Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung und bitte Sie zunächst, sich zu erheben, weil wir des verstorbenen Bundesministers Hans Katzer gedenken wollen.
Am 18. Juli 1996 starb im Alter von 77 Jahren der frühere Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Bundestags- und Europaabgeordnete Hans Katzer.
Hans Katzer wurde am 31. Januar 1919 in Köln geboren, der Stadt, die ihn geprägt hat und der er sein Leben lang verbunden blieb. Früh und besonders in der Zeit nach 1933 gaben ihm der christliche Glaube und sein soziales Gewissen die Kraft, der menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus zu widerstehen. Früh machte er mit Widerstandskämpfern wie Johannes Albers Bekanntschaft, wurde von ihnen für die Politik motiviert und lernte von ihnen, daß kein politisches System von Dauer sein kann, das nicht auf Sitte und Moral aufbaut.
Aus dem Scheitern der Weimarer Republik zog Hans Katzer nach dem Ende des Krieges die Lehre, die alten Richtungsgewerkschaften durch die Einheitsgewerkschaft zu ersetzen und die engen Grenzen der Konfessionsparteien zu überwinden.
1957 wurde Hans Katzer in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er dann ununterbrochen bis 1980 angehörte. Hier profilierte er sich schnell als sozialpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Als Hauptgeschäftsführer und seit 1963 als Vorsitzender der CDU-Sozialausschüsse, als stellvertretender Partei- und Fraktionsvorsitzender sowie als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung unter den Bundeskanzlern Erhard und Kiesinger hat sich Hans Katzer mit seiner ganzen Kraft und viel Phantasie der Ausformung des modernen Sozialstaats gewidmet. Mit seinem Namen bleiben richtungsweisende Gesetzeswerke auf sozialpolitischem Gebiet verbunden, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Genannt seien hier das Arbeitsförderungsgesetz und das Berufsbildungsgesetz.
Hans Katzer war ein engagierter Verfechter der dynamischen Rente und der Mitbestimmung. Er stritt für eine angemessene Versorgung der Kriegsopfer
und für die Lohnfortzahlung der Arbeitnehmer. Er war ein Streiter für soziale Gerechtigkeit.
Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits am 29. Juli in einem Staatsakt in Köln von Hans Katzer Abschied genommen. Der Deutsche Bundestag würdigt die Lebensleistung dieses bedeutenden Politikers, der ein Stück deutscher Sozialgeschichte mitgeschrieben hat, und gedenkt dieser großen Persönlichkeit in Dankbarkeit und Respekt.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die heutige Sitzung gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 der Geschäftsordnung auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. einberufen.
Bevor ich Tagesordnungspunkt 1 aufrufe, übermittle ich Ihnen, Herr Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, die Freude des ganzen Hauses darüber, daß Sie nach einer so schweren Erkrankung heute wieder gesund unter uns sein können.
({0})
Folgenden Kollegen möchte ich nachträglich zum Geburtstag gratulieren: Unser Vizepräsident Hans Klein feierte am 11. Juli seinen 65. Geburtstag. Im Namen unseres Hauses noch einmal ganz herzlichen Glückwunsch und danke für das Mitwirken!
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Der Kollege Klaus Francke ({2}) feierte am 17. Juli seinen 60. Geburtstag. Auch von hier aus noch einmal nachträglich herzlichen Glückwunsch!
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Der Kollege Heinrich Graf von Einsiedel feierte am 26. Juli seinen 75. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!
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Der Abgeordnete Simon Wittmann ({5}) hat am 21. August 1996 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Kollege Dr. Fritz Wittmann - uns allen vertraut - am 22. August 1996 die Mitgliedschaft im
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Deutschen Bundestag wieder erworben. Ich begrüße den uns bereits gut bekannten Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit.
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Vereinbarte Debatte
zu den Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzen, zum Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetz, zum Gesetz zur Begrenzung der Bezügefortzahlung bei Krankheit, zum Beitragsentlastungsgesetz, zum Krankenhaus-Neuordnungesetz 1997, zum GKV-Weiterentwicklungsgesetz und zum Achten Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Wir verfahren so.
Es beginnt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Worte sind genug gewechselt.
({0})
Ich kann die Debatte schreiben, die jetzt gleich geführt wird. Ich weiß, was der Kollege Dreßler sagt; ich weiß, was der Kollege Schreiner schreit.
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Und wenn Sie wissen wollen, was ich zu sagen habe: Es muß entschieden werden. Die Diskussion ist zu Ende.
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Es gibt kein neues Argument; es gibt nur Flucht vor der Entscheidung oder Entscheidung. Davor stehen wir heute. Mut zur Entscheidung ist gefragt, nicht Vorliebe für Wortgeklingel.
({3})
Die Alternativen sind klar: Die Koalition handelt, die Opposition redet.
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Wir sind uns einig: Neue Arbeitsplätze braucht unser Land. Wir sind uns einig: Unsere Wirtschaft - ob kleines Unternehmen, ob großes Unternehmen -braucht Kostenentlastung. Es gibt niemanden, der dem widerspricht. Wir sind uns einig: Die Beitragszahler brauchen Entlastung - ob Arbeitnehmer oder Arbeitgeber. Wir sind uns einig: Die Bürgerinnen
und Bürger erwarten Entscheidungen, keine Fortsetzung der Diskussion.
Der Beschluß des Vermittlungsausschusses, die
Spargesetze aufzuheben, bedeutet keine Entscheidung. Er bedeutet Fortsetzung der Debatte ohne Entscheidung. Wir können uns vieles leisten; nur eines können wir uns nicht leisten: Vertagung von Entscheidungen.
Der Deutsche Bundestag ist ein Entscheidungsgremium, keine Vertagungsanstalt. Ohne Entscheidung, meine Damen und Herren, heißt nicht: ohne Folgen. Das ist ein Irrtum. Ohne Entscheidung, das heißt, die Kosten für die Beitragszahler steigen weiter. Ohne Entscheidung, das heißt, die Arbeitsplätze werden teurer. Ohne Entscheidung, das heißt, die Arbeitslosigkeit steigt. Ohne Entscheidung, das heißt, die Verschuldung steigt. Wir können den Teufelskreis „mehr Kosten - mehr Arbeitslosigkeit; mehr Arbeitslosigkeit - mehr Kosten" nur durch eine Entscheidung zur Entlastung der Wirtschaft und zur Entlastung der Arbeitsplätze durchbrechen.
Meine Damen und Herren, auch wenn es sich viele vormachen: Sparen ohne Einschränkungen - das gibt es nur in Märchen; sparen ohne Einbußen - das gibt es nicht. Deshalb muß der Antrag des Vermittlungsausschusses abgelehnt werden. Der Antrag ist eine Hilfe zur Flucht aus der Verantwortung. Wir haben die Verantwortung für unseren Staat.
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Die Nachfrage nach Diskussion ist gesättigt; Entscheidungsangebote werden verlangt.
Und die Opposition? Gute Vorsätze, aber keine Vorschläge. Ankündigungen sind noch keine Ausführungen. Die Zahl der Absichtserklärungen der Sozialdemokratischen Partei steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihrer Konkretisierung. Man kann den Satz aufstellen: Je wortreicher, um so handlungsärmer.
Ich habe hier eine Liste Ihrer Ankündigungen: vor der Sommerpause, nach der Sommerpause, bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz, nach der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz. Ich kann die Liste auch schriftlich verteilen. Es werden Verhandlungskommissionen gebildet und drei Wochen später wieder außer Betrieb gesetzt. So kommen wir nicht weiter. Es langt nicht, zu sagen, die Lohnnebenkosten müssen sinken. Das ist ja wie ein Refrain der SPD, aber es gibt keinen Text für die Strophen.
Oskar Lafontaine sagte im „Spiegel" vom 26. Februar dieses Jahres: „Dringend erforderlich ist eine Verständigung über Senkung der Lohnnebenkosten. " Über ein Null-Angebot kann man sich aber nicht verständigen. Es gibt von Ihnen keine Vorschläge. Rudolf Scharping sagte im „Stern" vom 3. April 1996: „Wir müssen runter von den Lohnnebenkosten." Wo, Herr Scharping, ist Ihr konkreter Vorschlag?
({6})
Von „Umbau" und von „Wegfall der Fremdleistungen" - darauf komme ich noch zu sprechen - einmal abgesehen, wo sind die konkreten beitragsentlastenden Vorschläge der SPD? Sie werden bis heute gesucht.
Gerhard Schröder wiederholt seinen kraftvollen Ausspruch „tief ins soziale Netz einschneiden" - das Bild ist aus dem Wörterbuch eines Unmenschen. Ich sehe außer markigen Sprüchen nichts. Die SPD kommt mir vor wie ein Schmied: In der Esse keine Glut, in der Zange kein Eisen, aber mit dem Hammer immer auf den Amboß schlagen. Der Schmied hat gar kein Werkstück in der Hand, er haut nur auf den Amboß.
({7})
Statt dessen gibt es tausend höchst unterschiedliche Vorschläge. Ein gackernder Hühnerhaufen ist eine Parademarschkompanie im Vergleich zum heutigen Zustand der SPD.
({8})
Es muß entschieden werden, und zwar zugunsten der Arbeitnehmer, zugunsten von neuen Arbeitsplätzen und zugunsten der Unternehmer. Wir brauchen Kostenentlastung. Wir sparen doch nicht aus Lust und Laune. Wir sparen, um das größte soziale Übel, die größte soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen: die Arbeitslosigkeit.
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Ihr Vorschlag Abbau von Fremdleistungen ist richtig. Ich möchte ausdrücklich sagen, daß ich mich dem anschließe.
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Wir müssen besser zwischen Leistungen, die von Beitragszahlern finanziert werden, und Leistungen der Allgemeinheit unterscheiden. Das ist aus zwei Gründen notwendig: erstens zur Entlastung der Arbeitsplätze, zweitens aus Gründen der Gerechtigkeit. Wenn allgemeine Aufgaben von den Beitragszahlern bezahlt werden, ist das eine ungerechte Lastenverteilung, weil an dieser allgemeinen Finanzierung ein Teil der Bevölkerung gar nicht und ein anderer Teil nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze beteiligt ist.
Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit, hier umzufinanzieren. Die Fahrtrichtung der Umfinanzierung geht weg von der Belastung der Arbeitsplätze hin zur Belastung des Verbrauchs, und zwar wegen der Arbeitsplätze, aber auch wegen des Umweltschutzes. Aber Umfinanzierung heißt doch nicht weniger Finanzierung; Umfinanzierung heißt doch noch nicht Gesamtentlastung. Sie haben doch nicht weniger Druck auf der Achse, wenn Sie die Frachtgüter auf dem Lastwagen verschieben. Wir brauchen eine Gesamtentlastung des Steuerzahlers, des Beitragszahlers. Wir brauchen mehr Schwung in unserer Wirtschaft. Deshalb sind diese Gesetze unumgänglich.
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Zu den Fremdleistungen - ich habe sie ja mit problematisiert - nur so viel: So, wie die Diskussion geführt wird, hat sie eine Schlagseite. Es ist entgegen anderslautenden Meldungen nicht so, als würde der Staat die Rentenversicherung im Stich lassen. 76 Milliarden DM, fast jede fünfte Mark des Bundeshaushaltes, geht als Bundeszuschuß oder in Form einer Erstattung an die Rentenversicherung. Die Bundesanstalt für Arbeit hat in den letzten vier Jahren 55 Milliarden DM an Bundeszuschuß erhalten. Angesichts dieser Tatsachen kann doch niemand sagen, der Bund würde die Sozialversicherung im Stich lassen.
Wir brauchen einen Umbau. Dies heißt aber nicht -dieser Auffassung möchte ich mich ausdrücklich anschließen -, daß das Haus eingerissen wird. Es heißt allerdings auch nicht, nur die Tapeten zu wechseln und den Vorgarten herzurichten.
Andere sind weiter als die SPD. Ich zitiere:
Der Ruf, der Staat bzw. der Gesetzgeber wird's schon richten, ist in der Umsetzungsphase neuer Strukturen ebenso unangebracht wie hartnäckiges Festhalten.
Das entnehme ich einer beachtenswerten Schrift, einer von der Hans-Böckler-Stiftung mitfinanzierten Studie. So weit ist die SPD noch nicht. Der Ruf nach dem Staat ist noch immer der erste Ruf.
Andere sind viel weiter. Man braucht sich nur umzusehen. Dabei muß man nicht die ganze Welt im Blick haben, Europa reicht aus. Wo ich auch hinsehe, überall gibt es einen Umbau: in Schweden, in Finnland, in den Niederlanden, in Portugal und in Griechenland - überall mit Regierungen, an deren Spitze Sozialdemokraten stehen.
In Österreich wird es in den Jahren 1996 und 1997 eine Entlastung der öffentlichen Haushalte von
100 Milliarden Schilling geben. Auf unser Sozialprodukt und unsere Bevölkerung umgerechnet, wäre das mit einer Einsparung von 140 Milliarden DM vergleichbar. Das ist zweieinhalbmal soviel, als wir auf die Waage bringen. Wo ist der Vranitzky der SPD in Deutschland? Wo ist derjenige, der so viel Mut hat wie die Sozialdemokraten um uns herum?
Zur Altersgrenze. In Schweden wird sie auf bis 70 Jahre angehoben; auch in Finnland, in Österreich, in Portugal und in Griechenland ist sie höher - alles sozialdemokratisch geführte Regierungen.
Zu den Kuren. Hierzu kann ich wiederum aus der beachtenswerten, von der Hans-Böckler-Stiftung -das ist ein ehrenhafter Name - mitfinanzierten Studie zitieren: Kuren für alle werden abgeschafft. Weiterhin Anspruch haben sollen Schichtarbeiter, Beschäftigte mit hohem arbeitsbedingten Gesundheitsrisiko und Monatseinkommen von bis zu 6 000 DM. - Das steht in einer vom DGB, von der Hans-Böckler-Stiftung mitfinanzierten Studie.
So weit gehen wir gar nicht. Lieber Kollege Dreßler, lieber Kollege Schreiner, ihr redet erst nach mir, aber ich weiß, was ihr wieder sagen werdet: Abbau, Untergang, Zerstörung des Sozialstaates. Lest einmal die Texte der Sozialdemokraten in der Welt, die
Texte aus der Hans-Böckler-Stiftung! Dann müßt ihr eure Sprüche unterlassen.
Der Sozialstaat wird nicht ruiniert; wir verteidigen ihn. Ein Drittel der Ausgaben sind für Soziales. Niemand kann sagen, wir würden den Sozialstaat ruinieren. Aber: Wasch mir den Pelz, und mach mich nicht naß - diese Melodie paßt nicht mehr, auch wenn sie von den Sozialdemokraten hier gesungen wird.
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Zur Lohnfortzahlung. Ich weiß aus der Historie -mein Verständnis habe ich hier schon zum Ausdruck gebracht -, daß dies ein schwieriges Thema ist. Dennoch: Unter den Sozialdemokraten im „Volksheim" Schweden gibt es eine Lohnfortzahlung in Höhe von 75 Prozent und einen Karenztag, in den Niederlanden zwei Karenztage und seit dem 1. Januar 1994 eine Lohnfortzahlung von 70 Prozent.
Auch hier wird in den Texten der von der HansBöckler-Stiftung mitfinanzierten Studie eine Enttabuisierung vorgenommen:
Das Instrument Reinvestition könnte auch der Diskussion um den Karenztag eine neue Richtung geben. Das von den Arbeitgebern dadurch eingesparte Geld muß bundesweit auf einem Gute-Arbeit-Konto angelegt werden und in den Unternehmen für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen investiert werden.
Wie auch immer, jedenfalls ist dieses Thema enttabuisiert. Es ist zur Diskussion gestellt, der Sie sich ja verweigern.
Ich füge allerdings hinzu: Wenn Einschränkung der Lohnfortzahlung, dann auch Einschränkung der Bezüge der Beamten. Das müssen Sie sich heute auch noch einmal vorhalten lassen, daß sie möglicherweise einer Gesetzgebung die Bahn brechen, wo Arbeiter und Angestellte in der Lohnfortzahlung anders behandelt werden als die Beamten.
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- Ja, doch! - Ich bleibe dabei: Wenn wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, dann geht es nicht durch den Austausch von Worten, sondern dann müssen Entscheidungen her. Deshalb kann heute die Entscheidung nicht durch den Beschluß des Vermittlungsausschusses vertagt werden. Wir müssen der Arbeitslosen wegen dieses Sparpaket durchbringen. Darum geht es!
Das ist auch der wichtigste Beitrag. Hunderttausend Arbeitnehmer, die beschäftigt sind, zahlen 2 Milliarden DM Beitrag. Wir können gar nicht so viel sparen, wie neue Beschäftigung an Einnahmen hervorbringt. Aber wir müssen sparen, damit es zu neuer Beschäftigung kommt.
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Hunderttausend arbeitslose Geldbezieher kosten die Bundesanstalt für Arbeit 3 Milliarden DM. Demgegenüber sind unsere Sparansätze noch bescheiden. Sie sehen: Wir brauchen in der deutschen Wirtschaft
einen neuen Anfang, und - das füge ich hinzu - deshalb muß jetzt entschieden werden. Wir haben nicht die Wahl: Später oder jetzt. Jeder Tag ist verloren. Wer zu spät spart, den bestraft der Sozialstaat.
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Wer zu spät spart, muß mehr sparen. Wer zu spät spart, wird ganz andere Probleme zu lösen haben. Ablehnen heißt Nichtstun.
Aber ich wende den Blick schon über diese Auseinandersetzung hinweg. Die Welt geht auch nach unseren Entscheidungen weiter. Deshalb rufe ich dazu auf, über diesen Pulverdampf der Auseinandersetzung nicht die gemeinsame Verantwortung zu verkennen. Die Notwendigkeit der Kooperation besteht mit den Gewerkschaften, mit den Arbeitgebern und mit der Opposition. Es gibt auf allen Seiten viele Gutwillige. Es geht um ein neues Bündnis der Gutwilligen. Es geht auch darum, daß wir zu einer Zeit, wo es 4 Millionen Arbeitslose gibt, nicht hinnehmen können, daß Arbeitsplätze leer bleiben, weil sie für unzumutbar erklärt werden. Das können wir uns nicht leisten. Wenn in Oberhausen bei einer neuen Ansiedlung 14 Tage vor der Eröffnung noch Arbeitsplätze offenstehen, dann stimmt bei 4 Millionen Arbeitslosen etwas nicht in unserem Sozialstaat.
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Die Aussicht ersetzt nicht die Einsicht, daß jetzt gehandelt werden muß. Wir brauchen auch einen Aufbruch derjenigen, die Mut machen. Es ist ein ermutigendes Zeichen, wenn Herr Necker vom BDI vor ein paar Tagen 50 Unternehmer versammelt hat, die nicht geklagt, sondern neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Wir brauchen „Einsteller", nicht „Entlasser". Die „Einsteller" müssen gelobt werden, nicht die „Entlasser". Wir brauchen einen neuen Auf-bruchsoptimismus, daß wir es schaffen können. Das geht allerdings nicht ohne Anstrengung und nicht ohne Entscheidungen, die, wenn auch schmerzlich, dennoch richtig sind. Deshalb fordere ich dazu auf, nicht weiter zu vertagen - wir haben genug vertagt -, sondern zu handeln. Die Alternative - ich wiederhole mich - ist: Die Opposition redet, die Koalition handelt. Das ist die Alternative heute.
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Es spricht jetzt der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach den Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Hause mit Kooperationspolitik, die der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung gerade über den Tag hinaus eingefordert hat, fällt mir die Fabel vom Huhn und vom Schwein ein.
Die geht so: Eines Tages trifft das Huhn das Schwein und schlägt ihm vor, man möge sich zwecks Gründung einer Kooperationsgemeinschaft zusammentun, um gemeinsam Ei auf Schinken anbieten zu können. Das leuchtet dem Schwein ein, es unterschreibt einen Vertrag, und das Huhn legt ein Ei und
bestellt den Metzger. Als der Metzger erscheint, guckt das Schwein ziemlich verdutzt und sagt zum Huhn: „Aber mein liebes Huhn, bei dieser Art von Kooperation gehe ich ja drauf." „Tja", sagt das Huhn, „mein liebes Schwein, beim Kooperieren geht immer einer drauf."
({0})
Herr Blüm, wir haben 1989 bei der Rentenreform kooperiert, einer wegweisenden Gesetzgebung, die Sie mit diesem hier zur Verabschiedung stehenden Gesetzgebungsverfahren auflösen und zerschlagen, und dies ohne Rücksprache.
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Sie verabschieden sich aus dieser Kooperation und rufen neuerlich zu Kooperationen auf, um diese dann wieder mit Ihrer eigenen Mehrheit zu korrigieren. Solche Kooperationen, Herr Blüm, nach der Melodie „Huhn und Schwein" lehnen wir ab.
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Das müssen Sie wissen. Sie sind, bezogen auf diese Kooperationspolitik, nachweisbar nicht mehr tariffähig.
({3})
Wenn wir heute über die Ergebnisse des Vermittlungsverfahrens zu den Kürzungsgesetzen der Regierung beraten, so hat sich an deren Bewertung in der Tat durch die SPD gegenüber der zweiten und dritten Lesung am 28. Juni nichts geändert. Sie sind wirtschaftspolitisch falsch, finanzpolitisch unsolide, verteilungspolitisch einseitig und sozialpolitisch ungerecht.
({4})
Kurz gesagt: Sie schaden dem Standort Deutschland und beschädigen die Symmetrie und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das ablehnende Ergebnis des Vermittlungsverfahrens liegt in der Logik dieser Bewertung. Das mag die Koalition ärgern, ändert aber nichts an den Sachverhalten. Vor allen Dingen aber berechtigt dies nicht zu verbalen Rundumschlägen. In diesem Zusammenhang von einer Blokkadepolitik der SPD zu sprechen kommt einer groben Irreführung der Öffentlichkeit gleich.
({5})
In Wahrheit dienen solche markigen Worte eher als Ablenkungsmanöver von der aus koalitionshygienischen Gründen vorexerzierten Verhandlungsunwilligkeit der Regierungsmehrheit. Diese Regierung darf und will sich nicht bewegen, weil sie sonst ins Straucheln käme, meine Damen und Herren.
({6})
Besonders beim gesundheitspolitischen Teil der Kürzungsgesetze wird deutlich, daß der kleinere Koalitionspartner F.D.P. eine echte Sachverhandlung mit der SPD scheut wie der Teufel das Weihwasser, aus Furcht, sich bei solchen Verhandlungen als politisch überflüssig zu erweisen.
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Also darf nicht verhandelt werden, das heißt, es wird nach dem Motto gehandelt, wir demonstrieren mit unserer Mehrheit Stärke, um die eigene Schwäche zu überdecken, meine Damen und Herren.
({8})
- Ich würde den Zwischenruf wegen des Protokolls, aber auch wegen der Verbalinjurie, die sich darin befand, Herr Kollege von der F.D.P., lauter machen. Ich möchte ihn nicht wiederholen, weil ich sonst von der Präsidentin eine Rüge erhalten würde.
({9})
Sie wissen genau wie ich, daß der Vorsitzende der SPD und der Vorsitzende der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion im Januar an den Bundeskanzler einen Brief geschrieben haben, unsere erarbeiteten Vorschläge eingebracht und zur Verhandlung mit Ihnen zu einer gemeinsamen Anstrengung unter dem Titel „Bündnis für Arbeit" aufgerufen haben. Beide, die Antwort der Regierung und die der sie tragenden Parteien, waren negativ. Am 2. Februar habe ich in diesem Hause für die SPD-Fraktion an dieser Stelle einen Rentengipfel angeregt und unsere Bereitschaft zur Verhandlung erklärt. Reaktion der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung: negativ. Eine Regierung und Koalitionsfraktionen, die sich solchen Angeboten ständig entziehen und im Vermittlungsausschuß jede Verhandlung mit der Begründung „Wir ziehen durch" ablehnen, haben nicht die Legitimation, in diesem Hause zu erklären, die SPD betreibe Blockade. Die Wahrheit ist: Sie wollen überhaupt nicht verhandeln. Das ist die Wahrheit!
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Der Vorwurf, wir betrieben eine Blockadepolitik, ist ohne Beleg. Die Damen und Herren von der Koalition mögen in dieser Debatte die Gesetzentwürfe benennen, die eine SPD-Mehrheit im Bundesrat in den letzten Jahren blockiert, das heißt, verhindert hätte. Ich bin gespannt auf die Aufzählung in den kommenden zweieinhalb Stunden, meine Damen und Herren.
Was es hingegen gibt, ist etwas völlig anderes: Regierungsentwürfe sind im Vermittlungsausschuß nachhaltigen Verbesserungen unterzogen worden, in denen die Handschrift der SPD zu erkennen war. Das mag der Koalition als wunderlich erscheinen. Aber es ist eine schiere Selbstverständlichkeit, daß wir, wenn wir vermitteln, auch versuchen zu verbessern. Daß das nicht von montags bis dienstags geht, sollte Ihnen klar sein.
({11})
Es gibt also keine Blockadepolitik. Statt dessen hat die SPD mehrfach erfahren: Diese Regierung ist weder bereit noch willens, Vereinbarungen, die sie mit der SPD im Bundestag oder mit den SPD-geführten Regierungen im Bundesrat getroffen hat, einzuhalten. Das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 und die Vereinbarung über die Erhöhung des Kindergeldes zum 1. Januar 1997 sind besonders prominente Beispiele, bei denen diese Regierung gemeinsam mit der SPD Beschlossenes in einem zweiten Schritt im Alleingang in das Gegenteil verkehrt hat oder noch verkehren will. Die CDU/CSU und die F.D.P. sind als Fraktionen in diesem Hause politisch nicht mehr vertrauenswürdig.
Erst mit der SPD die Erhöhung des Kindergeldes oder die Einführung von Arzneimittellisten zu vereinbaren und sie gesetzlich festzulegen, sie dann aber gegen die SPD abzuschaffen oder abschaffen zu wollen, zeigt: Diese Koalition kalkuliert gezielt den politischen Wortbruch ein. Sie ist ein unzuverlässiger Vertragspartner.
({12})
Deshalb: Statt die SPD im Bundestag oder die SPD-Regierungen im Bundesrat zu beschimpfen, sollten CDU/CSU, F.D.P. und die Bundesregierung besser zu den Grundregeln des parlamentarischen Anstands zurückkehren, damit man sich wieder auf deren Wort verlassen kann.
({13})
Diese Regierung und die Koalitionsparteien wollen offenkundig die Konfrontation. Das zeigt nicht nur ihr Verhalten im Vermittlungsausschuß; das zeigen auch die politischen Inhalte der Kürzungsgesetze. Das zeigen ebenso die weiteren gesellschaftlichen Vorhaben: vom Jahressteuergesetz 1997 bis hin zum sogenannten Arbeitsförderungsreformgesetz. Sie wollen die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung um den Sozialstaat; eine Auseinandersetzung, die nicht um das Wie, sondern um das Ob des Sozialstaates geführt werden soll. Diese Koalition will weg von den wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Grundlagen, die den beispiellosen Aufstieg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg erst ermöglicht haben. Es geht ihr nur vordergründig um aktuelle ökonomische Problem- oder Krisenbewältigung. In Wahrheit muß das alles nur als Anlaß herhalten, um das eigentliche Ziel zu vernebeln: Die Grundrichtung dieser Republik soll verändert werden.
({14})
Niemand streitet ab, daß unser Land Probleme hat, die gelöst werden müssen. Diese Koalition, die nun seit fast 14 Jahren regiert, tut so, als habe sie mit den Ursachen dieser Probleme nichts zu tun. Offenkundig müssen in den letzten 14 Jahren lauter Marsmännchen oder Außerirdische am Kabinettstisch gesessen und über die Geschicke unseres Landes bestimmt haben. Offenbar muß ein außerirdischer Bundesarbeitsminister durch politisches Nichtstun die Arbeitsmarktprobleme maßgeblich mit hervorgerufen haben, von denen jetzt sein realer Kollege Blüm sagt, sie müßten gelöst werden. Offensichtlich muß ein Marsmensch mit dem Vornamen Theo Unordnung im Bundeshaushalt angerichtet und maßlose Schulden aufgehäuft haben, von denen ein Bundesfinanzminister namens Waigel heute meint, daß sie beseitigt oder abgebaut werden müssen.
