Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe heute die Aufgabe, eine Erklärung der Bundesregierung zu dem Thema „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" abzugeben. Ich denke, ungeachtet der Gegensätze in der Auseinandersetzung zu diesem Thema ist es sicher wichtig, daß wir uns in dieser Debatte gemeinsam vor Augen halten, in welchen Notwendigkeiten unser Land in diesem Augenblick steht und wie wichtig auch eine nüchterne Analyse der Gegebenheit ist.
Das Konjunkturtempo - ({0})
- Jetzt habe ich noch gar nichts gesagt, was Sie erregt, und Sie sind schon erregt.
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Es ist ein akustisches Problem, wir müssen den Ton ein wenig ausjustieren, man hört das nicht.
Verehrte Frau Präsidentin, ich bin für alles schuldig, aber für das heute nicht.
({0})
Eben, deswegen habe ich es auch schon an den Vorsitz gezogen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, das Konjunkturtempo hat sich in Deutschland spürbar verlangsamt. Das von vielen nationalen und internationalen Experten ursprünglich erwartete reale Wachstum von eineinhalb Prozent für dieses Jahr werden wir nicht erreichen. Dies werden die Wirtschaftsforschungsinstitute in den nächsten Tagen in ihrem Frühjahrsgutachten sicherlich so bestätigen.
Nach dem Stand unserer Diskussion erwarten wir in der Bundesregierung jetzt für 1966 ein reales Wachstum in der Gegend von dreiviertel Prozent - ({0})
- Entschuldigung, 1996. Ich bin aber gerne bereit, weil mir die Sache wirklich wichtig ist, zu warten, bis eine gewisse Möglichkeit der Verständigung hier eintritt.
({1})
Wir rechnen in der Bundesregierung nicht mit einer Rezession in Deutschland. Die allermeisten nationalen und internationalen Experten erwarten ein Wiederanziehen der Konjunktur in der zweiten Jahreshälfte. Wir sind ganz sicher, daß sich dies auch in den Zahlen für 1997 positiv niederschlagen wird.
Meine Damen und Herren, für mich ist auch klar, daß trotz aller Schwierigkeiten die Voraussetzungen für eine Verbesserung der Konjunktur günstig sind:
In Deutschland herrscht bei einer Inflationsrate von eineinhalb Prozent faktisch Preisstabilität. Die Bundesbank hat die Leitzinsen auf das niedrigste Niveau seit Kriegsende gesenkt. Die für die Investitionen entscheidenden langfristigen Zinsen haben auch im internationalen Vergleich ein sehr niedriges Niveau erreicht. Bei einem Vergleich der Wirtschaftsgipfelländer hat Deutschland heute die niedrigsten Zinsen nach Japan. Sie liegen spürbar unter den amerikanischen Zinsen. In der Tarifrunde 1996 zeichnen sich beschäftigungsfreundlichere Vereinbarungen ab, und der Welthandel zeigt einen soliden Aufwärtstrend.
Meine Damen und Herren, unabhängig vom kurzfristigen Auf und Ab der Konjunktur stehen Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik vor der Aufgabe, sich auf die dramatischen Veränderungen im internationalen Wettbewerb einzustellen und - das ist die eigentliche Aufgabe - den Standort Deutschland für das 21. Jahrhundert vorzubereiten.
({2})
Die jetzt zu beobachtende Konjunkturschwäche und der rasante Strukturwandel haben tiefe Spuren in unserer Gesellschaft und vor allem auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen.
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- Ich weiß nicht, Sie können das als Inszenierung sehen, wenn Sie glauben, auf diese Art zu stören. Ich habe nichts dagegen, daß ein Millionenpublikum im deutschen Fernsehen Ihre Reaktion jetzt in sich aufnimmt.
({4})
Die vorübergehende Konjunkturschwäche und der rasante Strukturwandel - ich sage das noch einmal - haben tiefe Spuren auf unserem Arbeitsmarkt hinterlassen. Die Arbeitslosigkeit hat mit über 4 Millionen ein Ausmaß erreicht, das wir auf gar keinen Fall akzeptieren werden. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist die wichtigste Aufgabe der deutschen Innenpolitik.
Wir haben die Erfahrung machen müssen, daß ein konjunktureller Aufschwung keineswegs automatisch auch zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit führt; das ist eine Erfahrung der letzten Jahre. Wir alle wissen ebenso, daß nach jeder Konjunkturschwäche ein höherer Sockel - das ist das eigentlich Besorgniserregende - an Arbeitslosigkeit zurückgeblieben ist.
Die Menschen in Deutschland haben längst begriffen, daß wir echte, durchgreifende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, um mehr Wachstumsdynamik zu ermöglichen und Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen. Die Bürger wissen auch, daß dies nicht ohne nachhaltige Sparmaßnahmen geht. Durch bloßes Festhalten an Besitzständen werden wir keine grundlegende Wende am Arbeitsmarkt schaffen.
({5})
Dabei ist Sparen natürlich kein Selbstzweck; wir müssen sparen, um die Zukunft zu sichern.
Wir haben uns im „Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" das Ziel gesetzt, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 auf die Hälfte zu reduzieren. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es ist ein erreichbares Ziel,
({6}) wie wir in der Vergangenheit bewiesen haben.
({7})
Erreichbar ist dieses Ziel, wenn alle Verantwortlichen auf den verschiedensten Ebenen - ob das Politik, Unternehmen oder Tarifparteien sind - dabei ihre Aufgaben wahrnehmen. Die Menschen im Land erwarten zu Recht, daß alle Verantwortlichen in der Gesellschaft die Herausforderungen annehmen und bereit sind, die notwendigen Anpassungen auf den Weg zu bringen.
Die dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft betreffen alle Länder. Wer die Diskussionen in den USA, in Japan oder bei unseren europäischen Nachbarn verfolgt, weiß, daß in allen Industrieländern in ähnliche Richtungen gedacht und gehandelt wird. Auch in all diesen Ländern stellen sich die Fragen, welche Auswirkungen die Globalisierung der Märkte auf Wachstum und Beschäftigung im jeweiligen Land hat, wie die Zukunft unter den veränderten Wettbewerbsbedingungen gesichert werden kann, wie die sozialen Sicherungssysteme vor dem Hintergrund starker Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung und ohne Überforderung der wirtschaftlichen Leistungskraft weiterentwickelt werden können, welche Veränderungen in Organisation und Arbeitsabläufen durch die neuen Technologien, etwa im Telekommunikationsbereich, notwendig sind und wie Bildung und Ausbildung verbessert werden müssen, um für die Herausforderungen der Zukunft gerüstet zu sein.
Viele Länder, man kann sagen, alle Länder in unserer Nachbarschaft stehen vor diesen Notwendigkeiten genauso wie wir in Deutschland. Manche von ihnen haben bereits strukturelle Veränderungen vorgenommen, die sie selbst bis vor kurzem für nicht durchsetzbar gehalten haben.
Ich will auf das Beispiel Schweden verweisen. Dort wurden die Volksrenten gekürzt, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wurde für die ersten Tage drastisch gesenkt, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe wurden zurückgeführt.
({8})
- Herr Abgeordneter, Ihr Beitrag ist immer der gleiche: laut und wenig bedeutungsvoll.
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In unserem Nachbarland, in den Niederlanden, wurden enorme Veränderungen der Strukturen vorgenommen. In Frankreich ist eine ähnliche Diskussion im Gange. Ich könnte die Liste noch weiter fortsetzen.
In einer Weltwirtschaft, in der nationale Grenzen ökonomisch immer weniger eine Rolle spielen, gelten eben andere Regeln, als wir dies durch eine lange Zeit auch bei uns in Deutschland gewöhnt waren. Heute müssen wir uns mehr denn je - vor allem als eine der großen Exportnationen der Erde - auf den internationalen Wettbewerb einstellen. Das muß Konsequenzen haben für die Steuern, für die Abgaben, für Lohn- und Lohnzusatzkosten sowie auch für viele Regulierungen.
