gelebt, daß ich dort sozusagen erste Wahl bin. Ich habe erleben müssen - auch noch in der Zeit meiner Amtsvorgänger aus der Union -, daß die Gewerkschaften vor Bundestagswahlen große Aufrufe verfaßt haben, uns nicht zu wählen. Ich sage Ihnen ganz einfach: Wenn wir bei der Arbeitsteilung bleiben und sie sagen, wählt uns nicht, die Leute dies aber tun, so ist dies eine gute, geordnete Entwicklung für die Zukunft. ({11}) Ich habe viel Respekt vor dem Recht auf Demonstrationen. Das ist ein Grundrecht in einer freiheitlichen Demokratie. Aber wenn man solche Demonstrationen veranstaltet, so finde ich, sollte man wenigstens auch bei den Tatsachen bleiben und sollte einmal, wenn man das Banner der Loyalität und der Solidarität mit den Arbeitnehmern entrollt, zu dem sprechen, was man als. eigenen Beitrag dazu leistet. Mit roten Fahnen und Feldgeschrei ist den Arbeitslosen in Deutschland nicht zu helfen. ({12}) Es ist überhaupt kein Problem auf diese Weise zu lösen. ({13}) In unserer Erinnerung ist doch das Bild präsent, wie 1983 ein Teil derer, die da jetzt geredet haben - auch aus Ihrem Lager -, auf Straßen und Plätze zogen und gegen die Stationierung der Mittelstreckenwaffen protestiert haben. Wenn wir damals Ihrer Politik gefolgt wären, hätte es die deutsche Einheit nie gegeben, Abrüstung nie gegeben, ({14}) hätten wir die - in der damaligen Zeit unvorstellbare - weltweite Friedenspolitik nicht auf den Weg bringen können. Ich respektiere das, was die Gewerkschaften sagen. Wir müssen es natürlich auch ertragen, wenn sie gegen uns oder gegen mich demonstrieren. Aber das ist nicht mein Thema. Ich wünsche mir nur eines: daß die Gewerkschaftsführungen - es gibt hier sehr nachdenkliche und gute Stimmen, auch heute noch, trotz aller Demonstrationen - mit uns, die wir in manchen Punkten anderer Meinung sind, auch in Zukunft bereit sind, zu sprechen, zu diskutieren und zu Ergebnissen zu kommen. Wir brauchen auf diesem Weg in das 21. Jahrhundert starke Gewerkschaften und starke, auch aktionsfähige Unternehmerverbände. Das gehört auch dazu. Dazu gehört, Herr Kollege, daß die Gewerkschaften und die Unternehmer fähig sind, Veränderungen bei den Flächentarifen vorzunehmen. Dazu gehört aber nach meiner Überzeugung nicht, Flächentarife abzuschaffen. Auch das ist ein Unterschied, den ich hier deutlich ausgesprochen haben möchte. ({15}) Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Ich werde auch in Zukunft das Gespräch mit den Gewerkschaften suchen. Das entspricht unserer Tradition und unserer Vorstellung. So wird es auch bleiben. Die Repräsentanten der Gewerkschaften wie auch Sie im Hause haben in Wahrheit doch erkannt - das zeigt die Debatte heute -, daß bei allem Protest, der kommt und inszeniert wird, der teilweise auch verständlich ist, die große Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger längst erkannt hat, daß um der Sicherung der Zukunft willen Veränderungen - und das heißt auch einschneidende Maßnahmen - notwendig sind. Wolfgang Schäuble hat ja die neuesten Umfragedaten bekanntgegeben. ({16}) - Die Umfragedaten gefallen Ihnen nicht, ({17}) aber sie sind doch da. Im übrigen werden wir irgendwann bei Wahlen abmessen können, inwieweit Sie sich mit den Daten auseinandersetzen. Jedenfalls sind es erheblich über 60 Prozent der Bevölkerung - das entspricht auch der Erfahrung, die jeder von uns draußen im Land macht -, die bei aller Kritik sagen, daß etwas in diese Richtung geschehen muß. ({18}) Im übrigen brauchen Sie keine Umfragen. Wenn Sie durch das Land gehen und sehen, an wie vielen Orten jetzt - in den allermeisten Fällen mit Billigung der Gewerkschaften - Betriebstarife abgeschlossen werden, wie es möglich ist, sich über Dinge zu einigen, bei denen es vor drei Jahren völlig undenkbar war, sie auch nur zu diskutieren, dann wissen Sie, daß das eine vernünftige Entwicklung ist. Deswegen bin ich dafür, daß wir auf diesem Weg weiter vorangehen, auch wenn das Feldgeschrei noch so groß ist. Auch das ist doch wahr: Die allermeisten Ihrer Ministerpräsidenten in den Bundesländern haben längst begriffen, daß es gar nicht darum geht, den Sozialstaat zu demontieren - hören Sie doch mit diesen altmodischen Sprüchen auf -, sondern daß es darum geht, den Sozialstaat zu sichern und zukunftssicher zu machen. Die meisten von denen, die ich eben angesprochen habe, hätten ja das Thema auch längst aufgegriffen, wenn sie nicht aus ihrem Parteiverständnis heraus vorerst daran gehindert worden wären oder sich gehindert gesehen hätten, dieses Thema jetzt aufzunehmen. Am Freitag dieser Woche, irgendwann gegen 15 Uhr, wird hier abgestimmt. Dann werden Sie sehen, daß eine klare Mehrheit die richtige Entscheidung trifft ({19}) und eine ganze Reihe von Kollegen aus den Bundesländern, die Sozialdemokraten sind, sagen: So, jetzt haben wir genug gezeigt, daß wir einig sind, auch wenn der Weg falsch ist; jetzt gehen wir den richtigen Weg und führen vernünftige Gespräche. ({20}) Eigentlich, meine Damen und Herren, ist das auch gar keine Frage des parteipolitischen Streits. Jeder, der sich die Welt genau betrachtet, wird mir zustimmen, wenn ich sage: Die dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft erfordern Konsequenzen in einer Volkswirtschaft wie der deutschen. Geld und Technologien, Informationen und Waren überwinden Grenzen mit einer Leichtigkeit und Geschwindigkeit wie nie zuvor. Zwischen 1964 und 1994 steigerten die Industrieländer die Produktion jährlich um 9 Prozent, die Ausfuhr weltweit um 12 Prozent und grenzüberschreitende Bankkredite um 23 Prozent. Die ausländischen Direktinvestitionen der Industrieländer erhöhten sich seit Mitte der 80er Jahre mit Raten von bis zu 30 Prozent pro Jahr. Die Gewichte haben sich verschoben. Der Anteil der asiatischen Länder - ohne Japan - am Welthandel lag damals bei 8 Prozent, jetzt liegt er bei rund 20 Prozent. Er hat sich mehr als verdoppelt. Und jetzt kommt die Zahl, die uns doch eigentlich beunruhigen muß: Der deutsche Anteil ist im gleichen Zeitraum von gut 10 Prozent auf rund 9 Prozent geschrumpft. Das heißt, wir haben mit dem Wachstum anderer nicht mithalten können, sondern es ging zurück. ({21}) - Das ist ja nun wirklich absurd. Wir haben doch Tarifautonomie. Ich sage es ja auch gar nicht anklagend. An diesen Entwicklungen haben nahezu alle in irgendeiner Form mitgewirkt. Schauen Sie sich doch einmal den Unterschied bei den Lohnkosten an! Die Arbeitsstunde eines Facharbeiters im Druckereibereich, entsprechend den jeweiligen Tarifen, kostet bei uns in Deutschland 51 DM, in England 25 DM, in Ungarn 9 DM. Die vergleichbare Zahl in Prag ist ähnlich. Das hat doch Konsequenzen, darüber muß man doch reden. Es hat doch nichts mit Sozialabbau zu tun, wenn wir sagen, wir müssen besser werden; denn jeder von uns weiß, daß wir die Löhne nicht absenken können. Jeder von uns weiß auch, daß die anderen ihre niedrigen Löhne nicht halten werden. Aber wir müssen auf diesem Feld mehr tun. ({22}) In meiner Nachbarschaft, in Baden, schlägt die Sonntagsnachtschicht in einer Druckerei mit 700 DM zu Buche. Wenige Kilometer entfernt, im Elsaß, sind es 350 DM. Sie müssen also nicht nach Asien gehen, Sie können in derselben Region bleiben, wo die Menschen die gleiche Mundart sprechen, und auch da haben wir diese Unterschiede. Wir haben erhebliche Veränderungen im Altersaufbau unserer Bevölkerung. Das ist unübersehbar. Das hat doch Folgen für Arbeitsmarkt und Sozialsysteme. Das ist keine Frage des Sozialabbaus. Gegenwärtig sind rund 15 Prozent unserer Bevölkerung über 65 Jahre. In über 30 Jahren wird der Anteil auf 27 bis 30 Prozent angestiegen sein. Es ist doch nicht zu leugnen, daß das bei den Beitragszahlern bis hin zu den Rentenbeziehern elementare Auswirkungen haben muß. Wenn ich diese Punkte nenne, dann ist auch wahr, daß alle unsere Nachbarn daraus Konsequenzen ziehen. Ich brauche jetzt gar nicht die Sozialsysteme im einzelnen zu vergleichen, aber in etwa sind doch die Niederlande, Schweden, Frankreich oder andere in bezug auf bestimmte Positionen mit uns vergleichbar. In all diesen Ländern ist man auf dem Weg zur Lösung dieser Fragen unterwegs, egal ob der Ministerpräsident oder der Staatspräsident dieser oder jener Partei angehört. Wenn wir also darüber reden und Vorschläge machen - und wenn Sie keine Vorschläge machen -, dann müssen Sie doch wenigstens den Vorwurf ertragen, daß Sie sich aus der Verantwortung verabschiedet haben. ({23}) Das ist nicht nur eine Frage der deutschen Innenpolitik. Deutschland ist mehr als jedes andere Land, zumindest in Europa, darauf angewiesen - weil wir geopolitisch und geographisch in Europa die Mitte darstellen -, daß die Nachbarn zu uns Vertrauen haben, und zwar in vielfältiger Hinsicht. Vertrauen hat auch etwas zu tun mit wirtschaftlicher Stabilität. Ich mag das Wort nicht, wonach die deutsche Volkswirtschaft Traktor der Entwicklung für andere Länder ist. Aber es ist doch unübersehbar - ich werde es nachher am Beispiel Tschechien deutlich machen -, wie sehr unsere Beziehungen miteinander verwoben sind. Wir sind mit einer Einwohnerzahl von 80 Millionen, ob es uns gefällt oder nicht, von besonderer Bedeutung in Europa. Wir sind ein stark exportorientiertes Land, und wir haben - das ist doch ganz unbestreitbar - große Chancen, wenn wir nur bereit sind, sie zu nutzen, und wenn wir uns jetzt dieser Aufgabe stellen. Sehen Sie, Herr Scharping, ich habe mir nur eine einzige Zahl mitgeschrieben, weil sie so unglaublich war. Ich habe mich jetzt einmal genau vergewissert, wie die Lage ist. Ich meine den Vergleich mit dem mexikanischen Industriearbeiter. Nun bin ich kein Spezialist auf diesem Gebiet und daher auf die Hilfe anderer angewiesen. Nach den Daten im Handbuch der OECD hatte ein deutscher Industriearbeiter, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, 1994 einen Nettojahresverdienst von 41 000 DM. Ein entsprechender mexikanischer Industriearbeiter hatte im selben Jahr einen Nettojahresverdienst von 5 500 DM; das ist ein Siebtel. Das hat meine klugen Mitarbeiter nicht ruhen lassen. Es gibt nämlich sehr viel bessere Beispiele. Sie haben dann dort angerufen, wo einer Ihrer politischen Freunde regelmäßig Einsichten und Unterstützung bekommt, nämlich in Wolfsburg. Es gibt eine Automobilfabrik in Wolfsburg, und eine Automobilfabrik gleichen Namens gibt es auch in Mexiko. Im vergleichbaren Fall - Industriefacharbeiter, verheiratet, zwei Kinder - beträgt der Nettolohn in Mexiko Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das ist für mexikanische Verhältnisse ein Superlohn knapp 9 000 DM und in Wolfsburg 50 000 DM. ({24}) - Ja, das habe ich ja schon gesagt; das weiß inzwischen auch Herr Scharping. Vom Sprecher der PDS haben wir soeben seine steuerpolitischen „Visionen" gehört. Die Steuervorstellungen, die er eben hier entwickelt hat, bedeuten, daß der Industriefacharbeiter in Wolfsburg mit 50 000 DM schon zu den Spitzenverdienern gehört. Aber dies nur nebenbei; wir brauchen nicht länger dabei zu verweilen. ({25}) Mit einem Wort, Herr Scharping: Lassen Sie uns doch nicht mit solchen Argumenten arbeiten! ({26}) Ein mexikanischer Industriefacharbeiter weiß ganz eindeutig, daß sein Kollege in Wolfsburg mehr verdient; der Arbeiter in Wolfsburg will auch nicht mit seinem Kollegen in Mexiko tauschen. ({27})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharping?

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Bitte schön.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Bitte, Herr Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundeskanzler, könnten Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich alle diese Vergleiche überhaupt nicht bestreite und daß es dennoch nach derselben, von Ihnen so gern zitierten Statistik der OECD eine Wahrheit bleibt - darauf habe ich Bezug genommen -, ({0}) daß in Deutschland der Staat prozentual dem verheirateten Industriearbeiter mehr nimmt als der mexikanische Staat? ({1})

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Kollege Scharping, darf ich mir einfach nur den freundschaftlichen Rat erlauben, daß Sie die Frage noch einmal überdenken. ({0}) Ich glaube nicht, daß es einen Sinn macht, diese Debatte weiterzuführen. Sie sind nicht irgend jemand in diesem Haus; Sie sind der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion. Deswegen will ich es bei diesem Satz bewenden lassen. ({1})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Scharping?

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Nein, Herr Präsident. Ich möchte diese Diskussion jetzt nicht führen. Ich stehe dem Kollegen Scharping nach der Debatte aber gern zur Verfügung. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Koalition und die Bundesregierung haben im 50-Punkte-Programm für Wachstum und Beschäftigung eine Grundlage gelegt, ({1}) um die Zukunftsprobleme zu lösen. Wir haben zu keinem Zeitpunkt die Behauptung aufgestellt, daß das, was wir vorschlagen, letztendlich alleinseligmachend ist. Wir sind immer gerne bereit, neue Ideen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie auch zusammenzubringen. ({2}) Ich hoffe, daß nach der Abstimmung am Ende dieser Woche ein vernünftiges Gespräch auch mit den Bundesländern im Bundesrat - und über diesen Weg sicherlich auch mit der Sozialdemokratischen Partei - möglich sein wird. Ich will das noch einmal ganz konkret sagen. Wenn wir über Standortbestimmung reden, müssen wir davon sprechen, wo wir heute stehen. Die neuen Wachstumszahlen sind erfreulich. Sie bestätigen, daß die Konjunktur im zweiten Jahresteil anzieht. Es ist wahr, daß sich die Voraussetzungen in vielen Feldern verbessert haben. Wir haben praktisch Preisstabilität. Das ist im Blick auf die soziale Situation der Menschen einer der wichtigsten Beiträge zur sozialen Stabilität. Die Zinsen sind auf einem historischen Tiefstand. Wir haben - ich habe die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang nicht ohne Grund gelobt - in diesem Jahr Tarifabschlüsse zu verzeichnen, die mehr an der Konkurrenzsituation und der Beschäftigungslage orientiert sind als vieles andere. ({3}) Die D-Mark-Aufwertung vom Frühjahr 1995 ist mittlerweile deutlich zurückgegangen, was für die Exportlage Deutschlands von größter Bedeutung ist. Wir haben einen erfreulichen, weiterhin soliden Aufwärtstrend im Welthandel. Das ist gut für unseren Export. Aber all dies kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß das zentrale Problem bleibt: Das ist die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit, die nicht akzeptabel ist. Deswegen muß diese Frage im Mittelpunkt all unserer Überlegungen stehen. ({4}) Wir wissen auch, daß ein Wiederanziehen der Konjunktur nicht ausreicht - hier hat sich etwas geändert -, um Arbeitslosigkeit abzubauen, daß für mehr Wachstum und Beschäftigung vielmehr zusätzliche strukturelle Impulse notwendig sind. Das ist eine Anstrengung, der sich alle unterziehen müssen: die Arbeitgeber, die Gewerkschaften genauso wie die Politik. Wenn ich sage Politik, dann heißt das nach unserer Verfassungsordnung Bund, Länder und Gemeinden. Wir haben - das ist keine Erfindung der Bundesregierung, sondern eine gemeinsame Entschließung der Führung der Gewerkschaften, der Führung der Repräsentanten der deutschen Industrie und der Bundesregierung - uns das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2000 die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Das ist ein enorm ehrgeiziges Ziel. Aber wenn wir nicht den Ehrgeiz haben, dieses Ziel zu erreichen, haben wir vor dieser großen Aufgabe schon abgedankt. Das ist inakzeptabel. ({5}) Im übrigen erinnere ich angesichts der vielerorts verbreiteten Miesmacherei daran, daß wir zwischen 1983 und 1989 rund 3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen haben; zugegebenermaßen in einer anderen Lage, aber auch damals hieß es: Das schafft ihr nie. Ich habe eine sehr konkrete Erinnerung: Nach dem Wechsel hier in Bonn hatten wir Landtagswahlen in Hessen. Das Argument einer Verelendung ist damals in Hessen von den Sozialdemokraten immer wieder vorgetragen worden. ({6}) Die folgerichtige Antwort für uns lautet, das Land fit zu machen für das nächste Jahrhundert. Wir brauchen dafür ein ganzheitliches Denken, und wir müssen die entsprechenden Maßnahmen in allen Bereichen vorantreiben. Wir werden das versuchen, und dort, wo wir Ihre Unterstützung brauchen und Ihre Verantwortung besonders gefragt ist - im Bundesrat -, bitte ich ausdrücklich darum - was auch immer jetzt gesagt wird -, dieses neu zu bedenken. Wolfgang Schäuble hatte recht, als er davon sprach, daß der, der jetzt auf Zeit spielt, den sich jetzt abzeichnenden Aufschwung schädigt und Investitionen und neue Arbeitsplätze verhindert. Man kann es nicht oft genug sagen: Der OECD-Bericht müßte jeden - er wurde gerade zitiert, aber weil er so interessant ist, zitiere ich ihn noch einmal - überzeugen. Die OECD schreibt den Deutschen ins Stammbuch: Das neue Programm der Bundesregierung stellt einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung dar, es muß aber voll umgesetzt und - jetzt kommt der Satz wahrscheinlich auch noch verstärkt werden, wenn die deutsche Wirtschaft das gesamte Potential einer hochqualifizierten und motivierten Bevölkerung ausschöpfen soll. Natürlich wissen Sie bei allem Streit um Einzelheiten so gut wie ich, daß die OECD recht hat. Sie wissen so gut wie ich, daß das, was jetzt erforderlich ist, nicht heißen kann, daß wir sparen um des Sparens willen, sondern um den Weg in die Zukunft zu finden. Mehr Arbeitsplätze und eine gute Zukunft werden wir nur gewinnen, wenn nicht, wie bisher, jede zweite hier erwirtschafte Mark vom Staat verteilt wird. So einfach und so klar ist das. Deswegen muß unser Ziel bleiben, daß wir, wie wir es uns vorgenommen haben, bis zum Jahre 2000, wiederum mit Blick auf die Staatsquote, wenigstens auf die Größenordnung kommen, die wir im Jahr der Wiedervereinigung mit 46 Prozent erreicht hatten. ({7}) - Ich habe nicht gesagt, daß dann der Aufschwung beschlossen ist. Das sind alles Schritte auf diesem Weg. Natürlich werden wir im Jahre 2000 ein Stück weiter auf dem Weg Aufbau Ost sein, aber wir werden auch dann noch erleben, daß es Bereiche gibt, in denen es länger dauert. Aber das ist eigentlich kein Grund zum Jammern. Ich bin glücklich, daß wir diese Notwendigkeit haben. ({8}) Wir müssen - dafür können wir eine Menge gemeinsam tun - einfach die Erkenntnis ziehen, daß neue Arbeitsplätze in größerer Zahl nicht von den Großbetrieben geschaffen werden können, die als multinationale Unternehmen einen Teil ihrer Sicherung im internationalen Bereich sehen müssen. Dazu gehören Unternehmen, die in Asien, in der Volksrepublik China oder sonstwo investieren, um insgesamt stabil zu bleiben. Das ist kein Gegensatz. Zusätzliche Arbeitsplätze müssen im mittelständischen Bereich geschaffen werden. Deswegen ist es kein Schlag gegen die soziale Stabilität, wenn wir sagen, daß man das Kündigungsrecht umgestalten muß, damit in diesen Bereichen neue Arbeitsplätze entstehen. Die deutschen Sozialdemokraten waren doch über eine lange Zeit hindurch eine Partei, die sich in einer besonderen Weise und mit großer Sympathie um das Handwerk kümmerte. Sprechen Sie doch in irgendeiner Handwerkerversammlung einfach einmal mit den Leuten, die vier, fünf Mitarbeiter haben und die in vielen Bereichen mehr Aufträge annehmen könnten, deren Problem im Regelfall nicht die Auftragslage, sondern die Zwischenfinanzierung ist. Hören Sie, was Ihnen diese Leute zu diesem Thema sagen. Dies ist kein Anschlag auf die soziale Stabilität, sondern einen Akt der Vernunft. Das Handwerk hat uns in einer Umfrage vorgelegt, daß rund 80 000 Handwerksbetriebe bereit seien, sofort bis zu drei Mitarbeiter einzustellen, wenn bestehende Schwellenwerte angehoben würden. Das wären doch 240 000 zusätzliche Arbeitsplätze. ({9}) Welchen Grund haben Sie eigentlich, die Ansichten, Bonität und Überzeugung eines Handwerksmeisters, der drei Leute hat und eine solche Erklärung abgibt, zu bezweifeln? Wer gibt Ihnen dieses Recht? ({10}) Natürlich gehört zu einer solchen Entwicklung auch eine grundlegende Steuerreform. Daß bei einer Steuerreform, bei der so viele Interessen im Spiel sind, viel geredet wird, auch manches Unnötige, steht außer Frage. ({11}) - Beispielsweise Sie, wenn Sie es unbedingt wissen wollen. ({12}) Ich glaube nicht, gnädige Frau, daß Sie einen Nachholbedarf in dieser Richtung haben. Ich meine schon, auch Sie und andere können sich betroffen fühlen. Ich schließe mich da mit ein; damit habe ich kein Problem. Überlegen Sie doch einmal, um was es geht! Wir haben beschlossen - das müßte eigentlich wiederum Ihre Unterstützung finden -, daß sich jetzt eine Arbeitskommission der Bundesregierung mit Sachverständigen zusammensetzt und bis Ende dieses Jahres - kürzer geht es nun wirklich nicht - einen Vorschlag erarbeitet. Dann betreibt die Bundesregierung die öffentliche Diskussion mit Anhörungen und all dem, was dazugehört. Wir müssen Gespräche - Steuerreform ist doch gar nicht anders denkbar - mit den Bundesländern, mit den kommunalen Spitzenverbänden, mit den Fachbereichen und vielen anderen mehr führen. Da ist doch die große Stunde für die SPD gekommen, über die Bundesländer, über die Bundestagsfraktion daran teilzunehmen. Dann lassen Sie uns doch miteinander streiten, was der bessere Weg ist. Mein Ziel ist - ich sage es noch einmal -, alles zu tun, daß diese Gesetzgebung bis Ende 1997 abgeschlossen ist. Das heißt für mich: ein Gesetz, das die Unterschrift des Bundespräsidenten trägt, also amtlich verkündet ist. Wir wollen eine neue Kultur der Unternehmensgründung forcieren. Jeder, der in Deutschland investiert und sich etwas vornimmt - etwa ein neues Unternehmen zu gründen -, muß wissen, was auf ihn zukommt. Übrigens ist es auch nützlich, wenn dies der Wähler vor der nächsten Bundestagswahl weiß. Das ist ein Vorschlag. Ich verstehe gar nicht, warum es da eine solche Aufregung gibt. Lassen Sie uns doch dann um den besten Weg miteinander ringen! Genau das gleiche gilt für das Thema „Umbau des Sozialstaats ". Die meisten hier im Saal wissen doch - nach dem, was wir von Herrn Gysi gehört haben, weiß er es vielleicht nicht -, daß der Sozialstaat nur so gut sein kann wie sein wirtschaftliches Fundament. Das heißt, wir brauchen möglichst viele Mitarbeiter in den Unternehmungen - das sind letztlich auch Steuerzahler. Wenn sich die Rahmenbedingungen entsprechend verändern, hat das doch Konsequenzen. Ich habe mit großem Interesse den Beschluß der Hamburger SPD vor ein paar Tagen gehört; er ist, wie ich finde, leider nicht genug publiziert worden. Auch da war plötzlich eine ähnliche Formulierung, wonach sich Arbeit mehr lohnen müsse als Nichtarbeit. ({13}) Wenn ich das gesagt habe, war das immer gleich „Sozialdemontage". Was gab es für ein Feldgeschrei im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung! Das ist doch ein praktisches Beispiel dafür, daß es eben nicht um Abbau, sondern um Umbau in unserem Gemeinwesen geht. ({14}) Unstreitig ist eigentlich auch, daß wir die Lohnzusatzkosten vermindern wollen. Auch da haben wir uns ganz konkrete Ziele gesetzt. Jetzt stilisieren Sie ein Thema - Wolfgang Schäuble sprach schon davon - schlechthin zum Anschlag auf den Sozialstaat hoch. Es geht um die 100prozentige Lohnfortzahlung. Wolfgang Schäuble hat recht, es gibt sie in keinem anderen Land, alle haben Relativierungen vorgenommen. Außerdem ist es wahr, daß durch Verzicht auf einen Urlaubstag bei fünf Krankheitstagen Lohneinbußen vermieden werden können. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Als das Lohnfortzahlungsgesetz von 1959 nach schweren Auseinandersetzungen endlich zustande kam - ich bekenne mich dazu -, betrug der Jahresurlaub drei Wochen. Jetzt beträgt der Jahresurlaub sechs Wochen. Das ist doch ein elementarer Unterschied auch im Sinne der Verbesserung der Lage der Arbeitnehmer. Das kann man doch nicht so einfach abtun. ({15}) Es ist auch unbestreitbar - Sie können das doch nicht leugnen -, daß sich im Blick auf die Alterssicherung die Dinge elementar verändert haben. Als Otto von Bismarck die Rentenversicherung einführte und das Rentenalter auf 65 Jahre festgelegt wurde, lag die durchschnittliche Lebenserwartung des Mannes bei 45 Jahren. Jetzt beträgt sie 75 Jahre. Wenn sich unter Vorsitz von Norbert Blüm eine Kommission von erstklassigen Fachleuten an das Werk macht und das Thema „soziale Sicherungssysteme" auf den Prüfstand stellt, dann werden wir im neuen Jahr - ich hoffe, das wird bis Januar, Februar sein - über dieses Thema eine Vorlage haben und mit Ihnen sowie allen Interessierten darüber diskutieren. Ich setze hier auch darauf, daß die Gewerkschaften ein Wort dazu äußern. Aber wenn wir darüber sprechen, müssen wir doch alle von den Realitäten ausgehen. Die Realität ist eben, daß es eine enorme Veränderung unseres Landes gibt. Wenn in einer deutschen Großstadt rund 50 Prozent der Wohnungsinhaber Singles sind, hat das enorme Wirkungen auf Lebensgewohnheiten und Lebensentscheidungen. Wenn die Zahl der über 80jährigen in wenigen Jahren auf fast vier Millionen steigt, hat das Wirkungen auf das Gesundheitssystem und auf vieles andere. Wenn das alles richtig ist - Sie können das doch nicht bestreiten -, heißt das, daß wir jetzt entscheiden müssen. Lassen Sie uns doch darüber streiten und darum kämpfen, wer den besseren Weg hat. Ich vermute, bei gutem Willen auf allen Seiten werden wir eine Menge Dinge sogar gemeinsam tun können. Es gibt andere Fragen, bei denen Sie sagen - da mache ich Ihnen keinen Vorwurf -, sie seien so unbequem und so unpopulär, deshalb sollte die Regierung das lieber selber machen. Auch das gehört zum Bild einer Demokratie. ({16}) - Aber jetzt tun Sie doch nicht so heuchlerisch, als wäre es nicht so. Wenn wir auf den Oppositionsbänken sitzen würden, wären wir vielleicht in einer ähnlichen Lage. Lassen Sie uns also vor der Bevölkerung ehrlich darüber reden, und tun Sie nicht so, als sei es nicht so. ({17}) Mit einem Wort: Wir werden ganz entschieden diesen Reformkurs fortsetzen. Dann werden wir ja sehen, welches Urteil die Bürger dazu abgeben werden. Ich möchte nur ganz nüchtern und einfach sagen: Wer da glaubt über ein Hinausschieben oder gar ein Verhindern von Entscheidungen politisches Profil gewinnen zu können, der wird sich täuschen. Die große Mehrheit im Lande ist zwar gegen alle diese Maßnahmen im einzelnen; aber in der Summe wissen die Menschen, daß es so nicht weitergehen kann, und sie werden uns als einzelne Parteien dazu befragen. Ein klassisches Beispiel für diese Fragestellung ist - ich sage dies, weil ich darauf angesprochen wurde - das Thema Lehrstellen. Ich bin schon sehr erstaunt, Herr Scharping, was Sie dazu gesagt haben. Mein Eindruck ist, daß Sie sich nie mit diesem Thema beschäftigt haben, sonst hätten Sie solche Äußerungen nicht machen können. ({18}) Um was geht es denn? Es geht darum, daß wir mit dem dualen System ganz unbestreitbar das beste Ausbildungssystem in der Welt haben, daß dieses System nur funktionieren kann - da hat der Vorsitzende der F.D.P. mit seinen Äußerungen völlig recht -, wenn auch die Wirtschaft es trägt. Es kann keine Zweiteilung geben: Man ist für das duale System, und, wenn es darum geht, Lehrstellen zur Verfügung zu stellen, ruft man nach dem Staat. Natürlich können wir nicht gänzlich auf den Staat verzichten. Wie wollen Sie dieses Problem im dualen System lösen, wenn wir in weiten Teilen der neuen Länder eine entsprechende betriebliche Infrastruktur noch gar nicht haben? Übrigens: Um so gewaltiger ist beispielsweise die Leistung im Handwerk in den neuen Ländern. Hier ist eine große Zahl neuer Ausbildungsplätze geschaffen worden. ({19}) Es ist ebenfalls wahr, daß es auch zu früheren Zeiten - übrigens in Zeiten der Vollbeschäftigung - bei der Lehrstellenfrage enorme regionale Unterschiede gab. In meiner Heimatstadt war es über viele Jahre hin selbstverständlich, daß sich der Großbetrieb, der dort angesiedelt ist, im Bayerischen Wald um Nachwuchs bemüht hat und daß man damals auch mit staatlicher Hilfe Zwischenlösungen gefunden hat. Ich finde, das ist überhaupt kein Problem, wenn es vernünftig geschieht und nicht zu einer Dauereinrichtung wird. Jetzt geht es doch darum, jungen Menschen eine Ausbildungschance zu geben. Denn ich hielte es für ein zutiefst moralisches Versagen - diesen Satz nehme ich gerne auf -, wenn ein Land von der wirtschaftlichen Statur Deutschlands seinen jungen Leuten nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen könnte. Deswegen haben wir wieder große Anstrengungen unternommen - ich auch. Es ist in Ordnung, daß Sie mißgünstig beobachten, wie diese Anstrengungen eine breite Zustimmung in der Bevölkerung finden. ({20}) - Ich mache es trotzdem so; ich brauche Sie dabei nicht zu fragen. Sie hätten es genauso machen können. ({21}) Wir werden auch in diesem Jahr diese Herausforderung meistern. Die, die hier einfache Patentrezepte angeboten haben, sollen mir erst einmal erläutern, wie man zu einer Regelung kommen kann, mit der man nicht gleichzeitig das Prinzip der Wahlfreiheit einschränkt. Laden Sie doch einmal Herrn Jagoda in ihre Fraktion ein und lassen Sie sich von ihm die Lage erläutern: Ein Teil der jungen Leute meldet sich beispielsweise bei drei verschiedenen Arbeitsstellen, nimmt eine Arbeitsstelle an und denkt im Traum nicht daran, die anderen abzusagen. Deswegen ist die Terminnot jedes Jahr die gleiche. Ich bin völlig offen für Verbesserungsvorschläge, wenn diese nicht die Freiheit der Wahl einschränken. Das ist für mich ein wichtiges Prinzip. ({22}) Ein weiterer Punkt ist, daß wir zum Teil von Bildern ausgehen, die mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. In ein paar Tagen wird in Niedersachsen gewählt. Dort werden bei der Kommunalwahl die Jugendlichen mit 16 Jahren, ein klassisches Lehrlingsalter, zum erstenmal wählen. Es handelt sich also um junge wahlberechtigte Bürger. Aber in der Frage, ob ihnen an einem Berufsschultag mittags um 12 noch zugemutet werden kann, in ihren Betrieb zurückzukehren, tut man so, als seien sie noch Kleinkinder. Das ist absurd; die Bilder stimmen doch gar nicht mehr in der Gesellschaft. ({23}) Für mich - das muß ich einmal sagen, weil die Schuld immer auf andere geschoben wird - war die unangenehmste Erfahrung, die ich dieses Jahr in meinen Gesprächen gemacht habe, daß inzwischen alle Sachverständigen der Meinung sind, rund 10 Prozent der Abgänger dieses Schulsystems seien auf Grund ihres Ausbildungsstandes nicht mehr in der Lage, einen Lehrvertrag zu erfüllen. Wolfgang Schäuble hat es schon gesagt, und ich will es wiederholen: Es handelt sich hier um normale Schulabgänger. Man muß sich die Frage stellen: Ist dies das Ergebnis von 30 Jahren Schulreform in Deutschland? Man muß dazu bemerken, daß dies keine Angelegenheit des Bundes ist. Wenn wir 490 Millionen DM aus dem Bundesetat ausgeben - eine wirklich versicherungsfremde Leistung; das will ich bei dieser Gelegenheit noch einmal nachtragen -, dann können wir doch erwarten, daß sich die Kultusministerkonferenz dieses Themas auch einmal annimmt. ({24}) Ich habe diesen Sachverhalt wirklich freundlich formuliert; ich klage auch niemanden an. Es wäre töricht zu sagen, zwischen A- und B-Ländern gebe es wesentliche Unterschiede; das will ich auch gar nicht untersuchen. Wir müssen vielmehr gemeinsam etwas tun und dürfen uns nicht mit irgendwelchen Parolen anöden. Ein Wort zum Thema Außenpolitik: Dies gehört auch zur Debatte über den Standort Deutschland. Sie erwarten dazu vom Bundeskanzler zu Recht ein paar Bemerkungen. Wir können froh sein, daß es seit den letzten Jahren - das gilt auch für dieses Jahr - weltpolitische Entwicklungen gibt, durch die wir viele Ängste aus früheren Zeiten nicht mehr zu haben brauchen. Es ist wahr, daß wir noch eine Menge Probleme haben. Aber insgesamt ist die weltpolitische Entwicklung, soweit sie vor allem Europa betrifft, sehr viel günstiger als früher. In unmittelbarer Nachbarschaft haben wir die Probleme im früheren Jugoslawien. Wir werden weiter unseren Beitrag leisten, um den Dayton-Friedensprozeß erfolgreich fortzuführen. In der weiteren Nachbarschaft - aber in bezug auf die Geschichte unseres Volkes doch ganz nah - haben wir die Probleme im Nahen Osten, in der Region um Israel. Wir können nur hoffen, daß sich dort die Vernunft auf beiden Seiten durchsetzt. Eines haben wir aber ganz gewiß: Wir haben eine bessere Chance auf Frieden als noch vor wenigen Jahren. Das gilt nicht zuletzt für unseren wichtigsten Nachbarn im Osten, nämlich Rußland. Ich habe in den vergangenen Tagen die Gelegenheit zu einem recht wichtigen Gespräch mit Präsident Jelzin gehabt. Ich will hier als erstes sagen - da spreche ich sicher auch in Ihrer aller Namen -: Wir wünschen Boris Jelzin angesichts seiner Erkrankung und seiner schwierigen Operation, daß er möglichst bald wieder gesund zu seinen Amtsgeschäften zurückkehren kann. ({25}) Er ist als Präsident Rußlands hinsichtlich der Machtfülle dieses Amtes im Weltmaßstab in einer einzigartigen Lage. Deswegen ist es besonders wichtig, daß dieses Amt mit Besonnenheit, mit Weitblick und auch mit der inneren Kraft im Hinblick auf die weiterhin dringend notwendigen Reformen auf dem Weg zu mehr Rechtsstaat, zu mehr Demokratie sowie zu wirtschaftlicher und sozialer Stabilität geführt wird. Für mich ist wichtig, daß in diesem Gespräch deutlich wurde, daß Präsident Jelzin ganz entschieden bereit ist, nach seiner Rückkehr ins Amt die notwendigen Gespräche wiederaufzunehmen und bestimmte Themen dringlicher zu behandeln, zum Beispiel die NATO-Erweiterung und die deutsch-russische Situation im Bereich der Rückgabe von Kulturgütern, um nur wenige Beispiele zu nennen. Ich bin auch sehr froh, daß ich nach meiner Rückkehr in den telefonischen Gesprächen mit Präsident Clinton, mit Präsident Chirac und mit Premierminister Major Übereinstimmung darüber erzielen konnte, daß wir die wichtige Frage der NATO-Erweiterung jetzt auf gar keinen Fall in irgendeinem Gremium behandeln, damit in Moskau nicht der Eindruck entsteht, hier würden Faits accomplis geschaffen. Wir sind entschieden der Meinung, daß wir diese Gespräche im neuen Jahr aufnehmen sollten, daß in der Zwischenzeit die NATO-Gremien selbst über die innere Entwicklung und Ausgestaltung der NATO sprechen sollten - die NATO des Jahres 1997 ist nicht mehr die NATO des Jahres 1987; hier müssen Veränderungen vorgenommen werden -, daß wir für eine NATO-Erweiterung mit denkbaren Kandidaten in Ost- und Südosteuropa sprechen, aber daß wir das Ganze so anlegen, daß erstens niemand, auch nicht Rußland, in dieser Frage ein Vetorecht gegenüber einem anderen Land hat, daß wir aber zweitens keine neuen Gräben aufreißen, sondern in einem vernünftigen Miteinander auch das Sicherheitsbedürfnis Rußlands, um ein Beispiel zu nennen, aber genauso das der Ukraine - das sage ich nach meinem Besuch nicht ohne Grund - mit aufnehmen. Ich bin ziemlich sicher, daß es eine Chance gibt, vor allem dann - was ich sehr hoffe -, wenn dieses Thema nicht in den amerikanischen Wahlkampf gerät; denn das wäre mit Sicherheit keine förderliche Entwicklung. Wir haben natürlich auch über Tschetschenien gesprochen. Der Präsident hat mir noch einmal versichert, daß er das, was dort jetzt ausgehandelt wird, von wenigen mehr marginalen Dingen abgesehen, unterstützt und daß er die entsprechenden Anweisungen gegeben hat. Ich hoffe sehr, daß diese ZwiBundeskanzler Dr. Helmut Kohl schenstation zu einem wirklichen Erfolg wird, daß das Schießen und das kriegerische Geschehen aufhören und damit auch die Leiden der Bevölkerung beendet werden. Ich will mit einem Satz sagen: In der Frage der Rückführung von Kulturgütern wird sich, glaube ich, eine Regelung finden lassen. Dies ist ein sehr emotionales Thema nicht zuletzt im Parlament. Wir stoßen hier wieder auf Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Nazi-Untaten. Ich bin sicher, wir kommen hier zu Regelungen. Ich will aber gleich hinzufügen: Ich könnte mir auch vorstellen, daß wir in dem einen oder anderen Fall auch zu neuen Wegen kommen. Ich kann nicht verstehen, warum es nicht möglich sein sollte, etwas, was letztlich Kulturgut der Menschheit ist, für einige Jahre dort und dann für einige Jahre in Deutschland in einem Museum zu präsentieren. ({26}) Ich glaube schon, daß wir mit einer solchen Denkweise nicht nur das Miteinander zwischen den Völkern fördern können, sondern vielleicht auch die Weltverantwortung für Kulturgüter überhaupt in eine neue Dimension bringen könnten. Ich bin mehrfach auf das Thema Tschechien angesprochen worden. Die erste Feststellung, die ich hier treffen will: Es bleibt bei dem, was ich im Mai für die Bundesregierung gesagt habe. Wir wollen in diesem Jahr die Vereinbarung abschließen. Ich habe nie etwas anderes gesagt. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Ich weiß auch, daß dieses ein ungewöhnlich schwieriges Feld ist, weil es uns mit einem Abschnitt der Geschichte unseres Volkes und der Geschichte unserer Nachbarn konfrontiert, der mit Emotionen und bitteren Erfahrungen aufgeladen ist. Es leben noch viele aus der Generation, für die die Schreckensereignisse von Lidice noch präsent sind. Es leben aber auch genauso viele aus der Generation, die den Sonntag in Aussig nicht vergessen haben und all das, was dort geschehen ist. Nun können wir die Weltgeschichte nicht zurückdrehen. Wir können auch nicht als Deutsche, die wir Urheber dieser ganzen Entwicklung waren - es waren Deutsche, die die Tschechoslowakei überfallen haben, es war die Politik Hitlers -, Aufrechnung betreiben. Das bringt uns überhaupt nichts. Aber wir können und, ich denke, müssen mit Geduld immer wieder miteinander sprechen und den Versuch unternehmen, auch für die Position des anderen zu werben, nicht für radikale Positionen. Wer das Staatsoberhaupt in dieser unflätigen Weise beschimpft, ist so zu behandeln und zu sehen, wie es hier auch zu Recht gesagt worden ist. Das ist eine absolut unmögliche Weise, mit solchen Begriffen gegenüber dem Staatsoberhaupt aufzutreten. Das ist ein Rückfall in eine politische Barbarei, die wir nicht ertragen wollen. ({27}) Aber sehen Sie, meine Damen und Herren, ich habe von Geduld gesprochen. Der Entwurf ist ein gutes Stück weiter vorangekommen. Aber ich stehe nicht an zu sagen, der Entwurf sei fertig. Darüber wird man doch noch reden können. Ich erinnere mich bei manchen der jetzt hier Anwesenden - ich will jetzt keine Namen nennen - an meine Erfahrungen im Jahr 1990. Ich habe 1990 nie einen Hehl daraus gemacht, daß es für uns notwendig war, nachdem der Vorbehalt eines denkbaren Friedensvertrages im Zuge der deutschen Einheit weggefallen war, die Oder-Neiße-Grenze in dem entsprechenden Vertrag anzuerkennen. Ich erinnere mich noch daran, wie es im Dezember 1989 und in den folgenden Wochen und Monaten war, wie eine internationale Druckkulisse aufgebaut wurde. In dem gerade erschienenen Buch von François Mitterrand über Deutschland können Sie darüber sehr interessante Einzelheiten nachlesen. Damals habe ich gesagt, ich halte es für einen schweren Fehler, wenn wir die Verbindung zwischen diesen beiden großen historischen Ereignissen nicht finden. Zu den großen Leistungen dieser Zeit gehört für mich die Abstimmung vom 21. Juni 1990. Damals wurden im Deutschen Bundestag bei nur 18 Gegenstimmen 486 Stimmen für diesen Vertrag abgegeben. Die, die da abgestimmt haben - ich war ja dabei wie auch die meisten der hier Anwesenden - haben das ja nicht leichtfertig getan. Wir haben sehr wohl zur Kenntnis genommen und gewußt, was dies für Millionen Menschen bedeutet, daß ein Drittel des Reichsgebietes, nicht eines angemaßten Reichsgebietes, damals endgültig abgetrennt wurde. Wir wußten aber auch, daß die Verschiebung Polens nach Westen durch Stalin Ähnliches für weit über 1 Million polnische Bürger bedeutet hat. Das ganze Elend dieses Jahrhunderts ist doch in dieser Entscheidung wieder angeklungen. Trotzdem haben wir diese Entscheidung getroffen. Weil sie auch vom Zeitpunkt her klug getroffen wurde, war es eine Entscheidung, die zum inneren Frieden beigetragen hat. Ich möchte erreichen, um es ganz klar und einfach zu sagen, daß das, was wir jetzt noch zu besprechen haben und was zum Abschluß kommen muß - ich sage es noch einmal -, am Ende von einem Ereignis gekrönt wird, wie wir es hier schon einmal erlebt haben. Wir haben erlebt, und wer dabei war, wird die innere Bewegung beim Redner und bei vielen, die hier saßen, nicht vergessen, wie der polnische Außenminister Bartoszewski zum Verhältnis zwischen Deutschen und Polen sprach. Eine ähnliche Rede wünsche ich mir in Deutschland oder in Prag, besser aber noch zuerst in Deutschland - eine Rede, die diese Frage nicht nur im Ansatz anspricht, sondern ganz offen in die Debatte einbringt und den Weg in die Zukunft weist. Ich bin froh, daß ein Abkommen über den Jugendaustausch unterzeichnet wurde. In diesem Zusammenhang möchte ich aber, weil viele darüber reden und schreiben, auch einmal darauf hinweisen, daß die Beziehungen in der Realität überhaupt nicht schlecht sind. Einige Zahlen belegen dies: Der deutsch-tschechische Handel hat sich seit 1990 verdoppelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Tschechischen Republik; der Anteil macht fast ein Drittel aus. Umgekehrt ist die Tschechische Republik nach Polen unter den mittel- und osteuropäischen Ländern der wichtigste Handelspartner für Deutschland. Tschechien ist neben Ungarn und Polen der bevorzugte Industriestandort für neue Investitionen deutscher Unternehmen in Mittel- und Osteuropa. Ich könnte, weil hier meistens ein antibayerischer, törichter Klang mitschwingt, darauf eingehen, was es allein in der bayerischen Grenzregion an wirtschaftlicher Zusammenarbeit gibt. Dort ist man weit davon entfernt, neue Gräben aufzureißen. Dort entstehen in einer wirklich respektablen und bewundernswerten Weise - dies gilt übrigens auch für Sachsen - grenzüberschreitende Handelsbeziehungen. ({28}) Ich habe die Staats- und Regierungschefs dieser Länder - darunter auch Tschechien - während der deutschen Präsidentschaft der EU als Vorsitzender zum Gipfel nach Essen eingeladen. In meiner Begrüßungsansprache in Essen habe ich damals den tschechischen Kollegen besonders angesprochen. Jeder von uns spürt - ich hoffe, auch in diesem Augenblick -, daß wir eine neue Beziehung, eine neue Nachbarschaft erreicht haben. Viele Kapitel haben wir - im übrigen auch unter allen meinen Amtsvorgängern; das möchte ich bei dieser Gelegenheit gerne einmal sagen - im Laufe der letzten Jahrzehnte versucht wiederaufzuarbeiten und vernünftiger zu gestalten. Das Wort Wiedergutmachung wäre nicht ganz zutreffend, weil menschliches Elend dieser Art nicht einfach wiedergutgemacht werden kann. Noch besser wäre es, wenn irgendwann einmal jemand an meiner Stelle, dann vielleicht in Berlin, stehen würde und schon von guter Nachbarschaft und Freundschaft sprechen könnte. Diesem gemeinsamen Ziel muß unsere Arbeit dienen. ({29}) Erlauben Sie mir zum Schluß noch zwei kurze Bemerkungen. Ich habe das Thema „Abkommen von Dayton" schon anklingen lassen. Zehn Monate nach dem Abschluß des Abkommens sehen wir, wie schwierig die Aufgabe ist, sehr viel schwieriger, als manche gedacht hatten. Sein Gelingen ist aber eine entscheidende Voraussetzung für eine dauerhaft friedliche Zukunft der ganzen Region. Die massive Präsenz internationaler Friedenstruppen hat den Waffenstillstand erreicht, die verfeindeten Kräfte zurückgedrängt. Deswegen ist es gut und richtig, daß wir hier und heute unseren Respekt und unseren Dank an die Soldaten der internationalen Friedenstruppe richten. Sie haben einen wichtigen Friedensdienst geleistet. ({30}) Meine Damen und Herren, ich freue mich, daß ich in diesen Dank in einer ganz besonderen Weise deutsche Soldaten einbeziehen kann. Wir alle können uns über die anerkennenden Bezeugungen über die Leistungen und das Auftreten der deutschen Soldaten dort freuen, die ich in den letzten Wochen vernommen habe. Ich denke, wir sollten ganz besonders den deutschen Soldaten danken. ({31}) Ohne daß es heute zur Entscheidung ansteht - ich würde es auch für falsch halten, wenn wir jetzt versuchten, Entscheidungen zu treffen -, ist erkennbar, daß dieser schwierige Friedensprozeß nach dem Abschluß der IFOR-Mission abgesichert werden muß. Ich lasse einmal den Umfang und die Größenordnung weg, will aber für mich und natürlich die ganze Bundesregierung sagen, daß ich mir nicht denken kann, daß sich die Deutschen aus dieser Verantwortung zurückziehen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir am Heiligen Abend in diesem Jahr über den Frieden sprechen und möglicherweise vorher im Fernsehen Bilder sehen, die das genaue Gegenteil zeigen. Neben den unmittelbar Betroffenen sind auch wir - vielleicht mehr als alle anderen Länder - berührt, weil wir in Deutschland über 400 000 Flüchtlinge aus dieser Region aufgenommen haben. Da gelegentlich gesagt wird, wir würden zu wenig für die internationale Solidarität tun, will ich darauf hinweisen: Bei uns gibt es mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aus dieser Region als in jedem anderen Land in Europa. Wir geben immerhin 15 Milliarden DM für die Aufnahme von Flüchtlingen und für Hilfsleistungen aus. Ich sage Ihnen ganz offen: Dies ist für mich - Sie verstehen das bitte richtig - ärgerlich, weil es sehr viel klüger wäre, diese Leute - natürlich unter gesicherten Verhältnissen - nach Hause zu bringen, nicht um dieses Geld einzusparen, sondern es für Werke des Friedens, für Neubauten, das Zurverfügungstellen von Material und neue Industrieanlagen, einzusetzen. Das wäre viel sinnvoller, als Menschen hier zurückzuhalten. ({32}) Die Rückkehr von Vertriebenen und Flüchtlingen in ihre Heimatorte ist existentiell für den Wiederaufbau. Natürlich gilt auch, daß dort eine friedliche Entwicklung Voraussetzung ist. Wir können niemanden dort hinschicken, wenn er um sein Leben und seine Existenz fürchten muß. Meine Damen und Herren, wenn wir die Lage Deutschlands, sein Ansehen, seine Stellung in der Welt heute betrachten, dann können wir gemeinsam sagen: Wir sind in einer Situation wie nie zuvor in diesem Jahrhundert. Wir haben sehr gute, herzliche und freundschaftliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien und Rußland. Wann je hat es das je so in der deutschen Geschichte gegeben? ({33}) Das enthält für mich auch die Verpflichtung, daß wir selbst das Notwendige tun, um das Vertrauen - das mit der Statur unserer Republik zusammenBundeskanzler Dr. Helmut Kohl hängt - unserer ausländischen Freunde und Partner in Zukunft zu rechtfertigen. Das ist eine besondere Verantwortung. Ich will für die Bundesregierung - sicherlich auch für die Koalition - sagen, daß wir uns dieser Verantwortung stellen. Ich möchte Sie alle herzlich einladen, wenn irgend möglich, sich daran zu beteiligen. ({34})