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Zehn Jahre haben CDU/CSU und F.D.P. von der angeblichen Erblast der Regierung Helmut Schmidt gelebt, die angeblich getilgt werden müsse, wenn es um Begründungen für ihre sozial einseitigen Kürzungsmaßnahmen ging. Seit vier Jahren sind es wieder andere - diesmal undefinierbare Wesen -, die für die politischen Ergebnisse von Regierungshandeln herhalten müssen. Mit Verlaub frage ich: Was tun Sie eigentlich noch hier, wenn Sie für nichts verantwortlich sind? Mitglieder einer Regierung, die ohnehin für nichts verantwortlich sind, sollten besser nach Hause gehen. Sie sind hier nämlich überflüssig.
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Die Wahrheit ist doch: Diese Regierung drückt sich vor ihrer Verantwortung für die Ergebnisses ihrer Politik. Denn das ist die maßgebliche Ursache für den Zustand, in dem sich unser Land befindet: Diejenigen, die hier Feuerwehr zu spielen vorgeben, sind in Wirklichkeit die Brandstifter.
({17})
Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung ist doktrinär und dogmatisch am Prinzip der Angebotsorientierimg ausgerichtet. Sie verleugnet jeden gesellschaftspolitischen Anspruch. CDU/CSU und F.D.P. betreiben nicht Wirtschaftspolitik, um unsere Gesellschaft zu gestalten und allen zu ihrem Anteil an der nationalen Wohlfahrt zu verhelfen; sie mißverstehen vielmehr die ökonomischen Prozesse als Gebot und wollen dafür sorgen, diese Gesellschaft so zu verändern, daß diese Prozesse reibungslos ablaufen können.
Ich räume ein: Das entspricht dem ökonomischen Zeitgeist. Die Ökonomisierung unseres gesellschaftlichen Denkens ist weit fortgeschritten. Ich denke, Johannes Rau hat recht: Man kennt von allem den Preis, aber von kaum etwas mehr den Wert.
({18})
Wenn Mitglieder dieser Regierung in ihren zahlreichen Sonntagsreden eine stärkere Wertorientierung unserer Gesellschaft einfordern, so klingt das wie Hohn. Mangelnde Wertorientierung ist doch das Ergebnis dieser Regierungspolitik!
({19})
CDU/CSU und F.D.P. setzen diese Politik fort. Schlimmer noch, sie intensivieren sie, indem sie die gesetzlich vorgesehene Kindergelderhöhung streiRudolf Dreßler
chen und gleichzeitig die Vermögensteuer für Vermögensbesitzer senken. Wir brauchen über mangelnde Wertorientierung regierungsamtlicher Politik nicht theoretisch zu philosophieren; in dieser Politik wird sie ganz konkret, sie ist gleichsam mit Händen zu greifen.
({20})
Was die Kindergelderhöhung und den Versuch, sie wieder zu streichen, angeht, so fällt nicht nur mir auf, daß das dafür zuständige Kabinettsmitglied beharrlich schweigt. Wir hätten gerne von Frau Nolte gewußt, was sie davon hält. Zu den Familienverbänden gehen und die Notwendigkeit einer besseren Familienförderung predigen, aber gleichzeitig bei den Steuergesetzen für eine Kürzung dieser Förderung stimmen, geht nicht, Frau Nolte. Das paßt nicht zusammen.
({21})
Was die Weigerung der Regierung angeht, für die Folgen ihrer Politik einzutreten, gebe ich ein weiteres Beispiel. Es gibt das Schlagwort vom Standort Deutschland; ein Schlagwort, das bei CDU/CSU und F.D.P. für die Begründung einer angeblichen Notwendigkeit der Kürzungsgesetze eine maßgebliche Rolle spielt. Die dazu von der Regierung und ihren Stichwortgebern in den Verbänden von Industrie und Handwerk inszenierte öffentliche Debatte hat dem Standort Deutschland und dem internationalen Ansehen der deutschen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt.
({22})
Zudem: Sie spricht dem tatsächlichen Rang Deutschlands in der Weltwirtschaft und unserer Wettbewerbsfähigkeit geradezu Hohn.
Meine Damen und Herren, tun wir einmal so, als gäbe es das ausgezeichnete außenwirtschaftliche Ergebnis Deutschlands nicht, tun wir so, als gäbe es die jüngste Untersuchung des Ifo-Instituts mit ihren positiven Wertungen des Standortes Deutschland nicht, tun wir ferner so, als sei alles so mies, wie es Regierung und Industrieverbände ständig öffentlich behaupten: Wo, bitte, sind dann im Kürzungspaket der Koalition, über das wir heute abermals beraten, jene Elemente - etwa die Höhe der Lohnnebenkosten, die doch ständig als besonderes Standorthindernis angeführt wird die die Sicherung des Standortes Deutschland verbessern?
Prüfen wir also, was zur Senkung der Lohnnebenkosten getan wird, und vergessen wir dabei für einen kurzen Moment, daß es in Deutschland seit 1990 nur einen Verursacher von höheren Lohnnebenkosten gegeben hat: nämlich die Politik dieser Bundesregierung.
({23})
Frage eins: Werden die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt oder wird eine Senkung möglich gemacht? Als Maßnahme in den Kürzungsgesetzen findet sich dazu die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Diese bewirkt bekanntlich, daß ältere Arbeitnehmer länger auf ihren Arbeitsplätzen verbleiben und den nachrückenden Jüngeren Arbeitsplätze fehlen. Eine solche Maßnahme führt demzufolge zu mehr und nicht zu weniger Arbeitslosen, also zu Mehr- und nicht zu Minderausgaben der Bundesanstalt für Arbeit. Mehrausgaben bedeuten aber steigende und nicht sinkende Beiträge.
Als weitere Maßnahme finden wir den Wegfall des Kündigungsschutzes von geschätzt 10 bis 12 Millionen Arbeitnehmern. Wer das Feuern erleichtert, schafft keine neuen Arbeitsplätze, sondern gefährdet bestehende Arbeitsplätze. Also auch hier: mehr Arbeitslose, höhere Ausgaben und höhere Beiträge.
({24})
Selbst wenn ich die geplante brutale Streichung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Ostdeutschland gar nicht berücksichtigte - auch hier gibt es Mehrkosten; denn die Finanzierung von Arbeitslosigkeit ist immer teurer als die Finanzierung von Arbeit -,
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zeigte sich: das Kürzungspaket führt eher zu höheren als zu niedrigeren Arbeitslosenversicherungsbeiträgen. Senkung der Lohnnebenkosten? - Pustekuchen, meine Damen und Herren.
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Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung stellt sich hierher und eröffnet seine Rede mit dem Satz: Ich weiß genau, was der Dreßler gleich sagen wird. - Ich habe kein Argument von ihm gegen das, was ich hier sage, gehört, nicht ein einziges Argument!
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Frage zwei: Wird eine weitere Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge vermieden? Eine Antwort darauf müßte zugleich Aufschluß darüber geben, ob die Rentenkassen endlich von jenen 30 Milliarden entlastet werden, die nicht durch Beiträge gedeckt sind, also gar nicht dorthin gehören. Nichts stand davon im Kürzungspaket, statt dessen nur Herumgefummele.
Es werden Tausende Wohnungen der Rentenversicherung mit der Folge verscherbelt, daß Sozialmieter auf dem teuren freien Wohnungsmarkt landen. Es gibt massive Kürzungen im Bereich der Rehabilitation mit der sicheren Folge einer höheren Invaliditätsrate, also höhere Ausgaben für Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten.
Das Fazit: Eine Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge wird nicht vermieden. Eine Erhöhung auf 20 Prozent oder mehr wird unausweichlich. Allerdings wage ich die Prophezeiung, daß der ständig schönredende Bundesarbeitsminister für den 1. Januar 1997 bei exakt 19,9 Prozent, vielleicht auch 19,99 Prozent landen wird. Jeder weiß: Das ist ein
politischer, nicht aber ein notwendiger Beitragssatz. Senkung der Lohnnebenkosten? - Auch hier Pustekuchen.
Er hat auch hier gewußt, was ich sagen werde. Aber es gab in diesem Punkt kein einziges Argument der Entlastung durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
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Frage drei: Was ist mit den Krankenversicherungsbeiträgen? Nachdem der Bundesgesundheitsminister den Ärzten und der Pharmaindustrie in den letzten Monaten insgesamt mehrere Milliarden Mark hinterhergeworfen hat, nachdem die Krankenversicherung im letzten und im laufenden Jahr ein Milliardendefizit angesammelt hat, greift er zu einem Trick.
Er will die Höhe der Krankenversicherungsbeiträge per Gesetz festschreiben und am 1. Januar 1997 ebenfalls per Gesetz um 0,4 Prozent senken. Das hat zur Folge, daß die Beiträge am 2. Januar durch die Selbstverwaltung erhöht werden können, um das Defizit auszugleichen. Das erfolgt dann allerdings nicht per Gesetz, sondern per Selbstverwaltungsbeschluß der Krankenkassen. Ein solches Verfahren ist das Gegenteil von dem, was man Wahrnehmung der politischen Aufgaben einer Regierung nennen könnte.
Das wird die Bilanz des Kürzungspakets in Sachen Verbesserung des Standortes Deutschland durch Vermeidung höherer oder Senkung bestehender Lohnnebenkosten sein: höhere Krankenversicherungsbeiträge, höhere Rentenversicherungsbeiträge, mehr Arbeitslose und demzufolge höhere Arbeitslosenversicherungsbeiträge.
Als ich diese Sachlage vorgestern abend auf einer Veranstaltung in Oberhausen-Sterkrade erläuterte, unterbrach mich ein Stahlarbeiter, offenkundig ein Fußballfachmann, mit der Bemerkung: Bei euch in Bonn jeht et ja beim Geld schlimmer zu wie früher bei dem Günter Siebert auf Schalke. - Sie werden verstehen, daß ich Herrn Siebert anschließend gegen diesen ehrenrührigen Vergleich in Schutz genommen habe.
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Sie werden verstehen, daß ich auch das „euch" zurückgewiesen habe, weil - damit das klar ist - wir Sozialdemokraten diesen Unfug auch weiterhin nicht mitmachen werden. Wir begrüßen das Ergebnis des Vermittlungsausschusses, diese Gesetze aufzuheben, ausdrücklich.
({30})
Die Ziele, die die Regierung mit ihrem Kürzungspaket zu erreichen vorgibt, lauten: Massenarbeitslosigkeit bekämpfen, öffentliche Haushalte konsolidieren und den Standort Deutschland stärken. Nicht nur ich frage mich: Wie kann man Massenarbeitslosigkeit durch die Fortsetzung einer Politik bekämpfen, die deren Entstehen entscheidend begünstigt hat?
({31})
Nicht nur ich frage mich: Wie kann man Haushalte durch eine Politik konsolidieren, die sie erst in Unordnung gebracht hat? Wie kann man den Standort Deutschland durch eine Intensivierung der Politik stärken, die ihn erst in Gefahr zu bringen droht?
({32})
Wer diese Ziele wirklich erreichen will, muß bezogen auf die Politik der Regierung umdenken und umkehren, er darf nicht weitermachen wie bisher. Für alle erkennbar ist die Bundesregierung zur Umkehr nicht bereit, die Kürzungsgesetze beweisen das. Die Forderungen an CDU/CSU und F.D.P., ihren Kurs zu korrigieren und umzukehren, kann man auch ganz plastisch ausdrücken. Wir Sozialdemokraten verlangen von dieser Koalition: Kehren Sie zu den Grundlinien der Sozialen Marktwirtschaft zurück!
({33})
Kehren Sie zurück zu einer marktwirtschaftlichen Politik, bei der Parlament und Regierung ihrer Verpflichtung gerecht werden und dem Marktgeschehen sittliche! humane und soziale Normen beigeben!
({34})
Ich sage Ihnen: Wer als Politiker den Markt sich selbst überläßt, wer gar der Gesellschaft zumuten will, sich unbesehen - und das heißt wertneutral -dessen Gesetzmäßigkeiten zu unterwerfen, handelt pflichtvergessen. Der Markt ist der Ort zur optimalen Organisation und Befriedigung der ökonomischen Bedürfnisse einer Gesellschaft. Aber er ist kein Prinzip für die Ordnung der Gesellschaft.
({35})
Diese Überzeugung war ehedem eine Gemeinsamkeit zwischen allen politischen Gruppierungen des Hauses. Die Gemeinsamkeit jedoch droht zu zerbrechen oder ist vielleicht schon zerbrochen. Ich denke, wir müssen zu dieser Gemeinsamkeit zurückkehren, wollen wir den Zusammenhalt und die Chance auf eine erfolgreiche Fortentwicklung unserer Gesellschaft nicht aufs Spiel setzen. Mit dem vorliegenden Kürzungspaket ist diese Rückkehr nicht möglich. Im Gegenteil: Dieses Gesetzessammelsurium führt weg von dem, was gesellschaftspolitisch notwendig ist.
({36})
In weiten Kreisen der Unternehmerschaft hat sich offenbar der Eindruck festgesetzt, Politik und Parlament hätten gegenüber der Wirtschaft gefälligst die Rolle eines zur Verfügung stehenden Dienstleisters zu übernehmen. Zu diesem irrigen Eindruck kann eigentlich nur der gelangen, der annimmt, alle Mitglieder des Deutschen Bundestages seien so, wie die
Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. neuerdings sind. Aber das ist nicht so.
({37})
Das Parlament ist trotz reichlich forscher Worte des BDI-Präsidenten zu diesem Thema kein Dienstleister für Dritte.
({38})
Hier im Hause fallen die Entscheidungen über die Grundlinien deutscher Politik eigenständig, unabhängig und mit ausschließlicher Legitimation. Alles andere ist als anmaßendes Geschwätz zurückzuweisen.
({39})
Welch perverse Bewußtseinslage sich mittlerweile eingestellt hat, zeigt doch, daß in Unternehmensund Börsenkreisen vor allem jene Manager als besonders erfolgreich gefeiert werden, die Tausende von Arbeitsplätzen abbauen und den Beschäftigten den Stuhl vor die Tür setzen. Nicht der, der Arbeitsplätze schafft, nein, der, der sie abbaut, gilt als erfolgreich. Sollen das die neuen Maßstäbe für unsere Gesellschaft sein? Für Sozialdemokraten jedenfalls wäre dies nicht nur inhuman; es wäre letztlich ein Schritt in eine entmenschlichte Gesellschaft.
({40})
Nicht jeder Unternehmer kann das gesellschaftspolitische Kaliber eines Walther Rathenau haben. Aber wenn nicht derjenige gewürdigt wird, der Arbeitsplätze schafft, sondern der, der rauswirft, dann stellt sich doch die Frage, ob die Manager sich bei der Wahrnehmung ihrer unternehmerischen Aufgabe noch eine gesellschaftlichspolitische Funktion zumessen oder ob sie für sich den „Shareholder value", wie es neudeutsch heißt, also die Mehrung des Wertes von Aktien und Geschäftsanteilen, heute schon als alles definieren. Dann nämlich wären wir wirklich bei einer Zustandsbeschreibung der Gesellschaft, die Karl Marx schon vor über hundert Jahren vorgenommen hat und die wir bisher gemeinsam mit voller Überzeugung zurückgewiesen haben.
Diesem Geist, der in manchen Unternehmensetagen herrscht, dem Volk, Gesellschaft und Nation fast nichts und dem das eigene Unternehmen fast alles bedeutet, hat diese Regierung sich nicht nur widerstandslos gebeugt; sie hat ihn durch ihre Politik gefördert, ja, erst hoffähig gemacht.
Wenn an dieser Stelle von Vertretern der Koalition entgegengehalten wird, so sei das Kürzungspaket nicht gemeint, und so Weitgehendes stehe auch gar nicht darin, dann halte ich dem drei Dinge entgegen:
Erstens: Die politischen Absichten dieser Koalition zeigen, unbeschadet mancher Einzelregelung, genau in diese von mir aufgezeigte Richtung.
Zweitens: Es gibt ausreichend Vertreter der Koalition, vor allem bei der F.D.P., die ausdrücklich einräumen, daß das gewollt ist.
Vor allem aber drittens: Es bleibt doch nicht bei diesem Kürzungspaket; in Wahrheit soll es weitergehen. Habe ich eigentlich nur geträumt, daß der F.D.P.-Vorsitzende Gerhardt Arm in Arm mit Herrn Stihl die Streichung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes gefordert hat?
({41})
- Bevor Sie aus den Koalitionsreihen mich weiter so verständnislos angucken, will ich Sie darüber aufklären, was dort steht:
Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.
Die Herren Gerhardt und Stihl wollen also in Wahrheit Tarifverträge abschaffen, wenn sie diese Bestimmung streichen wollen. Dann nämlich gäbe es nur noch Betriebsvereinbarungen, und es gäbe Gewerkschaften, die nur noch so heißen, die nichts mehr gestalten oder bewegen können, die, statt mitzuverantworten, zu einer Versammlung räsonierender Maulhelden verkommen würden.
Ich weiß ja, daß es auf Seiten der Koalition in ausreichender Zahl Mitglieder in diesem Hause gibt, denen nichts lieber wäre als das. Sie wollen englische oder amerikanische Verhältnisse in den Sozialbeziehungen. Da mögen CDU/CSU und vor allem F.D.P. im Hinblick auf das Kürzungspaket mit noch so treuem Augenaufschlag beteuern, das sei alles nicht so gemeint, wie die SPD behauptet; angesichts solchen Geredes über weitergehende Maßnahmen wie zum Beispiel das der Herren Gerhardt und Stihl - jeder weiß, sie sind nicht die einzigen - halte ich Ihnen entgegen: Wir glauben Ihnen nicht.
({42})
Sie führen etwas im Schilde. Sie wollen diese Republik von den Füßen auf den Kopf stellen.
Was das konkrete Vorhaben zur Abschaffung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes angeht, will ich mit meiner Wertung nicht hinter dem Berg halten: Sollte dies mehr sein, Herr Gerhardt, als ebenso schwach- wie leichtsinniges Gefasel, sollten CDU/CSU und F.D.P. je versuchen, das wahrzumachen, so kündige ich Ihnen an, daß die deutsche Sozialdemokratie dieses Land durcheinanderwirbeln wird, daß Sie es nicht wiedererkennen werden.
({43})
Herr Kollege Dreßler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gerhardt?
Sofort, Herr Gerhardt. - Wer durch solche Maßnahmen, offen oder verdeckt, an den Grundlagen einer handlungsfähigen freien Gewerkschaftsbewegung rüttelt oder ihr gar den Boden entziehen will, hat die SPD nicht nur zum Gegner, Herr Gerhardt, er hätte sie dann zum Feind - wenn Sie wissen, was dieses Wort in einer Gesellschaft, die auf Gemeinsamkeit der Demokraten setzt, bedeutet.
({0})
Bitte schön.
Herr Gerhardt.
Herr Kollege Dreßler, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß ich die Tarifvertragsparteien - die sich beide, was die Beschäftigungsvereinbarungen betrifft, in einer Art Monopolsituation befinden - aufgefordert habe, die Tarifvertragsöffnung für „betriebliche Besonderheiten" zu ermöglichen.
({0})
Sie wissen genausogut wie ich, daß es in Deutschland Hunderte von Betrieben gibt, die nicht in Flächentarifverträge einbezogen sind. Sie verschließen die Augen vor der Wirklichkeit. Es ist besser, diesen Betrieben die Möglichkeit zu geben, eine Vereinbarung mit dem Betriebsrat zu treffen, um Arbeitsplätze zu erhalten, anstatt sie durch die Lohnfindung im Rahmen eines Flächentarifvertrags zu zerstören.
({1})
Herr Kollege Gerhardt, es mag sein, daß Sie über Tarifverträge detaillierter informiert sind, als ich es bin. Das mag sein. Ich will Ihnen nur meinen Informationsstand nennen; Sie können ihn dann mit dem Ihren abgleichen.
Es wissen nicht viele, daß es in diesem Land 40 000 gültige Tarifverträge gibt. Noch weniger wissen, daß es nur ganz wenige Tarifverträge gibt, die bundeseinheitlich gelten, daß die Masse auf Regionalität zugeschnitten ist. Und es gibt auch nicht viele, Herr Gerhardt, die wissen, daß in diesen Tarifverträgen Öffnungsklauseln in tausendfacher Art und Weise bestehen - bis hin zur Flexibilisierung der Arbeitszeit in einem ungewohnten Maße für den, der das alles nicht durchschaut. Das alles sind Lösungen auf betrieblicher Ebene.
Wenn Sie, Herr Gerhardt, allerdings die Lohnfindung auf die betriebliche Ebene verlagern wollten mit Ihrem Vorschlag, dann muß ich Ihnen zwei Dinge sagen: Erstens. Diesen Vorschlag hat die Deutsche Kommunistische Partei im Westen Deutschlands in den 60er Jahren in ihrem Programm gehabt. Ich beglückwünsche Sie zur Übernahme dieser DKP-Forderung!
({0})
Zweitens. Lohnfindung auf betrieblicher Ebene wird - dies stellen Sie fest, wenn Sie das Gespräch mit Unternehmensmanagern führen, deren Betriebe
gute Gewinn- und Verlustrechnungen ausweisen -nicht auf Gegenliebe dieser Unternehmen stoßen; denn sie können sich an zwei Fingern ausrechnen, was das in der praktischen Tarifauseinandersetzung bedeutet.
Ich wiederhole, Herr Gerhardt: Es mag sein, daß ich davon nicht soviel verstehe wie Sie. Aber die Dinge, die ich verstehe, sollten Sie animieren, Ihre Position zu überdenken. Aber ich entnehme Ihrem Beitrag in diesem Hause, daß Sie die Eliminierung dieser Bestimmung aus der Betriebsverfassung mit Ihrer Partei nicht weiter verfolgen.
({1})
- Es ist am heutigen Tag eine gute Botschaft, daß die F.D.P. dies nicht weiterverfolgt.
({2})
Meine Damen und Herren, nicht der Arbeitnehmervertreter, der sich gegen unsoziale Gesetzgebungsversuche nach Art des Kürzungspaketes der Bundesregierung wehrt, weil er den sozialen Frieden gefährdet sieht, ist das Standorthindernis, sondern es sind die selbsterwählten Systembastler. Im übrigen erlaube ich mir die Frage: Was glauben die Damen und Herren der Koalition wohl: Ist es der Gewerkschaftsvertreter, der für die gerechte Teilnahme aller am ökonomischen Fortschritt öffentlich streitet und für sozialen Ausgleich kämpft, der dem Ansehen der deutschen Wirtschaft schadet, oder sind es ausgesuchte und beispielhafte unternehmerische „Meisterleistungen" des deutschen Managements nach Art von Daimler-Benz, Metallgesellschaft, Balsam, Klöckner-Humboldt-Deutz, um nur prominente Beispiele zu nennen? Jeder kennt die Antwort, aber kaum einer sagt sie.
({3})
Denn in solch vornehmen Kreisen güt es als unhöflich, eine unternehmerische Pfeife auch als solche zu bezeichnen.
({4})
Ich fände es ganz praktisch, wenn die F.D.P., die mit flotten Sprüchen wie „Leistung muß sich wieder lohnen" mehr Leistung einfordert, bei diesen Unternehmensleitungen anfinge. Da geht es nämlich um Hunderttausende von Arbeitsplätzen.
({5})
Wenn die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses, das eine Ablehnung des Kürzungspaketes vorsieht, heute zustimmt, dann geschieht dies nicht aus parteitaktischen Erwägungen, sondern aus voller inhaltlicher Überzeugung. Wir akzeptieren die von den Koalitionsfraktionen scheibchenweise versuchte gesellschaftspolitische Neuausrichtung unserer Republik
nicht, sondern wir halten sie für falsch und gefährlich.
Die vor uns liegenden Probleme können gelöst werden, und die Fragen können beantwortet werden. Das aber wird nur gelingen, wenn wir uns auf die Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft rückbesinnen, wenn wir die unterschiedlichen Kräfte unserer Gesellschaft zusammenführen und sie bündeln.
Ihr Kürzungspaket, das, was Sie als Regierung und Koalitionsfraktionen vorhaben, weist in eine andere Richtung. Es geht in Richtung Kapitalismus pur. Sie führen nicht zusammen, sondern Sie spalten. Sie spielen die Interessen der Wohlhabenden unseres Landes gegen die Interessen der weniger Wohlhabenden aus. Dem gilt der entschiedene Widerstand der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gerhardt.
({0})
- Das ist sein parlamentarisches Recht. Er hat gefragt.
Frau Präsidentin! Herr Kollege Dreßler, ich verstehe diese Aufgeregtheit nicht. Das Ganze dient der Sachaufklärung. Denn auch Ihnen, Herr Kollege Dreßler, ist als viel sachverständigerem Tarifvertragskenner klar, daß Arbeitgeberverbände und auch Gewerkschaften gegenwärtig Mitglieder verlieren. Warum wohl? - Weil sich die Lohnfindung im Betrieb branchenspezifisch nicht mehr so vollzieht, wie das auf der oberen Ebene verhandelt worden ist, und weil manche kleine und mittlere Betriebe die Motive für diese Findung nicht mehr verstehen können.
({0})
Es liegt im ureigenen Interesse der Tarifvertragsparteien, etwas mehr Bandbreiten und betrieblich individuelle Entscheidungsmöglichkeiten nach unten zu geben,
({1})
wenn Sie das Thema Tarife, Friedenspflicht und auch die Notwendigkeit der Gewerkschaften sehen.
Die Wahrheit ist, daß Sie wie ich Betriebe kennen, die sich schon längst nicht mehr an die Tarife halten, die von oben vereinbart worden sind. Wenn Sie Ihre Augen davor verschließen, nehmen Sie die wirtschaftliche Wirklichkeit dieses Landes nicht zur Kenntnis. Deshalb ist es besser, Öffnungsmöglichkeiten vorzusehen, anstatt an einem starren System festzuhalten.
Es hegt im tiefen Interesse der Gewerkschaften selbst, flexibel solche dezentrale Entscheidungen zu
ermöglichen. Das ist meine Haltung dazu, nicht mehr und nicht weniger. Immer sind die Kräfte selbst zu Reformen aufgefordert, aus eigener Kraft diese Lage zu verändern. Das ist unsere Vorstellung, das ist mein Vorschlag.
({2})
Herr Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es wäre schon ein Fortschritt, Herr Gerhardt, wenn wir uns in diesem Parlament darauf verständigen könnten, daß etwa die Gewerkschaften ihr originäres Eigeninteresse - auch nach Meinung der F.D.P. - selbst zu definieren im Stande sind.
({0})
Wenn Sie also sagen, es liegt im originären Interesse der Gewerkschaften, glaube ich - in Kenntnis der dort Handelnden -, daß sie das für sich selbst am besten entscheiden können.
({1})
Zweitens. Wenn Sie sagen, es läge im originären Interesse der Tarifvertragsparteien - es ist ja noch eine zweite Bank angesprochen -, dann glaube ich -in Kenntnis der dort Handelnden - zu wissen, daß diese besser wissen
({2})
- nicht nur besser als die F.D.P., sondern übrigens auch als die SPD, als wir alle -, was für sie am besten ist. Herr Gerhardt, soviel Vertrauen, wie Sie in sich selbst und in die F.D.P. haben, müssen Sie auch den Arbeitgeberverbänden und den deutschen Gewerkschaften zugestehen.
({3})
Entscheidend ist - wenn Sie das nur als Appell verstanden wissen wollen daß Sie - so habe ich Ihrer Äußerung entnommen - die gesetzgeberische Initiative, die Tarifautonomie zu atomisieren, nicht weiterverfolgen wollen. Das ist ein positives Ergebnis.
({4})
Als nächste Rednerin spricht die Kollegin Andrea Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Gerhardt hat es vor einigen Tagen ganz ohne Scheu auf den Punkt gebracht: Die Koalition braucht das Sparpaket in seiner unveränderten Form aus symbolischen Gründen; denn eine Regierung müsse schließlich zeigen, daß sie regieren kann.
Auch der Kollege Blüm hat es eben auf den Punkt gebracht: Heute sei hier keine Debatte in der Sache
Andrea Fischer ({0})
angesagt; vielmehr könne die Regierung jetzt demonstrieren, daß sie Mut zur Entscheidung habe.