Ich halte diese notwendigen Korrekturen für zwingend, um Zukunft zu sichern. Dies erfordert, daß wir uns umstellen, daß wir auch in diesem oder jenem Fall Ansprüche zurückstellen. Ich weiß sehr wohl, daß das mit Härten verbunden ist. Aber die unabweisbaren Korrekturen, meine Damen und Herren, sind der einzige Weg, unsere Wirtschaft zu stärken, mehr Arbeitsplätze zu ermöglichen und eine sichere Zukunftsgrundlage für unsere sozialen Sicherungssysteme zu schaffen.
Zu diesem Bild gehört auch, daß wir in einem Land leben, das ein Drittel seines Sozialprodukts für soziale Leistungen ausgibt, in dem die Arbeitnehmer kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaub haben als in fast allen Ländern, in dem die Renten so hoch sind wie in kaum einem anderen Land, in dem die Höhe der Lohnersatzleistungen und der Sozialhilfe in den allermeisten Fällen Not verhindert.
Wir müssen das Verhältnis sozialer Leistungen zur wirtschaftlichen Leistungskraft unter veränderten weltwirtschaftlichen und demographischen Bedingungen neu ausbalancieren und dauerhaft sichern. Dies erfordert, die sozialen Leistungen an die wirtschaftliche Leistungskraft anzupassen und die Hilfen - das ist besonders wichtig - auf die wirklich Bedürftigen zu konzentrieren.
({10})
Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt nicht handeln, drohen weitere Arbeitsplatzverluste, und der beschäftigungsfeindliche Weg zu immer höheren Steuern und Abgaben würde sich fortsetzen. Dies ist für die Koalition auf gar keinen Fall der Weg der Politik.
({11})
Es kann nicht unsere Politik sein, die Tarifparteien zur Lohnzurückhaltung aufzufordern und dann die möglichen positiven Arbeitsplatzeffekte mit steigenden Abgaben wieder zunichte zu machen. Mehr staatliche Schulden oder höhere Steuern würden im übrigen - das ist eine Erfahrung, die jeder kennt - gerade auch jene belasten, auf deren Leistungsbereitschaft unser Land besonders angewiesen ist: die Facharbeiter, den selbständigen Mittelstand, all jene Bereiche, die in ihrer Kreativität und mit ihrer täglichen Arbeit die sozialen Leistungen überhaupt erst ermöglichen.
({12})
Um mehr Arbeitsplätze aufzubauen, müssen wir den Standort attraktiv machen, die Belastungen der Wirtschaft abbauen, Steuern, Abgaben und Lohnkosten senken, überflüssige Regulierungen beseitigen, rascher die notwendigen Innovationen auf den Weg bringen und vor allem die Arbeitswelt flexibler machen.
Die Bundesregierung hat mit dem 50-PunkteAktionsprogramm Ende Januar gehandelt.
({13})
Dieses Programm ist ein Gesamtkonzept, das auf strukturelle Veränderungen zielt und jetzt Punkt für Punkt umgesetzt wird. Einige der wichtigen Maßnahmen, zum Beispiel zusätzliche Liquiditätshilfen für junge Unternehmen in der Wachstumsphase, sind bereits in Kraft getreten.
Vor allem, meine Damen und Herren - es ist wichtig, das zugrunde zu legen -, zeichnet sich für alle öffentlichen Haushalte im Jahre 1997 ein zusätzlicher Konsolidierungsbedarf in der Größenordnung von rund 50 Milliarden DM ab. Auf den Bundeshaushalt 1997 entfallen davon voraussichtlich rund 25 Milliarden DM. Wie wir wissen, sind die Länder und die Gemeinden in gleicher Weise von konjunkturbedingten Mehrausgaben und Mindereinnahmen betroffen. Deswegen ist es bei allen Gegensätzen im politischen Raum absolut notwendig, daß wir versuchen, eine gemeinsame Konsolidierungsstrategie für Bund, Länder, Gemeinden sowie für die Sozialversicherungssysteme zu gewinnen.
Deshalb haben die Koalitionsfraktionen gestern das Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung beschlossen und der Öffentlichkeit vorgestellt. Es ist ein Gesamtkonzept, das Investitionen erleichtern, Wachstum stärken und die Beschäftigung erhöhen soll. Nur durch Haushaltskonsolidierung, das heißt eine sparsame Haushaltspolitik und Einsparungen auch bei den Sozialversicherungen, schaffen wir die Voraussetzungen, um zu hohe Steuern und Abgaben in Deutschland zu senken und Arbeitsplätze in Deutschland wieder attraktiver zu machen.
({14})
Nur wenn wir diesen Weg entschlossen gehen, stärken wir auch die wirtschaftliche Basis für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Es führt doch kein Weg an der einfachen Erkenntnis vorbei, daß nur verteilt werden kann, was zuvor erarbeitet wurde.
({15})
Ich bin ganz sicher, daß wir mit diesen Anstrengungen auch das Ziel erreichen, die Staatsquote bis zum Ende dieses Jahrzehnts, also in vier Jahren, wieder auf 46 Prozent zu senken. Dies erfordert eine strikte Ausgabendisziplin bei Bund, Ländern und Gemeinden und auch im Bereich der Sozialversicherung.
Ich weiß, daß solche Ziele wie immer sofort angezweifelt werden. Es wird dann gesagt, dies sei nie zu erreichen. Ein einfacher Rückblick auf die letzten Jahrzehnte zeigt, daß diese Skepsis nicht angebracht ist. Wir haben zwischen Ende 1982 und 1989 den Anteil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt, die
Staatsquote, schon einmal von über 50 Prozent auf 46 Prozent gesenkt.
({16})
Wir haben - dies will ich besonders in diesen Tagen in Erinnerung rufen, wo aus naheliegenden Gründen von bestimmten Kreisen historische Erfahrungen der jüngsten Zeit gerne vergessen oder vernebelt werden - gleichzeitig in mehreren Schritten in diesen Jahren eine Steuerreform vorgenommen und die Steuerzahler um rund 60 Milliarden DM entlastet.
({17})
- Sie waren ja zum Teil dabei. Wenn Sie dabei waren, wissen Sie: Es war eine ungeheuer erfolgreiche Politik.
({18})
- Meine Damen und Herren, ich habe nicht den Ehrgeiz, daß Sie dem Satz „Es war eine ungeheuer erfolgreiche Politik" zustimmen, aber die Wähler haben ihm zugestimmt.
({19})
Und so stehe ich immer noch vor Ihnen, und Sie müssen mich immer noch ertragen. Ihre lauten Zwischenrufe haben Ihnen in diesen Jahren nichts genutzt.
({20})
In diesem Zeitraum - man kann es nicht deutlich genug sagen - sind mit dieser Politik damals in der alten Bundesrepublik über 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden. Ich habe gar keinen Zweifel, daß wir das gleiche auch jetzt erreichen werden.
({21})
Wir hatten 1990 das Glück der deutschen Einheit. Der wirtschaftliche Umbau und die soziale Flankierung des dramatischen Strukturwandels in den neuen Ländern wurden mit hohen Transferzahlungen von West nach Ost unterstützt.
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- Ich habe ja nichts dagegen, daß Sie immer noch im alten Glauben verharren, aber das Ganze wird deswegen nicht überzeugender. Die Geschichte hat über das, was Sie hier vertreten, längst ihr Urteil gesprochen.