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000908

Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Saarlandes, Oskar Lafontaine, als Mitglied des Bundesrates das Wort. Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Programm, das im Mittelpunkt der Debatte des heutigen Tages steht, heißt - so will es die Regierung - „Programm für Wachstum und Beschäftigung". Interessant ist, daß in der Öffentlichkeit dieses Programm nicht so genannt wird, sondern daß die Öffentlichkeit immer nur vom „Sparpaket der Koalition" spricht. Dies ist nicht zufällig so. Dies ist nicht zuletzt darin begründet, daß viele in der Öffentlichkeit - auch in Ihren eigenen Reihen - nicht glauben, daß das „Programm für Wachstum und Beschäftigung", das Sie so genannt haben, tatsächlich für Wachstum und Beschäftigung sorgen wird. ({1}) Wenn einer der wirtschaftspolitischen Sprecher der Koalitionsfraktionen, nämlich Graf Lambsdorff, dieses Programm dadurch qualifiziert, daß er sagt, wir näherten uns nicht den avisierten zwei Millionen Arbeitslosen, sondern eher fünf Millionen, dann ist das ein Beweis dafür, daß selbst große Teile der Koalition nicht an den beschäftigungspolitischen Erfolg dieses Programmes glauben. ({2}) Natürlich, Herr Bundeskanzler, ist es in dieser Situation verständlich, wenn Sie sich zur Weltpolitik äußern und wenn Sie auch im Zusammenhang mit den globalen Tendenzen der Wirtschaft davon reden, daß die Welt sich verändert habe. Trotz dieser Betrachtungsweise bleibt es uns aber nicht erspart, zunächst darüber zu reden, daß sich vieles bei uns hier in diesem Lande verändert hat, daß wir einen Rekord haben an Arbeitslosigkeit, an Staatsschulden und an Steuer- und Abgabenlast. Darüber müssen wir reden, auch wenn die Weltpolitik noch so interessant sein mag. ({3}) Bevor ich zu den ökonomischen Perspektiven der nächsten Jahre komme, möchte ich einige Berner-kungen machen zu dem, was Sie glaubten polemisch an den Anfang Ihrer Ausführungen stellen zu müssen. Sie haben sich zunächst - das hat mich bei dem Thema „Wie bekämpfen wir die Arbeitslosigkeit?" etwas verwundert - wieder einmal geäußert zu einer Gefahr, die da drohe, wenn Rot und Grün in Bonn eine Mehrheit hätten und sich eventuell auch noch auf die PDS stützen könnten. Verehrter Herr Bundeskanzler, ich nehme die Gelegenheit gerne wahr, Ihnen noch einmal hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages zu sagen: Sie haben kein Recht zu einer solchen heuchlerischen, verlogenen Debatte. ({4}) Sie sind als Bundeskanzler gewählt von den Abgeordneten der ehemaligen Ost-CDU, die Mauer und Stacheldraht befürwortet hat, und von den Abgeordneten der rein kommunistischen Bauernpartei. Es ist eine Unverfrorenheit, die deutsche Öffentlichkeit immer wieder mit solchen verlogenen Debatten zu konfrontieren. ({5}) Dieses Ausmaß an Unehrlichkeit stößt den Menschen in unserem Lande immer mehr auf. So war es auch von Interesse, daß Sie meinten, sich zur Koalition in Nordrhein-Westfalen äußern zu müssen. Es ist richtig, daß es in dieser Koalition über verschiedene Investitionsprojekte Streit gibt. Wer wollte das leugnen? Aber wenn der Bundeskanzler hier ans Pult tritt, dann wäre es ratsamer, sich mit dem Zustand der eigenen Koalition zu beschäftigen, denn in der gibt es auch Streit und keine Übereinstimmung über den Weg in die nächsten Jahre. ({6}) Ein gutes Beispiel dafür ist die Frage: Wann kommt die Erklärung mit Tschechien, und wann machen wir den notwendigen Schritt der Aussöhnung? Der F.D.P.-Vorsitzende hat sich hier überdeutlich geäußert. Wer zwischen den Zeilen lesen kann oder hören kann, der weiß, daß Ihr Koalitionspartner an dieser Stelle Ihre Politik nicht für akzeptabel hält. Ich unterstreiche es, wenn Joschka Fischer hier gesagt hat: Wir sind dem Bundespräsidenten zum Dank verpflichtet, daß er die gebotene Zurückhaltung des Staatsoberhauptes an dieser Stelle aufgegeben hat und angemahnt hat, daß Sie den Knoten endlich durchschlagen, Herr Bundeskanzler. ({7}) Sie haben in diesem Zusammenhang noch einmal die Diskussion um die polnische Westgrenze bemüht und dabei das Buch von François Mitterrand zitiert. An dieser Stelle, Herr Bundeskanzler, ist er sehr deutlich geworden, anders als Sie hier den Eindruck zu erwecken versucht haben. Aber Sie brauchen gar nicht das Buch von François Mitterrand zu lesen. Es genügt, wenn Sie sich die Memoiren Ihres eigenen Außenministers Hans Dietrich Genscher oder die von Gorbatschow oder Thatcher oder von Baker einmal anschauen, um darauf zu stoßen, daß Ihr Taktieren Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({8}) um die polnische Westgrenze eher abgelehnt und als kontraproduktiv verstanden worden ist. ({9}) Das gleiche gilt jetzt auch für die Frage, wann endlich die deutsch-tschechische Erklärung kommt. ({10}) An der Stelle war es auch nicht ganz richtig, zur Begründung der Einheit die Pershing II zu erwähnen. Ich will die Debatte um die atomare Aufrüstung hier nicht mehr aufgreifen. Sie haben da eine andere Position, und die respektiere ich. Ich sehe es als eines der historischen Verdienste von Michail Gorbatschow an, daß er diese Spirale von Vor- und Nachrüstung im atomaren Bereich durchbrochen hat und erkannt hat, daß es nicht mehr wichtig ist, ob man 20 000 oder 30 000 atomare Sprengköpfe hat. Aber Sie mögen das anders sehen. Ich wollte es nur noch einmal in Erinnerung gerufen haben. ({11}) Aber eines dürfte doch klar sein: Die deutsche Einheit haben wir nicht nur diesem Stationierungsbeschluß zu verdanken, sondern noch mehr der polnischen Solidarnosc, den Bürgerrechtlern von Prag und den Menschen, die in Leipzig auf die Straße gegangen sind. Deshalb brauchen wir jetzt die Versöhnung mit Tschechien, weil ein Bürgerrechtler Präsident dieser Republik ist. ({12}) Ein ehemaliger Bürgerrechtler ist Präsident der Republik, weltweit geachtet. Deshalb fordere ich Sie als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands auf: Machen Sie diesem Spiel ein Ende. Sorgen Sie dafür, daß auch die bayerische CSU einlenkt und daß es endlich zu dieser Erklärung kommt. Es ist schon zuviel verspielt worden. Es ist höchste Zeit, diese Erklärung jetzt abzuschließen. ({13}) Sie haben in diesem Zusammenhang auch eine polemische Bemerkung an die Adresse der deutschen Gewerkschaften gemacht, indem Sie meinten, daß Feldgeschrei keine Probleme löse. Ich weiß nicht, ob das der richtige Ton ist, den ein Bundeskanzler ergreifen sollte, wenn Tausende von Arbeitnehmern auf die Straße gehen, um für ihre Rechte zu demonstrieren. Ich bin auf jeden Fall der Auffassung, daß Selbstgefälligkeit noch viel weniger Probleme löst, sehr verehrter Herr Bundeskanzler. ({14}) Damit kommen wir dann zu Ihren ungelösten Hausaufgaben, die ich nur teilweise ansprechen kann; meine Redezeit ist begrenzt. ({15}) Sie haben sich zur Steuerreform geäußert und haben versucht, für die Bürgerinnen und Bürger in Aussicht zu stellen, daß es demnächst doch ein verbindliches Gesetz geben wird, in dem verläßliche Steuerermäßigungen - wie gegenfinanziert wird, haben Sie nicht gesagt, ebensowenig etwas zur Mehrwertsteuer - beschlossen werden sollen. ({16}) Nur, das Ganze ist einfach nicht mehr akzeptabel, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, auch nicht Ihr Angebot, mit dem Bundesrat zusammenarbeiten zu wollen. Das gilt auch für Herrn Schäuble. Es ist rührend, wenn Sie das hier immer wieder anbieten. Wir haben zusammen beschlossen, die Familien durch eine Erhöhung des Kindergeldes besserzustellen. Das ist Gesetz. Wir haben beschlossen, die Arbeitnehmer durch die Erhöhung des Grundfreibetrages besserzustellen. Das ist Gesetz. Dieses Gesetz wollen Sie wieder rückgängig machen und reden zum gleichen Zeitpunkt über Steuerermäßigung. Das ist doch wirklich nicht mehr zu akzeptieren. Das ist doch unglaublich. ({17}) Ehe Sie also darüber reden, was Sie eventuell vielleicht einmal machen wollten, um Wachstum und Beschäftigung in diesem Land zu unterstützen, sorgen Sie dafür, daß das gemacht wird, was gemeinsam zwischen Bundestag und Bundesrat beschlossen worden ist, worauf sich Arbeitnehmer und Familien eingestellt haben. Unterlassen Sie es, mit irgendwelchen Steuersenkungsversprechungen für die Zukunft von dieser Notwendigkeit abzulenken. Um nichts anderes geht es im Moment. ({18}) Den Familien geht es derzeit in unserem Lande auf Grund der extremen Steuer- und Abgabenlast nicht gut. Deshalb hat das Verfassungsgericht eingegriffen. Es hat überhaupt keinen Sinn, immer wieder von Familienpolitik zu reden, wenn das nicht materielle Folgen hat. Deswegen wiederhole ich: Wer die Vermögensteuer abschaffen und das Kindergeld nicht erhöhen will, der gehört abgewählt, dem gehört im Grunde genommen das Vertrauen entzogen. ({19}) Es ist überheblich, wie Sie auf die Einwendung des Kollegen Scharping reagiert haben, der schlicht und einfach eine OECD-Statistik zitiert hat. Sie zeigt, daß der Staat Mexiko der Familie eines Arbeitnehmers mit zwei Kindern eben nur 15 Prozent von seinem Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({20}) Bruttoeinkommen wegnimmt, während Sie 22 Prozent verlangen. ({21}) - Das mögen Sie vielleicht nicht begreifen, weil Sie in Prozentrechnung nie besonders stark waren. Aber die deutschen Familien wären froh darüber, wenn sie sagen könnten: Uns werden nur 15 Prozent vom Bruttoeinkommen an Steuern weggenommen. Das wollte der Kollege Scharping sagen. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäuble? Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}): Bitte, Herr Kollege Schäuble, eine Zwischenfrage, und dann machen wir es so, wie das vorhin gehandhabt worden ist. Bitte schön.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ministerpräsident Scharping, - ({0}) - Das ist keinem der beiden gegenüber unfreundlich gemeint. Herr Ministerpräsident Lafontaine, können Sie mir und allen Zuhörern bestätigen - wenn Sie schon die Prozentrechnung machen, wieviel ein mexikanischer Arbeiter und wieviel ein deutscher Arbeiter von seinem Bruttoeinkommen abgezogen bekommt -, ({1}) daß bei den vom Bundeskanzler mitgeteilten Einkommenszahlen eines Industriearbeiters ({2}) ein mexikanischer Arbeiter in Deutschland überhaupt keine Steuern bezahlt, weil sein Einkommen nämlich noch unterhalb des steuerfreien Existenzminimums liegt? ({3}) Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({4}): Herr Kollege Schäuble, Sie wollen - nachdem Sie sich durch Ihr Gelächter jetzt etwas in die Nesseln gesetzt haben - das einfach nicht begreifen. Alle Staaten, ob sie arm oder reich sind, müssen Familienpolitik machen, und alle Staaten, ob sie arm oder reich sind, müssen sich entscheiden, in welchem Umfang sie die Familien fördern bzw. die Familieneinkommen entlasten. Wenn Sie nicht begreifen wollen, daß das ärmere Mexiko die Familien steuerlich besserstellt als das reiche Deutschland, ist das Ihr Problem. Aber ich wollte das hier noch einmal geklärt haben. ({5}) Im übrigen, Herr Bundeskanzler, möchte ich Ihnen raten, zurückhaltend zu sein, wenn Sie sich über andere lustig machen, was das Errechnen von Tatbeständen angeht. Wir haben ja hier ein Problem, meine Damen und Herren, und das ist oft angesprochen worden. Sie haben gesagt, die Welt habe sich total verändert. Nein, wir haben hier Massenarbeitslosigkeit und eine Staatsverschuldung, die sich keiner vorstellen konnte. Sie haben an diesem Pult einmal gesagt, Sie hätten sich verschätzt. - Nur, ich sage Ihnen, da wir diese Debatte seit Jahren führen: Sie haben sich um einige tausend Milliarden verschätzt, Herr Bundeskanzler. ({6}) Deshalb ist es nicht angebracht, hier überheblich aufzutreten und in dieser Art und Weise Einwände von seiten des Fraktionsvorsitzenden der SPD zurückzuweisen. Ich komme zum nächsten Punkt, der zu erledigen wäre. Das ist die Steuerreform. Wir sind der Auffassung, daß das deutsche Steuerrecht so nicht mehr akzeptabel ist. Wir sind aber nicht erst seit gestern oder vorgestern dieser Auffassung, sondern wir haben in den Runden des letzten Jahres vorgeschlagen, auf der Grundlage der Bareis-Kommission zu einem gerechteren Tarif zu kommen. Bei Ihnen bestand keine Bereitschaft, darauf einzugehen. Wir hatten gerade 4 Milliarden DM an Steuersubventionen gestrichen. Kaum war diese Vereinbarung zwischen Bundesrat und Bundestag abgeschlossen, wurde sie bereits wieder in Frage gestellt, zugegebenermaßen von allen Seiten in unserem Lande. - Es geht ja hier um eine faire und redliche Debatte. Dies zeigt, daß es sehr schwierig ist, Steuersubventionen zu streichen und zu kürzen, weil unverzüglich viele Interessenverbände kommen und sich gegen diese Projekte wenden. Weil wir dies wissen, haben wir maßvolle Rahmendaten vorgeschlagen, um die Steuerreform, den gerechten Steuertarif jetzt endlich dingfest zu machen. Wenn Sie sagen, Sie wollten das erst für das Jahr 1999, dann sagen wir, daß wir kein Vertrauen haben, daß ein solches Verfahren Bestand haben wird. Wenn Sie das, was wir jetzt an Erleichterungen für die Familien und für die Arbeitnehmer beschlossen haben, wieder zurücknehmen wollen, wer soll Ihnen dann glauben, daß Sie das, was Sie vor der Wahl an Erleichterungen beschließen, nicht sofort nach einer eventuell gewonnenen Wahl wieder kassieren? Sie haben an dieser Stelle Ihren Kredit verspielt. ({7}) Ich wiederhole: An dieser Stelle ist die Position der F.D.P. richtig. Die Steuerreform darf nicht auf das Jahr 1999 oder auf das Jahr 2000 verschoben werMinisterpräsident Oskar Lafontaine ({8}) den. Sie sollte in Kraft treten, auch wenn sie nicht den gewaltigen Umfang vieler Show-Modelle hat. Sie sollte im Jahr 1998 in Kraft treten und einen weiteren zusätzlichen Anreiz für Wachstum und Beschäftigung geben. So wie es für Wachstum und Beschäftigung notwendig ist, jetzt das Kindergeld und den Grundfreibetrag zu erhöhen, so wäre es auch notwendig, im Jahre 1998 eine ordentliche Steuerreform zu machen, in der der Tarif leistungsgerechter wird, weil es nicht mehr hinnehmbar ist, daß Verkäuferinnen und Facharbeiter ihre Steuern abgezogen bekommen, während andere durch erhebliche steuermindernde Tatbestände ihre Steuerlast auf Null senken können. ({9}) Das schafft Staatsverdrossenheit. Sie tragen seit über zehn Jahren die Verantwortung für diese Entwicklung. Der dritte Punkt ist die Entlastung der Sozialversicherungskassen. Sie haben gesagt, Arbeit solle sich wieder lohnen, Herr Bundeskanzler. Aber gerade Sie haben über Jahre das Gegenteil von dem veranstaltet. Es war zwar bequem und opportunistisch, die Kosten der Einheit den Sozialversicherungskassen aufzubürden, weil man dann als jemand dastand, der nicht in dem Maße Steuern erhöhen mußte, wie das eigentlich notwendig gewesen wäre und wie schon einige Redner ausgeführt haben. Wer aber die Sozialversicherungskassen in diesem Maße mißbraucht, wie Sie es getan haben, erhöht die Lohnnebenkosten in nicht hinnehmbarer Weise und ist damit schuld, wenn Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. Begreifen Sie diesen Zusammenhang doch endlich einmal! ({10}) Wir hätten gerne etwas - es ist ja schön, sich in seiner Rede in der Weltpolitik aufzuhalten; das ist auch zu gönnen - über die Bemerkungen der Rentenversicherer gehört, wonach die Beiträge auf über 20 Prozent steigen sollen. Wir hätten gern etwas über die Klagen der Krankenversicherer gehört. Aber nein, Sie flüchten sich in das „Wolkenkuckucksheim", verlieren sich in großartigen Betrachtungen darüber, daß es uns allen relativ gut gehe - so der Kollege Schäuble - und daß sich alle im Wohlstand befänden. Das mag die eine Seite der Medaille sein, aber Sie sollten das Wort „alle" hinterfragen. Wir richten uns an die Millionen von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern und an die Millionen von Menschen, denen es schlechtgeht und denen solche Worte merkwürdig vorkommen werden, wenn sie der heutigen Debatte folgen und so etwas hören. ({11}) Arbeit soll sich wieder lohnen? Seit Jahren - mindestens seit 1990 - stagnieren die Reallöhne. In der gleichen Zeit hat aber derjenige, der ein Geldvermögen hat, eine Rendite von etwa 7 Prozent erzielt, wenn er ordentlich anlegt und gut beraten wird. Dies ist eine totale Veränderung im Vergleich zu der Situation, die wir in den Wachstumsjahren dieser Republik hatten. Damals stiegen die Reallöhne stärker als die Realverzinsung des Geldvermögens. Anders ausgedrückt: In der heutigen Situation ist es interessanter, Geldvermögen zu erben oder wie auch immer zu besitzen, als eine ordentliche Ausbildung zu haben und seine Arbeitskraft einzusetzen. Deshalb ist die Stagnation der Reallöhne seit Jahren eine wirkliche Herausforderung. In keinem Fall kann man darauf weiterhin so reagieren, daß man die Arbeit in diesem Land immer weiter belastet, die Vermögensteuer abschafft, die Zinseinkünfte nicht ordentlich besteuert usw. ({12}) Sie sind schuld daran, daß sich Arbeit in diesem Lande immer weniger lohnt und Arbeitsplätze wegrationalisiert werden. ({13}) Im übrigen: Ich sehe gerade den Kollegen Rexrodt. Ihnen ist sicherlich ein kleiner Fehler unterlaufen, Herr Kollege Gerhardt, den ich nicht zu hoch hängen will. Sie haben sich zum Außenminister und zu seiner Aufgabe geäußert. Ich möchte als SPD-Vorsitzender sagen, daß ich mich freue, daß der Kollege Rexrodt wieder gesund ist. Das möchte ich über Parteigrenzen hinweg zum Ausdruck bringen. ({14}) Ich möchte das zusätzlich - das kann ich Ihnen nicht ersparen - mit der Bemerkung verbinden, daß ich die Debatte der CSU über die Frage der Neubesetzung des Wirtschaftsministeriums zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nach dem, was der Kollege Rexrodt durchgemacht hat, als äußerst geschmacklos empfinde. ({15}) Wenn Sie sich also, verehrte Damen und Herren von der Koalition, über die Koalition in Düsseldorf Sorgen machen, dann rate ich Ihnen: Kümmern Sie sich einmal um Ihre eigene Koalition. Sorgen Sie für ein anständiges Klima. Sorgen Sie insbesondere dafür, daß Sie sich in der Steuerpolitik einig werden. Dann wären wir ein gutes Stück weiter in diesem Lande. ({16}) Das gilt im übrigen auch für die ökologische Steuerreform. Das ist das vierte Reformprojekt, das Sie blockieren. Diese ökologische Steuer- und Abgabenreform hätte eine Mehrheit, wenn in diesem Hause offen darüber abgestimmt würde. Man könnte sie mit der Reform der Sozialversicherungssysteme verbinden, die ich gerade angesprochen habe. Man könnte sie aber auch mit der allgemeinen Steuerpolitik verbinden. Die Modelle liegen quer durch alle Fraktionen vor. Wir bieten immer wieder an, zu einem solchen Reformschritt zu kommen, den wir für notMinisterpräsident Oskar Lafontaine ({17}) wendig erachten, um Wachstum und Beschäftigung auch in Zukunft zu sichern. Ich wiederhole es noch einmal: In der heutigen Situation die Arbeit in diesem Ausmaße mit Steuern und Abgaben zu belasten und auf der anderen Seite Vermögens- und Zinseinkünfte praktisch freizustellen und den Umweltverbrauch gering zu besteuern zeigt, wie veraltet und verrottet Ihre Politik im Grunde genommen ist. ({18}) In der gesamten Europäischen Gemeinschaft wird über die Fehler dieser Politik diskutiert; ich komme darauf nachher noch zu sprechen. In der gesamten Europäischen Gemeinschaft, im Weißbuch der Kommission, auch bei den Entscheidungen etwa der Nachbarn in Holland, in Dänemark oder anderswo gibt es ökologische Reformschritte und gibt es entsprechende Schritte, auch die Sozialversicherungssysteme zu entlasten. Dies ist auch bei den jüngsten Entscheidungen in Frankreich der Fall. Wo bleiben denn Ihre Schritte? Statt dessen diskutiert Deutschland über eine Erhöhung der Rentenbeiträge, über eine Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge. ({19}) Das ist die Realität, die sich nicht irgendwie im Wolkenkuckucksheim auflösen läßt. Der fünfte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist die Reform des öffentlichen Dienstes; Joschka Fischer hat es bereits angesprochen, Rudolf Scharping ebenfalls. Warum kommen wir hier nicht weiter? Wenn Sie zum Beispiel an den Bundesrat appellieren, dann will ich noch einmal sagen, Herr Bundeskanzler, daß wir bei dem letzten Kanzlergespräch vereinbart hatten, hier mehr Druck zu machen. Die Reform des öffentlichen Dienstes ist dringend notwendig, weil die Länder 40 Prozent und die Gemeinden 30 Prozent Personalausgaben haben. Daß der Bund nur 10 Prozent Personalausgaben hat, ist kein Grund, die Reform des öffentlichen Dienstes immer weiter hinauszuschieben. ({20}) Wer wirklich strukturell eingreifen will, meine Damen und Herren, sollte sich nicht darauf versteifen, das Kindergeld nicht zu erhöhen, die versprochenen Steuerermäßigungen nicht durchzuführen, Arbeitslosenunterstützungsmaßnahmen maßlos zusammenzustreichen. Er sollte endlich eine Strukturreform des öffentlichen Dienstes einleiten, um die öffentlichen Haushalte langfristig wirksam zu entlasten. Darum muß es jetzt gehen. ({21}) Das ist eine viel, viel bessere Politik als der kurzfristige Aktionismus, den Sie hier an den Tag legen, der mit Sicherheit nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung führt. Die Elemente hat die Kollegin Matthäus-Maier gestern bereits vorgetragen; ich will sie nicht alle wiederholen. Aber eines ist klar: Wenn es nicht dazu kommt, die Pensionsregelungen etwa im Beamtenrecht dem allgemeinen Rentenrecht anzupassen, dann werden es die öffentlichen Haushalte nicht verkraften. Wenn es nicht dazu kommt, mehr Teilzeitarbeit auch im Beamtenbereich vorzusehen, dann verspielen wir eine wirkliche Chance, moderne Beschäftigungsprogramme auch im öffentlichen Dienst zu machen, insbesondere auch im Hinblick auf die Arbeitsteilung und die Gleichstellung der Frauen im Beruf und Familie. Denn eines möchte ich klar sagen: nicht-sozialversicherungspflichtige 590-DM-Jobs für die Frauen und Vollerwerbsjobs für die Männer, so haben wir uns die Gesellschaft der Zukunft in Deutschland nicht vorgestellt. ({22}) Der sechste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist ein Vorschlag. Wir müssen jetzt, so interessant es ist, über die Weltpolitik zu reden, über die Gemeindefinanzreform reden. Ich biete Ihnen, Herr Bundeskanzler, an, zwischen Regierung, Ländern und Gemeinden eine Kommission unter Hinzuziehung von Sachverständigen, wen auch immer Sie hinzuziehen möchten, einzusetzen, die unverzüglich Vorschläge erarbeitet. Ich werbe dafür schon seit etwa zwei Jahren. Wir sind bisher kein einziges Stück vorangekommen. Ich sage im Hinblick auf die Zinssteuerquote des Bundes, die mir bekannt ist, da ich eine solche geerbt habe: Es genügt nicht, zu sagen, der Bund solle das alles bezahlen. Das wäre nicht sachlich und nicht redlich. Daher brauchen wir eine Kommission - das ist jetzt notwendig -, um die Gemeindefinanzreform auf den Weg zu bringen. Ich biete das hier ausdrücklich an und wäre dankbar, wenn Sie diese Anregung aufgreifen würden; denn in den Gemeindehaushalten sieht es - das sage ich Ihnen als Ministerpräsident eines Landes und als ehemaliger Bürgermeister einer Stadt - wirklich verheerend aus. So falsch es eben war, auf der einen Seite die Kosten der Einheit den Sozialversicherungskassen zuzuschieben, so falsch ist es ebenfalls, strukturell die Kosten der Arbeitslosigkeit und der Zuwanderung über Gebühr den Gemeindekassen aufzubürden, eine strukturelle Fehlentwicklung in diesem Lande, für die Sie die Verantwortung tragen! ({23}) Ich sage an dieser Stelle, es ist mir bisher kein nachvollziehbarer Vorschlag bekannt, der das Problem sofort löst, aber das ist kein Grund, es auf die lange Bank zu schieben. Ich biete die Einsetzung dieser Kommission ausdrücklich an. Diese Gemeindefinanzreform ist eine wirklich sofort in Angriff zu nehmende Reform, und ich hoffe, daß Sie dieses Angebot auf greif en. Ich komme dann zur Neuordnung der Rentenversicherung. Die Ausführungen, die Sie hier vorgetragen haben, sind nicht zu kritisieren, sie sind richtig. Es Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({24}) besteht hier Reformbedarf. Nur müssen wir redlicherweise immer wieder zugeben, daß es auch Mißbrauch der Rentenkassen durch den Staat gab. Es muß nun einmal ein Ordnungsprinzip durchgehalten werden, das da heißt, daß Leistungsansprüchen auch frühere Beitragszahlungen gegenübergestanden haben müssen. Wer die Rentenkassen ständig mit Leistungsansprüchen konfrontiert, die eben nicht durch ehemalige Beitragszahlungen gerechtfertigt sind, der darf sich dann nicht wundern, daß die Rentenkassen in immer größere Schwierigkeiten kommen. ({25}) Ich meine, daß der Weg der Teilzeit - ich habe diesen Begriff schon einmal angesprochen -, der Weg der Altersteilzeit richtig ist. Die Tatsache, daß davon bisher nicht in ausreichendem Maße Gebrauch gemacht worden ist, sollte nicht Veranlassung sein, diesen Weg nicht weiter zu verfolgen. Einige der Redner haben ja von den Produktivitätsschüben gesprochen, die wir auch in Zukunft haben werden. Es muß uns die Frage beschäftigen - der Kollege Fischer hat dies angesprochen -, wie wir dann dem Anspruch genügen werden, möglichst vielen Menschen eine Chance zu geben, sich am Erwerbsleben zu beteiligen. Ich sage aber genauso: Lassen Sie es sein, weiter über eine allgemeine Besteuerung der Renten zu philosophieren; denn das Ganze ist von der Sache her nicht gerechtfertigt, ({26}) ist aber auch nicht gerechtfertigt im Hinblick auf die Rentnerinnen und Rentner, die uns heute zuhören. Die haben ja als Rentnerinnen schon zu verkraften, daß ihre Lebensplanungen über den Haufen geworfen werden sollen. Befrachten Sie diese Problematik nicht noch mit einer nicht zu rechtfertigenden Diskussion über eine allgemeine Besteuerung der Renten! Das ist von der Sache her nicht gerechtfertigt. ({27}) Die achte Reform, die angegangen werden muß - ich habe sie teilweise bei der Rentenversicherung und dem Beamtenrecht schon angesprochen -, ist eine nach wie vor anzustrebende bessere Verteilung der Arbeit in unserem Lande. Die Überstunden haben Sie selbst angesprochen. Nur, mit dem Ansprechen ist natürlich nichts erledigt. Die Tatsache, daß wir nach wie vor viele, viele Menschen haben, die gern einen Zugang zur Erwerbsarbeit hätten und diesen Zugang nicht finden, kann uns doch nicht ruhen lassen. Die Tatsache, daß es eine ganze Zahl junger Menschen gibt, die immer noch nicht wissen, ob sie einen Ausbildungsplatz finden, kann uns auch nicht ruhen lassen. An dieser Stelle schließt sich dann der Kreis. Wenn Sie nämlich nicht die Teilzeit weiter verfolgen, sondern hingehen und pauschal das Renteneintrittsalter der Frauen anheben, dann ist das nach unserer Überzeugung auch unter diesem Gesichtspunkt der falsche Weg. Sie sollten ihn noch einmal überdenken. Es wäre nicht gut, wenn die Jungen arbeitslos sind und die Großeltern arbeiten können. ({28}) Wir brauchen eine flexible Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Aber wenn wir dies fordern und zu Reformen bereit sind, müssen wir auch im Auge haben, daß die soziale Sicherung dieser Menschen nach wie vor gewährleistet ist. Wir haben oft genug darauf hingewiesen, daß auf der einen Seite viele Argumente für die Flexibilität sprechen, daß es aber auf der anderen Seite genauso unsere Verpflichtung ist, nicht zuzulassen, daß der Flexiblität die soziale Sicherung im Alter geopfert wird. Deshalb brauchen wir eine Regelung auch für befristete Arbeitsverhältnisse, für Arbeitsverhältnisse wie etwa die 590-MarkJobs oder andere. Die Alterssicherung muß, in welcher Form auch immer, das Arbeitsleben der Menschen begleiten. ({29}) Der neunte Punkt, der neunte Reformstau, wo wir alle in der Verantwortung stehen - da mache ich es mir noch nicht einmal so einfach, daß ich auf Ihre 14jährige Regierungszeit verweise -, ist, daß es immer noch nicht gelungen ist, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerecht am Produktivvermögen zu beteiligen. Dies wird jetzt schon seit Beginn der Bundesrepublik Deutschland diskutiert. Aber das Problem hat sich von einer anderen Seite neu gestellt. Ich wiederhole: In den Wachstumsphasen der Republik sind die Reallöhne schneller gewachsen als das reale Zinseinkommen. Heute gibt es ein Zinseinkommen ungefähr in der Größenordnung von 7 Prozent; die Reallöhne stagnieren seit Jahren. Das ist eine totale Veränderung; verändert hat sich auch die konkrete Situation der Arbeitnehmerschaft im Verhältnis zu denen, die Vermögen oder Geld besitzen. In unserer Erbengesellschaft wird ja diese Ungleichheit immer noch größer. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, erste Schritte zu tun, um die Arbeitnehmerschaft am Produktivvermögen zu beteiligen. Das schafft Motivation in den Betrieben und mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Lande, die für uns nach wie vor eine wichtige Grundlage dieser Republik darstellt. ({30}) Hier haben Rudolf Scharping und Joschka Fischer recht, wenn sie sagen: Damit hätte spätestens nach der Einheit begonnen werden müssen, als es darum ging, in den neuen Ländern Produktivvermögen aufzubauen. Es ist doch gar nicht mehr nachvollziehbar, warum man angesichts der Lohndrift in den neuen Ländern diesen Schritt nicht zu Beginn getan und die Arbeitnehmerschaft an dem staatlich finanzierten Aufbau des Produktivvermögens beteiligt hat. Diese Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({31}) Reform hätte wirklich einmal einen neuen Ansatz für unsere Republik bedeutet. ({32}) Ich komme zu einem zehnten Punkt. Ihre diesbezüglichen Bemerkungen, Herr Kollege Schäuble, haben mich wirklich etwas erschüttert, ({33}) als Sie sich zu weltwirtschaftlichen Zusammenhängen geäußert haben. Es war wirklich bemerkenswert. „Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause", der Bundeskanzler sagt dies; der Finanzminister sagt dies. Nur, meine Damen und Herren von der CDU/ CSU und von Teilen der F.D.P., Sie müssen sich schon einmal damit vertraut machen, was in Europa und im Rahmen der G 7 diskutiert wird. Ich trage jetzt etwas vor, was mich besorgt macht, nämlich die Diskussion in Frankreich, über die man gestern in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" etwas lesen konnte. Dort äußert sich der frühere Finanzminister Alain Madelin. Er sagt: Wir riskieren, aus dem künftigen Euro-Raum eine Zone der ökonomischen Deflation-Depression zu machen, die zu einer sozialen Explosion führen wird. Es handelt sich hier nicht um einen Gewerkschafter, einen Sozialdemokraten oder Sozialisten, dessen Äußerungen Sie mit einer Handbewegung abtun könnten. Es handelt sich um einen Liberalen, der als Wirtschafts- und Finanzminister durchaus, als er im Amte war, auch von Ihnen Komplimente bekam und in Frankreich ein entsprechendes Ansehen hat. Wir saßen ja, verehrter Herr Bundeskanzler, auch öfters bei Edouard Balladur, den Sie vor den Präsidentenwahlen in Frankreich besucht haben. ({34}) Edouard Balladur wird wie folgt zitiert: Die Zeit ist gekommen, in einer offenen Aussprache mit Deutschland über die geeignetsten Wege zu einem starken Wirtschaftswachstum zu gelangen. Laurent Fabius, ein Premierminister zur Zeit der sozialistischen Mehrheit in Frankreich, fordert eine geldpolitische Lockerung in Frankreich, begleitet von einer offenen Aussprache mit Deutschland. Darüber hinaus gibt es dann einige, die - Herr Waigel, Ihr Zwischenruf „Sehr bedeutend" ist jetzt wirklich deplaziert. ({35}) - Dann entschuldigen Sie! ({36}) Entschuldigen Sie, Herr Kollege Waigel; ({37}) ich entschuldige mich in aller Form bei Ihnen. Von der Akustik her war ich der Meinung, Sie hätten dazwischengerufen: Sehr bedeutend! ({38}) Wer auch immer diesen Zwischenruf gemacht hat, meine Damen und Herren: Ich habe hier vernommen: „Sehr bedeutend", als ich die Namen der französischen Spitzenpolitiker genannt habe. Es kann sein, daß ich mich hier verhört habe; dann stellen wir das hiermit fest. Ich wollte Ihnen nur sagen, meine Damen und Herren von der Union und Herr Bundeskanzler: Solche Diskussionen in Frankreich, die darauf hinauslaufen, daß man Vorschläge des MIT - hören Sie zu! ({39}) aufgreift, die vor einiger Zeit gemacht worden sind, wonach sich der Franc eventuell abkoppeln sollte und insbesondere auch die französische Nationalbank eine andere Geldpolitik betreiben sollte und sich von der Deutschen Bundesbank und ihrer Politik abkoppeln sollte, sollten doch der Erörterung wert sein. ({40}) Meine Damen und Herren, ich habe mich immer gewundert, daß Sie die Schwierigkeiten im deutschfranzösischen Verhältnis einfach übergehen und hier so tun, als gäbe es sie nicht. ({41}) Man kann diese Dinge aber nicht einfach übergehen. Zu dem Jahre 1989 habe ich Ihnen einiges gesagt; ich will das nicht wiederholen. Auch da empfiehlt sich die Lektüre der Bücher, die Sie zitiert haben. Aber wenn beispielsweise in Frankreich Entscheidungen in der Militärpolitik fallen, die nicht abgestimmt sind, sollte man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Das stimmt doch nicht! Das wissen Sie doch! Das ist doch unwahr!) - Wollen Sie hier behaupten, daß die Entscheidung, eine Berufsarmee einzurichten, mit Ihnen abgestimmt war? (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Wir waren informiert, voll informiert! - Lachen bei der SPD) - Herr Bundeskanzler, das Thema ist zu ernsthaft, als daß ich es jetzt polemisch aufnehmen möchte. Ich Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}) will dann gern einräumen, daß Sie informiert waren. Nur, darum geht es nicht. Es geht darum, daß wir in Europa eine langfristige gemeinsame europäische Verteidigung aufbauen wollen und daß solche Entscheidungen deshalb natürlich konsultiert und abgestimmt sein müssen. Versuchen Sie doch nicht, über dieses Problem hinwegzureden! ({1}) Die ökonomische Debatte in Frankreich macht mich besorgt. Sie macht mich deshalb besorgt, weil in Frankreich mehr und mehr erkannt wird, daß der Stolz auf Preisstabilität allein nicht ausreicht, um die ökonomische Debatte in Gesamteuropa zu bestreiten. Stabilität ist wichtig, Sparen ist wichtig - aber Beschäftigung ist genauso wichtig. Ohne ausreichende Beschäftigung wird es ein vereintes Europa, das von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert wird, nicht geben. ({2}) Weil wir Beschäftigung in Gesamteuropa brauchen, brauchen wir eine internationale Abstimmung der Wirtschaftspolitik - auch wenn Sie das noch nicht verstanden haben. ({3}) Sie meinen, daß diejenigen, die nach einem internationalen Ordnungsrahmen rufen, der Auffassung sind, es gäbe keinen Ideenwettbewerb um bessere Forschung, um bessere Produkte, um bessere Kostensituation in den Betrieben. Ich sage Ihnen: Wir brauchen einen internationalen Ordnungsrahmen - zumindest in einem ersten Schritt - mehr als eine einheitliche Währung auf europäischer Ebene. Wir brauchen Steuerharmonisierung, Harmonisierung der Haushaltspolitiken, Standards für Umweltschutz und Soziales usw. usw. Anders läuft die Währungsunion ins Leere. ({4}) Es ist richtig, was die Vorredner kritisch festgestellt haben: daß Sie sich im Rahmen der WTO, daß Sie sich im Rahmen der G 7 und daß Sie sich im Rahmen der europäischen Abstimmung in der Minderheit befinden, Herr Kollege Schäuble, wenn Ihre Gastgeber Ihnen das vielleicht auch nicht so deutlich zeigen. Sie befinden sich mit Ihrem simplen Satz „Beschäftigungspolitik machen wir zu Hause " nicht nur nicht auf der Höhe der internationalen Wirtschaftspolitik - darüber wollen wir gar nicht reden -; Sie befinden sich auch in der Minderheit, was alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft angeht. ({5}) Deshalb brauchen wir endlich neue Beschäftigungsimpulse auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft. Die können wir nicht mit dem Argument „Beschäftigungspolitik machen wir bei uns zu Hause" wegbügeln. ({6}) Im übrigen, wenn ich ein Europäer aus einem anderen Land wäre, würde ich Ihnen sagen: Bewahren Sie uns vor den „Erfolgen" der Beschäftigungspolitik, die Sie in den letzten Jahren zu Hause mit Ihrer hausgestrickten Politik gemacht haben. ({7}) Das mindeste, was wir dabei brauchen, ist Steuerharmonisierung. Es nützt nichts, wenn überall geklagt wird, daß wir die Zinsbesteuerung in verfassungsmäßig zufriedenstellender Weise nicht hinbekommen, weil von der deutschen Bundesregierung versäumt wurde, auf europäischer Ebene rechtzeitig auf eine Vereinheitlichung zu drängen. ({8}) Es nützt auch nichts, wenn Sie ein großes Gejammere veranstalten, daß Steuerflüchtlinge nach Osterreich oder in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gehen - auch wenn das die Boulevardpresse besonders interessiert. Was wir brauchen, ist eine Harmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft bei der Vermögensteuer, bei der Kapitalertragsteuer und bei der Unternehmensbesteuerung. Das muß spätestens im Jahre 1999 verhandelt werden, wenn auch über die Beiträge zur Europäischen Gemeinschaft weiter gesprochen wird. Anders ist die Währungsunion nicht machbar. ({9}) Die Empfehlungen der Europäischen Kommision zur Steuerpolitik sind viel weiter als Ihre Debatte. Der zuständige Kommissar Monti hat darauf hingewiesen, daß die Souveränität nur noch eine scheinbare ist und daß durch den Wettlauf um Unternehmensteuersenkungen, durch die Kapitalflucht und den Wettlauf um die Abschaffung der Vermögensteuer usw. die Arbeit immer weiter besteuert worden ist, und zwar mit allen negativen Folgen für den gesamten europäischen Arbeitsmarkt. ({10}) Auch wenn Sie das noch nicht erkennen, ist das ein Schlüssel für mehr Wachstum und Beschäftigung in Gesamteuropa. Es nützt nichts, sich nur zu Europa zu bekennen. Wir bezweifeln Ihr Bekenntnis überhaupt nicht. Ich schließe mich dem an, was Joschka Fischer hier gesagt hat. Es müssen aber auch die ökonomischen, fiskalischen und steuerrechtlichen Entscheidungen getroffen werden, um die Europäische Gemeinschaft funktionsfähig zu erhalten und für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen. ({11}) Wir lesen die Zeitungen aufmerksam. Demnach wollen Sie den Weg weitergehen, daß Sie glauben, Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({12}) es entsteht mehr Beschäftigung, wenn Sie soziale Leistungen kürzen, Unternehmensteuern senken, Umweltstandards zurückhaltend festlegen und nur ja nicht an die ökologische Steuerreform herangehen. Das ist eine hoffnungslos veraltete Politik, eine Politik, die zu immer mehr Arbeitslosigkeit und zu immer mehr Umverteilung von unten nach oben geführt hat. ({13}) Die Proteste in der Bevölkerung - von Rentnerinnen und Rentnern, von Gewerkschaftern oder Arbeitnehmern, die arbeitslos geworden sind oder lange Zeit arbeitslos waren - richten sich dagegen, daß das, was Sie Wachstums- und Beschäftigungsprogramm nennen, im Grunde genommen ein nicht sozial vertretbares Programm ist, das die Arbeitslosigkeit in unserem Land weiter steigert. Sie veröffentlichen das in Ihrem eigenen Wirtschaftsbericht und in den Prognosen Ihrer eigenen wirtschaftspolitischen Sprecher ja selber. Deshalb ist es nicht an der Zeit, hier in Selbstgefälligkeit zu verfallen, sondern es ist an der Zeit, über die zehn Reformprojekte zu diskutieren, die wir Ihnen vorschlagen und die teilweise auch aus Ihren eigenen Reihen vorgeschlagen worden sind. Solange der Reformstau in dieser Republik anhält und solange die verfehlte Wirtschaftspolitik als Allheilmittel angepriesen wird, werden immer mehr Menschen arbeitslos werden und wird die soziale Ungerechtigkeit zunehmen. Damit werden und damit können wir uns nicht abfinden. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will nur eine Richtigstellung vornehmen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß mein Vorschlag zu einer Abgabe für Besserverdienende den durchschnittlichen VW-Arbeiter in Wolfsburg treffen würde. Das ist nicht der Fall, und ich will das noch einmal kurz erläutern. Sie haben das Jahresbruttoeinkommen des VWArbeiters mit etwa 51 000 DM angegeben. Ich habe von einem Monatsnettoeinkommen für Besserverdienende ab 5 000 DM gesprochen. Erstens: 5 000 DM mal zwölf sind 60 000 DM, zweitens gibt es einen beachtlichen Unterschied zwischen brutto und netto, und drittens habe ich Weihnachts- und Urlaubsgeld nicht mit eingerechnet. Wer ohne Weihnachts- und Urlaubsgeld, nachdem er alle Steuern, Abgaben und Versicherungsbeiträge bezahlt hat, monatlich immer noch 5 000 DM oder mehr zur Verfügung hat, ist bestimmt kein Volkswagenarbeiter in Wolfsburg. Das sind andere Personengruppen, und denen kann man diese zusätzliche Belastung durchaus zumuten. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heiner Geißler.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Oskar Lafontaine hat in seiner Rede Solidarnosc angesprochen und die Aussage des Bundeskanzlers in Zweifel gezogen, daß unsere Politik der Allianz die Wiedervereinigung verursacht hat. Herr Lafontaine, Sie haben den alten Streit wieder neu belebt, der uns, auch die Grünen, in den 80er Jahren beschäftigt hat, ob der Friede immer der oberste Grundwert sein muß. Wir waren immer der Auffassung - Herr Thierse, darüber haben auch wir uns schon unterhalten -, der Friede ist nicht der oberste Grundwert; denn wenn dies wahr wäre, hätten die Nazis, ohne Widerstand zu finden, ihre Terrorherrschaft auf der ganzen Welt ausbreiten können. Friede ist immer nur dann gewährleistet, wenn die wirklichen Grundwerte, nämlich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, realisiert sind. In der Auseinandersetzung in den 80er Jahren waren die Grünen gemeinsam mit den Sozialdemokraten einem Irrtum erlegen. Noch im Jahr 1970, als Solidarnosc den Aufstand probte, haben mit Rückendeckung der sowjetischen Armee die kommunistischen Milizen Arbeiter zusammengeschossen. Damals wurde nicht mit Platzpatronen geschossen, sondern da floß Blut. Die Grünen und die Sozialdemokraten haben nicht verstanden, daß die sowjetische Armee in Warschau und in Ost-Berlin bis zum Jahr 1989 stand, damit es in Osteuropa keine freien Gewerkschaften gab, während die Amerikaner mit ihren Raketen in Westeuropa und in West-Berlin standen, damit freie Gewerkschaften möglich waren. ({0}) Das haben Sie bis heute offenbar immer noch nicht abgearbeitet. Sie haben die Sache mit den Blockflöten angesprochen. ({1}) Ich finde die Aussage, die Sie getroffen haben, ({2}) ungeheuerlich, denn sie konnte sich nur auf Mitglieder des Deutschen Bundestages beziehen. Ich fordere Sie einmal auf: Nennen Sie die Leute, die Sie meinen! Sie mögen meinen, was Sie wollen: Von dem, was Sie im Verhältnis zur SED, und zwar zu Zeiten, als die Mauer noch stand, gemacht haben, waren die Mitglieder der CDU, die sich in der DDR in einer schwierigen Situation befanden, und wir erst recht weit entfernt, nämlich von der Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft. ({3}) Wenn wir diesem verhängnisvollen Weg gefolgt wären, dann hätten die Deutschen, die in der deutschen Botschaft in Prag und in der deutschen Botschaft in Budapest waren, die deutsche Staatsbürgerschaft nicht gehabt und deswegen völkerrechtlich keine Zuflucht finden können. Sie alle hätten, wenn es nach Ihnen gegangen wäre, ihre Freiheit nicht bekommen. Es war der Anfang der friedlichen Revolution in der DDR, daß wir Ihren Weg der Zusammenarbeit und der Anerkennung der SED-Richtlinien nicht gegangen sind. ({4}) Sie müssen auch ideologisch die „Versöhnung der gespaltenen Arbeiterklasse" und vieles andere mehr erst einmal aufarbeiten. ({5}) Ich will das jetzt nicht weiter vertiefen. Aber es gehört zur Korrektur dessen, was zu unserer Friedenspolitik in den 80er Jahren gesagt worden ist. David Herman, der Vorstandsvorsitzende von Opel, hat zur Begründung von 5 Milliarden DM Investitionen in Deutschland einmal gesagt, was die positiven Standortfaktoren in Deutschland aus seiner Sicht seien. Dabei hat er in erster Linie die stabilen politischen Verhältnisse genannt. Ich glaube nicht, daß er damit - ich sage das, weil Sie das hier nämlich angeführt haben - die politischen Verhältnisse in Nordrhein-Westfalen gemeint hat. Ich nehme an, er meinte die politischen Verhältnisse bei uns in Bonn. Aber ich konzediere Ihnen: Nordrhein-Westfalen ist nicht so schlimm wie Mexiko; das ist wahr. ({6}) Ich habe mir, Herr Scharping, aus der neuesten „Süddeutschen Zeitung" einen Ausschnitt geben lassen. Darin steht: „Aufruhr im Land der Azteken". Ich finde es schon erstaunlich, daß wir uns heute vormittag notwendigerweise unter Beteiligung des Bundeskanzlers und des Oppositionsführers, ungefähr 15 Minuten mit der Frage beschäftigt haben, ob der Lebensstandard eines verheirateten Arbeiters mit zwei Kindern in Mexiko höher ist als bei uns ({7}) bzw. - um das einmal etwas zu präzisieren - ob die Abzüge höher oder niedriger sind. Damit komme ich zu den Irrtümern, die hier ausgebreitet worden sind. Selbst wenn verheiratete Arbeiter mit zwei Kindern in Mexiko 24 000 DM und nicht 9 000 DM verdient hätten, ({8}) bei uns hätten sie anders als in Mexiko nicht einen Pfennig Steuern gezahlt; denn so hoch ist der Grundfreibetrag. ({9}) Das müssen Sie in Ihre Berechnung doch einmal mit einbeziehen. ({10}) Ich kann das Ganze nicht weiter beurteilen, aber Herrn Scharping ist es offenbar gelungen, Oskar Lafontaine bei seinem Besuch auf der Bundesratsbank auf diese Argumentationsschiene zu setzen. Mir tun eigentlich die Grünen leid. Herr Fischer ist gerade kurz raus; er wird wieder hereinkommen. Ich möchte einmal die Grünen fragen: Wollen Sie - ich sehe Herrn Schulz und andere - in der Tat - das hat sich in den letzten Wochen etwas verdichtet - mit diesen Leuten von der SPD das Zukunftsmodell gestalten und realisieren, das Herr Fischer hier gerade vorgestellt hat? ({11}) Herr Lafontaine, ich sage das aus folgendem Grund: Diese parlamentarische Diskussion macht wenig Freude. ({12}) - Entschuldigung, Wolfgang Schäuble hat die Sache mit der Vermögensteuer nun wirklich intensiv erklärt. ({13}) - Ja, das hat er nun wirklich getan. ({14}) Sie haben ihm mit der betrieblichen und mit der privaten Vermögensteuer sogar teilweise recht gegeben. Aber man kann hier offenbar reden, was man mag, ({15}) man kann die Wahrheit sagen, man kann die Argumente ausbreiten, es ist ja gerade so, als ob man zu einer Wand redet. Dann kommt eine Stunde, zwei Stunden später ein leibhaftiger Ministerpräsident und redet denselben Unsinn wie vorher. ({16}) Dann mahnen Sie die Gesundheitspolitik an. Sie haben die Gesundheitsstrukturreform abgelehnt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön. ({0})

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hier ruft einer so schön dazwischen: Matthäus zum dritten. Ich habe mich in der Tat gemeldet, um Sie zu fragen, Herr Geißler und Herr Schäuble: Wenn wir uns schon vorwerfen, daß wir uns gegenseitig nicht zuhören, wollen Sie dann nicht wenigstens zur Kenntnis nehmen, auch wenn Sie diese Meinung vielleicht nicht teilen, daß ich gestern in meiner Rede die Frage der Vermögensteuer ganz differenziert auseinandergenommen habe?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie, aber er nicht!

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dabei habe ich gesagt: Über die betriebliche Vermögensteuer lassen wir mit uns sprechen, ({0}) aber doch nicht ohne Kompensation, nicht ohne Ausgleich. Wenn uns alle Fachleute, alle Institute sagen, daß der Anteil der Unternehmensteuern am gesamten Kuchen immer weiter zurückgegangen ist, dann kann man mit uns über die betriebliche Vermögensteuer reden. ({1}) - Nun hören Sie mit Ihrer ewigen Quatscherei mal auf. Man kann mit uns darüber reden. Aber dann sagen Sie uns, welche Kompensation Sie vorsehen. Auf all das haben Sie überhaupt nicht geantwortet. Damit sich die Kollegen nicht aufregen, frage ich Sie: Meinen Sie nicht auch, daß Sie in einer Zeit, in der wir hinten und vorne nicht wissen, woher wir das Geld nehmen sollen, in der Sie sagen: „Die 3,7 Milliarden DM fürs Kindergeld habe ich nicht, aber auf die 9 Milliarden DM kann ich verzichten" , etwas differenzierter über das Thema reden könnten? ({2})

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau MatthäusMaier, jetzt machen Sie wieder denselben Fehler. ({0}) Die betriebliche Vermögensteuer wollen offenbar auch Sie abschaffen, oder Sie halten sie wenigstens für unsinnig. Dann bleiben, wenn ich das richtig verstanden habe, mit 48 Prozent 3,7 oder 3,8 Milliarden DM für die private Vermögensteuer übrig. ({1}): Aber bei Kompensation haben Sie die doch!) Aber Herr Schleußer und alle Finanzminister der SPD sagen, daß man dafür ungefähr 2 Milliarden DM für Verwaltungs- und Personalaufwand braucht. Dies kapiert in meinem Wahlkreis jeder Winzer, jeder Bauer und jeder Arbeiter, daß man einen solchen Unsinn nicht machen kann. Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, dies den Leuten zu erklären. Wir sagen nun aber gar nicht, daß wir die private Vermögensteuer ersatzlos streichen. Wir wollen sie mit der Erbschaftsteuer zusammenlegen. Auch dies hat Wolfgang Schäuble vorhin erklärt. ({2}) - Entschuldigung, da sagen Sie dummes Zeug. Genau denselben Vorschlag hat der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, gemacht - aber nicht auf Druck von Herrn Brüderle, sondern offenbar aus eigener Einsicht -, indem er gesagt hat, die private Vermögensteuer habe er schon immer als einen Unfug angesehen. ({3}) Dies hat er schon immer aus eigener Einsicht gesagt, also offenbar schon vor Bildung der Koalition mit der F.D.P - leider mit der F.D.P.; ich muß sagen, das ist keine schöne Tat gewesen. So groß kann der Unsinn nun nicht sein, wenn er sogar in Ihrem hehren Gebäude steuerpolitischer Reinheitsvorstellungen Fuß gefaßt hat. Wenn ein Ministerpräsident der SPD sagt, was wir sagen, kann dies nicht ganz verkehrt sein. Zu einem weiteren Punkt: Gewerbekapitalsteuer und Senkung der Gewerbeertragsteuer. Seit einem Jahr liegen die Vorschläge auf dem Tisch. Das alles interessiert Sie offenbar überhaupt nicht. Sie erwähnen nur den Grundfreibetrag und das Kindergeld. Sie wissen doch ganz genau, daß wir die Erhöhung des Kindergeldes um 20 DM nur verschieben, aber das Kindergeld nicht kürzen. Ich sage es zum viertenmal: Sie und die, die damals Verantwortung getragen haben, haben das Kindergeld im Jahre 1980 gekürzt. ({4}) Kinder von Arbeitslosen haben nämlich das Kindergeld bis zum 21. Lebensjahr bekommen. Sie haben das Alter auf 18 Jahre heruntergesetzt. Wir haben dies nach 1982 wieder reparieren müssen, Solche Kürzungen in einer Zeit, in der die Lebenshaltungskosten eines Kindes bei 7 Prozent lagen, haben wir nicht gemacht. Wir verschieben jetzt die zusätzliche Erhöhung des Grundfreibetrages und die Erhöhung des Kindergeldes um 20 DM aus haushaltspolitischen Gründen. Wir können dies verantworten, weil wir im Monat September - heute ist der entsprechende Bericht herausgekommen - die größte Preisstabilität seit der deutschen Einheit haben. Die Preissteigerungsrate beträgt 1,4 Prozent. Das heißt, das Existenzminimum für Kinder wird sich im Verhältnis von 1996 zu 1997 nur marginal verändern. Die Preisstabilität ist der eigentliche Grund, daß sich das Existenzminimum nicht verschoben hat und daß wir sagen: Wir können es steuer- und sozialpolitisch verantworten, die Erhöhung um ein Jahr zu verschieben. Wenn das die Wahrheit ist - das ist die Wahrheit und die Realität; das wissen Sie auch -, dann können Sie doch nicht ein solches Getöse veranstalten. Sie verbreiten hier Irrtümer; die SPD-Leute haben sich nach Ihrer Rede gefreut. Zu Ihrer Rede fällt mir ein Zitat aus Faust I ein: „Oh glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen. " ({5}) Herr Lafontaine, ich muß noch etwas zu Ihrer Rede bemerken: Sie haben Wolfgang Schäuble nicht geantwortet. Im Bundesrat haben Sie die Frage gestellt - ich will sie noch einmal vorlesen -: Wohin sind wir eigentlich in diesem Staat gekommen, wenn auf der einen Seite diejenigen, die wochenlang und monatelang darüber diskutieren, was im Sozialhilferecht zumutbar ist, als „Besitzstandswahrer" diskreditiert werden, während auf der anderen Seite Einkommensmillionäre die Einkommensteuern über Abschreibungsbedingungen eben gegen Null führen können. Das haben Sie im Bundesrat gesagt. In derselben Bundesratssitzung ({6}) - also offenbar eine Stunde später - hat das Saarland den entsprechenden Vorschlag, die Steuersubvention für Flugzeuge und Container zu streichen, abgelehnt. Das sind Widersprüche, zu denen Sie einmal hätten Stellung nehmen sollen. Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung, die Sie mit dem Bundeskanzler über das Beschäftigungspaket geführt haben, haben Sie auf Grund der Schwierigkeiten und Probleme, die wir zu lösen haben - dies ist auch die Hoffnung der Grünen gewesen; da ist die PDS noch einbezogen worden -, ein Fünkchen Hoffnung entdeckt. Es hat Zeitungsberichte und Kommentare gegeben, die Vergleiche mit der Zeit von Ronald Reagan und der Entwicklung unter George Bush gezogen und festgestellt haben, daß sich nach den Reaganomics die Gegenbewegung formiert habe, die wieder mehr die Solidarität in den Vereinigten Staaten in den Vordergrund geschoben habe, und daß dies schließlich den Machtwechsel zugunsten von Bill Clinton verursacht habe. Eine Zeitung, der „Kölner Stadt-Anzeiger", hat die Frage gestellt: „Der DGB-Protest als Vorbote des Machtwechsels in Bonn?" Aber dazu müßte es einen deutschen Clinton geben, und den Clinton gibt es nicht. Sie sind es nicht, er ist es nicht, und der andere ist es auch nicht. ({7}) Deswegen wird Ihnen das, selbst wenn Sie weiterhin diese Reden halten und versuchen, das soziale Klima aufzuputschen, nicht gelingen. Nun greife ich den Gedanken auf, den Sie schon im Bundesrat geäußert haben -: Es geht um die Situation, in der wir uns mit unserem Sozialstaat befinden. Im Gegensatz zu dem einen oder anderen auch in meiner Partei glaube ich, daß wir diese Frage angesichts der Umbrüche, der Globalisierung und der damit zusammenhängenden Probleme diskutieren müssen. Ich möchte an Ihre Adresse zunächst einmal sagen: Was die soziale Marktwirtschaft anbelangt, müssen wir uns wieder über ihre Grundsätze klarwerden. Daß es zur dezentralen Koordination durch den Markt keine funktionsfähige Alternative gibt, wird, glaube ich, inzwischen nicht mehr bestritten. Daß der Wettbewerb - das hat Herr Gerhardt gesagt - ein Entmachtungsinstrument und insoweit auch demokratiefreundlich ist, ist auch richtig. Aber Egoismus ist von der menschlichen Natur her unmoralisch, und ökonomischer Egoismus ist es ebenfalls. Deswegen haben die Schöpfer der sozialen Marktwirtschaft das Soziale nicht als Appendix angesehen, sondern der Wirtschaft angesichts des Problems, daß der Markt nicht Gerechtigkeit schaffen kann, ganz eindeutig und klar ein sozialethisches Telos, ein Ziel gegeben. Die Wirtschaft existiert nicht für sich selber. Deswegen ist die ganze Shareholder-value-Diskussion verkehrt. Ein Unternehmen existiert nicht ausschließlich und allein zu dem Zweck, daß Dividenden erwirtschaftet werden, sondern es gibt auch noch den Kunden und den Arbeitnehmer. Daimler-Benz könnte mit seinem Kapital nicht ein einziges Auto bauen, wenn es nicht die Ingenieure und die Arbeitnehmer gäbe und wenn es nicht die Kunden gäbe, die diese Autos kaufen. Soziale Marktwirtschaft ist eben etwas anderes. Also brauchen wir eine soziale Ordnung. Aber - Ludwig Erhard war das Problem bewußt; Sie haben ihn zitiert -: Es braucht eine staatliche Rahmenordnung, von der Geldpolitik über die Steuerpolitik bis hin zur Sozialpolitik und zum Arbeitsrecht. Das heißt, wir haben einen geordneten Wettbewerb. Wir haben nicht Catch-as-catch-can, sondern einen geordneten Wettbewerb, wie es auch im Grundsatzprogramm der CDU beschrieben ist. Wir haben eine Sozialordnung. Um dies zu gewährleisten, ist ein leistungsfähiger und ein entscheidungsfähiger Staat konstitutiv. Jetzt kommt Ihr Problem. Bei einer Globalisierung der Märkte beginnt die Wirtschaft, sich dieser staatlichen Ordnung zu entziehen. Deswegen sagen Sie völlig zu Recht: Wir brauchen auf der europäischen, möglicherweise sogar auf der globalen Ebene Institutionen, die das auffangen. Das ist eine schwere Aufgabe. Aber in Europa sind wir dabei, beschäftigen wir uns mit dieser Aufgabe. Man muß überlegen, ob wir nicht solche Institutionen durch den Ausbau der Institutionen der UNO auch weltweit bekommen. Das halte ich nicht einmal für unmöglich. Aber wir haben noch ein anderes Problem: Mit der sozialen Marktwirtschaft war immer auch Wachstum verbunden. In einer Zeit des Wachstums war es leichter, sogar relativ einfach, diese soziale Ordnung darzustellen und zu finanzieren. Nun besteht aber Konsens - das ist das, was Joschka Fischer angedeutet hat, und dem stimme ich völlig zu; dem stimmen wir alle zu -, daß die Erde eine Globalisierung des Standards der Industrieländer nicht verkraften würde und daß wir das den nach uns kommenden Generationen auch nicht zumuten dürften. Wenn das richtig ist, dann stellt sich doch die Frage, ob wir das ProDr. Heiner Geißler blem der Massenarbeitslosigkeit, so wie es früher der Fall war, heute noch mit Wachstum lösen können. Wenn wir das richtig sehen, dann scheint es doch so zu sein, daß im Zuge der Globalisierung der Märkte die Wachstumschancen eher zugunsten der Schwellen- und der Reformländer als zugunsten der Industrieländer verteilt werden. Jetzt komme ich zu dem entscheidenden Punkt. Das heißt aber doch, daß, wenn wir trotzdem die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, dieses Solidarprinzip, das integrativ zur sozialen Marktwirtschaft gehört, heute stärker beansprucht wird. Dieses Sozialprinzip muß anders gesehen werden, und auch der Begriff der sozialen Gerechtigkeit muß anders ausgelegt werden, als es früher der Fall war. Das heißt, wir müssen den Begriff der Solidarität stärker beanspruchen. Wir haben hier in Deutschland noch das zusätzliche Problem, daß wir die Aufgaben der deutschen Einheit bewältigen müssen. Darauf geben Sie keine Antwort. Wie soll diese Solidarität aussehen? Inwieweit können und müssen wir sie beanspruchen? Das bedeutet natürlich auch, sie einzuschränken. Etwas anderes ist auch klar. Sie sprechen in der Rede im Bundesrat von Standards. Ich habe bei der letzten Debatte schon gesagt, daß das einmal von Ihnen ausdiskutiert werden muß. Wenn wir Standards anstreben, dann mag es ja sein, daß wir irgendwo anders soziale Standards anheben wollen. Das wird nach meiner Auffassung auch gelingen. In Portugal ist es schon der Fall; es wird auch in anderen Ländern der Fall sein. Es wird aber gleichzeitig auch die Erkenntnis bedeuten, daß wir nun nicht alle - ich habe es gerade gesagt - auf unseren Standard anheben können. Wenn Sie also wollen, daß wir dieser Globalisierung der Märkte eine Globalisierung der Sozialpolitik und der Sozialordnung folgen lassen - so schwierig das auch immer sein mag -, dann bedeutet dies, daß wir uns auf das Wachstum allein nicht verlassen können, sondern daß wir in einer bestimmten Form eben auch das, was wir bisher als Sozialstaat gehabt haben, einschränken müssen. Jetzt frage ich Sie aber - Sie sind das letzte Mal nicht dagewesen; ich habe es dem Kollegen Scharping gesagt und auch ihn gefragt -: Wie wollen Sie denn das erreichen - das ist nun wirklich eine große Aufgabe -, wenn Sie schon bei der Reduzierung unserer Sozialleistungen, die einen Umfang von 1,2 Billionen DM haben, um 40 Milliarden DM ein solches Theater veranstalten, wie Sie das heute getan haben? ({8}) Die Frage müssen Sie beantworten, sonst ist Ihre Argumentation in sich nicht schlüssig, und Sie werden unglaubwürdig. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Joschka Fischer und die Grünen, denen ich mich damit kurz zuwenden möchte, haben nun im Zusammenhang mit dieser ganzen Globalisierung ihre Visionen und ihr Modell entwickelt. Jetzt fange ich einmal mit dem Bereich der Beschäftigungslage an. NRW ist als typisches Beispiel für rot-grüne Zukunftskooperation und Realisierung von Visionen genannt worden. Es wird ja wohl erlaubt sein, darüber zu reden. Ich fange mit einem ganz einfachen Beispiel an. Der Bundeskanzler kennt die Geschichte um den Holiday-Park in Haßloch in der Südpfalz. ({9}) - Er war wahrscheinlich auch schon drin. - Es gibt dort 1,8 Millionen Besucher. Keiner läßt dort weniger als 50 DM. 600 Personen sind dort beschäftigt. Kein Staat und keine Kommune investiert dort etwas. Jetzt komme ich zu NRW. NRW hat, um einen ähnlichen Freizeitpark ins Ruhrgebiet zu locken, 62 Millionen DM an Steuermitteln dem betreffenden Bewerber zugesagt. Das ist nun das typische sozialdemokratische Hinausschmeißen von Geldern für eine Investition in diese Wachstumsbranche, die aber eben keine Steuergelder braucht. ({10}) Ich fahre mit Beispielen aus Nordrhein-Westfalen fort. Ich würde gerne einmal mit den Grünen darüber diskutieren. Es gibt in der Nähe des Klinikums Aachen und der Universität ein Feld, auf dem Rüben, Mangold und was weiß ich noch wachsen - Hanf sogar auch, also alles mögliche. ({11}) Wenn Sie dorthin kommen, sehen Sie elektronische Sicherungsanlagen, künstliche Beleuchtung usw. Was passiert da? Dort werden Rüben gezüchtet, um pestizidresistente Früchte zu erzeugen, und zwar mit Hilfe der Gentechnologie. Dort sollen gesunde Lebensmittel erzeugt werden, Lebensmittel, bei denen weniger Chemie eingesetzt wird. Joachim Bartsch, der Gentechnologe von der TH Aachen, sagt, das Gebiet müsse gesichert werden, weil die Gentechnologiegegner ansonsten das ganze Zeug herausrissen. Ohne Feldforschungen aber können diese Lebensmittel nicht auf den Markt gebracht werden. Also wird dies außerhalb Deutschlands gemacht, in Belgien und in Holland. Wir wiederum kaufen dann das, was dort produziert wird, weil wir es dringend brauchen. Die BASF sagt etwas Ähnliches zur Biotechnologie. Sie sagt: Wissenschaftlich gesehen halten wir in der Biotechnologie einen Spitzenplatz. Wir schaffen es aber nur unzureichend, die Ergebnisse der Grundlagenforschung in Produkte umzusetzen. Ungefähr 8 Prozent aller Arbeitsplätze in Europa hängen mittelbar von der Gentechnik ab; das sind 15 Millionen Arbeitsplätze. Jetzt frage ich Sie einmal, wie wir eigentlich die Zukunft der Arbeitsplätze sichern sollen, wenn wir Gefahr laufen, bei der Gen-und Biotechnologie dieselben Fehler zu machen, die wir uns in der Vergangenheit bei der Informationstechnologie geleistet haben. ({12}) Ich will nicht von den ausländischen Arbeitnehmern in der Landwirtschaft reden; das ist eine Sache für sich. Aber ich war neulich in Nürnberg und habe gesehen, daß die Nürnberger Bratwürste von Koreanern verkauft werden. Weil ich ein Anhänger der multikulturellen Gesellschaft bin - das weiß jedermann -, habe ich nichts dagegen, daß wir chinesische, koreanische, taiwanesische, italienische und portugiesische Restaurants haben. Ich habe noch nicht einmal etwas dagegen, wenn Koreaner deutsche Bratwürste verkaufen. Ich habe ebenfalls nichts dagegen, daß 3 Milliarden DM Umsatz durch Gyros und Döner-Buden der Türken erzielt werden, durch Zehntausende von Beschäftigten. Ich habe aber etwas dagegen, daß die Deutschen zu vornehm sind, um mit diesen Jobs ordentliches Geld zu verdienen. Dagegen habe ich etwas. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geißler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will nur noch ganz kurz eine Schlußfolgerung daraus ziehen. Danach lasse ich sie sehr gerne zu. Dies werden wir durch Arbeitsrechtsverordnungen und alles andere, was wir gemeinsam diskutieren, wahrscheinlich nicht grundsätzlich ändern können; das ist inzwischen meine Auffassung. Es muß sich etwas anderes ändern, nämlich die Mentalität. ({0}) Dazu müssen Sie ebenso wie wir und die Grünen einen Beitrag leisten. Man darf die technologische Entwicklung insgesamt nicht weiter diskreditieren. Man muß die Arbeit zwar nicht heiligen, aber man darf bestimmte Formen der Arbeit nicht diskreditieren, ({1}) wenn man in der Arbeitsmarktpolitik weiterkommen will.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Geißler, ich will mit Ihnen gar nicht über die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch Gyros-Stellen reden. Die Frage bezieht sich vielmehr darauf, ob es nicht genauso töricht ist, die Sorge vieler Menschen vor genmanipulierten Lebensmitteln durch mechanische Sicherungsanlagen bekämpfen zu wollen. Wäre es nicht sehr viel intelligenter, dafür zu sorgen, daß genmanipulierte Lebensmittel gekennzeichnet werden, und dann, wenn wir schon den Widerstand gegen Genmanipulationen abbauen wollen, auch den Widerstand gegen die Kennzeichnung abzubauen? Wäre das nicht viel intelligenter? ({0})

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu. Das kann der Bundesgesundheitsminister gerne tun. Das war aber nicht mein Thema. Ich habe von der Forschung geredet und gesagt, daß die Technologiegegner die Forschung verhindern ({0}) - übrigens ist in Wippingen bei Ulm genau dasselbe passiert -, indem sie die Pflanzen aus dem Acker reißen. Ohne Feldforschung kann es aber zu keinen Ergebnissen kommen. Deshalb wird die Forschung ins Ausland verlagert. Das war mein Thema, nicht die Kennzeichnung von genmanipulierten Produkten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage?