Für mich ist das eine traurige Demonstration des Zustands dieser Regierung: Sie muß Stärke beweisen im Verfahren, wo ihr Stärke in der Politik fehlt.
({1})
Da verkommt dann die verfassungsrechtlich institutionalisierte Auseinandersetzung mit den Bundesländern zu einem Pokerspiel, wo es eigentlich nur noch darum geht, wie man schnell diese lästigen Hürden nehmen kann. Das Hauptziel ist nicht der richtige Weg, sondern nur, die eigene Unbeirrbarkeit unter Beweis zu stellen.
Deswegen hat die Bundesregierung in den letzten Monaten die Ohren verschlossen vor jedem Protest, vor allen Einwänden und auch vor den Ängsten, die dieses Sparpaket bei vielen Menschen auslöst. Sie wollen unbeeindruckt sein von der Angst der Frauen, was das für ihre Lebensplanung bedeutet und welche Auswirkungen das auf ihre Rentenversicherung hat. Sie wollen unbeeindruckt sein von den verheerenden arbeitsmarktpolitischen Folgen der ABM-Kürzungen in Ost-Deutschland. Sie wollen unbeeindruckt sein von der Verunsicherung der Arbeitnehmer durch die Kürzung der Lohnfortzahlung und die Änderungen beim Kündigungsschutz. Und sie wollen natürlich unbeeindruckt sein von jedem fachlichen Hinweis, daß die Krise so nicht zu bewältigen ist.
Da igelt sich eine Regierung ein. Erst hat sie lange tatenlos zugesehen, schließlich ist sie selbst schuld am Stand der Dinge, und dann werden mit den eigenen Versäumnissen die Sparmaßnahmen gerechtfertigt.
({2})
Haben Ihnen eigentlich nicht die Ohren gebrannt von der Ohrfeige, die Ihnen der Sozialbeirat, den Sie selber eingesetzt haben, sowie die Rentenversicherungsträger in der Sommerpause gegeben haben? Die haben Ihnen doch ins Stammbuch geschrieben, daß die Finanzkrise der Rentenversicherung genauso weitergehen wird, wenn Sie die Rentenbeiträge wieder einmal nicht in einer realistischen Höhe festsetzen. Aber die Bundesregierung orientiert sich an der magischen Grenze von 20 Prozent Beiträgen. Magie! Womit haben wir eigentlich eine Bundesregierung verdient, die auf Zauber und Magie setzen muß?
({3})
Wenn Sie den Fehler der beiden letzten Jahre noch einmal wiederholen und die Beitragssätze zu niedrig ansetzen, dann werden wir bald wieder ein Paket auf dem Tisch haben, an dem wir dann bei den Rentenansprüchen wahllos herumkürzen müssen, um irgendein Finanzloch in der Rentenversicherung kurzfristig zu verhindern oder zu schließen. Das heißt: der selbstverschuldete Fehler wird zur Begründung für die kopflosen Maßnahmen in der Rentenversicherung, und das ist beispielhaft für die mangelnde politische Kraft der Bundesregierung:
({4})
Erst gucken Sie lange zu, dann schreiben Sie der Krise katastrophenhafte, geradezu naturwüchsige Dimensionen zu, und schließlich sind Sie selbst die Getriebenen, die gar nicht anders können, als so und nicht anders auf die Krise zu reagieren.
Aus dieser Sicht der Dinge erscheint dann jeder, der von Alternativen spricht, als einer, der das Ausmaß der Krise nicht verstanden habe. Ich behaupte: Sie haben das Ausmaß der Krise nicht verstanden.
({5})
Sie wollen uns mit diesem Sparpaket und auch mit weiteren Maßnahmen, die auf uns zukommen werden, durch ein Tal der Tränen führen. Sie geben uns das leichtfertige Versprechen, an dessen Ende würden Wohlstand, Wachstum und Vollbeschäftigung locken. Nur, den Weg durch dieses Tal gehen Sie seit Jahren. Das Ergebnis ist bekannt.
In der Zeit dieser Bundesregierung wurden die Unternehmen in einem nie gekannten Ausmaß steuerlich entlastet. Was ist passiert? Die Unternehmen haben von dieser Entlastung Rationalisierungs- und nicht Erweiterungsinvestitionen getätigt. Woher nehmen Sie die Annahme, das alles könne sich ändern und unglaublich viele neue Arbeitsplätze würden geschaffen, wenn Sie ein weiteres Mal entlasten?
Wir sind konfrontiert mit tiefgreifenden Umbrüchen in der Produktion, im internationalen Handel und deswegen auch im Erwerbsleben. Da ist eine Rückkehr zu den Leitbildern und Zuständen der 70er und 80er Jahre nicht möglich. Aber das ist es, was Sie mit diesem Sparpaket anstreben.
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Das Heilsversprechen der Angebotspolitiker in der Bundesregierung, allerdings auch das Heilsversprechen der klassischen keynesianischen Nachfragepolitiker ist, das hohe Wirtschaftswachstum werde es schon richten. Nun wird uns Grünen ja gerne eine tiefe Feindschaft gegenüber dem Wirtschaftswachstum nachgesagt. Aber erstens waren wir in den vergangenen Jahren bekanntermaßen an der Bundesregierung nicht beteiligt. Zweitens ist mir aus der ökonomischen Theorie nicht bekannt, daß das Wachstum allein deswegen vor sich hinkümmert, weil ihm übel nachgeredet wird. Also, an uns kann es nicht hegen, wenn wir seit vielen Jahren damit konfrontiert sind, daß die Wachstumsraten ständig fallen. Darauf muß sich die Politik einrichten. Das ist das Neue, und da sind uns alte Wege verbaut. Einer dieser alten Wege ist die Angebotspolitik, die Sie mit diesem Sparpaket machen wollen.
({7})
Am eigenen Leib spüren die Menschen zur Zeit besonders, was sich alles - gerade auch im Erwerbsleben - verändert. Gerade weil sie spüren, daß sich etwas ändert und dementsprechend nicht alles so bleiben kann, wie es ist, zeigt sich immer wieder, daß
Andrea Fischer ({8})
sie bereit sind, ihren Teil zu diesen Reformen beizutragen, wenn es denn für eine Gesellschaft ist, die sich auf diese Veränderungen wirklich einläßt. Aber Sie haben diese Bereitschaft nicht genutzt, sondern die Menschen verprellt, weil Sie nur noch Getriebene, aber nicht mehr Handelnde sind.
Ich möchte gerne eine persönliche Anmerkung machen: Ich habe erst in den 80er Jahren mit Sozialpolitik begonnen. Das heißt: Zeiten, in denen es scheinbar unbegrenzten finanziellen Spielraum für soziale Sicherung gab, waren schon damals für mich nur eine Kunde aus einer fernen Zeit. Aber selbstverständlich war ich beeindruckt von der Tradition des bundesdeutschen Sozialstaates, die nicht zuletzt -um nicht zu sagen: sehr entscheidend - geprägt wurde von christdemokratischen und christlichen Politikern. Zu ihnen gehörten der verstorbene Hans Katzer genauso wie Nell-Breuning, Wilfried Schreiber und andere.
Heute erlebe ich Sozialpolitik nicht mehr als Willen zur Gestaltung einer sich verändernden Gesellschaft. Es gibt keine Auseinandersetzung um zukunftsweisende Lösungen. Es gibt auch kein Ringen um Gerechtigkeit. Heute ist die Sozialpolitik vielmehr degeneriert zu dem Versuch, eine möglichst plausibel klingende Begründung für das jeweilige Kürzungsvorhaben zu finden.
({9})
Zugespitzt wird das Ganze durch die Strategie: Man suche sich Gruppen aus, die möglichst leicht zu treffen sind, weil sie entweder keine Lobby haben, weil sich gegen sie die Mißbrauchsvorurteile besonders gut mobilisieren lassen oder weil sie auf Grund ihres jugendlichen Alters noch zu weit davon entfernt sind, die Kürzungen am eigenen Leibe zu spüren, und deswegen gar nicht wissen, wogegen sie protestieren müßten.
Dieser Mangel an Mut und Gestaltungswillen ist
es doch, der die Menschen so verdrossen und auch zornig macht auf das Sparprogramm der Bundesregierung. Man muß doch erkennen können, wofür man die Opfer bringt. Sie ignorieren - wenn Sie jetzt wieder an die Opferbereitschaft appellieren - völlig die Erfahrung, die ganz viele Menschen in den vergangenen Jahren gemacht haben: Reallohnverluste, eine steigende Abgabenlast und auch viele Kürzungen.
Das alles, was wir hier bereden, ist nicht neu; es ist nur ein weiterer Schritt. Aber die Menschen empfinden das so, als seien sie jedesmal wieder um die Früchte ihrer eigenen Opferbereitschaft gebracht worden, weil sich die Dinge nicht zum Positiven entwickelt haben. Sie denunzieren als Beharrungsvermögen und Besitzstandswahrerei das, was doch eigentlich einer konkreten persönlichen Erfahrung entspricht und was nur Mißtrauen gegen zu große und leichtfertige Versprechungen ist, die Sie hier machen. Die Bundesregierung macht sich doch selbst unglaubwürdig.
Schauen wir uns das sächsische Spektakel um die Subventionen an! Sie reden immer vom umfassenden Sparzwang.
({10})
Dann kommt ein großer Konzern, und sofort geben Sie der Erpressung nach. Gestern noch haben Sie über die „Subventionitis" in der Europäischen Union geklagt, europäische Kartellämter gefordert und über die hohen finanziellen Verpflichtungen Deutschlands in der Europäischen Union geklagt. Dann drehen Sie sich um und sagen heute: Was schert uns unser ordnungspolitisches Geschwätz von gestern! Wir fordern Sonderbehandlung, die wir natürlich bei jedem anderen Land als eine Wettbewerbsverzerrung anprangern würden.
Damit hat - nur nebenbei - der Musterschüler der europäischen Integration nicht nur reichlich internationales Porzellan zerschlagen, sondern mit der Botschaft nach innen - dieser Inkonsequenz, diesem Opportunismus, der Ergebenheit gegenüber den Mächtigen, gepaart mit Gleichgültigkeit gegenüber den Schwachen - zerstören Sie auch die Bereitschaft zum Mitmachen bei großen Veränderungen.
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Das sächsische Spektakel ist noch in anderer Hinsicht für die Politik der Bundesregierung mit ihrem Verharren in alten Denkmustern und überholten politischen Prioritäten beispielhaft. Können Sie uns wirklich einen guten Grund nennen, die Autoindustrie weiterhin mit Subventionen zu fördern? Sie machen in Sachsen eine Insel, ein Werk mit einem hohen Rationalisierungspotential und mit einem auslaufenden Produkt. Soll das wirklich der Ausgangspunkt für eine sich selbst tragende zukunftsfähige Wirtschaftsentwicklung in Sachsen sein? Wenn Sie die Subventionen in die Förderung von neuen Technologien sowie in die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen umlenken würden, dann bekämen Sie mehr Arbeitsplätze für weniger Geld.
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Aber die Bundesregierung geht immer nach dem gleichen Muster vor: Jetzt ist Krise, jetzt bloß keine Experimente!
Mit diesem Argument verwehren Sie auch die Debatte um die Ökosteuer. Aber haben Sie wirklich Besseres zu bieten? Die Menschen, die seit langem einen völlig berechtigten Unmut über die Kompliziertheit und die Ungerechtigkeiten des Steuersystems haben, behelligen Sie in der Sommerpause mit einer wirklich schlechten Debatte über die Steuerpolitik. Nur, Sie können diesen Unmut nicht mobilisieren, als hätten Sie damit nichts zu tun. Sie sind schließlich seit Jahren an der Regierung
({13})
und können nicht plötzlich die eigene Opposition geben.
Andrea Fischer ({14})
Für die F.D.P. ist die Steuersenkung inzwischen ein heiliger Gral. Da wird dann einfach nonchalant verschwiegen, daß es, wenn man die Steuersätze rabiat senkt, dramatische Steuerausfälle geben wird. Auch bei der CDU/CSU mehren sich die Stimmen, daß die Steuerreform nach dem Motto laufen wird: Niemandem wird es schlechtergehen, aber allen wird es bessergehen.
So darf man uns nicht hinters Licht führen. Wir wissen doch ganz genau: Die erste Voraussetzung für eine richtige, wegweisende Steuerreform wäre eine Neudefinition der Bemessungsgrundlage, also dessen, was zu besteuern ist. Wenn man sich daranmacht, dann wird man damit konfrontiert werden, daß das deutsche Einkommensteuerrecht auch Ausdruck einer Geschichte des deutschen Lobbyismus ist. Die Äußerungen aus der Koalition in der Sommerpause machen mich wenig optimistisch, daß wirklich genug Mut und Rückgrat vorhanden sind, sich mit diesem Lobbyismus anzulegen. Aber billiger ist es nicht zu haben. Denn es wird welche geben müssen, die zahlen, nämlich diejenigen, die heute, weil sie hohe Einkommen haben, überproportional von diesem Steuerrecht profitieren.
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Aber richtig Energie steckt die Bundesregierung immer dann in die Debatte, wenn es um ein Nein zur Ökosteuer geht. Das kann nur ideologische Gründe haben; denn steuersystematisch ist eine Ökosteuer eine Steuer auf den Verbrauch, genauso wie die Mehrwertsteuer. Diese scheinen Sie locker erhöhen zu können, auch wenn die Zwecke dieser Erhöhung unklar sind und die Verwendungszwecke, die Sie für diese zusätzlichen Einnahmen vorschlagen, von Tag zu Tag wechseln. Der Witz bei der Ökosteuer ist aber, daß damit nicht jeder Verbrauch gleich erfaßt wird, sondern durch den hohen Preis für umweltschädliche Produktionen und Konsumtion ein Lenkungseffekt eintritt. Deswegen ist dies das zukunftsweisende Projekt, anstatt nur mit einer Mehrwertsteuererhöhung den Leuten mehr Geld aus der Tasche zu holen.
Ich will noch ein Argument für die Ökosteuer anfügen: Gerade weil unser Erwerbssystem im Umbruch ist, müssen wir natürlich auch die Finanzierungsgrundlagen des Sozialstaats überdenken. Zur Zeit ist die Finanzierung überwiegend an den einzelnen Arbeitsplatz bzw. das Arbeitseinkommen gekoppelt. Seit Jahren haben wir erfahren: Bei millionenfacher Erwerbslosigkeit und auch bei veränderten Mustern von Erwerbstätigkeit - Arbeitszeitverkürzungen und -flexibilisierung - stößt diese Finanzierungsbasis an ihre Grenzen. Deswegen werden wir in Zukunft einen größeren Teil der Sozialausgaben über Steuern bereitstellen müssen. Da weist die Ökosteuer in die richtige Richtung.
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Die Bundesregierung weigert sich, hinsichtlich dieses Sparpakets ihre eigenen Fehler zuzugeben und daraus Konsequenzen zu ziehen - wie man an den Kürzungen der ABM-Stellen in Ostdeutschland sieht. Es ist bekannt, welche dramatischen arbeitsmarktpolitischen Folgen dieses Vorgehen in Ostdeutschland haben wird.
Ich will noch auf eines hinweisen, was bislang meist übersehen wurde: Ein Gutteil der sozialen Infrastruktur in Ostdeutschland muß heute gezwungenermaßen über ABM und Arbeitsförderungsgelder finanziert werden. Das ist Ausdruck einer Finanzschwäche der Kommunen - daran ist die Bundesregierung bekanntermaßen auch nicht unschuldig -; und es ist Ausdruck einer mangelnden Bereitschaft, über einen sozialen Sektor, seine Regeln und seine Finanzierung nachzudenken und sich dazu zu bekennen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat, wie ich finde, einen sehr vernünftigen Vorschlag gemacht: Die Gelder des Solidaritätszuschlags - der selbstverständlich nicht abgeschafft gehört - sollten in einen Fonds umgeleitet werden, um daraus reguläre Beschäftigung in der sozialen Infrastruktur in Ostdeutschland zu finanzieren. Allein die sich daraus ergebenden Sozialversicherungsabgaben würden bis zu einem gewissen Grade zur Refinanzierung dessen beitragen.
Dies wäre eine konstruktive Lösung für das ordnungspolitische Dilemma, daß die Arbeitsförderungsgelder als Regelfinanzierung für soziale Infrastruktur und zur Verhinderung der arbeitsmarktpolitischen Folgen, der Kürzungen, wie Sie sie anstreben, eigentlich systematisch falsch sind. Ich bin, ehrlich gesagt, wenig optimistisch, daß sich die Koalition an diesem Punkt besinnen wird. Gleichwohl fordere ich sie dazu auf.
Nicht nur in der Umwelt, auch im sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft gibt es Ressourcen, die nicht unerschöpflich sind. Die Bundesregierung betreibt aber Raubbau an diesen Ressourcen. Sie zerstört die sozialen Netze; sie zerstört auch die Veränderungsbereitschaft.
Dieses Paket, das wir heute zurückweisen - hoffentlich -, ist mit seiner Art, Sozialabbau zu organisieren, die Menschen zu demoralisieren, zu verunsichern und zu verängstigen, ein sicherer Schritt zurück und garantiert keinen Weg in die Zukunft. Deswegen lehnen wir es ab.
({17})
Ich erteile jetzt dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei unserer heutigen Debatte geht es im Kern darum, wie wir die bedrückende Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland senken können. Wir werden daran gemessen, ob wir eine Antwort finden. Im übrigen werden wir alle daran gemessen - nicht nur die Koalition, sondern auch die Opposition. Ich muß zu meinem Bedauern feststellen, daß die SPD-Mehrheit im Vermittlungsausschuß eine
Antwort oder zumindest eine Teilantwort verweigert hat.
({0})
Mir liegt daran, deutlich zu machen: Die Antworten der Bundesregierung auf die Probleme der Arbeitslosigkeit sind in konzentrierter Form in unserem „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" zusammengefaßt. Dabei geht es im Kern um die Kostenentlastung der Unternehmen. Es geht um weniger Staat und mehr Wettbewerb. Es geht um Leistung.
Diese Leistung, Herr Kollege Dreßler, brauchen und wollen wir bei Arbeitnehmern, bei Wissenschaftlern, bei Freiberuflern, im öffentlichen Dienst und auch bei Unternehmern. Es gibt Versagen auch in diesem Bereich. Ich darf aber anmerken, daß das Versagen oder das Gelingen auf unternehmerischer Seite nicht unbedingt von der politischen Einbindung dieser Unternehmer abhängig ist. Das gibt es auf dieser und auf jener Seite.
Meine Damen und Herren, wir wollen die Bedingungen dafür verbessern, daß in Deutschland wieder mehr investiert und geforscht wird.
({1})
Wir wollen, daß sich die Menschen selbständig machen.
({2})
Dazu gibt es keine Alternative, wenn wir im globalen Wettbewerb bestehen wollen. Mit dieser - ich sage das in aller Deutlichkeit; das gehört in diese Debatte -im Prinzip angebotsorientierten Politik will ich gar nicht in Abrede stellen, daß wir auch auf der Nachfrageseite, wie das von Ihnen immer wieder gefordert wird, etwas machen müssen. Das geschieht aber am besten dadurch, daß wir die Bedingungen für mehr Investitionen und damit für mehr Arbeitsplätze verbessern. Dann wird auch auf der Nachfrageseite das entstehen, was wir alle wünschen.
({3})
Die heute anstehenden Themen sind kleine Ausschnitte dessen, was zu tun ist; aber es sind wichtige Ausschnitte. Ich will mich auf wenige Beispiele konzentrieren.
Als erstes Beispiel die Rentenversicherung: Sie alle wissen: Wenn nichts geschieht, müssen wir schon auf Grund der demographischen Entwicklung mit deutlich höheren Beitragssätzen rechnen. Wenn wir nun beispielsweise die Altersgrenze anheben, dann ist das ein erster, unumgänglicher Schritt zur Korrektur. Damit stellen wir das System auf ein stabileres Fundament und leisten einen ersten Beitrag zur Sicherung der Renten. Damit schaffen wir Entlastung bei den Lohnnebenkosten, für Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichermaßen. Bereits an dieser Stelle -ich sage das wieder mit großem Bedauern - paßt die Opposition und verweigert den unumgänglichen Anpassungsschritt.
Das Beispiel Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung: Wenn wir den Schwellenwert von fünf Beschäftigten auf zehn Beschäftigte anheben, erleichtern wir
die Neueinstellung in den Betrieben und erhöhen die Chancen dafür, daß Leute, die keine Arbeit haben, einen Arbeitsplatz finden. Ich kenne Dutzende von Handwerksbetrieben und kleinen Dienstleistern -ich bin überzeugt, auch Sie kennen solche -, die auf Grund ihrer gegenwärtigen Auftragslage gern bereit sind, einen siebenten, achten und neunten Mitarbeiter einzustellen. Sie stellen ihn aber nicht ein, weil sie Angst haben, daß sie - gesetzt den Fall, daß keine Arbeit mehr da ist - diesen Mitarbeiter weiter beschäftigen müssen oder eine Abfindung zahlen müssen, die die Möglichkeiten dieses Betriebes übersteigt. Das zu verhindern ist unser Anliegen; das ist eine Politik für die Arbeitsuchenden, nicht mehr nur eine Politik für diejenigen, die Arbeit haben.
({4})
Denken wir an die Lohnfortzahlung: Wenn wir auf eine Fortzahlung von 80 Prozent des Lohnes gehen, dann wirkt das in die gleiche Richtung. Wir entlasten dabei in besonderer Weise die Mittelständler - Mittelständler, die durch die Lohnfortzahlung häufig an die Grenze des Zumutbaren getrieben werden. Die Fortzahlung von nur 80 Prozent ist aus meiner Sicht keine unzumutbare Härte, zumal die Absenkung durch die Inanspruchnahme von Urlaubstagen ausgeglichen werden kann. Ein Blick - der Kollege Blüm hat das schon angedeutet - über den Zaun zeigt, daß die europäischen Nachbarn Regeln eingeführt haben, die über das, was wir machen, deutlich hinausgehen. Einige von ihnen -z. B. Schweden oder die Niederlande - haben dabei aus leidvoller Erfahrung gelernt. Heute sind die Krankenstände in diesen Ländern auf einem Niveau angelangt, das wir als Normalmaß bezeichnen. Das sind nicht mehr die überhöhten Krankenstände, die wir in weiten Bereichen unserer Wirtschaft haben.
Nehmen Sie ein drittes Beispiel - ich weil das nur ganz kurz ansprechen -: die Gesundheitsreform. Wenn wir bei den Krankenhäusern Anreize für mehr Wirtschaftlichkeit schaffen und in der Krankenversicherung den mündigen Patienten fördern, dann sind das wesentliche Beiträge, die hohe Qualität unseres Gesundheitswesens zu sichern. Wie elementar wichtig dies im konkreten Fall sein kann, kann ich - ich darf das einmal als persönliches Wort einfügen - am Beispiel der Intensivmedizin aus meiner eigenen Erfahrung der letzten Wochen sagen. Was da an Kompetenz, an Präsenz und an apparativer Ausstattung vorhanden ist, ist beeindruckend, das macht die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitswesens aus. Das ist ein wichtiger Teil, das Kernstück des deutschen Gesundheitswesens. Das müssen wir erhalten; das müssen wir sichern.
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Meine Damen und Herren, ich sage einmal etwas überspitzt: Wenn wir dies im Kern sichern wollen, dann müssen wir bei Aspirin-Tabletten, bei Massagen, bei Bandagen und auch bei Kuren etwas kürzertreten. Wenn wir im Kern leistungsfähig und von aller Welt im Gesundheitswesen bewundert bleiben wollen, dann müssen wir denen, die zu mehr SelbstBundesminister Dr. Gunter Rexrodt
beteiligung und zu mehr Mündigkeit in der Lage sind, diesen persönlichen Beitrag abverlangen.
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Die pauschalen Vorwürfe der Opposition greifen hier viel zu kurz.
Lassen Sie mich nur ein Wort zu den Kurorten sagen, weil dieses Thema heute angesprochen worden ist: Wir sehen sehr wohl die Probleme. Wir sehen auch die Probleme, die durch erhöhte Arbeitslosigkeit in strukturschwachen Gebieten entstehen. Dies müssen wir uns noch genau angucken.
Gut wäre es allerdings, wenn Sie bei Ihrer Argumentation den entscheidenden Schritt nicht vergäßen: Sie müssen die Kostenentlastungen beachten. Diese erhöhen unsere Chancen auf zusätzliche Arbeitsplätze, zum Beispiel in modernen Technologien, im Mobilfunk oder bei Chip-Fabriken.
Herr Dreßler, Sie haben vorhin gesagt, es gehe den Koalitionsfraktionen um das Ob, nicht mehr nur um das Wie des Sozialstaates. Ich sage: Das ist richtig, aber in ganz anderem Sinne, als Sie es gemeint haben. Wir müssen den Sozialstaat im Kern sichern. Dazu sind Korrekturen an der richtigen, an der unvermeidbaren Stelle unumgänglich. Wir haben gerungen und glauben, daß wir an der richtigen Stelle ansetzen. Dies ist nicht vermeidbar.
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Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl: Viele Arbeitsuchende setzen all ihre Kraft ein, um auf dem Arbeitsmarkt wieder Tritt zu fassen - viel zu oft ohne Erfolg. Es kann aber auch nicht so sein wie in Oberhausen; ich glaube, der Kollege Blüm hat darauf schon angespielt.
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Diese Stadt, in der 15 Prozent arbeitslos sind, hat einen Einkaufspark, der mehrere tausend Arbeitsplätze anbietet, von denen bisher noch nicht einmal die Hälfte besetzt worden ist.
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Als Grund wird öffentlich bekanntgegeben, viele Arbeitslose seien - ich zitiere - „finanziell nicht ausreichend motiviert". Solange so etwas in einer solchen Region möglich ist, sollte man mit dem Vorwurf des sozialen Kahlschlags sehr vorsichtig umgehen.
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Meine Damen und Herren, die unbequeme Wahrheit ist: In Wirklichkeit ist derjenige unsozial, der vor Entscheidungen zurückweicht, die zunächst unbequem wirken, an denen aber kein Weg vorbeiführt. Wer das tut, gefährdet die Grundvoraussetzung für Wachstum und Beschäftigung und damit die langfristige Sicherung des Standorts Deutschland.
Mit dem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung haben wir ein geschlossenes, ein in sich schlüssiges, ein ausgewogenes Gesamtkonzept vorgelegt. Mit dem, was wir bislang bei der Umsetzung
erreicht haben, können wir uns sehen lassen. Wir werden darüber in Kürze in der Haushaltsdebatte ausführlich sprechen.
Auch bei den jetzt anstehenden Maßnahmen werden wir uns nicht beirren lassen. Die Kostenkrise am Standort Deutschland, die auch von Ihnen gesehen und beschrieben wird, meine Damen und Herren von der Opposition, bedeutet eine Überforderung der Staats- und Sozialhaushalte. Das sind Fakten, denen wir uns stellen müssen.
Arbeitsplätze entstehen nicht am grünen Tisch. Sie entstehen am Markt durch Leistung und wirtschaftliche Dynamik. Sie entstehen in den Unternehmen, in denen Menschen erfolgreich arbeiten. Manchmal habe ich den Eindruck - das sage ich ohne jede Polemik -, daß die SPD auf halbem Wege zwischen Analyse und Therapie steckengeblieben ist.
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Wie anders wäre es zu erklären, daß sich Ihr sogenanntes neues Denken in der Wirtschaftspolitik bei näherem Hinsehen zu einem Teil als Kopie unserer Standortpolitik entpuppt - Sie sprechen, wie auch wir, von Innovation und vom Umbau der Sozialsysteme -, aus der Sie jedoch falsche, zum Teil sogar obskure Konsequenzen ziehen?
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- Ich bringe die Beispiele. - Sie wollen immer noch die Zinspolitik der Bundesbank in den Dienst der Konjunktursteuerung stellen. Meine Damen und Herren, die Bundesbank ist kraft Gesetzes verpflichtet, die Bundesregierung prinzipiell in ihrer Wirtschaftspolitik zu unterstützen. Aber ich finde es gut -und die anderen übernehmen das deutsche Modell -, daß sie dabei unabhängig ist und der Geldwertstabilität erste Priorität gegeben hat.