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Wir, und zwar die Bürger und die Steuerzahler der alten Bundesrepublik - das will ich dankbar erwähnen -, haben diese hohen Transferzahlungen unterstützt. Die gesamten öffentlichen Leistungen für die neuen Länder betrugen im Zeitraum von 1991 bis 1995 netto 615 Milliarden DM. Ohne - das ist wichtig festzustellen; ich tue dies mit Stolz - die vorausgegangenen Konsolidierungsarbeiten der 80er Jahre dieser Koalition wären diese Transfers überhaupt nicht möglich gewesen.
({24})
Auch das sage ich hier gerne noch einmal klar und deutlich, weil es angesichts so mancherlei Verhetzungspotentiale wichtig ist, diese Erinnerung nicht untergehen zu lassen.
({25})
- Ich verstehe überhaupt nicht, daß Sie, wenn ich ganz allgemein von Verhetzungspotentialen spreche, sofort aufschreien.
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Offensichtlich fühlen Sie sich angesprochen.
({27})
Die Wahrheit ist doch: Ohne die notwendigen und von uns voll getragenen Entscheidungen, auch Opfer, für die deutsche Einheit würde die Staatsquote heute bei 45 Prozent liegen, und die Belastung der Bürger mit Steuern und Abgaben betrüge nicht 43 Prozent, sondern 41 Prozent. Das heißt, sie wäre deutlich niedriger. Wir beklagen dies nicht; denn wir sind glücklich, daß die deutsche Einheit möglich war.
({28})
Es ist wichtig, daß wir alle in Deutschland erkennen, daß jede Mark, in den neuen Ländern vernünftig investiert, eine Abschlagszahlung auf eine gemeinsame glückliche Zukunft der Deutschen ist.
({29})
Meine Damen und Herren, unsere Arbeitsplätze stehen im internationalen Standortwettbewerb. Wenn Produktion in Deutschland zu teuer wird, wandert sie zu Lasten der Arbeitsplätze ins Ausland ab oder - auch das erleben wir - Produktionen unterbleiben ganz. Die Bedeutung von grenzüberschreitenden Direktinvestitionen wächst in einem ungewöhnlichen Tempo. Wir wissen auch - es hat keinen Sinn, darüber zu klagen; das ist eine Realität -: Für die international operierenden Unternehmen ist die Präsenz auf den Wachstumsmärkten wichtig. Nur wer in den großen Handelszusammenschlüssen wie Europäische Union, NAFTA, Mercosur und im asiatischen Raum präsent ist, nimmt an der Wachstumsdynamik dieser Regionen teil. Das ist auch ein Beitrag zur Arbeitsplatzsicherung in Deutschland. In diesem Sinne - nur in diesem Sinne - sind die wachsenden Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen zu begrüßen. Aber wir müssen uns über das vergleichsweise geringe Engagement ausländischer Unternehmen in Deutschland Sorgen machen. Hier besteht Handlungsbedarf. Das Investieren und Schaffen von Arbeitsplätzen in Deutschland muß deshalb attraktiver gemacht werden.
Es wird in Deutschland sehr viel mehr Arbeitsplätze geben, wenn die Arbeitskosten niedriger sind. Es ist kein Zufall, daß im Dienstleistungsbereich hierzulande viel weniger Arbeitsplätze angeboten werden als in anderen Ländern. Wir alle - das gilt für die politisch Verantwortlichen, für die Tarifparteien und Unternehmen - haben - das sollte man offen zugeben - in der Vergangenheit zu einem starken Anstieg der Arbeitskosten beigetragen. Dies gilt für die Tariflöhne, aber das gilt noch mehr für die stark angestiegenen Lohnzusatzkosten. Die Bundesregierung ist sich deshalb mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften einig, daß der Anstieg der Lohnzusatzkosten gebremst werden muß. Dabei sind Tarifparteien und Betriebspartner ebenso in der Verantwortung wie die Politik.
Wir haben uns das Ziel gesetzt, die Beiträge zur Sozialversicherung bis zum Jahr 2000 auf unter 40 Prozent zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir unsere sozialen Sicherungssysteme auf die Herausforderungen der Zukunft einrichten. Es geht dabei überhaupt nicht um den Abbau des Sozialstaats, sondern es ist die Pflicht verantwortungsvoller Politik, immer wieder kritisch zu fragen: Gibt es Regelungen, die zum Mißbrauch einladen und deshalb geändert und abgeschafft werden müssen? Wenn ich, um das klarzustellen, von Mißbrauch rede, meine ich nicht nur Mißbrauch im Bereich der Sozialsysteme, sondern in gleicher Weise das Erschleichen von Subventionen und Steuerbetrug.
({30})
Wir müssen uns weiter kritisch fragen: Wie können wir soziale Leistungen so gestalten, daß sie zur Arbeit ermutigen und nicht den Willen, zu arbeiten und sich zu engagieren, aushöhlen?
Ich halte es jedenfalls für richtig und auch für unsere Gesellschaft unverzichtbar, daß der Satz gelten muß: Wer arbeitet, muß mehr bekommen als jemand, der nicht arbeitet.
({31})
Wenn dieser Grundsatz gilt, dann muß er Konsequenzen haben. Dann können wir es beispielsweise - da sollten wir uns doch eigentlich einig sein - nicht länger hinnehmen, daß ein Sozialhilfebezieher zumutbare Arbeit - zumutbare! - ablehnt.
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Dann müssen wir Anreize schaffen, damit sich Arbeit auch dann für den einzelnen lohnt, wenn dessen Erwerbseinkommen sein Sozialeinkommen nicht wesentlich übersteigt. Hier haben wir wichtige und, wie ich denke, richtige Reformen auf den Weg gebracht. Sie stehen jetzt im Vermittlungsausschuß zur Diskussion; ich hoffe, daß wir dort zu vernünftigen Einigungen kommen.
Meine Damen und Herren, notwendige Fragen stellen sich auch für den Bereich des Arbeitsrechts. Es ist unbestreitbar, daß wir trotz erkennbarer Fortschritte mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Mehr Flexibilität ist eine Grundvoraussetzung, um mehr Beschäftigung zu schaffen und die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Dabei ist eine entscheidende Voraussetzung, daß wir alles unternehmen, um den Mittelstand zu stärken;
({33})
denn die kleinen und mittleren Unternehmen sind die wichtigsten Arbeitgeber in unserem Land. Zwei Drittel aller Beschäftigten arbeiten in diesem Bereich. Auch das ist, wie ich denke, eine positive Erfahrung dieser Jahre: Zwischen 1990 und 1995 sind im Mittelstand knapp eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen worden. Wahr ist auch, daß gleichzeitig die Großunternehmen in unserem Lande unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs die Zahl ihrer Beschäftigten verringert haben.
Wenn wir also mehr Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen wir die Startchancen für Existenzgründer und junge Unternehmen in Deutschland verbessern und die bestehenden Betriebe von Kosten und Regulierungen entlasten. Gerade im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen gilt es, Arbeits- und Einstellungshemmnisse abzubauen. Wer häufig mit Handwerkern und mittelständischen Unternehmern spricht, weiß, daß. viele von ihnen in der Einstellung neuer Arbeitnehmer ein Risiko sehen. Sie fürchten das Risiko langwieriger Arbeitsgerichtsprozesse und unkalkulierbarer Kosten, die ihnen entstehen können. Deshalb - und das ist der falsche Weg - setzen sie lieber auf Überstunden.
Die Bundesregierung und die Koalition sind nach eingehenden Beratungen zu dem Ergebnis gekommen, den Schwellenwert des Kündigungsschutzgesetzes, der gegenwärtig für Betriebe mit mehr als fünf Arbeitnehmern gilt, auf zehn Beschäftigte anzuheben.