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Geißler, sind Sie denn mit den europäischen Kennzeichnungsregelungen einverstanden? Wenn Sie zu Recht die Technologiefeindlichkeit in diesem Bereich als falsch bezeichnen, müßten Sie bzw. wir gemeinsam dann nicht sehr viel mehr dafür tun, daß diese Sorgen nicht durch irgendwelche Appelle und Reden, sondern durch vernünftige Regelungen bekämpft werden, was wir bisher nicht tun? ({0})

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Hirsch, ich kenne mich in den Einzelheiten der europäischen und deutschen Kennzeichnungsregelungen nicht aus; ich muß diese auch nicht kennen. Ich sage dazu: Ich bin selbstverständlich dafür, daß wir die Lebensmittel kennzeichnen. Ich lasse mich jetzt aber nicht auf eine Debatte über die Kennzeichnung ablenken. Mir geht es um die Behinderung der Forschung und um die technologische Entwicklung. ({0}) Wir sollten das Bündnis für Arbeit - ich habe den Bundeskanzler gerade so verstanden - nicht ad acta legen. Wir haben mit dem DGB verabredet, daß wir die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Da ich nicht mehr sehr viel Redezeit habe, möchte ich mich ganz kurz Walter Riester zuwenden, der sagt - das scheint mir ein wichtiges Thema zu sein -, es sei eine Frage der Ehre, daß an der im längsten Streik in der Geschichte der Bundesrepublik erreichten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht gerüttelt werden dürfe. Das ist nicht die Wahrheit. Der Streik der Gewerkschaften betraf in seiner Zielsetzung und im Ergebnis nicht die Lohnfortzahlung, die wir heute haben, sondern hatte die 90prozentige Lohnfortzahlung des Nettolohnes zum Ziel. Erst im Jahre 1969 während der Großen Koalition ist die volle Lohnfortzahlung beschlossen worden. Ich sage das deswegen, weil ich die Bitte habe, daß die Gewerkschaften bzw. die IG Metall diese RegeDr. Heiner Geißler lung der Lohnfortzahlung nicht sozusagen mit der Ehre der Gewerkschaften verbinden, sondern vielleicht akzeptieren, daß wir den Versuch unternehmen, die Schaffung neuer Arbeitsplätze denjenigen, die das ereichen können - das sind nicht wir und auch nicht die Sozialdemokraten, sondern die Unternehmer zusammen mit den Gewerkschaften -, zu erleichtern. Dies betrifft den Kündigungsschutz, die Lohnfortzahlung und das Ziel, familiengerechte Arbeitsplätze einzurichten. Wir sollten in der Erkenntnis dieser gemeinsamen Zielsetzung - es ist nicht etwa so, daß wir den Sozialstaat abbauen oder kaputtmachen wollen; wir sagen vielmehr: Unsere Solidarität gehört den Arbeitslosen - an den Verhandlungstisch zurückkehren. Wir haben manches getan, wozu die Wirtschaft, die Industrie und das Handwerk uns gesagt haben - das ist vorhin vom Bundeskanzler zitiert worden -: Wenn ihr das macht, dann nehmen wir den Unternehmen die Angst vor Kündigungsschutzklagen, Abfindungen und vielem anderen mehr. Dann können wir pro Betrieb zusätzlich zwei oder drei Leute einstellen. Ich sage Ihnen dazu: Durch das Beschäftigungspaket sind auch die Arbeitgeber in Milliardenhöhe entlastet worden, und zwar zweistellig. Wir tun dies mit großen Opfern. Es fällt uns nicht schwer. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Nicht leicht!) - Entschuldigung, es fällt uns nicht leicht. Es fällt uns schwer. ({0}) - Wenn Sie sich nie versprechen, dann freuen wir uns gemeinsam. Wir - zumindest die Koalition - müssen von den Arbeitgebern, der Industrie und dem Handwerk verlangen und fordern - auch wenn Olaf Henkel dies ablehnt; ich habe gelesen, daß er dies nicht will -, daß sie diese Versprechungen einlösen. ({1}) Ich habe mit den Protestdemonstrationen keine Schwierigkeiten. Wolfgang Schäuble hat es auch gesagt: Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht. Es gibt die Zeitungsüberschrift „Die DGB-Proteste lassen Bonn kalt". Das ist nicht wahr. Uns lassen diese Proteste nicht kalt. Wir wissen sehr wohl, welche sozialen Beweggründe hier vorliegen. Wir fühlen uns aber, wie anläßlich dieser Demonstration gesagt worden ist, nicht als Handlanger oder Scharfmacher des Kapitals. Wir sind vielmehr die Vertreter des ganzen Volkes und damit auch die Interessenvertreter der Arbeitslosen, die offenbar ohne uns keine ordentliche Lobby haben. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne hat eine Delegation des Sozialausschusses des niederländischen Parlaments Platz genommen, die wir herzlich begrüßen. ({0}) Wir wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt und gute Gespräche mit den Kollegen. Zu einer Kurzintervention erteile ich nun der Kollegin Matthäus-Maier das Wort.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geißler, Sie haben gerade noch einmal die Verschiebung von Kindergelderhöhung und von Verbesserung des Grundfreibetrages verteidigt und gesagt, es gebe verfassungsrechtlich keine Bedenken. Ich darf Sie hinweisen auf einen Satz in der mittelfristigen Finanzplanung von Theodor Waigel vom August dieses Jahres. Auf Seite 37 beschreibt er, daß die Verschiebung geplant sei. - Herr Bundeskanzler, ich will Sie nicht unterbrechen, aber vielleicht könnten Sie eine Minute zuhören, denn ich möchte gern auf Ihre Rede zurückkommen. - Darin sagt Theo Waigel zu dieser Verschiebung, das Existenzminimum werde berechnet nach dem Sozialhilfebedarf, und dann kommt folgender Satz: „Unter dieser Berücksichtigung ist eine geringfügige Unterschreitung des durchschnittlichen Sozialhilfebedarfs für ein Jahr verfassungsrechtlich hinnehmbar." Meine Damen und Herren, hier in diesem Bericht steht klar, daß der Sozialhilfebedarf im nächsten Jahr teilweise höher ist als Grundfreibetrag und Kindergeld, wie Sie es vorhaben. Ich halte das verfassungsrechtlich nicht für hinnehmbar. Jetzt möchte ich Sie zitieren, Herr Bundeskanzler. Sie haben heute morgen sinngemäß den richtigen Satz gesagt: Leistung muß sich lohnen, bzw. Arbeit muß man höher bezahlen als Nichtarbeit, als Tranferleistung. Sie schreiben in diese mittelfristige Finanzplanung ganz deutlich hinein, daß Sie in 1997 das Gegenteil tun. Selbst wenn es gleich wäre, würde es nicht reichen. Lohnabstandsgebot heißt doch: Wenn ich einen Monat zur Arbeit gehe, dann darf ich nicht das gleiche bekommen wie bei der Sozialhilfe, sondern dann muß ich deutlich mehr bekommen als bei der Sozialhilfe. Sie verstoßen gegen das Prinzip des Lohnabstandsgebots. Sie verstoßen gegen das Prinzip: Arbeit muß sich lohnen, Leistung muß sich lohnen. Ich frage Sie, ob Sie es sich wirklich leisten können, nachdem Theo Waigel in seinem mittelfristigen Finanzplan das selber zugesteht, bei dieser verrückten Situation zu bleiben, daß Sie im Jahr 1997 das Sozialhilfeniveau zumindest teilweise unterschreiten. Ich halte das für einen schweren Fehler, verfassungsrechtlich und politisch. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Möchten Sie antworten, Herr Kollege Geißler? - Bitte.

Dr. Heiner Geißler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau MatthäusMaier, der Grundfreibetrag, wie er jetzt besteht, wird wahrscheinlich ab 1. Januar ungefähr 3 bis 4 Prozent unter dem Sozialhilfeniveau liegen. Das ist im verfasDr. Heiner Geißler sungsrechtlichen Rahmen. Deswegen kann ich nicht begreifen, was Sie sagen, Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil Spielraum für Abweichungen vorgesehen und auch ermöglicht. Insoweit zieht auf jeden Fall Ihr verfassungsrechtliches Argument nicht. Sozialpolitisch kann man immer darüber debattieren, und ich würde Ihnen ohne weiteres zustimmen, daß es besser wäre, wenn man am 1. Januar die Erhöhung des Kindergeldes um 20 DM vornehmen könnte. Sie schlagen dauernd zusätzliche Ausgaben oder zusätzliche Steuererhöhungen vor. Herr Lafontaine, in Ihrer Rede sagen Sie sogar, wir brauchten ein effizientes Sparprogramm oder so etwas ähnliches. Sie haben nicht einen einzigen Vorschlag gemacht, wo Sie sparen wollen. Ich habe es vorhin nicht sagen können, deswegen sage ich es jetzt: Sie wollen jetzt die Verschiebung der Kindergelderhöhung verhindern - es geht dabei um 3 bis 4 Milliarden DM -, sagen aber mit keinem Wort, woher Sie das Geld bekommen wollen. Das ist eine in sich nicht schlüssige und eine unredliche Argumentation. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ebenfalls zur Kurzintervention hat sich Herr Scharping gemeldet. Ich muß Sie nur darauf hinweisen, daß Sie jetzt nicht auf den letzten Redner antworten dürfen, sondern nur auf den letzten Redebeitrag hier.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß die SPD immer sehr deutlich gesagt hat - ich füge hinzu: Wir werden es durchsetzen -, daß das Kindergeld erhöht und dafür auf die Steuererleichterung zugunsten privater Vermögen verzichtet werden sollte. Das ist dann finanziert. Das ist eine ganz klare Alternative, auch wenn sie Ihnen unangenehm ist. Dann kann Deutschland seinen traurigen Platz in der Europäischen Union, im Hinblick auf die Leistungen für die Familien, unter 15 Mitgliedsländern nur den 13. Rang einzunehmen, endlich verlassen. Herr Bundeskanzler, wenn es ernst gemeint war, was Sie zum Konsens gesagt haben - aber Sie haben nicht auf den Brief von Herrn Lafontaine und mir vom Januar geantwortet, sind nicht auf die Bemerkungen von Herrn Dreßler eingegangen, gemeinsam die Rentenfragen zu lösen -, wenn das ernst gemeint war, anders als im März, als Sie dasselbe schon einmal gesagt haben, dann frage ich Sie: Wären Sie denn bereit, die Beschlußfassung über die sozialen Kürzungen für präzise zwei Wochen auszusetzen und über einen Konsens zu reden, oder glauben Sie, daß der Konsens ohne den sozialen Gehalt der Politik herbeigeführt werden könnte?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es ist ein bißchen schwierig, weil Herr Scharping den Bundeskanzler etwas gefragt hat, aber wir jetzt keine Möglichkeit haben, darauf einzugehen. Ich denke, wir machen einfach so weiter, daß ich den nächsten Redner aufrufe. Das ist dann der Kollege Dr. Helmut Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die parlamentarische Redeordnung bringt es mit sich, daß ich als erster außenpolitischer Redner gewissermaßen zum Schlußlicht in der Kanzlerrunde werde und nicht etwa nach dem Außenminister rede. Aber das macht in gewisser Weise Sinn; denn wenn wir über Außenpolitik reden, fällt auf, daß wir nicht nur über die Außenpolitik des Außenministers sprechen müssen, sondern daß eine Reihe von Köchen in diesem Topf herumrühren. Die letzten Wochen bewiesen es: Den längsten Löffel hat der Kanzler selbst. Mit seinen Reisen nach Kiew und Moskau, mit den bevorstehenden Besuchen in Buenos Aires, Rio und Mexiko, von wo wir dann anschließend das Ultimative über die Lage der Arbeiter erfahren werden, hat der Bundeskanzler fast den Reiserekord eines früheren Außenministers eingestellt. Vom jetzigen ist kaum noch die Rede. Also müssen wir über die Außenpolitik des Bundeskanzlers, gestützt auf das Kanzleramt, herzlich wenig auf das Auswärtige Amt, sprechen. Das Bild war für uns alle anrührend - ich sage das ganz ohne Ironie, Herr Bundeskanzler: Vor Ihrem Hubschrauber stand der schwerkranke Boris Jelzin. Sie sprachen anschließend 35 Minuten mit ihm unter vier Augen und waren fünf Stunden mit ihm zusammen. Sie verzehrten einen Teil der Jagdbeute, die erlegt zu haben dem Kranken immer noch wichtig war. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Das ist nicht wahr, was Sie da erzählen!) - Vielen Dank. So berichtet es die Presse, die immer solche Gags braucht. Auf uns entstand der Eindruck von Altherrendiplomatie. Das soll, Herr Kanzler, wieder nicht abwertend gemeint sein. Stabile, persönliche Beziehungen sind ein wichtiges Gut in den internationalen Beziehungen. Nur: Es muß doch im Rahmen der russischen und insbesondere im Kontext der deutsch-russischen Beziehungen diskutiert werden. Der Kontrast ist überdeutlich: Während sich Jelzin die Zeit für Sie nahm, bleibt dem Friedensstifter von Tschetschenien, Lebed, der in letzter Minute das Blutbad von Grosny abwendete, seit mehr als drei Wochen die Audienz versagt. Lebed mußte, um überhaupt Handlungsspielraum für Grosny zu haben, die Authentizität der Unterschrift unter der Instruktion des Präsidenten bestreiten. Mit den Worten „Kulikow oder ich" bezeichnete er den Machtkampf, der an der Spitze ausgebrochen war. Die Assoziation, daß wir vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs standen, war eine weltweite und wohl nicht nur meine. Die Antwort auf Appelle an Sie, Herr Kanzler, bei Ihrem Freund Boris zu intervenieren, war völlig inadäquat. Es mag eine andere Antwort gegeben haben, aber die öffentliche war: Wenn Sie aus dem Urlaub zurückgekehrt seien, dann wür10866 den Sie Jelzin anrufen. - Dies ist ein merkwürdiges Bewußtsein im Hinblick auf potentielle Katastrophen. Damit komme ich auf Ihre Bemerkung zur Friedensbewegung. Natürlich hat die Friedensbewegung deshalb so alarmiert reagiert, weil die Vorstellung, Friedenswahrung durch ein hochbrisantes Gleichgewicht des Schreckens aufrechtzuerhalten, letztlich nicht funktionieren konnte. Dies wird immer wieder gesagt. Ich möchte ganz entschieden zurückweisen, daß Sie diesen Zusammenhang anders darstellen. Das Blutbad in Grosny ist vermieden worden. Sie reisten jetzt nicht mehr so sehr wegen Tschetschenien, allerdings auch deshalb. Aber es war auch kein Besuch am Krankenbett. Sie haben das vorhin erklärt: Sie haben dem Kranken den Terminkalender für eine NATO-Osterweiterung nahegebracht. Die Antwort Jelzins war versöhnlich. Die alten Konfrontationslinien blieben aber - anders als in Ihrer Schilderung - in der anschließenden Presseerklärung von russischer Seite doch noch deutlich sichtbar, sie wurden jetzt nur in Erwartungen gewendet. Jelzin setzt auf den OSZE-Gipfel im Dezember in Lissabon, Sie auf die NATO-Beratungen im Frühjahr. Damit ist der alte Konflikt angedeutet, und wenn wir einen Scherbenhaufen wie im Dezember 1994 vermeiden wollen, verfügt die strategische Phantasie deutscher und westlicher Außenpolitik jetzt über große Zielvorgaben: der Ausbau der OSZE, so wie von Rußland oft gewünscht, gleichzeitig der Eintritt in einen Transformationsprozeß der NATO selbst und aus beiden dann der Aufbau der oft beschworenen europäischen Sicherheitsarchitektur mit Einbindung Rußlands in einer Art und Weise, die es Rußland erlaubt, einer Osterweiterung der NATO zuzustimmen, die aber den Charakter der NATO in Richtung auf ein kollektives Sicherheitsbündnis ändern müßte. In Kiew wurde Ihnen darüber hinaus eine Richtung angedeutet, in die die Entwicklung gehen könnte, und ich möchte ganz ernsthaft versuchen, dies unseren Außen- und Sicherheitspolitikern deutlich zu machen. In der Ukraine sind Sie darauf hingewiesen warden, daß die Ukraine selbst auf ihre Position als drittstärkste Atommacht verzichtet hat. Von dort ist eine atomwaffenfreie Zone in Mittel- und Osteuropa angeregt worden. Sie haben - so etwas muß ich ja immer Kommuniqués und Pressemeldungen entnehmen - wohlwollend reagiert: So etwas lasse sich wohl machen. Hier möchte ich an Sie appellieren: Lassen Sie dies nicht im diplomatischen Small talk versanden! Der Vorschlag zielt natürlich in erster Linie auf die Ukraine und die Beitrittskandidaten. Aber wo endet Mitteleuropa im Westen? Gehört Deutschland nicht auch dazu? Sie werden sagen: Nein, die Teilnahme in der WEU erlaubt das nicht. - Wir sagen: Für eine gute Sicherheitsarchitektur ist es geradezu unerläßlich, daß wir an diesem Punkt unser Schicksal an der Seite Polens definieren und den Prozeß einer Denuklearisierung der NATO und damit langfristig der internationalen Beziehungen überhaupt einleiten. Wir kennen das Canberra-Gutachten, das die australische Regierung in Auftrag gegeben hat, wir kennen all die Argumente. Ich denke, jenes drohende Scheitern des Atomwaffensperrvertrages könnte genau an diesem Punkt mit einer neuen Dynamik überwunden werden. Das ist eine Frage, die uns hier auch im Zusammenhang mit der Position Deutschlands sehr direkt angeht. Etwas anderes wurde deutlich: Das wichtigste Problem, das Europa aus der Hinterlassenschaft der ehemaligen Sowjetunion geerbt hat, wurde in Ihren Gesprächen ausgeblendet. Nach Ihrer Abreise rief Ihnen der ukrainische Außenminister Udowenko nach, noch keinen Pfennig habe Kiew in diesem Jahr für die ihm für die Schließung von Tschernobyl versprochenen Gelder bekommen. Je länger das Geld ausbleibe, desto später könnten die AKWs stillgelegt werden. In Rußland sitzt seit fast einem Jahr der Umweltschützer Nikitin in Haft, der zusammen mit der Umweltorganisation Bellona auf die Gefahren der verrottenden nuklearen Hinterlassenschaft der russischen Eismeerflotte, also auf die Gefahren der atomaren Verseuchung der Weltmeere hinweist. In der Tat, die Fragen der ökologischen Sicherheit überschatten längst die Probleme der Bündnisdiplomatie. Ich wäre gern auf ein weiteres Handlungsfeld und auf andere Akteure in der Außenpolitik eingegangen. Die Zeit läuft mir aber weg. Ich denke, daß die Aussagen Bani-Sadrs im Mykonos-Prozeß einen ungeheuerlichen Verdacht verstärkt haben. Ich meine nicht, daß wir mit einer Abwertung seiner Glaubwürdigkeit darüber hinweggehen können. Die Frage, ob der sogenannte und ohnehin schon unglaubwürdige kritische Dialog nicht völlig zur Farce wird, ist zu stellen, und wir müssen sie diskutieren. Auffällig ist doch, daß der Verdacht, es könne beim Treffen des obersten Geheimdienstchefs der Bundesrepublik mit Herrn Fallahian im Mai eine Abrede zur Abschiebung der Angeklagten im Mykonos-Prozeß alsbald nach Urteilsspruch gegeben haben, vom Bundeskanzleramt fast schneller dementiert wurde, als er überhaupt ausgesprochen wurde. Beginnt man, darüber nachzudenken und sich daran zu erinnern, daß Fallahian schon einmal versucht hat, auf diesen Prozeß einzuwirken, dann kommen in der Tat erhebliche Fragen über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem „Rauchvorhang" des kritischen Dialogs und einer dahinter ablaufenden Zusammenarbeit von Geheimdiensten auf, was den amerikanischen Vorwürfen sehr viel Realität verleihen würde. Kommen wir nun zum nächsten Gestalter deutscher Außenpolitik: Herr Rühe hat es angekündigt und dem Haus ist es bewußt, daß wir in zwei Monaten vor einer schweren Entscheidung stehen, wenn wir über die Verlängerung des IFOR-Mandats abstimmen müssen. Der Verteidigungsminister hat angekündigt, daß er dann die volle Normalisierung forDr. Helmut Lippelt dem wird und daß deutsche Kampftruppen nach Bosnien gehen sollen. Ohne die Entscheidung meiner Fraktion im geringsten vorwegnehmen zu wollen, möchte ich doch auf ein Problem hinweisen. In der militärischen Implementierung von Dayton sind wir sehr gut und sehr effizient gewesen. Die zivile Implementierung ist, wie wir alle wissen, durch schwere Mängel gekennzeichnet. Der schwerste ist, daß am Tag der Übergabe der Vororte von Sarajevo keine europäische Polizei bereit stand, um die Serben, die zum Dableiben entschlossen waren, vor den Gangs aus Pale und später vor den Plünderern aus Sarajevo zu schützen. Die Berichte über die Brutalität, mit der Flüchtlinge, die in die inzwischen von der anderen Nationalität majorisierte Heimat zurück wollen, dort verfolgt werden, sind erschreckend. Die Frage drängt sich auf, warum wir einem Verteidigungsminister noch folgen sollen, dessen Phantasie immer nur darauf gerichtet ist, militärisch genauso tüchtig wie Franzosen und Engländer zu sein, während die Regierung offensichtlich nicht in der Lage ist, ein stärkeres und genauso effizientes polizeiliches Stand-by - über die Kompetenzstreitigkeiten mit den Landesinnenministern hinweg - zu schaffen. Noch eines: Gewiß ist ein militärischer Sicherheitsrahmen für den Friedensprozeß wichtig. Für die Förderung des Zusammenlebens der verfeindeten Parteien bedarf es aber ziviler Intervention. Es bedarf der Vermittlung, der Mediation, wie sie sich Gruppen zum Ziel gesetzt haben, die hinter dem inzwischen in den Fraktionen beratenen Antrag für einen zivilen Friedensdienst stehen. Die Art und Weise, wie dieser durch die Phantasielosigkeit des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit abgeblockt wird, muß den Eindruck vermitteln, daß in dieser Bundesregierung das Militär zwar einen starken Lobbyminister hat, Vorstellungen ziviler Konfliktschlichtung jedoch keinen Platz haben. Aber eines ist klar: Mit dem Hinweis auf ein besser organisiertes polizeiliches Stand-by in einem zivilen Friedensdienst habe ich wichtige Kriterien genannt, von denen wir uns bestimmen lassen werden, wenn Sie, Herr Rühe, auf dieses Parlament zukommen, um das IFOR-Mandat mit einem Kampfauftrag verlängern zu lassen. Denn wenn Dayton scheitert, dann wird es weniger an der militärischen, wohl aber an der zivilen Implementierung liegen. Ich schließe damit. Ich hätte gern noch ein abschließendes Wort über die überproportionalen Kürzungen des Haushalts für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gesagt. Ich hätte auch gern noch gesagt, daß dies vor dem Hintergrund der Groteske, Herr Bundeskanzler, wenn Sie dieses Wort erlauben, Ihrer Ablehnung des Entschuldungsprogramms für die armen Länder in der G-7Konferenz geschehen ist. Jetzt muß die IMF-Konferenz Deutschland überstimmen. Ich denke, das alles zusammen bietet nicht gerade ein erfreuliches Bild über den Stand deutscher Außenpolitik, aber wir werden jetzt ja Resümee und und Konzeptionen von Ihnen, Herr Außenminister, hören können. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt in der Tat der Herr Minister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure, daß der Herr Ministerpräsident Lafontaine weggegangen ist, denn ich habe mir zwei Antworten vorgenommen, die ich für nicht ganz unwichtig halte. Das eine war die Thematik der Globalisierung, weil ich glaube, Herr Kollege Schäuble, daß Herr Lafontaine gar nicht richtig verstanden hat, was Sie gemeint haben. Daher hätte ich das gerne ausgeführt, weil es ein wichtiges Thema ist. ({0}) Das zweite kann ich mir nicht verkneifen. Herr Lafontaine hat ausgerechnet über die Zeit der Wiedervereinigung seit dem Jahr 1989 gesprochen. Ich hatte das Glück, bei der inneren Wiedervereinigung ein klein wenig mitwirken zu dürfen. Ich will mich einmal zurückhaltend äußern: Auffassungen und Aussagen von Herrn Lafontaine in dieser Zeit waren so, daß er darüber besser nicht mehr spricht. Sie waren wenig hilfreich. ({1}) Herr Kollege Lippelt, die Themen, die Sie angeschnitten haben, haben wir im Auswärtigen Ausschuß in extenso besprochen. Ich will versuchen, darauf in meinen Ausführungen einzugehen. Ich will dazu zwei Bemerkungen machen. Darüber, daß wir nach schwierigsten Jahrzehnten zu Rußland, zur Ukraine und zu anderen mittel- und osteuropäischen Staaten ein so gutes partnerschaftliches und freundschaftliches Verhältnis bekommen haben, sollten wir alle glücklich sein. Auch darauf, daß dazu ebenso persönliche Beziehungen, auch die des Bundeskanzlers, ganz entscheidend beigetragen haben, sollten wir stolz sein. Darum werden wir von allen anderen beneidet. So etwas hilft ungeheuer. ({2}) Zur Außenpolitik. Ich will mit einer ganz erfreulichen Nachricht beginnen, die ein bißchen untergegangen ist. Heute nacht hat die UNO-Vollversammlung in New York die von uns mit eingebrachte Entschließung zum nuklearen Teststoppabkommen mit großer Mehrheit verabschiedet. Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen - ich sage dies mit einer gewissen Genugtuung -, dem Ziel des Endes aller Kernwaffenversuche näher gekommen. Der atomare Geist muß wieder zurück in die Flasche. Das war ein Beginn dafür. ({3}) Weniger erfreulich - das will ich gleich zu Beginn sagen - sind die Nachrichten, die uns aus dem Norden des Irak erreichen. Das Vordringen der irakischen Truppen in die kurdische Schutzzone - 1991 eingerichtet - in der vergangenen Woche erinnerte daran, wie gefährlich die Lage im Mittleren Osten nach wie vor ist. Die amerikanische Militäraktion war in dieser Lage ein notwendiges Stoppsignal. ({4}) - Es gibt wohl keine völkerrechtliche Grundlage in einer Sicherheitsratsresolution, insbesondere nicht in der Resolution 688, für diese Maßnahme, aber sie ist aus politischen und humanitären Gründen gerechtfertigt, weil dem Aggressor Saddam Hussein in solchen Situationen, wo er wieder Hunderte von Toten auf dem Gewissen hat, auf die Finger gehauen werden muß. ({5}) Die Meldungen, die uns heute aus dem Norden des Irak erreichen, geben zu großer Besorgnis Anlaß. Wieder, wie 1991, sind Hunderttausende auf der Flucht. Ich habe eben gehört, daß die Situation ein bißchen besser geworden ist, aber die schrecklichen Bilder des Flüchtlingselends sind noch in guter Erinnerung. Ich glaube, soweit wir es können - Sie, die Sie hier sitzen, wissen, daß es schwierig ist -, werden wir versuchen müssen zu helfen. Politisch ist es bei der gesamten Kurdenproblematik schwierig. Humanitär werden wir tun, was wir können. Im übrigen ist es um so wichtiger, daß wir den Draht zu einem der Hauptakteure in der Region, dem Iran, nicht einfach total abreißen lassen. Ja, die Beziehungen bleiben schwierig; keiner weiß das besser als ich. Aber dieses Land ist wie die Türkei ein strategisch wichtiger Akteur in einer strategisch hochwichtigen Region. Wenn man sich - Sie wissen es - ansieht, wie sich die Länder in Transkaukasien, die Länder in Zentralasien völlig neu auf den Iran und die Türkei hin ausrichten, und wenn man sieht, wie sich andere - vor allem auch Großmächte - in diese Richtung bewegen, dann erkennt man, daß wir gut daran tun, die Beziehungen nicht voll abzubrechen und nicht aus dem Bauch, sondern aus dem Kopf heraus zu reagieren. Ich glaube, daß wir diese Haltung zumindest später einmal richtig einschätzen werden. Deshalb werde ich mich bei der anstehenden UNO-Generalversammlung in New York sowohl mit Frau Ciller - die leider Gottes ihren Besuch hier wegen der Ereignisse im Nordirak abbrechen mußte - als auch mit dem iranischen Außenminister Welajati treffen, weil man nicht von einem Dialog sprechen kann, wenn man nicht miteinander redet. ({6}) Das will ich tun, und ich will es verbinden mit dem Versuch der aktiven Einwirkung dort - wie das hier im Deutschen Bundestag mitgetragen wurde -, wo wir Staatsterrorismus, Terrorismus, aggressiven Fundamentalismus und manches andere vorfinden, was wir ablehnen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brecht?

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Ich spreche gerne mit Ihnen, Herr Brecht, mit Ihnen besonders gern, aber lassen Sie mich zunächst mein Konzept entwickeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor wichtigen Weichenstellungen in der Außenpolitik. Bis zum Jahresende muß die neue europäische Sicherheitsarchitektur weiter vorangetrieben werden. Wir haben am 5. Oktober eine vorbereitende Ratssitzung, die in die Sitzung des Europäischen Rates in Dublin am 13. Dezember einmündet. Die Regierungskonferenz muß dafür einen ersten Text vorlegen. Wir haben am 10. Dezember das NATO-Außenministertreffen, das ja das weitere Prozedere für die geplante NATO-Gipfeltagung Anfang nächsten Jahres vorbereitet, auf der die Aufnahme der ersten mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer beschlossen werden soll. Dieses NATO-Außenministertreffen am 10. Dezember muß die neue Allianzstruktur in ihren wesentlichen Elementen festklopfen, und die sind: flexiblere Kommandostrukturen, größere europäische Verantwortung und Übernahme neuer Aufgaben in der Friedenssicherung. Dazu kommt - und das darf nicht vergessen werden, weil es auch zu diesem Bemühen gehört, eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen - das OSZE-Treffen am 2./3. Dezember, welches das Signal aussenden muß, daß die OSZE eine ganz wichtige additive und kumulative Aufgabe neben der NATO hat, um die Sicherheitsstrukturen in Europa neu zu prägen. Im übrigen kommen wir dabei auch Rußland in einem gewissen Sinne entgegen, das ja gern die OSZE als Zentrum dieser neuen Sicherheitsarchitektur haben will, wozu wir klar sagen müssen: Nein, das ist und bleibt für uns die NATO. Aber additiv in präventiven und in vielen anderen Bereichen brauchen wir diese OSZE. Dann kommt schließlich die UNO-Generalversammlung, die ja auch nicht ganz unwichtig ist. Am wichtigsten aber ist: Das europäische Bauwerk braucht eine moderne und bürgernahe Europäische Union, die den weiteren Ausbau in die Hand nimmt, und eine neue NATO mit flexiblerer Struktur, erweiterten Aufgaben, neuen Mitgliedern als Herz der europäischen Sicherheit. Und nochmals: Diese beiden Hauptpfeiler müssen mit der OSZE und der anvisierten strategischen Partnerschaft mit Rußland zu einer tragfähigen europäischen Gesamtsicherheitsarchitektur vernetzt werden. Das ist das Konzept. Was wollen wir bei der Regierungskonferenz? Erstens mehr Flexibilität, das heißt, Offenheit für die weitere Integration bei allen Mitgliedsstaaten, kein Kern, der sich abschließt; aber wer mit anderen zusammen schneller vorangehen will, muß dies können, abgestimmt mit den anderen und nicht gegen die anderen. Zweitens wollen wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen verdient, die Schaffung eines Generalsekretärs, der dem Rat zugeordnet sein sollte und die Schaffung einer Analyse- und Planungskapazität. Vor allem brauchen wir Mehrheitsentscheidungen; das wird immer deutlicher. Drittens wollen wir den militärischen Arm der EU durch phasenweise Eingliederung der WEU - nicht unumstritten, insbesondere bei unseren britischen Freunden. Viertens. Wir brauchen, was die Innen- und Justizpolitik anbelangt, eine Vergemeinschaftung der Visapolitik und des Asylrechts. Fünftens. Wir brauchen - und das ist ein besonderes deutsches Anliegen - im Zusammenhang mit den institutionellen Fragen zur Vorbereitung auf ein Europa, bei dem in Zukunft 20 oder sogar 25 Partner am europäischen Tisch sitzen, stärkere Kompetenzen des Europäischen Parlaments. Wir brauchen schließlich - das sollte nicht vergessen werden - mehr Bürgernähe durch Subsidiarität, Transparenz und schlanke Verwaltung. Deutschland und Frankreich werden mit gemeinsamen Positionen das Terrain ebnen. Das haben wir uns vorgenommen. Das war in der Vergangenheit so, und das wird auch so bleiben. Natürlich muß unsere Zusammenarbeit von anderer Qualität sein, wenn wir uns im 21. Jahrhundert neben Amerika und Asien und vor allem neben dem asiatisch-pazifischen Raum, wo zunehmend die Musik spielt, behaupten wollen. Das bedeutet natürlich auch eine gemeinsame europäische Währung und die vollständige Überwindung der noch bestehenden Trennlinien. Im Prinzip geht es darum, daß sich dieses Europa aufnahmefähig macht und daß sich die Länder, die in dieses Europa hineinwollen, auf ihre Art und Weise beitrittsfähig machen, indem sie versuchen, sich wirtschaftlich und in anderer Hinsicht so zu entwickeln, daß sie in die Gemeinschaft hineinpassen. Dabei stellt sich ein Problem, das für meine Begriffe etwas entschärft werden könnte; ich meine die Frage, ob wir es mit einem Massenstart oder mit einem Gruppenstart machen können, ({0}) wenn ein halbes Jahr nach Abschluß der Regierungskonferenz die Beitrittsverhandlungen sicher mit Malta und Zypern, aber eben auch mit einigen der mittel- und osteuropäischen Länder beginnen sollen. ({1}) - Wir sind dabei, uns eine Lösung zu überlegen, die beiden Seiten gerecht wird. Daß das nicht ganz unkompliziert ist und vielleicht gerade hier, bei dieser Gelegenheit, nicht angesprochen werden sollte, müßten Sie, Herr Verheugen, verstehen. Ein Wort zu unseren tschechischen Nachbarn. Deutsche und Tschechen haben eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte mit Höhepunkten, aber eben auch mit Schatten und Wunden, die immer noch schmerzen. Jetzt ist es an der Zeit - darin sind wir uns ja einig; das haben wir fest vor, und ich habe dazu auch alles getan, was ich tun konnte -, einen Schritt zu tun, der heilt und alte Vorbehalte endgültig überwindet. Aber dies muß eben auf beiden Seiten passieren; das ist das Entscheidende. Deutsche haben vielen Tschechen Schreckliches angetan, aber es ist auch den Sudetendeutschen schlimmes Unrecht geschehen. Wenn wir jetzt eine Lösung erreichen - deshalb bin ich so ruhig und zurückhaltend; ich führe dennoch die Verhandlungen so, daß ich glaube, daß wir in Kürze zu einem Abschluß gelangen werden -, muß es sich dabei um etwas handeln, was versöhnt und nicht nochmals weiter teilt. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, letzte Woche war Warren Christopher hier, auch der russische Außenminister. Ich habe in Stuttgart in einer Feierstunde zu Ehren von Byrnes gesagt: Für Deutschland ist und bleibt die transatlantische Freundschaft und Partnerschaft neben unserem Verhältnis zu unserem engsten Nachbarn Frankreich und neben unseren Beziehungen zu Israel eine Art ungeschriebener Verfassungsartikel. Christopher und ich waren uns einig: Wir müssen die transatlantische Erfolgsgeschichte auch im 21. Jahrhundert fortschreiben. Wir müssen klar erkennen, daß dies eben kein Selbstläufer mehr ist. ({3}) Es ist im transatlantischen Verhältnis, auch im deutsch-amerikanischen Verhältnis zuviel zu selbstverständlich geworden. Deshalb brauchen wir eine Revitalisierung. Ich sage auch deutlich: Daß das notwendig ist und daß es kein Selbstläufer mehr ist, sieht man an der US-Sanktionsgesetzgebung gegen Kuba, Iran und Libyen. Aber wir sollten das niedriger hängen. Unabhängig davon, daß wir davon in Deutschland kaum betroffen sein werden, müssen wir natürlich auf der einen Seite berücksichtigen, daß in Amerika Wahlkampf ist. Auf der anderen Seite müssen wir erkennen, daß es um prinzipielle Dinge geht. Die Bundesregierung hat aber deutlich und klar gesagt, wie wir das sehen und was mit uns nicht geht. Im übrigen ziehen wir, was die Terrorismusbekämpfung anlangt - ich sage das, weil immer wieder der Eindruck erweckt wird, das sei anders -, absolut am gleichen Strang. Wir waren beide auf der Tenorismuskonferenz in Paris. Unsere Auffassungen sind so nahe beieinander, daß kein Blatt dazwischenpaßt. Es muß aber unter Partnern und Freunden auch möglich sein, daß man über das Wie durchaus einmal unterschiedlicher Meinung ist. Einen Handelskrieg über den Atlantik hinweg jedenfalls darf es nicht geben; das wäre so ziemlich das Dümmste, was wir uns leisten könnten. ({4}) Meine Damen und Herren, Schwerpunkt meines siebenstündigen Gesprächs mit Außenminister Primakow war das Verhältnis NATO-Rußland. Moskau sieht aus seiner Sicht drei aufeinanderfolgende Schritte: NATO-Evolution, wie die Russen das nennen, oder NATO-Reform; Beziehungen zu Rußland, Neuordnung der Beziehungen der NATO zu Rußland; als dritten Schritt die NATO-Erweiterung, über die man dann nach Schritt eins und zwei vielleicht miteinander reden kann. So lautet die russische Haltung. Ich habe deutlich und klar gesagt, daß wir das anders sehen, nämlich daß dies für uns parallele, miteinander verbundene Prozesse sind. Die Öffnung von EU, WEU und NATO ist die logische Konsequenz der europäischen Einigung. Aber gerade deshalb darf sie nicht neue Gräben zu Rußland aufreißen, auch nicht zur Ukraine. Wie kann den russischen Sorgen begegnet werden? Erstens durch Einbettung in einen Gesamtprozeß, der Rußland voll in die Gestaltung des neuen Europa einbezieht. Die OSZE ist besonders gefordert. Das ist auch russische Auffassung. Zweitens durch eine strategische Partnerschaft mit Moskau, die über das „Sechzehn plus Eins" von Berlin hinausgeht - durch ein Gremium, das Rußland gleichberechtigt an den Tisch bringt. Die Zeit bis zu dem im ersten Halbjahr 1997 vorgesehenen NATO-Gipfel muß genutzt werden. Das haben wir besprochen. Wir sollten deshalb zwischen Rußland und NATO bis Ende des Jahres die Eckdaten einer Charta - mein Vorschlag von Carcassonne, von den Russen inzwischen angenommen - festschreiben, die ein Sonderverhältnis NATO/Rußland bedeuten und bringen könnten. Nach den Gesprächen mit Primakow bin ich zuversichtlich, daß uns das gelingen wird. Das Vertrauen wird wachsen. Dabei spielen die deutsch-russischen Beziehungen eine zentrale Rolle. Ich will etwas ganz Zentrales ansprechen, von dem ich glaube, daß es in den letzten Gesprächen ganz besonders deutlich wurde. Wir müssen unsere russischen Freunde dringend davon überzeugen, daß sie in puncto Sicherheit von einer gewissen Wagenburgmentalität, „Zugbrückenmentalität" wegkommen müssen, daß sie sich öffnen, daß sie Vertrauen haben müssen. Das Denken in Einflußzonen, in strategischen Vorfeldern ist ein Hindernis für die kooperative Sicherheit, die wir in Europa erreichen wollen. Heute heißt europäische Sicherheitsarchitektur, europäische Sicherheit, auch und gerade für Rußland Zusammenarbeit und Interessenverflechtung. Die Russen müssen ihre Sorge der Isolation, ihre Furcht ablegen, nicht mehr die Brücken hochziehen und Wagenburgmentalität einnehmen, sondern sich einem evolutionären Prozeß öffnen - das ist die zentrale Botschaft -, wobei sie nicht gedemütigt werden dürfen und sollen. Mir ist in diesen Gesprächen wieder deutlich geworden, was für eine absolut zentrale Rolle das spielt, auf die wir in besonderer Weise achten sollten. Wo Staaten nicht mit dem ersten Schub in die NATO kommen werden - die wird es natürlich geben -, müssen wir nach Abfederungen suchen. Was ich gesagt habe, gilt auch und insbesondere für die baltischen Staaten, die subjektiv ein erhöhtes Sicherheitsrisiko spüren ({5}) und wohl auch objektiv haben. Ich komme zu Bosnien. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die militärische Implementierung von Dayton hat geklappt, die zivile ist schwierig, Wir haben dort noch immer keine selbsttragende Stabilität. Deshalb sind ein paar Prozesse ganz wichtig. Erstens die Wahlen. Sie werden nach demokratischen Vorstellungen nicht so ablaufen, wie wir uns das wünschen. Aber wenn man nach Lateinamerika, nach Afrika und auch in die mittel- und osteuropäischen Staaten nach den Umbruchprozessen blickt, stellt man fest, daß sie auch dort nicht in einem urdemokratischen ersten Wahlgang geklappt haben, sondern sich erst entwickeln mußten. Zweitens. Die absolut zentrale Frage ist aber die Zeit nach den Wahlen, in der die Institutionen aufgebaut werden. Da müssen wir als Europäer - das haben wir am Wochenende in Tralee in Irland besprochen - uns besonders reinhängen - das wollen wir auch tun -, und zwar um nicht nur rund 50 Prozent dessen, was dort finanziell aufgewendet wird, zu bezahlen, sondern auch dabeizusein, wenn es darum geht, die für uns wichtigen Fragen aufzugreifen, zum Beispiel die Flüchtlingsfrage. Nach wie vor haben wir 320 000 Flüchtlinge aus Bosnien und rund 120 000 Kosovo-Asylbewerber in Deutschland - mit einer nicht unerheblichen Dunkelziffer. Gott sei Dank wird morgen das Abkommen, das ich mit Milošević erreichen konnte, unterzeichnet. Aber, Sie müssen wissen - ich habe es im Ausschuß immer wieder vorgetragen -: Wir hatten im letzten Monat einen Zulauf von 2 900 Asylbewerbern allein aus dem Kosovo. Deshalb ist es eine ganz zentrale Frage, wie es im Kosovo weitergeht. Deswegen dürfen wir es nicht allein den Amerikanern überlassen; denn auch wir Europäer haben ein Rieseninteresse daran, daß eine 10prozentige Minderheit von den Serben nicht quasi kujoniert wird; das ist der richtige Ausdruck. Das muß man Milošević sagen. Darüber muß man mit ihm offen sprechen. Der dritte wesentliche Punkt - auch für uns - ist die Frage des Wiederaufbaus, die Wiederaufbauhilfe, gekoppelt mit der Flüchtlingsrückführung. Ich habe dafür in Europa Gelder locker gemacht. Es fehlt uns die Zuordnung der einzelnen Gruppen zu ganz bestimmten Gebieten. Der UNHCR hat 19 Gebiete für im Grunde rückkehrfähig erklärt. Wir müssen Schablonen von bei uns ermittelten Gruppen darauflegen, wie wir es bereits mit 40 000 Menschen in der Bihač-Tasche gemacht haben. Sonst wird das mit der Rückführung nicht klappen, weil im Augenblick Flüchtlinge in die „republika srbska" nur schwer zurückzubringen sind. Ich sprach davon, daß wir keine selbsttragende Stabilität haben. Das bedeutet, daß sie von außen weiter abgesichert werden muß und daß wir uns im Parlament und in der Regierung darüber unterhalten müssen, wie es mit der Beteiligung deutscher Soldaten steht. Den deutschen Soldaten möchte ich an dieser Stelle für ihren bisherigen Einsatz und Beitrag sehr, sehr herzlich danken. ({6}) Sie sind wegen ihres Beitrags in der Zwischenzeit von allen Volksgruppen unbestritten hoch angesehen. Dies alles wird bei der Entscheidung, die wir zu treffen haben, eine Rolle spielen. Ich bin zuversichtlich, daß wir eine gute Entscheidung treffen werden. Unser humanitäres Engagement wird international gewürdigt und hat sehr zu unserem Ansehen in den Vereinten Nationen beigetragen. Der weltweite Schutz der Menschenrechte ist für die Bundesregierung nicht einfach eine Aufgabe unter vielen. Ich bekräftige das, obwohl ich weiß, wie schwierig das im Einzelfall ist. Ich finde bemerkenswert, was Bundespräsident Herzog in der letzten Woche in der „Zeit" gesagt hat: Es gibt beim Schutz der Menschenrechte keine Patentrezepte. Auch mit Prinzipien allein ist es nicht getan, auch wenn sie noch so ethisch hochstehend sind. Man muß immer wieder von Fall zu Fall abwägen und nach dem richtigen Mittel suchen, aber man darf nicht aufgeben. Das ist das Entscheidende. Ich möchte etwas ansprechen, was mich persönlich schon in meiner Zeit als Justizminister sehr beschäftigt hat und bei dem ich Sie herzlich bitten möchte, die Bundesregierung in ihren Bestrebungen zu unterstützen. Es waren Gott sei Dank sehr viele Abgeordnete des Deutschen Bundestages bei der Konferenz in Stockholm, bei der es um den sexuellen Mißbrauch von Kindern ging, zugegen. Ich werde nie vergessen, daß ich als Justizminister eine Pressekonferenz mit über 100 eingeladenen Journalisten hatte, bei der ich Filme und Bilder vorgeführt habe. Als mehrfacher Vater - inzwischen auch Großvater - habe ich es nicht für möglich gehalten, daß es so etwas, wie es in diesen Filmen und Bildern zu sehen war, in Deutschland und in dieser Welt gibt. Ich möchte Sie aufrufen, mitzuhelfen, daß wir den schwächsten Gliedern der Gesellschaft - den Kindern, unseren Kindern, Kleinkindern und Babys - die Schweinereien ersparen, die da geschehen. ({7}) Kinderpornographie und Kinderprostitution sind ein Schandfleck auf dem Gewissen unserer Gesellschaft. Ein weiterer Punkt, der uns in der Außenpolitik sehr beschäftigt, sind die Antipersonenminen. Ich war gerade in Mosambik. Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag waren dabei. Wir müssen ein einziges Ziel haben: Wir müssen eine Maschine - und wenn es die Krohnsche Fräse ist, die wir uns in Mosambik angesehen haben - serienmäßig herstellen, damit wir die 100 Millionen Minen beseitigen können. Es kann doch nicht richtig sein, daß die Minenräumung von Menschen durchgeführt wird. Das ist so, als wenn man eine Sanddüne mit dem Fingerhut abträgt. Das ist absolut unmöglich. Man muß sich einmal vorstellen: Eine solche Maschine kostet 1 Million DM. Ich mache mich anheischig, von der Europäischen Union und den Vereinten Nationen 50 oder 100 solcher Maschinen bezahlt zu bekommen, wenn es sie nur gäbe. Es muß doch der Technik möglich sein, eine solche Maschine zu entwickeln. Ich möchte schließen, indem ich den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, insbesondere den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, vor allem den Berichterstattern, herzlich für ihr Engagement danke. Auch wir müssen sparen. Wir werden das tun, aber unsere 9 000 Mitarbeiter werden in ihrem Einsatz nicht nachlassen. Sie werden weiter an dem mitwirken, was uns in der Nachkriegszeit so wahnsinnig viel Vertrauen eingebracht hat: Verläßlichkeit, Stetigkeit und Zuverlässigkeit in unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir würden nicht so dastehen wie wir es tun, wenn nicht Sie alle, wenn nicht alle in der Nachkriegszeit nach schwierigsten Jahren geholfen hätten, dieses Land nach draußen so zu vertreten und so viel Goodwill zu erreichen, wie uns das Gott sei Dank gelungen ist. Es war uns nicht vorhergesagt, daß wir nach all dem Schrecklichen, was geschehen ist, 50 Jahre nach einer schwierigen Aufnahme in die Völkergemeinschaft dieses hohe Ansehen haben. Das zu bewahren, sollten wir uns alle angelegen sein lassen. Vielen Dank. ({8})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Außenminister, Sie haben die in der Tat katastrophale Situation der ehemaligen Schutzzone im Norden Iraks angesprochen. Hunderttausende von Menschen befinden sich in Penjwen an der Grenze zum Iran auf der Flucht. Es ist ein vermintes Gebiet. Ich erlaube mir nur, am Rande zu bemerken, daß es, wenn Sie sich schon für die Krohnsche Fräse und andere Minenräumgeräte einsetzen, endlich an der Zeit wäre, sich vor allen Dingen dafür einzusetzen, daß die weitere Entwicklung von High-Tech-Minen endlich beendet wird und nicht auch in diesem Haushalt wieder finanziert wird. ({0}) An der Haltung der Bundesregierung entsetzt mich - Sie haben sich noch einmal positiv darauf bezogen -, den Schulterschluß mit Amerika durch die Begrüßung des sogenannten Desert Strike zu suchen, das heißt des Abwurfs von 44 Cruise Missiles auf irakische Stützpunkte, die nicht nur nach unserer Einschätzung, sondern auch nach der von Organisationen wie IALANA keinerlei rechtliche Grundlage haben und gegen das Völkerrecht verstoßen. Wenn Sie eine präventive Außenpolitik betreiben wollen, so hätten Sie fünf Jahre vorher Zeit gehabt, die Menschen dort aktiv zu unterstützen. Vor allen Dingen hätten Sie die Amerikaner, statt sie dafür zu loben, daß sie völkerrechtswidrig Luftangriffe fliegen, lieber fragen sollen, warum sie nicht diplomatisch eingegriffen haben, als noch Zeit war, nämlich zehn Tage vor dem bevorstehenden Angriff der irakischen und kurdischen Truppen der DPK auf kurdisches Gebiet, und z. B. die Verlängerung der Wirtschaftssanktionen gegen den Irak gefordert haben. Das wäre Außenpolitik gewesen, die möglicherweise die Flucht von Hunderttausenden verhindert hätte. Herr Außenminister, Sie haben sich auf Frau Ciller, die Außenministerin, bezogen. Ich glaube, es ist an der Zeit, nicht immer Krokodilstränen zu weinen, wenn es wieder zu Massenflucht und Mord kommt. Nutzen Sie die gute Beziehung zur Türkei, nicht nur zu Frau Ciller, sondern auch zu dem neuen Ministerpräsidenten Erbakan! Sorgen Sie dafür, daß die sogenannte Schutzzone nicht eingerichtet wird! Ich sage Ihnen schon heute: Wenn diese Pufferzone dort besteht, gibt es wieder Säuberung und Räumung von kurdischen Dörfern, und dann gibt es die nächste humanitäre Katastrophe nicht nur für das Volk im Norden Iraks, sondern auch für die restlichen noch lebenden Kurden im Südosten der Türkei. Fangen Sie endlich an zu handeln, und betreiben Sie eine Politik im Sinne der Menschen und nicht eine Scheindiplomatie, die nur noch Kräftemessen und undemokratisches Verhalten versteht! ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Außenminister, bitte.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Frau Kollegin Beer, zunächst will ich sagen, daß gerade Nachrichten laufen, die mir auch bestätigt worden sind, daß der Irak im Nordirak Flugabwehrraketen auf amerikanische Flugzeuge abgeschossen hat, die in dieser Schutzzone flogen. Ich will auf die von Ihnen angesprochene Thematik eingehen. 1991 ist die Schutzzone eingerichtet worden. Sie hat sich seitens der Amerikaner, der Franzosen und Briten, die diese Zone eingerichtet haben, nie auf eine Sicherheitsratsresolution bezogen - und konnte es nicht -, insbesondere nicht auf die Resolution 688, sondern war damals bereits wegen drohender Aggression als Verteidigungsmaßnahme aus humanitären Zwecken gerechtfertigt. Es ist ganz wichtig, zu betonen, daß die Vereinten Nationen dies nicht gerügt haben. Es hat seit 1991 bis heute nicht eine Reklamation in diese Richtung gegeben. Die Vereinten Nationen haben das jedenfalls stillschweigend hingenommen. Die Flüge haben stattgefunden. Unter der Flugzone hat sich vieles entwickelt; Sie sind in der Materie sehr drin, wie ich weiß. Deshalb ist die Geschichte so schwierig geworden. Sie ist von außen praktisch nicht in den Griff zu bekommen. Sie sagen, wir sollten handeln. Wir haben am gesamten Wochenende in Irland nur diese Thematik behandelt. Ich war mit Primakow sieben Stunden zusammen; ich habe mit Warren Christopher vier Stunden darüber gesprochen. Ich habe mit dem französischen und dem britischen Außenminister darüber gesprochen. Ich bin allein nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen. Aber den Vorwurf zu machen, wir bemühten uns nicht, ist falsch. ({0}) Ich wollte mich hier mit Frau Ciller treffen. Der Besuch war vereinbart. Sie hat ihn abgesagt, hat von sich aus absagen müssen, muß ich sagen, wegen der Nordirak-Situation. Ich habe ein Treffen mit ihr am 24. September in New York vereinbart. Ich sehe die Problematik; aber es wäre falsch, zu sagen, daß jemand den Zauberstab in der Hand hat, weder die Vereinten Nationen noch die Amerikaner, noch die Europäer. Deshalb müssen wir uns gemeinsam bemühen. Das sage ich Ihnen zu. Ich werde das so weiter tun, wie ich das bisher getan habe. ({1})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Kollege Günter Verheugen, SPD-Fraktion.