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Einige von Ihnen - ich sage das bewußt vorsichtig -wollen über keynesianische Fiskalpolitik die Binnennachfrage stärken. Ich sage dazu nur soviel: Dann können wir uns von der Europäischen Währungsunion gleich verabschieden. Noch gestern hat Herr Lafontaine Thesen zum Standortwettbewerb vorgetragen und dabei eine Wende in der Wirtschaftspolitik gefordert.
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Dazu kann ich nur sagen: Mit der von Ihnen vorgeschlagenen internationalen Angleichung von Sozial- und Umweltstandards verfolgen Sie einen hehren Anspruch. Aber solche Staatskartelle, wie Sie sie wünschen, würden unsere Probleme nur verschärfen. Glaubt denn ernsthaft jemand von Ihnen, daß irgendein Entwicklungsland oder auch nur ein Schwellenland bereit wäre, auf seine Kostenvorteile zu verzichten, damit die Industrieländer ein hohes Beschäftigungsniveau halten können? Das ist doch eine absurde Annahme.
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Internationale Abstimmung soll und muß sein, gerade wenn es um Umweltfragen oder den Abbau von Handelshemmnissen geht. Wer aber glaubt, ein neues Weltmodell entwickeln zu können, mit dem die Gefahren der Globalisierung für uns, die Industrieländer, abgewendet werden können, der entwikkelt aus meiner Sicht schon wieder Wunschbilder, die an der Realität der Menschen und der Realität der internationalen Staatengemeinschaft vorbeigehen.
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Das funktioniert nicht, auch wenn es ein hehres Ziel ist. Die Märkte sind dynamischer, ob man das nun will oder nicht, und da müssen wir uns als Anbieter behaupten und als Standort für Investoren interessant bleiben. Deshalb unsere Politik zur Verbesserung der Standortqualität; deshalb unsere angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Dabei verstehen wir Globalisierung eben nicht nur als eine Bedrohung, sondern auch als eine Chance.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, den Menschen in unserem Land ist klar, daß zu den Maßnahmen, über die wir hier diskutieren, eine verantwortungsvolle Alternative nicht vorhanden ist. Dies ist der einzig gangbare Weg, damit sich die Leistungspotentiale unserer Volkswirtschaft entfalten können. Es ist der einzig gangbare Weg für mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in unserem Land. Die Bundesregierung wird diesen Weg unbeirrt gehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Mosdorf.
Herr Minister, zunächst freuen wir uns alle, daß Sie wieder da sind. Es ist nämlich ganz wichtig, dies auch einmal hier im Haus zu sagen.
({0})
Weiterhin habe ich eine Frage an Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und auch in die Diskussion mit einzubeziehen, daß wir, die Sozialdemokraten - Sie haben sich eben auf die Globalisierungsdebatte und auf die Frage der internationalen Kooperation bezogen -, der Meinung sind, daß es in der heutigen Zeit um eine Doppelstrategie gehen muß? Das heißt in der Tat, daß wir zu Hause anfangen und hier die Strukturprobleme lösen müssen,
({1})
aber auch internationale Kooperation brauchen. Teilen Sie mit mir die Auffassung, daß es sowohl auf der G-7-Ebene wie auch auf anderen Ebenen schon einmal intensivere Kooperationsphasen in der Entwicklung der Industriegesellschaften gegeben hat?
Zunächst, Herr Kollege Mosdorf, möchte ich die Gelegenheit benutzen, um mich bei Ihnen, aber auch bei vielen anderen für die guten Wünsche zu bedanken. Ich bin immer sehr froh und empfinde das als außerordentlich beglückend, wenn das über die Parteigrenzen möglich ist. Das gilt auch für andere.
Nun zur Sache selbst: Herr Kollege Mosdorf, ich bin sehr für internationale Kooperation. Ich habe das auch gesagt. Ob das G 7, G 10 oder auch G 77 ist, ich bin sehr dafür, daß wir etwas tun, wenn es um Umweltstandards geht. Ich bin sehr dafür, daß wir zu Kooperation kommen, zum Beispiel zur Verhinderung von Kinderarbeit und vielem anderen mehr. Ich habe aber die Rede von Herrn Lafontaine, die er gestern gehalten hat, genau gelesen. Vieles gefällt mir darin. Ich habe auch gesagt, manches könnte von uns sein. Er spricht davon, daß die Marktwirtschaft das verbindende Glied in der Weltwirtschaft sein soll. Ich bin nur in einem Punkt - und auf den setzen Sie ja, wenn es um die Arbeitslosigkeit geht - skeptisch. Herr Mosdorf, es wird nicht möglich sein, ob wir das wollen oder nicht, irgendein Entwicklungsland - ich will hier keine Namen nennen - davon abzuhalten, seine komparativen Kostenvorteüe ganz gezielt in die Waagschale zu werfen, um seine Produkte, um seine Dienstleistungen anzubieten und uns weltweit, auf dem eigenen Markt und anderswo, Konkurrenz zu machen. Da hört die internationale Kooperation, ob wir das wollen oder nicht, auf. Im politischen, auch im wirtschaftspolitischen Bereich gilt: Kooperation ja, aber keine neuen Wunschträume, keine neuen Beglückungsmodelle, die weltweit an der Realität des Menschen und an der Realität der Staatengemeinschaft scheitern würden.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde, daß das Instrument der Sondersitzung in diesem Deutschen Bundestag inzwischen mißbraucht wird.
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Wir haben in dieser Sommerpause zwei Sondersitzungen gehabt, die vorher schon geplant waren. Die eine Sondersitzung fand mit ziemlich hohen Kosten statt, weil die Koalitionsregierung nicht in der Lage war, Gesetze richtig zu formulieren. Die zweite Sondersitzung findet aus reinen Termingründen statt, weil Sie befürchten, daß der Sozialabbau ansonsten zu spät kommt. Es ist einfach nicht zu akzeptieren, dafür weitere Staatsgelder zu vergeuden.
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Herr Bundesminister Blüm, Sie haben vorhin sehr einfühlsam Beispiele aus anderen Ländern genannt und darauf hingewiesen, daß dort ein viel drastischer Abbau stattfindet, den Sie Umbau nennen - dazu komme ich noch -, und daß die Bundesrepublik Deutschland in diesen Fragen im internationalen Vergleich besonders vorsichtig operiert und sich den internationalen Bedingungen nur schrittweise annähert. Ich frage mich allerdings, warum Sie dann nicht zum UNO-Report Stellung nehmen, der in Bonn am 15. Juli veröffentlicht worden ist. Die UNO ist bestimmt nicht PDS-nah und insofern unverdächtig, uns in irgendeiner Hinsicht zuzuarbeiten. In diesem UNO-Report heißt es, daß die Kluft zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern nicht etwa Schritt für Schritt schrumpft, sondern permanent und ganz deutlich wächst und daß sich die Einkommensunterschiede in den letzten Jahren sogar verdoppelt haben. Es wird dann ein Beispiel genannt. Ich finde diese Zahl so phantastisch und bestürzend, daß ich sie hier erwähnen muß. Nach diesem UNO-Bericht besitzen 358 Dollar-Milliardäre genausoviel Eigentum und Vermögen wie 45 Prozent der Weltbevölkerung, das heißt wie 2,2 Milliarden Menschen. Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es gibt etwa so viele Dollar-Milliardäre auf der Welt wie Mitglieder der Bundestagsfraktion der CDU/CSU. Sie besitzen genausoviel wie die Hälfte der Menschheit. Wenn es vorher keinen Grund gegeben hätte, antikapitalistisch zu sein, so finde ich, daß dies ein in jeder Hinsicht ausreichender ist.
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- Wir sind erst 30. Sie wissen, wir arbeiten noch an der Verzwölffachung. Wir sind auf dem besten Wege dahin, auch dank der F.D.P.-Politik.
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Ich will noch auf etwas anderes hinaus. In diesem UNO-Bericht ist nämlich auch festgestellt worden, daß die Kluft zwischen Reich und Arm auch in den Industriestaaten selbst wächst. Jetzt kommt der internationale Vergleich, den Sie, Herr Bundesminister Blüm, hätten erwähnen sollen, weil er nämlich unmittelbar Ihr Ressort betrifft. Da gibt es in der UNO einen Index für menschliche Entwicklung, in dem drei Faktoren für die Bewertung zusammengezogen werden, nämlich die Lebenserwartung der Menschen, die Büdungschancen und die Kaufkraft der Individuen. Die Bundesrepublik Deutschland befand sich 1994 auf Platz 9. Jetzt hegen wir auf Platz 18. Das heißt, es ist innerhalb eines Jahres gelungen, die Lebensqualitäten in der Bundesrepublik Deutschland so zu verschlechtern, daß sie im Niveau hinter Spanien und andere Länder zurückgefallen sind. Das ist die Realität im internationalen Vergleich. Sie sagen aber kein Wort dazu, daß der Sozialabbau schon so weit forciert ist, daß wir jetzt den 18. Platz einnehmen.
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Dann sprechen Sie davon, daß es keine Armut gibt. Warum beschäftigen Sie sich nicht mit diesen Schicksalen? Bedeuten 150 000 Obdachlose, darunter eine Vielzahl von Kindern, keine Armut? Sind 1 Million Menschen in Notunterkünften nicht Ausdruck von Armut? Sind 2,3 Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, die ständig nur von diesem Zuschuß leben, nicht Ausdruck von Armut? Wer in diesem Hause hat denn schon einmal versucht, von dieser Sozialhilfe zu leben? Dann wüßte er, was Armut in dieser Gesellschaft bedeutet.
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Hinzu kommen noch Millionen Menschen, die Sozialhilfe, obwohl sie darauf Anspruch hätten, gar nicht beantragen, und zwar entweder weil sie nicht wissen, daß sie sie zu beanspruchen haben, oder weil ihnen der ganze Vorgang zu bürokratisch und zu demütigend organisiert ist. Ich behaupte, Sie haben das absichtlich so bürokratisch und demütigend organisiert, damit viele diese Ansprüche, die ihnen zustehen, gar nicht erst geltend machen. Dann kommen noch die vier bis sechs Millionen Arbeitslosen dazu. So ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, die tief gespalten ist und die von Ihnen immer weiter gespalten wird. Sie sprechen davon, daß die Kassen immer leerer, daß die Mittel immer begrenzter werden und daß deshalb die Möglichkeiten, zu verteilen, durch objektive Zwänge nicht mehr vorhanden sind. Aber das ist doch nicht die Realität.
Das Geldvermögen ist im letzten Jahr in der Bundesrepublik um 8 Prozent gestiegen. Wir haben jetzt ein Geldvermögen in der Bundesrepublik von 4,6 Billionen DM. Aber das Interessante ist: Von diesen 4,6 Billionen DM besitzen 1,3 Prozent der Haushalte ein Viertel. Das heißt: 1,3 Prozent der Haushalte in der Bundesrepublik Deutschland verfügen über mehr als 1 000 Milliarden DM Geldvermögen. Wer nicht bereit ist, an dieses Vermögen heranzugehen, wer nicht bereit ist, eine Umverteilung von oben nach unten zu organisieren, der soll mir nicht mit sozialer Gerechtigkeit kommen, der soll mir nicht mit Geldknappheit kommen, der soll auch nicht ernsthaft behaupten, daß er in dieser Gesellschaft etwas gegen Arbeitslosigkeit unternimmt.
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- Wenn Sie das Vermögen der Vorgängerpartei, aus der ich komme, richtig verwaltet hätten, anstatt damit über Jahre nur eine unfähige Kommission und eine noch unfähigere Treuhandanstalt zu finanzieren, dann wäre das inzwischen schon sehr sinnvoll in den neuen Bundesländern verwendet worden.
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In der Zeit des Bundeskanzlers Helmut Kohl wurde eine ganz bestimmte Politik betrieben. Es gibt Zahlen, die lassen sich einfach nicht leugnen. Eine dieser Zahlen lautet, daß von 1983 bis 1990 - die letzten sechs Jahre sind also noch gar nicht berücksichtigt, weil Sie nämlich aus nachvollziehbaren Gründen keine Statistik mehr veröffentlichen - die Zahl der Haushalte, die jährlich ein Einkommen von 250 000 DM oder mehr zu versteuern haben, um 116 Prozent gestiegen ist. Das heißt, die Zahl dieser Haushalte hat sich allein in dieser Periode mehr als verdoppelt.
Sie können nicht bestreiten, daß die Reichen in der Zeit Ihrer Regierung immer reicher und die Armen immer ärmer geworden sind. Wenn dieser Prozeß nicht umgekehrt wird, dann wird es mit dem Sozialabbau so weitergehen. Dann sind aber Ihre angeblichen Sachargumente überhaupt nicht überzeugend.
Was mich übrigens in diesem Zusammenhang besonders traurig macht - auch das will ich einmal sagen -, ist der Umstand, daß ich von vielen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und anderen höre, daß, solange es die DDR gab, ein solcher Sozialabbau in der Bundesrepublik Deutschland völlig undenkbar gewesen wäre, weil es auch einen sozialen Wettbewerb gab,
({8})
und daß erst mit dem Wegfall der DDR und des real existierenden Sozialismus in Osteuropa der Weg zum Sozialabbau in der Bundesrepublik Deutschland geöffnet wurde. Das heißt, daß die DDR ihre besten Wirkungen in der Bundesrepublik hatte.
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Das letzte, was ich gewollt hätte, wäre, daß mit ihrem Untergang hier der Sozialabbau gerechtfertigt wird. Anstatt die Vereinigung als Chance zu nehmen, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen, haben Sie sie als Chance begriffen, die Sozialleistungen und den Sozialstaatskompromiß in der Bundesrepublik Deutschland aufzukündigen.
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- Wenn Sie dies alles bestreiten, dann nennen Sie mir doch eine einzige gesetzliche Bestimmung aus Ihrem gesamten Paket, die Sie oder mich betrifft, eine einzige Bestimmung, die Menschen betrifft, die soviel wie wir oder noch mehr verdienen. Die wirklich Vermögenden und die Reichen haben nach Inkrafttreten Ihres Sparpakets nicht eine Mark weniger. Sie haben durch Streichung der Vermögensteuer im nächsten Jahr sogar noch deutlich mehr. Das ist die Sozialpolitik, die Sie hier seit Jahren betreiben.
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Im übrigen ist das, was Sie betreiben, auch ökonomisch katastrophal: Sie reduzieren die Kaufkraft um 40 Milliarden DM - das entspricht etwa 150 000 Arbeitsplätzen - durch Rückgang von Nachfrage und durch Rückgang von Produktion und Dienstleistungen. Wodurch wollen Sie denn mit diesen Maßnahmen Arbeitsplätze schaffen? Nennen Sie doch einmal ein Beispiel, das zu einem Arbeitsplatz führt.
In den neuen Bundesländern werden jetzt schon die Planungen für Krankenhäuser und Sanatorien eingestellt, weil die Verantwortlichen wissen, daß es Kürzungen im Gesundheitswesen gibt. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden nicht mehr verlängert, da man weiß, daß sie gestrichen werden sollen. Das ist vorauseilender Gehorsam: Bevor die Gesetze in Kraft getreten sind, werden sie schon umgesetzt. Dies ist leider auch eine Wahrheit.
Sozialkürzungen führen nicht zu Arbeitsplätzen. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit der Frauen, die sich unmittelbar gegen den Teil der Gesellschaft richtet, der die meisten Lasten zu tragen hat, hat mit Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil: Sie verschlechtern dadurch die Chancen der jüngeren Generation.
Ihre Maßnahmen, die den Kündigungsschutz betreffen, bringen arbeitsmarktpolitisch gesehen ebenfalls überhaupt nichts. Natürlich gäbe es Möglichkeiten, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun, und zwar gar nicht wenige. Wir brauchen einen öffentlichen Beschäftigungssektor. Wir müßten ein Investitionsklima schaffen.
({12})
Ein Investitionsklima schaffen Sie nicht mit einer Steuerpolitik, bei der es sich in erster Linie lohnt, Geld aus Geld zu machen. Sie müßten einmal dafür sorgen, daß Geld wieder aus Produktion und Dienstleistung entsteht. Dann würde es auch mehr Arbeitsplätze in dieser Gesellschaft geben.
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Sie könnten bei der Lohnnebenkostenentwicklung viele Reformen durchführen. Warum berechnen wir sie nicht nach dem Umsatz, anstatt sie immer nach der Bruttolohnsumme und der Zahl der Beschäftigten zu berechnen, was die Unternehmen mit vielen Beschäftigten permanent mehr belastet? Wir könnten an eine Umbewertung der Arbeit denken. Wir könnten endlich eine soziale Grundsicherung einführen. Wir könnten eine nachhaltige ökologische Entwicklung einführen. Tun Sie nicht so, als ob dieser Bereich alternativlos ist; es gäbe Alternativen, und das Geld dazu ist da.
Ich habe von den 4,6 Billionen DM Sparvermögen gesprochen. Es gibt das frei vagabundierende Kapital von 750 Milliarden DM. Es gibt Ihre sinnlosen Ausgaben für den Transrapid und für Prunkbauten in der Hauptstadt Berlin. All das wäre nicht nötig. Diese Bundesrepublik leidet nicht an zu wenig Geld; sie gibt es nur ungerecht aus.
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Sie überläßt es den Falschen in viel zu großer Höhe.
({15})
Ihre Redezeit ist beendet, Herr Gysi.
Lassen Sie mich als letztes noch auf folgendes hinweisen.
({0})
- Wir haben noch ein bißchen Reserve. Machen Sie sich keine Gedanken!
Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, daß ich das ganze Sparpaket auch für verfassungswidrig halte. Es gibt ein CDU-Mitglied namens Benda, früDr. Gregor Gysi
herer Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Er hat es auf den Punkt gebracht und gesagt:
Der Verteilungskampf wird um so schärfer werden, je knapper die Ressourcen werden. Am ehesten werden sich dann die starken sozialen Gruppen mit ihren Forderungen durchsetzen können, während die besonders hilfsbedürftigen, schwach vertretenen Gruppen sich nicht oder nur mit Mühe behaupten können. Dies wäre die entscheidende Probe für den Sozialstaat, ob er versagen würde, indem er lediglich dem größten Druck nachgeben würde, oder ob er sich bewährte, indem er sich an die Seite der Schwachen und Schutzbedürftigen stellte. Dieser Test ist noch zu bestehen.
Diesen Test, den Herr Benda beschrieben hat, bestehen Sie nicht, da Sie nur dem Druck der sozial starken Gruppen nachgeben.
Aber auch wir in der Opposition müssen den Test noch bestehen. Wenn die Gesetze angenommen sind, dann frage ich auch die SPD: Wird es ein Drittel der Abgeordneten dieses Hauses geben, die dann eine Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht einreichen werden, weil mit diesem Gesetzespaket der Sozialstaatskompromiß aus Art. 20 GG aufgekündigt wird? Das ist das mindeste, was wir dann leisten müssen.
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Als nächster hat der Kollege Dr. Heiner Geißler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte versuchen, unsere Debatte in den Zusammenhang zu stellen, in den sie meiner Meinung nach gehört, in einen Zusammenhang, der mit dem Thema Globalisierung der Märkte und den damit verbundenen Folgen in der heutigen Debatte bereits eine Rolle gespielt hat.
Ich beziehe mich auf das, was der Kollege Dreßler gesagt hat. Es ist so, daß wir Zeitzeugen größter Umbrüche sind. Wir haben über die Veränderungen in diesem Hause schon des öfteren diskutiert. Die Probleme, die mit dem Computer, dem Internet und der Halbwertszeit des Wissens - sie beträgt fünf Jahre -zusammenhängen, können wir heute nicht so beantworten wie in den 70er Jahren, als Herbert Ehrenberg eine große Rolle gespielt hat. Die Welt hat sich vollkommen verändert.
Die Arbeitswelt hat sich radikal verändert. Vor 100 oder 150 Jahren haben die Elektrizität und die Dampfmaschine solche Veränderungen mit sich gebracht. Das Problem besteht darin, daß wir infolge der Rationalisierung Jahr für Jahr ein immer größer werdendes Bruttosozialprodukt haben. Seit 10, 15 Jahren steigt das Bruttosozialprodukt. Der Unterschied zu früher besteht darin, daß das immer größer werdende Bruttosozialprodukt mit einem immer geringeren Arbeits- und Zeitaufwand erarbeitet werden kann.
Jetzt komme ich wieder auf die Umbruchsituation zurück. Der Eiserne Vorhang ist verschwunden, und die Nachfrage nach Arbeitsplätzen hat zugenommen, obwohl die Notwendigkeit, Arbeit aufzuwenden, um ein immer größeres Bruttosozialprodukt zu erarbeiten, geringer geworden ist. Wir müssen uns diesen Problemen stellen. Sie haben darauf keine Antwort gegeben.
Das sind die modernen Entwicklungen, und wir haben in Deutschland dadurch eine Sondersituation, daß der Eiserne Vorhang weggebrochen ist. Die Sowjetunion ist von der Weltkarte verschwunden. Wir sind ein vereintes Deutschland. Wir haben die Folgen dieser Umbrüche als Volk mitten in Europa in besonderer Weise zu tragen: Zwei Millionen Ausländer, eine Million Flüchtlinge. Diese Menschen haben zum großen Teil bei uns Arbeit gefunden, und dazu bekenne ich mich. Das ist aber doch eine andere Situation.
Wir hätten diese Situation nicht gehabt, wenn wir nicht auch die Folgen dieser Umbrüche tragen müßten. Wir können das als reiches Land. Sonst müßten wir diese Diskussionen gar nicht führen. Wenn Sie aber zu diesem Thema etwas Seriöses sagen wollen, dann müssen sie Ihre Debatte in den Gesamtzusammenhang stellen.
Ich will jetzt etwas zugunsten der Regierung sagen. Wir haben gewaltige Anstrengungen auch gegenüber Osteuropa unternommen. Bedenken Sie, was wir leisten mußten, um die durch den Sozialismus zerrütteten neuen Bundesländer wieder aufzubauen. Wir haben pro Jahr 120 bis 150 Milliarden DM aufgebracht. Das haben wir geleistet. Die Welt sagt: Das habt ihr gut und richtig gemacht, wir hätten es vielleicht gar nicht geschafft. - Wir haben das alles bei Preisstabilität und einer knallharten Währung geschafft.
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Das ist ein Erfolg, den man nicht einfach wegwischen kann.
Sie reden immer von der Kindergelderhöhung, die um ein Jahr verschoben wird. Das ist keine große Freude, das weiß auch ich, aber ich muß noch einmal sagen: Die Tränen, die Sie in diesem Zusammenhang vergießen, können mich nicht rühren. Als Sie die Regierungsverantwortung getragen haben, haben Sie eine Kindergelderhöhung um 20 DM nicht um ein Jahr verschoben, sondern Sie haben den Leuten 20 DM weggenommen. Sie haben das Kindergeld gekürzt. Das war Ihre damalige Entscheidung, und zwar in einer ganz anderen Zeit.
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Damals hatten wir - für die Lebenshaltung eines Kindes - eine Inflationsrate von 7 Prozent; heute haben wir Preisstabilität. Infolgedessen kann man, wenn auch schwer, eine Verschiebung um ein Jahr -es wird nicht gestrichen, sondern es wird um ein Jahr verschoben - sozialpolitisch verantworten.
Lassen wir also die Kirche im Dorf, und konzentrieren wir uns auf die eigentliche Situation! Wir haben eine Internationalisierung des Kapitals und auch des
Wissens. Auf diese Situation kann man nicht antworten, wie wenn wir uns noch in den 70er Jahren befänden. Vielmehr werden wir eine Lösung nur erreichen, wenn wir im zweit- oder drittgrößten Industrieland der Welt und in der zweitgrößten Exportnation uns als reformfähig erweisen. Man kann, wenn die Verhältnisse sich vollkommen ändern, das System natürlich grundsätzlich erhalten; aber man muß in den Einzelheiten reformfähig bleiben. Das gilt auch für die Kostenstrukturen.
Im übrigen sind wir nicht die einzigen, die das genauso sehen. Wenn ich Ihre Debatte über die Wirtschaftspolitik gestern richtig verfolgt habe, dann hat Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher, Gerhard Schröder, gesagt, wir müßten die sozialen Leistungen in Deutschland den Realitäten der schmaleren Staatsfinanzen anpassen. Zwar müsse der Sozialstaat als sogenanntes Teilhabemodell - was immer das sein mag; das weiß ich nicht so richtig - zur Unterstützung der Bedürftigen erhalten werden - „Unterstützung der Bedürftigen", das sollte einmal einer von uns sagen
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doch sollte diese Teilhabe „immer wieder neu festgesetzt werden" - eine komische sozialpolitische Perspektive. Aber jetzt kommt noch etwas ganz anderes: Er kritisierte in diesem Zusammenhang - das ist der Eindruck, den ich auch heute wieder von Ihnen gewonnen habe - die Zugewinnmentalität von Gewerkschaften und Teilen seiner Partei.
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„Man kann nicht immer nur draufsatteln", so gestern Gerhard Schröder.
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Wir sagen nicht einmal, daß wir Ihnen das vorwerfen würden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Situation ist doch so: Wir sind die zweitgrößte Exportnation der Welt, nach den Vereinigten Staaten, vor Japan. Export von Produkten, Waren, Dienstleistungen bedeutet gleichzeitig Import von Arbeitsplätzen. Wir haben eine Globalisierung der Märkte. Wir müssen diesen Export in einer veränderten Situation erhalten. Das war gestern Ihr Thema. Dazu hat heute auch Herr Rexrodt, den ich für die Fraktion, aber auch persönlich sehr herzlich wieder in unserer Mitte begrüße - wir freuen uns, daß Sie wieder gesund sind; das haben Sie auch durch Ihre Rede gezeigt -,
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Stellung genommen. Oskar Lafontaine hat gesagt, wir sollten wegen der Globalisierung der Märkte in keinen Wettlauf im Sozialdumping eintreten; wir sollten das international verhindern. Das ist keine ganz falsche Beurteilung.
Ich fühle mich in der jetzigen Situation manchmal an das erinnert, was vor 150 Jahren stattgefunden
hat, als die damals Verantwortlichen die alte soziale Frage auch nicht richtig verstanden haben. Leo XIII. hat 1891 die Enzyklika „Rerum novarum" als Antwort der katholischen Kirche auf diese alte soziale Frage geschrieben. Aber wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir, soweit wir Katholiken sind, sagen: Diese Antwort kam 43 Jahre zu spät; denn zwei andere hatten 1848 eine „Enzyklika" geschrieben, das Kommunistische Manifest als eine falsche Antwort auf eine richtig gestellte Frage. Weil die damals Verantwortlichen die alte soziale Frage im Ansatz nicht begriffen hatten, hat es 140 Jahre gedauert, bis die letzten Fetzen dieses Gespenstes verschwunden waren; einiges geistert leider Gottes immer noch herum, sogar im Deutschen Bundestag, wie wir gerade gehört haben.
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Wir sollten die alten Fehler nicht wiederholen. Deswegen ist die Bekämpfung der Armut eine Aufgabe, und zwar eine internationale Aufgabe, auch eine Aufgabe der G-7-Staaten. Das ist auch meine Meinung. Aber eine Internationalisierung der sozialen Standards, um den Kostendruck auf die eigene Wirtschaft zu vermindern, ist eine Vorstellung, die Sie auf jeden Fall nicht einmal mittelfristig realisieren können.
Sie müssen Ihren Widerspruch in diesem Punkt einmal aufklären. Sie sagen auf der einen Seite: Wir müssen diese Standardisierung mittelfristig anstreben. Einige sagen: Das muß sogar sofort geschehen. Aber Standardisierung heißt doch auf jeden Fall, daß nicht unser hoher Sozialstandard von allen anderen Wirtschafts- und Industrienationen, die es auf der Welt gibt, übernommen werden kann. Das ist nicht einmal hier in Europa möglich.
Wenn Sie Ihre eigene Forderung ernst nehmen, daß der Globalisierung der Märkte auch eine Globalisierung der Sozialstandards entsprechen muß, dann bedeutet das doch in jedem Fall, daß unser Sozialstandard nicht noch einmal erhöht werden kann. Er muß vielmehr, so Ihre eigene Vorstellung, abgesenkt werden, in welcher Größenordnung auch immer.