({34})
Wir sind sicher, dies liegt im Interesse der Arbeitsplatzsuchenden, und wir sind sicher, wir werden sehr rasch erleben, daß aus dieser Entscheidung heraus die Zahl der Arbeitnehmer in kleinen Betrieben zunehmen wird.
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Wer Arbeitsplätze von Kosten entlasten und neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen will, kommt, ob er es will oder nicht, auch am Thema der Lohnfortzahlung nicht vorbei. Denn die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein wesentlicher Bestandteil der stark gestiegenen Lohnzusatzkosten. Wie Betriebspraktiker und Arbeitnehmer sowie Betriebsräte selbst wissen, ist sie zudem anfällig für eine mißbräuchliche Inanspruchnahme.
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Unbestritten ist, daß die Verringerung betrieblicher Fehlzeiten - das gehört ebenfalls in diese Betrachtung - auch und nicht zuletzt eine Frage von Personal- und Betriebsführung sowie Betriebsklima ist. In vielen Betrieben in unserem Land gibt es sehr
praktische Lösungen, die zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der Krankmeldungen geführt haben.
Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, kann aber niemand übersehen, daß die Entgeltfortzahlung jährlich Kosten in Höhe von 60 Milliarden DM für unsere Wirtschaft verursacht. Dies erhöht die Lohnkosten und belastet Arbeitsplätze.
Deshalb kann die Politik im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und der Schaffung neuer Arbeitsplätze diese Frage nicht einfach ignorieren, nachdem - ich füge dies ausdrücklich hier hinzu - die Tarifparteien leider bisher keine Lösung gefunden haben.
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Ich bedauere dies, und ich wünsche mir, daß die Tarifparteien, die ja hier auch in Zukunft eine entscheidende Verantwortung haben, die notwendigen Signale setzen. Ich weiß um den Widerstand, vor allem auch der Gewerkschaften, in dieser Frage, und ich kenne auch die Entstehungsgeschichte der Lohnfortzahlung. Ich weiß, was diese Entscheidung bedeutet.
Ich will deshalb auf zwei Gesichtspunkte besonders hinweisen:
Erstens wird nicht in bestehende Tarifverträge eingegriffen. Für über 80 Prozent der Arbeitnehmer ist die Lohnfortzahlung tarifvertraglich geregelt, und wir achten und respektieren die Tarifautonomie. Ich sage noch einmal: Wir setzen allerdings darauf, daß die Tarifparteien in eigener Verantwortung tragfähige Lösungen finden und umsetzen.
Zweitens. Es ist das Recht und, wenn es notwendig ist, auch die Pflicht der Politik, auch gegen Widerstände die Interessen Arbeitssuchender durchzusetzen.
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Für mich sind und bleiben Tarifautonomie und starke Tarifpartner zentrale Pfeiler einer zukünftig positiven Entwicklung. Sie sind ein ganz entscheidender Anker für die Stabilität unseres Landes. Dies haben ja auch Wirtschaft, Gewerkschaften und die Bundesregierung im „Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung" am 23. Januar noch einmal gemeinsam bekräftigt. Wir haben in neun Gesprächen mit den Spitzenrepräsentanten von Wirtschaft und Gewerkschaften bereits viel auf den Weg gebracht, wie ich dankbar vermerken will, zum Beispiel das Programm für Langzeitarbeitslose, die Lehrstellenzusage der Wirtschaft, die Offensive für mehr Selbständigkeit und die Lösung der sehr schwierigen Frage der Frühverrentung. Natürlich - das war doch gar nicht anders zu erwarten - gab es und gibt es Felder, auf denen wir nicht einig sein können, wie etwa in der Frage der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, wo wir unterschiedlicher Meinung waren und sind.
Es ist notwendig, daß wir versuchen, einen Konsens zu erreichen; aber dieses Streben nach Konsens kann die politisch Verantwortlichen - das gilt vor allem auch für die Bundesregierung und für mich selbst - nicht davon entbinden, die notwendigen Entscheidungen, wenn ein Konsens nicht möglich ist, herbeizuführen.
({39})
Die Bundesregierung und vor allem ich selbst werden alles tun, um bei künftigen Gesprächen im Rahmen dieser Runde zu weiteren positiven Ergebnissen zu kommen.
Ich will in diesem Zusammenhang eine kurze Bemerkung zu einem Thema machen, das jetzt ebenfalls diskutiert wird, nämlich zur Frage der Gestaltung der Arbeitswelt und der Arbeitsbedingungen und inwieweit das Instrument des Flächentarifvertrages hierfür ein geeignetes Instrument ist. Ich sage klar: Ich setze darauf, daß der Flächentarifvertrag weiterentwickelt werden kann
({40})
- dies ist auch die Meinung führender Gewerkschaftler und auch führender Unternehmer in der Bundesrepublik - und daß aus dieser Weiterentwicklung gute Beiträge zur Beschäftigungssicherung, zum Beschäftigungsaufbau und damit zum sozialen Frieden geleistet werden können.
Meine Damen und Herren, wenn im Eifer des Gefechts der eine oder andere jetzt sagt, dies sei alles hinfällig, dann leugnet er die wichtige Erfahrung aus der Geschichte der Bundesrepublik in den letzten 40 Jahren. Zu den Vorteilen des Standorts Deutschland gehörte bei allen streitigen Auseinandersetzungen, daß es zu allen Zeiten - manchmal kurzzeitig unterbrochen - eine Gesprächsmöglichkeit zwischen Gewerkschaften und Unternehmern gab. Ich kann nur davor warnen, diese Erfahrung in den Wind zu schlagen. Das ist in diesem Zusammenhang eine entscheidende Frage.
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Meine Damen und Herren, wenn es um die Zukunft geht, zeigt es sich in einer besonders eindeutigen Weise, inwieweit wir fähig sind, Zukunftssicherung im Bereich der langfristigen Sicherung des Generationenvertrages zu ermöglichen. Das von Koalition und Bundesregierung gestern vorgestellte Programm enthält auch Maßnahmen zur Stabilisierung des Beitragssatzes und zu strukturellen Reformen. Dabei möchte ich an erster Stelle hervorheben, daß unsere Rentenpolitik verläßlich bleibt. Die Renten werden zum 1. Juli 1996 erhöht, und sie werden auch im kommenden Jahr - entgegen anderslautenden Behauptungen - der Nettolohnentwicklung folgen. Kein Rentner muß um seine Rente fürchten.
({42})
- Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Dies ist doch ein Punkt, bei dem Sie einmal klatschen könnten. Sie haben doch angeblich das Interesse der Rentner im Auge.
Aber, meine Damen und Herren, wir müssen offen darüber sprechen, daß wir der jetzigen jüngeren Generation eine verläßliche Perspektive für ihre Alterssicherung geben müssen. Wir stehen doch - und jeBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
der spürt dies - unbestreitbar vor einer dramatischen Veränderung unserer Gesellschaft, nicht zuletzt im Altersaufbau.
Als die Rentenversicherung vor über 100 Jahren eingeführt wurde, wurde das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre festgelegt. Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 45 Jahre. Bis heute ist die durchschnittliche Lebenserwartung auf über 75 Jahre angestiegen. Deshalb ist es richtig, das Renteneintrittsalter, wie im Reformpaket zur Stabilisierung der Rentenversicherung vorgeschlagen, schrittweise zu erhöhen. Das ist angesichts der gestiegenen und weiter steigenden Lebenserwartung zur Sicherung der Renten auch zumutbar,
({43})
zumal wir wissen, daß Deutschland zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate gehört.
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- Ich muß Ihnen, gnädige Frau, sagen, diese Zusammenfassung der Problematik ist sehr eigenartig. Daß Sie das als Dame tun, erstaunt mich ganz besonders.