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bemühe mich, nach der Rede des Herrn Außenministers zu erkennen, was Inhalt, Ziel, Konzeption und Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik ist. Wenn Ihre Außenpolitik so ist wie Ihre Rede, dann kann ich die Frage beantworten: ohne roten Faden, ({0}) ohne erkennbaren Schwerpunkt, ohne einen zusammenfassenden Gedanken und vor allen Dingen ohne einen Hinweis darauf, wie eigentlich der deutsche Beitrag zur Lösung der verschiedenen Probleme, ({1}) die Sie angesprochen haben - manche nur ein bißchen angetippt, manche nur angedeutet, manche ein bißchen ausgeführt - aussieht. Ein gemeinsamer Freund von uns, einer der erf ah-rensten Beobachter der deutschen Außenpolitik, der Chefredakteur der „Neuen Ruhr-Zeitung", Richard Kiessler, hat vor ein paar Tagen im Deutschlandfunk einen Kommentar zum Zustand der deutschen Außenpolitik unter der Überschrift „Unbesonnen, sprunghaft und verkrampft - die Desorientierung der deutschen Außenpolitik" gesprochen. Es lohnt sich, diesen Kommentar zu lesen. Ich frage mich: Wie kann ein solch erstaunlicher Unterschied in der Wahrnehmung zwischen dem, was Sie und der Bundeskanzler hier vorgetragen haben, und dem, was objektive Beobachter von außen sehen, zustande kommen? Die deutsche Außenpolitik ist nicht in einem so schönen Zustand, wie Sie es hier dargestellt haben. Die Wirklichkeit ist, daß Sie gegenüber großen und schwierigen Problemen, mit denen unsere Außenpolitik konfrontiert ist, schlicht und einfach versagen, weil Sie keine Antwort kennen. ({2}) Der Prozeß der Rollenfindung der deutschen Außenpolitik seit 1990 - das muß man heute feststellen - ist keineswegs abgeschlossen. Ich will gerne einräumen, daß wir alle zusammen dazu beigetragen haben, daß das so ist, weil wir Jahre mit einer Debatte über einen einzigen Teilaspekt verbraucht haben, weil wir uns immer wieder in einer einzigen Frage verhakt haben, nämlich der, inwieweit ein Streitkräfteeinsatz als ein Mittel der Außenpolitik legitim und manchmal sogar richtig sein kann. ({3}) - Ach, lieber Herr Irmer, ich will das alles nicht noch einmal aufgreifen. Die Chancen, die es gegeben hätte, sich zu einigen - ich erinnere Sie an die Verfassungskommission und an wem und woran es gescheitert ist -, haben wir nicht genutzt. Es hilft nichts mehr. Wir haben Jahre versäumt. Das Ergebnis ist, daß wir heute in wichtigsten Fragen Handlungs- und Klärungsbedarf haben. Ich will ein paar nennen. Der Bundeskanzler und der Außenminister haben die NATO-Osterweiterung angesprochen. Der Bundeskanzler hat zwei Prinzipien genannt: kein Veto von irgendwem, aber auch keine neuen Gräben in Europa. Man würde aber gerne wissen, wie das geschehen soll. Lassen Sie mich zunächst einmal sagen: Aus deutscher Sicht ist die NATO-Osterweiterung natürlich eine historische Entwicklung, die man sich einmal bewußt machen muß, wenn man sich überlegt, ein wie kunstvolles Gebäude von Verträgen, Rückversicherungsverträgen, Bismarck aufbauen mußte, um einen Zustand zu erreichen, in dem Deutschland rundum sicher war oder, wie wir heute wissen, sicher schien. ({4}) Wir werden jetzt einen Zustand erreichen, in dem Deutschland rundherum von Bündnispartnern und Freunden umgeben ist. Aus der deutschen Sicht kann das nur als ein großer politischer Gewinn betrachtet werden. ({5}) Es geht aber nicht nur um die deutsche Sicht. Was für mich und meine Fraktion in dieser Frage vor allen Dingen maßgeblich ist, ist die Beurteilung der Situation Polens. Wenn Polen seine Sicherheit - sagen wir es doch offen, vor wem: vor Rußland, aber auch vor Deutschland - in einem Bündnis mit Deutschland sucht, in einem Bündnis, dem Deutschland und Polen gemeinsam angehören werden, dann ist es für die deutsche Politik nicht möglich, dem zu widersprechen. ({6}) Vor allen Dingen ist es nicht möglich, mit Rußland - etwa über Polen hinweg - Vereinbarungen zu treffen, die die polnische Sicherheit berühren würden. Ich denke, darin stimmen wir überein. ({7}) - Ich sage ja, darin stimmen wir überein. Aber es bleiben ein paar Fragen offen. Wenn wir darin übereinstimmen, daß die NATO Osterweiterung ({8}) in bezug auf Polen für uns aus historischen Gründen überhaupt nicht bestreitbar ist, dann stellt sich die Frage nach den anderen osteuropäischen Ländern. Ich hätte von Ihnen darüber gerne etwas mehr gehört. Ich komme gerade von einer internationalen Konferenz in New York zurück, auf der ich mit Vertretern aller osteuropäischen Staaten und Mitgliedern von Regierungen - auch Regierungschefs waren darunter - und Oppositionsparteien sprechen konnte. Es ist eine große Unsicherheit durch diese Rederei, die wir auch heute wieder gehört haben, entstanden: Wir wissen nicht, ob wir mit einer Gruppe anfangen werden, wie groß diese Gruppe sein wird. Wir wissen nicht, wann noch eine andere Gruppe dazukommen wird. Die osteuropäischen Staaten wollen aber wissen, welcher Maßstab für den Beitritt gilt. Gilt der Maßstab, daß ein souveränes Land in Europa das Recht hat, seine Mitgliedschaft in einem Bündnis frei zu wählen? Dann müssen Sie jedes Land aufnehmen, das unseren demokratischen und rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht und beitreten will. Oder gilt der Maßstab, daß der Beitritt zu unserem Bündnis in erster Linie unseren Sicherheitsinteressen zu dienen hat? Diese Fragen sind nie beantwortet worden. Ich möchte endlich einmal von Ihnen hören, was für die Bundesregierung der Maßstab bei der Erweiterung der NATO ist. Das ist nun wahrlich eine Frage von historischer Bedeutung, die man nicht nebenbei behandeln kann. ({9}) - Keine Zwischenfragen, Herr Irmer, gerade von Ihnen zu diesem Thema nicht! ({10}) - Herr Irmer, ich spreche Ihnen die Ernsthaftigkeit aus vielerlei Erfahrungen in vielen Debatten der letzten Jahre ab. ({11}) - Ja, das ist so. ({12}) Die Kriterien, wer beitreten kann und wann, sind nicht bestimmt. Vor allen Dingen ist die Frage völlig unbeantwortet, was aus denjenigen werden soll, die beim erstenmal nicht dabei sind und denen man ja nicht sagen kann: Ihr seid beim zweiten- oder drittenmal dabei. Der Bundeskanzler sagt in Kiew: Wir werden nicht zulassen, daß die Ukraine in einer sicherheitspolitischen Grauzone verschwindet. Wunderbar! Aber was heißt das? Heißt das, daß die Ukraine jetzt auch ein Beitrittskandidat für die NATO ist? Oder heißt das, daß auch mit der Ukraine ein besonderes sicherheitspolitisches Arrangement getroffen werden muß? Das sind berechtigte Fragen, die dem Parlament, das die Verträge schließlich ratifizieren soll, beantwortet werden müssen. Ich rate sehr dazu, diesen Prozeß - auch durch regionale Kooperationen in Osteuropa zwischen den Partnern, die beitreten wollen, und zwischen diesen Partnern und Rußland - voranzutreiben. Auch hier weise ich wieder auf Polen hin. Die jetzige polnische Regierung unter Präsident Kwasniewski entwickelt eine bemerkenswerte Ostpolitik, die, wie ich glaube, unsere Unterstützung verdient. Lieber Herr Kinkel, wie steht es um die strategische Partnerschaft mit Moskau, die besonderen Beziehungen und die Erfüllung der russischen Sicherheitsbedürfnisse? Sie haben lange mit Herrn Primakow gesprochen; das haben Sie mehrfach erwähnt. Können Sie uns nicht ein wenig sagen, was dabei herausgekommen ist? Werden wir am Anfang des nächsten Jahres in einer Situation stehen, in der die ersten konkreten Entscheidungen über die NATO-Osterweiterung fallen? Die Frage, wie die strategische Partnerschaft zwischen NATO und Rußland organisiert wird, ist immer noch nicht beantwortet. Das Parlament hat ein Recht darauf, das zu erfahren. Das Parlament hat in diesem Zusammenhang übrigens auch ein Recht darauf, zu hören, wie Sie sich die Weiterentwicklung des gesamteuropäischen Sicherheitsansatzes vorstellen. Sie haben über die Weiterentwicklung der OSZE hier leider nicht gesprochen, was für mich wiederum nur ein Beweis dafür ist, welch niedrigen Stellenwert die OSZE in Ihren außenpolitischen Bemühungen inzwischen einnimmt. Das ist aber ganz falsch. Die OSZE ist eine unterschätzte Institution. ({13}) Die OSZE leistet hervorragende Arbeit in den baltischen Staaten, im Kaukasus und in Makedonien. Der Ausbau ihrer institutionellen und materiellen Möglichkeiten müßte ein Hauptziel unserer Außenpolitik sein, wenn wir verhindern wollen, daß Europa sicherheitspolitisch auseinanderfällt. ({14}) - Das hat er leider nicht getan. Ich sage Ihnen noch einmal: Bei den Reformstaaten in Ost- und Mitteleuropa herrscht inzwischen große Unruhe. Sie alle können sich darauf berufen, daß irgendwann einmal ein deutsches Regierungsmitglied durch ihr Land gereist ist und Zusagen gemacht hat, Zusagen sogar hinsichtlich von Zeitpunkten, von denen jetzt plötzlich aber nicht mehr die Rede ist. Sie haben zum Beispiel im Baltikum große Erwartungen geweckt. Inzwischen haben die baltischen Staaten lernen müssen, daß von den Zusagen, die Sie ihnen gemacht haben, in der Realität nicht sehr viel zu halten ist. Bis heute haben Sie nichts gesagt, was die baltischen Staaten in den - von Ihnen akzeptierten - subjektiven und objektiven Sicherheitsbedürfnissen befriedigen könnte. ({15}) Ich finde auch, daß das, was Sie, Herr Kinkel, zum Thema Europäische Union gesagt haben, nicht ausreicht. Sie sind sehr im Technischen steckengeblieben. Ich stimme Ihnen zu: Wir müssen akzeptieren, daß wir in Europa einen Zustand haben werden, bei dem nicht alle gleichzeitig in gleichen Schritten vorangehen können. Soweit sind wir einig. Wir sind aber gar nicht einig in dem Punkt, ob es nicht heute schon möglich ist, klipp und klar zu sagen, was wir wirklich wollen. Ich sage Ihnen, was wir wollen: Wir wollen, daß die Perspektive der gesamteuropäischen Integration in unserer Außenpolitik praktisch jeden Tag sichtbar wird. Wenn es eine große strategische Aufgabe für unsere Zeit und für unseren Kontinent gibt, dann ist es die, jetzt die gesamteuropäische Integration voranzutreiben. ({16}) Das heißt, daß alle europäischen Staaten, die sich darum bemühen, zur Europäischen Union zu gehören, gleichzeitig die Chance bekommen müssen. Man kann auf diesem Wege nicht einfach welche zurücklassen. Vielleicht kann man das am besten mit einem Bild verdeutlichen: Die Züge werden nicht im gleichen Tempo fahren; aber sie müssen alle irgendwann am selben Bahnhof ankommen. Ich denke, wir können auch akzeptieren, daß in Europa ein Zustand herrschen wird, in dem wir Zonen unterschiedlicher Integrationsdichte haben, weil es Übergangsfristen geben wird, die von Fall zu Fall unterschiedlich sein werden, sowohl in der Substanz als auch was die Länge angeht. Wir haben doch mit der Süderweiterung entsprechende Erfahrungen gemacht. Jetzt kommt es darauf an, immer wieder deutlich zu machen, daß wir Deutsche den politischen Willen haben, das, was wir bereits während der großen Zeitenwende 1989/90, bei der deutschen Wiedervereinigung, begonnen haben, jetzt in ein großes Konzept von europäischer Einheit weiterzutragen. Was wir dazu hören, ist alles viel zu technisch. Ich kann nicht erkennen, daß die Europäische Union im Augenblick wirklich ernsthaft dabei ist, sich erweiterungsfähig zu machen. Wenn Sie die Länder anschauen, die Mitglied werden wollen, müssen Sie zugeben, daß diese sich große Mühe geben. Es gibt Unterschiede, aber sie geben sich große Mühe. Aber die großen Fragen, die die Europäische Union überhaupt erst erweiterungsfähig machen, nämlich die Reform ihrer Finanzierungssysteme, die Reform ihrer Fonds, insbesondere die Reform ihrer Agrarpolitik, stehen im Augenblick noch nicht einmal auf der Tagesordnung. Solange das nicht erledigt ist - das wissen Sie genausogut wie ich -, ist alles, was wir diesen Ländern über die Aufnahme in die Europäische Union sagen, ein leeres Versprechen. Herr Außenminister, die Unklarheiten setzen sich auf anderen Feldern fort. Sie haben zwar erwähnt, daß Sie sich mit dem amerikanischen Außenminister getroffen haben, aber Sie haben nicht erwähnt, daß die transatlantischen Beziehungen seit einer geraumen Zeit Anlaß zur Sorge geben. Reden von Ihnen, was alles sein müßte, haben wir gehört. Erkennbare Schritte oder Bemühungen, eine neue transatlantische Agenda zu schaffen, die Zusammenarbeit zwischen Europa und Nordamerika über die traditionellen Felder hinaus zu erweitern, kann ich aber nicht erkennen. Statt dessen haben wir eine Reihe von Konflikten mit den USA, wie es sie lange Zeit nicht gegeben hat. Sie sind zum Teil darauf eingegangen. Sie haben Kuba, Iran und Libyen erwähnt. Die Frage stellt sich: Mußten diese Konflikte sein? Ich will das einmal am Beispiel des Iran zu verdeutlichen versuchen. Sie haben sich heute, wenn auch mit sehr vorsichtigen Worten, erneut für die Fortsetzung des kritischen Dialogs mit dem Iran ausgesprochen. Ich muß Ihnen aber eine Frage stellen: Ist der Iran für die Bundesregierung ein Land, das für die Ausbildung, Ausrüstung und die Entsendung von Terrorkommandos verantwortlich ist, die auf fremdem Boden iranische und andere Staatsangehörige umbringen, oder nicht? Wenn der Iran das nicht ist, wenn das nicht die Meinung der Bundesregierung ist, dann muß das den Amerikanern gegenüber klar und deutlich gesagt werden. Wenn es aber Ihre Meinung ist, dann gibt es eine Grenze für die Dialogfähigkeit. Wir sind immer dafür, daß mit anderen Regierungen gesprochen wird. Mit wem soll man sonst reden als mit Regierungen, wenn man etwas will? Aber wenn eine Regierung tatsächlich dafür verantwortlich ist, daß Killerkommandos ausgeschickt werden, wenn die iranische Regierung vielleicht sogar dafür verantwortlich sein sollte, daß der Friedensprozeß im Nahen Osten in diesen gefährlichen und kritischen Zustand geraten ist, dann ist eine Grenze erreicht und Dialog nicht mehr möglich, sondern dann ist gemeinsames, internationales Vorgehen gefragt. ({17}) Im Zusammenhang mit Libyen, das Sie auch erwähnt haben, drängt sich eine andere Frage auf. Hier drängt sich die Frage nach der Proliferationsproblematik auf. Wir denken, daß die Frage der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und Technologien zu ihrer Herstellung und zur Herstellung von Trägersystemen heute das zentrale sicherheitspolitische Problem ist. Ich muß Ihnen leider sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Bekämpfung von Proliferation immer noch ein außerordentlich niedriges Niveau hat. ({18}) Unsere Gesetzgebung reicht immer noch nicht aus. Ich vermisse auch eine aktive Rolle der Bundesregierung bei dem Versuch, endlich ein weltweites System zu schaffen, das es uns erlaubt, Proliferationsvorgänge deutlich zu erfassen, und zwar alle Proliferationsvorgänge und nicht nur die, bei denen es darum geht, Bombenstoff irgendwohin zu bringen. Das Entscheidende ist ja, herauszukriegen, wo ein Land ist, das sich auf verschiedenen Kanälen und in verschiedenen Ländern bemüht, Technologien zusammenzukaufen. Das geht nur, wenn Sie in der Dual-use-Problematik den starren deutschen Standpunkt aufgeben, daß Dual-use-Güter in die Rüstungsexportkontrolle nicht aufzunehmen sind. In dem Zusammenhang sei nur in Klammern bemerkt: Die Dual-use-Problematik stellt sich im Augenblick auch gegenüber der Türkei. Wenn wir schon nicht verhindern können, daß ein deutsches Unternehmen der türkischen Armee Fahrzeuge wie den berühmten Unimog liefert, den wir ja noch gut bei seinen Einsätzen in den südafrikanischen Townships vor Augen haben, dann ist allerdings das wenigste, was wir von der Bundesregierung erwarten dürfen, daß sie nicht auch noch Hermes-Bürgschaften für dieses unmoralische Geschäft übernimmt. ({19}) Im Zusammenhang mit den genannten und anderen Ländern stellt sich die Frage nach dem Teststopp. Die UNO-Generalversammlung hat die entsprechenden Beschlüsse gefaßt, aber das bedeutet nicht, daß der Vertrag zustande kommt. Es muß hier festgehalten werden, daß ein wesentliches Element der internationalen Politik und damit auch ein wesentliches Element Ihrer Politik, Herr Kinkel, für das Sie seit Jahren sehr stark eintreten - ich war Ihnen immer dankbar dafür -, gescheitert ist. Der Atomteststoppvertrag kommt nicht zustande, jedenfalls im Augenblick nicht. Ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie etwas dazu gesagt hätten, welche Rolle Deutschland zum Beispiel gegenüber Indien spielen kann, um den Vertrag doch noch zustande zu bringen. Denn in dem Punkt, daß der Teststopp die entscheidende Voraussetzung dafür ist, daß wir auch mit der atomaren Abrüstung endlich weiterkommen, stimmen wir überein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Tschechien ist hier bereits mehrfach angesprochen worden; ich will es bei einer sehr kurzen Bemerkung bewenden lassen. Der Bundeskanzler hat sich heute dafür verbürgt, daß die gemeinsame Erklärung zustande kommt. Das nehme ich sehr ernst. Es fragt sich allerdings, warum das in den letzten Monaten so unelegant, so verletzend ablaufen mußte, warum es nötig war, gegenüber unseren tschechischen Nachbarn Forderungen zu erheben - vor allen Dingen in einem Ton, in dem man mit Nachbarn nicht umgehen sollte. Sie, Herr Kinkel, waren mit den Verhandlungen bereits vor einem Jahr praktisch fertig. Ich habe in der letzten Zeit sehr viele Briefe von Sudetendeutschen bekommen, zum Teil wirklich erschütternde Briefe. Es kann niemand bezweifeln: Das, was den Sudetendeutschen 1945 angetan worden ist, war schrecklich. Es war grauenhaftes Unrecht. Niemand aber kann dies heute aus der Welt schaffen. Wir können nicht nachträglich Gerechtigkeit wiederherstellen. Das einzige, was wir tun können, ist, eine gemeinsame Antwort auf die Frage zu finden: Wie beurteilen wir heute, was damals auf beiden Seiten geschehen ist? ({20}) Wie wollen wir damit umgehen? Welche Konsequenz wollen wir daraus für unsere gemeinsame Zukunft in Europa ziehen? Nur das können wir tun. Mehr soll diese Erklärung nicht leisten. ({21}) Da es selten gesagt worden ist, möchte ich hier darauf hinweisen: Unserem Verständnis nach soll es eine gemeinsame Erklärung beider Parlamente sein. Es reicht mir nicht aus, wenn wir hier, wie es der Bundeskanzler vorgeschlagen hat, was ich sehr begrüße, eine Rede - wünschenswerterweise von Präsident Havel - vielleicht wird auch der Bundespräsident noch im Parlament in Prag sprechen - hören werden. Das müßte schon mit einer feierlichen Annahme dieser Erklärung durch die beiden Parlamente verbunden sein. Dazu müssen wir uns als Vertreter der beiden Völker bekennen, ({22}) genauso wie wir uns zu dem bekannt haben, was heute ebenfalls schon eine Rolle gespielt hat, nämlich zur Unabänderlichkeit der polnischen Westgrenze. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, daß die Friedenspolitik, die unser gemeinsames Ziel und Anliegen ist, noch eine ganze Reihe von Herausforderungen zu bestehen hat. Ich will nur eine einzige nennen, von der ich glaube, daß jetzt eine Konfliktprävention notwendig ist und Deutschland dabei eine Rolle spielen könnte. Mit großer Besorgnis sehen wir die Entwicklung auf Zypern. Daß sich dort türkische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber griechischen Zyprioten zuschulden kommen lassen und die türkische Armee dabei zuschaut, kann nicht hingenommen werden. Wir müssen unseren türkischen Freunden sagen, daß denjenigen von uns, die eine enge Anbindung der Türkei an die Europäische Union erreichen wollen - und das wollen wir dieses Vorhaben durch die Erhöhung der Spannungen auf Zypern erschwert wird. ({23}) Eine Initiative, ein Versuch, Spannungen abzubauen, wäre sicherlich sinnvoll. Ich glaube, daß die Bundesregierung hier etwas tun könnte. Lassen Sie mich damit zu einem noch wichtigeren Problem kommen, das uns beschäftigt, nämlich zu der Situation in Bosnien und den Entscheidungen, die bald zu treffen sein werden. Ich stimme der Analyse, die Sie vorgenommen haben, Herr Kinkel, zu: Der militärische Prozeß ist gut verlaufen und verläuft auch weiterhin gut. Der politische Prozeß ist demgegenüber weit zurückgeblieben. Das aber liegt nicht nur an den Konfliktparteien, es liegt auch an einigen Schwachstellen - das dürfen wir ruhig zugeben - im Vertrag von Dayton selbst. Daß die Wahl Sonntag stattfinden muß, ist in Wahrheit ein Problem. Wir sind mit der Gefahr konfrontiert, daß das Ergebnis dieser Wahl eine scheindemokratische Legitimierung für die stattgefundenen ethnischen Säuberungen sein wird. Wir werden große Mühe haben, damit umzugehen. Ich halte es für sehr bedauerlich, daß es nicht gelungen ist, die Mindestvoraussetzungen für freie und faire Wahlen zu schaffen. Die OSZE spricht nicht einmal mehr von demokratischen Wahlen; „a kind of democratic elections", eine Art demokratischer Wahlen, nennt sie der OSZE-Botschafter in Sarajevo. Warum zum Beispiel ist entgegen dem mehrfach einstimmig geäußerten Wunsch des Deutschen Bundestages, des Europäischen Parlamentes und anderer europäischer Parlamente nicht entschieden etwas dafür unternommen worden, in Bosnien-Herzegowina eine Mediensituation zu schaffen, die es den Menschen überhaupt erst ermöglichen würde, sich auf der Grundlage objektiver und freier Informationen ein Urteil zu bilden und zu wählen? ({24}) Monatelang ist nichts geschehen. Dann gab es Kompetenzgerangel zwischen dem Hohen Repräsentanten und der OSZE. Das Ergebnis ist: Wir haben nichts. Ich hätte mir gewünscht, daß sich die Bundesregierung in dieser Situation einmal überlegt, ob nicht ein großes Mißverhältnis zwischen dem besteht, was wir für die militärische Sicherung des Friedensprozesses aufwenden, und dem, was wir für den politischen Friedensprozeß aufwenden, und ob die wenigen Millionen, die dafür notwendig wären, nicht vielleicht von uns hätten aufgebracht werden können. Instrumente dazu haben wir ja. ({25}) Was wir überhaupt nicht verstehen können - Herr Kinkel, das ist kein Vorwurf an Sie oder an die deutsche Außenpolitik, sondern eine Frage an die internationale Gemeinschaft -: Wie ist es möglich, daß in einem Land, in dem 56 000 Soldaten der internationalen Gemeinschaft stehen, die Kriegsverbrecher Karadžić und Mladić immer noch frei herumlaufen und noch nicht einmal in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, ({26}) obwohl überall Plakate von Herrn Karadžić zu sehen sind? Übrigens, auch in anderen Teilen des Landes sind Plakate zu sehen, auf denen in Deutschland gesuchte Schwerverbrecher abgebildet sind. Ich frage mich, wie das möglich ist. Die Menschen können ja gar nicht das Vertrauen entwickeln, daß stabile demokratische Verhältnisse eintreten werden, wenn diejenigen, denen Blut an den Händen klebt, ihr Werk fortsetzen können. Wir haben keine andere Wahl. Ich beobachte allerdings mit Besorgnis, wie sich die internationale öffentliche Meinung zu wandeln beginnt. Ihnen wird der Artikel von Henry Kissinger Anfang dieser Woche nicht entgangen sein, in dem er für die Akzeptierung der entstandenen Tatsachen plädiert, nämlich für die Akzeptierung der ethnischen Trennung und die Schaffung eines muslimischen Staates. Wir können schon jetzt erkennen, wohin die Diskussion nach der Wahl gehen wird. Das bedeutet für die militärische Seite, daß der militärische Auftrag eher noch wichtiger werden wird. Denn die Lage ist keineswegs so, daß wir sagen könnten: Die Kriegsgefahr ist vorbei. Das ist ausgeschlossen. Ich möchte darauf hinweisen, daß ich bei mehreren Gelegenheiten tief beeindruckt war von der Ernsthaftigkeit, der Sensibilität und der Einsatzbereitschaft, mit der unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag, den der Deutsche Bundestag ihnen erteilt hat, dort erfüllen. - Der Verteidigungsminister kann das gerne als ein Kompliment entgegennehmen. - Das spricht dafür, daß in dieser Bundeswehr ein guter Geist herrscht. Dafür sind wir sehr dankbar. Das ist gut so. ({27}) Die Frage, wie es jetzt weitergehen soll, sollten wir behutsam behandeln und mit dem Ziel, auch jetzt wieder - wie beim letztenmal - einen möglichst breiten Konsens zu erzielen. Viele Soldaten, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, daß es wichtig für sie ist, zu wissen, daß nicht nur die politische Mehrheit, sondern die überwiegende Mehrheit des Parlamentes hinter ihnen steht. Ich sehe das auch so. Ich will gerne dazu beitragen, daß das möglich wird. Deshalb bitte ich darum, in der nun notwendigen Diskussion Reizworte zu vermeiden und vor allen Dingen nicht den Eindruck zu erwecken, als sei der Beitrag, den unsere Soldatinnen und Soldaten dort leisten, weniger wert als das, was andere tun. Ich habe mich sehr darüber geärgert, in einigen Zeitungen zu lesen: Die anderen tun die gefährliche Arbeit, und die Deutschen nicht. Der französische Stabschef von IFOR hat mir auf meine Frage „Wie ist das denn eigentlich wirklich?" gesagt, daß das, was die deutschen Pioniere in Bosnien selber tun - weil sie nicht in Bosnien, sondern in Kroatien stationiert sind, biwakieren sie dort und müssen hin- und herfahren -, viel gefährlicher ist als das, was die anderen tun, die mit Panzern Patrouille fahren. Wir sollten also keinen Minderwertigkeitskomplex haben. Es wäre sowieso ganz unsinnig, festzustellen, daß das, was wir machen, nicht so gefährlich ist wie das, was die anderen machen. Ich hoffe nicht, daß es irgend jemand in Deutschland gibt, der meint, es müsse erst Blut geflossen sein, ehe wir wieder wirklich gleichberechtigt an Friedensoperationen der internationalen Gemeinschaft mitwirken. Unsere Mitwirkung ist gleichberechtigt. ({28}) Sie ist wichtig, sie ist unverzichtbar. Und ich rate sehr dazu, sich bei den Überlegungen, wie es weitergehen soll, darauf zu konzentrieren, was wir am besten können. Das Ergebnis des Prozesses muß sein, daß man sieht: Wer steht weiter zur Verfügung? Vor allem: Stehen die Amerikaner weiter zur Verfügung? In welchem Umfang? Wie müssen die Aufgaben neu verteilt werden? Die stellen sich nämlich neu. Aber heute schon zu diskutieren, Deutschland muß bei IFOR II einen ganz bestimmten, militärisch anders strukturierten Beitrag erbringen, halte ich für falsch. ({29}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung machen, ebenfalls an die Adresse des Verteidigungsministers gerichtet. Herr Rühe, die Bundeswehr ist enttäuscht. Sie ist auch von Ihnen enttäuscht. ({30}) Sie verdienen das gar nicht; denn ich muß zugeben, Sie haben sich darum bemüht, daß die Versprechen eingehalten werden. Aber ich kann Ihnen das hier vorlegen, ich habe alle Zitate hier: von Ihnen, vom Bundeskanzler, von den verteidigungspolitischen Sprechern der Koalition, alles das, was Sie in den Jahren 1994 und 1995 gesagt haben: Bei diesen Haushaltseinschränkungen bleibt es jetzt, dieser Haushalt wird jetzt verstetigt, die Bundeswehr hat eine sichere Perspektive. Wir haben durchaus andere Vorstellungen davon, wie die Struktur der Bundeswehr sein sollte. Ich rede jetzt über Ihre Verteidigungspolitik, die Verteidigungspolitik dieser Regierung. Mit dem, was Sie jetzt machen, überfordern Sie die Bundeswehr. Das geht nicht! Sie können nicht einen Friedensumfang von 340 000 Mann haben und einen Verteidigungsumfang von 680 000 Mann aufrechterhalten, gleichzeitig Beschaffungsvorhaben in enormen Größenordnungen in Gang setzen und dann auch noch der Bundeswehr Aufgaben geben, auf die sie bisher überhaupt nicht vorbereitet gewesen ist. Sie werden sich entscheiden müssen, was Sie machen: Entweder werden Sie nachdenken müssen über den Streitkräfteumfang, und dann sind wir bei dem Thema, das während des Sommers gelegentlich hochkam, nämlich bei der Frage: Ist Wehrpflicht dann überhaupt noch möglich? Ich rede jetzt gar nicht davon, ob sie wünschenswert ist, sondern ob sie dann noch möglich ist. Oder Sie werden nicht in der Lage sein, die Beschaffungsvorhaben durchzuführen. Oder aber Sie werden eine Bundeswehr haben, die nicht in der Lage ist, die Aufgaben zu erfüllen, die Sie ihr zugeteilt haben. Eines von den dreien wird passieren. Wir bieten Ihnen eine sachliche, zielgerichtete Diskussion über diese Fragen an. Aber ich sage Ihnen, es hat keinen Sinn, so zu tun, als sei die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in den Händen dieser Regierung eine Art Heiligtum, bei dem nichts passieren kann. Und wenn die Sozialdemokraten sagen, man könnte es vielleicht an der einen oder anderen Stelle anders machen, dann wird gleich die bündnispolitische Zuverlässigkeit in Frage gestellt; das haben wir ja alles erlebt. Ich wage gar nicht auszudenken, was Sie uns im vergangenen Jahr erzählt hätten, wenn wir es gewagt hätten, einen Kürzungsvorschlag zum Verteidigungshaushalt in der Größenordnung zu machen, mit der Sie jetzt eingegriffen haben. Wie wären Sie da über uns hergefallen im vergangenen Jahr! ({31}) Wie hätten Sie die Bundeswehr gegen die Sozialdemokratie aufgehetzt! ({32}) Das haben wir ja alles erlebt. Wir verlangen von Ihnen, daß Sie wenigstens ehrlich sind. Und merken Sie sich eines: Das ist nicht Ihre Bundeswehr, das ist nicht die Bundeswehr dieser Regierung, sondern das ist unser aller Bundeswehr. Wir haben dieselbe Verantwortung für diese Einrichtung wie Sie auch. ({33}) Nur im Unterschied zu Ihnen sagen wir den Soldatinnen und den Soldaten die Wahrheit über das, was geht und was nicht geht. ({34}) - Ja, Sie sind aufgelaufen mit einer Politik, die Sie großmäulig vertreten haben und von der Sie jetzt nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Geben Sie es doch endlich zu! Ich sage noch einmal: Herr Rühe, wir sind bereit, mit Ihnen über diese Probleme zu reden, auch im Hinblick auf die sehr schwierigen europapolitischen und industriepolitischen Folgen, die die Beschaffungsprogramme aufwerfen. Das ist ein weit über die Sicherheitspolitik und über die Verteidigungspolitik hinausreichendes erstrangiges Thema, das der Aufmerksamkeit des Parlaments bedarf. Ich danke Ihnen. ({35})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort für eine Kurzintervention hat der Kollege Irmer, F.D.P.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Verheugen, Sie haben meine Zwischenfrage nicht zugelassen. Das ist Ihr gutes Recht. Sie haben das mit ein paar unfreundlichen Bemerkungen garniert. Das betrachte ich als eine Frage des Geschmacks. Ich weise nur darauf hin: Zur Vollendung einer erfolgreichen Beleidigung gehören immer zwei Personen: einer, der es versucht - das haben Sie getan -, und einer, der es mit sich machen läßt. Ich stehe zumindest Ihnen für derartiges nicht zur Verfügung. ({0}) Ich erinnere mich noch sehr gut an den Wahlkampf 1990. Da hat eine SPD-Kollegin, die inzwischen auch in diesem Hause ist, dreimal, an drei aufeinanderfolgenden Abenden, den gesamten Militäretat der Bundesrepublik Deutschland für drei verschiedene wohltätige Zwecke verteilt: einmal waren es die Rentner, einmal waren es die Kindergärten, und am dritten Abend war es die Entwicklungshilfe. ({1}) Das nur zu Ihrer letzten Bemerkung. ({2}) Weshalb ich mich gemeldet habe: Herr Kollege Verheugen, Herr Kinkel hat zur OSZE ausführlich Stellung genommen, indem er gesagt hat, die OSZE könne nur komplementär zur NATO weiterentwikkelt werden. Es wird uns immer die Alternative vorgetragen: Hier ist die NATO, die ist böse und nichts wert; dort ist die hehre OSZE, die muß alles richten. Wir sagen nach wie vor: Die OSZE ist wichtig, muß erweitert, muß ausgebaut werden, aber, wie es der Außenminister gesagt hat, komplementär. Jetzt komme ich zur NATO: Es ist doch geradezu abenteuerlich, wenn Sie von dieser Bundesregierung verlangen, daß sie der staunenden Weltöffentlichkeit erklärt, wo es langgeht. Natürlich wollen wir die demokratischen mittelosteuropäischen Länder, die dies wünschen, in die NATO aufnehmen. - Ich rede von Öffnung, nicht von Erweiterung. - Aber wir müssen doch Rücksicht auf die legitimen Sicherheitsinteressen auch der anderen nehmen, zum Beispiel Rußlands. ({3}) Glauben Sie denn, daß diese Bundesregierung beim Besuch von Primakow in Bonn, beim Besuch des Bundeskanzlers in Moskau nicht ständig darauf gedrängt hat, daß den Russen klargemacht wird: Das ganze Unternehmen ist nicht gegen euch gerichtet? Weder die NATO heute noch die NATO nach einer Öffnung für neue mittelosteuropäische Demokratien wäre gegen Rußland gerichtet. Aber: Die Russen haben jahrzehntelang einen Popanz NATO aufgebaut. Es ist auch ein psychologisches Problem, wie schnell man sie davon wieder herunterbringt. Es ist auch nicht mit der Brechstange getan, daß wir Deutschen jetzt sagen: Natürlich, die baltischen Staaten müssen sofort in die NATO; egal, wie wir damit die Empfindlichkeiten der Russen tangieren. Das, Herr Verheugen, ist eben das, was ich bei Ihnen vermisse. Sie kritisieren, Herr Verheugen, daß die EU-Öffnung nicht vor der Reform der Agrarpolitik und der Finanzen erfolgen könne. Nein, das ist falsch. Das alles hat im wesentlichen eine politische Bedeutung, um die Zugehörigkeit dieser Länder zu unseren Systemen zu unterstreichen. Wenn die Agrarpolitik nicht innerhalb der Frist geregelt werden kann, führen wir Überleitungsregelungen ein, wie wir das auch bei der Süderweiterung getan haben. ({4}) Es kommt auf das politische Signal an, daß wir nicht Westeuropäer, sondern Gesamteuropäer sind, die sich allen Demokratien, die zu uns kommen, offenerweisen. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Rudolf Seiters, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002156, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ausgerechnet Sie, Herr Kollege Verheugen! Wie haben Sie gesagt? Sie vermissen den roten Faden bei Inhalt, Ziel und Konzeption der deutschen Politik. Nehmen Sie es bitte nicht persönlich, aber mit Ihrem Namen verbinde ich im Grunde alle grandiosen Fehlleistungen der SPD-Außenpolitik der vergangenen Jahre. ({0}) - Mit Ihnen, weil Sie mit Blick auf die Bundeswehr, den Beitrag Deutschlands zur internationalen Friedenssicherung und Konfliktbewältigung immer die falschen Ratschläge gegeben haben. Den Stellenwert, den Außenpolitik für die SPD hat, haben wir auch daran erkannt, daß in der Rede des Fraktionsvorsitzenden Scharping heute die Außenpolitik praktisch überhaupt nicht vorkam. ({1}) - Richtig, Mexiko. Das muß ich ausdrücklich zurücknehmen. Zu Mexiko hat er gesprochen. ({2}) Im übrigen, Herr Kollege Verheugen, sollten Sie sich nicht mit irgendeinem Kommentar in dieser oder jener Zeitung auseinandersetzen, sondern mit der Aussage von Hans Koschnick. Sie hatten Hans Koschnick vor kurzer Zeit in Ihrer Fraktion, und Sie loben ihn ja auch sehr. Hans Koschnick hat in einem Interview am 25. August - ich verkürze - gesagt - Herr Verheugen, vielleicht hören Sie einmal zu, was Hans Koschnick über Ihre Außenpolitik sagt -: Wundert es, daß man der SPD Populismus nachsagt? Warum hat die SPD kein eindeutiges Profil? Warum schwankt sie immer noch zwischen gestrigen nationalstaatlichen und heute doch notwendigen europäischen Antworten? Wo ist die klare Aussage, daß wir keine Sonderrolle spielen wollen, sondern uns im Rahmen europäischer Gemeinsamkeit einbringen bei der Ausformung einer zukunftsgerechten Außen- und Sicherheitspolitik? Soll dies weiterhin nur Helmut Kohl sagen? Ich bin darüber besorgt. Ich empfinde die Situation meiner Partei als eine krisenhaft belastete. Wo ist die grundsätzliche Position der SPD? Ich finde, damit sollten Sie sich auseinandersetzen. Die SPD findet außenpolitisch überhaupt nicht statt. Das Augenmerk unserer Partner, auch der sozialistischen Regierungen, richtet sich auf uns, auf diese Bundesregierung, auf diesen Bundeskanzler. Das ist gut so. Das liegt im internationalen, aber auch im nationalen deutschen Interesse. Zu einigen der angesprochenen Fragen. Erstens. Wir werden alles tun, damit die Regierungskonferenz der Europäischen Union zu einem Erfolg wird. Wir brauchen substantielle Fortschritte. Wir werden nicht alles erreichen können, was wir uns vorgenommen haben. Das weiß ich auch. Aber wir kommen voran. Ich nenne nur das Beispiel der Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat. Nur noch zwei Regierungen sind grundsätzlich dagegen. Wir begrüßen die Absicht der Bundesregierung, gemeinsam mit Frankreich neue und weitere Impulse für diese Regierungskonferenz zu geben. Deutschland bleibt unter Führung dieser Koalition weiterhin Motor der europäischen Einigung. Zweitens. Die Öffnung der Europäischen Union und der NATO ist wichtig nicht nur für die Beitrittskandidaten, sondern auch für die Stabilität in ganz Europa. Wir können auf Dauer weder eine Wohlstandsgrenze in Europa akzeptieren noch Zonen unterschiedlicher Sicherheit. ({3}) Ich finde, Sie haben keinen Grund, unsere Haltung zu unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn in Zweifel zu ziehen. Die Polen selbst nennen uns, nennen den Bundeskanzler, nennen diese BundesregieRudolf Seiters rung den Anwalt ihrer Interessen, und das sollten wir nicht in Frage stellen lassen, hier im Parlament erst recht nicht. Wir müssen die mittel- und osteuropäischen Länder auf ihrem Weg in die EU noch gezielter unterstützen, indem wir die Zusammenarbeit weiter ausbauen, aber auch den Mut aufbringen, unsere Märkte weiter zu öffnen. Damit alle Beitrittskandidaten klare und eindeutige Perspektiven haben, würde ich es jedenfalls begrüßen, wenn die Beitrittsverhandlungen sechs Monate nach Ende der Regierungskonferenz mit allen assoziierten mittel- und osteuropäischen Staaten sowie mit Malta und Zypern gemeinsam eröffnet würden, ({4}) um sie im Anschluß daran entsprechend der bis dahin von den einzelnen Staaten erreichten Integrationsfähigkeit differenziert und individuell fortzuführen. Das wäre nämlich das richtige Signal der Ermutigung an diese Länder, damit sich keines ausgeschlossen fühlt. Ein solches Vorgehen würde auch der - zum Teil dynamischen - Entwicklung in den einzelnen Beitrittsländern gerecht werden. Drittens: unser Verhältnis zu Rußland. Verehrter Herr Kollege Lippelt, ich weiß nicht, ob die Bemerkung, die Sie zu dem Verhältnis des Bundeskanzlers zu Präsident Jelzin gemacht haben, wirklich angebracht war. Wir sollten es doch begrüßen - und es wird auch international begrüßt -, daß sich bei dem steinigen Weg Rußlands zu Demokratie und Marktwirtschaft dieses Vertrauensverhältnis zwischen Rußland und Deutschland herausgebildet hat. ({5}) - Ja, und das hat auch mit der Person des Bundeskanzlers zu tun. Natürlich müssen wir unter Freunden und Partnern Rußland immer wieder sagen, daß es die Verpflichtungen erfüllen muß, die es mit seinem Beitritt zum Europarat eingegangen ist. Und natürlich haben wir immer darauf gedrängt, daß der Tschetschenienkonflikt zu Ende gebracht wird, weil ein Krieg keine Lösung darstellt, weil diese Probleme militärisch nicht gelöst werden können und weil sie im übrigen auch viele Kräfte binden, die Rußland bei seiner wirtschaftlichen Gesundung und bei seinem weiteren Weg zur Demokratie braucht. Deswegen begrüßen wir auch den Friedensschluß. Wir fordern Rußland auf, die Friedensbemühungen konsequent fortzusetzen. Dies ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit des russischen Präsidenten. Dies öffnet auch den Weg für die von uns nachdrücklich angestrebte besondere Partnerschaft, für eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber auch für eine konkrete und institutionalisierte Zusammenarbeit in den Fragen der europäischen Sicherheit. Rußland hat kein Veto gegen die Öffnung der NATO; aber es hat Anspruch darauf, daß sich diese Öffnung in einem schrittweisen, auch für Rußland transparenten und parallelen Prozeß zur Entwicklung der privilegierten Partnerschaft zwischen der NATO und Rußland vollzieht. Eine vierte Bemerkung aus der Sicht meiner Fraktion zum Thema Tschechien. Ich finde, daß der Bundeskanzler heute in einer sehr einfühlsamen Art dieses Problem dargestellt hat, und zwar mit einer klaren Zeitperspektive. Ich will das nachdrücklich unterstreichen. Ich möchte im übrigen in Erinnerung rufen, was in den letzten Tagen über den guten Stand der deutsch-tschechischen Beziehungen die beiden Präsidenten, Havel und Herzog, gesagt haben - ohne jede Aufgeregtheit. Die Botschaft der beiden Präsidenten lautet: Beide Seiten wollen die gemeinsame deutsch-tschechische Erklärung, aber sie wissen, daß die Erklärung schwierige Probleme - vor allem psychologische - zum Gegenstand hat. Deshalb sei „größte Sorgfalt am Platze". Da dürfe es auf einige Wochen nicht ankommen. Es ist schon das Recht der Opposition, ungeduldig zu sein und zu drängen. Das ist in Ordnung. Aber es ist noch viel wichtiger, daß eine gemeinsame deutsch-tschechische Erklärung von allen Beteiligten und Betroffenen als ein Akt der Versöhnung und Vertrauensbildung empfunden wird, daß alle Beteiligten, auch die Sudetendeutschen, in einen Dialog der Versöhnung einbezogen werden, weil das dem inneren Frieden dient, und daß entsprechend dem Rechtsstandard in Europa und analog der gemeinsamen Erklärung der tschechischen und deutschen Bischöfe ein klares und unmißverständliches Wort - davon gehen wir auch aus - zum Unrecht von Vertreibungen und Enteignungen, wo immer sie stattgefunden haben oder stattfinden, erfolgt. Dies hat nichts mit Aufrechnung zu tun, denn wir Deutschen wissen sehr wohl um die Verbrechen, die Nazi-Deutschland an den Tschechen verübt hat. Wir wollen die Beziehungen zu Tschechien auf eine gute, positive und tragfähige Grundlage stellen, auch mit Blick auf den bevorstehenden Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union, für den wir uns nachdrücklich einsetzen. Schließlich eine letzte Bemerkung aus unserer Sicht zu Bosnien und zu den Wahlen, die am 14. September dort stattfinden, die nicht den Abschluß des Dayton-Prozesses darstellen, weil es in Bosnien - das ist gesagt worden - noch keine selbsttragende Entwicklung zu Frieden und Stabilität gibt. Deswegen ist es auch richtig, wenn die Staatengemeinschaft sagt, niemand unter den Hardlinern solle darauf hoffen, daß der Dayton-Friedensprozeß ausgesessen werden und man auf den 20. Dezember 1996 warten könne. Deswegen ist absehbar, daß die Staatengemeinschaft beschließen wird, das IFOR-Mandat durch ein neues zu ersetzen, um Gewalt und Übergriffe unter den Volksgruppen einzudämmen und den Weg zu einem friedlichen Zusammenleben der Volksgruppen zu ebnen. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die ausdrücklich der Bundeswehr und den Soldaten dankt, ist es nur selbstverständlich, daß sich auch die Bundeswehr dann an einem solchen neuen Mandat beteiligen wird, genauso wie unsere europäischen Partner. Dies gilt um so mehr, als die Sicherung des Friedens in Bosnien unmittelbare Rückwirkungen auf eine wichtige innenpolitische Frage hat, nämlich die Frage der Rückführung der Bürgerkriegsflüchtlinge. Der bosnische Präsident Izetbegović hat noch einmal dringend an die Bürgerkriegsflüchtlinge appelliert, in ihre Heimat zurückzukehren. Das sollte auch für uns Veranlassung sein, erneut festzustellen: Angesichts von Mitverantwortung der Flüchtlinge für den Aufbau ihrer Heimat kann Freiwilligkeit nicht das entscheidende Kriterium für die Rückführung sein. Wir übersehen nicht die Probleme, mit denen die Rückkehrwilligen konfrontiert sind. Aber grundsätzlich kann die Lösung dieses Problems nicht darin bestehen, die Rückführung immer weiter zu verschieben. Vielmehr muß sie darauf gerichtet sein, ({6}) den Schutz ethnischer Minderheiten in Bosnien-Herzegowina rechtlich und politisch durchzusetzen. Lassen Sie mich noch einmal feststellen: Wo immer Sie - das ist doch die Realität und die Wahrheit; Herr Kollege Verheugen, Sie sind auch viel unterwegs, Sie werden das im Grunde nicht bestreiten können - gegenwärtig politische Gespräche führen, ob in Kairo oder in Jerusalem, in Warschau oder in Paris, in Washington oder in Moskau, in Den Haag oder in Madrid, niemals war in der Welt das Vertrauen in das demokratische Deutschland größer als heute und niemals war bei unseren Partnern der Wunsch zur Zusammenarbeit mit uns stärker ausgeprägt, und zwar völlig unabhängig davon, ob es sich um konservative oder sozialistische Regierungen handelt. Wir sind dafür sehr dankbar. Die Bundesrepublik genießt in der Welt hohes Ansehen. Die deutsche Außenpolitik ist beständig und verläßlich. Die Politik des Bundeskanzlers, aber auch die des Außenministers, des Verteidigungsministers und des Ministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben die volle Unterstützung der CDU/CSUBundestagsfraktion. ({7})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Verheugen, ich nutze die milde Form des Hinweises: Die Bezeichnung eines Kollegen mit den Worten „elender Stänkerer" ist ganz und gar unparlamentarisch und sollte in Zukunft unterbleiben. Das Wort hat jetzt der Kollege Graf von Einsiedel, PDS.

Heinrich Einsiedel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002645, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig, daß die Bundesregierung auch im Verteidigungshaushalt zu einem gewissen Sparzwang gekommen ist - erst in diesem Jahr und leider nicht unter dem Druck der SPD, wie vorhin Herr Verheugen festgestellt hat. In dieser Haushaltsdebatte geht es also vornehmlich um das Sparen, um die nach unserer Meinung verfassungswidrige Demontage des angeblich unbezahlbar gewordenen Sozialstaates. Aber trotz dieses Sparzwanges leisten wir uns immer noch einen Verteidigungshaushalt, der nur wenig mehr als 10 Prozent unter dem der letzten Jahre des kalten Krieges liegt: 46,5 Milliarden DM. Nach NATO-Kriterien, wenn also alles das mitgerechnet wird, was sich in anderen Haushalten versteckt, in Wahrheit aber dem Verteidigungshaushalt zuzurechnen wäre, wären es fast 60 Milliarden DM, und das, obwohl der Personalbestand der Bundeswehr erheblich gesenkt wurde. Der Feind, gegen den sich diese gewaltige Rüstung gerichtet hatte, den man nach einer die breite Öffentlichkeit beherrschenden Meinung in einem gewaltigen Rüstungswettlauf erfolgreich totgerüstet hat, ist entgegen aller Wahrscheinlichkeit und geschichtlichen Erfahrung kampflos von der Weltbühne abgetreten. Die Bedrohung unmittelbar an unseren Grenzen, gegen die man zur Vorwärtsverteidigung, also zum Angriff, fähig sein wollte und mit der die Rüstung gerechtfertigt wurde, ist Ihnen abhanden gekommen. Ist es da ein Wunder, wenn sich die Bürger dieses Landes die Frage stellen, wozu wir in aller Welt noch eine so gewaltige Kampfmaschine wie die Bundeswehr brauchen? Ist es ein Wunder, daß sich jeder dritte Wehrpflichtige eines neuen Jahrgangs weigert, in dieser Bundeswehr zu dienen, obwohl ihm das hierzulande weiß Gott nicht zum Vorteil gereicht? Nun wird jeder Mensch, der etwas differenzierter und ohne ideologische Scheuklappen über diese Probleme nachdenkt, einsehen, daß es verdammt schwer ist, einen solch gigantischen Apparat wie die Bundeswehr, den man über Jahrzehnte aufgebaut hat - warum auch immer -, unter rechtsstaatlichen Bedingungen auf ein erträgliches Maß zurückzustutzen. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, machen ja nicht einmal den geringsten Versuch dazu. Es liegen verschiedene Überlegungen vor, wie eine schrittweise Umwandlung der Bundeswehr von einer Wehrpflichtigenarmee von 340 000 Mann in eine Freiwilligenarmee von höchstens 200 000 Mann möglich wäre, die allein schon eine Ersparnis von 13 bis 15 Milliarden DM im Verteidigungshaushalt ermöglichen würde. Aber selbst eine solch vorsichtige Anpassung der Bundeswehr an die neuen weltpolitischen Bedingungen würde einige Jahre beanspruchen. Es gibt in den Koalitionsparteien schon vereinzelte Stimmen, die eine Umstrukturierung der Bundeswehr in dieser Richtung befürworten. Trotzdem wehren sich die Regierungsparteien mit höchster Vehemenz gegen solche vernünftigen Einsichten, und das, obwohl sich auch mit einer solchen Armee alle sicherheitspolitischen Erfordernisse, mit denen die Regierung die jetzige Struktur der Bundeswehr verteidigt, befriedigen ließen. Denn auch mit einer solchen Armee wäre die Bundesrepublik ausreichend - ich meine sogar: besser - zu verteidigen, weil eben länger und damit besser ausgebildete Freiwillige auch die besser ausgebildete Truppe ergeben, die im schrecklichen Ernstfall erfolgreicher und mit erheblich geringeren Verlusten kämpfen könnte. Der Bundeskanzler hat heute morgen behauptet, die Opposition sei nicht fähig und nicht willens, sich auf die dramatischen, globalen Veränderungen der letzten Jahre einzustellen. Es ist nicht meine Aufgabe, darauf zu antworten. Unbestreitbar ist allerdings, daß in der Verteidigungspolitik und im Verteidigungshaushalt praktisch überhaupt nicht auf diese dramatischen Veränderungen reagiert wird. Riesige Beschaffungsprogramme werden auf den Weg gebracht. Der Um- und Aufrüstungsprozeß geht nur schwach gebremst weiter. Und im Jahre 2000 will man praktisch schon wieder bei den Ausgaben angelangt sein, die man im kalten Krieg für nötig hielt. Ich bezweifle, daß die überwältigende Mehrheit der Bürger dieses Landes noch lange dafür Verständnis aufbringt. Den Bürgern wird auf unabsehbare Zeit die Last einer Rüstung auferlegt, die der neuen Lage nach der Wende überhaupt nicht Rechnung trägt. Die Abschaffung der Wehrpflicht und damit des Zivildienstes würde übrigens einen sehr positiven Effekt für die demokratische Kultur dieses Landes haben. ({0}) Ich, wir - meine Partei - sind, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen, kompromißlose Verteidiger der Gewissensfreiheit. Und zur Gewissensfreiheit gehört eben auch die Freiheit, freiwillig als Soldat zu dienen, wenn diese Gesellschaft meint, Soldaten zu brauchen. Aber zur Gewissensfreiheit gehört eben auch die Freiheit, ein fundamentaler Pazifist zu sein. ({1}) Der vor fast 70 Jahren geschriebene Satz „Soldaten sind Mörder", der zu den schrecklichen Diskussionen geführt hat, hatte damals seine völlige Berechtigung. Er umfaßte die schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, der den Absturz Europas in barbarische Zustände herbeiführte. Er war eine leider nur allzu berechtigte Warnung vor einem - damals besonders auch in der Reichswehr gepflegten - Zeitgeist, der in die noch größere Katastrophe des Zweiten Weltkrieges führte. Wer will denn ernsthaft bestreiten, daß die Massenabschlachtungen von Feinden, unter welchem Titel auch immer - Juden, Kulaken, Polen, Russen, Deutsche, Armenier, Serben, Kroaten, Kommunisten, Pazifisten, Faschisten - erst durch den Krieg 1914/18 vorstellbar und damit realisierbar geworden sind und im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt fanden? Ich wundere mich übrigens, daß in der hysterischen Diskussion über das Buch von Goldhagen dieser psychologische Aspekt, diese Voraussetzung, die dieses Massenabschlachten möglich gemacht hat, nie erwähnt wird. ({2}) Also damals, Ende der 20er Jahre, hatte der grob vereinfachende Satz von Tucholsky seine volle Berechtigung. Aber inzwischen sind 70 Jahre vergangen. Wir leben nicht mehr in der Weimarer Demokratie, dieser Republik ohne Republikaner, sondern in einem Staat, in dem die demokratische Grundüberzeugung fest verankert ist und nur von unbedeutenden Randgruppen bestritten wird. In einem solchen Staat halte ich die generelle Ächtung des Soldaten, der der Verteidigung seines Landes dienen will, für genauso unangebracht wie die generelle Ächtung des Pazifisten, der überzeugt ist, daß jeder Krieg, auch der gerechteste, ein schlimmes Verbrechen an der Menschheit darstellt. Ächtung des Nächsten - unter welchem Vorwand auch immer - ist eben genau der Weg, der in Konflikte führte, die dann letztlich mit Gewalt, mit Krieg gelöst werden. ({3}) Meine Damen und Herren, wir sehen mit großer Sorge, welcher Aufwand jetzt wieder betrieben wird, um die „Gestalt des Soldaten" - dieser unsägliche Begriff von Ernst Jünger - wieder wie ein Denkmal auf die Plattform zu heben. Ich habe überhaupt etwas gegen Plattformen. ({4}) In zahlreichen Veröffentlichungen aus dem Umfeld der Bundeswehr wird das Soldatentum an sich, die bedingungslose Bereitschaft zu kämpfen, zu töten und zu sterben, in der meine Generation so erfolgreich erzogen worden ist, wieder in unerträglicher Weise gefeiert und sozusagen als die höchste Bürgerpflicht gelobt. Die unbestreitbaren militärischen Leistungen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg werden als ein Wert an sich gefeiert, ohne auch nur einmal die Frage nach der Verantwortung des Soldaten zu stellen. Man kann die Wehrmacht nicht von der Mitverantwortung freisprechen für die Verbrechen hinter der Front. Die Wehrmacht hat den SS-Mördern den Weg durch ganz Europa freigeschossen. Es ist wahr: Die Wehrmacht hat unter fürchterlichen Verlusten zunächst für die Eroberung des angeblich dringend benötigten Lebensraums gekämpft und dann, als sie schon geschlagen war, noch jahrelang unter vielfachen Verlusten den verbrecherischen und obendrein längst verlorenen Krieg weitergeführt bis auf die Trümmer der Reichskanzlei. Und ich frage mich, wie man einerseits die Verschwörer des 20. Juli feiern kann und praktisch im gleichen Atemzug an anderen Stellen diese Verschwörung als die Tat verantwortungsloser Gesinnungsethiker hinstellt, die nur zum Zusammenbruch der Fronten geführt hätte. Ja, hätte sie mal! Wäre das gelungen, wären Deutschland an die 5 Millionen Tote erspart geblieben. Und hier rede ich nur von Deutschen, nicht von den Millionen, die noch auf anderer Seite gefallen sind, und von den Verbrechen, die in diesen letzten schrecklichen neun Monaten begangen worden sind. Aber das ist die Doppelzüngigkeit der Traditionspflege der Bundeswehr, die jeHeinrich Graf von Einsiedel den von Ihnen, meine Damen und Herren, in diesem Hause mit Sorge erfüllen müßte. Danke. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Dr. Riedl, CDU/CSU.

Dr. Erich Riedl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001843, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gehört ja zu den seltenen, aber deshalb um so eindrucksvolleren Erlebnissen eines Haushaltspolitikers, in der Grundsatzdebatte, in der Elefantenrunde auch ein paar Worte zum schnöden Mammon zu sagen. Ich habe den ganzen Vormittag aufgepaßt: Es ist schon eindrucksvoll, wie Diplomaten, Außenpolitiker, Staatsmänner dieses große Thema gründlich behandeln, aber außerordentlich ungern über das Geld reden. Dabei ist Außenpolitk, ob man das will oder nicht, nach innen und nach außen leider Gottes, Herr Staatsminister, auch immer mit Geld verbunden. ({0}) - Es ist gut angelegtes Geld. Es ist ja nicht der größte Etatposten. Eigentlich ist der Haushalt des Auswärtigen Amtes, gemessen am Gesamthaushalt des Bundes, sehr bescheiden. Er macht nur 0,83 Prozent des Gesamthaushaltes aus. Dennoch ist auch dieser Haushalt des Außenministeriums, der Einzelplan 05, wieder ein Sparhaushalt, weil er trotz gewachsener internationaler Auf gaben gegenüber 1996, gemessen am Finanzplan, 180 Millionen DM weniger bzw., gemessen am Soll des letzten Jahres, 150 Millionen DM weniger ausweist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, daran mögen Sie erkennen, wie schwer es uns im Haushaltsausschuß werden wird, außerordentlich berechtigte Anliegen von allen Seiten des Hauses finanziell zu etatisieren. Ich denke nur an das Problem der Minenräumung, daran, daß wir mit der 1,5prozentigen Stellenkürzung beim Auswärtigen Amt fertig werden müssen, obwohl die Aufgaben, gerade in unseren Auslandsvertretungen, ständig zunehmen. Ich denke zum Beispiel an die im Zusammenhang mit der Diskussion um den Standort Deutschland als notwendig erachtete Verstärkung unserer Auslandsvertretungen, um der deutschen Wirtschaft zu helfen. Es ist ja schon manchmal erschütternd, wenn man draußen in der Welt feststellt, daß zum Beispiel die USA, Großbritannien und Frankreich - die USA hebe ich jetzt ganz deutlich hervor - manchmal zehn- bis zwanzigmal mehr Personal nur in den Wirtschaftsabteilungen ihrer Auslandsvertretungen zur Verfügung haben und daß wir mit zwei, drei Leuten in der Wirtschaftsabteilung der großen Botschaften herumkrebsen. Ganz davon zu schweigen, daß auch Persönlichkeiten der amerikanischen Staatsführung bis hinauf zum Präsidenten und zum Vizepräsidenten bei der Akquirierung für amerikanische Unternehmen behilflich sind. Als Haushälter gehe ich mit der Sparlinie der Koalition absolut konform. Aber wir sollten uns schon einmal gemeinsam überlegen, ob wir nicht bei diesem Haushalt damit beginnen sollten, wenigstens diejenigen Auslandsvertretungen, die mit Konsularangelegenheiten, mit Wirtschaftsangelegenheiten, mit Angelegenheiten der Bekämpfung der internationalen Kriminalität befaßt sind, von dieser Kürzung auszunehmen. Angesichts dieses kleiner werdenden Haushalts müßte das im Prinzip auch möglich sein. Ich habe mir diesmal vorgenommen - darüber habe ich mir Gedanken gemacht -, ein paar Worte über die Finanzierung der internationalen Organisationen zu verlieren. Dieses Thema beschäftigt ja nicht nur den Deutschen Bundestag verstärkt. Wir müssen uns allmählich Gedanken machen über die aufgeblähten, teilweise finanziell zu üppig ausgestatteten Personal- und Organisationskörper in fast allen internationalen Organisationen. ({1}) Denn wenn wir schon bei uns in Deutschland Haushaltskonsolidierung auch für den Bereich des Auswärtigen Amtes betreiben, dann muß es doch erlaubt sein, wenigstens nachzufragen, ob nicht auch die Haushalte der großen internationalen Organisationen - Europäische Union, Vereinte Nationen, WTO, die Nachfolgeorganisation des Welthandelsabkommens, und natürlich auch die NATO - entsprechend behandelt werden können. Ich möchte sagen - ich merke das ja auch im Haushaltsausschuß, wo die Kollegen von der Opposition dazu einen eigenen Antrag eingebracht haben -, daß wir uns mit diesem Thema alsbald befassen müssen, weil unsere eigene Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wird, wenn wir im Inland sparen wollen und im Ausland nicht. ({2}) Ich will es jetzt ein wenig quantifizieren. Deutschland ist Beitragszahler - wenn ich eine Quizsendung mitmachen würde, würde ich die beiden Tassen, die es im „Morgenmagazin" des ZDF zu gewinnen gibt, mit Sicherheit nicht bekommen, wenn man eine diesbezügliche Frage stellt - in 369 internationalen Organisationen. Wir werden im Jahre 1996 dorthin Pflichtbeiträge in Höhe von 6,6 Milliarden DM überweisen. Natürlich kommt Deutschland damit seinen auch nach der Wiedervereinigung gewachsenen internationalen Verpflichtungen - vielleicht wie kaum ein anderes Land in der Welt - nach; mit den Amerikanern will ich uns gar nicht vergleichen. Aber ungeprüft kann das in Zukunft so nicht bleiben, wenn wir in unserem eigenen Land unsere eigenen Ministerien und unsere eigenen Behörden so stringent wie möglich auf Sparsamkeit überprüfen. Wir müssen -ob es dem einen oder anderen Partner paßt oder nicht - vor allen Dingen auch einmal das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag bei diesen Organisationen überprüfen. Evaluierung nennt man das. Meine Damen und Herren, ich habe mir in diesen Tagen die Unterlagen über die Besoldung der Beschäftigten bei der Europäischen Kommission beDr. Erich Riedl ({3}) sorgt. Das Bundesbesoldungsgesetz in Deutschland kenne ich. Das ist ziemlich dick. ({4}) Aber das mir übergebene Gesamtwerk der Besoldung der Bediensteten der Europäischen Kommission - die Ministerien haben mir gesagt, sie konnten mir noch nicht alles zusammenstellen - ist noch dikker. ({5}) - Vielen Dank für den Hinweis. Die restlichen Unterlagen habe ich angefordert. Die weitgehende Steuerfreiheit dieser Bezüge ist einmalig. ({6}) - Da wir im Prinzip alle etwas von Fußball verstehen, kenne ich den Vergleich brutto gleich netto aus meiner früheren Zeit als Präsident von 1860 München. ({7}) Ich weiß nur, verehrter Herr Kollege, daß mir dies auch gewisse Nachfragen des Münchener Finanzamts eingebracht hat, die ich dann Gott sei Dank in Abwendung größeren Schadens relativ schnell klären konnte. Ich bin für den Hinweis dankbar, weil wir uns im Zusammenhang mit der Steuerreform auch einmal mit dieser Thematik befassen müssen. Ich will das Problem der Europäischen Union ein bißchen näher beleuchten. Richtig ist, daß Deutschland seit Jahren mit Abstand größter Nettozahler in der Europäischen Union ist. Mit dem berühmten Eigenmittelbeschluß der Europäischen Union vom 31. Oktober 1994 ist die Finanzausstattung der Europäischen Union bis 1999 festgelegt. Daraus lassen sich die deutschen Beitragszahlungen ableiten. Sie wissen: 1995 waren es 41 Milliarden DM, 1996 sind es 44 Milliarden DM, und, wenn ich es noch richtig im Kopf habe, werden wir Ende 1999 bei fast 90 Milliarden DM Beitragszahlungen ankommen. Auf Grund der geringeren Zahlungen aus dem EUBereich nach Deutschland ergibt sich der berühmte Nettobetrag, der 1995 26 Milliarden DM betrug, wobei Rückerstattungen in Höhe von rund 5 Milliarden DM, über die gestern schon der Kollege Seibel gesprochen hat, nicht berücksichtigt sind. Aber eines muß doch für alle in diesem Haus klar sein: Dieser Nettobetrag ist viel zu hoch; denn Deutschland trägt über die Hälfte des Nettoressourcentransfers innerhalb der EU. Dies fördert bei der derzeitigen übermäßigen finanziellen Belastung in Deutschland draußen in der Bevölkerung - und da braucht man sich gar nicht zu wundern - mit Sicherheit nicht die Akzeptanz der europäischen Integration und auch nicht die Diskussionen über die Europäische Währungsunion. Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir uns als Parlamentarier nicht endlich einmal gründlich mit dieser Thematik auseinandersetzen. ({8}) Dieser Zustand kann mittelfristig auch nicht im Interesse der anderen Mitgliedstaaten sein, weil dieser nämlich dem Solidaritätsgedanken der Gemeinschaft widerspricht. Vor diesem Hintergrund haben Bundestag und Bundesrat - wenn ich das richtig im Kopf habe, gab es im Bundestag nicht einmal Gegenstimmen - die Bundesregierung immer wieder aufgefordert, künftig für eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu sorgen. Ein erster Erfolg ist bereits zu verzeichnen. Leider ist er in der deutschen Öffentlichkeit bisher eigentlich nur bei den Fachleuten bekanntgeworden. Der sogenannte Budgetrat der Europäischen Union hat nämlich am 25. Juli dieses Jahres nach außerordentlich schwierigen Verhandlungen und auf massiven Druck des deutschen Finanzministers mit qualifizierter Mehrheit den Haushaltsentwurf der Europäischen Union für nächstes Jahr in Höhe von 81,6 Milliarden ECU aufgestellt und damit zum erstenmal in der Geschichte der Europäischen Vereinigung - von Anbeginn - einen Haushaltsentwurf vorgelegt, der um 0,3 Prozent unter dem Volumen des Vorjahres liegt. Die Kommission selbst - ihr Sparwille scheint nicht so sehr ausgeprägt zu sein - hatte einen Entwurf vorgelegt, der ein Plus von 3,2 Prozent vorsah. Meine Damen und Herren in der Kommission, so können Sie künftig keine Haushalte mehr vorlegen. Es ist erstmals eine Trendwende im Haushalt der Europäischen Union eingeleitet. Auch wenn Sie nicht der CSU angehören, ist es sicherlich angebracht, dem deutschen Finanzminister, Dr. Theo Waigel, für diesen Kraftakt in diesem Hohen Haus ein herzliches Dankeschön zu sagen. ({9})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Riedl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?