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Jetzt stelle ich mir einmal vor, in welche Diskussionen Sie da geraten: Wir legen ein Sparprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden DM auf. Das bedeutet eine Senkung des Sozialbudgets um 0,4 Prozent. Dieses geht nämlich von 33,4 auf 33,0 Prozent des Gesamthaushalts zurück. Kürzung des Sozialbudgets um 0,4 Prozent, davon 25 Milliarden DM in der Sozialversicherung - bei einem Gesamtvolumen der Sozialleistungen in Höhe von 1,2 Billionen DM.
Wie wollen Sie Ihre eigene Forderung - Internationalisierung der Sozialstandards, was notwendigerweise mit einer Absenkung unserer eigenen Standards verbunden ist - ernst nehmen, sie in Ihren eigenen Reihen durchsetzen und vor sich selber rechtfertigen, wenn Sie bei einer Kürzung des SozialbudDr. Heiner Geißler
gets um 0,4 Prozent solche Reden halten wie die, die wir von Ihnen, Herr Dreßler, heute gehört haben?
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Sie sind ja noch nicht einmal jetzt in der Lage, entsprechende Vorschläge zu machen. Sie sagen zwar, Sie hätten alles mögliche vorgelegt. Sie beklagen sich darüber, daß man mit Ihnen nicht redet. Aber ich kann das nicht nachvollziehen. Man kann ja nur dann miteinander reden, wenn Vorschläge existieren.
Sie haben bisher keinen Sparvorschlag gemacht. Mir ist kein ernsthafter Vorschlag bekannt. Es hieß von Ihnen im Juni und im Juli: Nach der Sommerpause werden wir welche vorlegen. - Am Montag oder Dienstag soll ja vielleicht auch etwas kommen. Nun ist die Sommerpause vorbei, und wir haben Ende August. Sie müssen damit nun einmal rüberkommen. Wie lange wollen Sie eigentlich warten? Wir sind doch nicht in Afrika; in Afrika ist immer August.
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Wir müssen von Ihnen endlich einmal hören, was Sie für richtig halten.
Im übrigen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wenn es um die Absenkung dieser Standards geht, dann heißt das ja nicht, daß wir auf portugiesisches Niveau gehen müssen. Ich habe es in der letzten Debatte dargelegt und möchte wiederholen, was Alex Trotman, der Sprecher von Ford, gesagt hat: Die Kosten einer Arbeiterstunde bei der Herstellung des Fiesta in Köln betragen 60 DM, in Dagenham, wo ebenfalls 140 000 Ford Fiesta gefertigt werden, liegen sie bei 31 DM, in Spanien bei 30 DM. - Aber er hat hinzugefügt: Die Kölner Autowerke benötigen 22, die englischen 27 und die Spanier sogar 29 Stunden, um das Auto herzustellen. Wir haben in Deutschland eine höhere Produktivität als dort. Auch diese muß natürlich erhalten bleiben.
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Sie können darüber reden, soviel Sie wollen, wir wollen - das haben wir hier schon siebenmal gesagt, ich sage es jetzt ein achtes Mal - in Deutschland weder englische noch amerikanische Verhältnisse.
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Mit dem Beschäftigungspaket, das wir hier verabschieden wollen, bekommen wir sie auch nicht. Wer so etwas behauptet, kennt sich weder in England noch in den Vereinigten Staaten aus. Das ist eine ganz andere Situation.
In England ist inzwischen jeder zweite Arbeitnehmer ein Gelegenheitsarbeiter. Und auf die veröffentlichte Arbeitslosenquote in Amerika können Sie pfeifen; sie wird demoskopisch ermittelt, per Umfrage bei 50 000 Arbeitnehmern. Die Realität sieht ganz anders aus.
Wir wollen nicht Millionen von Menschen ausgrenzen. Ich verbitte es mir, daß mir als langjährigem
Sozialpolitiker angesichts der Tatsache, daß das Sozialbudget um 0,4 Prozent gekürzt wird, um die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, vorgeworfen wird, wir machten den Sozialstaat platt. Das ist eine Unverschämtheit. Das ist nicht der Fall.
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Herr Dreßler hat gefragt, wo bei diesem Programm die Arbeitsplätze herkommen sollen. Im übrigen sage ich noch einmal, auch für die eigenen Reihen: Es ist kein Sparprogramm. Wir sparen nicht um des Sparens willen. Man kann den Leuten die Vernunft nicht mit dem Finanzknüppel einbleuen. Wir sparen vielmehr, weil es einen Sinn hat. Wir wollen mit diesem Sparen mehr Beschäftigung erreichen.
Die Selbständigenquote - um nur ein Beispiel zu nennen - hat eine Größenordnung von 7,9 Prozent. In den Betrieben mit einer Belegschaft von unter 500 Beschäftigten arbeiten zwei Drittel aller Arbeitnehmer, in den Großbetrieben nur 35 Prozent, und um diese geht es. Zwei Drittel aller Lehrlinge und Gesellen, die in den Handwerksbetrieben ausgebildet worden sind, wollen sich nicht selbständig machen. 95 Prozent aller Fachhochschul- und Universitätsabsolventen wollen sich ebenfalls nicht selbständig machen. Da sind die Amerikaner besser.
Ich frage Sie einmal: Warum? Das hat etwas mit den Startchancen zu tun. Ich habe mit jungen Leuten geredet, die sich selbständig machen wollten. Sie haben das Problem, daß ein kleiner oder mittlerer Betrieb vor allem am Anfang Schwierigkeiten hat. Sie haben Angst davor, daß sie, wenn sie den sechsten oder siebten Arbeitnehmer einstellen und die Geschäfte nicht mehr so gut laufen, bei Entlassungen in Arbeitsgerichtsprozesse verwickelt werden und hohe Abfindungen zahlen müssen. Auch die Kostenlage ist zu nennen. Das haben wir alles miteinander erörtert. Das ist eine neue Situation.
Wenn der Zentralverband des Deutschen Handwerks sagt, daß ein Viertel der Handwerksbetriebe zugesagt hat, neue Leute einzustellen, dann sind das schon einmal 300 000, 400 000 neue Arbeitsplätze. Bernhard Jagoda sagt, daß bei den Familienarbeitsverhältnissen 800 000 bis 900 000 Arbeitsplätze möglich sind. Auch wenn es nur die Hälfte ist, ist es schon ein Fortschritt.
Wir wollen versuchen, vor allem bei den kleinen und mittleren Betrieben mehr Arbeitsplätze zu ermöglichen. Wir können keine Arbeitsplätze schaffen; aber wir wollen es denjenigen, die dazu in der Lage sind, erleichtern. Das ist der Sinn dieses Beschäftigungspaketes.
Sie können sich natürlich darüber beklagen - möglicherweise perspektivisch bis ins nächste Jahr hinein -, daß die Sozialversicherungsbeiträge weiter ansteigen. Sie steigen aber nur dann an, wenn dieses Beschäftigungspaket verhindert wird. Dies tun Sie. Sie haben das Beschäftigungspaket gestern abgelehnt. Damit haben Sie den Arbeitslosen einen schlechten Dienst erwiesen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Ottmar Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zu Beginn versuchen, auf einige Bemerkungen des Kollegen Geißler einzugehen.
({0})
Der erste Punkt. Herr Kollege Geißler, es ist nicht korrekt, zu sagen, durch eine Absenkung der Sozialleistungsquote um 0,4 Prozent beschädigten Sie nicht den Sozialstaat. Die Absenkung um 0,4 Prozent steht vielmehr in einem kontinuierlichen Zusammenhang der letzten 14 Jahre.
({1})
Sie haben den Sozialstaat in einem ganz erheblichen Maße beschädigt. Viele Millionen Menschen in Deutschland leben an der Armutsgrenze oder darunter.
({2})
Rund eine Million Kinder und Jugendliche sind von der Sozialhilfe abhängig. Was ist das für ein Lebensstart? Hunderttausende von Menschen sind obdachlos, häufig vorher Arbeitslose, die sich auf Grund abgesenkter Lohnersatzleistungen keine noch so kümmerliche Wohnung mehr erlauben können. Auf der anderen Seite ist das private Geldvermögen in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zehn Jahren in einem unermeßlichen Maße gestiegen.
Das heißt, es geht nicht darum, über Zahlentricksereien zu suggerieren, ein substanzieller Eingriff in die sozialstaatlichen Bedingungen der Bundesrepublik habe nicht stattgefunden. Er hat in einem massiven Maße stattgefunden und findet weiter statt. Das einzige im Unterschied zu früheren Jahren ist - das ist das für mich wirklich Erschütternde -, daß die Vertreter der katholischen Soziallehre in diesem Land zum erstenmal stramm auf F.D.P.-Kurs gegangen sind. Herr Geißler, das trifft mich sehr.
({3})
Der zweite Punkt. Sie sagen, Sie wollten weder englische noch amerikanische Verhältnisse. Meine Behauptung ist: Sie sind auf dem besten Weg in englische oder amerikanische Verhältnisse.
Ich habe mir vor dieser Debatte die Mühe gemacht, noch einmal einen Teil der Protokolle der Lesungen vor der Sommerpause anzuschauen. Im wesentlichen gibt es zwei zentrale Argumente der Koalition für diese Kürzungspakete. Das erste Argument - häufig mit Bezug auf Globalisierung, heute wieder vorgetragen - lautet, das deutsche Arbeitsund Sozialsystem sei beschäftigungsfeindlich, weil auf Grund überzogener Arbeitnehmerschutzrechte ansonsten erfolgende Neueinstellungen unterblieben; Arbeitnehmerschutzrechte akademisch formuliert: mit Regulierung des Arbeitsmarkts, Regulierung des Arbeitsschutzes. Also, das erste zentrale
Ziel ist: Sie wollen gewachsene, teilweise historisch erkämpfte Arbeitnehmerschutzrechte abbauen, nicht als Selbstzweck, sondern - das unterstelle ich Ihnen dabei - um damit Beschäftigung zu fördern.
Typisches Beispiel im Rahmen der Kürzungspakete ist die Heraufsetzung des Schwellenwerts von Betrieben mit fünf Beschäftigten, wo betrieblicher Kündigungsschutz noch nicht greift, auf nunmehr zehn Beschäftigte.
Wenn die These richtig wäre, Herr Kollege Geißler, daß durch den Abbau von Schutzrechten der Arbeitnehmerschaft die Beschäftigung gefördert werden würde, dann müßte im gelobten Land der Deregulierung, nämlich in Großbritannien, wo es beispielsweise in den ersten zwei Beschäftigungsjahren überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr gibt, nachgerade ein Beschäftigungswunder stattgefunden haben.
Seit 1979, seit Beginn der Thatcher-Regierung, wurde in höchstem Maße abgebaut: Verringerung des Kündigungsschutzes, Absenkung des Schutzniveaus der Arbeitslosenversicherung, Verschärfung der Kriterien zumutbarer Arbeit usw. Ich könnte eine riesige Liste aufstellen. Wenn man sich die gegenwärtigen Kürzungspakete mitsamt der nachfolgenden Gesetzgebung anguckt, erkennt man, daß sich dort zumindest in Ansätzen vieles wiederfindet, was in Großbritannien durchgesetzt worden ist.
Der zentrale Punkt: Von durchschlagenden Beschäftigungserfolgen in Großbritannien kann auf Grund dieser Maßnahmen überhaupt keine Rede sein.
({4})
Im Gegenteil: Die Arbeitslosenquote in Großbritannien ist größer als in Deutschland, und die sozialen Begleitfolgen in Großbritannien - ich war vor wenigen Monaten in Schottland, in Glasgow, und habe mir das angeguckt - sind unübersehbar: wachsende Mehrfachbeschäftigungsverhältnisse, weil die Niedrigstlöhne in den normalen Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr ausreichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie haben darauf hingewiesen, daß die Gelegenheitsarbeiten in dramatischem Maße wachsen. Es gibt niedrige Bildungsaktivitäten, soziale Deklassierungen, ein Verkommen der sozialen und öffentlichen Infrastruktur und wachsende Gewaltbereitschaft in den Städten. Das sind die sozialen Begleitfolgen in Großbritannien.
Nochmals: Die Deregulierung in Großbritannien hat keinerlei Beschäftigungserfolge - die Arbeitslosigkeit ist höher als in Deutschland -, aber dramatische soziale Begleitfolgen.
({5})
Die Frage ist, ob die Koalition diesen Weg gehen will
({6})
oder ob sie diese Ergebnisse billigend in Kauf zu nehmen bereit ist.
Der zweite Punkt. Der Hinweis auf die vermeintlichen Globalisierungszwänge macht Ihre Politik
nicht richtiger. Wenn es zu einem europaweiten oder internationalen Wettbewerb zum Abbau sozialer Schutzregelungen, zum Abbau erreichter ökologischer Standards kommt, dann führt dies - das war der Hinweis von Lafontaine - zu einer dramatischen sozialökologischen Abwärtsspirale, die sich immer weiter dreht und in Europa - das wird letztendlich das Ergebnis sein - ein zentrales Element der europäischen Kultur zerstören kann, nämlich das Streben nach sozialer Teilhabe für alle und das Streben, auch den nachfolgenden Generationen ein lebenswertes Land zu übergeben.
Ich frage jetzt wirklich, was an dem Denkansatz von Lafontaine falsch sein soll. Ich darf aus seinem Aufsatz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zitieren, der hier vor der Sommerpause in den wenigen Bemerkungen zur Globalisierungsproblematik eine Rolle gespielt hat. Er schreibt in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Auf nationaler Ebene haben wir die politische Grundsatzentscheidung getroffen für die soziale und ökologische Marktwirtschaft. Das ist eine Wirtschaftsordnung, welche die Effizienz des Marktes kombiniert mit sozialem Ausgleich und mit unserer moralischen Verantwortung für kommende Generationen. Ich kann keinen überzeugenden Grund dafür erkennen, warum diese wirtschaftspolitische Wertentscheidung nicht grundsätzlich auch auf den großen Markt der Weltwirtschaft übertragbar sein sollte.
({7})
Das ist in der Tat die zentrale Frage: Wollen wir die für uns und die Entwicklung der kommenden Generationen tragenden Wertentscheidungen, die das Marktgeschehen politisch verantwortbar gestalten sollen, auf der nationalen Ebene belassen, oder wollen wir anstreben, die eben skizzierte drohende Abwärtsspirale zu verhindern, um zu übernationalen Regelungen zu kommen? Das ist die zentrale Frage.
Jetzt frage ich mich, was an diesem Denkansatz denn grundsätzlich falsch sein soll. Die hochgefährliche Abwärtsspirale ist längst im Gange. Die wachsende Tendenz zu nationalen Egoismen, im Klartext: zu nationalen Dumpingstrategien im Sozial- und Umweltbereich, steht in krassem Widerspruch zu den Erfordernissen der europäischen Integration.
Mir soll einmal jemand sagen, warum Europa zusammenwachsen soll. Im Bereich der Währungen bin ich dafür. Warum in Europa freier Dienstleistungsund Kapitalverkehr? Da bin ich dafür. Aber warum nicht das Anstreben gemeinsamer sozialer Regelungen, die sehr wohl die unterschiedlichen Produktivitäten der verschiedenen Volkswirtschaften berücksichtigen können? Warum das eigentlich nicht?
({8})
Warum das soziale und ökologische Thema auf der europäischen Integrationsebene geradezu ausblenden? So klingt das ja. Im übrigen haben die Europäer dies nie gemacht. Wir haben in Europa die Diskussion um ein europäisches Entsendegesetz. Wir hatten in Europa, in Brüssel, eine Richtlinie zum Arbeitsschutz für Gesamteuropa, die weit über das hinaus ging, was die Bundesregierung der Arbeitnehmerschaft im Bereich des Arbeitsschutzes zuzugestehen bereit war.
Es ist also überhaupt nichts Neues. Ich fürchte, Ihr Denkansatz führt zu einer hochgefährlichen Renationalisierung unserer Politik. Wir sind in diesem Punkt wirklich viel, viel weiter und viel mehr europäisch gesinnt, als die konservativen Kräfte in diesem Haus wahrnehmen wollen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst der jüngste EU-Beschäftigungsbericht von 1995 fordert eine gemeinsame Beschäftigungsstrategie für die Europäische Union angesichts von mehr als 20 Millionen Arbeitslosen. Der eben mehrfach zitierte österreichische Bundeskanzler Vranitzky hat verstärkt öffentlich vorgeschlagen, zu einer gemeinsamen europäischen Beschäftigungsstrategie zu kommen. Die Delors-Kommission hatte das im Dezember 1993 in einem umfänglichen Weißbuch vorgeschlagen. Wir sind also nicht isoliert. Sie, liebe Damen und Herren von der Koalition, sind isoliert.
({10})
Wir befinden uns in sehr guter Gesellschaft mit unseren Bemühungen, die sozialen, ökologischen und beschäftigungspolitischen Fragen stärker zu europäisieren, als dies bislang der Fall ist.
({11})
- Ja, Sie brauchen keine Lautsprechanlage, sondern immer ein Mikrophon, Herr Kollege Möllemann.
({12})
Versuchen Sie einmal, auf die Argumente einzugehen. Sie sind ja auch gleich nach mir dran. In Kinkerlitzchen sind Sie wirklich ein Weltmeister.
Das zweite zentrale Argument der Koalition in den letzten Monaten war: Ein Abbau sozialer Standards ist unumgänglich. Die steuerfinanzierten Sozialleistungen des Staates stehen unter striktem Sparzwang. Die zu hohen Lohnnebenkosten, die beitragsfinanziert sind, müssen abgebaut werden. Niemand von den Sozialdemokraten bestreitet die Sparzwänge der öffentlichen Haushalte. Niemand von uns bestreitet, daß die Lohnzusatzkosten schon deshalb zu hoch sind, weil sie das Nettoeinkommen als das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmerschaft immer stärker und in einem inzwischen nicht mehr erträglichen Maße belasten.
Die zentrale Frage aber ist: Wer ist eigentlich für die hohen Lohnnebenkosten, für die hohen Sozialversicherungsbeiträge und für die Not der öffentlichen Haushalte verantwortlich? Seit 1991, meine Damen und Herren von der Koalition, finanzieren Sie die notwendigen Sozialtransfers nach Ostdeutschland im wesentlichen über Lohnzusatzkosten - jährlich zirka 50 Milliarden DM. Das heißt, der durchOttmar Schreiner
schnittliche Arbeitseinkommenbezieher wird von Ihnen seit vielen Jahren weit überproportional zur Finanzierung der deutschen Einheit herangezogen. Das ist das eigentliche Dilemma. Sie finanzieren die Einheit überwiegend über die Arbeitseinkommen und nicht über eine gerecht formulierte Steuerpolitik. Aus diesem Dilemma sind Sie bis zur Stunde nicht herausgekommen.
({13})
Wir wissen, daß auf absehbare Zeit für Ostdeutschland weiter dreistellige Transferbeträge notwendig sind. Sie könnten diese Maßnahmen, die falsche Politik der letzten Jahre, jederzeit korrigieren. Bislang haben Sie dazu nicht die Ansätze von Kraft gefunden. Zu keiner Stunde waren Sie in der Lage, die ökonomisch-soziale Gestaltung der deutschen Einheit mit einem wirklich vorsorglichen und überzeugenden Konzept zu begleiten.
Der Grundmechanismus - das ist das Dilemma Ihrer Kürzungspolitik - ist der: Weil Sie die Sozialversicherungen ausplündern, um die sozialen Transfers nach Ostdeutschland zu bezahlen, müssen Sie die Sozialleistungen kürzen, daß es nur so kracht. Noch klarer: Sie finanzieren die sozialen Kosten der deutschen Einheit über massiven Sozialabbau. Das ist der Kern Ihrer Politik, den wir als Sozialdemokraten seit Jahren grundlegend kritisieren.
({14})
Ich frage Sie: Wer hat Sie eigentlich daran gehindert, die große Aufgabe der ökonomisch-sozialen Gestaltung der deutschen Einheit anders, und zwar gerecht zu finanzieren? Wer hat Sie daran gehindert und wer hindert Sie heute daran, Steuer- und Abgabenquote an der persönlichen Leistungsfähigkeit der Menschen zu orientieren?
Es gibt unzählige Beispiele von Einkünften, die im Gegensatz zum normalen Arbeitseinkommen nicht oder völlig unzureichend erfaßt werden. Wenige Beispiele: Zinseinkommen, die sich der Besteuerung durch Flucht nach Luxemburg mühelos entziehen; große landwirtschaftliche Einkommen, viel zu gering bewertetes großes Immobilienvermögen; Veräußerungsgewinne. Daran wurde und wird nichts geändert, ganz im Gegenteil: Mit der geplanten Abschaffung der Vermögensteuer setzen Sie noch eins drauf.
Die Vermögensteuer trägt in Deutschland mit etwa 0,8 Prozent zum Gesamtsteueraufkommen bei. In den USA und in Japan - klassische Wachstumsländer - liegt dieser Anteil bei zirka 10 Prozent bzw. 4 Prozent. Die Abschaffung der Vermögensteuer trägt also überhaupt nichts zum Wachstum bei. Diese falsche Politik von Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, hat schlechte Tradition und begann längst vor der deutschen Einheit.
Der ehemalige Bundesfinanzminister Matthöfer, ein grundsolider Mann, hat Anfang Juli 1996 ausgeführt, die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben sei eine Ursache der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland. Für volle Beschäftigung müsse
das Volkseinkommen etwa in gleichem Maße wie die Arbeitsproduktivität zunehmen. Seit 1982, seit der politischen Wende in Deutschland, seien aber weit mehr als 150 Milliarden DM politisch gewollt von unten nach oben umverteilt worden. Wörtlich sagte Hans Matthöfer, der frühere Bundesfinanzminister:
Die Perfidie der Auswirkungen dieser Politik wird dadurch verschlimmert, daß die auf diese Weise selbsterzeugte Arbeitslosigkeit in der Politik und bei vielen Unternehmen zur Begründung weiterer Umverteilungsmaßnahmen zugunsten der Reichen und zur Verminderung der Einkommen der breiten Masse herangezogen wird.
Meine Damen und Herren, Sie sind das Opfer eines von Ihnen politisch bewußt selbsterzeugten Teufelskreises. Ein fatales Ergebnis dieses Teufelskreises ist die horrend hohe Massenarbeitslosigkeit in Deutschland.
({15})
Angesichts der Belastung von Staatshaushalt und durchschnittlichem Arbeitseinkommen geht es längst nicht mehr um Neidkampagnen gegen große Immobilien- und Geldvermögen. Es geht nur um eines: um mehr Gerechtigkeit im System unserer Steuern und Abgaben. Im Mittelpunkt muß die tatsächliche Leistungsfähigkeit stehen. Dieses Prinzip ist allerdings wesentlich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft.
Robert Reich, heute Arbeitsminister in den Vereinigten Staaten,
Die Redezeit!
- analysierte schon vor Jahren die schleichende Abkehr der Erfolgreichen aus der amerikanischen Gesellschaft, ihren Rückzug erst aus der sozialen Verantwortung und schließlich räumlich in eigene, gut bewachte Wohngettos.
Der große Soziologe Norbert Elias bezeichnete einmal das „Gefühl für die letztliche Angewiesenheit" der gegnerischen Gruppen einer Nation als ein wesentliches Merkmal der westlichen Zivilisation. Dieses Gefühl allerdings droht sich auch in Deutschland aufzulösen.
Nikolaus Piper schrieb vor einiger Zeit in der Zeitung „Die Zeit":
Deutschland braucht dieses Gefühl
- der Zusammengehörigkeit, der letztlichen Angewiesenheit aller Gruppen aufeinander aber nach der Vereinigung notwendiger denn je -zwischen Reichen und Armen, zwischen Ost und West, zwischen alteingesessenen und solchen Deutschen, die ({0}) keinen deutschen Paß haben. Ein gerechtes, relativ egalitäres Steuer- und Abgabensystem kann dieses Mindestmaß an aufgeklärter Solidarität nicht herbeizaubern, aber es liefert eine der Voraussetzungen dafür.
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben in diesen Fragen in den letzten Jahren kläglich versagt. Unsere jetzigen Spargesetze sind nichts anderes als der hilflose Ausdruck dieses Versagens. Es gibt grundlegende Alternativen zu Ihrer Politik für mehr Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit.
Nachdem Karl Marx heute dreimal zitiert worden ist, darf auch ich ihn mit einem abschließenden Satz zitieren. Von ihm, von dem der große katholische Sozialphilosoph Oswald von Nell-Breuning einmal sagte, er habe auch eine ganze Menge Richtiges geschrieben, stammt der Satz: Es steht den Menschen nicht an, mit einem Kohl vorliebzunehmen, wenn er edlerer Teile habhaft werden kann.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Monika Knoche.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Herr Geißler, Sie haben mit einem großen Wurf die Globalisierungsprobleme angesprochen. Ich habe mich gefragt - vielleicht etwas bescheiden -: Was hat die Globalisierungsfrage mit der Kosteneffizienz und der Patientengerechtigkeit des deutschen Gesundheitswesens zu tun? Vor allen Dingen: Wie sollen mit Kürzung der Leistungen und des Krankengeldes Wachstum und Beschäftigung erzielt werden? Das ist eigentlich doch grober Unfug.
({0})
Konzentrieren wir uns doch auch mal auf die Fragen der Lohnnebenkosten, die hier im Rahmen der Gesundheitspolitik angeführt werden. Sie haben ja recht: Die deutsche Vereinigung ist aus den Kassen der Sozialversicherung gezahlt worden. Aber heute wird ihre Solidarität damit bestraft, daß die sozialen Leistungen gekürzt werden. Das ist doch eigentlich das Problem.
({1})
Im Vermittlungsausschuß, Herr Minister Seehofer, ist Ihr Gesundheitsstrukturgesetz gescheitert. Das ist ein Segen für das deutsche Gesundheitswesen. Man stelle sich vor, was passiert, wenn Gesundheit auf den Markt kommt. Es wäre der direkte Weg in die Unterversorgung breiter Bevölkerungskreise. Wer verlangt eigentlich noch Beweise? Schon im Sommer hat sich das ganze Szenario des Wettbewerbs dargestellt.
Mit „Vorfahrt für die Selbstverwaltung" beschwor unser Minister den gerechten Kampf mit gleich langen Spießen. Was haben wir bekommen? Ein Hauen und Stechen allerorten, alle gegen alle, Schuldzuweisungen unter Kassen gegen Krankenhäuser, Mißbrauchsdebatten zuhauf. Es ist eine Kampfarena geworden.
Das deutsche Gesundheitswesen wird arg in Mitleidenschaft gezogen. Alle Kassen wollen unangenehme Risiken loswerden, keiner wetteifert um das Marktsegment sozial Benachteiligter. Aber um die Versorgung chronisch Kranker muß es zentral gehen, wenn wir eine humane Gesundheitspolitik machen wollen. Ich lasse an dieser Stelle nicht aus, daß das unsere Aufgabe ist, ganz egal, welche Diskussion Sie um die Lohnnebenkosten entfachen. Wir alle wissen: Es hat nie eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gegeben.
Der Bundesrat hat sich einem Gesetzeswerk verweigert, nämlich dem kommenden Systembruch, dem Systembruch im Kassenwesen, der ein Niveaugefälle brächte. Wir haben oft die Debatten darüber geführt; ich brauche die Argumente der Grünen nicht zu wiederholen.
Aber eines ist wirklich sicher, das wissen wir: Die Therapie- und Arztwahlfreiheit wird in der Folge der Deregulierungspläne aufgelöst werden. Nichts rechtfertigt, ein reformfähiges System zu verlassen. Dennoch tut die Regierung es. Die Preisgabe von Sozialstaatsprinzipien gibt es mit den Grünen nicht, auch nicht mit rot-grünen Ländermehrheiten.
Was wir brauchen, ist in der Tat eine Veränderung. Wir brauchen vor allen Dingen eine andere Moral in der Gesundheitspolitik. Wir brauchen eine gleiche Versicherungspflicht. Diese Veränderung bringt nämlich Stabilität und bessere Bilanzen. Das wissen Sie genau. Sie wissen auch, wo die wirklichen Ineffizienzen liegen. Aber Sie gehen sie nicht an.