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Gleichzeitig erhöht sich erfreulicherweise die Lebenserwartung. Gegenwärtig sind rund 15 Prozent unserer Bevölkerung über 65 Jahre alt. Wer heute 30 Jahre alt ist wird nach menschlichem Ermessen das Jahr 2030 erleben und dann zu den über 65jährigen gehören. Der Anteil der über 65jährigen an der Gesamtbevölkerung wird zu diesem Zeitpunkt auf über 27 Prozent anwachsen und sich damit fast verdoppeln. Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenbeziehern wird sich also drastisch verändern. Das ist überhaupt nicht zu leugnen; das ist die Realität.
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Es ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung, schon heute über notwendige Konsequenzen dieser Entwicklung zu diskutieren und zu handeln.
Mit dem 1989 verabschiedeten Rentenreformgesetz haben wir bereits wichtige Anpassungen vorgenommen. Jetzt müssen wir die Rentenversicherung mit weitreichender Zukunftsperspektive fortentwikkeln.
({47})
Die Bundesregierung wird hierzu eine Kommission unter Vorsitz des Bundesarbeitsministers einsetzen. Wir erwarten, daß diese Kommission ihre Arbeit auf eine breite Grundlage stellt und sich den Sachverstand aller Seiten unserer Gesellschaft sichert. Sie sind besonders herzlich eingeladen,
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und ich denke, wir werden dabei hören, welche Vorschläge Sie vorbringen. Ich wünsche mir jedenfalls,
daß diese notwendigen Reformen in einem parteiübergreifenden Kompromiß gelingen, so wie dies auch in der Vergangenheit möglich war.
Die Zeit drängt, und deswegen haben wir beschlossen, daß diese Kommission ihre Ergebnisse bis zum Ende dieses Jahres, 1996, vorlegt. Wir können das dann gemeinsam gestalten, indem wir diese Themen mit allen Interessierten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausführlich diskutieren. Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, mit Beginn des kommenden Jahres, 1997, die sich hieraus ergebenden Gesetzgebungsverfahren einzuleiten und sie bis Ende 1997 abzuschließen.
Meine Damen und Herren, das ist ein ehrgeiziger Zeitplan. Aber ich halte ihn für zwingend, weil es wünschenswert ist, die Fragen der Alterssicherung und der Renten wie in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Wahlkampfgeschehen eines kommenden Bundestagswahlkampfs möglichst herauszuhalten.
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- Auch hier verstehe ich Ihre Unruhe nicht. Ich habe nie Angst vor Wahlkämpfen gehabt. Sie sollten sich daran erinnern, mit welchen Gesichtern Sie gerade vor vier Wochen herumgelaufen sind.
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Es hat doch keinen Sinn, sich hier selbst Mut zuzusprechen.
Meine Damen und Herren, die notwendigen Korrekturen zur Zukunftsicherung müssen auch im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vorgenommen werden. Dabei gilt für mich der Grundsatz: Wer krank oder pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf eine hochwertige medizinische Versorgung und selbstverständlich auf eine menschenwürdige Pflege. Daher kommt die zweite Stufe der Pflegeversicherung, mit der die stationäre Pflege eingeführt wird, wie geplant am 1. Juli 1996.
({51})
Mit dieser Entscheidung entlasten wir zugleich die kommunale Seite um rund 9,5 Milliarden DM. Ich erwarte jedoch auch - das möchte ich hier gerne sagen -, daß die Länder und die Kommunen ihre Zusage einhalten, einen Teil ihrer Einsparungen für die notwendigen Investitionen für Pflegeheime einzusetzen.
({52})
Es ist völlig unbestreitbar, daß wir den Kostenanstieg in der Krankenversicherung stoppen müssen. Je mehr es uns gelingt, Wettbewerb und Eigenverantwortung durchzusetzen, desto weniger muß es zu Leistungseinschränkungen kommen.
Meine Damen und Herren, unser Steuersystem muß wachstums- und beschäftigungsfreundlicher werden. Wenigstens in diesem Punkt sind wir uns einig. Deshalb streben wir bald eine umfassende ReBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
form des Steuertarifs an. Die Steuersätze sollen deutlich gesenkt und das Steuerrecht vereinfacht werden. Um dies zu erreichen, muß es weniger Ausnahmen und Begünstigungen geben.
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Wir müssen erreichen, daß es zu einer echten und spürbaren Entlastung für die Mehrzahl der Bürger kommt. Auch für diesen Arbeitsbereich wird die Bundesregierung in diesen Tagen die Einsetzung einer Kommission unter dem Vorsitz des Bundesfinanzministers beschließen. Diese Kommission soll ebenfalls bis zum Ende dieses Jahres, 1996, ihre Vorschläge erarbeiten. Auch hier ist es unser Wunsch, daß es eine möglichst breite Beteiligung an der Diskussion gibt.
Wir wollen die Gesetzgebung in diesem Bereich ebenfalls bis Ende 1997 abschließen. Es ist sehr wichtig, daß die Bürger und vor allem auch die Unternehmen selbst frühzeitig Gewißheit über die künftigen Steuertarife haben und für ihre mittel- und langfristigen Dispositionen eine verläßliche Grundlage bekommen.
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Wir wollen, daß der neue Tarif zum 1. Januar 1999 in Kraft treten kann. Ich will noch einmal nur erwähnen - dann brauchen wir die Debatte darüber hier nicht erneut zu führen -, daß für uns in der Koalition eine Erhöhung der Mehrwertsteuer in dieser Legislaturperiode nicht in Frage kommt.
({55})
Unabhängig von dem eben Gesagten werden wir die im Aktionsprogramm angekündigten steuerpolitischen Verbesserungen fortsetzen. Das Programm zielt darauf, die Schaffung von Arbeitsplätzen zu erleichtern. Dazu gehören die aufkommensneutrale Reform der Unternehmensteuern mit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der mittelstandsfreundlichen Absenkung der Gewerbeertragsteuer, die Reform der Erbschaftsteuer, der Wegfall der Vermögensteuer, wobei die private Vermögensteuer mit der Erbschaftsteuer zusammengefaßt wird, und die bessere steuerliche Behandlung von Beschäftigungsverhältnissen in privaten Haushalten.
Einen wirksamen Beitrag erwarte ich auch in diesem Zusammenhang von den Tarifparteien. Im Rahmen der Tarifautonomie - das ist gut so und soll nicht geändert werden - bestimmen Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam über die Lohnhöhe und über wesentliche Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel über die Arbeitszeit. Die bisher getroffenen Tarifvereinbarungen in der Lohnrunde 1996 zeigen, daß die Tarifparteien gewillt sind, dem Beschäftigungsziel einen höheren Stellenwert als Einkommenssteigerungen zu geben. Ich begrüße dies ausdrücklich. In den verschiedenen Lagern der Tarifpartner sollten meines Erachtens auch diese Erfolge einzelner Gewerkschaften noch sehr viel positiver gewürdigt werden.
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Soweit der Bund als Tarifpartei im öffentlichen Dienst mit in der Verantwortung steht, werden wir ein deutliches Zeichen setzen müssen. Gerade in einer Zeit, in der viele Unternehmen ihr Personal verringern, ist die Sicherheit des Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst ein besonders wertvolles Gut. Das will ich bei dieser Gelegenheit einmal mehr unterstreichen. Wer einen sicheren Arbeitsplatz hat - so denke ich -, dem kann mehr zugemutet werden als einem, der sich andauernd Sorgen um seinen Arbeitsplatz machen muß.