Dr. Erich Riedl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001843, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Riedl, ich habe eben applaudiert; daraus mögen Sie ersehen, daß ich Ihren Ausführungen, auch was die überhöhten Abflüsse aus Deutschland an EU-Kassen betrifft, zustimme. Meinen Sie aber nicht, daß es gefährlich ist, vor der Öffentlichkeit immer nur diesen Aspekt zu betonen, ohne zugleich darauf hinzuweisen, daß die Deutschen, was die wirtschaftlichen Erfolge angeht, im Grunde nach wie vor Nettoprofiteure sind? Würden Sie mir nicht zustimmen, daß das ein wenig an die Einstellung eines Bürgermeisters in einer Fremdenverkehrsgemeinde erinnert, der zum Beispiel gegenrechnet, was er für Fremdenverkehrswerbung, für den Schwan auf dem Teich und die Bänke ausgibt, und dann das saldiert, was an Kurtaxe hereinkommt? Die rein fiskalische Betrachtungsweise führt doch etwas in die Irre und läßt den Nutzen außer acht, den unser Land und Volk aus der Mitgliedschaft zieht.

Dr. Erich Riedl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001843, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ganz einfach zu beantworten. Sie haben nämlich, was üblich ist, meinen Redetext nicht gesehen. Auf meiner nächsten Seite habe ich genau diesen Punkt aufgeschrieben. Wenn Sie ein wenig Geduld haben und mir der Präsident zwei Minuten mehr Redezeit gibt, werde ich Sie mit meinen Ausführungen außerordentlich beglücken.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Durch einen kleinen Fehler der Zeitanzeige haben Sie sowieso ein wenig mehr Zeit bekommen, und zwar eine Minute.

Dr. Erich Riedl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001843, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe Ihren Fehler schon bemerkt, ich habe ihn aber nicht korrigiert, da meine Redezeit noch nicht abgelaufen ist. Ich habe mich schon gefragt, wie ich zu der Ehre komme, von Ihnen fünf Minuten mehr Redezeit zu bekommen, als mir meine Fraktion zugestanden hat. Ich dachte, das ist ein ordentlicher Vizepräsident.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das weiß ich auch nicht genau, aber so ist es nun einmal. ({0})

Dr. Erich Riedl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001843, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich mache es jetzt kurz und knapp. Ich kann Ihnen in diesem Punkt zustimmen. Ich hätte das auch ausgeführt. Ich will noch zwei Dinge sagen: Wir haben heute sehr viel über die Osterweiterung der NATO und über die Erweiterung der Europäischen Union gehört. Herr Verheugen, Ihre Ungeduld als Oppositionspolitiker kann ich gut verstehen. Aber bevor man grundsätzliche Forderungen bezüglich des Beitrittes weiterer Länder zu diesen internationalen Organisationen stellt, sollte man zunächst überlegen, was das kosten würde. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß der Beitritt der osteuropäischen Länder in die Europäische Union nur durch Umschichtung im EUHaushalt zu finanzieren ist. Eine Erhöhung der deutschen Nettozahlungen kann aus diesem Grunde nicht erfolgen; sie würde auch keine Mehrheit im Deutschen Bundestag finden. Das gleiche gilt für die Osterweiterung der NATO. Ich bitte alle Experten auf diesem Gebiet herzlich, die Finanzierung dieser Erweiterungen nicht aus dem Auge zu lassen. Wir bekommen sonst in Deutschland angesichts der Sparzwänge, die wir uns auferlegt haben, eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Wir alle miteinander können diese Verantwortung nicht übernehmen. ({0}) Herr Verheugen, ich habe mir notiert, daß Sie gesagt haben, alle Länder, die der EU beitreten wollten, müßten zur gleichen Zeit am Bahnhof ankommen. ({1}) - Am selben Bahnhof zur gleichen Zeit. Ist ja in Ordnung, Herr Verheugen. (Günter Verheugen [SPD]: Nein, nicht zur gleichen Zeit! Am selben Bahnhof! - Ist ja in Ordnung, Herr Verheugen. Das ist ein hehres politisches Ziel gerade Ihrer Partei, die der Sozialistischen Internationalen angehört. Aber eines muß man wissen: Die Fahrkarte zu diesem Bahnhof muß man auch bezahlt haben; das geht nicht auf Kredit und auf Schulden. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, daß es zu diesen Erweiterungen ohne eine Umschichtung innerhalb des NATO-Haushaltes wie ohne eine Umschichtung im EU-Haushalt nicht kommen kann. Interessant ist folgendes, und ich bitte die Bundesregierung, uns alsbald darüber zu berichten. Ich höre, daß es im amerikanischen Kongreß bereits Finanzberechnungen gibt, was die NATO-Osterweiterung kostet. Wenn im amerikanischen Kongreß Finanzpläne aufgestellt werden, die Europa betreffen, kann ich nur sagen: Holzauge, sei wachsam! Ich würde der Bundesregierung herzlich anraten, sich einmal auf diplomatischem Weg mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. ({2}) Denn wenn wir unmittelbar vor der NATO-Osterweiterung stehen, und die Kassen sind leer, dann kann es größere diplomatische Verwicklungen geben als vielleicht ein Hinausschieben dieses Beitrags. Ich will zum Abschluß auch einmal zum Ausdruck bringen, daß es einem Amateuraußenpolitiker wie mir - ich bin an sich nur Berichterstatter im Haushaltsausschuß für das Auswärtige Amt - ({3}) - Gnädige Frau, eine gewisse Bescheidenheit ist mir sowieso nicht zu eigen. Wenn ich es ausnahmsweise einmal zum Ausdruck bringe: Stören Sie mich doch bitte nicht. Was mir an dieser Berichterstattung gut gefällt - ich will das einmal nach draußen sagen -, ist, daß wir in Deutschland ein relativ hohes Maß an Übereinstimmung in der Außenpolitik haben. Wenn sich die Dissonanzen so wie heute im Schwerpunkt eigentlich nur auf das deutsch-tschechische Abkommen beziehen, dann könnte man heilfroh sein. Auch bei Ihnen, Herr Verheugen, habe ich gemerkt, daß Sie bereit sind, die Verbrechen, die an den Sudetendeutschen begangen worden sind, so zu bewerten, daß auch die Sudetendeutschen mit dieser Erklärung zufrieden sind. Ich selbst bin am 20. Dezember 1945 mit meiner Mutter unter einem Kugelhagel, der nicht von tschechischer Seite kam, sondern von betrunkenen amerikanischen Soldaten, an der Grenze in Schirnding von meiner Heimat vertrieben worden. Mein Vater war Berufsoffizier im Zweiten Weltkrieg. Ich habe meine Heimat damals als Kind fast abenteuerlich verlassen. Aber ich habe gemerkt, wie meine Dr. Erich Riedl ({4}) Eltern unter dieser Geschichte gelitten haben. Es wäre das Schönste für mich, wenn wir den Gefühlen der vertriebenen Sudetendeutschen Rechnung tragen und im Deutschen Bundestag zu einer großen Übereinstimmung kommen würden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Thierse, SPD-Fraktion.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir eine etwas persönlichere Vorbemerkung. Wir sind noch in der Generaldebatte, stelle ich fest. Vielleicht ist es meine Überempfindlichkeit, wenn ich dann vermerke, daß in dieser Generaldebatte eines der existentiellen Themen der deutschen Politik eine beschämend geringe Rolle gespielt hat, nämlich die Probleme der sozialen, der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, des wirtschaftlichen Aufbaus im Osten Deutschlands. ({0}) Weder bei Herrn Schäuble noch in der Rede des Bundeskanzlers hat das eine sonderliche Rolle gespielt. Ich bedaure das. Wenn Sie an Herrn Scharping und Herrn Lafontaine erinnern, dann kann ich nur sagen: Die wußten, daß ich hier in der Generaldebatte reden möchte. Auch das sei noch gesagt: Schauen Sie sich die Logik der Tagesordnung dieser Haushaltsdebatte an! Nirgendwo hat dieses Thema, von dem ich sage - ich glaube, Sie stimmen mir zu -, es sei ein existentielles Thema unserer Politik, einen wirklichen Platz, bestenfalls die Chance, in Nebensätzen vorzukommen. Ich finde das falsch. Nun stehe ich hier plötzlich zwischen einer Debatte über gewiß wichtige Fragen der Verteidigungs- und Außenpolitik einerseits und der Entwicklungspolitik andererseits. Wir haben kurz überlegt, ob ich nicht lieber dem Kollegen Eberhard Brecht das Wort geben sollte. Aber dann dachte ich, es muß in die Generaldebatte. Wir müssen ein paar Sätze darüber austauschen. Deswegen stelle ich mich diesem mißlichen Platz. ({1}) - Das ist kein Zeichen für beginnende Normalität. Normalität wäre, wenn wir Freundliches, Friedliches, Großartiges aus Ostdeutschland berichten könnten. Gerade darüber will ich reden. Ich will noch eine Bemerkung machen. Der geschätzte Kollege Geißler hat vorhin wörtlich gesagt - das hat mit unserem, mit meinem Thema zu tun -: Es war der Anfang der friedlichen Revolution in der DDR, daß die CDU nicht den SPD-Weg der Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft gegangen ist. ({2}) Ich halte das für eine sehr befremdliche Anmaßung. Sie sollten sich aus Gründen parteipolitischer Polemik diesen entscheidenden Vorgang, der Ursache unseres ostdeutschen Selbstbewußtseins ist - in 40 Jahren DDR gab es nicht ganz viele Anlässe, öffentliches Selbstbewußtsein zu erwerben - nicht als Leistung der eigenen, in diesem Fall westdeutschen Partei zurechnen. ({3}) Das nimmt uns etwas weg, was uns gehört. Ich hoffe, Sie werden das respektieren. Natürlich - um in der Sache ein Wort zu sagen - weiß ich, daß es einen Zusammenhang zwischen der Möglichkeit auszureisen und der, im Lande zu sagen: „Wir bleiben hier" und „Es geht nicht so weiter", gegeben hat. ({4}) Das weiß ich doch. Aber Sie wissen auch - ich habe mich da wirklich sachkundig gemacht; ich gehörte da ja noch nicht dazu -: Es war nie Linie der SPD, diese Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Es gab Debatten in dieser Partei darüber, gewiß. Eine zweite Bemerkung, wenn Sie mir das erlauben. Wie lange noch wollen wir zwischen demokratischen Parteien dieses Spiel betreiben? Was auch immer wir Sozialdemokraten sagen und wenn wir die heiligsten Eide schwören, Sie werden mit der PDS kommen. Wie lange soll das noch gehen? ({5}) - Ein Satz zur Sache. Ich will auch noch einen zweiten Satz sagen. Das müssen Sie doch wissen: Das provoziert unsere Abwehr, die dann genauso heißen muß, daß es zutiefst verlogen und heuchlerisch ist, wenn uns Vertreter einer Partei Vorhaltungen machen wollen, die wirklich Blockparteien aufgenommen haben. Ich erlaube mir dazu eine persönliche Bemerkung, nur um es Ihnen etwas schwerer zu machen. Mein Vater war Mitglied der CDU im Osten Deutschlands. Ich werde ihn auch im nachhinein nicht dafür kritisieren. Aber ich könnte Ihnen die Gründe darlegen, warum ich auf keinen Fall in diese Ost-CDU eintreten wollte. Die habe ich noch im Gedächtnis, wenn mir vorgehalten wird, es sei etwas absolut anderes, ob man in der SED oder in der CDU gewesen sei. Die Unterschiede sind wahrnehmbar; aber an einem Punkt ist der Unterschied nicht sehr gering. Er heißt für mich: Wie lange wollen wir in Deutschland dieses unerträgliche und unanständige Spiel treiben, Leute auf ihre Vergangenheit zu fixieren? Ich halte das politisch und moralisch schlicht für unanständig. - Das vorweg. ({6}) Nun ein paar wenige Bemerkungen zum Thema. Wenn man diesen Haushaltsentwurf der Bundesregierung liest, dann sieht man, daß die BundesregieWolfgang Thierse rung stillschweigend das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland beerdigt hat. Sie müssen doch wissen, daß die Wirkungen Ihres Sparpakets im Osten noch viel drastischer sind als im Westen angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, in denen wir dort stecken. Der Abstand zwischen Ost und West - die Zahlen, die immerfort veröffentlicht werden, sind doch eindeutig - schrumpft nicht mehr. Er stagniert allenfalls. Seit der Neuordnung des Länderfinanzausgleichs sinken die Ausgaben des Bundes für Ostdeutschland. Die Kürzungen der Ausgaben im vorliegenden Haushalt betragen 9 Milliarden DM. Die Zahl stammt von Herrn Ludewig. Er muß es wissen; er ist dafür zuständig. Ich kann es noch im einzelnen sagen: 1,7 Milliarden DM weniger für ABM im Osten Deutschlands, 400 Millionen DM weniger für die Gemeinschaftsaufgabe Ost, 123 Millionen DM weniger für Eigenkapitalhilfe, 40 Millionen DM weniger für Forschungsförderung usw. - und das angesichts einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit, die überall gleich schlimm ist, im Osten Deutschlands geradezu katastrophal ist. Aber Sie gehen mit Ihren ABM-Plänen darüber hinweg. Sie sparen auf Kosten der Menschen im Osten. ({7}) Sie sparen auf Kosten der Arbeitslosen, der Frauen, der Wohngeldempfänger. Die Novellierung, die Veränderung des Wohngelds Ost ist nur noch der letzte Punkt. Sie sparen im Forschungsetat zu Lasten der Zukunft und der Wettbewerbsfähigkeit von morgen. Die Bundesregierung handelt, was die ostdeutsche Wirtschaft und den ostdeutschen Arbeitsmarkt betrifft, wider besseres Wissen. Sie wissen, was ein Einbruch bei der ABM-Förderung in dem Maße, wie Sie ihn vorbereiten, bedeutet. Das haben Ihnen Paul Krüger und andere ostdeutsche Landsleute der Regierungsfraktionen hinter verschlossenen Türen, aber auch öffentlich mitgeteilt. Nachdem der stellvertretende Parteivorsitzende und ranghöchste CDU-Ostdeutsche, Herr Bergner, beschwichtigt hat: „Ich habe mich noch nie mit jemanden aus der Bundesregierung gestritten", brauchten Sie die Kritik aus Ostdeutschland von der ostdeutschen CDU wohl nicht mehr ernst zu nehmen. Vielleicht hätten Sie wenigstens auf Rüdiger Pohl hören sollen. Der Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle hat am 17. Juli wissen lassen, daß der ostdeutsche Arbeitsmarkt mit Sicherheit nicht reif für den massiven Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sei. Das Schicksal derjenigen, die auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angewiesen sind, interessiert so wenig; so wenig, daß die Herren Weng und Roth bereits jetzt die nächsten Kürzungen genau in diesem Bereich einleiten. „An der Senkung der Ausgaben für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen führt kein Weg vorbei" sagen die haushaltspolitischen Sprecher von Union und F.D.P. Sie kündigen schon jetzt den nächsten Schritt an und demontieren schon jetzt, bevor die ostdeutschen CDU- und F.D.P.-Kollegen überhaupt ein wenig Erfolg haben, deren Bemühungen. ({8}) Wir brauchen jetzt eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Die Arbeitslosen sind weder Schuldige noch Verursacher der Massenarbeitslosigkeit. Sie sind Opfer; das wissen Sie. Deswegen brauchen wir auch so etwas wie einen Lastenausgleich zugunsten Ostdeutschlands. Ich will Ihnen noch sagen - damit hat meine Intervention ihr Ende -: Wir werden Sie daran messen - das ist unser Prüfstein -, inwiefern es Ihnen gelingt, die Kürzung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Ostdeutschland zurückzunehmen. Nicht das ständige Gerede über die PDS ist der angemessene Umgang mit Ostdeutschland. ({9}) Ernstzunehmen, was Sie irgendwann einmal angekündigt haben, ist das beste Mittel, diese PDS so klein zu kriegen, wie sie es nach ihrer historischen Leistung verdient hat. ({10})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Herr Bundesverteidigungsminister Rühe.

Volker Rühe (Minister:in)

Politiker ID: 11001897

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mitglied der Bundesregierung steht es mir zwar nicht zu, etwas zur Struktur dieser Debatte zu sagen. Aber ich möchte trotzdem zum Ausdruck bringen, daß wir den einzelnen Sachbereichen in dieser Form nicht gerecht werden. ({0}) Die Organisation dieser Debatte erinnert mich ein wenig an die Geradlinigkeit des Kunstwerkes dort oben im Saal. Wir sollten vielleicht darüber nachdenken, wie wir den einzelnen Sachbereichen gerechter werden. Als Mitglied der Bundesregierung begehe ich jetzt einen zweiten Formverstoß, denn als Verteidigungsminister dürfte ich nicht auf das antworten, was der Kollege Thierse hier gesagt hat. Aber ich bin der Meinung, daß man in einer Debatte auf das eingehen sollte, was der Vorredner geäußert hat. Zunächst einmal möchte ich Ihnen zustimmen: In der Generaldebatte muß natürlich über die Situation der inneren Einheit, aber auch über jeden einzelnen Etat gesprochen werden. Was Sie über die Debatte SPD und PDS gesagt haben - ich habe als früherer Generalsekretär Erfahrungen aus dem Einheitsprozeß - beruht auf einem fundamentalen Mißverständnis. Sie haben gesagt, es könne nicht darum gehen, Leute auf ihre Vergangenheit zu fixieren. In diesem Punkt möchte ich Ihnen ausdrücklich zustimmen. Darum geht es auch nicht. Jemand, der früher Mitglied der SED war - und das waren über zwei Millionen - und der glaubwürdig den Weg in eine demokratische Partei - ob nun SPD oder CDU - gefunden hat, der wird nicht auf die Vergangenheit fixiert. Die PDS ist aber keine Neugründung; sie hat sich nicht von der SED abgewandt. Sie wird nicht von uns künstlich auf ihre Vergangenheit fixiert; sie hat sich vielmehr selbst in der Vergangenheit eingeschlossen. Das muß in diesem Zusammenhang kritisiert werden. ({1}) Daß ich mich nicht daran beteilige - da bin ich schon wieder beim Verteidigungsminister -, Leute auf ihre Vergangenheit zu fixieren, können Sie daran sehen, daß ich - übrigens im Unterschied zu anderen - rund 10 000 Offiziere und Unteroffiziere übernommen habe. Ich habe heute Bataillonskommandeure der Bundeswehr im Westen, die in Moskau nach den Richtlinien des Warschauer Pakts ausgebildet worden sind, zu denen ich volles Vertrauen habe und denen ich die jungen Wehrpflichtigen aus Westdeutschland anvertraue. Sie sehen: keine Fixierung auf die Vergangenheit, sondern wir halten uns an die Gegenwart und an die Zukunft. ({2}) Deswegen noch einmal: Wenn Sie sich mit der PDS zusammentun, die keine Neugründung ist und die niemals den Abstand zur SED gefunden hat, ({3}) dann ist das etwas, was von uns kritisiert wird. Ich glaube, daß gerade diejenigen in Ihren Reihen, die sich um die Neugründung der SPD besondere Verdienste erworben haben und die mit den Leuten zusammengearbeitet haben, die im Widerstand standen, große Bauchschmerzen haben. Lassen Sie uns darin übereinstimmen, all denen eine Chance zu geben, die sich von der Vergangenheit lösen wollen und die mit uns in Gegenwart und Zukunft zusammenarbeiten wollen. Das genau ist bei der PDS nicht erkennbar, aber bei vielen, die in der Vergangenheit in der DDR häufig deshalb einen anderen Weg gegangen sind, weil sie gar keine anderen Möglichkeiten hatten. Ich glaube, das ist in diesem Zusammenhang die richtige Aussage. Das zweite. - Ich kann keine wirkliche verteidigungspolitische Debatte führen, sondern nur einige wenige Bemerkungen machen. - Wir haben in den letzten beiden Jahren die konzeptionellen Grundlagen für die künftigen Aufgaben unserer Streitkräfte, für die künftige Struktur der Bundeswehr, für den Personalumfang und für ihre Ausrüstung geschaffen. Zugleich - das ist vielleicht das Wichtigste - ist schrittweise ein breiter Konsens für den Einsatz unserer Soldaten herangereift. Ich freue mich über das, was eigentlich aus dem ganzen Deutschen Bundestag an Lob über unsere Soldaten gesagt worden ist. Sie haben das wirklich verdient. ({4}) Dieser Konsens, Herr Kollege Verheugen, ist ein hohes Gut. Wir tun gut daran, damit verantwortungsvoll umzugehen. Ich werde das tun und auch für zukünftige Entscheidungen den Konsens suchen. Die Zeit des Grundsatzstreits ist vorbei. Nach IFOR gibt es eine Verantwortung. Das zeichnet sich ab. Ich werde zu gegebener Zeit für die Bundesregierung einen Vorschlag machen. Wir brauchen ein klares Mandat. Nach meiner festen Überzeugung brauchen wir auch eine zeitliche Begrenzung. Ich persönlich bin der Meinung, daß es eine gute Entscheidungsgrundlage für die Zukunft wäre, eine sich bietende Chance für eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit, etwa mit Teilen der deutsch-französischen Brigade, zu nutzen; zum Beispiel könnten deutsche und französische Soldaten an demselben Ort in Bosnien und in derselben Form zusammenarbeiten. Darum geht es mir bei meinen Überlegungen, die wir in den nächsten Monaten miteinander austauschen werden. Herr Kollege Verheugen, Sie haben die Haushaltskürzungen im Etat beklagt. Das ist bei mir auf viel Sympathie gestoßen. Ihre finanzpolitische Sprecherin hat gestern gelobt, daß wir auf 1,8 Milliarden DM zu verzichten haben. Sie sehen, wie innerhalb einer Regierung, so gibt es natürlich auch in einer Fraktion unterschiedliche Akzente. Ich warne Sie aber davor, diese Tatsache schon als Regierungsfähigkeit anzusehen. ({5}) Natürlich stehen wir vor sehr schwierigen Entscheidungen. Aber ich habe Entscheidungen getroffen, während Sie sie in ihren Ausführungen noch offengelassen haben. Ich habe ganz eindeutig gesagt, daß es eine klare Grundregel gibt: Wir halten an der Struktur fest; es wird keine weiteren Eingriffe in die Struktur der Bundeswehr geben. ({6}) Das ist auch ganz wichtig für das Vertrauen der Soldaten in die Zukunft: keine Eingriffe in die Stationierung, keine Eingriffe in die Ausbildung, keine Eingriffe in den Übungsbetrieb. Meine Entscheidung ist ganz eindeutig, und mich würde interessieren, wie Sie das sehen: Das, was eingespart werden muß, muß bei den Beschaffungen eingespart werden. Einige Sachen müssen gestrichen werden, und andere Sachen müssen gestreckt werden. Darüber müssen wir uns unterhalten. Auch bei den Baumaßnahmen wird es Abstriche geben, wobei allerdings die entscheidenden Projekte im Osten geschont werden. Diese Entscheidung steht auf Grund der finanziellen Eingriffe. Ich würde mich freuen, wenn wir auch hierüber einen Konsens erzielen könnten. ({7}) - Darüber zu sprechen, werden wir im Laufe der Haushaltsberatungen noch Gelegenheit haben. Sie sehen ja im Haushaltsentwurf, wie knapp die Mittel sind. Aber ich hoffe, daß wir bis zur zweiten und dritten Lesung im November Klarheit haben werden. Für uns steht jedenfalls fest: Struktur und Umfang der Bundeswehr stehen nicht zur Diskussion. Ich hoffe, daß es auch darüber einen Konsens gibt. Das zweite: Die Wehrpflicht steht nicht zur Diskussion. Die Wehrpflicht in Deutschland ist nach unserer festen Überzeugung ein Kernfaktor für Stabilität in Europa. Auch hier würde ich mich freuen, wenn dieser Konsens halten würde; denn das ist ganz wichtig für die Bundeswehr. ({8}) Letztlich kommt es darauf an, daß wir uns fragen, was wir eigentlich in erster Linie von unseren Streitkräften erwarten. Da gibt es einige, die völlig fahrlässig davon gesprochen haben, es sei die Aufgabe der Bundeswehr, sich ständig in Somalia und anderswo aufzuhalten. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Die Kernaufgabe der deutschen Soldaten ist und bleibt es, hier in der Mitte Europas Stabilität zu schaffen. Deswegen ist die Kernaufgabe die Landes- und Bündnisverteidigung. Dabei bleibt es und das kann man am besten mit einer Mischung aus Berufssoldaten und Wehrpflichtigen erreichen, so wie es die erfolgreiche Formel der Bundeswehr in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat. ({9}) Nur eine Teilfähigkeit, nämlich bis zu 50 000 in allen Teilstreitkräften, bilden wir als überwiegend professionalisierte Einheiten für Einsätze aus, die darüber hinausgehen. Ich halte schon den Vorschlag für einigermaßen abenteuerlich, daß die gesamten deutschen Streitkräfte für eine solche Aufgabe jenseits des Bündniseinsatzes ausgebildet und vorbereitet werden sollten. ({10}) Das müssen diejenigen sehen, die die Wehrpflicht kritisieren und für die Berufsarmee eintreten. Bei den Grünen ist das ganz besonders verquer. Welche Aufgaben haben eigentlich die deutschen Streitkräfte? Ich sehe sie in der Mitte Europas für Stabilität sorgen. Wir haben keine Feinde mehr. Gott sei Dank. Aber die NATO ist ein Bündnis gegen Instabilität. Sie ist ein Bündnis gegen Gefahren, nicht gegen Feinde und Gegner. Die Hauptaufgabe der deutschen Streitkräfte ist es, in der Mitte Europas in der Landes- und Bündnisverteidigung für Stabilität zu sorgen. Dem entspricht die Struktur unserer Streitkräfte. ({11}) Das dritte, was nicht zur Diskussion steht, ist die Armee der Einheit. Auch hier werden wir planmäßig vorangehen, trotz aller Schwierigkeiten. Wir müssen natürlich bei wichtigen Großvorhaben strecken. Darüber werden wir im einzelnen bei den Haushaltsberatungen zu sprechen haben. Als letztes möchte ich sagen: Der Bundeskanzler hat in seinem Sommerinterview im August, und ich zitiere ihn, zu Recht gesagt: Wir sind so weit gegangen bei der Bundeswehr, daß auf gar keinen Fall jetzt noch mehr bei der Bundeswehr weggenommen werden kann, wenn sie ihre Funktion erhalten will. Ich glaube, daß ist ein Satz, den das ganze deutsche Parlament unterschreiben kann. So habe ich auch Ihren Redebeitrag, Herr Kollege Verheugen, als eine Unterstützung für diese Linie verstanden. ({12}) So wie wir die Bundeswehr im Augenblick im Einsatz, aber auch bei den in Deutschland wahrgenommenen Aufgaben erleben, hat sie verdient, daß sich das ganze deutsche Parlament hinter sie stellt. Das gilt für die Aufgaben, für den Einsatz und für die Finanzierung auf der Grundlage des Niveaus, das jetzt erreicht ist. Darum möchte ich Sie ganz herzlich bitten. Vielen Dank. ({13})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, da der Herr Bundesminister Rühe einen kritischen Hinweis zur Debattenstruktur gemacht hat, den ich meinerseits nicht bewerten kann, erlaube ich mir aber jedenfalls meinerseits den Hinweis, daß für die Struktur der Debatte nicht das Präsidium zuständig ist, nicht einmal der Ältestenrat, sondern die Fraktionen. Da ich allgemeinen Beifall registriert habe, gehe ich davon aus, daß die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Willibald Jacob, PDS.

Dr. Willibald Jacob (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002689, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin schon erstaunt, daß ich der einzige Abgeordnete sein soll, und dazu noch ein Abgeordneter der PDS, der etwas zum Thema Entwicklungspolitik sagt. Ich komme mir wie im Mai in Johannesburg in Südafrika vor, wo ich als einziger Bundestagsabgeordneter Teilnehmer der 9. Welthandels- und Entwicklungskonferenz der UN war. In indirekter Weise ist diese Tatsache auch eine Antwort auf die Frage, die der Kollege Thierse hier gestellt hat. Wenn sich die anderen äußern würden, wären vier Abgeordnete aus dem Westen darunter. Mir als jemandem aus der ehemaligen DDR fällt nun die Aufgabe zu, etwas anzusprechen, was sonst nicht angesprochen wird. Ich könnte versucht sein, Kirchenlehrer und Bischöfe zu zitieren, das fortzusetzen, was andere an dieser Stelle gesagt haben. Dies will ich aber nicht tun. Ich will darauf hinweisen, daß die PDS-AbgeordDr. Willibald Jacob neten, die hier anwesend sind bzw. waren, zum Teil nicht zur PDS gehören und sehr unterschiedliche Traditionen haben. Hier nenne ich zum Beispiel Heinrich von Einsiedel, Gerhard Zwerenz, Gerhard Jüttemann und mich selber; wie Sie wissen, bin ich evangelischer Pfarrer und Abgeordneter der PDS. Nun ordnen Sie uns einmal ein! Kommen Sie mit uns ins Gespräch, in das Gespräch, das Sie bisher möglicherweise nur als einzelne Person geführt haben! Wie gesagt, möchte ich nicht mit Zitaten von hervorragenden Christen beginnen. Ich möchte vielmehr darauf hinweisen, daß ich im August in meinem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern drei indische Gäste hatte. Wir diskutierten in kleinen und größeren Gruppen über Armutsbekämpfung und Wirtschaftsberatung. Damit waren wir sinngemäß bei den Hauptthemen des Einzelplanes 23. Am 29. August saßen diese Gäste auf der Tribüne dieses Parlamentes. Ein Fazit der Gäste: Es ist schon erstaunlich, wie ein reiches Land seine Wirtschaft und sein soziales Leben ruiniert. Überall in der Welt aber stellt es Anderen Bedingungen und erscheint als Lehrmeister einer angeblich neuen Perspektive. Meine Damen und Herren, die Kürzungen und die Stoßrichtungen des Einzelplanes 23 zeigen, daß diese Regierung eigentlich nicht mehr weiß, was Entwicklung und Hilfe zur Entwicklung heißt. Versprechungen werden nicht eingehalten; ich erinnere an die 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe. Die Kürzung des Militärhaushaltes und des Einzelplanes 60, aus dem auch Militäreinsätze finanziert werden, würde eine Erhöhung der Entwicklungshilfe ermöglichen. Wenn wir genau hinschauen, wird klar, daß die Entwicklungshilfe längst weit stärker gekürzt worden ist, als es in Zahlen erkennbar ist. Wir werden doch nicht im Ernst sagen können, daß die Wirtschaftsberatung in Osteuropa und die Subventionierung von deutschen Privatunternehmen im Süden eine solche Hilfe darstellen. Das Gegenteil ist der Fall: Heutige Wirtschaftsberatung ist eine wesentliche Voraussetzung zur Polarisierung von Gesellschaften. Verarmung und Bereicherung setzen sich durch, und zwar erst nach erfolgter Beratung. Wo sozialökonomische Konditionalität und wo höhere Preise für Grundnahrungsmittel vom IWF durchgesetzt werden, kommt es zu Hungeraufständen und Bürgerkriegen wie jüngst in der alten Kreuzfahrerstadt Kerak in Jordanien. Auch der neue algerische Bürgerkrieg hat darin seine Ursachen. Wir sollten das nicht vergessen. Die Bundesregierung schweigt zu diesen üblen Praktiken des Weltwährungsfonds und finanziert sogenannte Wirtschaftsberatung. Meine Damen und Herren, was bleibt an Armutsbekämpfung? Was ist dies überhaupt? Im Zweiten Bericht der Bundesregierung des Jahres 1995 über Armutsbekämpfung in der Dritten Welt ist es nur die Evangelische Zentralstelle für Entwicklungshilfe, die vom Aufbau und Unterhalt von Schulen spricht. Es kommt aus der Mode, zu sehen, daß Entwicklung auch Bildung heißt. In aller Welt verweigern Regierungen den Menschen einen angemessen Wissensstand, wundern sich aber, daß das unkontrollierte Wachstum der Völker weitergeht. Man kann nicht beides haben: gehorsame Knechte und Mägde und wissende Eltern. Burundi ist das beste Beispiel. Dort scheitert die Christenheit an ihrer eigenen Bildungsrevolution. Die als Soldaten und Mörder ausgebildete Jugend ist die Ultima ratio. Ein Fidel Castro ist weit und breit nicht zu sehen; aber Hunderttausende werden abgeschlachtet. Die ehemaligen oder modernen Kolonialherren werden ihren Kopf nicht aus der Schlinge ziehen können, weder mit sogenannter Wirtschaftsberatung noch mit sogenannter Armutsbekämpfung. Die Verweigerung von Bildung und Brot führt zu Kriegen. Die PDS lehnt daher den Einzelplan 23 ab. In seinen Zahlen und Intentionen dient er nicht der Armutsbekämpfung. Wir warten auf den Moment, in dem die Entwicklungshilfe als Wiedergutmachung und Schuldenerlaß verstanden wird. Dies würde ein neues Licht auf die Art und Weise der Aufarbeitung deutscher Geschichte werfen - die Geschichte des sogenannten Exportweltmeisters. An der Aufarbeitung dieser 40 Jahre könnten sich dann auch einmal Politiker und Ökonomen, Bürger und Bürgerinnen der alten Bundesrepublik beteiligen. Danke sehr. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat Herr Bundesminister Carl-Dieter Spranger.

Carl Dieter Spranger (Minister:in)

Politiker ID: 11002205

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zwei Bemerkungen zu meinem Vorredner. Ich frage mich, woher der PDS-Abgeordnete die Legitimation nimmt, die Entwicklungspolitik der Bundesregierung in dieser Form zu kritisieren. ({0}) Von der ganzen, von Ihnen so bezeichneten internationalen Zusammenarbeit der früheren SED haben wir 1990 gerade 64 Projekte als sinnvoll identifiziert und abgewickelt. Die Bundesrepublik Deutschland finanziert und unterstützt heute allein bilateral zirka 3 000 Projekte in allen Teilen der Welt. Das zeigt den riesigen Unterschied zwischen der Entwicklungspolitik der SED und dem, was die Bundesrepublik Deutschland damals und heute gemacht hat. ({1}) Herr Jacob, wenn wir diese riesigen Erblasten, die das SED-Regime in 40 Jahren verursacht hat, nicht hätten übernehmen müssen, dann könnten wir sehr viel mehr Milliarden hier im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit einsetzen. Wir alle können davon nur träumen. Das Ziel der ODAQuote von 0,7 Prozent wäre mit diesen Milliarden, die wir heute für den Wiederaufbau ehemaliger soBundesminister Carl-Dieter Spranger zialistischer Staaten verwenden, weit überschritten. Das ist die Problematik, vor der wir wirklich stehen. ({2}) Ansonsten sind Reden und Kommentare zur Entwicklungspolitik oft dadurch gekennzeichnet, daß sie Probleme in den Vordergrund stellen. Es sind immer wieder Katastrophenmeldungen, die man wahrnimmt. Von Bedrohungen ist die Rede, von globalen Gefahren und, wenn es um das Geld geht, immer wieder auch von Klagen, daß die Mittel nicht ausreichen. ({3}) Diese Aussagen mögen für sich genommen alle richtig sein. Sie sind aber in der Konzentration zu einseitig, und zwar zu einseitig negativ. Wir erweisen damit der Aufgabe, die wir alle gemeinsam voranbringen wollen, nicht immer einen guten Dienst. Kritik und Klage sind wenig motivierend, vor allem nicht für die Menschen in den Entwicklungsländern. Für manchen mögen sie auch Ausdruck von Hilflosigkeit sein. Das wäre schlimm. Es gibt - damit sollten wir uns wieder stärker beschäftigen. - viel erfreulichere und hoffnungsvollere Kehrseiten. In vielen Ländern, in allen Regionen der Welt sind erhebliche Fortschritte und positive Entwicklungen zu verzeichnen. In Afrika gibt es eben nicht nur Somalia, Ruanda, Burundi oder Liberia. Wir sind beispielsweise Zeugen eines beeindruckenden Aufschwungs in Südafrika, wo gute Aussichten bestehen, daß sich dieses Land zu einem Zentrum von Stabilität und sozialem Fortschritt entwickelt. In zahlreichen kleineren Ländern mit viel schwierigeren Rahmenbedingungen erscheint Licht am Ende des Tunnels - ob in Benin, Mali, Ghana oder Malawi, wo demokratische Reformen erste Erfolge zeigen. Für ganz Afrika sagt die Weltbank für dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 3,8 Prozent voraus, das damit seit langer Zeit wieder über dem Bevölkerungsanstieg liegt und sich in einer Verbesserung des Lebensstandards äußern könnte. Oder nehmen wir Asien. Es gibt eine unendliche Zahl von Fakten, die ausweisen, daß die dynamischen Länder dort inzwischen zu Wachstumspolen und Motoren der Weltwirtschaft geworden sind. Auch die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa ist erfreulich. In manchen Staaten haben sich erstaunlich schnell marktwirtschaftliche Reformen und damit einhergehend eine Erweiterung der Freiheitsrechte der Bürger durchgesetzt. Polen, das Baltikum, Tschechien, Ungarn und Slowenien werden bald Anschluß an die westlichen Industrieländer gefunden haben. In den neuen unabhängigen Staaten und Ländern, die wie Albanien unter einer besonders menschenfeindlichen Ausformung kommunistischer Diktatur gelitten haben, wird es zwar langsamer gehen, aber auch dort sind schon deutliche Fortschritte erkennbar. Auch in Lateinamerika haben sich die Zeiten der Hyperinflation und der Mißwirtschaft geändert. Eine breite Welle der wirtschaftlichen Sanierung, der Privatisierung und der Deregulierung hat den Subkontinent erfaßt und gibt den Menschen neue Hoffnung. Selbst in der mit besonderen Entwicklungshemmnissen belasteten islamischen Welt wird die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen unaufhaltsam sein, wenn sich der Friedensprozeß zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn weiter konsolidiert. In allen diesen Regionen setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wichtige und in hohem Maße anerkannte Zeichen der Hoffnung und der Solidarität. Überall dort, wo positive Entwicklungen festzustellen sind, unterstützen wir die Eigenanstrengungen der Partnerländer. Deutsche Experten beraten bei der Einleitung von Reformen, oder wir leisten finanzielle Hilfe bei den notwendigen Investitionen. Ich möchte wegen der begrenzt mir zur Verfügung stehenden Zeit darauf verzichten, einzelne Beispiele zu nennen. Sie alle und die Entwicklungen beweisen jedenfalls, daß unsere Partner Erfolg haben und Erfolg haben können, wenn sie auf den Eckpfeilern unserer Entwicklungspolitik auch ihre Politik aufbauen: eine sozial ausgerichtete Marktwirtschaft, Freiheiten für den Bürger, Rechtssicherheit für alle. Die Erfolge beweisen auch die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit entwicklungspolitischer Zusammenarbeit bei klaren Zielsetzungen, wie unsere Politik sie hat. ({4}) Die entwicklungspolitische Konzeption der Bundesregierung, mit deren Neuakzentuierung wir nun schon eine fünfjährige Erfahrung haben, hat sich weltweit durchgesetzt. Sie findet Anerkennung im Bundestag und bei unseren Partnern in den Entwicklungsländern. Ihre Spuren finden sich inzwischen auch in den Konzepten der meisten multilateralen Finanzierungsinstitutionen. Die deutschen Nichtregierungsorganisationen, aber auch die Medien haben weit überwiegend eine positiv kritische und wohlwollende Haltung zur Entwicklungspolitik dieser Regierung gefunden. Dies ist, wenn man zurückblickt, sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Trotz der nominalen Kürzung des Entwicklungshaushalts wird an einigen Daten deutlich, daß die Bundesregierung der Entwicklungspolitik ihren bisherigen Stellenwert beläßt. Der Anteil am Gesamthaushalt bleibt mit 1,8 Prozent konstant. Wichtig ist, daß wir bei den Verpflichtungsermächtigungen auch in Zukunft Spielräume behalten. Natürlich hätten wir Entwicklungspolitiker uns mehr gewünscht. Aber der Bundesregierung wegen der Kürzungen im Einzelplan 23 Vorwürfe zu machen, wäre unredlich. Daß wir eisern sparen müssen, ist unabweisbar. Die OECD hat dies in der letzten Woche auf Grund neuester Analysen noch einmal bestätigt. In einer Blockadepolitik, die auch an nicht mehr finanzierbaren sozialen Besitzständen krampfBundesminister Carl-Dieter Spranger haft festhält und sich dem Erfordernis, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken, verschließt, liegt jedenfalls keine sinnvolle Alternative. Meine Damen und Herren, das wiedervereinte Deutschland hat seit 1990 trotz gewaltiger Erblasten, die der Sozialismus uns in den neuen Bundesländern hinterlassen hat, über 400 Milliarden DM für die Hilfe an das Ausland aufgebracht - 400 Milliarden DM! Davon entfällt der größte Teil, nämlich über 225 Milliarden DM, auf die Leistungen an Entwicklungsländer. Diese Zahl muß man sich einmal vor Augen halten, bevor man unsere Bereitschaft, internationale Verantwortung zu tragen, in Frage stellt. ({5}) Die Entwicklungspolitik hat ihren Anteil an der Konsolidierung des Bundeshaushaltes mitzutragen. Wer das kritisiert, muß vernünftige Vorschläge machen, woher die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit genommen werden sollen. Mein Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag, vor allem im AwZ, und im Haushaltsausschuß, ganz besonders den Damen und Herren Berichterstattern für Einzelplan 23, die die Notwendigkeit der Entwicklungszusammenarbeit anerkennen und sie konstruktiv auch in Zeiten der Knappheit der Mittel mitgestalten. Nur durch Sparsamkeit schaffen wir die Voraussetzungen für eine höhere Leistungsfähigkeit in der Zukunft. Mit dem knappen Geld, das uns zur Verfügung steht, leisten wir Beachtliches. Wir werden gezwungen sein, bei der Auswahl unserer Partner und der Festlegung der Förderprogramme noch strenger nach Erfolgskriterien zu verfahren. ({6}) Mit dieser Konzeption, die wir seit 1990 beharrlich umsetzen, werden wir auch in der Zukunft in der Lage sein, unserer internationalen Verantwortung zu genügen. Unsere Entwicklungszusammenarbeit ist ein Aushängeschild der deutschen auswärtigen Beziehungen. Sie hat eine unangefochtene Rolle für die Sicherung unserer Zukunft. Entwicklungspolitik wird - da bin ich sicher - langfristig weiter an Bedeutung gewinnen. ({7}) Dies wird sich bei günstigeren finanzpolitischen Rahmenbedingungen auch sicher wieder in Steigerungsraten im Haushalt niederschlagen, vor allem wenn uns der Deutsche Bundestag und die Koalitionsfraktionen so wie bisher dabei unterstützen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir haben jetzt zwei Kurzinterventionen; zunächst die Abgeordnete Dr. Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, was Sie in Ihrem Redebeitrag diesem Haus vorgetragen haben, hat mich zu dieser Kurzintervention provoziert; denn Sie behaupten, Entwicklungspolitik behält ihren Stellenwert. Wie können Sie dieses sagen, wenn die Entwicklungshilfe stärker gekürzt wird als der Bundeshaushalt insgesamt, nämlich um 4,2 Prozent gegenüber 2,5 Prozent? Sie haben in Ihrer Rede betont, daß Sie die Nichtregierungsorganisationen, die nichtstaatlichen Träger, weiterhin unterstützen wollen und daß dies sehr wichtig ist. Sie haben aber verschwiegen, daß Sie entgegen Ihrer Zusagen bei der Gründung von VENRO, dem entwicklungspolitischen Dachverband, den Titel für Nichtregierungsorganisationen gekürzt haben, obwohl Sie damals zugesagt haben, daß bis zum Jahr 2000 dieser Titel um 10 Prozent steigen wird. ({0}) Ich meine schon, daß wir alle eine Verantwortung tragen, diesen Haushalt zu konsolidieren. Aber wenn man die Dimension der Probleme in dem Nord-SüdVerhältnis sieht, dann können wir es nicht mittragen, daß der Entwicklungshilfeetat stärker gekürzt wird als die anderen Etats. Ich meine, Sie haben die Chance verpaßt, den Spardruck zu nutzen, um die Entwicklungszusammenarbeit zu reformieren. Diese Chance hätten Sie gehabt. Aber der vorgelegte Haushaltsentwurf läßt nicht erkennen, daß Sie zum Beispiel strukturelle Reformen vorhaben, zum Beispiel die Entwicklungszusammenarbeit als Querschnittsaufgabe in der Zukunft begreifen wollen, daß die Abteilungen aus den verschiedenen Ministerien zusammengeführt werden, damit sie in Ihrem Hause ressortieren. Man hätte die Instrumente reformieren können. Der vorgelegte Etat zeigt, daß Sie selbst Ihren eigenen aufgestellten Kriterien nicht genügen. Das betrifft zum Beispiel die Frage der Menschenrechte. Wir sehen in der Liste der größten Empfängerländer wiederum China, Indonesien und die Türkei. Wir können dies nicht hinnehmen. Ich hoffe, daß wir in dem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit darüber noch diskutieren werden. Faktisch hat sich die Bundesregierung von einer Entwicklungspolitik verabschiedet, die auch nur ansatzweise den neuen weltweiten Herausforderungen gerecht wird. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich gebe jetzt das Wort zur Kurzintervention dem Kollegen Werner Schuster. Dann, Herr Minister, können Sie im Zusammenhang antworten.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, ich teile Ihre Meinung, daß man über Entwicklungspolitik auch positiv berichten kann und soll. Ich habe aber nicht verstanden, warum das gleichbedeutend sein soll mit einem Wahrnehmungsdefizit. De facto ist der Solleinsatz von 1997 auf der gleichen Höhe wie 1991. Im vergangenen Jahr habe ich bei meiner Haushaltsrede darauf hingewiesen: Wenn das so weitergeht, können Sie sich ausrechnen, wann der BMZ-Haushalt bei Null ist. Das können weder Sie noch wir wünschen. Warum setzen Sie falsche Prioritäten? Frau Eid hat darauf hingewiesen. Sie fördern nach wie vor Länder, die die fünf Kriterien, die Sie selbst aufgestellt haben, nicht erfüllen. Gleichzeitig kürzen Sie aber dramatisch im Bereich Subsahara oder bei den Least Developed Countries. Was gilt Ihr Wort in der NGOSzene eigentlich noch, wenn Sie verbindliche Zusagen machen und diese dann zurücknehmen müssen? Herr Minister, wer soll denn für uns Entwicklungspolitiker in Deutschland für mehr Bedeutung der Entwicklungspolitik werben, wenn nicht die NGOs? Wann werden Sie endlich verstehen, daß die NGOs Lobbyarbeit zugunsten der einen Welt machen und deswegen auch entsprechend gefördert werden müssen? Der letzte Punkt, Herr Minister: Ich kann Frau Eid nur unterstützen. Sie haben die Chancen für eine Reform schlicht nicht genutzt. Beim 10. Entwicklungspolitischen Bericht, Herr Pinger, habe ich namens der SPD ein paar Forderungen aufgestellt. Nichts davon ist bis jetzt erfüllt worden. Das BMZ hat an Kompetenz nicht gewonnen. Sie hätten im Kabinett darüber verhandeln und sagen können: Gut, ich akzeptiere Mittelkürzungen; dafür bekomme ich aber in manchen Bereichen mehr Kompetenz, so daß mein Ministerium zu einem Querschnittsministerium wird. Sie haben die Umstrukturierung im BMZ nicht in einer Form vorangetrieben, wie das notwendig wäre. Sie haben es auch nicht verstanden, die TZ und die FZ vor Ort in einer Form zu koordinieren, wie das seit langem vom AWZ gefordert wird. Es ist immer noch die Ausnahme und nicht die Regel. Unser Haushaltsplan orientiert sich an den Strukturmerkmalen FZ und TZ und nicht an den viel wichtigeren Strukturmerkmalen der Entwicklungsländer. Von der SPD bekommen Sie in Zukunft nur Unterstützung, wenn Sie als Minister sich reformwillig zeigen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister Spranger, ich wollte Ihnen eben nur das Zeichen geben, vom Abgeordnetenplatz aus zu sprechen. Aber nun stehen Sie schon an der Regierungsbank. Bitte schön.

Carl Dieter Spranger (Minister:in)

Politiker ID: 11002205

Kann ich von hier aus antworten?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es ist so, daß normalerweise nicht von der Regierungsbank aus geantwortet werden soll. Aber jetzt machen wir das so. Bitte.

Carl Dieter Spranger (Minister:in)

Politiker ID: 11002205

Es wäre schön gewesen, wenn beide Fraktionen, die Grünen und die SPD, Redner zum Thema Entwicklungspolitik aufgeboten und sich diesem Thema stärker gewidmet hätten als nur mit Kurzinterventionen. ({0}) Daß der PDS-Redner der einzige war, der außer mir zum Thema Entwicklungspolitik gesprochen hat, finde ich bemerkenswert. Das liegt wohl auf der Linie dessen, Herr Schuster, was Ihr Fraktionsvorsitzender im Jahre 1994 gefordert hat. Er hat damals die Auflösung des Ministeriums gefordert. ({1}) Damit hat Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Scharping, einen deutlichen Beweis für den Stellenwert geliefert, der in Ihrer Fraktion der Entwicklungspolitik beigemessen wird. Ich wäre an Ihrer Stelle sehr vorsichtig, den Stellenwert, den die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen der Entwicklungspolitik einräumen, seitens der SPD in Frage zu stellen. Zum zweiten. Die Zahlenspielereien, die Sie vorgetragen haben, lassen sich durch nichts belegen. Tatsache ist, liebe Frau Kollegin Eid, daß wir weniger sparen müssen als eine Reihe anderer Ressorts. Wir sind, meine ich, mit einem Minus von 1,2 Prozent sehr gut weggekommen. ({2}) Ich denke dabei an die Diskussionen, die andere Kollegen hier zu führen und durchzustehen hatten, wobei die beiden anderen Fraktionen auch gefordert haben, man müsse bei diesen Ressorts zulegen. Diese Kollegen hätten ebenso wie ich eine Erhöhung der für ihre Ressorts vorgesehenen Mittel gewünscht, aber auch da fehlen die Alternativen. Nur eine Zahl noch, Herr Kollege Schuster: Vor der Herstellung der Einheit Deutschlands haben wir in der Bundesrepublik Deutschland etwa 7,2 Milliarden DM jährlich für Entwicklungspolitik ausgegeben. Jetzt sind es 7,8 Milliarden DM jährlich, also trotz der Lasten, die wir zu übernehmen haben, 600 Millionen DM mehr. ({3}) Drittens. Frau Kollegin Eid, über die Schwerpunkte, die Kriterien oder die Strukturen, über das, was wir im Einzelfall machen, haben wir immer ausführlich diskutiert, und dabei sind wir auch in einem hohen Maße zu Übereinstimmung gekommen. Ich bin gern bereit, so wie in der Vergangenheit in Einzelfällen darüber mit Ihnen zu debattieren. Ich wäre froh, wenn wir das ausführlicher im Bundestag tun könnten, statt hier sozusagen von Pult zu Pult zu sprechen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht VOL Es ist vereinbart, den Antrag der Fraktion der SPD zur Einkommensteuerreform zum 1. Januar 1998 auf Drucksache 13/5510 - das ist der Zusatzpunkt 1 c - wieder von der Tagesordnung abzusetzen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 2 a bis 2j sowie die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf: 2. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 8. September 1976 über die Ausstellung mehrsprachiger Auszüge aus Personenstandsbüchern - Drucksache 13/4995 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Naturkautschuk-Übereinkommen von 1995 - Drucksache 13/5019 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. November 1994 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die gemeinsame Staatsgrenze - Drucksache 13/5020 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. Juli 1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über den Zusammenschluß der deutschen Autobahn A 6 und der tschechischen Autobahn D 5 an der gemeinsamen Staatsgrenze durch Errichtung einer Grenzbrücke - Drucksache 13/5049 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Jahressteuergesetzes ({1}) 1997 - Drucksache 13/5359 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({2}) Sportausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Altschuldenhilfen für Kommunale Wohnungsunternehmen, Wohnungsgenossenschaften und private Vermieter in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet ({3}) - Drucksache 13/5417 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({4}) Rechtsausschuß Haushaltsausschuß g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje Hermenau, Kristin Heyne, Oswald Metzger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mögliche zweckwidrige Verwendung von Steuergeldern durch die Förderung eines Berufsbildungsprojektes in Montevideo ({5}) - Drucksache 13/5008 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({6}) Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim, Ernst Bahr, Christel Deichmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Milchquotenregelung in den neuen Ländern - Drucksache 13/4905 - Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung in die Veräußerung eines Grundstücks in Berlin-Mitte - Drucksache 13/5039 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer j) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({7}) gemäß § 56a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Umwelttechnik und wirtschaftliche Entwicklung - Drucksache 13/5050 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({9}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesjagdgesetzes und des Waffengesetzes - Drucksache 13/5493 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({10}) Innenausschuß Rechtsausschuß b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer - Drucksache 13/5504 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({11}) Sportausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu den Tagespunkten 3 a bis 3 c und 3 e sowie Zusatzpunkt 2. Dabei handelt es sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 14. Juli 1994 zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Ukraine andererseits - Drucksache 13/4174 - ({12}) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({13}) - Drucksache 13/5031 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Frhr. von Schorlemer Karsten D. Voigt ({14}) Gerd Poppe Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/5031, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 b auf: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 9. Februar 1995 zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten einerseits und Kirgisistan andererseits - Drucksache 13/4173 - ({15}) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({16}) - Drucksache 13/5032 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Frhr. von Schorlemer Karsten D. Voigt ({17}) Gerd Poppe Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/5032, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 c auf: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 6. März 1995 zwischen den Europäischen GeVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer meinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten einerseits und Weißrußland andererseits - Drucksache 13/4172 - ({18}) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({19}) - Drucksache 13/5033 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Frhr. von Schorlemer Karsten D. Voigt ({20}) Gerd Poppe Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 13/5033, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 e auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({21}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht über die Mißbrauchsbekämpfung und Anpassung von öffentlichen Leistungen an veränderte Rahmenbedingungen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschrittsbericht über die Mißbrauchsbekämpfung und Anpassung öffentlicher Leistungen an veränderte Rahmenbedingungen - Drucksachen 12/8246, 13/725 Nr. 63, 13/3412, 13/3930 Nr. 1, 13/5294 Berichterstattung: Abgeordnete Heinz-Georg Seiffert Lydia Westrich Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache ({22}) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({23}) zu der Verordnung der Bundesregierung Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Einführung des Europäischen Abfallkatalogs ({24}) - Drucksachen 13/5416, 13/5520 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Marion Caspers-Merk Dr. Liesel Hartenstein Dr. Jürgen Rochlitz Birgit Homburger Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Das sind die Einzelpläne 06, 33 und 36. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister Manfred Kanther.