Das eigentliche Problem ist - auch wenn man es nicht gerne hört -, daß nach wie vor viele viel Geld mit der Krankheit verdienen. Wenn wir sehen, wie die Standesorganisationen untereinander in Händeln um die Verteilung der Gelder liegen, wenn wir sehen, daß aus der Ärzteschaft Forderungen nach Zuzahlungen kommen, dann sehen wir auch, daß diese Regierung das eigentliche Reformziel verfehlt hat; denn wenn etwas zentral angegangen werden muß, dann ist es das Monopol, das die in Deutschland niedergelassene Ärzteschaft hinsichtlich der Sicherstellung hat, die uns jährlich mindestens 20 Milliarden DM Versicherungsgelder kostet, die den Versicherten nichts nutzen.
Wenn die Konkurrenz, die in dem ganzen Gesetzeswerk, das gescheitert ist, vorgesehen war, gekommen wäre, hätte das in der Tat die Problematik nur noch verschärft. Insofern ist es für eine kommende Gesundheitsdebatte wirklich sehr nützlich, daß diese Deregulierungsoffensive gestoppt ist.
Systematisch sollen noch und noch soziale Werte unterminiert werden. Wir sehen das daran, daß die Regierung geradezu stolz darauf ist, den Protest der Gewerkschaftsbewegung zu ignorieren. Sie sind stolz darauf, erkämpfte Beschäftigungsrechte zu
schleifen. Sie maßen sich an, Errungenschaften der Gesundheitsbewegung wegzuwischen.
({2}).
Selbsthilfegruppen, Prävention - das sind Errungenschaften, die notwendig sind. In einer zivilen Form, in einer humanen Gesundheitspolitik sind das Dinge, die die Autonomie der Patienten stärken. Wir wollen keine neuen Abhängigkeiten; wir wollen keine neuen Unmündigkeiten.
({3})
Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen? - Es sind hier eine Reihe von sehr intensiv geführten Minikonferenzen im Gange. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie der Kollegin Ihre Aufmerksamkeit schenken würden.
Bitte fahren Sie fort.
Danke. - Wir als grüne Fraktion haben in der letzten Debatte um dieses Gesetz schon herausgestellt, daß sich eine ganze Menge Frauenfeindlichkeit in diesem Sozialpaket verbirgt. Die Kürzungsmaßnahmen haben jetzt noch einmal ihren frauenfeindlichen Charakter offenbart. Nehmen wir das, was Frau Engelen-Kefer mit großem Ernst gesagt hat, auch hier ernst. Frauen haben nicht den gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Sie sind es, die bei Krankheit der Kinder die Sozialleistungen der Kassen in Anspruch nehmen. Wie viele werden den Gang zum Sozialamt gehen müssen, weil sie ihre Kinder versorgen? Das sind alles Probleme, die Sie ignorieren.
Zugleich geht die Debatte - von der F.D.P. forciert -um eine weitere Verschlankung des Leistungskatalogs los. Ständig ist davon die Rede, versicherungsfremde Leistungen aus den gesetzlichen Krankenversicherungen zu nehmen. Aber das sind unsere Kassen; das sind die Kassen der Männer und Frauen. 90 Prozent der Bevölkerung sind darin versichert.
Die Redezeit.
Es sind soziale, gesellschaftliche Übereinkünfte, daß Frauen diese Absicherungen haben. Das lassen wir uns nicht nehmen. Das müssen Sie sich merken.
({0})
Die Redezeit ist abgelaufen, Frau Kollegin.
Ja, sofort. - Wer glaubt, wir hätten dieses Jahr nur ein Sommertheater gehabt, hat sich geirrt. Herr Seehofer kennt die Regie. Erst die Kürzung der Beitragssätze
Frau Kollegin, die Redezeit ist abgelaufen.
-per Gesetz, und dann wird ein neuer Ukas kommen! Es ist vollkommen klar: Es soll dirigistisch eingegriffen werden. Der Sozialstaat ist nicht mehr das, was er war. Die Sozialstaatsgarantien sind aber nicht ins Belieben dieser Regierung gestellt. Auch das muß sie sich merken.
Danke.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Jürgen Möllemann das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das Sturmtief ,Rudi' lastet schwer auf NRW." So lautete der letzte Satz im Wetterbericht des Westdeutschen Rundfunks heute morgen.
({0})
Das Formtief Rudi, lieber Herr Dreßler, lastet schwer auf der SPD.
({1})
- Herr Kollege Dreßler, vorhin haben Sie ganz anders ausgesehen.
Ich konnte Sie zwar nicht verstehen, Herr Duve, aber das Wort hat der Kollege Möllemann.
Wir waren natürlich zutiefst beeindruckt von der erschütternden Drohung von Herrn Kollegen Dreßler, daß, wenn wir in der Koalition mit unserer Politik so fortfahren würden, die SPD Deutschland „durcheinanderwirbeln" werde. Diese Wirbelwinde sehe ich, die uns wahrscheinlich das Fürchten lehren.
Sie haben, Herr Kollege Dreßler, eine einzige Mitteilung gemacht, die ich bemerkenswert fand - eine einzige in Ihren langen Ausführungen! Das war Ihr Hinweis darauf, daß bei Kooperationen - das hatten Sie versucht mit Ihrer kleinen Parabel vom Huhn und Schwein deutlich zu machen - „immer einer draufzahlt". Für diese Verkündung des Arbeitsmottos der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen sind wir Ihnen dankbar.
({0})
Meine Damen und Herren, es wäre offenkundig besser gewesen, wenn Sie Herrn Gerhard Schröder, den Sie offenbar zu Ihrem gestrigen Kongreß als Sachverständigen eingeladen hatten, bei dieser DeJürgen W. Möllemann
batte eine Chance gegeben hätten, das vorzutragen, was er dort gesagt hat. Das steht jedenfalls in wichtigen Punkten in fundamentalem Gegensatz zu dem, was hier dargelegt worden ist.
Es ist das Dilemma der SPD, daß sie zu allen zentralen Fragen der Wirtschafts-, Gesellschafts- und Sozialpolitik mit drei verschiedenen Stimmen spricht und je nach Bedarf den nach vorne schickt, der vermeintlich populistische Strömungen eher trifft, nicht aber denjenigen, der dazu beitragen kann, die tatsächlich bestehenden Probleme dieses Landes zu lösen.
({1})
Eine zweite Bemerkung an die Adresse des Kollegen Gysi. Wir sind schon eine Menge an Zynismus Ihrerseits gewöhnt. Aber mitzuteilen, daß die Bundesrepublik Deutschland und die DDR in einem sozialen Wettbewerb gestanden hätten, finde ich nun schon so bemerkenswert, daß es doch eines kleinen Hinweises darauf bedarf, daß deswegen Ihre Vorgängerpartei mit Mauer und Schußanlagen vorsichtshalber dafür gesorgt hat, daß niemand diesem Wettbewerb entgehen konnte. Irgendwo dürfen Sie unsere Geduld nicht überstrapazieren.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Tat geht es im Augenblick darum, daß wir im Bereich der sozialen Sicherungssysteme, im Bereich unseres Steuersystems und im Bereich des Arbeitsmarktes vor dramatischen Herausforderungen stehen. Die Maßnahmen, die heute in einem zweiten Durchgang zur Entscheidung anstehen und am 13. September endgültig entschieden werden - Sie dürfen davon ausgehen, daß wir sie mit unserer Mehrheit annehmen werden -, sollen dazu beitragen, eine Perspektive zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu schaffen und somit der Besorgnis von immer mehr Menschen, daß die Zahl der Arbeitslosen weiter steigt, entgegenzuwirken.
Derzeit können etwa 5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter keiner geregelten Berufstätigkeit nachgehen. Die Gefahr ist groß, daß auf Grund des drohenden Verlusts von Wettbewerbsfähigkeit in manchen Bereichen unserer Wirtschaft, auch wegen der Überfrachtung mit Abgaben, Steuern, Gebühren und Beiträgen zu den sozialen Sicherungssystemen, noch mehr Arbeitsplätze verlorengehen.
Deswegen stellt sich die Frage: Was hat die Veränderung, die heute zur Rede steht, mit der Chance zu tun, auch nur einen einzigen Arbeitsplatz zu schaffen? Natürlich hat dies etwas mit der Entscheidung des Handwerksmeisters zu tun, ob er einen weiteren Arbeitsplatz einrichtet. Indem wir diese Maßnahmen durchsetzen, können wir ihm die Perspektive eröffnen, sich flexibel seinen steigenden oder sinkenden Möglichkeiten anzupassen. Es ist für ihn wichtig, zu wissen, ob er davon ausgehen kann, daß wir die ständig steigende Last an Nebenkosten reduzieren. Darauf zielt dieses Paket ab.
Meine Vorrednerin hat hier noch mit Stolz in der Stimme gesagt, mehr als 90 Prozent der Bundesbürger seien in der sozialen Krankenversicherung organisiert und geschützt. Ist diese Zahl nicht ein Fingerzeig dafür, warum das System so nicht weiter funktionieren kann? Wenn wir Bedürftigkeit so definieren, wenn wir das Spannungsverhältnis zwischen Solidarität und Subsidiarität nicht neu bestimmen, dann wird die Gemeinschaft in immer stärkerem Maße auch für diejenigen herangezogen werden, die der Solidarität nicht bedürfen. Wir müssen die Systeme so entwickeln, daß sie denen helfen, die hilfsbedürftig sind.
({3})
Wir können dies aber nicht dauerhaft sichern, wenn alle anderen die sozialen Sicherungssysteme permanent uneingeschränkt in Anspruch nehmen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Delegation des Gesundheitsausschusses hat vor der Sommerpause
({5})
- sogar in der Sommerpause - die skandinavischen Länder besucht. Dabei hat sich herausgestellt - lieber Herr Schreiner, ich spreche Sie an, weil Sie auf den Versuch der Abstimmung von Sozial- und Umweltpolitik auch im internationalen Rahmen hingewiesen haben; Herr Geißler hat ebenfalls darüber gesprochen -, daß das bescheidene Maß an Selbstbeteiligung, das wir als Steuerungsmechanismus im Gesundheitswesen vorsehen, in sozialdemokratisch regierten Ländern Skandinaviens viel ausgeprägter ist. Warum diskreditieren Sie hier etwas als unsozial, was Ihre sozialdemokratischen Kollegen in anderen Ländern, wo sie Verantwortung tragen, längst praktizieren? Ist das Ihre Form von Internationalismus, von dem Herr Lafontaine gesprochen hat? Das ist doch nicht ehrlich.
Herr Kollege Möllemann, die Kollegin Knoche würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Stets und ständig.
Ich war ja nun auch in Skandinavien und habe diese Delegation begleitet. Nur eines hätte ich doch ganz gerne von Ihnen gewußt: Wie stehen Sie dazu, daß in der Bundesrepublik Deutschland lediglich 67 Prozent der Ausgaben für das Gesundheitswesen beitragshälftig finanziert werden? Die Selbstbeteiligung liegt bereits bei 12 Prozent. Wohin wollen Sie eigentlich noch, und wie ist das in Ihrem europäischen oder internationalen Vergleich? Schauen Sie sich bitte einmal genau an, wieviel die Versicherten in Deutschland innerhalb dieser 90 Prozent selbst zahlen. Dann stellen Sie, bitte sehr, die Relation her.
Frau Kollegin Knoche, wir sehen das in den Betrieben der Bundesrepublik Deutschland, ganz gleich ob es größere, mittlere oder kleinere sind - aber uns interessieren in diesem Zusammenhang vor allem die lohnkosten- und arbeitsplatzintensiven kleinen und mittleren-: Für jede Mark Lohn, die gezahlt wird, müssen 86 Pfennig Lohnzusatzleistungen für die sozialen Sicherungssysteme bezahlt werden.
({0})
Wir sehen, daß damit immer weniger Betriebe in der Lage sind, Arbeitsplätze aufrechtzuerhalten; wir sehen, daß wegen der hohen Kosten pro Stunde immer mehr Menschen Schwarzarbeit leisten, Deswegen sind für uns Systeme, in denen noch mehr an Lohnnebenkosten entstehen, an dieser Stelle ganz gewiß kein Vorbild. Aber selbstverständlich möchten wir das Instrument der Transparenz, das heißt Rechnungstellung im Gesundheitswesen für alle Leistungen und für alle Patienten, damit man durchblickt und weiß, was geschieht, und das System der Eigenverantwortung durch Eigenbeteiligung ausweiten, weil wir der Meinung sind, daß nur so eine weitere Explosion der Beiträge vermieden werden kann.
({1})
Die Kassen verkünden doch jetzt schon, daß sie, so schnell es eben möglich sein wird, die Beiträge heraufsetzen würden. Das heißt doch: noch mehr Abgaben der Arbeitnehmer an die sozialen Sicherungssysteme, noch mehr Lohnzusatzkosten, noch weniger Arbeitsplätze, noch mehr Schwarzarbeit. Das ist der Circulus vitiosus, aus dem wir herauskommen müssen. Da hilft kein Lamentieren, da hilft nur Entscheiden. Deswegen bestehen wir darauf, daß in dieser Frage entschieden wird. Im Klartext heißt das: Sie dürfen davon ausgehen, daß wir die Materie, die wir in den heute zu beredenden Gesetzen geregelt haben, dort, wo sie zustimmungsbedürftig ist, so in neuer Gesetzesform gestalten werden, daß wir sie mit der Mehrheit der Koalition durchsetzen.
Es ist ja der Versuch unternommen worden, zu einem Konsens zu kommen. Aber von einem bestimmten Zeitpunkt an - ich will den nicht genau definieren - hatte man doch das Gefühl, daß der Ausstieg der Gewerkschaften aus der Kanzlerrunde für mehr Arbeit und der Ausstieg der Sozialdemokraten aus der Suche nach einem Konsens eine konzertierte Aktion war, eine strategisch bestimmte Haltung. Versuchen Sie also nicht dadurch von Ihrer Verweigerungspolitik abzulenken, daß Sie hier irgendwelche merkwürdigen Theorien verbreiten.
Nein, meine Damen und Herren, wer jetzt in diesem Land im Bundestag nicht dazu beiträgt, daß Arbeit wieder bezahlbar wird, daß kleine und mittlere Betriebe Neueinstellungen vornehmen können, statt dauernd entlassen zu müssen, und daß der permanente Export von Arbeitsplätzen aufhört, der im übrigen ja in den Aufsichtsräten gerade von Großunternehmen mit den Stimmen der Gewerkschaften beschlossen wird - also häufig Ihrer besonderen Freunde, die Sie dann wohl bei dieser Gelegenheit
nicht erwähnen werden -, wer für all das Verantwortung übernimmt - und das tun Sie im Augenblick -, der wird am Wahltag die Frage beantworten müssen, was er zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit getan hat, und zwar nicht mit verbalen Bekundungen, sondern .mit Maßnahmen, die ökonomisch greifen. Ich bitte Sie herzlich: Klären Sie zwischen Ihren Troika-Angehörigen doch einmal, wessen Argumente wirklich zählen! Eines geht nicht, und zwar Herrn Schröder mit der Aura der ökonomischen Vernunft, die er in Niedersachsen noch nicht in vollem Umfang bestätigt, auszustatten und permanent, wenn es konkret wird, seinen Aussagen im Deutschen Bundestag durch die Mehrheit der SPD-Fraktion zu widersprechen. Sie sind in Ihrer ökonomischen Position unklar. Sie sind deswegen nicht hilfreich für die Bewältigung dieser Probleme. Deswegen sind Sie wohl auch gezwungen, bei der Suche nach Mehrheiten für Ihre fehlerhaften Konzepte sogar die Nachbarn auf der Linksaußenseite, die PDS, zaghaft, aber doch in Ihr Kalkül einzubeziehen. Das muß so deutlich angesprochen werden.
({2})
Wenn man heute Herrn Gysi und Herrn Dreßler gehört hat, dann war das in der Tat in manchen Punkten eine bemerkenswerte Übereinstimmung. Ich hoffe, hier bahnt sich nicht etwas darüber Hinausgehendes an. Das wäre in der Tat das Schlechteste für unser Land.
({3})
Meine Damen und Herren, die Redner haben es im Augenblick ein bißchen schwer. Ich würde doch bitten, wenn Sie wirklich ein so großes Gesprächsbedürfnis haben, wie oben rechts am Rand, dann befriedigen Sie es außerhalb des Plenarsaales. Es stört den Redner, wenn in verschiedenen Gruppen leise gesprochen wird.
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Zöller das Wort.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal kann es sehr nützlich sein, sich einmal vor Augen zu führen, vor welchem Hintergrund wir eigentlich bei uns über Reformen im Sozialstaat reden. Es gilt zunächst festzuhalten, daß es kein einziges Beispiel dafür gibt, daß die Grundprinzipien unseres Sozialstaates aufgekündigt werden. Bei uns werden aber die kleinsten Reformen im Sozialbereich bereits als Einstieg in den Ausstieg aus dem Sozialstaat beschrieben und entsprechend leidenschaftlich diskutiert.
({0})
Wir streiten ernsthaft darüber, ob es ein sozialer Kahlschlag ist, wenn die Versicherten in Zukunft alle drei Jahre auf einen Kassenzuschuß für Brillengestelle von 20 DM verzichten müssen. Wir leisten uns lang anhaltende Debatten darüber, ob es noch sozial verträglich ist, wenn Patienten 1 DM mehr Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln bezahlen sollen, obwohl es auf Grund der Sozialklausel eine vollständige BeWolfgang Zöller
freiung von der Zuzahlung gibt. Bei einem Rentnerehepaar zum Beispiel ist es immerhin der Betrag von 2271,50 DM. Bis zu diesem Betrag brauchen sie überhaupt keine Zuzahlung zu zahlen.
Empörung löst schon die Frage aus, ob man den Menschen nicht die Einsicht abverlangen kann, daß die Fahrt vom Krankenhaus nach Hause nicht unbedingt von der Krankenversicherung bezahlt werden muß. Für manche ist es schon ein staatlich verordneter Raubzug an sozialen Selbstverständlichkeiten, wenn man öffentlich einmal die Frage stellt, ob jede Massage nach einer Sportverletzung der Krankenkasse in Rechnung gestellt werden muß. Da wird heute das Gespenst der Entsolidarisierung mit den Kranken in unserer Gesellschaft an die Wand gemalt, wenn man an Selbstverständlichkeiten erinnert wie zum Beispiel, daß Krankenkassen die Verordnung von Kuren auf das medizinisch Sinnvolle begrenzen müssen. Wir streiten über solche Einzelmaßnahmen -und seien sie zum Teil auch noch so klein - mit erstaunlicher Leidenschaft, aber leider zusammenhanglos. Solche Klein-Klein-Diskussionen der vergangenen Monate zeigen einmal mehr: Uns ist längst der Grundkonsens darüber abhanden gekommen, Was Solidarität und Subsidiarität in der sozialen Marktwirtschaft tatsächlich bedeuten.
({1})
Wenn die Einsicht und Vorsicht des Staates in jedem noch so kleinen Lebensbereich an die Stelle der Einsicht und Vorsicht des einzelnen tritt, dann entscheidet schließlich nicht mehr der einzelne, sondern dann entscheidet der Staat, dann lassen wir es zu, daß Freiheit und Verantwortung entkoppelt werden.
Beschnitten wird diese Freiheit allerdings auch dadurch, daß die finanziellen Möglichkeiten des einzelnen immer weiter eingeengt werden. Denn steigende Aufgaben haben in der Vergangenheit zu steigenden Beitragssätzen geführt. Der Spielraum zwischen Nettoeinkommen und Durchschnittslasten wurde dadurch immer weiter eingeengt.
Ein Sozialstaat, der sich so verhält, schafft genau die Probleme, die er später mit viel größerem Aufwand wieder beseitigen muß: ein Übermaß an Bürokratie, an Reglementierungen, ein hohes Anspruchsverhalten und dadurch steigende finanzielle Verpflichtungen, die solidarisch erbracht werden müssen. Am Ende gefährdet er mit seinem scheinbar verlockenden Angebot, dem Menschen die Last der individuellen Verantwortung immer mehr abzunehmen, seine eigene Schutzfunktion. Er produziert Unsicherheit durch Unübersichtlichkeit und Aufgabeninflation.
Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Die Kardinalfrage muß daher lauten: Wie sichern wir für uns selbst und die Zukunft diese Schutzfunktion des Staates?
({2})
Wie stellen wir sicher, daß das Risiko der Krankheit in jedem Fall abgesichert ist, wenn finanzielle Dimensionen erreicht werden, die den normalen Bürger überfordern?
Das und nicht das Klein-Klein vieler Diskussionen der vergangenen Monate muß mehr in den Mittelpunkt der Reformüberlegungen gestellt werden. Wir müssen klar definieren und festlegen, welche Aufgaben die Solidargemeinschaft Krankenversicherung überhaupt übernehmen muß und wo die Verantwortung des einzelnen anfängt. Wir haben uns bisher darauf eingelassen, die finanzielle Verantwortung für die Gesundheit immer mehr als solidarische Verantwortung zu definieren. Wir haben es zugelassen, daß trotz steigenden Wohlstands in der Vergangenheit nicht weniger, sondern mehr Zuständigkeiten für Kassen erfunden wurden.
Eines steht doch fest: Die gesetzliche Krankenversicherung kann ihre Aufgabe der Absicherung großer Risiken auf Dauer nur wahrnehmen, wenn es eine soziale und auch moralische Selbstverständlichkeit ist, daß die Menschen ihre Eigenverantwortung wahrnehmen.
({3})
Wir müssen den Menschen erklären, welchen Zweck diese Eigenverantwortung hat und wie sie gestaltet werden kann. Wenn wir dies nicht tun, darf sich niemand darüber wundern, daß wir tatsächlich über kurz oder lang auf dem Weg in die Zwei-Klassen-Medizin sind. Dann ist nämlich kein Geld mehr da, um die großen Risiken für jedermann, unabhängig von seinem Einkommen, zu bezahlen.
({4})
Dann stehen wir wirklich vor der Aufgabe zu rationieren. Das wäre eine Auslese unter ökonomischen Gesichtspunkten.
Das wachsende Umweltbewußtsein zeigt, was man durch vernünftige Aufklärung erreichen kann. Ich bin deshalb recht optimistisch, daß wir auf dem Weg über Aufklärung auch zu einer Wiederbelebung des Grundwertes der Eigenverantwortung kommen können. Es gehört auch ganz entscheidend zur Glaubwürdigkeit der Politik, daß sie jetzt klipp und klar den Menschen sagt: So wird es aussehen, wenn wir nicht handeln. So kann es aussehen, wenn wir den Mut, die Phantasie und den Willen haben, einen Trennungsstrich zwischen wohlfahrtsstaatlicher Daseinsvorsorge und sozialstaatlichen Pflichten zu ziehen.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es schaffen, den Menschen auf diese Art und Weise begreiflich zu machen, daß Stärkung der Eigenverantwortung weder Individualisierung der Vorsorge noch Verzicht auf solidarische Leistungen heißt, sondern eine Voraussetzung zur Finanzierung solcher Leistungen ist, die wirklich notwendig und in wichtigen Fällen gebraucht werden, dann hat unsere grundsätzlich bewährte Krankenversicherung auch künftig eine Chance.
Ich danke Ihnen.
({6})
Kollege Dr. Martin Pfaff, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch der gesundheitspolitische Teil dieses Kürzungspakets ist gesellschaftspolitisch irreführend. Er ist volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Finanzpolitisch werden so die fiskalischen Ziele der Beitragsentlastung sicher nicht erreicht. Er ist gesundheitspolitisch gesehen ein eindeutiger Rückschritt hinter die Philosophie von Lahnstein. Das bringt uns nicht weiter zu dem, was wir in diesem Lande brauchen.
({0})
Zunächst einmal zum gesellschaftspolitischen Teil. Wenn in einer Gemeinschaft, wenn in einer Familie -Herr Zöller und Herr Möllemann, Sie haben ja Eigenverantwortung und Solidarität angemahnt -schwere Zeiten bevorstehen, dann rückt man doch zusammen. Dann ist doch eher mehr Solidarität denn weniger Solidarität gefordert. Dann stützt man doch die Schwachen und belastet sie nicht mehr. Herr Bundesminister Blüm hat heute schon die Studie der Böckler-Stiftung bemüht, aber leider nicht den Teil, wo eindeutig aufgezeigt wird, Herr Minister Seehofer, daß eine Entlastung der Beiträge von sieben Zehnteln eines Beitragssatzpunktes möglich wäre -beispielsweise durch mehr Solidarität und durch die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung. Sie könnten sich all diese Operationen, all diese Daumenschrauben ersparen.
({1})
Wenn Sie noch einen Schritt weiter gehen und auch die Versicherungspflichtgrenze abschaffen würden, dann könnten Sie weitere acht Zehntel einsparen.
Warum haben Sie nicht den Weg der Solidarität zitiert? Eigenverantwortung ja; Aufklärung ja. Aber Eigenverantwortung, Herr Zöller, nicht durch höhere Selbstbeteiligung, nicht durch Strafsteuern, nicht durch Zuzahlungen, denn das ist nicht zu verantworten. Eigentlich ist der richtige Weg in dieser schwierigen Zeit der Weg der Solidarität und nicht der Weg des Leistungsabbaus und der Sozialkürzungen, den Sie hier vorgeben.
({2})
Wenn Sie die Beitragssätze wirklich senken wollten, könnten Sie dies auf eine ganz einfache solidarische Art tun. Aber welchen Weg gehen Sie? Sie wollen die Beitragsfestlegung ab 1. Januar den Kassen aufs Auge drücken. Sie wollen ihnen schlicht und einfach den Schwarzen Peter zuschieben und haben nicht die Courage, offen und ehrlich zu sagen, daß Sie in Wirklichkeit eine weitere Leistungskürzung durchsetzen wollen. Dieser Mut fehlt Ihnen.
({3})
Sie wollen die Zuzahlungen für Arzneimittel erhöhen: Auch ein kleiner Schritt in die falsche Richtung kann doch keine Verbesserung sein! Daß die Selbstbeteiligung nicht steuert, ist doch der letzten und dem letzten in diesem Hause mittlerweile klar.
({4})
Die Ausgaben in den Ländern mit höheren Selbstbeteiligungen steigen stärker. In den Bereichen, in denen die Selbstbeteiligung am höchsten ist - beispielsweise Zahnersatz -, sind die Zuwächse am höchsten, Herr Möllemann. Die Selbstbeteiligung ist unsozial. Sie belastet die kleinen mehr als die großen. Wenn sie sehr hoch ist, dann kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch gesundheitlich notwendige Leistungen unterbleiben. Im ersten Fall kann man sie vergessen, im zweiten Fall muß man sie vergessen. Sie ist kein Instrument einer kreativen Gesundheitspolitik.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirche und eine Zwischenfrage des Kollegen Möllemann?
Mit besonderem Vergnügen.
Herr Präsident! Herr Kollege! Mir liegt zu den Ausführungen, die Sie eben gemacht haben, ein einschlägiger Zeitungsbericht vom 23. August über eine Pressekonferenz der AOK Niedersachsen vor, in dem es heißt, daß die Versicherten, die keine Selbstbeteiligung für Zahnersatz haben, für diese Kasse im Durchschnitt 20 Prozent höhere Aufwendungen verursachen als alle anderen Versicherten mit Selbstbeteiligung. Diese Kasse führt das darauf zurück, daß im Zusammenhang mit Menschen, die ohne Selbstbeteiligung eine Leistung in Anspruch nehmen, eine Selbststeuerung angeblich nicht möglich sei. Ich will Ihnen gern eine Kopie dieses Zeitungsartikels überreichen.