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Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen die Grundzüge unseres Programms vorgestellt. Es soll und wird dazu beitragen, Arbeitsplätze zu schaffen und die Zukunft zu gewinnen. Es ist ein Programm für mehr Investitionen und Beschäftigung. Es ist natürlich auch ein Programm zur Sicherung unseres Sozialstaats. Es schafft den Spielraum, den wir brauchen, um die sich bietenden Chancen in der veränderten Weltwirtschaft wahrnehmen zu können. Nur ein wirtschaftlich leistungsfähiges Deutschland ist in der Lage, den hier lebenden Menschen und Bürgern Arbeitsplätze und Einkommenschancen zu bieten,
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soziale Leistungen zu finanzieren, die ein Leben ohne materielle Not ermöglichen, und teilzuhaben am Aufschwung anderer Regionen unserer Erde.
Wir haben als Deutsche auch in dieser Situation - bei allen Schwierigkeiten - nicht den geringsten Grund, pessimistisch in die Zukunft zu sehen.
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Es gab noch nie eine Generation in der neueren Geschichte unseres Volkes, die so viele Chancen hatte, ihre Zukunft zu gestalten, und für die so viele Wege in die Welt offenstanden. Auf unsere Stärken können wir uns auch in Zukunft verlassen. Dazu zähle ich die hervorragende Berufsausbildung in Deutschland, deren Bedeutung in Zukunft noch steigen wird, die modern gestaltete Infrastruktur, das soziale Klima, die ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die in den letzten Jahrzehnten ganz wesentlich zu Innovation und Erneuerung beigetragen haben.
Meine Damen und Herren, es geht darum, Arbeitsplätze zu schaffen und die Zukunft zu sichern. Auch das ist eine Erfahrung, die gilt: Wohlstand läßt sich nicht auf Pump finanzieren. Gefragt sind jetzt Mut und Weitsicht, das richtige Einstellen der Weichen für die Zukunft. Deswegen treffen wir jetzt die notwendigen Entscheidungen und setzen sie Schritt für Schritt in schnellem Tempo um, und dazu darf ich Sie alle einladen.
({60})
Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine.
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben soeben eine Einschätzung der ökonomischen Lage vorgenommen und haben einiges über die Lage der öffentlichen Haushalte gesagt. Dieser Einschätzung der ökonomischen Lage können wir nicht widersprechen, und die Darstellung der öffentlichen Haushalte ist nach dem, was wir heute wissen, korrekt gewesen.
Nur, verehrter Herr Bundeskanzler, eine Frage müssen wir Ihnen stellen: Hätten Sie diese Rede nicht auch schon vor einigen Wochen hier halten können?
({2})
War die ökonomische Lage damals wirklich so viel anders als heute? War die Lage der öffentlichen Haushalte vor einigen Wochen so viel anders als heute?
({3})
Warum haben Sie nicht den Mut gefunden, vor einigen Wochen anzukündigen, daß Sie in die Lohnfortzahlung eingreifen wollen,
({4})
daß Sie den Kündigungsschutz einschränken wollen, daß Sie das Rentenrecht verschlechtern wollen, daß Sie die Arbeitsförderung drastisch verschlechtern wollen und daß Sie das Kindergeld nicht zeitgerecht erhöhen wollen? Warum gehen Sie immer nach derselben Methode vor, daß Sie der Bevölkerung vor den Wahlen die Unwahrheit sagen, um nach den Wahlen dann mit der ganzen Wahrheit herauszurükken?
({5})
Sie haben vorhin an die Adresse der SPD und der anderen Parteien im Deutschen Bundestag gesagt, Sie wünschten, daß die Debatte um die Reform des Rentensystems aus dem nächsten Wahlkampf herausbliebe. Da können wir uns ganz auf Sie verlassen, verehrter Herr Bundeskanzler. Sie haben es bisher immer geschafft, vor Wahlen Debatten zu vermeiden, die wahrheitsgemäß gewesen wären, aber dem Volk einiges abverlangt hätten.
({6})
Dadurch sind Sie verantwortlich dafür, daß die Staatsverdrossenheit in unserem Volk gewachsen ist
({7})
und daß viele zu der Auffassung kommen: Vor Wahlen kann man den Politikerinnen und Politikern sowieso nicht mehr glauben. Die Erfahrung, wesentlich durch Sie selbst geprägt, gibt solchen Vorurteilen in unserer Gesellschaft leider recht. Sie sollten endlich
von dieser fahrlässigen, unehrlichen Vorgehensweise Abstand nehmen und den Bürger dadurch zum mündigen Bürger erklären, daß Sie gerade in den Wahlauseinandersetzungen die alternativen Konzepte der politischen Parteien diskutieren lassen.
({8})
Wenn die Arbeitslosigkeit die höchste nach dem Kriege ist, wenn die Staatshaushalte enorme Schulden haben und wenn die Steuer- und Abgabenquote viel zu hoch ist, dann stellt sich in einer Phase der Stagnation oder Rezession die Frage, wie die Politik reagieren soll, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu induzieren.
Es ist gut, meine Damen und Herren, daß jetzt zumindest die Überschriften geändert worden sind. Hieß es vor einiger Zeit noch: Wir müssen ein Sparpaket verabschieden, so heißt es jetzt richtigerweise quer durch die Parteien: Wir brauchen ein Programm für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung. Jeder weiß, die Sozialversicherungskassen und die Staatshaushalte können nur saniert werden, wenn es uns gelingt, die Arbeitslosigkeit abzubauen und zu mehr Beschäftigung zu kommen.
({9})
Wenn man die Arbeitslosigkeit abbauen und zu mehr Beschäftigung kommen will, dann müssen die politischen Weichenstellungen richtig vorgenommen werden. Wir haben in diesem Hause oft über die Rolle der Geldpolitik diskutiert. Ich glaube, daß die Bundesbank durch die jüngsten Entscheidungen die richtigen Signale gesetzt hat. Man hat sich nicht mehr starr an der Entwicklung der Geldmenge orientiert, sondern hat in einer Phase der Stagnation oder Rezession auf Wachstum umgeschaltet. Dies ist eine richtige Entscheidung der Deutschen Bundesbank.
({10})
Ebenso ist unstreitig, daß eine solche Entscheidung durch eine moderate und zurückhaltende Lohnpolitik ergänzt werden muß. Wer die Entscheidungen der letzten Wochen und Monate betrachtet, der wird nicht an dem Urteil vorbeikommen, daß die deutschen Gewerkschaften und die Tarifpartner - in erster Linie aber muß man die deutschen Gewerkschaften nennen - an dieser Stelle ihrer Verantwortung für Wachstum und Beschäftigung voll entsprochen haben; denn sie haben eine moderate Lohnpolitik auf den Weg gebracht.
({11})
Eine Geldpolitik und eine Lohnpolitik, die sich nicht gegenseitig blockieren, wie Herbert Giersch in einem jüngst erschienenen Aufsatz bemerkt hat, sind die Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung. Sie müssen durch eine stetige, wachstumsorientierte Finanzpolitik und durch eine ausgewogene Sozialpolitik ergänzt werden. Die Fragen werden heute also sein, ob die Bundesregierung zu einer stetigen, wachstumsorientierten Finanzpolitik Vorschläge geMinisterpräsident Oskar Lafontaine ({12})
macht hat und ob die Sozialpolitik, die Sie jetzt begonnen haben neu auszurichten, ausgewogen zu nennen ist.
({13})
Zur Finanzpolitik lese ich Ihnen ein Urteil des von Ihnen in den Sachverständigenrat berufenen Finanzexperten Rolf Peffekoven vor. Auf die Frage, warum die ökonomische Entwicklung so schlecht ist und warum wir solch große Defizite in den Staatshaushalten zu verzeichnen haben, sagte er gestern folgendes:
Die Erklärung ist ganz einfach. Es besteht ein eklatantes Mißverhältnis zwischen dauernden Ankündigungen und dauerndem Nichtpassieren. Wenn aber etwas geschieht, wird es nicht selten gleich wieder rückgängig gemacht. Der deutschen Finanzpolitik fehlt es an Glaubwürdigkeit und an Stetigkeit.