Manfred Kanther (Minister:in)

Politiker ID: 11002694

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Im Vordergrund der innenpolitischen Anstrengungen muß der Kampf um die innere Sicherheit stehen - so ist es auch richtig bezeichnet -, der Kampf gegen Verbrechen und Rechtsbruch in unserem Lande - eine wichtige Aufgabe für Bund und Länder. Nach der geltenden Gewaltenteilung liegt beim Bund im wesentlichen die Rechtsetzungsbefugnis, während die Länder im Bereich der inneren Sicherheit mit Polizei und Justiz die Gesetze ausführen. Es ist enorm, was die Koalition zur Mitte der Legislaturperiode insoweit vorweisen kann. ({0}) Wir haben mit den Entwürfen zur Bekämpfung der Korruption, zur Verschärfung des Ausländerrechts gegenüber schwerkriminellen Ausländern, mit dem Bundeskriminalamtsgesetz, mit der Einigung in der Koalition zum Thema Abhören von Gangsterwohnungen, mit der Vorlage einer erneuten Geldwäschegesetzgebung in allen wichtigen Punkten die Schularbeiten, die wir uns vorgenommen haben, gemacht. ({1}) Wir zeigen damit, daß leider der Kampf gegen das Verbrechen eine Aufgabe ist, die immer wieder angepackt werden muß. Hier wird kein Ruhezustand erreicht. Das ist ein Prozeß. Hier richten sich die Antworten des Staates nach sich ständig ändernden Gefährdungssituationen. Wir zeigen zum Beispiel mit der revidierten Geldwäschegesetzgebung, daß wir, wenn ein Ansatz, den wir zunächst gewählt haben, nicht ausreicht, in der Lage sind, ihn zu verbessern. Ich halte das im Bereich der Strafrechtspflege und dort, wo der Staat in das Leben der Bürger streng eingreift, für eine wichtige Beobachtung. Wir werden auch in Zukunft beobachten müssen, ob Maßnahmen, die wir für nötig erachtet haben, greifen oder ob wir sie verändern müssen. Das Lernen durch Anwendung ist gerade in dem Bereich der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, wo wir viele neue Phänomene vor uns haben, die wir vor wenigen Jahren noch nicht kannten, eine Voraussetzung unserer Arbeit. Hinzu kommt, daß wir mit dem Aufbau des Schengener Informationssystems - Thema Außengrenzsicherheit - und mit dem Abschluß der Verhandlungen zu Europol im internationalen Bereich zwei wichtige Voraussetzungen für eine verbesserte Verbrechensbekämpfung gelegt haben. Die Arbeit erschöpft sich nicht im parlamentarischen Bereich; es ist wichtig, darauf hinzuweisen. So wie die Bundesländer die neu geschaffenen oder demnächst vom Parlament zu behandelnden Gesetze und Entwürfe umsetzen müssen, müssen natürlich auch wir selbst unsere Sicherheitspolitik dort umsetzen, wo uns die Polizeiaufgaben aufgetragen sind. Dies ist in allen Fragen des BKA und augenblicklich im besonderen Maße im Zusammenhang mit dem Bundesgrenzschutz der Fall. Die Verbesserung der Arbeit des Bundesgrenzschutzes ist eine wichtige Aufgabe. Das dafür notwendige Grundkonzept ist dem Ausschuß vorgestellt worden. Es muß um ein Standortekonzept ergänzt werden, das die nächste Arbeitsphase darstellt und das sicher Schwierigkeiten mit sich bringt. Wir alle kennen die Debatte unter den Aspekten der Bundeswehr oder des Zolls. Die Standortfrage ist naturgemäß, weil sie immer sehr persönliche Fragen der Betroffenen aufwirft, eine schwierige. Aber niemand von uns kann der Bundespolizei die einfache Erkenntnis ersparen, daß die Grenzpolizei an die Grenze gehört und daß glücklicherweise die frühere Zonengrenze nicht mehr besteht, aber die Grenzpolizei mit ihren Standorten noch überwiegend an der vormaligen Zonengrenze beheimatet ist. Das kann so nicht bleiben. Wir werden uns daranmachen und das neue Bundesgrenzschutzkonzept, das die Aufgaben des Bundesgrenzschutzes bevorzugt in der Gewährleistung von Grenzsicherheit sieht - allerdings in einer ganz anderen Aufgabenstellung als vormals an der Zonengrenze - vorstellen. Dieses neue Konzept wird dann, so hoffe ich, eine allseitige Zustimmung finden können. Wir müssen es in Zusammenarbeit mit den Ländern ergänzen. Das ist sicher in manchen Punkten auch für die Länder neu. Wir brauchen den Sicherheitsschleier an den westlichen, an den Schengen-Innengrenzen. Ich denke, daß das Verfahren mit den Ländern in einem guten Stande ist. Bundesgrenzschutz und Landespolizei müssen den Grenzraum als eine neue kriminalpolizeiliche Herausforderung begreifen und dürfen ihre Aufgabe nicht mehr in der Bewachung einer Linie sehen. Es geht heute darum, den Grenzraum zu sichern, sowohl gegen illegale Immigration wie auch zum Beispiel gegen Rauschgifttransfer. Nach wie vor bereitet mir erhebliche Sorge, was an Rauschgift aller Art über die norddeutsche Landesgrenze aus Holland kommt. Daran muß sich viel ändern, auch in Zusammenarbeit mit unseren holländischen Nachbarn, deren Drogenpolitik uns Sorge bereitet, deren Drogenpolitik zu formulieren zwar nicht unsere Aufgabe ist, deren Auswirkungen von unserem Lande abzuwenden aber dringend notwendig ist. ({2}) Wir haben trotz knapper Mittel in allen öffentlichen Kassen erneut einen Aufwuchs der Haushaltsmittel im Bereich innere Sicherheit im Regierungsentwurf. Ich bin dankbar, wenn das Parlament das so passieren läßt. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang, was die Gewährleistung der inneren Sicherheit angeht, auf die Herausforderungen der Zeit einstellen, und dort gehen die Ansprüche leider nach oben. Aber wir können die innere Sicherheit in diesem Land gewährleisten, wenn wir es so anpacken, wie wir es getan haben. Gleichzeitig ist das ein wichtiger Erfolgsnachweis für diese Koalition, der ja nicht selten im Bereich der Innen-, Sicherheits- und Rechtspolitik besondere Schwierigkeiten oder Reibungsverluste nachgesagt werden. Nicht Reibungsverluste kennzeichnen das Klima, sondern eine an der Sache orientierte, intensive und natürlich auch manchmal streitige, aber fruchtbare Beratung. Deshalb sind diese Ergebnisse auch alle gemeinsam gewonnen worden, und weitere werden hinzutreten. Wir haben im Bereich der Politik, was Aussiedler und Ausländer angeht, wesentliche Veränderungen geschaffen, nicht nur das Ausländerrecht unter Aspekten der Ausweisung und Abschiebung schwer krimineller Ausländer geändert, sondern auch modernisiert unter solchen Aspekten, die der Integration oder der Erleichterung von Lebensverhältnissen dienen. Wir haben mit dem Wohnortezuweisungsgesetz die Kumulierung von Aussiedlern an manchen Plätzen der Republik verändert und steuern sie schon jetzt nach kurzer Zeit ersichtlich besser. Wir haben neue Konzepte in den Herkunftsländern, bevorzugt in Rußland, aufgelegt, um die Kenntnisse von Aussiedlern in der deutschen Sprache zu verbessern, ({3}) ein wesentlicher Aspekt für das Hereinkommen ins Land und die Integrierbarkeit dann hier, nicht zuletzt auf dem Arbeitsmarkt oder in Schulen. Wir haben vor dem Bundesverfassungsgericht das neue Asylrecht verteidigt. Es hat in vollem Umfang Bestand gefunden, ein wichtiger Aspekt des inneren Friedens in unserem Lande. ({4}) Allerdings: Mit etwa zehntausend Asylbewerbern jeden Monat, davon einer geringen Anerkennungsquote um zehn Prozent, ist die Arbeit noch nicht getan. Der Zustrom von nichtberechtigten Asylbewerbern ist bei weitem zu hoch, und deshalb müssen alle Anstrengungen, ihn einzudämmen, fortgesetzt werden. ({5}) Das gilt sowohl für die grenzpolizeilichen Anstrengungen als auch für die Notwendigkeit der Aufenthaltsbeendigung, und es gilt insbesondere auch für den wichtigen Zwischenaspekt: Die Länder müssen in stärkerem Maße dafür sorgen - und die Kommunen müssen das annehmen, was im Gesetz steht -, daß der Unterhalt für Asylbewerber nicht durch Barleistungen gewährt wird, sondern durch Naturalleistungen. ({6}) Barleistung für Asylbewerber bedeutet Refinanzierung von Schleppern, bedeutet Anziehung auch für kurze Zeit, um es zu versuchen, und das ist nicht unser Interesse. Unser Interesse ist - und das ist von niemandem bestritten -, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren, aber nicht, uns anschließend mit 90 Prozent Unberechtigten zu beschäftigen, wenn sie das Land wieder verlassen müssen und daraus Streßvorgänge für die deutsche Innenpolitik entstehen. ({7}) Wir haben eine wichtige Frage vor uns mit dem Beginn der Rückführung von bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Deutschland, die Deutschen haben eine ganz große Leistung erbracht, indem sie ungefähr 400 000 Personen aufgenommen haben, die aus dem früheren Jugoslawien hierhergekommen sind, sowohl aus der heutigen Bundesrepublik Jugoslawien als auch 320 000 Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina. Aber wenn der Bürgerkrieg glücklicherweise zu Ende ist und der Frieden hoffentlich dauerhaft gesichert ist, dann müssen Bürgerkriegsflüchtlinge auch zum Aufbau ihrer Heimat dorthin zurückkehren. ({8}) Es ist doch ganz selbstverständlich, daß dann, wenn der Präsident und der Flüchtlingsminister dieses Landes diese Forderung aufstellen, sie auch von uns zu Recht erhoben wird. Es ist im wesentlichen gelungen, dafür die Voraussetzungen, auch internationale Voraussetzungen, zum Beispiel Regelungen für den Transit oder Hilf s-programme der EU, zu schaffen. Ich bin deshalb sicher, daß die Innenminister bei ihrer nächsten Beratung am 19. September insoweit schrittweise weiterführende Beschlüsse vereinbaren können. Ich erwähne das ausdrücklich, weil sich eine vernünftige Innenpolitik nur in der Gemeinsamkeit von Bund und Ländern machen läßt. Wenn zu beobachten ist, daß in manchen Fragen eine gewisse Beruhigung eingetreten ist, dann stelle ich fest: Mir ist dies gerade recht. Aber dafür war notwendig, daß seitens des Bundes durch eine klare Haltung deutlich gemacht wurde, daß eine auf Ausländer, auf das Ausland und damit auch auf auswärtige Beziehungen bezogene Politik nur einheitlich und nur nach der Maßgabe der Bundespolitik ausgeführt werden kann. Es kann nicht jedes Land seine private Ausländerpolitik betreiben. Das geht nicht. ({9}) Ein dritter ganz wichtiger Bereich ist alles, was sich unter dem Thema „Schlanker Staat" zusammenfassen läßt. Hier ist eine mühsame Kleinarbeit an vielen Punkten erforderlich. Es geht um das Haushaltsrecht und um Globalisierungen vieler Art im Haushalt; es geht um die Zurückführung von Statistik, um den Abbau von Behörden; es geht auch um große Gesetzgebung, etwa um das Gesetz über Planungs- und Genehmigungsverfahren oder urn das zu beratende neue Baugesetzbuch des Kollegen Töpfer. Es geht um Kleines und Großes, und das täglich. Das alles ist Aufgabe der Verantwortlichen in jeder Behörde, und sei sie noch so klein. Ich glaube, daß sich die Pflicht dazu herumgesprochen hat. Das Stichwort „Schlanker Staat" hat einen erstaunlichen Drive bekommen und wird verstanden. Die Bundesregierung ist dabei, alles, was sie vermag, daranzusetzen, damit das Wort in unserem Bereich mit Leben erfüllt wird. Wenn man sich den Kalender „Schlanker Staat" mit mehr als hundert Einzelpositionen, kleinsten und großen, der in meinem Ministerium geführt wird, anschaut, dann kann man erkennen, wie es angepackt werden muß. Es reicht von der Neuordnung des Zivilschutzrechts, das dem Hause in Gesetzesform vorliegt und wo wir in den letzten vier Jahren allein auf Grund der bisher verwirklichten Schritte über i Milliarde DM eingespart haben, bis hin zur Delegation von Unterzeichnungsbefugnissen an nachgeordnete Behörden. So kommen wir langsam an die Sache heran. Zu diesem Thema gehört das Dienstrecht im öffentlichen Dienst. Die Novelle liegt jetzt noch im Bundesrat. ({10}) Das ist erstaunlich, denn in ihr wird auch einem Länderinteresse im Hinblick auf Kostensenkungen Rechnung getragen, vor allem auch im Versorgungsbereich. Ich habe die Hoffnung, daß mit den Bundesländern ein Einvernehmen über dieses Dienstrechtsgesetz erzielt werden kann - die letzten Gespräche deuten darauf hin - und daß wir dann im Vermittlungsausschuß ein vernünftiges Paket schnüren können. ({11}) - Der Bund ist bei den Personalausgaben mit etwa 12 Prozent betroffen. Deshalb handelt es sich hierbei um Dinge, die wir treuhänderisch in erster Linie für Länder und Kommunen anpacken. ({12}) Das gleiche gilt für den Versorgungsbericht, den ich in den nächsten zwei, drei Wochen vorstellen werde, wenn er fertig ist. Ich sage Ihnen: Mich bekommen Sie unter keinem denkbaren Gesichtspunkt dazu, eine Arbeit, die in unserer Republik zum erstenmal gemacht wird und die 40 Jahre in die Zukunft vorausgreift, unter das törichte Zeitdiktat eines Termins im September oder Oktober zu stellen. Das kommt überhaupt nicht in Frage. ({13}) Der Versorgungsbericht wird vorgelegt, wenn er fertig ist. Das wird demnächst der Fall sein. Er wird dann eine große gemeinsame Anstrengung zu Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst bei Bund und Ländern auslösen müssen. Es ist ganz wichtig, daß das dann auch als eine gemeinsame Aufgabe begriffen wird, daß der Bericht sachkundig und unter Beachtung unser aller Interessen an einem funktionierenden und motivierten öffentlichen Dienst behandelt wird und nicht als Strafexpedition gegen den öffentlichen Dienst verstanden wird. Das wäre völlig falsch. ({14}) Zu den wichtigen Fragen, die wir innovativ angepackt haben, gehören in einem Orchideenbereich des Ministeriums manche Probleme des Sports. Wir haben mit der Olympiade und den Paralympics in Atlanta ein erfolgreiches Sportjahr hinter uns gebracht. ({15}) Die Konzepte waren ersichtlich richtig. Aber es kommt immer die nächste große Herausforderung. Ich glaube, im Bereich der Nachwuchsförderung haben wir Nachholbedarf. Während wir andere Dinge wie das Olympiastützpunktkonzept neu geordnet haben - es wird Leben gewinnen in der Praxis -, liegt vor dem Deutschen Sportbund und uns als wohlmeinend Begleitenden, aber auch kritisch Fragenden nun eine wichtige Fragestellung zum Thema Nachwuchsförderung, Trainerkonzepte und ähnliches; denn wir wollen auch bei der nächsten Olympiade und bei vielen Wettkämpfen dazwischen wieder gut abschneiden. Meine Damen, meine Herren, ich habe Ihnen zur Mitte der Legislaturperiode ausgebreitet, wie vielfältig die Aufgaben der Innenpolitik waren und wie entschlossen sie angepackt worden sind. Genau in diesem Geiste werden wir in die zweite Hälfte der Legislaturperiode hineingehen und sie ebenso erfolgreich gestalten. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erste Bemerkung. Wenn man es ernst meint, beispielsweise in Dienstrechtsfragen mit den Bundesländern Einvernehmen zu erzielen, dann muß man sich um dieses Einvernehmen bemühen und darf die Bundesländer nicht vor vollendete Tatsachen stellen. ({0}) Zweite Bemerkung. Lieber Herr Kanther, Sie haben gesagt, daß Sie zu dem Thema innere Sicherheit Ihre Schulaufgaben gemacht haben. Dann kann ich nur sagen: Sie haben sie verdammt schlecht erledigt. ({1}) Ich sage auch, warum: Sie haben weder einen Gesetzentwurf im Bereich der Korruption ({2}) durch das Parlament noch beispielsweise das Thema BKA-Gesetz zu Ende gebracht. ({3}) Da gilt das gleiche, lieber Erwin Marschewski. Wenn man das Einvernehmen mit den Bundesländern braucht, dann muß man sich auch tatkräftig um dieses Einvernehmen bemühen. Das habt ihr bisher nicht getan. ({4}) Ich will ein weiteres Thema, das die innere Sicherheit betrifft, ansprechen: das Thema BGS - Bundesgrenzschutz. Sie haben im Haushalt seit 1992 in der Tat eine Menge draufgesattelt, von 1996 bis 1997 immerhin 4,19 Prozent, Frau Albowitz; Sie rechnen ja immer genau nach. ({5}) Ich meine, das hängt natürlich ganz wesentlich mit der neuen Aufgabe des Bundesgrenzschutzes zusammen, was beispielsweise die Themen Luftsicherheit und Sicherheit in und um Bahnhöfe anbelangt. Die Arbeit wird nun wesentlich im Einzeldienst gemacht, was auch richtig ist. Nur: Ein personalwirtschaftliches Konzept, das eigentlich schon lange hätte vorgelegt werden müssen, um auch ein Stück Sicherheit und Ruhe bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu bringen, fehlt bis zum heutigen Tag. ({6}) Der Kollege Graf hat mir berichtet, daß man, wenn man mit Dienstanfängern beim Bundesgrenzschutz redet, erfährt, daß ihnen doch sehr viel Skepsis mitgeteilt worden ist, was ihre zukünftige Übernahme anbelangt. Ich denke, dies ist nicht im Sinne einer qualitativen Erledigung der Arbeit beim Bundesgrenzschutz. ({7}) Sehr geehrter Herr Kanther, das, was Sie konzeptionell machen, ist in etwa mit dem Sprichwort zu fassen: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Ich nehme das, was Sie an der Westgrenze gemacht haben, einmal als Beispiel. Dort haben wir zur Zeit 252 Dienstposten, 750 sollen neu hinzukommen. Vorher waren es 780. Sie wurden auf 180 reduziert. Mit einer verantwortlichen Personalführung hat das in der Tat nichts zu tun. ({8}) Ob die Arbeit funktioniert, wird immer an bestimmten Beispielen deutlich. So können wir feststellen, daß die Kompetenzabgrenzung zwischen Länderpolizeien und Bundesgrenzschutz nach wie vor nicht gegeben ist. Ich kann Ihnen ein paar Vorgänge schildern. Dazu gehören zum Beispiel tödliche Unfälle auf der Schiene. Dabei darf nicht nebeneinanderher gearbeitet werden, sondern es muß miteinander in klarer Kompetenzabgrenzung gearbeitet werden. Nur so kann effektiv und sachgerecht polizeiliche Arbeit zukünftig erfolgen. ({9}) Ich nenne ein weiteres Beispiel. Ich denke, daß die Auftritte von Randalierern und Hooligans während des Länderspiels Polen gegen Deutschland ({10}) eine außerordentlich schändliche und schädliche Sache für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland waren. ({11}) An diesem Beispiel wird deutlich, wie Sicherheitsorgane zusammenarbeiten oder nicht zusammenarbeiten; ({12}) denn vor diesem Länderspiel lagen klare Erkenntnisse über die Reisetätigkeit dieser Personengruppe vor. Noch am Freitag vor diesem Länderspiel hatte das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen als Koordinierungsstelle die entsprechenden Behörden und Stellen informiert. Ich halte es schon für bemerkenswert, wenn der DFB-Pressesprecher nach dem Spiel sagt, es hätten alle gewußt, aber keiner habe etwas gemacht. ({13}) Das ist kein Kompliment für das Produzieren von Sicherheit. Ich gehe jetzt auf die Fragen ein, wer wo wie zuständig ist. Wenn sich bestätigen sollte, daß ein Teil dieser Hooligans sogar ohne gültige Reisepapiere nach Polen einreisen konnte, stellt sich in der Tat die Frage nach der Wirksamkeit unserer Grenzkontrollen allzu deutlich. Lieber Wolfgang Zeitlmann, ich sage das, weil es mir sehr ernst ist und es mich betroffen macht, daß ausgerechnet rund 30 Kilometer von Auschwitz entfernt diese nationalsozialistischen Gesten und Sprüche gemacht worden sind, dort, wo eines der finstersten Kapitel deutscher Geschichte geschrieben wurde. Ich hoffe, daß wir uns alle darin einig sind, daß sich so etwas nie wieder in unserem Land wiederholen darf. ({14}) Was das Thema innere Sicherheit anbelangt, so sind wir hoffentlich auch alle einer Meinung, daß die organisierte Kriminalität die derzeitige Herausforderung Nummer eins ist. Unrechtmäßig erworbenes Geld wird offensichtlich in Milliardenhöhe von international operierenden Verbrecherbanden zielstrebig und rücksichtslos in den Wirtschaftskreislauf eingeschleust. Durch diese sogenannte Geldwäsche wird unrechtmäßig erworbenes Geld legalisiert. Alle Praktiker, die sich mit Ihrem Geldwäschegesetz beschäftigt haben, sagen, daß es in der Praxis wirkungslos bleibt. ({15}) Geld ist die Triebfeder und die Achillesferse der organisierten Kriminalität. Wer das organisierte Verbrechen wirksam bekämpfen will, muß hier ansetzen. Der Zugriff auf kriminelle Gelder und Vermögen muß erleichtert werden, wie es in den USA und Italien heute schon praktiziert wird. Ich bin der Auffassung, mit den herkömmlichen Mitteln unseres Polizei- und Strafrechts kann keine erfolgreiche Bekämpfung des organisierten Verbrechens erfolgen. Sie sind hier am Zuge, in der Koalition endlich einig zu werden. Wir sind der Auffassung: Wir brauchen für die Einziehung krimineller Gelder und Vermögen außerhalb des Strafrechts ein Verwaltungsverfahren, und zwar, Frau Albowitz, mit einer Beweislastumkehr. ({16}) Ich begrüße ausdrücklich, daß es offensichtlich auch im Bereich der CDU einige nachdenkliche Leute gibt, die das so ähnlich sehen. ({17}) - Danke schön, Herr Koschyk. ({18}) Wir sind jedenfalls der Auffassung, daß wir nicht Dreh- und Angelpunkt der organisierten Kriminalität, nicht Dreh- und Angelpunkt für das organisierte Verbrechen in Europa werden dürfen. Ich sage ganz offen: Wir brauchen einen Reparaturbetrieb. Wir brauchen funktionierende Sicherheitsorgane. Aber das darf nicht alles sein. Wir müssen auch an die Ursachen herangehen. Wir müssen uns fragen: Woher kommt es, daß plötzlich Korruption an der Tagesordnung ist oder organisierte Kriminalität um sich greift oder Gewalt an den Schulen nichts Außergewöhnliches mehr ist? Aber wir dürfen nicht tatenlos hinschauen. Man braucht sich doch nicht zu wundern, wenn man auf der einen Seite beispielsweise die absolute Liberalisierung des MedienFritz Rudolf Körper markts fordert, dann aber gleichzeitig mit Krokodilstränen den Einfluß der Medien auf das von Gewalt geprägte Verhalten von Kindern in Schulen und Kindergärten beklagt. ({19}) Deswegen müssen wir in eine ernsthafte Diskussion eintreten, die ein Stück auch wieder an die Wurzeln des inneren Friedens unserer Gesellschaft herangeht. Meine Damen und Herren - Herr Koschyk, ich spreche jetzt ausdrücklich auch Sie an, weil wir vorhin darüber geredet haben -, ich kann Ihnen auch nicht ersparen, noch einmal auf den Vorfall des vergangenen Sonntags anläßlich der Rede des Bundespräsidenten einzugehen. Oskar Lafontaine hat heute nach meinem Dafürhalten das Wichtige und Richtige gesagt. Was die Frage des deutsch-tschechischen Verhältnisses anbelangt - da ist es mir mit einem Hinweis an Sie noch einmal sehr ernst, Herr Koschyk -, sollte das Junktim zwischen den sudetendeutschen Entschädigungsforderungen und einer Entschädigung der tschechischen NS-Opfer aufgegeben werden, damit wir endlich zu dieser Erklärung kommen. ({20}) Wir brauchen nämlich ein gutnachbarliches Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen als eine der wichtigsten Grundlagen für das Zusammenwachsen in Europa. ({21}) Was mich so bewegt: Man kann den Zwischenruf als Einzelmeinung abtun. Der Bundespräsident hat nach meinem Dafürhalten sehr souverän geantwortet. Aber dann meint ein Verbandsfunktionär wie der thüringische Vorsitzende des Vertriebenenverbandes, dies noch kommentieren zu müssen. Er hat in Interviews beispielsweise gesagt, daß die Oder-NeißeGrenze als deutsche Ostgrenze ein Unrecht bliebe. Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, das ist eine Politik der Ewiggestrigen, und die können wir in unserem Land nicht zulassen. ({22}) Ich sage ganz deutlich: Wir sind nicht bereit, beispielsweise die Offentlichkeitsarbeit solcher - ich nenne nicht alle und will auch nicht alle über einen Leisten schlagen - Verbandsfunktionäre noch mit öffentlichen Steuergeldern zu finanzieren. Das werden wir uns bei den Haushaltsberatungen genauestens ansehen und werden unsere Entscheidungen treffen. ({23}) Wir haben mit einem Entschließungsantrag in der Vergangenheit deutlich gemacht, daß die Kulturarbeit für die deutschen Minderheiten im östlichen Europa schon von ihrem Ansatz her in ein außenpolitisches Gesamtkonzept einer europäischen Friedenspolitik der Aussöhnung, der Verständigung und der Zusammenarbeit eingeordnet werden muß. Alles andere sollte nicht stattfinden. Das Kapitel 06 03 wird diese Diskussion noch einmal eröffnen. Meine Damen und Herren, Herr Innenminister Kanther ist sehr stark auf die Asylpolitik eingegangen. Er ist nach meinem Dafürhalten auf ein Thema nicht eingegangen, das vielfach und gem verdrängt wird, nämlich das Thema und die Probleme, die mit dem demographischen Wandel in unserer Gesellschaft verbunden sind. Es gibt hochinteressante Untersuchungen, wie unsere Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten überaltert. Die über 60jährigen haben heute einen Anteil von 26 Prozent. Er wird bis zum Jahr 2030 auf 36 Prozent zunehmen. In diesem Zeitraum sinkt der Anteil der jungen Menschen unter 20 Jahren auf sage und schreibe zirka 15 Prozent. Es gibt eine Schätzung, die besagt, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2050 auf zirka 50 Millionen Menschen abnehmen wird und dann noch mehr. Auf Grund dieser Faktenlage, meine Damen und Herren, glaube ich, müssen wir uns viel intensiver, als wir dies bisher getan haben, mit den Fragen der Zu- und Einwanderungspolitik beschäftigen. Es geht nicht darum, dies einfach von der Hand zu weisen, sondern darum, klare Ziele zu formulieren. Ich nenne erstens eine Steuerung einer geregelten Zuwanderung. Das heißt, Zulassung nach voraussehbaren rechtstaatlich bestimmten und gesetzlich festgelegten Kriterien ist notwendig. Sie sollen die demographischen, die arbeitsmarktpolitischen und die ökonomischen Aspekte berücksichtigen. Ich nenne zweitens die Erleichterung der Integration der sich bereits legal im Inland aufhaltenden Ausländer, drittens die Erhöhung der Transparenz und demokratische Kontrolle der Einwanderungsbedingungen, viertens Eindämmung der illegalen Zuwanderung und fünftens die Ergänzung der Einwanderungspolitik um eine staatsangehörigkeitsrechtliche Komponente wie erleichterte Einbürgerung unter Hinnahme doppelter Staatsangehörigkeit. Wir werden diesem Hohen Hause in den nächsten Wochen und Monaten einen entsprechenden Antrag vorlegen. Ich sage ganz deutlich: In der derzeitigen Situation kann es nicht darum gehen, Anreize für eine weitere Einwanderung zu schaffen, sondern es geht darum, die Folgen der Einwanderung, die heute faktisch stattfindet, vernünftig zu regeln. Wer nämlich seinen Platz in dieser Gesellschaft finden soll, benötigt innerhalb absehbarer Frist auch eine rechtlich abgesicherte Position. Deswegen sind wir der Auffassung, daß zukünftig eine sozial verträgliche Aufnahmequote festgelegt werden sollte. Eine Zuwanderungskommission sollte dies erledigen, insbesondere im Hinblick auf den demographischen Wandel und die sozialen Integrationsmöglichkeiten. Eine so orientierte Zu- und Einwanderungspolitik kann wesentlich zum sozialen Frieden in unserer Gesellschaft beitragen. Meine Damen und Herren, ein weiteres Beispiel für die Realitätsferne dieser Bundesregierung wird im gesamten Aussiedlerbereich deutlich. Herr Kollege Waffenschmidt, wir haben schon des öfteren darüber geredet. Als wir deutlich gemacht haben, daß ein Problem in der Konzentration besteht, daß 15 bis 20 Regionen überdurchschnittlichen Zuzug hatFritz Rudolf Körper ten und haben, hat man das lange Zeit von sich gewiesen. Jetzt haben wir ein Wohnortezuweisungsgesetz, und wir sind wohl alle der Meinung, daß dies funktioniert. ({24}) Aber wir haben ein zweites, ein neues und nach meinem Dafürhalten herausragendes Problem. Wir haben nämlich Aussiedlerinnen und Aussiedler in der sogenannten zweiten Generation, die kaum Sprachkenntnisse haben und die - das ist das Schlimme - nach dem sechsmonatigen Sprachkurs meist weiterhin keine Sprachkenntnisse haben. Uns kann doch nicht daran gelegen sein, daß wir einen solchen Zuzug von Aussiedlerinnen und Aussiedlern erleben mit der Folge, daß sie, wenn sie in Deutschland angekommen sind, zukünftig zu Randgruppen abgestempelt werden. Das kann nicht in unserem Sinne sein. ({25}) Was das Thema der Bürgerkriegsflüchtlinge anbelangt, so stimme ich mit Herrn Kanther überein, daß es eine großartige Leistung gewesen ist, daß wir zwischen 300 000 und 400 000 Menschen aufgenommen haben. Ich bin auch der Auffassung, daß die Rückkehr politisch gewollt sein muß und daß diese Frage nicht dazu geeignet ist, daß man sich in einen parteipolitischen Streit verstrickt. Wir sind der Auffassung: Wo eine Rückkehr auf Grund der wirtschaftlichen Bedingungen, der sozialen Infrastruktur und der Qualität der Beziehungen unter den ethnischen Gruppen in naher Zukunft möglich ist, sollte sie bald erfolgen und nicht erst im Frühjahr nächsten Jahres. Wo aber hingegen die elementaren Grundlagen einer menschenwürdigen Existenz fehlen, sollte in diesem Falle keinem die Rückkehr aufgezwungen werden. Herr Kanther, nach meinem Dafürhalten wäre es dringend notwendig, einmal festzustellen, aus welchen Regionen unsere Flüchtlinge kommen, um hier auch unter humanitären Gesichtspunkten die Rückkehr organisieren zu können. Wer aber die betroffenen Menschen einfach nach Bosnien zurückschicken will, ohne sich darum zu kümmern, was dort aus ihnen wird, legt nur den Keim für neue Konflikte. Wir müssen deswegen sehr sorgfältig und sehr sorgsam mit diesen Fragen der Rückkehr umgehen. Ich denke, daß auch die Innenministerkonferenz einen entsprechenden Beschluß fassen wird. Wir müssen den hier lebenden Flüchtlingen auch offen sagen, daß wir die Bereitschaft zur Rückkehr nicht davon abhängig machen können, ob sie wieder in ihrem Heimatort angesiedelt werden können. Wenn das nicht mehr möglich ist, muß den Betroffenen auch zugemutet werden, daß sie in einer anderen, aber sicheren Umgebung leben, zumal sie alle - das muß man den Betroffenen auch sagen - für den Wiederaufbau ihres Landes dringend benötigt werden. ({26}) Eine Bemerkung zu dem Thema Reform von Verwaltung und Dienstrecht, das auch von Herrn Kanther angesprochen worden ist. Wir sind weitgehend über bestimmte Prinzipien einig. Die Bundesregierung hat aber vieles in unverbindlichen Absichtserklärungen belassen. Der Hauptkritikpunkt ist, daß die Ministerialverwaltung des Bundes viel zu stark ausdifferenziert und hierarchisch organisiert ist. Die Organisation ist viel zu kleinteilig, so daß in den Ministerien viele nichtpolitische Aufgaben wahrgenommen werden. Man kann davon ausgehen, daß heute höchstens ein Drittel der ministeriellen Arbeit aus konzeptionell gestaltenden Aufgaben besteht. Hier müssen die Prinzipien eines modernen öffentlichen Managements ansetzen; hier muß im Grunde genommen auch eine Verwaltungsmodernisierung ansetzen. Ich mache eine letzte Bemerkung zu einem Thema, das Sie auch angesprochen haben, nämlich zu der Erstellung des Versorgungsberichts. Man kann darüber streiten, ob dies ein schwieriges Unterfangen ist. Aber der Bericht ist eine unerläßliche Vorlage für die Bewältigung des schwierigen Problems in bezug auf den gesamten Beamtenversorgungsbereich. Wir können es nicht zulassen, daß unsere öffentlichen Haushalte noch mehr in Bedrängnis geraten. Herr Kanther, all das, was in diesen Bereichen zu tun ist, muß und sollte auch im Einvernehmen mit den Ländern gemacht werden, deren Haushalte viel stärker von den Personalausgaben geprägt sind. Meine herzliche Bitte ist, daß dieses Einvernehmen im Vorfeld gesucht wird und den Ländern nicht - wie vielfach von Ihnen in bewährter Manier versucht - eine Regelung übergestülpt wird und der Schwarze Peter anderen zugeschoben wird. Das Betreiben dieses Schwarze-Peter-Spiels hilft uns nicht weiter. ({27}) - Das war auch Frau Simonis nicht. Ich bin der Auffassung: Bei all unserem politischen Handeln müssen wir die Zukunft im Auge behalten. Für mich gilt immer noch das Motto: Wer morgen in Frieden leben will, muß heute für Reformen sorgen. Dieses Wort gilt heute dringender denn je. Vielen Dank. ({28})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt der Kollege Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, CDU/CSU.

Dr. Klaus Dieter Uelhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002352, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst meinem sehr geschätzten Kollegen Körper sehr herzlich dafür danken, mit welch einem Engagement er sich für die innere Sicherheit eingesetzt hat. ({0}) Ich bin sehr zuversichtlich, daß die schwierigen Beratungen im Bundesrat zum Geldwäschegesetz, auch zum Antikorruptionsgesetz und BKA-Gesetz, dessen Entwurf bereits im Innenausschuß zur Beratung ansteht, mit der großen Unterstützung Ihrer Fraktion und der SPD-regierten Länder erfolgen werden. Ich bin auch ganz sicher, daß die wichtigen Maßnahmen für die innere Sicherheit im Bundeshaushaltsplan von der SPD voll mitgetragen werden. Herzlichen Dank für diese Klarstellung. Ich werde allerdings die Kolleginnen und Kollegen daran messen und daran erinnern. ({1}) Ein zweiter Punkt. Wenn ein ewiggestriger und unverbesserlicher Bursche - so kann ich es nur sagen - bei dem Vertriebenentag in Berlin einen unglaublichen Zwischenruf gemacht hat, dann sollte man sich sehr wohl hüten, diesen Zwischenruf zum Anlaß zu nehmen, eine gesamte demokratische Organisation dafür büßen zu lassen. ({2}) Ich möchte dem hier anwesenden Präsidenten des BdV, unserem Kollegen Wittmann, sehr herzlich dafür danken, daß er richtiggestellt hat, wie die Meinung des Bundes der Vertriebenen zu diesem Idioten ist. Herzlichen Dank, Herr Wittmann, für die Richtigstellung am Montag. ({3}) Der Etat des Innenministeriums im Bundeshaushalt in Höhe von 8,8 Milliarden DM steht auf dem Prüfstand. Das sind 3,4 Prozent weniger als im vergangenen Jahr. Damit paßt er sich in die gesamte Reduzierung der Staatsausgaben, wie wir sie im Bundeshaushaltsentwurf haben, ein. Einer Reduzierung von 2,5 Prozent im Bundeshaushalt stehen 3,4 Prozent im Etat des Innenministeriums gegenüber. Bei diesen 8,8 Milliarden DM sind immerhin 46 Prozent Personalausgaben, ein riesiges Problem für das Innenressort mit einem hohen Personalbestand. Ein besonderes Problem - wir alle wissen das - ist natürlich mit dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Nürnberg verbunden: 438 000 Asylbewerber im Jahre 1992, 127 000 im Jahre 1995. Die Verringerung dieser Zahl beweist die Richtigkeit des Asylkompromisses, doch eine geordnete staatliche Verwaltung kann darauf nicht ebensoschnell reagieren. Der Innenminister hat die schwierige Aufgabe, für einen sozial verträglichen Stellenabbau zu sorgen. Noch immer stehen etwa 840 Mitarbeiter anderen Behörden zur Verfügung. Ich will ausdrücklich anerkennen: Zehn Außenstellen werden bis zum Jahresende aufgelöst werden. Aber ich will auch die anderen Ressorts auffordern, dem Innenminister bei der anderweitigen Verwendung dieser Mitarbeiter mehr zu helfen, als dies in der Vergangenheit geschehen ist. ({4}) Trotz eines reduzierten Gesamthaushaltes erhöhen sich die Ausgaben - darauf ist bereits mehrfach hingewiesen worden - für den Bundesgrenzschutz. Dies ist Ausweis dafür, daß innere Sicherheit ein Thema, und zwar ein sehr zentrales Thema für diese Koalition ist. Kürzlich hat der Innenminister den Entwurf eines BGS-Entscheidungskonzeptes vorgelegt, der sich im vorliegenden Haushaltsentwurf widerspiegelt: solide ausgestatteter Einzeldienst an den Außengrenzen und bei der Bahnpolizei, aber - dies begrüße ich als westpfälzischer Abgeordneter ganz besonders - auch eine personelle Verdichtung in einem 30-Kilometer-Bereich an der Westgrenze. Ich begrüße dies auch deshalb, weil dadurch die Grenzen auf Grund des Schengener Abkommens für den friedlichen Bürger offengehalten werden, aber gegen Rauschgiftkriminelle, gegen illegale Zuwanderer und Schleuser höchst effektiv vorgegangen werden kann. Wir werden dieses Konzept noch im einzelnen diskutieren. Aber schon jetzt kann ich es als eine solide Basis für die künftige Arbeit des BGS bezeichnen. Der BGS wird auch künftig bei polizeilichen Großeinsatzlagen - Hannover hat das gerade vor kurzem wieder bewiesen - im Verbund mit Landespolizeien bundesweit ein verläßlicher Faktor der inneren Sicherheit und für die Länderpolizeien ein unverzichtbarer Partner sein. Ich möchte den Beamten, aber auch der Führung des Bundesgrenzschutzes in aller Form für die Arbeit in der Vergangenheit, die sie zum Teil unter schwierigen Umständen geleistet haben, ein herzliches Dankeschön sagen. Für länderübergreifende Einsätze sollen geschlossene Einheiten bei den Bereitschaftspolizeien der Länder vorgehalten werden. Sie werden in das gemeinsame Sicherheitskonzept eingebunden und entsprechend ausgestattet. Wie schon im Vorjahr werden auch in diesem Jahr dafür 39 Millionen DM im Haushaltsentwurf zur Verfügung gestellt. Nach dem Konzept sollen 32 000 Polizeibeamte der Länder in diesen Einheiten vorgesehen sein. Trotz vermehrter Inanspruchnahme der Einheiten der Bereitschaftspolizei haben einige Bundesländer deren Stärke zum Teil erheblich reduziert. Ich spreche das vor allem deshalb an, weil das größte Bundesland, Nordrhein-Westfalen, jetzt dabei ist, seine gesamte Bereitschaftspolizei aus der gemeinsamen Unterbringung herauszunehmen und in den Einzelvollzugsdienst zu geben. Dies bedeutet faktisch die Auflösung der Bereitschaftspolizei in dem größten deutschen Bundesland, Nordrhein-Westfalen. ({5}) Ich erkenne darin eine gefährliche Lücke in der personellen und materiellen Kompatibilität der Länderpolizeien untereinander und im gemeinsamen Einsatz mit dem BGS. Die in manchen Bundesländern geplante Polizeireform kann faktisch zu einer Aufkündigung dieses Sicherheitsverbundes führen. Ich halte dieses für sehr bedauerlich und im Interesse der bundesweiten inneren Sicherheit für eine höchst gefährliche Entwicklung. ({6}) Ein solches Verhalten auf der Länderseite kann nicht ohne Konsequenzen für den Bundeshaushalt bleiben. Es stellt sich für mich die Frage, ob es überhaupt noch gerechtfertigt ist, Millionenbeträge für die Bereitschaftspolizeien der Länder bereitzustellen, oder ob es nicht besser wäre, diese Mittel für den Bundesgrenzschutz bereitzuhalten. Wir werden bei den kommenden Haushaltsberatungen diese in Kapitel 06 24 veranschlagten 39 Millionen DM, die ausschließlich den Bundesländern zugute kommen, sehr kritisch auf ihre Effizienz hinterfragen. Meine Damen und Herren, zu den angenehmen Seiten des Einzelplans 06 gehört die Kultur. Es ist eine Plafondierung zwischen Innen- und Finanzministerium auf 690 Millionen DM vereinbart worden. Ich bedaure - wie andere - diese Begrenzung, sehe allerdings wegen des übergeordneten Ziels, die öffentlichen Aufgaben insgesamt zurückzuführen, kaum eine Möglichkeit, diesen Plafond jetzt zu verändern. Ich begrüße ausdrücklich, daß es gelungen ist, mit einer Bundesbeteiligung an der Sanierung der Bremer Kunsthalle eine zeitlich begrenzte Projektförderung für eine der bedeutendsten Gemäldegalerien in Deutschland zu ermöglichen. Zur Sicherung kleiner Baudenkmäler in den neuen Bundesländern soll das sogenannte Dach- und Fachprogramm fortgesetzt werden. Immerhin - auch dieses ist eine ganz wichtige Nachricht - konnten mit bescheidenen 5 Millionen DM an Bundesmitteln etwa 90 Projekte in den neuen Bundesländern gesichert werden und dafür an zusätzlichen Landes-, Kommunal- und privaten Zuwendungen weitere fast 20 Millionen DM aktiviert werden. Schließlich will ich noch den kleinen, aber politisch wichtigen Ansatz von 200 000 DM erwähnen, der für die Verwaltungskosten bei der Rückführung kriegsbedingt verbrachter Kulturgüter vorgesehen ist. Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich dem Bundeskanzler danken, daß er vor wenigen Tagen den russischen Präsidenten Jelzin auf diese schwelende Wunde zwischen unseren Ländern angesprochen hat. ({7}) - Schwelend und schwer. ({8}) Wir müssen umsichtig, aber auch konsequent an vertragliche Vereinbarungen erinnern. Die Aussagen, die der Bundeskanzler heute morgen dazu gemacht hat, finden meine ausdrückliche Unterstützung. Ich fände es prima, wenn man sich in der Richtung verständigen könnte. Abschließend lassen Sie mich noch auf eine sehr erfreuliche Entwicklung in den Siedlungsgebieten Deutscher in Rußland aufmerksam machen. Die Verringerung des Zuzugs deutschstämmiger Spätaussiedler hat deutlich gemacht, daß es in der Vergangenheit durch wichtige Leistungen gelungen ist, neue Perspektiven zu schaffen. So konnten allein im Rayon Halbstadt 200 neue Arbeitsplätze geschaffen und 4000 auf Dauer gesichert werden. Die Forderung, deutsche Sprachkenntnisse vor der Ausreise auf ein ausreichendes Maß zu bringen, wird voll unterstützt. Die Mittel, die dafür beim Bundesverwaltungsamt angesetzt sind, sind gut im Interesse der Deutschstämmigen, aber auch im Interesse derer, die hierherkommen, und damit im Interesse des inneren Friedens angelegt. Lassen Sie mich abschließend noch eine Anmerkung zur schönsten Nebensache der Welt, dem Sport, machen. Ich bin sicher, daß sich der Bundesinnenminister ebenso wie die Haushaltsberichterstatter dieser Sache mit besonderer Freude und Sympathie annehmen. Geht es doch darum, im bescheidenen Rahmen der Kompetenz des Bundes, nämlich bei der Förderung des Hochleistungssports, mit begrenzten Finanzmitteln einen hohen Effekt zu erzielen. Ich habe übrigens den Eindruck, daß unser Innenminister Manfred Kanther, auch ohne daß er Olympiasieger war, ein höchst engagierter und erfolgreicher Sportminister ist. Jener Mann aus München, jener Sommerlochfüller, der einen beliebten Tennisspieler ungefragt zum Sportminister empfahl, sollte meiner Meinung nach zunächst einmal seinem eigenen Fußballverein zu mehr Erfolgen verhelfen. ({9}) - Ich bedaure ausdrücklich das Ergebnis von gestern und die Ergebnisse der letzten Wochen. Die Haushälter haben über alle Parteigrenzen hinweg im Vollzug des Bundeshaushalts im guten Einvernehmen mit dem Bundesinnenminister auch dem Sport Kürzungen und Sparmaßnahmen zugemutet, aber nicht um dem Sport zu schaden, sondern um die Steuergelder noch effektiver für die Förderung des Hochleistungssports einzusetzen. So wurde die ausufernde Zahl der Bundesleistungszentren auf eine vernünftige Zahl zurückgeführt und konzentriert, ohne die Mittel zu kürzen; so wurden die hervorragend arbeitenden sporttechnischen Institute FES und IAT in Berlin und Leipzig vom Würgegriff des „k. w."-Vermerks befreit. So wurden diese Einrichtungen und das Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Köln zu effektiver Kooperation gedrängt. Meine Damen und Herren, so müssen wir wohl jetzt auch den Deutschen Sportbund und seine Fachverbände zur Vorlage einer neuen Konzeption für die haupt- und nebenamtlichen Trainer und die Honorartrainer drängen. Dies, so meine ich, kann der deutsche Steuerzahler bei 33 Millionen DM Bundeszuschuß erwarten. Wir brauchen Befristungen bei den Arbeitsverträgen für die Trainer. Trainer müssen sich immer wieder auf neue Sportlergenerationen einstellen. Es ist naheliegend, daß diese Fähigkeit mit zunehmendem Alter sinkt. Deshalb sind beamtenähnliche Trainerverträge kein guter Boden für eine erfolgreiche Nachwuchsförderung. Dies aber ist ein entscheidendes Kriterium für die Effizienz der staatlichen Sportförderung. Meine verehrten Damen und Herren, die Politik wird sich auch künftig für die Sportförderung engagieren. Im Interesse des Breiten- und Spitzensports gestatte ich mir aber noch eine Anregung an den Deutschen Sportbund: Wer von den Sportlern zu den wenigen gehört, die Sponsorenverträge in Millionenhöhe abschließen können, sollte daran erinnert werden, wem er seine Karriere außer sich selbst, seinem eigenen Leistungswillen und seiner Veranlagung, zu verdanken hat. ({10}) Ein freiwilliger Solidaritätsfonds für die Förderung des Nachwuchses würde solch hochbezahlten Spitzensportlern gut anstehen. ({11}) Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Haushaltsentwurf für das Ressort des Bundesinnenministers ist eine solide Grundlage für unsere Detailberatungen, die wir in den nächsten Wochen in den Ausschüssen durchführen werden. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht der Kollege Manfred Such.

Manfred Such (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002284, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Innenpolitik ist das öffentliche Interesse in diesen Wochen auf das Schicksal der bosnischen Kriegsflüchtlinge gerichtet; das haben einige meiner Vorredner schon erwähnt. Der Bundesminister des Innern will die zwangsweise Abschiebung ab dem 1. Oktober durchsetzen, also in den Winter hinein. Man stelle sich die Situation vor, in der sich diese Leute befinden. Die Rückkehr der Kriegsflüchtlinge muß freiwillig erfolgen. ({0}) Herr Kanther stellt sich gegenüber wohlbegründeten Bedenken des UNHCR und auch anderer internationaler Organisationen vor Ort sowie späteren Rückführungsplanungen des Landes Schleswig-Holstein stur. Eine massenhafte Rückführung von Flüchtlingen könnte den in Bosnien herrschenden zerbrechlichen „kalten Frieden" weiter destabilisieren und die Gefahr von Kriegshandlungen erhöhen. Statt Appelle zur Humanität verhallen zu lassen und zwanghaft Stärke zu demonstrieren, ist den Innenministern zu raten, die Abschiebungen, wenn schon nicht aus humaner Einsicht, dann doch wenigstens aus politischer und ökonomischer Klugheit zu unterlassen. Der UNHCR schätzt in Übereinstimmung mit dem Bundesinnenministerium, daß im kommenden Jahr zirka 80 000 Flüchtlinge freiwillig nach Bosnien zurückkehren werden. Sie gilt es zu unterstützen. Eine zwangsweise Abschiebung dürfte erheblich teurer sein, als die freiwillige Rückkehr zu fördern. Es ist kontraproduktiv, die Ansätze des sogenannten REAG-Programms zu kürzen, aus dem die freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge unterstützt werden soll, wie es die Bundesregierung im Haushaltsentwurf 1997 ausweist. In einem anderen innenpolitischen Bereich, dem Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht, von dem Herr Kanther meint, daß er hier seine Hausaufgaben gemacht habe, demonstriert die Regierungskoalition Realitätsferne und zudem permanente Handlungsunfähigkeit. Der Streit, den Sie, meine Damen und Herren, seit Monaten um die Erleichterung der Einbürgerung von hier lebenden Ausländerinnen und Ausländern führen, ist ein Trauerspiel. ({1}) Für große Teile der Bevölkerung, erst recht für die Einwanderer und ihre Kinder, ist es nicht mehr nachzuvollziehen. Es wird Zeit, daß alle hier geborenen Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Es wird Zeit, daß Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben und arbeiten, einen Anspruch auf Einbürgerung bekommen. Diskutable und umsetzbare Vorschläge für eine Reform sind genügend gemacht worden: von meiner Fraktion, von der Ausländerbeauftragten, ja sogar aus der Fraktion der CDU/CSU selbst. ({2}) - Natürlich auch von den Sozialdemokraten; das soll hier nicht vergessen werden. Die Koalition geht statt dessen mit solchen Totgeburten wie der Kinderstaatszugehörigkeit schwanger und schiebt nötige Reformen vor sich her. Während Sie sich bei dringenden Reformen des Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts Zeit lassen und die Fachdiskussionen geflissentlich ignorieren, werden Verschärfungen mit heißer Nadel gestrickt. Was sieht Ihr jüngster Gesetzentwurf vor? Herr Kanther, Sie haben ihn heute kurz umrissen. Sie planen die Regelzwangsausweisung bei Verurteilungen zu mehr als drei Jahren Freiheitsstrafe, ja sogar schon bei zwei Jahren Jugendstrafe auch für hier geborene und aufgewachsene ausländische Jugendliche. Sie wollen den besonderen Ausweisungsschutz, ja selbst das Abschiebeverbot für politisch Verfolgte aufheben. So wird das Ausländerrecht zum zweiten Strafrecht, Herr Minister. ({3}) Schlimm ist, was Sie an Verschärfungen nicht nur im Ausländerrecht planen. Schlimm sind auch die Unterlassungen, die Sie begehen, wenn Sie auf die dringend nötigen Liberalisierungen des Ausländerrechts verzichten. Dem Reformstau folgt ein Rückfall in die Gastarbeiterära. Es wird ein Gastrecht für Menschen konstruiert, die schon lange keine Gäste mehr sind. Was fehlt, sind deutliche Erleichterungen beim Familiennachzug, ein konsequenter Schutz vor Ausweisung, eine Ausweitung der Rückkehrmöglichkeiten für junge Ausländer und Ausländerinnen sowie großzügige Altfallregelungen. Einer der Schwerpunkte, die sich die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode gesetzt hat, ist die Reform der öffentlichen Verwaltung - sicherlich völlig zu Recht, Herr Kanther -, auch wenn Sie sich vor allem durch den Finanzdruck dazu haben treiben lassen. Wir brauchen in der Tat einen modernen, das heißt vor allem einen bürgernäheren und leistungsfähigeren öffentlichen Dienst als bisher. Doch vor einer reinen Kürzungsorgie kann ich nur warnen. Die öffentlichen Verwaltungen erfüllen zahlreiche unersetzliche soziale Funktionen, die sich weder privatisieren noch abschaffen lassen. Ich sage deshalb: Den billigsten Staat können wir uns nicht leisten. Durch ihre Verzögerungstaktik bei den Reformvorschlägen für den öffentlichen Dienst trägt die Bundesregierung die Verantwortung für Verunsicherung und Demotivation der Bediensteten in diesen Bereichen. ({4}) Beim Stichwort „Verschlankung der Verwaltung " - das wird besonders Herrn Marschewski freuen - liegt der Gedanke auch an die Geheimdienste nicht fern. Von den Ankündigungen, das Personal bis zum Jahr 2000 um 20 Prozent zu reduzieren, ist nichts mehr übriggeblieben. Herr Waigel ist offenbar aus dem Bundeskanzleramt - Herr Bohl ist ja anwesend - zurückgepfiffen worden. Eine Verringerung des Personals komme nicht in Frage. Somit wird der so variabel zur Schau getragene Reformeifer der Regierungskoalition letztlich an den Diensten vorbeigehen. BND, MAD und Verfassungsschutz haben die allermeisten ihrer klassischen Aufgaben verloren. Sie beschäftigen aber weiterhin knapp 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Als erste Fraktion haben wir deshalb - zunächst für den BND - ein geschlossenes Reformkonzept entwikkelt. Wir halten es ohne Sicherheitsverluste für möglich und geboten, auf die meisten dieser Tätigkeiten zu verzichten und bestimmte weiterhin sinnvolle Aufgaben - auch bei der Nachrichtengewinnung - anderen Behörden zur Wahrnehmung zu übertragen. Der Bundesnachrichtendienst ist inzwischen flüssiger als Wasser. Er ist überflüssig geworden. ({5}) Meine letzte Anmerkung gilt dem Feld der inneren Sicherheit, vor allem den von der Bundesregierung aktuell vorgeschlagenen Maßnahmen. Herr Kanther hat das soeben erwähnt. Es ist ein Skandal, daß in dem Regierungsentwurf gegen Korruption die steuerliche Absetzbarkeit von im Ausland gezahlten Schmiergeldern nicht gestrichen wird. OECD und andere internationale Organisationen fordern dies seit langem. Ich kann allerdings mit einer gewissen Befriedigung feststellen, daß die Koalition viele Präventionsmaßnahmen aus unserem Antrag vom März 1995 übernommen hat, obwohl sie diesen zuvor in der Ausschußberatung abgelehnt hatte. Es ist allerdings nicht vertretbar, auf das von den Länderfinanzministern seit langem geforderte zentrale Korruptionsregister zu verzichten, mit dessen Hilfe auffällig gewordene Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgenommen werden könnten. ({6}) In ihrem Gesetzespaket hat sich die Bundesregierung aber vor allem auf die Befugnis zum großen Lauschangriff festgebissen. Nach Art. 16 Grundgesetz soll damit nun auch die Unverletzlichkeit der Wohnung demontiert werden. Nach dem Eckwertepapier der Koalition bestehen die angeblich „eng begrenzten Voraussetzungen" zum Wanzeneinsatz nur aus Worthülsen. Diese angeblich „eng begrenzten Voraussetzungen" erlauben bei Verdacht von zirka 100 Straftatbeständen eine ausufernde praktische Anwendung. Herr Kanther hat eben gesagt: Lernen durch Üben bzw. durch Anwendung. Das heißt in anderen Bereichen, daß wir inzwischen zum Beispiel Weltmeister im Telefonabhören geworden sind. Es ist zu erwarten, daß wir auch im Bereich des Verwanzens von Wohnungen Weltmeister werden, wenn durch „Anwendung gelernt" worden ist. Der betroffene Personenkreis läßt sich, anders als uns die Bundesregierung glauben machen will, natürlich nicht begrenzen, denn die „Tatverdächtigen" sollen per Wanze ja erst festgestellt werden. Es würden hauptsächlich Unbeteiligte betroffen. Wenn Herr Kanther sagt, er möchte „Gangsterwohnungen abhören" , dann müssen Sie erst einmal definieren, was „Gangsterwohnungen" sind. Und vor allem müssen Sie einmal sagen, wer erklärt, was eine „Gangsterwohnung" ist, damit die Polizei hineingehen kann. Das unterlassen Sie aber immer. Nun zu den Sozialdemokraten. Die von der SPD mit großer Geste geforderten Detailänderungen im Anordnungsverfahren für den Lauschangriff existieren bereits im Falle anderer Eingriffsbefugnisse. Sie führen bereits dort zu den bekannten Kontrolldefiziten. Gespannt bin ich auch - Herr Kollege Körper hat ja schon die Katze aus dem Sack gelassen - auf das Verhalten der SPD, die ihre Zustimmung zum Wanzeneinsatz um den Preis einer weiteren Grundrechtsaushöhlung anbietet. Sie fordert die Beweislastumkehr. Ihre Idee, daß künftig Eigentümer den legalen Erwerb verdächtigen Vermögens selbst beweisen sollen, ist absurd und rechtsstaatswidrig. Der Gedanke - Sie haben es eben formuliert, Herr Körper -, die kriminellen Gewinne seien die Archillesferse der Kriminellen und die Beuteausschöpfung sozusagen der kriminalpolitische Königsweg, ist lange widerlegt. Die erzielbaren Abschöpfungsquoten machen auch im Ausland dauerhaft nur einige Promille der kriminellen Umsätze aus. Daher stellen auch die ausgefallensten Aufspürungsmaßnahmen nur Kostenfaktoren in der Kalkulation der Täter dar. Diese werden sich daher neue Wege und zusätzliche Deliktsfelder suchen. Die Kriminalität wird also steigen. Die F.D.P. dagegen verbucht es schon als Erfolg, den Video-Spähangriff auf Wohnungen zugunsten einer Verwanzung verhindert zu haben. Damit hat sie sich endgültig von dem ihr zu Unrecht anhaftenden Ruf einer Bürgerrechtspartei verabschiedet. ({7}) Gefährlichen Kriminalitätsformen ist nicht mit repressivem Aktionismus beizukommen. Das bedeutet nämlich, das Pferd vom Schwanz her aufzuzäumen. Erforderlich ist vielmehr, durch weitsichtige soziale und technische Präventionsmaßnahmen - im Bereich der Kfz-Verschiebung wird das deutlich - bereits das Entstehen von Kriminalität und kriminellen Gewinnen zu vermeiden. Was wir brauchen, ist eine intelligente Kriminalpolitik, die dem organisierten Verbrechen den Boden entzieht. Unsere Vorschläge etwa zur Drogen-, Korruptions- und Wirtschaftskriminalitätsbekämpfung liegen auf dem Tisch. Gerade die Wirtschaftskriminalität ist ein Bereich, dessen Brisanz und Schadensträchtigkeit die Bundesregierung seit langem geflissentlich ignoriert. Ich erinnere nur an die Fälle Vulkan, Balsam, den Herzklappenskandal usw.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit!

Manfred Such (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002284, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme sofort zum Ende. - Den Tätern im weißen Kragen muß sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aber was macht die Bundesregierung in ihrem Aktionismus? Sie konzentriert sich auf Eierdiebe und Außenseiter dieser Gesellschaft. Wer ganzen Bevölkerungsgruppen durch rigide soziale Sparmaßnahmen die Existenzgrundlagen sowie Kindern und Jugendlichen die Zukunftsperspektiven nimmt, der braucht sich über negative Kriminalitätsentwicklungen und -lagen nicht zu wundern. Jede Mark, die Sie dem Sozialbereich und dem Bildungswesen wegnehmen, müssen Sie zehnfach wieder in den Bereich der Kriminalitätsbekämpfung stecken.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, bitte! ({0})

Manfred Such (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002284, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Bundesregierung ist durch ihre Politik für die von ihr selbst beklagte und in der Öffentlichkeit überzeichnet thematisierte Kriminalitätsentwicklung selbst verantwortlich. Sie setzen die Ursachen für Kriminalität. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Sie müssen jetzt Schluß machen.

Manfred Such (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002284, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mein letzter Satz: Während die Bundesregierung innen- und kriminalpolitisch für sozialpräventive Versäumnisse, einäugige Schwerpunktsetzungen und repressive Muskelspiele gegen die gesellschaftlich Schwächsten verantwortlich zeichnet, setzen wir auf eine intelligente Kriminalpolitik, die dem Verbrechen den Boden entzieht. Das macht den Unterschied aus zwischen unserer Kriminalpolitik und Ihrer, die sich im Grunde nur mit Symptomen beschäftigt und herumdoktert. Schönen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Albowitz.