Herr Kollege, glücklicherweise bin in in der Lage, auf meine eigenen Untersuchungen zurückgreifen zu können. Die erste Untersuchung fand Anfang der 80er Jahre statt. Als sich Herr Glombig und Herr Schmidt ({0}) nicht einig über Wahltarife waren, haben wir die PKV-Tarife mit Selbstbeteiligung verglichen mit den GKV-Tarifen ohne Selbstbeteiligung. Was hat sich herausgestellt? Die Wahltarifversicherten mit Selbstbehalt waren weder kostenbewußter, noch waren andere Steuerungseffekte zu beobachten. Dann habe ich alle OECD-Daten für mehrere Jahre hintereinander genommen und habe mich gefragt, wie es in den Ländern, in denen die Selbstbeteiligung ausgebaut ist, ausschaut. Es gibt solche Länder in Europa. Wenn man die privaten Zuzahlungen hinzunimmt, gehören auch die USA dazu. Wenn Ihre Logik zutrifft, dann müßte dort sparsamer und wirtschaftlicher gearbeitet werden und müßten dort die Ausgabensteigerungen geringer ausfallen. Mitnichten: Genau das Gegenteil
ist der Fall. Die Selbstbeteiligung in einer Größenordnung, die einer sozialen Krankenversicherung zuträglich ist, hat keine Wirkung. Man kann sie vergessen. Wenn man sie sehr, sehr hoch ansetzt, dann wirkt sie schon, aber dann wirkt sie bei den kleinen Einkommen und nicht bei den großen.
({1})
Wenn wir diesen Effekt tolerieren wollen, dann können wir die soziale Krankenversicherung vergessen.
({2})
Kommen Sie mir also nicht mit solchen Untersuchungen, bei denen wir nicht wissen, wie die Zusammensetzung dieser AOK ist. Ich habe noch nichts von dieser Studie gehört. Ich schaue sie mir gerne an. Aber glauben Sie mir: Das ist keine repräsentative Zahl und kein Ergebnis, das mit dem übereinstimmt, was in der empirischen Wissenschaft bisher bekannt ist.
({3})
- Natürlich!
Herr Kollege Möllemann.
Herr Kollege Pfaff, nach Ihrer grundsätzlichen Absage an die Sinnhaftigkeit von Selbstbeteiligungen wollte ich fragen, ob Sie namens der SPD entsprechend verlangen, daß nicht nur keine neuen Formen der Selbstbeteiligung eingeführt werden, sondern auch alle bestehenden Formen der Selbstbeteiligung abgeschafft werden.
Die SPD hat in ihrem Wahlprogramm klar darauf hingewiesen, daß mit ihr eine Ausweitung der Selbstbeteiligung nicht zu machen ist und daß eine Selbstbeteiligung im Bereich der chronisch Kranken zu überprüfen ist. Ich scheue mich auch als Bundesvorsitzender der sozialdemokratischen Gesundheitspolitiker und Gesundheitspolitikerinnen nicht, Herr Möllemann, zu sagen, daß es eine Forderung der ASG gibt, alle Selbstbeteiligungen abzuschaffen.
Wissen Sie, was das bedeutet, Herr Möllemann, wenn man das durchrechnet? Das bedeutet ungefähr sechs Zehntel eines Beitragssatzpunktes, hälftig von den Arbeitnehmern und hälftig von den Arbeitgebern zu finanzieren. Jetzt frage ich Sie: Wäre das nicht für die Männer und Frauen, die Monat für Monat, Jahr für Jahr, Beiträge zahlen, um im Krankheitsfall abgesichert zu sein, eine sozialpolitische Tat, die wirklich erwähnenswert und diskussionswürdig ist, wenn diese Menschen, wenn sie krank werden und
Hilfe brauchen, nicht noch einmal in die Tasche greifen müssen?
({0})
Herr Kollege, sind Sie bereit, noch eine Zusatzfrage des Kollegen Möllemann zu beantworten?
Vom geschätzten Gesundheitspolitiker Möllemann nehme ich immer gern sachkundige Fragen entgegen.
({0})
Vielen Dank, das ist sehr freundlich. Aber eigentlich wollte ich nur meine Frage beantwortet wissen. Sie haben daran vorbeigeredet. Ich wollte Sie fragen, Herr Kollege Pfaff, ob Sie namens der Sozialdemokratischen Partei angesichts Ihrer fundamentalen Kritik an der Sinnhaftigkeit der Selbstbeteiligung alle bestehenden Formen der Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen gestrichen haben wollen.
Ich habe die Frage doch eindeutig beantwortet.
({0})
- Herr Möllemann, ich schlage vor, daß ich diesen Dialog mit Ihnen in einem Privatissimum fortsetze; denn dann gibt es offensichtlich größere Chancen, die Botschaft rüberzubringen, als in einem solchen öffentlichen Dialog.
({1})
Sie wollen den Kassenanteil bei Brillengestellen streichen, und das soll die große finanzpolitische Stabilisierung der öffentlichen Haushalte bringen. Sie wollen Leistungskürzungen bei stationären Kuren. Darüber könnten wir diskutieren. Aber ich kann nicht erkennen, warum, wenn in einem Fall eine drei- oder vierwöchige Kur medizinisch erforderlich ist und in einem anderen Fall nur eine zweiwöchige Kur, alle über einen Kamm geschoren werden sollen. Sie haben eine Rasenmähermethode vorgeschlagen, die dem gesundheitlichen Bedarf nicht gerecht wird.
({2})
Das alles heißt doch: weniger Solidarität. Das Kürzungspaket nagt am sozialen, am gesellschaftlichen Kontrakt.
Ich könnte das alles verstehen, wenn das Ihre Ziele wirklich realisieren würde, wenn Sie sagen würden: Ja, in einer Situation finanzieller Krisen ist uns ein Ende mit Schrecken lieber als ein Schrecken ohne Ende. Aber kein einziger von Ihnen glaubt, daß damit die Haushalte der Institutionen der sozialen
Sicherung oder gar die öffentlichen Haushalte stabilisiert werden. Es müßte doch wohl der letzte der Naiven sein, der das annimmt. Das ist auf diesem Weg nicht zu erreichen.
Zweitens. Wenn es wirklich so wäre, Herr Möllemann und andere, daß es zwei Systeme gäbe - das eine ist hart, konkurrierend, produktiv, innovativ, aber ungerecht in der Verteilung, das andere weich, sozial, schwammig, aber verteilungsgerecht -, dann könnte man politisch darüber diskutieren, ob man das erste oder das zweite will. Was ich will, das weiß ich. Tatsache ist, daß weltweit Systeme der sozialen Sicherung, die solidarisch finanziert werden, nicht nur verteilungsgerechter, sondern sogar kosteneffektiver sind. Das ist doch die Ironie. Dies ist eine Diskussion für Doofe. Dies ist keine rational begründbare Diskussion.
({3})
Ja, der Sozialstaat muß weiterentwickelt werden, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändern. Aber Sozialabbau heißt nicht Weiterentwicklung.
Diese ganze Diskussion ist auch volkswirtschaftlich kontraproduktiv. Ich kann es auf den Punkt bringen: In Zeiten stagnierender Binnennachfrage Kaufkraft auch in diesem Bereich abzuschöpfen ist - das muß doch jedem klar sein - Gift für die Konjunktur, führt zu mehr und nicht zu weniger Arbeitslosigkeit, zu weniger und nicht zu mehr Beschäftigung.
Bei einer internationalen Tagung in Washington, nicht von der Wissenschaft ausgerichtet, sondern von einer bekannten deutschen, international agierenden Automobilfirma, wurde ich voller Neid von Vertretern der Ford Motor Company angesprochen, die mir auf Dollar und Cent vorrechneten, wie hoch die Gesundheitskosten pro Ford-Auto sind, und sagten: Wären wir doch in Deutschland, dann wären wir wettbewerbsfähiger. - Das darf ich hier auch zur Diskussion stellen, und ich fordere Sie auf, endlich dieses unselige Gerede, das Herunterreden des Standortes Deutschland zu beenden.
({4})
Was die Lohnstückkosten angeht, möchte ich nicht groß in die Details einsteigen. Sie sind in den anderen Industrienationen in den letzten zwei Jahrzehnten um das Fünffache, bei uns um das 2,5fache gestiegen. Die Zuwachsraten in anderen Bereichen und die Belastungen der Haushalte und der Unternehmen wären ein Thema für sich.
Das Problem ist aber, daß dieses Paket letztlich keine finanzielle Konsolidierung bringt, weder in den Systemen der sozialen Sicherung noch in den öffentlichen Haushalten. Schon in der zweiten Vorlesung Volkswirtschaftslehre bringen wir unseren Studenten bei, daß die Volkswirtschaft ein Kreislauf ist, daß man nicht hier etwas an Kaufkraft abzapfen und dann erwarten darf, daß die Nachfrage in anderen Teilen der Volkswirtschaft nicht entsprechend sinkt, daß nicht die Beschäftigung beeinflußt wird.
Deshalb muß dieses sogenannte Sparpaket wieder versagen. Jeder kann heute schon sagen: Die Konsolidierungsziele dieses Pakets werden sicher nicht erreicht werden. In einigen Monaten werden wir uns wiederum darüber zu unterhalten haben, was zu tun ist. Dies ist kein Weg zur finanziellen Steuerung; dies ist der Weg des Sozialabbaus.
Auch daß dieses Paket sozialpolitisch unsinnig ist, sollte klar sein. Denn mit der genialen Einfachheit des Umlageverfahrens sind unsere Systeme der sozialen Sicherung so konstruiert, daß in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit die Leistungen erhöht werden, wodurch ein kontrazyklischer Stabilisierungsfaktor, ein Gegendruck entsteht. Jetzt, wo wir finanzielle Engpässe aus Gründen haben, die ich nicht wiederholen muß, zu sagen: „Jetzt bauen wir den Sozialstaat ab; jetzt kürzen wir Leistungen", ist ungefähr so intelligent wie das Handeln eines Mannes, der weiß, daß er mit seinem Auto in ein Urlaubsland mit schlechten Straßen fährt, und an der Grenze die Stoßdämpfer ausbaut, um sie nicht zu beschädigen. Das ist das Niveau der Intelligenz einer solchen Politik.
({5})
Gesundheitspolitisch ist dies ein deutlicher Rückschritt, weil die Strukturelemente, die im Gesundheitsstrukturgesetz enthalten sind, wieder ausgehebelt werden. Wir mußten leider wieder erleben, daß die Konzeption von Lahnstein nicht durch Zufall, nicht durch andere Faktoren, sondern bewußt von Ihnen und Ihrer Regierungskoalition ausgehebelt wurde.
Da wundern Sie sich, daß jetzt die Ausgabendynamik im Gesundheitswesen die altbekannte Form annimmt. Erste Phase: Ein Gesetz wird diskutiert - Ankündigungseffekt; die Kosten steigen, die Beiträge steigen. Zweite Phase: Das Gesetz wird umgesetzt -Stabilisierung, weil dieselben Dinge nicht mehr in Anspruch genommen werden, dieselben Kosten nicht mehr verursacht werden. Dritte Phase: Es geht wieder locker weiter.
Genau aus diesem Dilemma, aus diesem Zyklus wollten wir heraus. Was aber haben Sie, Herr Bundesminister, getan? Sie haben zunächst einmal die Positivliste nicht umgesetzt, die erste Bremse an einem Rad abgebaut. Sie haben als nächstes die Bundespflegesatzverordnung so umgesetzt, daß die Ziele der Ausgabensteuerung im Krankenhaus nicht erreicht werden konnten - zweite Bremse abgebaut. Sie haben drittens auch in anderen Bereichen - ICD- 9 und -10 - die Transparenz ausgesetzt. Ich könnte die Liste fortsetzen.
Und jetzt wundern Sie sich, daß die alte Lokomotive der Ausgabendynamik wieder so fährt wie vorher. Das ist von Ihnen ganz persönlich und von Ihrer Regierungskoalition zu verantworten.
({6})
Das ist nicht das Produkt bünder Mächte, das ist nicht das Produkt unausweichlicher Entwicklungen, das ist nicht das Produkt der Demographie, der wirtschaftlichen Entwicklung. Das ist die logische KonseDr. Martin Pfaff
quenz der Maßnahmen, die Sie selber zu verantworten haben.
({7})
Herr Kollege Dr. Pfaff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seehofer?
Mit besonderem Vergnügen.
Lieber Herr Kollege Professor Pfaff, wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund, daß die Regierungskoalition wesentliche Elemente des Lahnsteiner Kompromisses, wie Sie es genannt haben, „ausgehebelt" hat, die Tatsache, daß die SPD-regierten Länder im Vermittlungsausschuß und im Bundesrat den allermeisten Korrekturen zum Gesundheitsstrukturgesetz zugestimmt haben? Denn zuletzt in dieser Woche war es nur mit Zustimmung von SPD-geführten Ländern im Vermittlungsausschuß möglich, das von Ihnen hier heftig bekämpfte Gesetzesvorhaben durchzusetzen, nämlich keine Festbeträge bei Arzneimitteln mehr festzulegen, die patentgeschützt sind, damit der Wirtschaftsstandort auch für die Forschung in der Pharmaindustrie erhalten bleibt. Die wesentlichen Korrekturen sind mit SPD-Stimmen im Bundesrat zustande gekommen.
({0})
Herr Seehofer, ich bin wirklich enttäuscht. Ich hätte wirklich eine neue Frage erwartet, diese habe ich jetzt zum zehnten Male gehört.
({0})
Immer wenn irgend etwas auf Bundesebene schiefgeht, dann waren die Länder schuld. Erstens ist die Aussage, daß die strukturgestaltenden Elemente in überwiegender Zahl von den A-Ländern mitgetragen wurden, faktisch falsch.
({1})
Es gab einige Punkte, wo dies der Fall war, bei anderen nicht.
Zweitens. Wenn es um Standortpolitik, um Industriepolitik geht, wenn Arbeitsplätze auch im Bereich der Arzneimittelforschung erhalten bleiben sollen, dann sind die Länder die Hüter der Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Aber Sie, verehrter Herr Bundesminister, sind der Hüter der Interessen aller Patientinnen und Patienten und aller Konsumentinnen und Konsumenten der Produkte im Gesundheitswesen.
({2})
Sie sollten für eine andere Preispolitik, für eine andere Politik im Arzneimittelbereich kämpfen.
({3})
Ich erspare mir angesichts des Zeitdrucks ausführliche Anmerkungen zur Absenkung des Krankengeldes. Das ist also die geniale Waffe zur finanziellen Konsolidierung: Die Kranken sollen als Sparschweine der Nation, als Lückenbüßer für eine falsche Wirtschafts- und Finanzpolitik herangezogen werden. Das bringt uns in eine schöne neue Welt gesundheitspolitischer Stabilität. - Nein, auch die Zukunftskonzeptionen Ihrer Seite, die zur Diskussion anstehen, bringen uns nicht weiter.
Das Beitragsentlastungsgesetz birgt etliche Todsünden. Zum Beispiel: Aussetzung der präventiven Maßnahmen außer Schutzimpfungen. Auch wenn Sie das nachher korrigiert haben: Das ist wirklich der unsinnigste Weg, den ich mir überhaupt vorstellen kann.
({4})
Denn wenn es einen Bereich gibt, von dem wir wissen, daß wir in der Zukunft mehr machen müssen, dann ist es die Gesundheitsförderung, die Prävention.
({5})
Wir wollen die zig Millionen Mark, die wir auf Grund falschen Konsumverhaltens, z. B. beim Nikotinkonsum und beim Ernährungsverhalten, ausgeben müssen - all die Ausgaben, die auf die Lebensführung und das Lebensumfeld zurückgehen -, der gesetzlichen Krankenversicherung ersparen. Es war insofern nicht nur eine sozialpolitische Sünde, es war auch ein handwerklicher Fehler, Herr Bundesminister, an diesem Punkt anzusetzen. Das war sicher ein handwerklicher Fehler, der Ihnen noch oft auf das Butterbrot geschmiert werden muß.
Gleiches gilt für den Zahnersatz: Wenn Realität wird, was sich die Regierungskoalition ausgedacht hat, gelangen wir zu einer totalen Reprivatisierung der Kosten des Zahnersatzes. Um mit der Bibel zu sprechen: Nicht an ihren Früchten, an ihren Zähnen werdet ihr sie erkennen. An ihren Zähnen werdet ihr erkennen, welcher sozialen Schicht sie angehören.
({6})
- Richtig, an ihren Zahnlücken. - Wer das nicht glaubt, soll nur in die Mittelmeerländer oder selbst in die USA fahren.
Herr Bundesminister, Sie stehen vor einem Scherbenhaufen vielfacher Art. Sie stehen vor dem Scherbenhaufen Ihrer Kostendämpfungspolitik, den Sie selbst verursacht haben.
({7})
Wenn Sie das Gesundheitsstrukturgesetz korrekt umgesetzt hätten, wenn die strukturgestaltenden Elemente zum Zuge gekommen wären, wären wir heute nicht in dieser Situation. Sie haben zumindest schon eingestanden, daß es die Politik war, die viele dieser Ausgabensteigerungen zu verantworten hat. Jetzt wünsche ich nur, daß Sie im nächsten Schritt saDr. Martin Pfaff
gen, daß es Ihre Politik war, die diese Ausgabensteigerungen zu verantworten hat.
({8})
Herr Bundesminister, was mich noch mehr schmerzt: Wir stehen alle vor einem Scherbenhaufen der Reformpolitik. Denn die Probleme sind derart, daß Konsenshandlung wirklich parteiübergreifend erforderlich ist. Alle großen sozialpolitischen Reformwerke der letzten Jahrzehnte waren dann erfolgreich, wenn sie parteiübergreifend angegangen worden sind. Das in der Tat ist die größte Sünde, daß Sie sich nämlich bei dem Vorgespräch, bei dem wir dabei waren, letztlich auf eine Linie festgelegt haben, die Herr Möllemann und Herr Lohmann und nicht mehr Sie bestimmt haben.
({9})
Die Redezeit!
Daß Sie, der Gesundheitsminister, jetzt eine F.D.P.-Politik umzusetzen haben, das erfüllt mich nicht mit Freude. Ich empfinde das als tragisch; es erfüllt mich mit Trauer. Es ist keine Genugtuung für mich.
Ich meine, die Zeichen der Zeit sind klar: Das, was uns, was diesem deutschen Parlament als Sparpaket verkauft werden soll, ist ein Sozialabbau. Unsere Zustimmung wird er nie und nimmer finden.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Hans-Peter Repnik das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei allem Streit über diese schwierigen Fragen, der auch heute wieder zum Tragen kam, ist es, glaube ich, ganz wichtig, daß wir deutlich machen, daß es in diesem Hause, aber auch in der Bevölkerung einen breiten Konsens gibt, nämlich einen Konsens darüber, daß die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu hoch ist, daß wir jede Chance nutzen müssen, neue Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen, daß die Belastung der Bürger und der Wirtschaft mit Steuern und mit Abgaben tolerable Grenzwerte längst überschritten hat und daß die Belastungsmöglichkeiten ausgereizt sind.
Soweit sind wir uns, wie ich vermute, einig.
({0})
Aber hier trennen sich auch schon unsere Wege. Bei diesem Befund ist deutlich, daß Handeln geboten ist. Diese Koalition unter Führung von Bundeskanzler
Helmut Kohl hat die Herausforderungen auch und gerade in diesen Fragen angenommen.
({1})
Wir haben im Januar dieses Jahres das 50-PunkteProgramm verabschiedet. Wir haben das Programm für Wachstum und Beschäftigung, das sich mitten in der Umsetzung befindet, kreiert und sind dabei, es zu verabschieden. Wir haben das Jahressteuergesetz 1996 nach langen Mühen und zähem Ringen mit der Opposition verabschiedet und sind jetzt dabei, mit dem Jahressteuergesetz 1997 weitere entscheidende Antworten zu geben.
({2})
Wie sieht in dieser schwierigen Situation - Heiner Geißler hat sie beschrieben - die Haltung der Opposition aus? Die Sozialdemokraten überlegen sich, ob und, wenn ja, wie möglicherweise reagiert werden soll. Heide Simonis aus dem hohen Norden fordert ein Sparpaket ein, weil sie den finanziellen Druck der Länder natürlich spürt. Der Parlamentarische Geschäftsführer Struck entgegnet, solch eine Forderung sei völlig unverständlich, die Opposition mache sich doch nicht unnötig unbeliebt. Lafontaine will da und dort Leistungen, wie er sagt, zurücknehmen, ohne zu sagen wo. Schröder sagt: Die Wirtschaft muß gestärkt werden. Schleußer sagte vorgestern, die Entlastung der Wirtschaft sei nicht nötig. Scherf, der bremische SPD-Politiker,
({3})
schreibt seinem Bundesvorsitzenden Lafontaine, er sehe mit großer Sorge - wörtlich Scherf - die Totalkonfrontation der SPD gegenüber den Plänen der Koalition, und das würde das Vertrauen der Bevölkerung in die SPD beschädigen.
Gestern wurde in Bonn eine große internationale Konferenz mit dem schönen Titel „Beschäftigungspolitische Entwicklungen und Strategien in Europa, USA und Japan - Was kann Deutschland davon lernen?" abgehalten.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, es ist reichlich spät, kann ich nur sagen, wenn Sie sich erst jetzt mit diesen Fragestellungen befassen. Hätten Sie das vor der Sommerpause getan und wären Sie einsichtig gewesen, dann - da bin ich ganz sicher - hätten wir kein Vermittlungsverfahren gebraucht.
({5})
Der Bundesrat hätte zugestimmt, und wir wären bereits jetzt ein gehöriges Stück weiter.
({6})
Was ist Ihre Methode? Sie stimmen im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß vorsichtshalber einmal
dagegen. Ich möchte dem Kollegen Dreßler, der im Moment nicht da ist, etwas entgegenhalten.
({7}) - Wo ist er?
({8})
Herr Dreßler, es scheint mir wichtig zu sein, daß hier keine Geschichtsklitterung über das Verhalten der Koalition im Vermittlungsausschuß und im Vermittlungsverfahren vorgenommen wird. Ich möchte dies an diesem ganz konkreten, aktuellen Fall einmal exemplifizieren.
Wir haben vor der Sommerpause zu den in Frage stehenden Gesetzen verhandelt; wir sind nicht einig geworden. Es gab Arbeitsgruppen; sie sind nicht einig geworden. Wir haben vor der Sommerpause einen Fahrplan festgelegt, der besagt hat: Wir werden uns in der Sommerpause bemühen. Der Fahrplan hat die Sitzung des Vermittlungsausschusses in dieser Woche vorgesehen. Er hat, wenn es keine Einigung gibt, diese Sitzung heute vorgesehen.
Dann sollten die Arbeitsgruppen tagen. Und was ist passiert? Am Tag vor der Sitzung der Arbeitsgruppe hat die ehemalige Troika Lafontaine, Scharping und Schröder deutlich gemacht, daß sie dieses Sparpaket, wie sie es genannt haben, ablehnen werden.
({9})
Sie waren nicht vermittlungsbereit, Sie waren nicht vermittlungsfähig, und dies muß hier natürlich zum Ausdruck gebracht werden.
({10})
Herr Kollege Dreßler, ich füge ein Weiteres hinzu: Blockadepolitik, wie Sie sie betreiben, kann selbstverständlich auch durch eine ganz bewußte Verzögerung von Gesetzesmechanismen herbeigeführt werden.
Herr Kollege Repnik, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Herr Präsident, ich würde diesen Gedanken gerne noch zu Ende führen. Denn das möchte ich nicht gerne hier im Raum stehenlassen.
Sie haben gesagt, wir sollten Fälle nennen. Ich erinnere an das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz. Ich erinnere an die Strukturreform in der GKV. Ich erinnere an die Verzögerungspolitik im Jahressteuergesetz 1996, die uns wertvolle Zeit gekostet hat.
({0})
Ich erinnere an das Asylbewerberleistungsgesetz. Das alles sind Gesetze, bei denen Sie ein gängiges
Verfahren mit schnellen Entscheidungen verhindert haben, was unsere Situation nicht erleichtert hat.
({1})
Wie außer mit Blockade, Herr Kollege Dreßler, ist ein derartiges Vorgehen sonst zu bezeichnen? -Diese Antwortung dürfen Sie mir jetzt gerne in der Zwischenfrage geben.
Der Kollege Dreßler, aber auch die Kollegin Matthäus-Maier würden gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, beide zu beantworten?
Gerne, Herr Präsident.
Bitte, Herr Kollege Dreßler.
Herr Kollege Repnik, darf ich Sie darüber aufklären und Sie gleichzeitig fragen, ob Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, wissen, nämlich daß der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung der SPD-Bundestagsfraktion vor den parlamentarischen Beratungen in Gegenwart von Repräsentanten der Koalitionsfraktionen erklärt hat, daß dieses Gesetzgebungsverfahren mit allen vorgeschlagenen Inhalten nicht verhandlungsfähig sei?
Wissen Sie, Herr Repnik, und sind Sie bereit, Ihre Meinung zu ändern, wenn Sie das nicht gewußt haben, daß in der Unterkommission des Vermittlungsausschusses die Abgeordneten Möllemann und Lohmann für die Koalitionsfraktionen erklärt haben, die Inhalte seien nicht verhandlungsfähig, sie würden -Zitat - durchgezogen?
Wissen Sie, Herr Repnik, daß im Vermittlungsausschuß die Vertreter der B-Seite, also CDU, CSU und F.D.P., sowie Landesregierungen erklärt haben, daß es sich nicht lohne zu verhandeln? Man wolle - Zitat -durchziehen.
Sind Sie unter diesen Gesichtspunkten bereit, Ihre eben gemachte Vorwurfliste gegen mich zu revidieren?
({0})
Nein, Herr Kollege Dreßler, dazu bin ich nicht bereit. Richtig ist folgendes: Diese Koalition hat einen Wählerauftrag, und diesen Wählerauftrag werden wir erfüllen.
({0})
Deshalb ist es geradezu konsequent, daß wir uns überall dort, wo es der Zustimmung der Opposition nicht bedarf - bei Einspruchgesetzen, bei nicht zustimmungsbedürftigen Gesetzen -, nicht auf Kompromisse, im Zweifel auf faule Kompromisse, einlassen.
({1})
Dennoch haben wir im Vermittlungsverfahren im Vermittlungsausschuß darüber gesprochen, daß wir das Thema vertiefen wollen. Es wurden Arbeitsgruppen gebildet, und Sie haben in dem fraglichen Zeitraum bis zum heutigen Tage - auch heute sind Sie uns Antworten schuldig gebheben - keine Vorschläge eingebracht, wie wir in dieser Frage möglicherweise doch vermittelnd hätten tätig werden können.
Herr Kollege Repnik, jetzt möchte gerne der Kollege Dreßler eine weitere Frage stellen. Dann ist die Kollegin Matthäus-Maier an der Reihe. Inzwischen hat sich auch der Kollege Blüm zu einer Zwischenfrage gemeldet. Also, das nächste Debattenstück spielt sich im Wege von Frage und Antwort ab.
Bitte, Herr Kollege Dreßler.
Herr Kollege Repnik, darf ich Ihre Antwort, die Sie mir gerade erteilt haben, so verstehen,
({0})
daß Sie der Auffassung sind, daß eine parlamentarische Opposition in einer Demokratie ihre verfassungsmäßigen Rechte, weil die CDU zur Zeit die Mehrheit hat, nicht wahrnehmen darf? Und darf ich Sie so verstehen,
({1})
daß die von uns eingebrachten Gesetzentwürfe -nicht Anträge - zur Gesundheitspolitik von Ihnen immer noch nicht zur Kenntnis genommen worden sind, weil Sie gerade wieder mangelnde Alternativen reklamiert haben?
Ihrer zweiten Aussage stimme ich zu.
({0})
Zu Ihrer ersten Aussage kann ich nur sagen: Sie haben zwei Monate verstreichen lassen und haben einen Tag vor Beginn des Vermittlungsverfahrens darum gebeten, wir mögen uns einmal mehr Zeit nehmen, uns zusammenzusetzen. Aber genau diese Zeit, Herr Kollege Dreßler, haben wir auf Grund der wirtschaftlichen, der finanzpolitischen, der gesundheitspolitischen Situation - ich habe vorhin darauf hingewiesen - nicht mehr. Deshalb haben wir so gehandelt, wie wir gehandelt haben.
({1})
Frau Kollegin MatthäusMaier.
Herr Repnik, Sie wollten den Eindruck erwecken, Ihnen sei an Verhandlungen und auch an Kompromissen gelegen, und wir würden dies blockieren. Jetzt frage ich Sie: Meinen Sie wirklich, Sie könnten das glaubwürdig
erzählen, wenn Sie Ihr Kürzungspaket ganz bewußt sorgfältig in zustimmungsfreie Teile, wo Sie die SPD nicht brauchen, und in einen anderen Teil aufspalten?