Sie sollten sich das hinter die Ohren schreiben, meine Damen und Herren.
({14})
Auf die Frage: Ist die Finanzpolitik unsolide? sagt er:
Wenn Sie auf die fehlende Stetigkeit und Glaubwürdigkeit verweisen, dann muß ich leider antworten: Ja, die Finanzpolitik ist unsolide.
Ihre unstete Steuer- und Finanzpolitik in den letzten Jahren ist einer der Gründe dafür, daß wir mittlerweile diese hohe Arbeitslosigkeit, diese hohe Staatsverschuldung und diese hohe Steuer- und Abgabenlast zu verzeichnen haben.
({15})
Daß Ihre Sozialpolitik ausgewogen sei, will doch auch von Ihnen niemand ernsthaft behaupten. Wenn man die Stellungnahmen etwa der CDA in den letzten Tagen zur Kenntnis nimmt, muß man zum Urteil kommen: Sie haben zwar gesagt, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, alle müßten jetzt den Gürtel enger schnallen. Enger schnallen müssen den Gürtel aber nur Rentner, Familien, Arbeitslose und Arbeitnehmer. Dies verdeutlicht die totale Schieflage Ihrer Sozialpolitik.
({16})
Das Entscheidende ist aber, daß Sie zu den eigentlichen Reformen, die jetzt notwendig sind, nicht die Kraft aufbringen. Auf konjunkturelle Probleme muß man mit sachgemäßen konjunkturellen Lösungen reagieren. Auf strukturelle Probleme muß man mit sachgemäßen langfristig wirkenden strukturellen Lösungen reagieren.
({17})
Ich komme zur Steuerpolitik. Wir halten eine Reform des Einkommensteuerrechts für dringend geboten. Wir mahnen sie seit langem an. Wir stellen fest:
Das geltende Einkommensteuerrecht schafft Staatsverdrossenheit, weil es nicht hinnehmbar ist, daß der Verkäuferin und dem Facharbeiter direkt im Lohnbüro die Steuern abgezogen werden, während es Millionäre gibt, die völlig legal keinen Pfennig Steuern zahlen. Dies untergräbt das Vertrauen der Leistungsträger unserer Gesellschaft in den Staat.
({18})
Die erste Reform, die schon lange überfällig ist, um wieder mehr Leistungswillen in der Arbeitnehmerschaft und in unserer Bevölkerung zu ermöglichen, ist die Reform des Steuertarifs, der Lohn- und Einkommensteuer. Diese Forderung ist allgemein anerkannt. Aber Sie haben keinerlei Anstalten gemacht, um dieser Forderung zu entsprechen. Wenn Sie nicht entscheidungsfähig sind, weichen Sie immer auf Kommissionen aus, verehrter Herr Bundeskanzler.
({19})
Sie hatten eine Kommission von Finanzwissenschaftlern, die Bareis-Kommission, eingesetzt, die Ihnen Vorschläge gemacht hat, wie man das Einkommensteuerrecht leistungs- und sozialgerecht reformieren kann. Herr Waigel hat die Ausarbeitung dieser Kommission in den Papierkorb geworfen. Meinen Sie, es wird besser, . wenn er selbst jetzt einer neuen Kommission vorsitzt? Das ist doch eine Lachnummer.
({20})
Sie wollen die Ergebnisse dieser Kommission - da sind Sie konsequent, mein Kompliment - aus dem Wahlkampf heraus halten, denn dieses Gesetz soll erst nach der Bundestagswahl wirksam werden. Sehr verehrter Bundeskanzler, hier liegt ein klassischer Beweis dafür vor, daß der von mir zitierte Finanzwissenschaftler recht hat: Sie sind mit dieser Koalition nicht in der Lage, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, auch wenn in den Kommissionen da oder dort Richtiges erarbeitet wird. Vertagen Sie eine leistungs- und sozialgerechte Steuerreform nicht auf das Jahr 1999, sondern setzten Sie sie jetzt in Gang! Wir bieten dazu die notwendige Bereitschaft an.
({21})
Der richtige Weg bei der heutigen konjunkturellen Lage ist - da darf es überhaupt keinen Zweifel geben -, daß der Solidaritätszuschlag abgebaut wird. Wir halten den zügigen Abbau für notwendig, um die Konjuktur zu unterstützen, um nicht die Arbeitseinkommen über Gebühr zu strapazieren. Denn dies hemmt auch den Leistungswillen in unserer Bevölkerung. Die Frage ist allerdings, auf welche Weise man zu einem zügigen Abbau des Solidaritätszuschlags kommen kann. Wir schlagen eine Vermögensabgabe auf hohe Vermögen vor, wie sie bereits nach der deutschen Einheit von vielen Fachleuten vorgeschlagen worden war.
({22})
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({23})
Wir fordern Sie auf, Ihren Vorschlag, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen und statt dessen die Steuern für Handwerker, für Friseurmeister, Kraftfahrzeugmeister, Dachdeckermeister und viele andere zu erhöhen, zurückzuziehen. Es ist doch ein Treppenwitz der Weltgeschichte, daß Sie in dieser Phase der Konjunktur, in der die Nachfrage nach Investitionsgütern lahmt, eine Abschreibungsverschlechterung, sprich: Steuererhöhungen, für das Handwerk und den Mittelstand vorschlagen. Ziehen Sie diesen Vorschlag zurück! Er ist ökonomisch so unvernünftig, daß Sie in der Fachwelt niemanden finden, der diesen Vorschlag rechtfertigt.
({24})
Steuererhöhungen für Handwerk und Mittelstand, wie Sie sie jetzt, kaschiert als Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen, vorschlagen, sind jetzt wirklich nicht akzeptabel. Was der F.D.P.-Vorsitzende offensichtlich immer noch nicht verstanden hat: Im Saldo - lesen Sie die Gutachten der Industrieverbände nach - handelt es sich beim Gesetzentwurf zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer um eine Steuererhöhung. Nehmen Sie in der jetzigen Phase der Konjunktur von dieser Steuererhöhung endlich Abstand!
({25})
- Sie waren damals noch nicht im Parlament, zumindest einer von denen, die jetzt so laut dazwischengerufen haben; aber ich habe im letzten Jahr denselben Vortrag gehalten. Das Problem ist bei Ihnen nur: Man kann Ihnen noch so viele Argumente vortragen, Sie sind unbelehrbar und wollen Handwerk und Mittelstand weiterhin steuerlich höher belasten.
({26})
Die zweite wichtige Reform, die jetzt anzugehen ist, ist die Reform der sozialen Sicherungssysteme. Es ist einfach nicht hinnehmbar, daß die Beiträge zur Rentenversicherung, zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung und zur Pflegeversicherung immer weiter ansteigen. Der Bundeskanzler hat vorhin eine Teilschuld seiner Regierung und der Koalition bei der Entwicklung dieses die Wirtschaft schädigenden ständigen Anstiegs der Beiträge eingeräumt. Mit dieser Entwicklung sind in den letzten Jahren viele Arbeitsplätze bei Handwerk und Mittelstand verlorengegangen.
Es wäre notwendig, die sozialen Versicherungskassen von versicherungsfremden Leistungen zu befreien. Das ist völlig unstreitig. Aber in Ihrem Programm wird dieser Gedanke nicht oder nur in geringem Umfang aufgegriffen. In Wirklichkeit gehen Sie dieses wichtige Reformprojekt nicht an, weil Sie nach wie vor daran festhalten wollen: Es ist bequemer, die Kosten der Einheit den sozialen Versicherungskassen aufzubürden, statt sie sauber von allen Steuerzahlern bezahlen zu lassen.