Ina Albowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000022, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Such, meine Phantasie ging gerade mit mir durch, und ich habe Sie mir als neuen BKA-Präsidenten vorgestellt. Ich habe meinen Kollegen gesagt: Und den armen Herrn Körper als Vize. Das wäre in dieser Republik eine spannende Variante. Aber das wollen wir denen doch nicht antun. Ihre Rede war eine Zumutung, um das in allem Ernst zu sagen. Es wäre das gute Recht und die Aufgabe der Opposition, sich den Regierungsentwurf zum Haushalt - darüber reden wir, glaube ich - vorzunehmen, Kritikpunkte herauszuarbeiten und Alternativen vorzuschlagen. Aber was in der letzten Woche zu lesen war und was wir auch heute gehört haben, sind die übliche pauschale Miesmacherei, die In-die-EckeStellerei und eine gehörige Portion haushalts- und finanzpolitischer Unredlichkeit. Hier werden dem Finanzminister Milliardenrisiken vorgeworfen, die die SPD durch ihre Blockadepolitik im Bundesrat mitverursacht. ({0}) - Sie tun es doch ununterbrochen. Das müssen Sie schon ertragen können. Jetzt haben Sie noch die ganze Woche Zeit, damit Sie es bis zum Wochenende auch richtig drin haben. ({1}) Im gleichen Atemzug fordern Sie milliardenschwere Mehrausgaben. Das Schönste ist: Herr Metzger erklärte gestern morgen in der ARD, die Opposition stecke im Dilemma. - Wohl wahr, Herr Kollege. Vielleicht können Sie ihm das sagen, Frau Kollegin Wolf. Aber von dem Dilemma der Opposition und der Blockade der SPD haben die Menschen in Deutschland überhaupt nichts. Hier werden Vorschläge und Alternativen erwartet. Diese hätten wir gerne heute von Ihnen gehört. Mit 8,8 Milliarden DM, die 1997 für den Etat des Innenministers vorgesehen sind, wird der Ansatz um rund 300 Millionen DM geringer eingestellt als für das laufende Jahr; und das, obwohl er Ausgabenblöcke enthält, bei denen mehr staatliches Engagement erforderlich wird und deshalb größere Ausgaben nötig sind. Herausragendes Beispiel - auch ich will das gerne bestätigen; es ist heute schon erwähnt worden - ist der Bundesgrenzschutz, für den das Volumen auf über 3 Milliarden DM gestiegen ist. Damit wird, wie auch schon in den Jahren zuvor, den veränderten Anforderungen und den erheblich gewachseIna Albowitz nen Aufgaben des BGS Rechnung getragen. Im übrigen kommen noch eine ganze Reihe von Aufgaben in Zukunft hinzu, auch nach der Auflösung der Bereitschaftspolizei im größten Bundesland, in Nordrhein-Westfalen. Es ist eigentlich paradox, aber es ist so: Durch den Wegfall der innerdeutschen Grenze und der Binnengrenzen in Europa ist die Bedeutung des Bundesgrenzschutzes stark gewachsen. An den deutschen Außengrenzen und Flughäfen muß der Kampf gegen eine immer erbarmungsloser und rücksichtsloser agierende organisierte Kriminalität intensiviert werden. Das ist in diesem Hause völlig unbestritten. Schwerpunkte und Strukturen des BGS unterlagen in den letzten Jahren tiefgreifenden Veränderungen. Im Jahre 1992 haben wir ihm die Aufgaben der Bahnpolizei und der Luftsicherheit übertragen. Inzwischen ist aus einer früheren hauptsächlich in Verbänden organisierten Bundespolizei eine stark im einzeldienstlichen Aufgabenbereich tätige Polizeiorganisation geworden. Um diesen veränderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen und um die Effizienz und Flexibilität des Grenzschutzes zu erhöhen, hat der Innenminister im Juni ein Konzept zur Neustrukturierung des BGS vorgelegt. ({2}) Die Effektivierung des personellen und materiellen Mitteleinsatzes ist grundsätzlich zu begrüßen. Ich frage allerdings - das werden wir noch intensiv zu diskutieren haben -, ob es im Zeitalter des Schengener Abkommens und eines zusammenwachsenden Europas wirklich notwendig ist, die Anzahl der an der deutschen Westgrenze ständig postierten Beamten auf knapp 1 000 zu vervierfachen. Wenn ich mir das Gesamtstellensoll für 1997 ansehe - das sind rund 35 000 Mitarbeiter beim Grenzschutz -, dann drängt sich mir der Eindruck auf, daß diese Bundespolizei Schritt für Schritt eine Personalstärke erreicht, die ganz grundsätzliche Überlegungen in diesem Hause notwendig macht. ({3}) - Das werden wir dann zu diskutieren haben, Herr Kollege Penner. Damit gingen wir heute über den Rahmen meiner Redezeit hier im Plenum hinaus. Das werden wir dann im Innenausschuß und im Haushaltsausschuß intensiv machen. Die innere Sicherheit ist ein Kernbereich der Innenpolitik und eine der wichtigsten Verpflichtungen, die der Staat gegenüber seinen Bürgern hat. Die Menschen in unserem Land haben Anspruch auf bestmöglichen Schutz gegen Kriminelle jeder Art. Kriminalität ist ein Verstoß gegen die Zivilisation. In der Art und Weise, wie ein Staat diese Aufgabe wahrnimmt, zeigt sich aber auch sein Demokratie- und Freiheitsverständnis. Für uns Liberale heißt das, daß Sicherheit nicht auf Kosten der Freiheit gehen darf. Ohne Freiheit gibt es keine Sicherheit; ohne Sicherheit gibt es aber auch keine Freiheit. ({4}) Die illegale Zuwanderung ist für uns nach wie vor ein drängendes Problem, und wir haben noch nicht alle Probleme gelöst. Sie kann aber nicht in staatlicher Abschottung gegen Menschen anderer Abstammung und Herkunft bestehen. Wir Liberalen treten für eine Gesellschaft ein, die offen ist für eine von uns zu bestimmende Zuwanderung und für kulturelle Einflüsse von außen, die aber das Maß ihrer Offenheit auch selbst bestimmt und festen Regeln unterwirft. ({5}) Deutschland hat und braucht Zuwanderung. Wir brauchen eine systematische und kontrollierte Einwanderungs- und insbesondere Eingliederungspolitik, deren Ziel es ist, die Menschen in unsere Gesellschaft zu integrieren. ({6}) Sie darf auch nur soweit eingeschränkt werden, wie es unbedingt erforderlich ist. Vermeintliche Sicherheit darf auch nicht als Vorwand mißbraucht werden, um eine unfreie Gesellschaft zu schaffen. Mit Blick auf den gerade in Arbeit befindlichen Gesetzentwurf zum Lauschangriff versichere ich Ihnen, daß wir Liberalen mit Argusaugen darauf achten werden, daß die Grundrechtseingriffe auf das absolut notwendige Muß beschränkt bleiben. Mit uns gibt es kein unnötiges Draufsatteln und auch keine Beweislastumkehr, Herr Körper. ({7}) - Ja, wir werden da schon dabeisein. Das verspreche ich Ihnen hier. Wenn ich höre, Herr Körper, wie Sie Ihren Parteitagsbeschluß hier verteidigen, kann ich erstens nur sagen: Mein Gott, was ist aus dieser SPD geworden! Und zweitens: Wir können ja noch froh sein, gegen Sie ist Herr Stoiber ein wahrer Liberaler! ({8}) Ein weiterer Schwerpunkt, bei dem auch in Zukunft intensives staatliches Engagement erforderlich ist, ist die Kultur. ({9}) - Herr Körper, Sie sollten Ihre Rede wirklich einmal nachlesen. Ich weiß nicht, ob Sie sie nur gehalten haben, aber Sie sollten wissen, wie sie sich anhört. ({10}) - Das mag sein. Haben Sie es ihm. aufgeschrieben? ({11}) In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten und knapper öffentlicher Kassen ist die Kultur leider allzuoft im Visier von Kürzungsbestrebungen. ({12}) Selbstverständlich hat auch die Kultur wie alle anderen staatlichen Bereiche ihren Beitrag zu den Sparbemühungen zu leisten. Sie hat dies in den letzten Jahren auch in erheblichem Umfang getan. Ich wende mich deshalb auch heute entschieden gegen diejenigen, die Kultur für überflüssigen Luxus halten und die ihr in schwierigen Zeiten einfach die Existenzberechtigung und die Luft zum Atmen nehmen wollen. Kultur, meine Damen und Herren, ist ein Grundbedürfnis der Menschen. Die Übereinstimmung des Bürgers mit dem Staat, in dem er lebt, resultiert auch daraus, daß er sich in seinem Land kulturell und geistig gefordert und gefördert fühlt. Gemeinsame Pflege von Sprache, Literatur, Musik, bildender Kunst und Geschichte ist eine Klammer in unserer Gesellschaft, eine tragende Säule unseres demokratischen föderalen Staates. ({13}) Eine Politik, die vergißt, daß der Mensch auch andere Grundbedürfnisse hat als Essen und Trinken, wäre kurzsichtig und dumm. Deshalb werden die Ausgaben des Bundes zur Förderung von Kunst und Kultur im Inland von den allgemeinen Kürzungen ausgenommen und statt dessen um 57 Millionen DM auf insgesamt 1,26 Milliarden DM steigen. ({14}) Für die klassische Kulturförderung ist der Plafond in Höhe von 690 Millionen DM festgeschrieben, und das ist auch gut so. Ich danke dem Innenminister und dem Finanzminister ausdrücklich für ihre Bereitschaft, dies zu tun. Öffentliche Mittel, meine Damen und Herren, müssen zielgerichtet vergeben werden. Das heißt, es darf weder mit dem Rasenmäher gekürzt noch mit der Gießkanne gefördert werden. Man muß sinnvolle Prioritäten setzen. Kulturelle Institutionen müssen ihren Mitteleinsatz optimieren und manchmal auch - das würden wir uns wünschen - neue Geldquellen erschließen. Ich nenne die Stichworte Kultursponsoring und Mäzenatentum, aber ich nenne auch Veränderungen im Steuerrecht, für die wir noch Hausaufgaben zu machen haben. Große kulturelle Ereignisse stehen in den kommenden Jahren in der Bundesrepublik an. Ich erinnere an die Europäische Kulturhauptstadt Weimar 1999 und an die „Expo 2000". Diese beiden Ereignisse bieten eine große Chance zur Selbstdarstellung der Kulturnation Deutschland. ({15}) Allerdings habe ich bei der Vorbereitung und Planung der „Expo 2000" das Gefühl, daß noch nicht alle, vor allen Dingen in den Gesellschaften, erkannt haben, welche hervorragenden Möglichkeiten zur Selbstdarstellung Deutschlands sich hier auftun. ({16}) - Das hoffe ich sehr. Meine Damen und Herren, der Etat des Bundesministers des Innern enthält für das Jahr 1997 eine globale Minderausgabe in Höhe von 55,6 Millionen DM. Das ist ein Novum und ein weiterer Ausdruck des strikten Sparwillens der Regierung. Allerdings wüßte ich als Haushaltspolitikerin auch gerne, wo diese 55,6 Millionen DM eingespart werden sollen. Das Instrumentarium der globalen Minderausgabe ist als solches nicht befriedigend. Um den Grundsätzen der Haushaltswahrheit, -klarheit und -vollständigkeit gerecht zu werden, erwarte ich sowohl vom Innen- als auch vom Finanzminister klare Vorstellungen, wo diese globale Minderausgabe erbracht werden soll. Einsparpotentiale sind auch durch neue Konzepte der Mittelvergabe zu erreichen, wie die Modellversuche Budgetierung und Flexibilisierung der verschiedenen kleinen Behörden im nachgeordneten Bereich zeigen. Sie sind außerordentlich erfolgreich. Das sollte uns gemeinsam freuen, weil es zum Thema schlanker Staat gehört. Es zeigt sich ganz besonders - das sollten wir an dieser Stelle würdigen -, daß sich die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeiter auszahlt. Ich kann dem Bundesfinanzminister nur empfehlen, weitere Etatbereiche in das Modellprogramm zu entlassen und so mutig zu sein, Verantwortung zu delegieren. ({17}) Ein letztes Wort zu den Personalausgaben. Sie betragen für 1997 knapp 50 Prozent bzw. rund 4 Milliarden DM allein für den Geschäftsbereich des Innenministers. Das ist für sich gesehen schon außerordentlich bedenklich. Der Kollege Uelhoff hat schon darauf hingewiesen. Wenn man den Gesamtpersonalbestand des Bundeshaushaltes einschließlich seiner Folgekosten bewertet, kann einem angst und bange werden. Deshalb ist es zwingend erforderlich, daß wir das Dienstrechtsreformgesetz umgehend verabschieden und den längst überfälligen Versorgungsbericht vorgelegt bekommen. Der Gesetzgeber, der die politische Verantwortung für die Versorgungsleistungen mittragen soll und muß, hat ein Recht auf vollständige und umgehende Information durch die Bundesregierung. Herr Minister, es nützt nichts, wenn wir die unangenehmen Dinge verschieben. ({18}) Ich bin ein bißchen irritiert - ich sage das in dieser Offenheit, weil Sie wissen, daß ich Sie außerordentlich schätze - über den Duktus, den Sie in die Debatte gebracht haben ({19}) - ich meine, in der Politik kann man auch offen miteinander reden -, indem Sie eben von einer törichten Terminplanung gesprochen haben. Ich denke, so sollten Exekutive und Legislative nicht miteinander umgehen. Es gibt einen Beschluß des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages, daß Sie den Versorgungsbericht bis zum Dezember 1995 vorlegen sollten. ({20}) Ich verstehe - alle Kollegen hier im Hause können das nachvollziehen -, daß das eine unglaublich schwierige Thematik ist. Ich bin mit Ihnen der Auffassung: lieber vier Wochen später und auf einer gesicherten Grundlage, so daß wir ihn ordentlich bewerten können. ({21}) Aber ich weiß auch: Die vier Wochen - gerechnet von Dezember 1995 an - sind im September 1996 vorbei. ({22}) Ich lasse mir vom Innenminister nicht sagen, wir hätten eine törichte Terminplanung vorgegeben. Die Innenpolitik muß mehr als viele andere Politikbereiche schwierige gesellschaftliche Probleme bewältigen und vielen verschiedenartigen Bedürfnissen Rechnung tragen. Sie ist aber auch ein Bereich, in dem es trotz Sparzwängen noch zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten gibt. In den vor uns liegenden Beratungen im Haushaltsausschuß werden wir die Sparpolitik konsequent umsetzen und die Gestaltungsspielräume, die wir noch haben, intensiv nutzen. Ich danke Ihnen. ({23})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Punkt, zu dem sich der Innenminister gerne ausschweigt. Es geht, Herr Kanther, um die Methode, wie Sie - sei es im Verfassungsschutzbericht oder bei der Beantwortung von Kleinen Anfragen - mit den Gefahren des Rechtsextremismus umgehen, die Sie in der Regel verleugnen und vertuschen. Ich möchte das an dem Beispiel des Brandanschlags von Lübeck deutlich machen. Schon frühzeitig führten Spuren offensichtlich ins neofaschistische Lager. Diese wurden jedoch verschlampt oder nicht verfolgt. Die Täter sind bis heute unangetastet geblieben. Das gleiche gilt für die hinter ihnen stehenden Organisationsgeflechte. Das Perfide an Lübeck ist jedoch: Systematisch wurden über Monate die Opfer zu Tätern aufgebaut, was zu Recht von der Internationalen Unabhängigen Untersuchungskommission zu Lübeck kritisiert worden ist. Das können wir nur unterstützen. Bei der Einordnung offensichtlicher Straftaten bereinigt das BMI willentlich die Statistik, wenn es um rechtsextremistische Straf- oder Mordtaten geht. Ich will hier nur das Beispiel eines mutmaßlichen Rechtsextremisten aus Gladbeck nennen, der als unpolitisch eingestuft wird, obwohl er nachweislich einer fest organisierten rechtsextremistischen Szene zuzuordnen ist. Der Kollege Körper hat es bereits angesprochen; auch ich möchte auf das Länderspiel Polen gegen Deutschland eingehen. Dort wurden Transparente wie „Schindlers Juden, wir grüßen Euch" oder „Wir sind in Polen, um die Juden zu versohlen" möglich. Wie hier schon von Herrn Körper erwähnt worden ist, wurde vorweg vom nordrhein-westfälischen LKA darauf hingewiesen, daß diese Gefahren existierten. Herr Kanther, ich möchte Sie nur daran erinnern, daß im Frühjahr bei den Newroz-Aktivitäten der Kurden jede Fahne, jedes Symbol zum Anlaß genommen wurde, einen Polizeieinsatz durchzuführen, damit solche Symbole nicht gezeigt werden konnten. Offenbar geht das bei den Rechten nicht. Beim Rechtsextremismus wird gezielt weggesehen. Herr Dr. Uelhoff, hier geht es um weit mehr als um einzelne Aussagen oder Fehltritte auf den letzten Tagungen der Vertriebenen. Es geht darum, daß in Zeitungen wie dem „Ostpreußenblatt" systematisch rechtsextremistisches Gedankengut verbreitet wird. Die Leugnung des Holocaust kann dort immer wieder erfolgen. Das Schlimmste ist, daß die herausgebenden Verbände Bundesmittel beziehen. Im übrigen honoriert die Bundesregierung auch noch den stellvertretenden BdV-Präsidenten Latussek, der inzwischen mit Schönhuber und dem „National-Zeitungs" -Herausgeber Gerhard Frey in neonazistischen Zeitungen schreibt. Jener Autor des „Ostpreußenblattes", der vor allem durch seine Artikel hervorgetreten ist, in denen die Schuld NS-Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geleugnet wird, wurde zum Presseoffizier des deutschen Kontingents der IFOR-Truppen im ehemaligen Jugoslawien benannt. Ich halte das für einen Skandal. Nächstes Stichwort: Bosnien. Das ist das Stichwort, mit dem ich auf die Abschottungspolitik der Bundesregierung gegenüber Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten zu sprechen komme. ({0}) Mein Kollege Such hat es hier bereits kritisiert: Die Bundesregierung möchte 320 000 bosnische Kriegsflüchtlinge auf dem schnellsten Weg loswerden. Eine Verletzung des Abkommens von Dayton nehmen Sie wie auch manche SPD-geführte Landesregierung kalt lächelnd in Kauf. Dayton sieht nämlich die freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge vor, wie hier heute schon gesagt worden ist, und zwar vor allen Dingen nicht in „ethnisch gesäuberte" Regionen, sondern ausdrücklich dorthin, wo ihre Herkunftsorte sind. Um diese Massenabschiebung zu gewährleisten, sollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BunUlla Jelpke desamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sechs Ex-und-hopp-Anhörungen pro Tag durchführen. „Bei Bosniern muß man ja die Situation nicht in aller Breite erörtern" , so erst letzte Woche der stellvertretende Präsident des Bundesamtes, Herr Weickhardt. Mit welchen Methoden der Chef des Bundesamtes, Herr Dusch, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entsprechenden Schnellverfahren bewegte, das haben wir bereits im Frühjahr im Innenausschuß ausführlich diskutiert. ({1}) Ihre diesbezügliche Devise, Herr Kanther, lautet: rausschmeißen! So benennen Sie in Ihren Haushaltserläuterungen als Jahresziel des Bundesamtes zuallererst die Beschleunigung der Asylverfahren. Die Mittel für den Bundesgrenzschutz sollen weiter steigen, um die hermetische Absicherung insbesondere der Ostgrenzen gegenüber Flüchtlingen und Einwanderern voranzutreiben. Wärmebildkameras, Nachtsichtbrillen, Kohlendioxiddetektoren - nichts ist Ihnen zu teuer, um sich abzuschotten. Über 5 000 BGS-Beamte und -Hilfspolizisten sind schon heute an den Ostgrenzen stationiert. Jetzt soll die Zahl noch einmal um 500 aufgestockt werden. Bei der Kriminalitätsbekämpfung bietet die Politik der Bundesregierung meiner Meinung nach ein jammervolles Bild. Jedes Jahr wird aufs neue vom BMI versucht, dramatische Steigerungsraten zum Beispiel bei der Drogenkriminalität oder bei der sogenannten Schleuserkriminalität nachzuweisen. Doch über eine ursachenorientierte Lösung dieser Fragen macht sich Herr Kanther, wie er auch heute wieder gezeigt hat, keinerlei Gedanken, ({2}) daß nämlich der Konsum sogenannter harter Drogen ein soziales und ein medizinisches Problem ist und Modelle für eine ärztlich kontrollierte Abgabe dieser Substanzen einen Weg weisen könnten. ({3}) Inwieweit die gesamte Schlepper- und Schleuserkriminalität allein auf den Ausbau der Festung Europa zurückgeht, müßte ernsthaft untersucht werden. Statt dessen wiederholt die Bundesregierung gebetsmühlenartig ihre Konzepte zur konservativ-autoritären Bekämpfung dieser erst durch ihre Politik erzeugten und verschärften Kriminalitätsformen. Den großen Lauschangriff und später auch - im angekündigten Doppel mit der SPD - den Spähangriff will die Regierung einführen. Mein Kollege Such hat dies ebenfalls ausführlich angesprochen. Das Abhören von Telefonen soll dem Verfassungsschutz durch eine Änderung des G-10-Gesetzes noch leichter gemacht werden. Das Geldwäschegesetz soll verschärft, das BKAGesetz soll novelliert werden, so daß dieser Apparat parlamentarisch noch weniger kontrolliert werden kann, als das jetzt überhaupt möglich ist. Nehmen Sie das Bundesamt für Verfassungsschutz: In den letzten sieben Jahren hat es elf Prozent mehr Mittel zur Verfügung gestellt bekommen. Im selben Zeitraum wurde der Haushalt des Bundeskriminalamtes um 80 Prozent erhöht und der des BGS um glatte 122 Prozent. Und wenn die Zahl der Einzeldelikte im Bereich der sogenannten organisierten Kriminalität 1995 hinter der des Vorjahres zurückgeblieben ist, dann stecken Sie, Herr Kanther, kurzerhand den Kopf in den Sand. Dessenungeachtet soll nämlich der Stammhaushalt des BKA nicht gesenkt, sondern um 1,26 Prozent erhöht und dessen Personalstärke nicht - wie in der restlichen Verwaltung - reduziert, sondern um 77 Planstellen ebenfalls ausgeweitet werden. ({4}) Während Sie dabei sind, den Sozialstaat zu demontieren, rüsten Sie die Polizei nach innen wie nach außen zur repressiven Lösung sozialer Konflikte massiv auf. Ich frage mich, welche gesellschaftliche Perspektive Herr Kanther mit dieser Politik eigentlich verfolgt. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Titze-Stecher.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Regierungsentwurf zum Bundeshaushalt 1997 sieht für den Etat des Bundesinnenministers, den Einzelplan 06, ein Volumen - das wurde hier schon öfter gesagt - von rund 8,8 Milliarden DM vor. Dies bedeutet nominell eine leichte Absenkung gegenüber dem Etat des laufenden Jahres um 309 Millionen oder 3,4 Prozent. Dieser angebliche leichte Rückgang ist schnell entzaubert, wenn man genau hinschaut. Erste Bemerkung dazu: Der Anteil des Einzelplanes 06 am Bundeshaushaltsvolumen insgesamt - und das ist eigentlich der interessanteste Bezugsrahmen - stieg von 1,6 Prozent im Jahre 1989 auf erstmalig zwei Prozent im laufenden Jahr. Diese Marke wird auch in der mittelfristigen Finanzplanung bis zum Jahr 2000 nicht mehr unterschritten, mit Ausnahme des Haushalts für das nächste Jahr. In Zahlen: Der stramme Innenminister - ich meine das jetzt nicht physisch, Herr Innenminister - vermochte seinen Anteil am Steuerkuchen des Bundeshaushalts von 4,7 Milliarden DM im Jahre 1989 auf satte 9,1 Milliarden DM in diesem Jahr zu steigern und wird dieses Niveau in den kommenden Jahren verfestigen. Das ist für mich kein Grund für ein Sonderlob für kräftiges oder kontinuierliches Sparen. Zweite Bemerkung: Ganz im Gegenteil, trotz Personalabbau bei drei großen Bundesbehörden - ich nehme an, ich sitze hier vor Fachleuten; deshalb begnüge ich mich mit den Stichpunkten -, nämlich beim BAF1, bei der Gauck-Behörde und beim aufgelösten Bundesverband für den Selbstschutz, bleibt der Etat des Innenministers nahezu unverändert hoch. Ich muß auch darauf aufmerksam machen, daß einige Etatabsenkungen, die dem Minister unverschuldet zufallen, ohne daß er den Rotstift ansetzen muß, folgende Bereiche betreffen: Die Entschädigung für ehemalige Kriegsgefangene sinkt erwartungsgemäß im nächsten Jahr um rund 153 Millionen DM, und zwar nur deshalb, weil der Geltungsbereich des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes für politische Häftlinge und Kriegsgefangene ausläuft. Ebenso verhält es sich mit den Hilfen für politische Flüchtlinge, die von 70 Millionen DM in diesem Jahr auf rund 45 Millionen DM im nächsten Jahr sinken. Das ist also kein Ergebnis etwaiger Sparbemühungen. Dritte Bemerkung - hier bitte ich, genau zuzuhören -: Der Innenminister hat nach dem Prinzip Hoffnung die Mittel für die Finanzierung der 17 500 sogenannten Kontingentflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien relativ leichtfertig von rund 40 Millionen DM in diesem Jahr auf nur noch 10 Millionen DM 1997 zusammengestrichen - eine echte Luftbuchung. Oder glauben Sie im Ernst, Herr Kanther, daß der Großteil der 17 500 Bürgerkriegsflüchtlinge im nächsten Jahr Knall auf Fall in die verlassene und zerstörte Heimat zurückgekehrt sein wird? Falls dies nicht im erwarteten Umfang geschieht, wollen Sie dann die Länder zwingen, den bisher hälftigen Anteil an den Kosten zu 100 Prozent zu übernehmen? Damit sparen Sie auf dem Rücken von Ländern und Kommunen. Wir Haushälter nennen diese Art des Durchreichens der Kosten von einer Ebene der öffentlichen Hand auf die nächste schlichte Verschiebebahnhoftaktik; wir lehnen dies als unseriös ab, weil es eine Scheinlösung ist. ({0}) Die Kollegin Albowitz hat von dieser Stelle aus schon kritisch angemerkt, daß dem Etat des Innenministers eine globale Minderausgabe verpaßt wurde. Ich will dazu nur sagen: Ich teile diese Kritik sehr. Dieses Instrument ist nämlich nicht nur ein Ärgernis für den Minister - seine Sorgen sind nicht die meinen -; es ist eine glatte Aushöhlung des originären parlamentarischen Budgetrechts. Die Arbeit der Berichterstatter und des Parlaments schlechthin wird durch die Verhängung solch eines nicht differenzierenden Instrumentes entwertet, und, wie hier schon betont wurde, Haushaltsklarheit und -wahrheit bleiben auf der Strecke. Daß sich die eben genannten Etatabsenkungen, die der Minister sich nicht als Sparbemühungen anrechnen lassen darf, nicht stärker auswirken, liegt daran, daß er die dadurch frei gewordenen Mittel an seine Lieblingskinder verfüttert. Er investiert in die hier bereits genannten zwei Schwerpunkte dieses Einzelplanes. Zum einen handelt es sich um den Sicherheitsbereich. Auch das wurde bereits betont: Die Aufwendungen für den BGS steigen durch eine Aufstockung des Personals um 1200 Personen um runde 122 Millionen DM auf über 3 Milliarden DM. Das heißt, der BGS ist der größte Brocken im Etat des Innenministers. So weit, so gut. Die SPD hat dabei meistens mitgemacht. Für mich gilt es in diesem Zusammenhang nur zu kritisieren - diese Kritik bitte ich Sie, Herr Kanther, ernstzunehmen -, daß durch solch eine Praxis Haushaltszwänge geschaffen werden, bevor das sogenannte und hier auch schon erwähnte „BGS-Entscheidungskonzept" im parlamentarischen Raum hinreichend beraten und darüber entschieden worden ist. ({1}) Aber ich muß gestehen: Seit ich mit diesem Einzelplan befaßt bin, ist so etwas häufig vorgekommen. Der Minister für Ordnung und innere Sicherheit hat bereits bei der Reform der zivilen Verteidigung - Stichworte: Auflösung des Bundesverbandes für den Selbstschutz, „THW 2000"-Konzept - bewiesen, wie unbefangen und unbeeindruckt vom erforderlichen parlamentarischen Prozedere er an die Umsetzung von Konzepten geht, ehe diese abschließend beraten sind. ({2}) Ein zweiter Schwerpunkt, mit dem ich keine Schwierigkeiten habe - aber da muß man hinter die Kulissen schauen und sich diesen Schwerpunkt genauer angucken -, ist, belegt durch einen Zuwachs, der Bereich Kultur. Daran haben wir natürlich nichts auszusetzen; Kultur ist für uns das zivilisatorische Kleid der Menschen. ({3}) Schaut man allerdings genauer hin auf das, was unter der Definition „Kultur" gefördert wird, und darauf, mit jeweils wieviel Steuergeldern und vor allem mit welcher Begründung das geschieht, so gerät man in gelinde Verzweiflung. Allein im Kulturbereich ({4}) - ja, Kleid und Hose; damit Sie sich beruhigen - werden 1997 an 55 Institutionen Zuwendungen in Höhe von knapp 600 Millionen DM geleistet. Um Ihnen die Größenordnung klarzumachen: 83 Prozent der Gelder sind damit institutionell gebunden. Der Spielraum des Ministers für Projektförderungen schrumpft auf 16,6 Prozent. Dieser Spielraum ist extrem eng. Wir bieten Ihnen, Herr Minister, Hilfe an, dieses Ungleichgewicht dadurch zu beseitigen, daß man die Zuwenderstruktur, die über Jahrzehnte entstanden ist, die betoniert und nur durch einen Kraftakt auf zu-lösen und neu zu formieren ist, durch eine Verschiebung der Gewichte verändert, nämlich weg von der institutionellen Förderung, hin zur Projektförderung. Das bietet auch die Chance, genauer Einfluß zu nehmen und das Augenmerk genauer auf das zu lenken, was man da eigentlich fördert. In diesem Zusammenhang stellt die SPD die Frage, die meiner Meinung nach mehr als berechtigt ist, warum 50 Jahre nach Kriegsende die institutionelle Förderung von 18 Einrichtungen, die mit der Kulturförderung für Vertriebene und fremde Volksgruppen zu tun hat, noch zeitgemäß ist - abgesehen davon, daß eine behutsame Umstellung von der institutionellen auf die Projektförderung - wie ich eben ausgeführt habe - auch der Sache dienlicher wäre. ({5}) Damit keine falschen Töne hineinkommen: Wir sind durchaus der Meinung, daß landsmannschaftliches Brauchtum und landsmannschaftliche Kultur gepflegt werden müssen. Wir sind allerdings der Meinung, daß durch die Verschiebung von der institutionellen zu der Projektförderung auch kulturelle Aktivitäten, die der Integration der unter uns lebenden Ausländer dienen, eine Chance der Förderung haben sollten. Ausgerechnet in der aktuellen Haushaltsdebatte - ich bin sicher, Sie alle haben hier in den ersten sechs Stunden sehr aufmerksam zugehört, entweder live oder über den Hauskanal -, ausgerechnet in dieser Lage, die ich nicht breit auswalzen will, fällt der Regierung nichts Besseres ein, als im Kulturbereich - ich habe speziell diesen Punkt gewählt, weil es in meiner zehnminütigen Redezeit eine Schwerpunktsetzung geben muß - eine Bundesstiftung Otto von Bismarck aufzulegen. ({6}) Trotz leerer Staatskassen und trotz des Mottos „Alle müssen den Gürtel enger schnallen" sind bereits 7,5 Millionen DM Steuergelder für den Ausbau des Bahnhofs Friedrichsruh bereitgestellt; so lautet die Antwort des zuständigen Staatssekretärs auf die schriftliche Anfrage aus den Kreisen der SPD-Bundestagsfraktion. Beinahe hätte es die konservative Seite geschafft, kurz vor der Sommerpause die zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs ganz unbemerkt und zu nachtschlafender Zeit, Herr Kollege Marschewski, über die Bühne zu bringen - wäre da nicht durch die Kleine Anfrage der SPD Sand ins Getriebe gekommen. ({7}) Die Bundesstiftung scheint Ihrem Geschrei nach zu urteilen ein Herzenswunsch der Konservativen zu sein. Selbst der ehemalige Innenminister Zimmermann signalisierte schon damals bei den ersten Kontakten Zustimmung. Nur hat es bis heute gedauert - angesichts des veränderten Wertebewußtseins -, das zu wagen. Der Bund ehrt bisher mit vier Bundesstiftungen vier große politische Staatsmänner, ({8}) und zwar solche, die durchweg demokratisch gewählt worden sind und durchweg an der Spitze demokratischer Staatswesen standen. Ich nenne sie für Unkundige: den ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, den Bundespräsidenten Theodor Heuss sowie die beiden Bundeskanzler - wohlbekannt - Konrad Adenauer und Willy Brandt. Unzweifelhaft war Otto von Bismarck ein großer, ein originärer Staatsmann, der Gründer des Deutschen Reiches. ({9}) Ich habe vorhin begründet, warum dieser Staatsmann nicht in die Reihe der bisher mit Bundesstiftungen Gewürdigten hineinpaßt. Die Fragen der SPD sind auf keinen Fall erschöpfend und befriedigend beantwortet. Mit welcher Begründung -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die Redezeit ist abgelaufen.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will mir eine Berner-kung verkneifen. Es ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß die Errichtung der Otto-von-Bismarck-Bundesstiftung zum Ensemble der „geistig-moralischen Wende " gehört. Hierbei stimmt für uns gar nichts: weder die Gremienbesetzung noch die Gremienstruktur, noch - als Haushälterin bitte ich, mir das abzunehmen - das Verhältnis von Preis und Leistung. Familie Bismarck hat immer die Hand darauf - auf Archiv, auf Bibliothek, auf Museum -, hat die Nutzungsrechte, die Besitzerrechte. Die Bundesregierung zahlt. ({0}) Ich denke, das ist angesichts der Aufgaben, die heute vor uns liegen, nicht zu rechtfertigen. Herr Kanther, hierbei sind Sie gefordert, neben den bereits erwähnten Hausaufgaben in allen innenpolitisch wichtigen Bereichen,

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- die Sie zu machen haben, auch diese Geschichte zu einem Konsens zu führen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesinnenminister hat die Debatte mit einer wesentlichen und wichtigen Feststellung eingeleitet, nämlich mit der Halbzeitbilanz, der Halbzeitbilanz dieser Koalition in der Innenpolitik, einer Halbzeitbilanz, die außerordentlich erfolgreich ist. Es ist richtig, daß die Schulaufgaben im wesentlichen bereits heute erfüllt sind. Dafür gebührt dem Bundesinnenminister der besondere Dank. ({0}) Seinem Engagement und seiner Kompetenz haben wir wirklich Wesentliches zu verdanken. Das beginnt mit den geschilderten Gesetzen zur Kriminalitätsbekämpfung, das setzt sich mit den Maßnahmen zur Verschlankung des Staates und zur Dienstrechtsreform fort, zu der ich nur zwei Anmerkungen machen will. Wir müssen das Beamtentum und den öffentlichen Dienst den neuen Gegebenheiten anpassen. Wir müssen ihn reformieren. Aber eines gehört dazu, und das wird von der Opposition gelegentlich vergessen: Der öffentliche Dienst beruht auf dem Berufsbeamtentum, und wir werden das Berufsbeamtentum im Gegensatz zu Stimmen von sozialdemokratischen Ministerpräsidenten - ich erinnere an Frau Simonis und Herrn Schröder - nicht in Frage stellen. ({1}) Das Berufsbeamtentum ist unverändert ein verläßlicher, ein treuer und auch effektiver Sachwalter unserer öffentlichen Verwaltung. Wir haben unsere Ziele im Koalitionsvertrag gesetzt. Dazu gehört auch das angesprochene Staatsangehörigkeitsrecht. Wir werden dieses Staatsangehörigkeitsrecht so, wie wir es in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen haben, erfolgreich reformieren. Wir werden es grundlegend reformieren, insbesondere indem wir auch für das nötige Maß an Rechtssicherheit im Austausch von Ermessenseinbürgerung zugunsten einer prinzipiellen Form von Anspruchseinbürgerung sorgen werden. ({2}) Das ist ein grundlegender, ein fundamentaler Schritt, den viele unserer Nachbarstaaten, viele vergleichbare Rechtsordnungen bisher nicht zu gehen bereit waren. Wir haben das Ausländerrecht im wesentlichen voll auf einen Reformkurs gebracht. Auch dieses Feld ist damit wesentlich abgearbeitet. Ich will in diesem Zusammenhang ein Stichwort ansprechen, das heute gefallen ist: der Ruf nach einem sogenannten Einwanderungs- oder Zuwanderungsbegrenzungsgesetz. Für ein solches Gesetz sehe ich weder Notwendigkeit noch Rechtfertigung. ({3}) Ich will das in aller Deutlichkeit sagen: Ein solches Gesetz ist auf den gegebenen Grundlagen unserer Rechtsordnung nichts anderes als eine Mogelpakkung. ({4}) Machen wir uns überhaupt nichts vor. Wir haben nicht die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, Zuwanderungen und Einwanderungen in irgendeiner Weise abschließend kontingentierend zu steuern. Diese Grundlagen haben wir nicht. ({5}) - Ich bin mit Ihnen einverstanden, daß wir es ändern. Dann müssen wir das Asylrecht ändern, da muß Art. 16a des Grundgesetzes von einem Grundrecht in eine objektiv rechtliche institutionelle Garantie, wie das in vergleichbaren Rechtsordnungen der Fall ist, umgewandelt werden. ({6}) Wenn Sie diesen Schritt mitgehen, können wir über ein Einwanderungs- oder Zuwanderungsbegrenzungsgesetz reden. ({7}) Meine Damen und Herren, wir haben unser Asylrecht in der gegebenen Form, und es muß praktiziert werden. Das heißt, wir müssen uns ganz entscheidend auch darum kümmern, daß - wir haben keine 10 Prozent begründete Asylanträge - auch Entscheidungen und Abschiebungen wirklich erfolgen. Nur dann wird das Asylrecht in der gegebenen Form, wie es das Bundesverfassungsgericht bestätigt hat, die Akzeptanz in unserer Bevölkerung finden. Schutz für wirklich politisch Verfolgte, wie wir ihn wollen, wie ihn unsere Verfassung unverändert garantiert, kann und wird nur unter der Voraussetzung auf Dauer Akzeptanz finden, wenn zugleich außer Zweifel bleibt, daß unbegründete Asylbegehren im Ergebnis nicht zu einem faktischen Daueraufenthaltsrecht in Deutschland führen können. Deshalb: Die von der SPD vorgeschlagenen Wege und Vorgehensweisen im Zusammenhang mit sogenannten Altfällen sind nicht tragbar. Sie führen im Ergebnis weitgehend zu einer Prämie für illegalen Daueraufenthalt. Die positive Entwicklung, zu der die Asylrechtsreform von 1993 geführt hat, würde im Ergebnis konterkariert werden, wenn wir diese Wege gingen. Ich will auf ein weiteres hinweisen. Vielfach unterlaufen, zum Teil sogar systematisch ausgehöhlt und torpediert, wird der Asylkompromiß in einer ganzen Reihe von Bundesländern auf der Ebene des Gesetzesvollzugs oder des scheinbaren Gesetzesvollzugs. ({8}) Hier häufen sich die Fälle, in denen SPD-geführte Landesregierungen im Rahmen der ihnen obliegenden Pflicht zur gesetzeskonformen Ausführung von Bundesgesetzen tatsächlich bundespolitische Opposition, bundespolitisch motivierte Blockaden auf der Ebene der Exekutive vollziehen. Verschiedene SPDLänder weigern sich weithin, die rechtlichen Vorgaben der Ausländergesetzgebung des Bundes mit der gebotenen Stringenz zu achten, namentlich im Zusammenhang mit der Abschiebung. Ich erinnere nur an ein besonders provokantes Beispiel, nämlich den seinerzeit vom Lande Hessen verfügten Abschiebestopp für Kurden, der eindeutig gegen die bundesgesetzlichen Vorgaben verstieß. ({9}) Ich erinnere auch an die Beispiele, wie etwa in grünroten Koalitionen heute versucht wird, rechtsstaatliche Arbeit von Ausländerbehörden indirekt unmöglich zu machen, indem man sogenannte Härtefallkommissionen, außerstaatliche Gremien einsetzt, ({10}) indem bestimmte Minister verfügen, daß ihnen jede Akte vorzulegen sei, alles mit der eindeutigen Tendenz, bundesgesetzliche Pflichten nicht zu erfüllen. ({11}) Auch das ist ein entscheidendes Stück notwendiger Sicherheitspolitik in unserem Land: Sicherheitspolitik, Verantwortung für die innere Sicherheit ist eine kooperative Aufgabe von Bund und Ländern. Wenn Länder hier mit Blockaden im Gesetzesvollzug dieser Verantwortung nicht genügen, dann wird es um die innere Sicherheit auf Dauer in unserem Land nicht gut bestellt sein. ({12}) Da kommt es überhaupt nicht in Frage, daß dem Bund dann entsprechende Verantwortlichkeiten zugewiesen werden. Ich erinnere an weitere Beispiele, die in diesem Zusammenhang in einer solchen Debatte auch anzusprechen sind. Da stellen sich Bundesländer, Hessen und Niedersachsen, hin und erklären, daß sie nicht mehr das Geld für die polizeilichen Schutzmaßnahmen für Castor-Transporte aufzuwenden bereit sind.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Scholz, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Frage kommt sachlich jetzt mit leichter Verzögerung, weil Sie die Meldung nicht gleich gesehen haben. Herr Präsident, es ist nicht weiter schlimm. Herr Kollege Scholz, darf ich Sie, da Sie so lebhaft die mangelnde Neigung oder Fähigkeit oder Bereitschaft der Länder beklagen, sich an Bundesgesetze zu halten und diese gesetzeskonform durchzusetzen, fragen, welche Aktivitäten Sie denn ergriffen haben, um das Land Bayern bei der Frage des § 218 zur Bundesgesetzestreue zu bewegen? ({0})