({0})
Glauben Sie ernsthaft, daß wir als Opposition bei den zustimmungsfreien Teilen, die wir für falsch und beschäftigungsfeindlich halten - nämlich die Kürzung der Lohnfortzahlung, die Anhebung des Rentenalters für Frauen und schließlich die Aufhebung des Kündigungsschutzes -, gerade nachdem Sie das Kürzungspaket aufgespalten haben, Mitverantwortlichkeit dafür übernehmen? Das glauben Sie doch nicht ernsthaft, Herr Kollege.
({1})
Wenn Sie zweitens anmahnen, wir wären nicht kompromißfreundlich, und in dem Zusammenhang das Jahressteuergesetz nennen, darf ich Sie darauf hinweisen, was wir Sozialdemokraten von Kompromissen halten müssen und dürfen, nachdem wir für 1997 gemeinsam die Erhöhung des Kindergeldes auf 220 DM vereinbart haben. Vier Monate nach Inkrafttreten wollen Sie den Teü des Kompromisses schon wieder kippen. Da werfen Sie uns Kompromißunfähigkeit vor? Sie sind unfähig, Kompromisse einzugehen und die Menschen davon zu überzeugen.
({2})
Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Lautstärke macht Ihre Argumente nicht treffender.
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Wenn wir jetzt beim Gesetz zur Wachstums- und Beschäftigungsförderung diesen Weg beschritten haben, dann nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen, die wir in der Zusammenarbeit mit der Opposition auch im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß machen mußten. Es hegt doch geradezu auf der Hand. Ich sprach vorher von den Verzögerungen. Auch dies ist ein Teil der Blockade. Sie haben offensichtlich immer noch nicht begriffen, daß uns die Zeit davonläuft. Wir müssen handeln und dürfen keine Zeit verlieren.
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Deshalb haben wir gesagt: Den Teil, den wir ohne die Zustimmung der Opposition beschließen können, werden wir am 13. September dieses Jahres durch die Kanzlermehrheit beschließen. Ich entlasse Sie nicht aus der Verantwortung und aus der Pflicht. Ihre Politik in diesem Zusammenhang ist eine Blockadepolitik. Sie gefährdet nicht nur den Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern sie gefährdet auch den Sozialstaat durch Überforderung.
Herr Kollege Blüm.
Herr Kollege Repnik, können Sie dem Kollegen Dreßler beibringen:
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Wenn kein Sparvorschlag der SPD vorliegt, kann man mit der SPD auch nicht über Sparkompromisse verhandeln. Mit Null kann man nicht verhandeln.
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Verehrter Herr Kollege Blüm, ich habe es vorher versucht zu sagen, aber es ist nicht gelungen. Deshalb sollten wir es dabei bewenden lassen und weiter unsere Arbeit tun wie bisher.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir stehen doch in unserer wirtschaftlichen Konkurrenzsituation nicht allein. Die Globalisierung der Weltwirtschaft, die Globalisierung der Märkte verlangt doch nach Antworten. Wir geben sie, diese Antworten. Übrigens nicht nur wir - auch darauf möchte ich den Kollegen Dreßler aufmerksam machen -: Schweden, Österreich und die Niederlande wurden angeführt. Der Kollege Geißler hat darauf hingewiesen: Unser Paket umfaßt 0,4 Prozent des Bruttosozialproduktes, die wir zurückfahren. In Schweden sind es 1,75 Prozent, in Österreich 1,2 Prozent, in den Niederlanden 1,25 Prozent - alles von sozialdemokratischen Ministerpräsidenten oder einem sozialdemokratischen Kanzler geführte Regierungen. Wir zerstören genausowenig wie jene die soziale Marktwirtschaft, wie es Lafontaine behauptet hat, sondern wir schützen und sichern sie in schwierigen Zeiten.
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Wir, diese Koalition, handeln verantwortungsbewußt und nicht opportunistisch und schon gar nicht populistisch. Apropos Populismus: Noch nicht einmal hier, habe ich das Gefühl, liegen Sie richtig. Im Gegensatz zur Mehrheit bei Ihnen hat der Bürger im Lande weithin begriffen, daß Handlungsnotwendigkeit besteht. Wer sich in der Sommerpause in seinem Wahlkreis umgesehen hat, der weiß doch, wie der Bürger denkt. Ich spreche nicht von Funktionären, sondern ich spreche von Arbeitnehmerinnen und von Arbeitnehmern, ich spreche von Arbeitslosen, und ich spreche von Vertrauensleuten in Gewerkschaften und in Betrieben, bei denen die Beschäftigungssituation schwierig ist.
Wer dies immer noch nicht glaubt, der möge sich einmal mit demoskopischen Daten vertraut machen.
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- Ich würde Sie bitten, mir zuzuhören. Es ist schon interessant, was Frau Dr. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach geschrieben hat. Sie stellt fest:
Zwei Drittel der gesamten Bevölkerung gehen davon aus, daß die aktuellen Probleme nicht Ergebnisse einer bloßen Konjunkturschwäche sind, sondern eine grundlegende Wende markieren. Die Bevölkerung hat erkannt, daß Deutschland in
einer Umbruchphase lebt, die von allen Umstellungen verlangt.
Wenn Sie das möglicherweise nicht interessiert -ich kann nur sagen: Mich beeindrucken Daten schon. Ich will hier nur drei aus einer solchen Umfrage nennen. 65 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung: Was jetzt bei uns passiert, ist keine normale Wirtschaftskrise, die wieder vorbeigeht. Bei uns findet jetzt der große Umbruch statt. Viele Industriezweige haben bei uns keine Chance mehr und werden sterben. Wir werden uns alle umstellen müssen.
Verzicht auf Sonderleistungen, um den Arbeitsplatz zu sichern: 64 Prozent der Bevölkerung sind dieser Meinung.
Mehrarbeit ohne zusätzlichen Lohn, um den Arbeitsplatz zu sichern: 60 Prozent sind dieser Meinung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, nutzen wir doch gemeinsam diese Bereitschaft, die in der Bevölkerung vorhanden ist, um diese Herausforderungen anzunehmen.
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Die Zeit drängt. Wir brauchen neue Fundamente für eine Sozialpolitik, die Bedürftige unterstützt und zugleich von einer dynamischen und wettbewerbsfähigen Wirtschaft mitgetragen werden kann.
Ich frage mich - ich möchte mich damit an den Herrn Kollegen Professor Pfaff wenden -: Beunruhigt es Sie eigentlich nicht, wenn Sie die Investitionen, die Deutsche im Ausland tätigen, zu den Investitionen, die von Ausländern in Deutschland getätigt werden, in Vergleich setzen? Das Verhältnis war über Jahre hinweg 1:2, heute ist es 1:7. Woran liegt das? Es liegt nicht zuletzt an der Kostensituation am Standort Deutschland.
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Herr Kollege Repnik, darf ich Sie einen Moment unterbrechen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Repnik hat jetzt noch gute zwei Minuten Redezeit. Dann haben wir eine Kurzintervention, dann kommen noch eine Dreiminutenrede und eine Neun-minutenrede, und dann kommen wir zur Abstimmung. Ich bitte Sie doch, den Rednern jetzt Gehör zu schenken und, wenn Sie Gesprächsbedürfnis haben, dies außerhalb des Saales zu befriedigen.
Bitte, Herr Kollege, fahren Sie fort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Programm beginnt doch zu greifen - vorsichtig, zugegeben, aber wir haben doch erste Zeichen. Wir haben ganz offensichtlich das Vertrauen in die Reformfähigkeit dieser Gesellschaft, in die Reformfähigkeit der Politik wieder gestärkt. Das Vertrauen kehrt zurück, und das Vertrauen in den Standort Deutschland wächst. Diese Entwicklung müssen wir unterstützen.
Lassen Sie mich deshalb ein letztes Augenmerk auf ein anderes Thema werfen. Nicht nur das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz, sondern auch das Jahressteuergesetz 1997, das vor uns liegt, ist ungeheuer wichtig. Mein Appell an Sie, Frau Kollegin Matthäus-Maier, an alle: Machen Sie doch mit!
Lafontaine hat in diesen Tagen gesagt, die Investitionsfähigkeit der Betriebe müsse gestärkt werden. Was wollen wir? Wir wollen die Erbschaft- und Vermögensteuer vereinfachen; die betriebliche Vermögensteuer soll dabei ganz entfallen. Sie beeinträchtigt wie die Gewerbekapitalsteuer, wie wir alle wissen, die Ansammlung von Eigenkapital. Sie belastet in ertragsschwachen Jahren oder Verlustphasen die Unternehmenssubstanz.
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Sie ist technik- und innovationsfeindlich; sie gefährdet die Arbeitsplätze. Auch deshalb ist es wichtig, daß wir die nächsten Monate nutzen, dieses Gesetz voranzubringen. Unser Steuersystem muß den veränderten internationalen Verhältnissen angepaßt werden.
Mein letzter Appell geht an die Bundesländer. Das Jahressteuergesetz 1997 muß zügig verabschiedet werden.
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Ohne Einigung beim Jahressteuergesetz 1997 laufen die Länder Gefahr, erhebliche Einnahmeverluste hinnehmen zu müssen. Die Konsolidierung ihrer Haushalte wird nicht ohne eine Verabschiedung dieses Gesetzes möglich sein. Saarland, Bremen, Hamburg, Niedersachsen - die Haushalte all dieser Länder hegen bereits jenseits der Verfassungsmäßigkeit.
Ich erinnere an die Situation in den neuen Bundesländern. Wenn wir dieses Gesetz nicht verabschieden, werden wir dort zum 1. Januar 1997 die Gewerbekapitalsteuer einführen müssen - in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation. Auch dies wäre ein Rückschlag und würde sich auf den Arbeitsmarkt negativ auswirken.
Das konstruktive Mitwirken beim Jahressteuergesetz 1997, die Bereitschaft, beim Haushalt 1997 gemeinsam mit Theo Waigel, mit dieser Regierung zu sparen, um Spielräume für Investitionen zu eröffnen, um die Senkung von Steuern und Abgaben und damit eine Rückführung der Staatsquote zu ermöglichen, sind für uns der Lackmustest, um festzustellen, ob es der Opposition ernst ist, den Standort Deutschland für die Zukunft, für künftige Aufgaben zu rüsten, ob es der Opposition ernst ist, die Arbeitslosigkeit abzubauen.
Die Redezeit!
Wir werden die Opposition daran messen; aber nicht nur wir, sondern auch der Bürger und nicht zuletzt die Arbeitslosen in Deutschland.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Karl Hermann Haack.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich gemeldet, weil der Kollege Repnik die Kompromißfähigkeit der SPD-Bundestagsfraktion bei der Behandlung der Sparpakete angemahnt hat. Ich will dazu zwei Bemerkungen machen.
Erstens will ich etwas zu den Kürzungspaketen sagen. Herr Kollege Repnik, Sie haben hier die halbe Wahrheit erzählt. Richtig ist: Schweden und auch andere Länder, zum Beispiel Österreich, haben weitreichende Einschnitte in ihr soziales Netz sowie in ihr Finanz- und Steuergefüge vorgenommen. Das verlief im Unterschied zum Vorgehen der Koalition, der Sie angehören, anders: In Schweden sind Konsensgespräche vorausgegangen. Die gesellschaftlichen Gruppen waren daran beteiligt, so daß die Kürzungspakete sowohl in Österreich als auch in Schweden im Konsens beschlossen wurden.
Ich denke, diese Feststellung gehört dazu; sonst ist das, was Sie hier erzählt haben, eine Lüge. Ich benutze das Wort „Lüge" deshalb, weil der entscheidende Punkt in der gesamten sozial- und finanzpolitischen Debatte der ist, daß wir in unserer Gesellschaft bei dieser Operation unter dem Stichwort „Globalisierung" auf den gesellschaftlichen Konsens angewiesen sind. Wir streiten nicht über das Ob, sondern über das Wie.
Zweitens möchte ich Lahnstein ansprechen. Ich war dabei, als es um das Gesundheitsstrukturgesetz ging. Ich habe die Rede des Bundesgesundheitsministers zu diesem Punkt noch einmal nachgelesen. Er hat das Ergebnis von Lahnstein gelobt, ebenso Dr. Thomae als damaliger Vorsitzender der zuständigen Arbeitsgruppe des Gesundheitsausschusses.
Sie haben diesen Kompromiß aufgekündigt, und
zwar schlicht und einfach deshalb, weil Sie gemerkt haben, daß Sie als F.D.P. mit Ihrer Klientel nicht zurechtgekommen sind. Mindestens bis zu den Wahlen im März dieses Jahres haben Sie die Bevölkerung der Bundesrepublik in dieser Frage getäuscht.
Der Bundesgesundheitsminister hat den mit der SPD gefundenen Kompromiß von Lahnstein, das Gesundheitsstrukturgesetz, nicht umgesetzt. Er hat die Öffentlichkeit bewußt getäuscht, um einen Hebel zu finden, zu den alten verheerenden Zuständen zurückkehren, also Kürzungen, Zuzahlungen und Belastungen der Bevölkerung durchsetzen zu können.
Das halte ich für den eigentlichen Skandal in dieser Geschichte - ich selbst war in Lahnstein dabei -: Sie von der Koalition haben seinerzeit gesagt, hier
Karl Hermann Haack ({0})
liege ein Fortschritt in der politischen Kultur vor, man habe sich verständigt. Dann aber haben Sie den Kompromiß aufgekündigt.
Und dann besitzen Sie noch die Unverschämtheit, sich hier hinzustellen und zu fordern - ich will Ihnen das am Beispiel der Rehabilitation schildern, denn bei den Kuren kürzen Sie 3,3 Milliarden DM -, daß wir einem Arbeitsplatzabbau in 269 Kur- und Heilbädern in der Bundesrepublik die Hand reichen sollen. - Das tun wir nicht, weil wir diese Politik für falsch halten. Insofern ist das, was Sie hier einfordern, ein Stück an politischer Verderbtheit und Verlogenheit.
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Herr Kollege Haack, ich weiß nicht, ob diese Wortwahl noch parlamentarisch erträglich ist. Jedenfalls halte ich es für überflüssig, am Schluß einer so wichtigen Debatte diese Art von Schärfe in die Diskussion zu bringen.
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Als nächstes hat zur Replik das Wort der Kollege Repnik, wenn er es wünscht. - Das ist nicht der Fall.
Im übrigen habe ich die herzliche Bitte: Lassen Sie uns die letzten zwei Redner noch einigermaßen diszipliniert anhören! Danach kommen wir zur Abstimmung.
Ich erteile der Kollegin Dr. Knake-Werner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Minister Blüm hat heute morgen festgestellt, Worte seien genug gewechselt, jetzt brauche man Mut zur Entscheidung. - Nein, Herr Minister, ich glaube, es ist nicht Mut, was von Ihnen aufgebracht wird, sondern eine gehörige Portion Unverfrorenheit, wenn Sie dieses Paket so durchziegeln wollen, wie Sie es vorhaben.
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Weder die weiter dramatisch anwachsende Zahl der Arbeitslosen noch die Ergebnisse des Ifo-Gutachtens zum Stellenwert der Lohnkosten oder die neuesten Berechnungen des DIW zur Verteilungsfrage und schon gar nicht der anwachsende Protest außerhalb dieses Hauses haben Bundesregierung und Koalition in ihrem Vorhaben erschüttert, jetzt den Sozialstaat zum Abriß freizugeben. Sie sind lernunfähig, dogmatisch, und Ihre Politik erschöpft sich im Herbeten von Glaubenssätzen.
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Man kann es gar nicht oft genug sagen: Mit den sogenannten Sparpaketen wird es nicht nur gravierende Abstriche bei den Sozial- und Gesundheitsstandards geben, sondern es wird auch der Systembruch, der Weg in eine andere Republik vorbereitet. Wie sonst ist es zu erklären, daß Sie sich bei dem angeblich so drückenden Sparzwang im arbeitsrechtlichen Teü der Gesetze auf Bereiche konzentrieren, die dem Bundeshaushalt keine müde Mark einbringen? Ich nenne sie: die Kürzung der Lohnfortzahlung, die Aufweichung des Kündigungsschutzes oder die Einschränkung der Rechte des Betriebsrats beim Interessenausgleich. Das ist ein Wechsel in die
Zukunft, ein Kotau vor den Unternehmerinteressen ohne jede Garantie auf Erfolg.
Unter dem Vorwand globaler Sachzwänge verschlechtern Sie Arbeitsschutz- und Mitbestimmungsrechte und deregulieren, was das Zeug hält. Dabei kommt es zu einer zutiefst arbeitnehmerfeindlichen, aber vor allen Dingen zu einer zutiefst frauenfeindlichen Politik. Sie kündigen die Grundlagen des sozialen Kompromisses auf und verstoßen massiv gegen die Prinzipien des sozialen Rechtsstaates. Von dieser Politik fühlen sich viele zu Recht provoziert. Ich hoffe, die Betroffenen werden Ihnen am 7. September genauso eindrucksvoll wie am 15. Juni ihren Protest und ihre Wut entgegenbringen.
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Denn inzwischen - bei aller Begriffsverballhornung, die Sie an den Tag legen - ist für jeden erkennbar geworden, daß bei Ihnen Reformen nichts anderes bedeuten als Leistungskürzung und Demokratieabbau, Eigenverantwortung nichts anderes bedeutet als Privatisierung sozialer Risiken. Sie wollen die Unternehmer aus ihren sozialen Pflichten entlassen, in der vagen Hoffnung, daß sie dafür Arbeitsplätze schaffen. Aber warum sollen die Unternehmer das eigentlich tun? Sie haben das schon in den letzten Jahren trotz Steuersenkung und dicker Subventionen nicht getan.
Die Redezeit ist abgelaufen, Frau Kollegin.
Oh, das ist ja sehr bedauerlich.
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Es gibt noch viel, was man zu diesem Gruselkatalog hätte sagen können. Das muß ich Ihnen jetzt leider ersparen.
Die PDS wird Ihre Gesetze weiterhin ablehnen und ihre ganze Kraft dafür einsetzen, daß Sie mit Ihrer Politik nicht durchkommen.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Ramsauer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, am Ende dieser Debatte ist, abgesehen von irgendwelchen Unverbesserlichen, allen klar geworden, daß der Sozialstaat so, wie wir ihn bisher in Deutschland praktiziert haben, realistischerweise nicht weiter finanzierbar ist.
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Deswegen woben wir mit diesem Reformprogramm alles daransetzen, damit die Belastungen auf allen Seiten wieder in Einklang mit dem gebracht werden, was auf der anderen Seite ausgegeben wird.
Ich fasse die Ziele noch einmal zusammen: Rückführung der Belastung durch Abgaben sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber, Abbau von Einstellungshemmnissen und Bekämpfung von Mißbrauch.
Jetzt ein Wort an Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Auch die heutige Debatte hat gezeigt: Eines Ihrer großen Probleme besteht darin Dr. Peter Ramsauer
sehen Sie sich die Meinungsumfragen an -, daß die Menschen Ihnen nicht mehr zutrauen, mit den Problemen der Zukunft in diesem Land fertigzuwerden.
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In großen Scharen laufen Ihnen die Arbeitnehmer davon, den Gewerkschaften natürlich auch. Die Arbeitnehmer trauen Ihnen nicht mehr zu, zukunftsfähige Lösungen für unser Land zu finden.
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Sie fühlen sich von der SPD und auch von den Gewerkschaften immer weniger vertreten.
Ein Beitrag, den Sie selbst liefern, ist das ständige Hü und Hott in Ihrer eigenen Partei. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das, was sich in Hamburg in den letzten Tagen an Streit im Hinblick auf die Praxis bei der Sozialhilfe abgespielt hat, ist für die ganze SPD symptomatisch: Der eine sagt dies, der andere das. Ausgerechnet Sie wollen dieser Koalition sagen, welches der richtige Weg in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist! Wo denken Sie hin? Sie leiden ja an totaler politischer Selbstüberschätzung; Sie sollten die Dinge jetzt wieder ins Lot bringen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, maßgebend für sozialpolitisches Handeln kann heute nicht mehr allein sein, was aus isolierter, inländischer Sicht wünschenswert wäre. In dieser Debatte ist viel von den globalen Auseinandersetzungen die Rede gewesen, denen wir ausgesetzt sind. Im weltweiten Wettbewerb müssen sich alle bewähren, die am wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Geschehen in diesem Land Anteil nehmen. Arbeitnehmer und Arbeitgeber können sich heute nicht mehr klassenkämpferisch bekriegen; der Klassenkampf ist passe. Sie alle sind Mitglieder einer Schicksalsgemeinschaft, einer Risikogemeinschaft, die sich im weltweiten Wettbewerb bewähren muß.
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Es ist keineswegs so, daß sich in diesem globalen Wettbewerb nur große Industrieunternehmen wie Daimler oder Siemens bewähren müßten. Nein, es sind inzwischen unzählige Zehntausende kleiner und mittlerer Unternehmen. Schauen Sie einmal in Ihre eigenen Wahlkreise! Viele kleine und mittelständische Unternehmen sind bereits von diesem globalen Wettbewerb betroffen - als Zulieferer oder als solche, die sich in die Märkte begeben. Von der SPD muß man manchmal glauben, daß sie sich in ihren eigenen Wahlkreisen nicht mehr auskennt.
Meine Damen und Herren, es geht heute also nicht mehr um Klassenkampf. Es stellt sich vielmehr die Frage, welche und wieviel Arbeit wir in Deutschland in fünf oder zehn Jahren haben werden. Die Arbeit wird weltweit neu verteilt. Mit dieser Frage müssen wir uns heute weichenstellend auseinandersetzen. Wenn wir dies nicht tun, kommen wir unserer Aufgabe nicht nach.
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Zu den notwendigen Veränderungen in unserem Sozialsystem gibt es keine Alternative. Die Sozialsysteme sind anpassungsfähig, ohne daß wir die Grundprinzipien aufgeben müßten. Eines dieser Grundprinzipien ist die Solidarität, nicht aber nur die Solidarität mit den Leistungsbeziehern, sondern auch die Solidarität mit den Leistungserbringern.
Im Ifo-Gutachten vom Frühjahr dieses Jahres ist ausgeführt, daß die durchschnittliche Abgabenbelastung bei Arbeitseinkommen mittlerweile bei 48 Prozent liegt. Ich halte dies auf Dauer für vollkommen unzumutbar. Deswegen müssen wir diese Quote zurückschrauben. Die Solidarität mit den Leistungserbringern ist auch eine Frage der sozialen Symmetrie. Wir dürfen nicht nur auf die Leistungsbezieher schauen, sondern müssen auch diejenigen berücksichtigen, die den Kuchen, der verteilt wird, erwirtschaften.
Meine Damen und Herren von der SPD, offensichtlich würden Sie sich freuen, wenn wir die Hände in den Schoß legten und nichts tun würden. Was würde dann passieren? Wir wissen genau, daß dann der Gesamtsozialversicherungsbeitrag im nächsten Jahr deutlich über 42 Prozent ansteigen würde. Deswegen müssen wir dieses Reformpaket ohne jegliche Abstriche umsetzen. Es ist ohnehin ein knapp geschneiderter, vorweggenommener Kompromiß, der keinerlei Abstriche mehr duldet. Das Ifo-Institut hat errechnet, daß mit jedem Prozentpunkt, den wir beim Gesamtsozialversicherungsbeitrag wegschmelzen, etwa 100 000 Arbeitsplätze neu geschaffen werden.
Jetzt noch einmal ein Blick darauf, um was es überhaupt in den Globalrechnungen, die auch heute angestellt worden sind, geht. Wir erzielen mit diesem Reformpaket ein Reduktionsvolumen von 21 bis 22 Milliarden DM. Im heurigen Jahr betragen die Ausgaben der Pflegeversicherung insgesamt 31 Milliarden DM. Der Familienleistungsausgleich erfordert durch die Neuregelung noch einmal 7 Milliarden DM. Das sind 38 Milliarden DM, die das Sozialsystem allein durch Pflegeleistungen und Familienleistungsausgleich heuer mehr ausschüttet. Wir kürzen im nächsten Jahr um 21 bis 22 Milliarden DM durch dieses Reformpaket. Es bleibt ein positiver Saldo von 16 bis 18 Milliarden DM. Da reden Sie von sozialem Kahlschlag, meine Damen und Herren von der Opposition!
Weiterhin wird jede dritte Mark in Deutschland für soziale Zwecke ausgegeben. Da reden Sie, Herr Dreßler, von „Kapitalismus pur". Das kann doch nicht sein! Noch nie wurde in Deutschland so viel für soziale Zwecke ausgegeben, wie dies heute der Fall ist. Wir werden im nächsten Jahr etwa 1 200 Milliarden DM soziale Transferzahlungen leisten. Jede dritte Mark wird dafür ausgegeben.
Aber, meine Damen und Herren, es geht nicht nur ums Geld. Viel Geld ist nicht gleichzusetzen mit viel Sozialstaat. Es ist der Schluß gerechtfertigt, daß es am Geld allein nicht liegt. Sozialstaat bedeutet mehr als finanzielle Aufwendungen. Er bedeutet auch menschliche Hinwendung zu denen, die sozialer Hilfe bedürfen. Gerade in dieser Situation müssen wir die Chance zu einer Neuabgrenzung zwischen Eigenverantwortung einerseits und dem, was die Solidargemeinschaft andererseits für die von irgendwelchem Leid Betroffenen zu tragen hat, nutzen.
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Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben ja gestern in Bad Godesberg eine große Wirtschaftstagung abgehalten. Eine der Forderungen, die Sie an sich selbst gestellt haben, war, für die SPD mehr wirtschaftspolitisches Profil zu gewinnen. Mit der Haltung, die Sie in der heutigen Debatte wieder an den Tag gelegt haben, werden Sie diesem selbstgestellten Anspruch überhaupt nicht gerecht. Sie hätten aber reichlich Gelegenheit, diesem Anspruch etwas mehr gerecht zu werden und etwas mehr Profil in der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik zu zeigen, indem Sie unseren Weg auf der Basis des Reformpaketes mitgehen.
Sie haben statt dessen mit den anderen in der Opposition die Verweigerung zum politischen Prinzip im Vermittlungsausschuß erhoben. Verweigerung ist ein vollkommen untaugliches politisches Prinzip. Deswegen lehnen wir heute die Empfehlungen des Vermittlungsausschusses ab.
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Meine Kolleginnen und Kollegen, wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses ab. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, jeweils unter Aufhebung der Gesetzesbeschlüsse die Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen abzulehnen.
Es ist vorgesehen, die Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses in zwei Blöcken jeweils zusammen abzustimmen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 2 bis 6 auf:
2. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung ({1})
- Drucksachen 13/4610, 13/4987, 13/5088, 13/5108, 13/5147, 13/5327, 13/5445 -Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Peter Struck
3. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz zur Ergänzung des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes ({3})
- Drucksachen 13/4611, 13/5089, 13/5108, 13/5327, 13/5446 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
4. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({4}) zu dem Arbeitsrechtlichen Gesetz zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung ({5})
- Drucksachen 13/4612, 13/5107, 13/5327, 13/ 5447 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
5. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({6}) zu dem Gesetz zur Begrenzung der Bezügefortzahlung bei Krankheit
- Drucksachen 13/4613, 13/5074, 13/5327, 13/5448 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
6. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({7}) zu dem Gesetz zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung ({8})
- Drucksachen 13/4615, 13/5099, 13/5327, 13/5449 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die den fünf Beschlußempfehlungen zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlungen sind bei einer Enthaltung abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 bis 9 auf:
7. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({9}) zu dem Gesetz zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1997 - Krankenhaus-Neuordnungsgesetz 1997 ({10})
- Drucksachen 13/3062, 13/3939, 13/4693, 13/4937, 13/5442 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heribert Blens
8. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({11}) zu dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Strukturreform in der gesetzlichen Krankenversicherung ({12})
- Drucksachen 13/3608, 13/4691, 13/4937, 13/5443 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heribert Blens
9. Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({13}) zu dem Achten Gesetz zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch ({14})
- Drucksachen 13/3695, 13/4692, 13/4937, 13/5444 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heribert Blens
Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die den drei Beschlußempfehlungen zuzustimmen wünschen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die drei Beschlußempfehlungen sind abgelehnt.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, 10. September 1996, 11 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.