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Sonntag-Wolgast, diese Frage will ich Ihnen gerne beantworten. Ich sage Ihnen sehr deutlich, daß ich einen solchen Verfassungsverstoß, den Sie dem Freistaat Bayern glauben anlasten zu können, nicht sehe. ({0}) Das Land Bayern hat nichts anderes getan, als auf der Grundlage dessen, was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, zu handeln. Ich zitiere nur einen Satz aus der Entscheidung: Die Angabe von Gründen ist unerläßlich. Bayern hat als Bundesland wie auch alle anderen Bundesländer bei der Vollziehung dieses Gesetzes die entsprechenden Verfahrens- und Organisationsrechte. Der Bundesgesetzgeber hat dies nicht geregelt. Deshalb konnte es Bayern regeln. Alle, die es kritisieren, sind meines Erachtens auf dem verfassungsrechtlichen, um nicht zu sagen: verfassungspolitischen Irrweg, auch Sie als Fragerin. ({1}) Ich darf zu den Fällen zurückkehren, in denen ich wirklich Verfassungsverstöße von Ländern sehe. Wenn Länder ihre polizeilichen Verantwortlichkeiten nicht erfüllen, dann verweigern sie sich dem Recht unserer Bürger auf innere Sicherheit. Das BKA-Gesetz ist vorhin angesprochen worden. Die Länder rügen, daß ihnen Kompetenzen genommen würden. In Wahrheit werden ihnen keine genommen. Auf der anderen Seite verweigern sie die Erfüllung von Kompetenzen, die sie haben. Unsere Bürger haben ein Recht darauf, sie haben einen Anspruch darauf, daß die innere Sicherheit von Bund wie von Ländern im Rahmen der ihnen jeweils zustehenden Kompetenzen und Verantwortlichkeiten wirksam erfüllt werden. Wenn unser Bundesstaat den Weg geht, daß der Bund gute Gesetze macht - wir haben gute Gesetze gemacht und werden weitere gute Gesetze machen -, auf der anderen Seite die Länder blockieren, konterkarieren, opponieren und sich nicht an das halten, was zu einer bundestreuen und vor allem, ich sage hinzufügend: einer bürgertreuen, dem Bürger gegenüber verantwortlichen Gesetzesvollziehung gehört, dann wird es in unserem Lande mit der inneren Sicherheit nicht gut stehen. Dies gilt es zu vermeiden. Dies ist Aufgabe auch in diesem Haus, auch von der Opposition. Herr Körper, Sie haben vorhin davon gesprochen, Bund und Länder müssen das gemeinsan machen. Gehen Sie hin zu den Ländern! Sprechen Sie mit den Hessen, sprechen Sie mit den Niedersachsen! Sorgen Sie dafür, daß die banalsten Pflichten der polizeilichen Gefahrenabwehr von den Ländern erfüllt werden! Vielen Dank. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern liegen nicht vor. Vizepräsident Hans Klein Wir kommen deshalb zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz, zu den Einzelplänen 07 und 19. Ich erteile dem Bundesminister der Justiz, Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, das Wort. ({0}) Bundesminister der n Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, B u d Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Haushaltsdebatte geht jetzt um den Einzelplan 07, also um den Plan des Justizministeriums. Haushaltspläne werden heutzutage leider immer von Sparzwängen geprägt. „Pecunia nervus rerum" muß das Motto sein. Das kann man beklagen, aber das ist so. Das gilt leider überwiegend auch für die Justiz und Rechtspolitik. ({1}) - Ich sage ja: Ich bedaure es. Dabei zählt die Justiz keineswegs zu den Hauptverursachern der betreffenden Leere in den Kassen: Die justizspezifischen Ausgaben von Bund und Ländern machen, wie wir ausgerechnet haben, 1996 gerade 1,76 Prozent der Gesamtvolumina aus. Mein Haushalt, also der Einzelplan 07, füllt für 1997 mit 0,16 Prozent sicher nur eine sehr geringe Quote des Bundeshaushalts. Klein, aber fein. Dennoch ist es für mich als entschiedenen Verfechter des schlanken Staats oder der politischen Intention, die hinter der Forderung nach einem schlanken Staat steht, selbstverständlich, an die Justiz im Prinzip dieselben Prüfkriterien wie an die Verwaltung anzulegen. Es geht also um die Frage der Aufgabenkritik. Ich denke, für eine Aufgabenkritik ist in der Justiz nur sehr begrenzt Möglichkeit vorhanden. In einzelnen Bereichen müssen wir nachfragen, ob das alles, was Justiz heutzutage tatsächlich tut, notwendig ist, das heißt notwendigerweise bei der Justiz zu tun ist. Aber dabei wird nicht viel herauskommen. Es werden dort Marginalien zu besprechen und zu erörtern sein. Die Aufgabenkritik wird dort nur begrenzt zu Erfolgen führen, denn die Sicherung des inneren Friedens durch das staatliche Gewaltmonopol gehört nun einmal zu den klassischen Kernaufgaben des Staates. Nur die Herrschaft des Rechts bietet dem einzelnen die Gewähr, seine Rechte und Freiheiten gefahrlos ausüben zu können. Ohne das Recht, welches die verschiedenen Interessen abgrenzt und ordnet, sicher auch begrenzt, würde der Mensch mit seinen existenziellen Bedürfnissen, seinen Entfaltungswünschen in ständiger Unsicherheit leben. Eine Herrschaft des Rechts ist nicht ohne eine funktionierende Justiz denkbar, die seine friedensstiftende Funktion sichert. An diesem Punkt, nämlich bei dem Thema Justizentlastung kommt manches wieder, was Kollege Scholz soeben für den Bereich der Verwaltung schon gesagt hat. Ich denke, daß dies vorwiegend eine Aufgabe der Länder ist. Der Bund verfügt in Sachen Justiz nur über die obersten Gerichtshöfe. Beim Thema Justizentlastung darf aber jedenfalls nicht allein aus dem Blickwinkel der leeren Kassen diskutiert werden. Lediglich in Randbereichen kann darüber nachgedacht werden, ob sich der Staat aus Aufgaben zurückzieht. Hier will ich das Thema ,,außergerichtliche Streitbeilegung" ansprechen. Denn da ist der Bund als Gesetzgeber natürlich in der Lage, etwas zu tun. Dieser Bereich muß mit Sicherheit gestärkt werden. Ein Ansatz ist der von mir eingebrachte Entwurf für die Neuregelung des Schiedsverfahrensrechts. Er modernisiert das aus dem Jahr 1879 stammende Schiedsverfahrensrecht und paßt es an die von der Kommission für Internationales Handelsrecht der Vereinten Nationen entwickelten Standards an. Ich gehe davon aus, daß dieser Gesetzentwurf nicht nur die Bereitschaft zu einer raschen außergerichtlichen Streitbeilegung erhöht, sondern daß es auch gelingt, mehr internationale Schiedsverfahren nach Deutschland zu holen. Ein zweiter Ansatz für die Stärkung der außergerichtlichen Streitbeilegung ist eine Öffnungsklausel für eine landesgesetzliche Einführung obligatorischer außergerichtlicher Schlichtungsverfahren in geeigneten Fällen. Mit meinen Länderkollegen habe ich eine solche Öffnungsklausel insbesondere für Verfahren mit einem Streitwert von nicht mehr als 500 DM und für bestimmte Nachbarschaftsstreitigkeiten ins Auge gefaßt. Eine weitere Entlastung der Justiz durch verfahrensrechtliche Deregulierung - ebenfalls ein Prüfstein des schlanken Staats - stößt sicherlich an Grenzen. Aber den Raum bis an diese Grenzen wollen wir mit Bedacht ausschöpfen. Die Bundesregierung hat in allen Bereichen des Prozeßrechts Reformen durchgesetzt und auf den Weg gebracht. Die entsprechende Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung war heute - Sie wissen es wahrscheinlich - Beratungsgegenstand in einer Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses. Bei dieser Novelle zur Verwaltungsgerichtsordnung geht es im Kern um die Einführung einer allgemeinen Zulassungsberufung und der Zulassungsbeschwerde. In der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses ist heute eine Einigung erzielt worden. Wenn diese Einigung im Vermittlungsausschuß noch Bestand hat und das Parlament zustimmt, rechne ich ab 1. Januar nächsten Jahres mit einer deutlichen Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und im übrigen auch mit einer Stimulierung der Investitionstätigkeit; denn das Ganze gehört ja in das Maßnahmenpaket zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie ihrer entsprechenden verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Im Gesetzgebungsverfahren befindet sich ebenfalls eine Novelle zum Ordnungswidrigkeitenrecht. Auch das gehört zu dem Bereich Vereinfachung und Deregulierung. Die Möglichkeit, einen Einspruch auf die dem Betroffenen wichtigen Punkte zu beschränken, und eine attraktivere Ausgestaltung des schriftlichen Verfahrens werden das Ordnungswidrigkeitenverfahren nicht nur vereinfachen, sondern auch betroffenenfreundlicher machen. In der Ziviljustiz haben das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz aus dem Jahre 1990 und das Gesetz zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens von 1993 bereits zu einer Entlastung geführt. Wenn Sie beklagen - wofür ich viel Verständnis habe -, daß dies alles nicht genug sei, dann ist jedenfalls der Bund nicht die richtige Mauer, um die Klagen abzulassen. Die Klagemauer müßten vielmehr die Länder sein. Das jetzt von den Ländern im Bundesrat eingebrachte weitere Gesetz zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens wäre dann schon die dritte Entlastungsnovelle innerhalb eines Jahrzehnts. Die Kollegen, die weiter als ein Jahrzehnt zurückgezählt haben, sind schon bei zweistelligen Zahlen angelangt. Dies zeigt, daß offenbar unsere Wünsche noch nicht erfüllt wurden, was eine Vereinfachung und Verschlankung des zivilgerichtlichen Verfahrens anbetrifft. Meine Skepsis gegenüber solchen Initiativen, solange ihnen nicht eine wirklich erkennbare Konzeption zugrunde liegt, will ich gar nicht verschweigen. Dennoch werden wir die Vorschläge natürlich unvoreingenommen prüfen. Auch - damit will ich auf die Strafjustiz kommen -20 Jahre intensiv betriebene Entlastung der Strafjustiz hat nur einen eher bescheidenen Ertrag gebracht. Das ist wohl mit darauf zurückzuführen, daß Entlastungsmaßnahmen wie das 1994 mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz eingeführte beschleunigte Verfahren bisher nicht ausreichend genutzt wurden. Dabei ermöglicht dieses Verfahren ein schnelles Prozedere, wenn der Sachverhalt einfach oder die Beweislage klar ist. Jetzt, fast zwei Jahre nach Inkrafttreten dieser Regelung, nehmen die Landesjustizminister auf meine Bitten hin endlich auf Staatsanwaltschaften und Gerichte Einfluß, damit diese Straftaten im beschleunigten Verfahren verhandelt werden. Dies zeigt, daß Neuregelungen erst konsequent genutzt werden müssen, und zwar von der Landesjustiz, ehe neue Entlastungsmaßnahmen eingeleitet werden. Hektischer Gesetzesaktionismus ist keine Lösung. Weitere Reformwünsche müssen sorgfältig geprüft werden. ({2}) Deshalb habe ich zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts - denn auch hier sind wir nicht auf die Länder angewiesen - eine Kommission eingesetzt, die alle vorhandenen Vorschläge - da gibt es eine ganze Fülle, die für die Verschlankung des Bundesverfassungsgerichts gemacht worden sind - unvoreingenommen und ohne irgendwelche Vorgaben sorgfältig prüfen soll und, wenn es irgendwie möglich ist, auch neue erarbeiten und diskutieren soll, um zum Schluß einen Vorschlagsfächer zu präsentieren. Eine Reform ist hier dringend nötig. Niemand wird das bestreiten. Sie ist vor allen Dingen dringend geboten, wenn das Gericht nicht in der Flut seiner Streitsachen ertrinken soll. Für leichtfertige Einschnitte und Schnellschüsse ist hier kein Platz; denn dafür sind Bundesverfassungsgericht und seine Konzeption viel zu wichtig. Man hat es als Krone des Rechtsstaats bezeichnet, und nicht wenige Länder beneiden uns um diese Einrichtung. Dann haben wir aber auch wirklich die Pflicht, und ich will sagen: die verdammte politische Pflicht und Schuldigkeit, für seine Schlagkräftigkeit und seine Handlungsfähigkeit zu sorgen. Die Möglichkeiten einer Ausdünnung des Verfahrensrechts stoßen im Rechtsstaat an Grenzen. Deswegen müßten wir uns wahrscheinlich und überall darum bemühen, auch das materielle Recht zu deregulieren. Gerichte wenden nur das Recht an, das ihnen der Gesetzgeber, das wir ihnen an die Hand geben. Gesetze sind geronnene Politik. Eine wirkliche Deregulierung ist bei diesem unbestreitbaren Sachverhalt nur möglich, wenn wir uns auch von liebgewordenen politischen Anliegen zu verabschieden bereit sind. Das fällt uns natürlich immer einigermaßen schwer. Gleichzeitig muß die Deregulierung Hand in Hand mit einer Modernisierung der Rechtsordnung gehen. Als Bundesjustizminister beabsichtige ich, noch in dieser Legislaturperiode einige solche Erneuerungsvorschläge voranzubringen. Ich will einige nennen. Im Bereich des Zivilrechts sind dies neben den bereits im Parlamentsgang befindlichen Reformen des Kindschaftsrechts und des Eheschließungsrechts vor allem eine Vereinfachung des Mietrechts und eine Modernisierung des Handelsrechts. ({3}) - Genau, dazu will ich noch ein paar Worte sagen. Das geltende Mietrecht nämlich ist verstreut und zum Teil hochkompliziert geregelt und damit für die Mieter, im übrigen genauso für die Vermieter, unübersichtlich. Es soll im BGB zusammengefaßt und wieder systematischer sowie verständlicher werden. Die zwischen den - das sage ich ganz deutlich, weil da immer irgendwelche Tatarenmeldungen in die Presse gesetzt worden sind oder auch Befürchtungen laut geäußert wurden - Interessen von Mietern und Vermietern ausgleichende Funktion des Mietrechts bleibt erhalten. Es geht also wirklich um eine Vereinfachung. Die Reform des Handelsrechts ist ein Musterbeispiel für „Renovierung", wie ich hoffe. Wir werden sie Ihnen präsentieren; Sie mögen dann die Dinge kritisch beurteilen. Sie sieht vor, daß verschiedene altvordere Strukturen und Figuren aufgehoben bzw. geglättet werden. Das gilt etwa für das Recht der Firmennamen. Dieser Teil ist, um es deutlich zu sagen, antiquiert und paßt nicht mehr in die heutige Wirtschaftsordnung. Darüber hinaus wird unter anderem - selbst wenn das ganze Lehrbuchregale zum Einstürzen bringt - der Kaufmannsbegriff vereinheitlicht. Zum Schluß will ich noch auf das Strafgesetzbuch eingehen, das ebenfalls überarbeitet werden soll. Es sieht nach den Wertungen aus der Gründerzeit des deutschen Kaiserreichs hohe Strafen für Eigentums- und Vermögensdelikte vor. Das wird angesichts der geringeren Strafen für Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit heutzutage wohl nicht mehr durchzuhalten sein. Daran müssen wir also auch arbeiten. Ich bitte Sie herzlich, kritisch, konstruktiv und - vor allen Dingen - im Ziel solidarisch daran mitzuarbeiten, die Schlagkraft der Justiz, der Rechtsordnung in diesen schwierigen Zeiten zu erhöhen, zu stärken. Ich bitte um Ihre Unterstützung für den Haushalt des Einzelplans 07. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin, Sie haben das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihre Bitte um konstruktive Mitarbeit, Herr Bundesjustizminister, verhallt bei uns - wie immer - nicht ungehört. Ich habe mir heute morgen angehört, was der Herr Bundeskanzler gerne für eine Opposition hätte: konstruktiv bis zum Umfallen und ein Ideenlieferant, damit Sie so richtig aus dem vollen schöpfen können. Dann, so hat er gesagt, sei die Regierungskoalition durchaus bereit, mit uns zu reden. Wenn man sich die Justizpolitik der vergangenen Jahre - man muß ja leider schon sagen: der vergangenen Jahrzehnte - anschaut, dann kann man, beinahe ohne Ironie, feststellen, daß wir dem Wunschbild des Bundeskanzlers gerade im Bereich der Justiz vollständig entsprechen. Herr Bundesjustizminister, Sie haben über einige Punkte geredet, die natürlich auch uns am Herzen liegen, so z. B. die Frage der Modernisierung der Justiz, die Frage, welche Aufgabe Rechtspolitik heute hat. Unsere Antwort auf diese Frage: Umsetzung des Rechtsgüterschutzes und der Rechtsgüterordnung des Grundgesetzes unter den gegenwärtigen Umständen. Als weiteren Punkt, der uns ebenfalls sehr am Herzen liegt, füge ich noch die Kooperation im Bereich der Justiz über die Grenzen hinaus zu. Diese drei Punkte mahnen wir im halbjährlichen Abstand bei den Generalaussprachen zur Justiz- und Rechtspolitik hier immer wieder an. Die Hälfte dieser Legislaturperiode ist schon wieder vorbei. Sie, Herr Justizminister, sind in Ihrer sympathischen Art seit einem Dreivierteljahr im Amt. Aber alles - und das macht einen so unlustig, wenn man über Rechtspolitik nachdenkt - ist so verdammt zähflüssig. ({0}) Dabei sind die Vorlagen die wir Ihnen liefern, wirklich gut. Ich darf ein paar aufzählen und werde nicht mehr nehmen, als beide Hände Finger haben - das heißt: nicht mehr als zehn, Herr Kleinert. Herr Scholz sprach über Staatsangehörigkeit. - Ich kann die Entwürfe, die wir dazu vorgelegt haben, gar nicht mehr zählen - und Sie sind über diese Fehlgeburt einer Kinderstaatszugehörigkeit immer noch nicht hinaus. Kein Mensch von Ihnen weiß, worauf das hinauslaufen soll. - Jetzt heben Sie wieder die Hände; das macht Sie so sympathisch. Aber ich weiß nie so recht, ob ich mich jetzt mit Ihnen auseinandersetzen und Ihnen böse sein soll, ({1}) daß Sie bei Ihrem Koalitionspartner nichts erreichen, oder ob ich mich an die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU oder nur an die der CSU wenden soll, um Klarheit in dieser Frage zu bekommen. Unser Problem ist, daß wir immer das Gefühl haben, bei Ihnen in ein schwarzes Loch zu reden. Dabei sagen wir doch nur: Jetz schwätzet nit immer bloß, sondern machet en Strich! Laßt uns endlich das tun, was getan werden muß. Das heißt: Wir müssen die Kinder der Einwanderer in der Bundesrepublik Deutschland endlich integrieren. ({2}) Wir brauchen vernünftige Regelungen für ein Staatsangehörigkeitsrecht für Kinder, und zwar jetzt. Der Preis wird doch nicht geringer, ihre Schwierigkeiten werden nicht kleiner, wenn Sie noch lange zuwarten. Aber die Zeit vergeht, und der Goodwill der jungen Leute und Kinder ist dann vertan. Wenn wir auf Konsensbildung im Innern und auf Integration Wert legen, brauchen wir ganz dringend eine Änderung. Ich will noch einen Punkt ansprechen, von dem auch Herr Scholz gesprochen hat. Es war gut, daß wir in den vergangenen Jahren bei Asylbewerbern und auch bei Spätaussiedlern, die nicht anerkannt werden konnten, in schwierigen und komplexen Fällen - die Fälle waren außerordentlich vielschichtig - zur Altfallregelung gekommen sind. Nun ist es aber so, daß Menschen, die unter dieser sogenannte Altfallregelung fallen, auch Kinder haben. Ich will Ihnen einmal einen Fall schildern, der im Wahlkreis eines jeden von Ihnen passieren kann. Wenn Sie da an einer gnadenlosen, ideologiebehafteten Ablehnung einer vernünftigen Staatsangehörigkeitsregelung festhalten, werden Sie ihn nicht lösen können. 1985 ist eine Familie aus Ungarn in die Bundesrepublik gekommen. Die Großmutter ist als Spätaussiedlerin anerkannt worden, Ihre Tochter, die ein kleines Kind hatte, hat diese Anerkennung nicht bekommen. - Ich zweifle nicht daran, daß alles mit rechten Dingen zuging; die Bescheide waren jedenfalls bestandskräftig. - Das Kind, also die Enkeltochter, ist heute in der letzten Schulklasse. Auf Grund der Altfallregelung durften Mutter und Kind in der Bundesrepublik bleiben. Sie wurden bis 1992 gedulDr. Herta Däubler-Gmelin det und haben dann im Rahmen der Altfallregelung eine Befugnis bekommen. Wenn Sie nun annehmen, das - das jetzt 18jährige - junge Mädchen hätte entweder nach den Tatbeständen der §§, 85 ff. des Ausländergesetzes oder nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz eingebürgert werden können, dann irren Sie. Beide Rechtsgrundlagen setzen nämlich voraus, daß es sich insgesamt zehn Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten hat. Das ist aber dann nicht der Fall, wenn es lediglich eine Befugnis hat; dafür muß es eine Erlaubnis haben. Diese bekommt es aber erst, wenn es acht Jahre eine Befugnis hatte. Die Vereinfachungsregelungen nach dem Ausländergesetz, also nach §§ 85 ff., greifen in diesem Fall jedoch nicht mehr, weil es dann älter als 23 Jahre sein wird. Dieses Mädchen wird also wahrscheinlich erst im Jahre 2010 eingebürgert werden können. Das ist absolut unerträglich, wenn man weiß, daß diese junge Frau seit ihrem siebten Lebensjahr in der Bundesrepublik Deutschland ist und auch hier bleibt. Nur weil einige unter Ihnen so verbohrt sind, können wir keine vernünftige Staatsangehörigkeitsregelung für Kinder und junge Leute treffen, die wirklich flexibel genug ist, um den komplexen Sachverhalten gerecht zu werden. Das ist das, was einem das Leben so schwer macht und warum man sich fragt: Hat eigentlich das Werben des Bundeskanzlers oder anderer Persönlichkeiten um die konstruktive Mitarbeit der Opposition, so gern man dies auch hört, irgendeinen Sinn? Ich will in diesem Zusammenhang einiges zu wirklich guten Vorlagen sagen, die wir hier vorgelegt haben. Wir haben in unseren Reihen Kolleginnen und Kollegen, die sich begeistert hinsetzen und mit Spezialisten aus Wissenschaft und Praxis Gesetzentwürfe erarbeiten, die gut sind. Wir haben zahlreiche Anträge gestellt: Anträge zur Strafrahmenharmonisierung und zur Angleichung der Strafrahmen an die Rechtsgüterpriorität des Grundgesetzes. Wir haben Vorlagen zur Sanktionen- und zur Strafreform eingebracht; ebenso haben wir Vorlagen zum Kindschaftsrecht vorgelegt, Herr Justizminister. Darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Wir haben eine Reihe von Anträgen und Gesetzentwürfen zur Verbesserung des wirklich schrecklichen und auch gefährlichen Phänomens der Jugendkriminalität eingebracht. Wir haben Stellung genommen zu der Tatsache, daß die Täter immer jünger werden. Schließlich haben wir einiges im Bereich Kinder-Opfer-Zeugen gemacht und Vorlagen zur Entlastung der Justiz vorgelegt. Ich darf nur an eine unserer jüngsten Vorlagen erinnern, an das Ordnungswidrigkeitengesetz. Damit haben wir Ihnen vernünftige Argumente geliefert. Laßt uns aber nicht immer nur darüber reden - das ist ja noch am einfachsten - oder die Verantwortung auf die Länder schieben; denn wir wissen, daß wir sie gemeinsam tragen müssen. Bund und Länder sind hinsichtlich der Novellierung in diesem Bereich gemeinsam in der Verantwortung. Sie sollten sie also auch wahrnehmen. Das ist aber gegenwärtig nicht der Fall. Ich möchte noch einmal sagen, welche Schwerpunkte wir setzen wollen. - Es gab in diesem Haus schon Zeiten, in denen die Mitgestaltung an der Rechtspolitik nicht eine schwere Last, sondern wirklich eine Lust war. So soll es auch wieder werden. - Vier Schwerpunkte sind zu nennen: Erstens. Durchsetzung der Rechtsgüterordnung des Grundgesetzes unter den Bedingungen von heute. Das heißt: eintreten für die Schwächeren, für ihre Rechte und ihre sozialen Chancen und übrigens auch für ihre Umwelt. Zweitens. Bekämpfung der Kriminalität und ihrer Ursachen. Hinsichtlich der Bekämpfung der Kriminalität sind wir immer sehr schnell mit Ihnen einig. Wenn wir dann aber fragen, worin die Ursachen der Kriminalität bestehen, und fordern, daß man diese Ursachen bekämpfen muß, dann hört diese Einigkeit sehr schnell auf. Deswegen wird es dann sehr leicht - ein Catch-22-Spiel. Drittens. Modernisierung der Justiz. Hinsichtlich der Grundauffassung, daß Bund und Länder hier handeln müssen, liegen wir nicht weit auseinander. Das gilt übrigens ebenso für die rationelle Verwendung der Ressource Recht wie für die Aufgabe, die uns betrifft, nämlich Gesetze zu machen, die nicht nur mit dem Schlagwort „Deregulierung" belegt werden können. - Herr Bundesjustizminister, das betrifft natürlich ganz besonders das Justizministerium, weil Sie die ersten Vorlagen liefern. - Denn das ist schon sehr ideologiebesetzt. Darunter kann man z. B. verstehen, daß die Position des wirklich schützenswerten Schwächeren aufgegeben wird. Das aber ist mit uns nicht zu machen. Sehr wohl aber sind wir dafür, daß wir weniger klarere und stringentere Gesetze machen. Ebenso sind wir dafür - auch Kollege Kleinert wird nicht müde, darauf hinzuweisen; das war mir schon immer von Grund auf sympathisch; ich hoffe, Sie entschuldigen, daß ich das sage -, daß diejenigen, die Gesetze ausführen, nämlich Richterinnen und Richter oder auch Beamtinnen und Beamte, wieder daran gewöhnt werden, daß sie die Verantwortung haben, nach Recht und Gesetz zu entscheiden. ({3}) Man sollte diesen bürokratischen Mehltau, der uns die Lust an der Rechtspolitik kaputtmacht, nicht auch noch auf die Rechtsanwender herabfallen lassen. Ein weiteres anzugehendes Problem besteht - ich weiß, Herr Bundesjustizminister, daß Sie das ganz ähnlich sehen - in der Beantwortung der Frage, welche Richterinnen und Richter wir eigentlich brauchen, das heißt in der Beantwortung der Frage, wie die Juristenausbildung künftig aussehen soll. Diese Frage muß wieder auf den Tisch. Vierter Schwerpunkt: Kooperation über die Grenzen hinweg. Das ist eine der Notwendigkeiten, die wir im Auge haben müssen. Alle Welt spricht über Globalisierung. Was bedeutet dies eigentlich? - Die Grenzen für Wirtschaft, Kapital und auch Technologie bestehen schon lange nicht mehr - in Europa sowieso nicht und darüber hinaus auch nicht. Die Grenzen bestehen nur für Gesetze, für Konsens- und Wertebildung, für Polizei und Gerichte sowie für die Durchführung von Gesetzen, und zwar ziemlich hermetisch. Dies führt zu Reibereien und dazu, daß man kurz vor Wahlen seitens der Union ganze Tiraden über Ausländerkriminalität hören kann. Gemeint sind dann - ich finde den Begriff wenig präzise, weil man mit dem Begriff „Ausländerkriminalität" alle hier wohnhaften, nicht eingebürgerten, aber tatsächlichen Inländer-Ausländer mit beleidigt - die Nichtseßhaften mit fremder Staatsangehörigkeit, die aus sozialen Gründen in der Tat außordentlich häufig kriminell werden. Es ist völlig klar, daß wir von diesen genauso wie von Deutschen die Befolgung der Gesetze verlangen. Das ist gar keine Frage. Ausländerkriminalität ist etwas ganz anderes. Deswegen spielt Kooperation hier ebenfalls eine wichtige Rolle. Folgendes sollten Sie einmal bedenken: Alle, auch im Bereich der inneren Sicherheit, reden über Korruptionsbekämpfung. Unglaublich viele Deutsche korrumpieren im Ausland. Auch das ist Kriminalität, die unter dem umfassenden Stichwort „Ausländerkriminalität" zusammengefaßt, und natürlich auch bekämpft werden muß. Hier brauchen wir ebenfalls eine bessere Kooperation. In den letzten Tagen und Wochen hatten wir endlich eine äußerst öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung über so schreckliche Dinge wie sexueller Mißbrauch von Kindern, Kinderpornographie und Kinderprostitution. Ich sage „endlich", weil ich mich noch sehr gut an die Zeiten erinnere, in denen das von vielen - Gott sei Dank nicht von allen, die hier sitzen - so als eine feministische Geschmäcklerei abgetan wurde. Aber man kann dazulernen. Ich bin froh, daß das so ist. Nur, ich erinnere mich daran, daß wir zum Teil mit Engelszungen - wenn Sie uns das zutrauen - reden mußten, als wir damals hier hinsichtlich Verjährungsfristen beim sexuellen Mißbrauch von Kindern um Ihre Zustimmung geworben haben. Da mußten wir mit Ihnen wirklich ringen. Von besserer Einsicht war man damals weit entfernt. Hier bleibt allerdings noch viel zu tun: Ansätze dazu sehe ich. Sexueller Mißbrauch von Kindern ist Kriminalität, die auch Auslandsberührung hat. Das sind Deutsche, die im Ausland übelste Verbrechen begehen, auch hier, aber auch im Ausland. Es besteht keine Chance der Aufrechterhaltung von Werten, keine Chance der Durchsetzung der Rechtsgüterordnung und der Wertordnung des Grundgesetzes, wenn wir nicht die Kooperation mit unseren Nachbarstaaten und darüber hinaus erheblich verbessern. Was heißt jetzt „Kooperation"? Kooperation heißt - das betrifft nun uns, das betrifft nicht die Länder; das betrifft Sie, Herr Bundesjustizminister, das betrifft den Rechtsausschuß und auch diesen Bundestag als Ganzes -, daß wir in der Wertegestaltung, bei der Verabschiedung von Gesetzen, die wir machen, sehr viel mehr auf das achten müssen, was im Ausland um uns herum passiert. Dem sollten wir dann Rechnung tragen, wenn wir neue Tatbestände regeln. Ich darf in diesem Zusammenhang an die Bioethik-Konvention im Europarat erinnern. Da wäre es übrigens sehr hilfreich gewesen, wenn die Bundesregierung sehr viel früher und sehr viel offener mit dem Bundestag geredet hätte. Gerade von den Kolleginnen und Kollegen aus der Bundesrepublik in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist eine Menge zurechtgerückt worden. Aber Sie wissen, die Auseinandersetzung ist noch lange nicht zu Ende; es geht da es wirklich um Grundsatzfragen. Das gleiche haben wir auch bei Europol. Auch da geht es nicht nur um die Frage: Wer macht was? Es geht noch nicht einmal nur um die schon wesentlich grundsätzlichere Frage: Wie ist es eigentlich mit dem Rechtsschutz in Europa für solche Akte, die eine europäische Institution vornehmen soll? Soll hier der Europäische Gerichtshof zuständig sein, oder wird jedem einzelnen zugemutet, daß er hier zunächst die Gerichtsbarkeit seines Landes in Anspruch nimmt und erst dann die europäische Gerichtsbarkeit? Vielmehr geht es auch um die Grundsatzfragen Rechtsstaatlichkeit und ihre einheitliche Interpretation. Und es geht um die Grundsatzfrage Datenschutz, Persönlichkeitsrecht in Europa. Der Ruf nach schärferen Gesetzen, der so in Mode ist, bringt uns nicht mehr sehr viel weiter, weil so üble Verbrechen - ich komme noch einmal darauf zurück - wie Prostitution mit Kindern, Kinderpornographie oder auch Sextourismus und Vermittlung von Kindern in der Bundesrepublik Deutschland längst strafbar sind, mit hohen Strafen belegt werden. Es ist nun nicht so, daß man nicht mit uns reden kann, wenn man irgendwo noch eine Lücke entdeckt. Das ist gar nicht mein Punkt. Nur, was ich als Augenwischerei empfinde, als Täuschung der Öffentlichkeit: daß dann, wenn Verbrechen übelster Art passieren, die einzige Reaktion von Bundesregierung oder der sie tragenden Parteien wiederum der Ruf nach mehr oder schärferen Gesetzen ist, obwohl doch jeder weiß, Kooperation ist das, was wir brauchen: Kooperation auf der gesetzgeberischen Ebene, Kooperation im Gerichtsverfahren, Kooperation, die Sie mit Verträgen hier jetzt angekündigt haben. Da wird es hohe Zeit. Und natürlich brauchen wir auch eine Revision der Gesetze über Auslandsstraftaten. Ich habe den Eindruck - das konnten wir jetzt gerade bei den in Thailand passierten scheußlichen Fällen sehen -, daß wir mit dem, was heute in unserem Strafgesetzbuch steht - hinsichtlich der Voraussetzungen der Auslandsstraftaten, die hier zu einer Bestrafung führen können - nicht weiterkommen. Deshalb werden wir uns - und wir werden darauf bestehen, daß wir das tun - im Rechtsausschuß darüber Gedanken machen müssen, wie wir diese Voraussetzungen so gestalten, daß ein solch edler Grundsatz, daß man Kinder nicht zu Prostitutionszwecken vermitteln und über die Grenzen schaffen darf usw., nicht nur im Gesetz steht, sondern daß man diese Kriminellen, wenn man sie hat, auch tatsächlich vor Gericht stellen und aburteilen kann. Es würde mich schon interessieren, Herr Bundesjustizminister - ich habe gerade von thailändischen Fällen geredet -, ob denn nun die AuseinandersetDr. Herta Däubler-Gmelin zung zwischen dem Herrn Bundesinnenminister und Ihnen über die Möglichkeiten und die Zuständigkeiten der BKA-Beamten in der thailändischen Botschaft zur Verhinderung solcher Fälle, wenn man solche Straftäter mit deutscher Staatsangehörigkeit kennt, beendet ist. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten darauf noch einige Worte verwendet. Modernisierung der Justiz: Herr Bundesjustizminister, Sie haben uns hier an Ihrer Seite. Aber wir hätten schon ganz gerne, daß der angekündigte Bericht über die Auswirkungen des Rechtspflegeentlastungsgesetzes endlich vorgelegt wird. Ich weiß schon, daß Sie sich die entsprechenden Zahlen nicht einfach aus den Rippen schneiden können, sondern daß Sie hier die Mitwirkung der Länder brauchen. Es wäre natürlich gut, wir wären uns hier einig. Daß wir Sie dabei unterstützen, brauchen wir nicht eigens zu sagen. Es wäre wünschenswert, wenn wir die Zahlen bald bekämen, weil wir in der Frage der Vereinfachung wirklich weiterkommen wollen. Wenn ich schon dabei bin, einige Dinge anzumahnen, die noch nicht erfüllt sind: Einsatz für Schwächere, Kindschaftsrecht. Wir haben uns gefreut - nachdem wir nun lange genug mit unserem Antrag vorangegangen sind -, daß das Wohl des Kindes und die Verantwortlichkeit der Eltern im Mittelpunkt stehen sollen. Aber es ist natürlich nicht gut, wenn wir jetzt eine Gesetzesvorlage haben, bei der im Grunde genommen nur diese Rechthaberei - wer soll denn Recht haben? Vater oder Mutter? - fortgesetzt wird. Vielmehr muß das Kind und sein Wohl im Mittelpunkt stehen. Wenn man das so sieht - ich entnehme das jetzt Ihrer Gestik, Herr Bundesjustizminister -, dann ist es richtig, nicht immer einen Fall gesetzlichen gemeinsamen Sorgerechts anzunehmen, gegen den man sich dann im Einzelfall wenden muß, sondern für das gesetzliche gemeinsame Sorgerecht den gemeinsamen Antrag vorauszusetzen. Das wäre sinnvoll. Denn, wenn dieser gemeinsame Antrag nicht zustande kommt, dann ist das schon ein mehr als deutliches Indiz dafür, daß Vater und Mutter, die sich wahrscheinlich über die Scheidung furchtbar gestritten haben, das auch weiter tun werden. Das wäre keine vernünftige Grundlage für eine gesetzliche Regelung. Eintreten für Schwächere: Sie haben uns vor einigen Monaten - entweder hier oder im Rechtsausschuß - versprochen, daß Sie Rechtstatsachenforschung betreiben lassen würden, wenn es zum Beispiel darum geht, die Zuordnung der ehelichen Wohnung bei Frauen, die geschlagen wurden und Kinder haben, neu zu regeln. Diese Rechtstatsachenforschung ist immer noch nicht auf dem Weg; ein Auftrag ist nicht vergeben worden. Meine Bitte ist, dafür zu sorgen, daß ein solcher Auftrag endlich die geheiligten Räume des Justizministeriums verläßt. Bei uns verdichtet sich der Eindruck, daß irgend jemand in der Öffentlichkeit zwar sagt, man wolle das, aber dann die Sache hintertreibt. Das finde ich schade. Letzter Punkt, Herr Bundesjustizminister: Wer viel im Ausland ist, weiß, daß das Interesse am deutschen Rechtssystem und an der deutschen Auffassung von Rechtsstaatlichkeit dort groß ist. Nicht zu Unrecht wird in weiten Teilen der Welt unsere Interpretation des Rechtsstaatsprinzips und unser Rechtssystem mit dem wirtschaftlichen Wohlstand der Bundesrepublik in Zusammenhang gebracht. Es besteht ein Interesse daran, in vielen Rechtsbereichen Beratung zu bekommen. Das gilt insbesondere für Länder in Transformation, sei es nun in Zentralasien oder in Mittelosteuropa. Wir wissen, daß die Bundesregierung hier in einigen Bereichen hilfreich gewesen ist. Ich würde mich freuen, wenn Sie, Herr Bundesjustizminister, diesem Haus einen Bericht geben können, wie es auf diesem Felde steht. Sie haben unsere Unterstützung, daß man hier mehr Geld ausgibt. Das ist wahrscheinlich bei den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. ähnlich. Es wäre gut, wenn man rechtzeitig in die Zukunft investieren würde. Ich denke, das täte unserem Land, übrigens auch dem Rechtsstaatsprinzip, sehr gut. Herzlichen Dank. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin, wenn ich Ihnen so zuhöre, dann habe ich nicht den Eindruck, daß Sie die Lust an der Rechtspolitik verloren haben. Auch wir haben sie nicht verloren. ({0}) Ihre Bemerkung zur Staatsangehörigkeit will ich doch kurz aufgreifen. Für uns steht die Staatsangehörigkeit am Ende der Integration. Sie ist nicht direkt ein Mittel zur Integration, sondern sie steht, wie gesagt, am Ende eines solchen Vorganges. Deswegen haben wir Skepsis gegenüber einer doppelten Staatsangehörigkeit im Kindes- und Jugendalter, weil wir meinen, daß dies letztendlich doch zu einer endgültigen doppelten Staatsangehörigkeit führt. Wir überlegen uns derzeit Möglichkeiten und Wege, wie wir es so gestalten können, daß wir zwar den Kindern die Integration besser ermöglichen, als dies derzeit der Fall ist, daß aber am Ende nicht die Notwendigkeit steht, es zu einer doppelten Staatsangehörigkeit kommen zu lassen. Ihr Modell scheint uns ein wenig in diese Richtung zu gehen. Deswegen lehnen wir es ab. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist zweifellos richtig, daß wir uns Gedanken machen müssen - das ist bei beiden Vorrednern schon angeklungen -, wie wir die Justiz, um ein Schlagwort aufzunehmen, verschlanken. Es liegen bereits zwei Gesetzentwürfe des Bundesrates in dieser Richtung vor. Die VwGO haben wir schon verabschiedet. Diese Gesetzentwürfe des Bundesrates werden von den Überlegungen motiviert, daß man auch in der Justiz sparen müsse. Zweifellos muß man dies, und zweifellos gibt es auch Ansatzpunkte, in der Justiz zu sparen. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß man von einer Kostenexplosion in der Justiz nicht reden kann. Man muß auch ein wenig darauf achten, daß die Justiz eine wichtige Staatsaufgabe ist. Manchmal scheint mir das bei dieser Diskussion um die Verschlankung auch der Justiz verlorenzugehen. Die Justiz hat im Jahre 1991 in Bund und Ländern zusammen 11 Milliarden DM verbraucht. Das war genausoviel wie die wirtschaftspolitisch umstrittenen Subventionen für die Kohle. Im Jahre 1995 waren es 16 Milliarden DM. Zweifellos ein krasser Anstieg, aber er ist bedingt durch den Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern, die inzwischen natürlich auch Geld fordert. Also, von der Justiz zu sagen, sie stehe unbedingt unter Sparzwängen - wie das beispielsweise im gesundheitspolitischen Bereich der Fall ist, in dem man wirklich von einer Kostenexplosion reden und sich Gedanken darüber machen muß, wie man das in den Griff bekommt -, so weit, glaube ich, brauchen wir nicht zu gehen. Die 16 Milliarden DM sind nicht einmal 1 Prozent der Gesamtausgaben von Bund und Ländern. ({1}) Bei dieser Debatte sollten wir, meine ich, auch auf diesen Gesichtspunkt hinweisen. Natürlich heißt das nicht, daß wir nicht reformieren sollten. Selbstverständlich müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Verfahrensgänge beschleunigen können, wie wir den Einzelrichter stärken können und wie wir vielleicht auch in bezug auf die Rechtsmittel Einschränkungen vornehmen können. Das ist zweifellos ein Thema. Das will ich gar nicht vom Tisch wischen. Es wird immer behauptet, die Justiz sei ein öffentlicher Dienstleistungsbetrieb für private Konflikte. Zweifellos ist es richtig, daß beide Parteien, die zur Justiz gehen und einen Zivilprozeß führen, diesen staatlichen Dienstleistungsbetrieb, wenn ich das einmal so salopp sagen darf, in Anspruch nehmen. Aber jedes Urteil wirkt ja nicht nur für und gegen eine Partei, sondern hat zugleich immer auch eine rechtspolitische Gesamtbedeutung, eine Bedeutung für die Gesellschaft überhaupt. Vor allen Dingen wenn es von einem Obergericht kommt und dort erstritten ist, schafft es Klarheit in einer umstrittenen Rechtsfrage. Das ist jedenfalls sehr oft der Fall. Das darf man nicht außer acht lassen, wenn man sich Gedanken darüber macht, wie man Justiz verschlanken kann. Das führt dann dazu, daß man das Argument, es würden bei uns zu viele Prozesse geführt, relativ sehen muß. Es ist richtig, daß die Richter bei uns nicht über Arbeitsmangel zu klagen haben. Es werden bei uns viele Prozesse geführt, und es gibt bei uns auch viele Richter, mehr als in anderen europäischen Ländern. Das war zwar immer so, muß aber nicht immer so bleiben. Aber wenn es richtig ist, daß jedes Urteil im zivilprozessualen Bereich nicht nur zwischen den Parteien wirkt, sondern darüber hinaus für die gesamte Rechtsordnung Bedeutung hat, dann ist jedenfalls das Argument, bei uns würden zu viele Prozesse geführt, auch unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen. Ich will dieses Argument damit gar nicht wegwischen, aber ich möchte dieses Argument, das uns immer entgegengehalten wird, einmal unter diesem Blickwinkel beleuchten. Deswegen brauchen wir uns auch nicht so arg viele Sorgen darüber zu machen, wenn in einem bestimmten Rechtsgebiet plötzlich eine große Zahl von Prozessen geführt wird. Das ist meistens ein Zeichen von Unsicherheit im rechtlichen Bereich. Diese Unsicherheit kommt sehr oft durch Neuerungen und durch neue Erkenntnisse. Die Justiz versucht, in diesen Prozessen die Unsicherheit wieder einzufangen, sie in richtige Bahnen zu lenken und auf sie zu reagieren. Sie kann es oft viel besser als der Gesetzgeber, weil sie sensibler und auf den Einzelfall bezogen reagieren kann. Dennoch gibt es bei uns Prozesse, bei denen man sich fragen muß, warum sie geführt werden. Das sind viele. Es gibt Rechtsgebiete, die seit Jahren ausgepaukt sind. Denken wir einmal an den verkehrsrechtlichen Bereich. Dennoch haben wir im Jahre 1995 über 130 000 Prozesse im verkehrsrechtlichen Bereich gehabt. Man fragt sich natürlich, woher das kommt. Das kommt daher - das dürfen wir bei einer solchen Gelegenheit nicht verschweigen -, daß die Parteien die Kosten nicht zu scheuen brauchen, weil sie rechtsschutzversichert sind. Es kommt auch daher - auch das muß man bei einem solchen Bereich erwähnen -, daß die Anwälte hier und dort nicht immer richtig beraten. Vielleicht ist für diesen Bereich der Schlichtungsgedanke, die Schiedsgerichtsbarkeit, die Möglichkeit, einen Konflikt außerhalb der Gerichte zu regeln, der richtige Weg. Wir wollen diesen Gedanken jedenfalls unterstützen. Man braucht ihn nicht auf einen ausgepaukten Rechtsbereich zu begrenzen, sondern kann ihn auch auf Prozesse mit einem Streitwert von unter 500 DM ausdehnen. Das muß man gut abwägen. Aber den Schlichtungsgedanken, also die Möglichkeit der Konfliktbereinigung außerhalb des Gerichtes, wollen wir nachhaltig unterstützen. Dabei sind wir, Herr Minister, an Ihrer Seite. ({2}) Während wir in dieser Legislaturperiode im Bereich der Justizentlastung noch ganz am Anfang stehen, sind wir im Bereich des Kindschaftsrechts schon erheblich weitergekommen. Ich möchte Ihnen, Frau Kollegin, bei dieser Frage ein wenig widersprechen, weil ich meine, daß durch Ihre Ausführungen vielleicht ein falscher Akzent entstanden ist. Wir treten dafür ein, daß beide Elternteile, wenn eine Ehe geschieden wird, grundsätzlich auch nach der Scheidung Verantwortung für ihre Kinder übernehmen müssen. Ich bin sicher, darin sind wir einer Meinung. Deswegen, sagen wir, ist das gemeinsame Sorgerecht der richtige Weg. Aber ich stimme mit Ihnen überein: Wir wollen das nicht gesetzlich vorschreiben bzw. verordnen. Wir wollen es auch nicht auf einen Antrag im Prozeß ankommen lassen. Wir wollen aber der Notwendigkeit Rechnung tragen, das Thema im Prozeß zu erörtern. Es kann nicht einfach stillschweigend darüber hinweggegangen werden. Sofern es um das Nichtbeachten geht, ist die massive Kritik, die an diesem Gedanken geübt worden ist, richtig. Wir wollen, daß das im Prozeß erörtert wird, weil wir meinen, daß das eine viel zu wichtige Frage ist, als daß sie der Richter einfach schweigend übergehen kann. Darin stimmen wir mit Ihnen überein. Ich möchte noch auf einen anderen wichtigen Bereich eingehen, obgleich ich gerne noch weitere Probleme des Kindschaftsrechts erörtert hätte. Dieser andere Bereich der Justizpflege ist die Bekämpfung der Kriminalität. Das ist eines der wichtigsten Gebiete unseres politischen Bemühens. Wir werden in Kürze die Möglichkeit haben, Gangsterwohnungen elektronisch überwachen zu können. Wir haben dann endlich das Mittel, das andere europäische Länder längst haben. ({3}) Der organisierten Kriminalität geht es aber vor allen Dingen um den Gewinn, um das Geld. Deswegen werden wir das Geldwäschegesetz in seinen Tatbeständen erweitern. Ich habe sehr viel Verständnis dafür, wenn Sie sagen, daß wir den Zugriff auf das Verbrechergeld in einer Weise ermöglichen müssen, die die Polizei nicht dazu zwingt, stehenzubleiben, wenn sie auf jemanden mit einem Koffer Geld trifft. Aber wir haben doch - ich bitte um Verständnis dafür - rechtsstaatliche Bedenken, ob wir die Beweislastumkehr mitmachen sollen. ({4}) Wir denken daran, den Zugriff - die vorläufige Beschlagnahme, also die Möglichkeiten nach § 111 b der Strafprozeßordnung - zu erleichtern und die Bedingungen dafür nicht so scharf einzugrenzen, wie das im Augenblick der Fall ist. Dazu gibt es Vorschläge vom Justizminister. Ich hoffe, daß wir dem Anliegen gerecht werden, ohne daß wir dabei von rechtsstaatlichen Grundsätzen abweichen müssen. ({5}) Wir werden in Kürze die Vorlage der Bundesregierung zur Bekämpfung der Korruption im Bundestag erörtern können. Ich meine, daß die Unkenrufe, hier komme die Koalition nicht zu Stuhle, falsch sind. Die Konferenz von Stockholm gegen Kindesschändung und die gleichzeitig bekanntgewordenen furchtbaren Verbrechen in Belgien haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt, und das ist gut so. Wir stimmen mit dem Justizminister überein, daß man überlegen muß, ob man nicht den Strafrahmen für die schweren Straftaten in diesem Bereich von zehn Jahren auf 15 Jahre und die Eingangsstrafen, also die unterste Strafmöglichkeit in leichteren Fällen, von sechs Monaten auf zwölf Monate erhöhen sollte. Insofern meinen wir, daß der Justizminister recht hat. Aber es muß uns vor allen Dingen um die Bekämpfung der Kinderpornographie gehen. Hier sind auch von seiten des Jugendministeriums, von Frau Nolte Vorschläge gemacht worden. Deswegen ist es nicht richtig, zu sagen, wir hätten nur im strafrechtlichen Bereich argumentiert. Vielmehr haben wir die gesamten Notwendigkeiten im Auge. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Schlußwort: In den Augusttagen ist bestätigt worden, daß das Urteil gegen Bonhoeffer schon 1946 durch ein bayerisches Gesetz aufgehoben worden ist. Gleichzeitig ist der Gedanke laut geworden, man sollte eine gesetzliche Regelung für ganz Deutschland finden. Dies ist sicherlich eine richtige Forderung. Aber wir müssen sehen, daß viele Länder in dieser Frage schon lange Regelungen getroffen haben. Der Bundestag hat zwar 1990 eine Regelung für die einstige englische Besatzungszone getroffen; wir haben aber keine Regelung für die neuen Bundesländer. Deswegen brauchen wir eine Regelung. Der Justizminister ist dabei. Ich hoffe, daß wir auch in dieser Frage in Kürze einen entsprechenden Vorschlag auf dem Tisch haben. Wir unterstützen den Haushalt. Wir unterstützen den Minister in seinen Bemühungen. Wir hoffen auf eine gute Zusammenarbeit, wie es sie immer im Rechtsausschuß gegeben hat, auch in Zukunft. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Kollege Volker Beck, Sie haben das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade zum letzten Punkt würde auch ich begrüßen, wenn wir bald eine politische Lösung fänden. Ebenso dringlich ist es, daß wir bei der Frage der Rehabilitierung der Deserteure noch in diesem Jahr endlich eine würdige Lösung für die Opfer der Wehrmachtsjustiz finden. ({0}) Herr Schmidt-Jortzig, wir behandeln den Haushalt der Justiz am Ende der Tagesordnung. Ich glaube, das ist auch ein Ausdruck dafür, welche Wertschätzung Rechtsstaat und Bürgerrechte in dieser Koalition zur Zeit genießen. ({1}) Herr Minister, ich vermisse bei Ihrer Rechtspolitik Kreativität, Innovationskraft und Modernität. Mangelnde Kreativität kann man wiederum den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion nicht vorwerfen. Da fordert Herr Geis nächtliches Ausgehverbot für Jugendliche. Herr Marschewski fordert, ausländische Sozialhilfeempfänger alle einmal als Verdächtige erkennungsdienstlich zu behandeln. Zu diesen Ungeheuerlichkeiten aus der Regierungskoalition schweigen Sie vornehm. Gleichzeitig gießen Sie den politischen Wunschzettel des Abschiebeministers Kanther in Gesetze. Sie sekundieren bei der Verschärfung des Landfriedensbruchsparagraphen, beim Soldatenehrenschutz, Volker Beck ({2}) beim großen Lauschangriff. Herr Schmidt-Jortzig, Sie haben das Justizministerium zur Rechtsabteilung von Herrn Kanther degradiert, anstatt im Kabinett als Anwalt von Rechtsstaatlichkeit und Bürgerrechten aufzutreten. ({3}) Sie sehen als Justizminister Jortzig untätig zu, wie Bayern beim § 218 Bundesrecht bricht, während Sie als Abgeordneter Schmidt heftig für eine Verfassungsklage werben. Das kann man nur politische Schizophrenie nennen. Meine Damen und Herren, die Spardiskussion hat die Rechtspolitik erreicht. Herr Geis hat hierzu schon gesprochen. Gestern beim Treffen von Rechtsausschuß und Landesjustizministern sagte der saarländische Minister Dr. Walter: „Wir müssen den Gürtel des Rechtsstaates enger schnallen." Rechtspflegeentlastungsgesetz - das ist die Überschrift über dem Rechtsstaatssparpaket. Was in der Diskussion über den Sozialstaat gilt, ist auch hier richtig. Nur mit Reformen werden wir den sozialen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland erhalten können. Das entscheidende ist aber, wo wir mit Reformen ansetzen. Bündnis 90/Die Grünen haben immer wieder darauf aufmerksam gemacht, der Rechtsstaat verträgt keine weiteren Einschnitte in das Verfahrensrecht. ({4}) Statt dessen müssen wir das Strafrecht als Ultima ratio, als letztes Mittel der Politik, auf die wirklich unverzichtbaren Bereiche konzentrieren. Im Bereich der Kleinkriminalität wollen wir mit dem Grundsatz „Wiedergutmachung vor Strafe" Entlastung durch Rückgriff auf zivilere und bürokratieärmere Konfliktlösungsmuster schaffen. Mit einer Wende in der Drogenpolitik durch ärztlich kontrollierte Abgabe harter Drogen wollen wir die Gesellschaft von Kriminalität entlasten. Hier liegt der Schlüssel für eine neue Kriminalpolitik und ein enormes Entlastungspotential in der Strafrechtspflege: Jeder zweite Kfz-Diebstahl, jeder dritte Einbruch und jeder fünfte Raub ist Beschaffungskriminalität. Auch beim Thema Korruption muß Prävention vor mehr Strafrecht gehen. Strafbarkeitslücken muß man schließen, aber Kronzeugenregelung, Telefonüberwachung, wie sie etwa vom bayerischen Justizminister gefordert werden, lehnen wir ab. Beim „Anfüttern", meine ich, sollte man ebenfalls vor der Diskussion über neue Straftatbestände erst einmal Präventionsmöglichkeiten wie Offenlegungspflichten und klare Verhaltensregeln für Beamte ausreizen. Nun zum Zivilrecht. Der Bundesrat wird uns jetzt ein Gesetz zur Entlastung in der Zivilrechtspflege vorlegen. Wir gehen sehr offen in diese Diskussion. Über eine maßvolle Ausweitung des Einzelrichterprinzips, wie von den Ländern vorgeschlagen, sind wir bereit zu reden. Wir sind aber entschieden gegen jede weitere Einschränkung der gerichtlichen Überprüfbarkeit. Die Erfahrungen mit dem sogenannten vereinfachten Verfahren müssen hier sicher zu denken geben. Wir müssen jedes Urteil mit groben Rechtsfehlern, wie der Verwehrung rechtlichen Gehörs, rechtsmittelfähig machen. Hier steht die Rechtsgewährung für den kleinen Mann auf dem Spiel. Meine Damen und Herren, in den vergangenen Wochen wurden wir mit grauenhaften Berichten über sexuellen Mißbrauch von Kindern, über Kinderpornographie, Kinderprostitution und Kindersextourismus konfrontiert. Unser Strafrecht ist zwar für diese Verbrechen gerüstet, woran es aber eindeutig krankt, ist die mangelnde Aufklärung der Taten. ({5}) Das gesellschaftliche Tabu schützt immer noch die Täter. Der Kinderschutzbund fordert zu Recht „eine Ausweitung polizeilicher Ermittlungstätigkeit". Und wir müssen endlich beim Opferschutz im Strafverfahren weiterkommen. Stichwort Videovernehmung, Vermeidung von Mehrfachvernehmungen. Ich fordere die Bundesregierung auf, hierzu endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Stellung der Kinder im Ermittlungs- und Strafverfahren stärkt. Herr Justizminister, die beiden umfangreichen Reformwerke in Ihrer Amtszeit, die Kindschaftsrechtsreform und das Eheschließungsrechtsgesetz, sind meines Erachtens keine besonderen Würfe an Kreativität, an Innovationskraft. Zur Kindschaftsrechtsreform - ein Erbe übrigens von Ihrer Vorgängerin - wurden Sie von Karlsruhe getrieben. Bündnis 90/Die Grünen begrüßt die Möglichkeit gemeinsamer Sorge bei nichtehelicher Lebensgemeinschaft und nach der Scheidung. Sie sind aber leider - und da gehen Ihre Ausführungen zu dem Gesetzentwurf in eine erfreulichere Richtung, Herr Geis - dem Lobbyismus der geschiedenen Männer erlegen, wenn Sie gemeinsame Sorge als Regelfall festschreiben. Das ist eine unnötige Verschlechterung der Rechtsposition der Frauen im Scheidungsverfahren. Beim Gesetz zum Eheschließungsrecht handelt es sich um eine reine Fleißarbeit. Da findet man wahrlich fundamentale Neuerungen wie die Streichung des Kranzgeldparagraphen und die Abschaffung des Aufgebotes. Es fehlt aber auch der leiseste Ansatz einer wirklichen Reform. Heribert Prantl hat dazu in der „Süddeutschen Zeitung" sehr richtig festgestellt: Wenn es um die Reform des Eherechtes geht, dann stehen heute ganz andere Dinge an. Wie etwa soll das Gesetz mit den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften umgehen? Wenn man ihnen die Eheschließung verweigert, soll es dann, wie in Skandinavien, rechtlich geschützte Partnerschaften geben? Und wie soll dieser Schutz aussehen? Hierüber schweigen Sie sich aus. Ich möchte weiter fragen: Wo bleibt Ihr Vorschlag zur rechtlichen Anerkennung nichtehelicher LeVolker Beck ({6}) bensgemeinschaften, nachdem Sie nichteheliche Familien nun im Sorgerecht - zwar etwas widerwillig, aber doch - anerkennen? Wie erklären Sie, daß nichteheliche Eltern weiterhin zueinander in keinem Angehörigenverhältnis stehen? Wo sind Ihre Vorschläge, wie man Minderheiten vor Diskriminierung effektiver schützen kann? ({7}) Hier ist überall Fehlanzeige. Dem Bundesjustizminister fehlen für die Modernisierung unseres Rechtes, für die Weiterentwicklung einer liberalen Bürgergesellschaft jede Idee und leider auch der Mut. Wir werden Sie weiter mit unseren Vorschlägen begleiten und hoffen, daß manches von dem trotzdem noch durch die Diskussion in Ihre Arbeit einfließen wird. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nach der Verfassung, Herr Bundesminister, können Sie sich jederzeit zu Wort melden. Wenn Sie eine Kurzintervention machen möchten, dann wäre es natürlich besser, wenn Sie dies als Abgeordneter täten. - Das zu tun, sind Sie bereits unterwegs. Ich erteile Ihnen hiermit das Wort.

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002781, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will, Herr Beck, nur auf einen Punkt eingehen. In bezug auf die anderen Einzelheiten empfehle ich, die Dinge, über die Sie sprechen, erst einmal zu lesen, zum Beispiel den Entwurf zur Kindschaftsrechtsreform. ({0}) Darauf will ich nicht eingehen, sondern nur auf diesen einen Punkt, den Sie oder Kollegen und Kolleginnen aus Ihrer Fraktion nicht müde werden immer wieder zu betonen, obwohl er schlicht und ergreifend falsch ist. Wenn man sich als Rechtsstaatler zu gerieren anschickt, sollte man zumindest die Verfassung kennen. Wenn Sie behaupten, daß der Bundesjustizminister etwa mit Weisung gegen ein Landesgesetz vorgehen kann, dann bitte ich Sie dringend: Nehmen Sie sich einmal eine dieser schönen Taschenbuchausgaben des Grundgesetzes und lesen Sie einmal den Art. 37 durch! Lesen Sie vielleicht auch, was in Art. 85 ausgesagt wird. Hier geht es um die Gesetzgebung eines Bundeslandes. Dann müßte das, was Sie immer wieder erzählen, eigentlich vom Tisch sein, nämlich daß in dieser Beziehung der Justizminister etwas machen könnte. Das geht nicht. Das können wir ja bedauern. Aber ich bedaure es nicht, daß ich nicht gegen die Verfassung verstoße. Besten Dank. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zur Replik der Kollege Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werter Herr Kollege, Ihre Ausführungen beziehen sich auf etwas, was ich nicht gesagt habe. Ich habe heute bemängelt, daß Sie als Minister untätig sind. Wenn Sie als Justizminister meinen, es sollte geklagt werden, frage ich Sie: Warum machen Sie vom Klagerecht der Bundesregierung nicht Gebrauch? Meine Lektüre des Grundgesetzes hat nicht ergeben, daß diese Klagemöglichkeit nicht mehr bestünde. Allerdings meine ich, daß wir als Politiker nicht mit jedem Konflikt - gerade bei diesem Thema - zunächst immer nur nach Karlsruhe gehen sollten, sondern ich meine, daß wir nach einer politischen Lösung für das jeweilige Problem suchen sollten. Erst wenn da alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist über einen Gang nach Karlsruhe nachzudenken. Ich glaube, hier kneifen Sie. Wir werden Sie noch mit unseren Vorschlägen konfrontieren, die vorsehen, diese Regelungen noch wasserdichter zu machen, so daß selbst der übelwollendste bayerische Rechtspolitiker nicht mehr glauben kann, daß die bayerische Landesregelung, die jetzt Gesetz ist, mit dem Bundesrecht vereinbar ist. Ich rate Ihnen, sich im Hause Merkel darüber zu informieren, wie man die Aufsicht über die Länder praktizieren kann. Es gab ja im Rechtsausschuß schon einmal eine Diskussion darüber; damals waren Ihre Ausfültrungen in bezug auf die Frage, ob das geht, noch wesentlich offener. Ich glaube, es besteht einfach nicht der politische Wille. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Detlef Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Gerade das letzte hat noch einmal unterstrichen, auf welch wirklich sehr spezielle Art und Weise die Grünen sich rechtspolitisch betätigen, nämlich auf einem viel zu schmalen Grat. Niemand von uns bestreitet, daß es ein besonderes Anliegen der Rechtspolitik sein muß, sich für den Schutz der Minderheiten einzusetzen, und daß man sich nicht nur an der großen, breiten Masse und deren Minderheiten bevormundendem Denken ausrichten darf. ({0}) Aber so einseitig, wie Sie hier die Arbeit des Bundesministeriums der Justiz beurteilen, kann man nun wirklich nicht an die Sache herangehen. Wir sind zwar nicht gerade sehr zahlreich, aber alle Seiten des Hauses sind mit hervorragenden Persönlichkeiten repräsentiert. ({1}) Das bedeutet, daß wir bei dieser Gelegenheit zunächst einmal dem Bundesminister der Justiz dafür zu danken haben, daß er mit seinen Mitarbeitern alDetlef Kleinert ({2}) len Bürgern dieses Landes nach wie vor und weiterhin das Gefühl vermittelt, daß ihre Anliegen nach Rechtsgewährung, möglichst nach Rechtssicherheit bearbeitet werden, bevor es zu einem Rechtsstreit überhaupt kommen kann, weil man sich in dem Bewußtsein, in einem Rechtsstaat zu leben, manchen Prozeß schenken kann. ({3}) Erst, wenn auf diesem Gebiet alles getan ist, was nur irgend geht, ({4}) wenn die Mängel abgestellt werden, die es natürlich immer gibt, und wenn man sich den Dingen zugewendet hat, die immer verbesserungswürdig bleiben - auch dafür danken wir dem Bundesjustizminister, daß er eben dieses tut -, dann kann man sich mit besonders gutem Grund den Angelegenheiten der Minderheiten zuwenden. Wenn man jedoch nur die Fahne der Minderheiten vor sich her schwenkt, so wie Sie das eben in rascher Folge mit einer Fülle von Einzelgruppen getan haben, dann ist man nicht glaubwürdig, deren Interessen mit Nachdruck gegenüber denen zu vertreten, denen bei einer so einseitigen Betrachtungsweise notwendigerweise Ressourcen genommen werden müßten. Das ist eine schlechte Art, Rechtspolitik anzugehen. Alle Jahre wieder gibt es bei der Haushaltsdebatte das gleiche Problem. Eigentlich sollte es einmal um Zahlen gehen; eigentlich sollte man um Verständnis dafür werben, daß Recht auch Geld kostet und daß es mehr Geld kosten muß, als zur Verfügung steht. Das betrifft allerdings mehr die Länder als den Bund. Der Bundesjustizminister könnte geradezu verschwenderisch werden. Trotzdem würden die Bürger bei den Amts- und Landgerichten noch lange nicht das Ende der Schlange sehen, in der sie anstehen müßten, um rechtzeitig einen Termin zu bekommen. Dabei haben sich interessanterweise dramatische Verschiebungen ergeben; denn die Amts- und Landgerichte, die ich eben zitiert habe, haben inzwischen die kürzeren Wartezeiten, und die früher wegen ihrer Schnelligkeit berühmten Arbeits- und Sozialgerichte hängen weit hinten dran - vermutlich auch wegen dieser Nischenförderungsbereitschaft, die Herr Kollege Beck eben dargestellt hat. ({5}) Jedenfalls können wir feststellen - das ist wichtig in der Haushaltsdebatte -, daß die Personalkosten des Bundesministeriums der Justiz in unserer Zeit steigender Preise um 7,2 Millionen von 425 Millionen auf 418 Millionen DM gesunken sind. Das ist eine Sache, die man wohl von keinem anderen Ministerium hören wird. Das unterstreicht, was ich gesagt habe: In dieser Regierung wird wirklich sparsam und vernünftig gearbeitet, wobei uns allen bewußt ist, daß die Hauptlast nicht beim Bund liegt. Die Investitionskosten sind gestiegen. Ich gehe einmal davon aus, daß im Gegensatz zu neueren Verfassungsauslegungskünsten in diesem speziellen Bereich unter Investitionen wirklich Investitionen verstanden werden - unter Aufsicht eines anerkannten Verfassungsrechtlers. Investitionen sind nach unserer Auffassung nun einmal ausschließlich Kosten, die dadurch aufgewogen werden, daß die Gebäude besser ausgestattet, daß sie funktionaler gestaltet sind und daß man dort mit weniger Personalaufwand höheren Erfolg erzielen kann. Das sind Investitionskosten, die rentierlich sind. Das Vergraben von Geld in irgendeiner Erde und in irgendeinem Baugrundstück ist keine Investition, wenn nicht der eben besagte Erfolg eintritt. Weil ich nun einmal frohgemut davon ausgehe, daß die Investitionen in diesem Fall so gemeint sind, kann man auch angesichts des Plus von 9,7 Millionen DM und angesichts der Tatsache, daß wir demnächst größere Umzüge zu bewältigen haben, wobei einige Umzüge noch nicht so beschlossen sind, wie wir es gern hätten - bei der Andeutung will ich es bewenden lassen -, ({6}) nicht davon reden, daß auf diesem Investitionskostensektor übermäßig viel Geld ausgegeben würde. Die Fülle der übrigen Fragen, die angesprochen sind, können wir heute abend ganz offenkundig nicht besprechen. Ich möchte nur noch eines sagen, was zum Haushalt gehört: Wenn der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages eine Reise macht, dann kann er anschließend darüber auch im Gremium Rechtsausschuß berichten, und dann können Schlußfolgerungen gezogen werden, wie es Frau Däubler-Gmelin bereits in bezug auf das brennende Problem des sexuellen Mißbrauchs von Kindern, der Kinderpornographie usw. in gewissen Ländern angedeutet hat. De lege lata ist hier niemandem etwas vorzuwerfen. Es gibt zukünftig nichts zu regeln. Wir haben unsere Schularbeiten gemacht. Darüber wollen wir uns nun im Rechtsausschuß an Hand dessen, was wir gehört und erfahren haben, unterhalten. Es liegt nur an der Praxis.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Kleinert, die Zeit.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn wir damit in der Praxis nicht sorglich umgehen, werden wir auch keine Erfolge erzielen, werden wir uns gegenseitig ungerechtfertigte Vorwürfe machen. Alles andere werden wir dann bei Gelegenheit der Einzelberatung miteinander besprechen müssen, weil die Haushaltsberatung dazu leider nicht ausreicht. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Alle Kolleginnen und Kollegen haben in dieser letzten Debatte die RedeVizepräsident Hans Klein zeit ein gutes Stück überzogen. Aber bei Ihnen auch nur zwischen zwei von Ihnen jeweils vorzüglich zu Ende gebrachten Thomas-Mannschen Sätze zu kommen, ist schon ein Kunststück. Ich erteile dem Kollegen Professor Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von Thomas Mann zu reden ist vielleicht ein bißchen übertrieben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Heuer, ich spreche nur von der Satzlänge.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Einverstanden. Herr Kleinert, Sie haben soeben Herrn Beck darin kritisiert, daß er übermäßig über Minderheiten spricht. Ich meine, Ihre Partei ist die Partei, die am entschiedensten eine Minderheit vertritt; nicht ganz erfolglos, aber doch am entschiedensten. ({0}) Wenn man sich den Einzelplan 07 ansieht, muß man zugeben, daß das Maß an Rechtsstaatlichkeit in diesem Lande noch nicht völlig von der Kassenlage des Herrn Finanzministers und seiner Länderkollegen abhängt. Immerhin klagen die Gerichte über Arbeitsüberlastungen, Geld- und Personalmangel. Nun besteht die Gefahr, daß das Leben der Justiz mit der Knappheit auf eine Art organisiert wird, daß gleicher Rechtsschutz für alle - auch für die Armen und Schwachen - nicht mehr voll gewährleistet ist. Es kursiert bereits die Idee, von der Kostenlosigkeit der Sozialgerichtsbarkeit abzuweichen. Es wird davon geredet, die Rechtsprechung zu effektivieren, zu beschleunigen und zu vereinfachen; dann werde sie auch billiger. Streitwertgrenzen sollen erhöht werden, Beweisaufnahmen gekürzt und Berufungsmöglichkeiten beschnitten werden. Ich meine, daß sich da eine gefährliche Entwicklung anbahnt. Wir haben heute gehört, daß die Verwaltungsgerichtsordnung, gegen die wir große Bedenken hatten, nun wahrscheinlich doch in dieser Form kommen wird. Der Bundesjustizminister und seine Länderkollegen sollten doch das bedenken, was der Bundesvorsitzende der Neuen Richtervereinigung, Horst Häuser, dazu meint: „Solche 'Reformideen' sind lediglich fiskalischer Natur und in der Regel mit der Gefahr des Abbaus von Bürgerrechten verbunden." Unter dem „Diktat der leeren Kassen" könne man keine Erneuerung der autoritären und hierarchischen preußisch-deutschen Justiz durchführen. Quantitativ verstandene Justizsysteme „pflegen ins Inhumane umzuschlagen" . So Herr Häuser. Mit dem, was hier zur außergerichtlichen Streitbeilegung gesagt worden ist, bin ich sehr einverstanden. Unsere Erfahrungen, die wir bei der Reise des Rechtsausschusses in die Niederlande gemacht haben, waren sehr interessant und erfolgreich. Das Problem ist nur, daß wir uns in einer Situation befinden, in der, wie das Institut für Demoskopie Allensbach im vorigen Jahr ermittelte, nur noch 40 Prozent aller Deutschen mit den Gesetzen und der Rechtsprechung zufrieden sind. 41 Prozent fühlen sich durch unser Recht nicht geschützt. Herr Bundesminister, Sie haben mir und anderen kürzlich geschrieben, daß die Belastung des Bundesverfassungsgerichts 1995 mit fast 6 000 Verfahren einen Höchststand erreicht hat. Nun soll nach Wegen der Entlastung gesucht werden. Da mehr als 90 Prozent der Eingänge Verfassungsbeschwerden sind, geht es offenbar vor allem um die Vereinfachung dieser Verfahren. Ich habe da große Bedenken.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Heuer, darf ich Sie einen Moment unterbrechen?

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, natürlich.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Herr Bundesminister ist jetzt durch ein paar Gespräche abgelenkt worden. Sie haben ihn gerade angesprochen. Deshalb wollte ich seine Aufmerksamkeit auf Ihre Rede lenken. Bitte fahren Sie fort.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich warne davor, den Zugang des einzelnen zum Bundesverfassungsgericht zu beschneiden, auch aus den Erfahrungen in der DDR, wo es bekanntlich keine Verfassungsgerichtbarkeit gab und der Bürger seine Grundrechte nicht einklagen konnte. Ich denke auch, daß die Zahl der Verfassungsbeschwerden aus dem Osten erst richtig anschwellen wird, wenn die Instanzenzüge absolviert sind. Diesem Problem wird man nicht durch Verfahrensfinessen beikommen. Man muß dort die Diskriminierung beenden. Ich meine, daß das ernste Fragen sind. Herr Scholz hat heute von Verfassungsverstößen der Länder gesprochen. Ich finde, wir sollten auch von Verfassungsverstößen des Bundes reden. Herr Geis hat, so möchte ich sagen, eine etwas beunruhigende Terminologie angewandt. Er sprach nun zum wiederholten Male von Gangsterwohnungen, die jetzt überwacht werden sollten. Er meint den großen Lauschangriff. Aber ob es Gangster sind, weiß man eben noch nicht. Diese etwas vereinfachende Terminologie halte ich für nicht besonders. Auch seinen Satz, wir sollten nicht allzusehr rechtsstaatlichen Maßstäben widersprechen, finde ich etwas seltsam. Man kann, wie wir alle wissen, nicht ein bißchen schwanger sein, und entweder hat man die rechtsstaatlichen Maßstäbe verletzt oder nicht. Aber sie nicht allzusehr zu verletzen, finde ich seltsam. Ich komme zum Sozialstaatsprinzip, das bekanntlich in den Art. 20 und 28 des Grundgesetzes verankert ist. Ich meine, daß dieses Prinzip gegenwärtig wenig beachtet wird. Kaum jemand aus der Regierung spricht noch vom Sozialstaatsprinzip. Der Aufsichtsratsvorsitzende der BMW AG, Eberhard von Kuenheim, erklärte: Jeder von uns weiß, daß das überalimentierte Sozialsystem sich wandeln muß. Wegen aus ideologischen Gründen bestehender Tabus wagen wir aber höchstens, vom Umbau zu sprechen, obwohl wir hier alle wissen: Nur der Abbau steht zur Diskussion. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen, zum Beispiel im 22. Band, erklärt, der Staat habe die Pflicht, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen. In dem KPD-Urteil, das zur Schande dieses Staates immer noch rechtskräftig ist, wird - offenbar, um die bittere Pille etwas zu versüßen - erklärt: ... annähernd gleichmäßige Förderung des Wohles aller Bürger und annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten wird grundsätzlich erstrebt . . . Jetzt möchte ich fragen, ob, an diesen Kriterien gemessen, die jetzige Entwicklung verfassungsmäßig ist. Die Bundesregierung beschwört die Sachzwänge. Aber Herr Benda hat vor zehn Jahren geschrieben: Der Verteilungskampf wird um so schärfer werden ... Am ehesten werden sich dann die starken sozialen Gruppen mit ihren Forderungen durchsetzen können, während die besonders hilfsbedürftigen, schwach vertretenen Gruppen sich nicht oder nur mit Mühe behaupten können. Dies wäre die entscheidende Probe auf den Sozialstaat und sein wirklicher Ernstfall . . . Normen sind immer erst dann interessant, wenn es Interessen gibt, sie zu verletzen. Sonst ist es kein Problem, das Recht einzuhalten. Das gilt auch für die Verfassung. Die „FAZ" - das soll mein letztes sein - vom 9. September hat geschrieben, die Gewerkschaften machten manchen Fehler, „ein Verfassungsrisiko sind sie nicht" . Diese Würdigung von konservativer Seite ist vielleicht etwas fragwürdig. Aber der Aussage, daß die Gewerkschaften kein Verfassungsrisiko sind, kann man mit Sicherheit zustimmen. Zu einem wirklichen Verfassungsrisiko scheint sich mir die F.D.P. zu entwickeln. Ihr Vorsitzender, Herr Gerhardt, hat heute vormittag erklärt, es könne nicht darum gehen, Marktwirtschaft und Sozialpolitik zu addieren. Die Marktwirtschaft selbst sei völlig hinreichend. Diese Feststellung steht in meinen Augen in eindeutigem Widerspruch zum Grundgesetz. ({0}) Der verfassungspolitische Kompromiß von 1949 wird nicht von den Gewerkschaften, sondern von der F.D.P. aufgekündigt. Das müßte den Bundesjustizminister, der dankenswerterweise noch anwesend ist, beunruhigen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat Kollege Manfred Kolbe.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluß der Haushaltsdebatte des heutigen Tages kann man, die letzten beiden Tage zusammenfassend, sagen, daß diese Haushaltsdebatte ganz im Zeichen des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung der Bundesregierung stand. Bei allem Streit um diese Maßnahmen im einzelnen ist unstreitig, daß die Bundesrepublik Deutschland vor der Aufgabe steht, sich auf die dramatischen Veränderungen im internationalen Wettbewerb einzustellen und den Standort Deutschland für das 21. Jahrhundert vorzubereiten. Für den engeren staatlichen Bereich, den wir heute abend behandeln, bedeutet die Standortdebatte eine Überprüfung der Zuständigkeiten und Verfahren in Verwaltung und Justiz gegenüber vielfältigen Verkrustungen, Effizienzmängeln und übersteigerten Ansprüchen an den Staat. Nur ein effektiv organisierter staatlicher Bereich und ein entsprechend effizienter öffentlicher Dienst sichern die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Dies, Herr Bundesjustizminister - Sie haben das dankenswerterweise in Ihrer Rede ausgeführt -, gilt auch für die Justiz. Die verantwortlichen Rechtspolitiker müssen dem steuerzahlenden Bürger Rechenschaft über die Kosten des Rechtsstaates und der Justiz ablegen. Da muß man mit einem gewissen Erstaunen registrieren - ich habe mich um das Thema in den letzten Monaten etwas gekümmert -, daß wir offenbar keinen Überblick über die Kosten unserer Justiz haben. Wir beraten heute den Bundeshaushalt, Einzelplan 07. In ihm haben wir aber auch justizfremde Kapitel wie das gesamte Patentwesen und anderes. Wir haben die Etats der Länder mit 16 Milliarden DM. Aber die Länderetats enthalten weder die Pensionslasten noch die Gebäudekosten. Ich glaube, Herr Bundesjustizminister, es ist einmal an der Zeit, festzustellen, was uns eigentlich unsere Justiz effektiv mit allen damit zusammenhängenden Lasten kostet. Damit möchte ich anregen, daß Sie dazu in Ihrem Hause einmal einen Überblick erstellen lassen, nicht um der Erbsenzählerei Vorschub zu leisten, sondern um Transparenz zu gewinnen und der Öffentlichkeit einen Überblick zu geben. ({0}) Im Zuge der Globalisierung sollten wir auch einen Blick über unsere Grenzen werfen. Ich nenne einmal ein paar Zahlen. Wir haben in Deutschland 75 000 zugelassene Rechtsanwälte, 20 600 Richter, 5 000 Staatsanwälte und 12 500 Rechtspfleger. Ich nehme einen vergleichbaren Industriestaat wie Japan, der bei 120 Millionen Einwohnern mit 14 000 zugelassenen Rechtsanwälten, mit 2 800 Richtern und 1 200 Staatsanwälten auskommt, ohne daß Japan deswegen ein Hort des Verbrechens ist oder seine Wirtschaft nicht funktioniert. Dieses Thema, Herr Bundesjustizminister, sollten wir einmal angehen. Hier besteht Untersuchungsbedarf, wenn nicht gar Handlungsbedarf. Lassen Sie mich nun zum Haushalt selber kommen, zum Einzelplan Justiz. Mit 702 Millionen DM umfaßt er 0,16 Prozent des Bundeshaushalts. Der Bundesfinanzminister wird hier nicht die Milliarden finden, die er zum Haushaltsausgleich braucht. Ich möchte mich deshalb auf drei Einzelpunkte beschränken. Zunächst beruhen die geringfügigen Ausgabensteigerungen 1997 um 0,5 Prozent allein auf der Umsetzung der Beschlüsse der Föderalismuskommission. Das ist sehr erfreulich. Kein anderer Geschäftsbereich, Herr Minister, hat sich wie die Justiz um eine der wichtigsten Voraussetzungen für die innere Einheit Deutschlands gekümmert, nämlich die Verlegung des Sitzes von Bundesgerichten und Bundesbehörden in den östlichen Teil Deutschlands. Dafür habe ich schon Ihrer Vorgängerin gedankt; ich möchte das auch Ihnen gegenüber tun. Das Bundesverwaltungsgericht kommt nach Leipzig. Zu den beiden Wehrdienstsenaten haben Sie schon das Notwendige gesagt, Herr Kleinert. ({1}) Das Bundesarbeitsgericht kommt nach Erfurt. Am schnellsten aber kommt die Verlegung des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs von Berlin nach Leipzig in Gang. Bereits 1997 - das ist nächstes Jahr - wird der 5. Strafsenat dort sein neues Domizil beziehen. Es wird die erste oberste Bundeseinrichtung sein, die außerhalb Berlins im Osten Deutschlands ihre Arbeit aufnimmt. Ich glaube, das ist ein gutes Ereignis für die Justiz im Jahre 1997. ({2}) In diesem Zusammenhang, Herr Bundesjustizminister, möchte ich auch eine leidige Problematik erwähnen, die wir in den nächsten Monaten einmal engagiert angehen sollten, nämlich die Problematik um die Bibliothek des ehemaligen Reichsgerichts. Diese Bibliothek wurde nach der Einheit unter heute nicht mehr ganz nachvollziehbaren Umständen nach Karlsruhe verbracht, ohne daß in Sachsen oder Leipzig - es handelt sich im wesentlichen um Kunstgegenstände - irgend jemand gefragt wurde. Um hier nicht irgendwelche Vergleiche aufkommen zu lassen, sollten wir uns gemeinsam um eine Lösung dieser Standortfrage bemühen. ({3}) Lassen sie mich abschließend noch auf ein ernstes Thema kommen. Das ist der Vollzug des Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes. Dieses Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz betrifft die verwaltungsrechtliche und berufsrechtliche Rehabilitierung der Opfer der SED-Diktatur. Obwohl hier nach Jahrzehnten der SED-Herrschaft Zehntausende von Opfern auf Rehabilitierung hoffen - jede Woche habe ich in meiner Bürgersprechstunde solche Menschen am Tisch sitzen - sinken die Veranschlagungen im Bundeshaushalt: 1995 waren es 36 Millionen DM, 1996 20 Millionen DM, und 1997 sind gar nur 12 Millionen DM im Einzelplan 60 Kapitel 03 veranschlagt. Die Zahlungen der Rentenversicherung lasse ich hier mal außer Betracht, Herr Minister. Ein echter Skandal sind dann aber die tatsächlichen Abflüsse: 1995 wurden von den veranschlagten 36 Millionen DM ganze 28 000 DM ausbezahlt! 1996 wurden bis Anfang September von den veranschlagten 20 Millionen DM ganze 52 000 DM ausbezahlt! In eindreiviertel Jahren, also zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes, sind außerhalb der Zahlungen der Rentenversicherung ganze 80 000 DM an alle SED-Opfer ausbezahlt worden! Dies ist etwa so viel, wie die ehemalige Treuhandpräsidentin, Frau Breuel, heute jeden Monat den Steuerzahler kostet. Dieser Vollzug des zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes kann uns alle nicht befriedigen. Hier besteht Handlungsbedarf. Ich darf deshalb alle Seiten des Hauses bitten, hier mitzuwirken. Die entsprechenden Initiativen liegen schon vor, damit wir diesen Menschen helfen, und zwar schnell helfen. Danke schön. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 12. September 1996, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.