({27})
Dies ist ungerecht; denn es dürfte überhaupt keine Frage sein, daß die Kosten, die aus der deutschen Einheit entstanden sind, nicht nur von den Beitragszahlern bezahlt werden können. Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Daher wäre es notwendig, dieses Reformprojekt jetzt anzugehen. Wiederum werden Arbeitsplätze dadurch wegrationalisiert, daß ein ernsthaftes Bemühen bei der Bewältigung dieser Reform in Ihrem Vorschlag nicht zu erkennen ist.
Das dritte Reformprojekt, an dem wir festhalten, ist der umweltgerechte Umbau unseres Steuer- und Abgabensystems. Würde man hier in diesem Bundestag abstimmen, dann würde diesem wichtigen Reformprojekt unserer Gesellschaft im Grundsatz zugestimmt. Es würde auf eine große Mehrheit quer durch die Fraktionen stoßen. Das ist jedem bekannt, der sich mit der Materie einmal beschäftigt hat.
Es gibt eine Reihe von Voten, die deutlich machen, daß die Idee, die Arbeit in diesem Lande billiger zu machen und auf der anderen Seite den Umweltverbrauch zu verteuern, eine richtige Idee ist, weil sie einerseits zu mehr Arbeitsplätzen führt und andererseits längerfristig die Lebenschancen zukünftiger Generationen erhält. Bitte, gehen Sie dieses wichtige Reformprojekt unserer Gesellschaft endlich an!
({28})
Die Tatsache, daß wir auf dem weltweit wachsenden Umweltmarkt, der nach internationalen Schätzungen 1 000 Milliarden Dollar umfaßt, bei dem Export von Umwelttechnik nicht nur pro Kopf, sondern absolut Weltmeister sind, sollte uns doch Ermutigung sein, diesen Weg weiterzugehen. Ich will Ihnen eines sagen: Die Tatsache, daß wir in Deutschland bei der Umwelttechnik vorne sind, ist eher ein Ergebnis der Ökologiebewegung
({29})
als ein Ergebnis der gezielten Politik Ihrer Regierung.
({30})
- Natürlich, Herr Kollege Fischer, haben auch die Grünen einen Anteil an dieser Entwicklung; ich möchte das ausdrücklich von diesem Pult aus feststellen.
({31})
Das vierte Reformprojekt, das wir jetzt angehen müssen, ist, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich in größerem Umfang am Produktivvermögen und am Kapital zu beteiligen. Alle Daten, die wir heute zur Kenntnis nehmen können, sprechen
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({32})
dafür, dieses seit Jahrzehnten diskutierte, aber immer wieder aufgeschobene Reformprojekt unserer Gesellschaft jetzt endlich in Angriff zu nehmen. Die Zeit ist überreif für dieses große Reformprojekt.
({33})
Es ist doch nicht zu bestreiten: Wir finanzieren den größten Teil der Soziallasten über die Arbeit und verteuern sie in einem Umfang, der nicht mehr am Markt durchzusetzen ist. Gleichzeitig ignorieren wir, daß der Anteil der Einkommen aus Vermögen steigen wird, während der Anteil von Arbeitseinkommen am Volkseinkommen immer weiter zurückgeht. Es ist offensichtlich ein Fehler, gerade die Einkommen zu belasten, deren Anteil am Volkseinkommen immer weiter zurückgeht. Also muß man die Finanzierung ändern.
Also muß man jetzt endlich in einer Zeit, in der die Realeinkommen seit Jahren stagnieren, auch in diesem Jahr, in dem die Aktienkurse ja nun wirklich nicht sinken, sondern Rekordhöhen erreicht haben, in dem die Höhe der Gewinne nach den Stellungnahmen der Sachverständigen insgesamt keine Probleme aufwirft und sie in einzelnen Branchen geradezu wieder exorbitant hoch sind, zu einer Veränderung in unserer Gesellschaft kommen, die man in die Worte fassen kann: Sich mit stagnierenden Reallöhnen abzufinden kann keine Antwort auf diese Entwicklung sein. Vielmehr muß die Antwort lauten, endlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch am Kapitalertrag und am Produktivvermögen zu beteiligen.
({34})
Eine einmalige Chance wäre es gewesen, beim Aufbau Ost mit dieser Arbeit zu beginnen.
({35})
Wenn man schon das völlig fehlerhafte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" mit all den Verwerfungen, die sowohl für die Investitionen als auch für die Vermögensverteilung in den neuen Ländern damit verbunden waren, durchgesetzt hat, dann hätte man im Gegenzug damit beginnen müssen, dort die Arbeitnehmer am neu aufgebauten Produktivvermögen, zumal es mit enormen staatlichen Mitteln finanziert worden ist, zu beteiligen. Hier haben Sie die Chance nicht genutzt, einen richtigen Einstieg in dieses Reformprojekt unserer Gesellschaft zustande zu bringen.
({36})
Wenn ich lese, daß man sich jetzt Gedanken darüber macht, ob nicht die Vorstandsbezüge in Deutschland in Form von Aktienoptionen an die Höhe der Vorstandsbezüge amerikanischer Manager angepaßt werden müssen, damit sie über Jahreseinkommen in zweistelliger Millionenhöhe verfügen - wir haben das vor zwei Wochen in einem Nachrichtenmagazin gelesen -, dann zeigt das eigentlich, wohin wir in unserer Gesellschaft nach 13 Jahren der
Regierung Kohl gekommen sind. Es wird für mich der Anstand verletzt, wenn nicht darauf hingewiesen wird, daß es bei ständig stagnierenden oder sinkenden Realeinkommen viel, viel notwendiger wäre, die Arbeitnehmer an Gewinnen und Aktienzugewinnen zu beteiligen.
({37})
Es ist ja überhaupt merkwürdig, daß Appelle, den Gürtel enger zu schnallen, von Ihrer Seite kommen. Sie könnten ja den Zuschauerinnen und Zuschauern einmal darstellen, wie Sie persönlich, Herr Bundeskanzler, von den geplanten Regelungen bei der Lohnfortzahlung, dem Kindergeld und von der Kürzung sozialer Leistungen, wie der Sozialhilfe, der Arbeitslosenhilfe, des Arbeitslosengeldes und was da alles in der Mache ist, betroffen sind.
({38})
Dadurch könnte deutlich gemacht werden, wie es eigentlich in unserem Lande aussieht.
Aber es ist einfach nicht mehr hinnehmbar, daß diejenigen, die nun wirklich ein enormes Einkommen und Vermögen haben, immer wieder neue Sparappelle an Sozialhilfeempfänger und Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe richten. Das ist das Ergebnis einer totalen Fehlentwicklung in unserer Gesellschaft, die Sie zu verantworten haben.
({39})
Wir brauchen fünftens selbstverständlich eine Reform der Regelungen auf dem Arbeitsmarkt. Das ist unstreitig. Streitig zwischen uns ist, wie Regelungen auf dem Arbeitsmarkt aussehen.
Sie haben hier noch einmal voller Stolz, Herr Bundeskanzler - ich habe versucht, es schon zwei-, dreimal zu erklären -, den Zuwachs der Beschäftigungsverhältnisse Ende der 80er Jahre vorgetragen.
Nur, meine Damen und Herren, wenn man die Beschäftigungsverhältnisse betrachtet, dann muß man in der heutigen Lage unserer Gesellschaft angeben, um welche Art von Beschäftigungsverhältnissen es sich handelt. Wenn man sich dann nach jahrelangem Votum für Verlängerung von Arbeitszeiten endlich zu der Einsicht durchgerungen hat - das begrüßen wir ja -, daß man Überstunden abbauen und Teilzeitarbeitsplätze einrichten muß, darf es aber nicht so sein, daß Millionen von Arbeitsplätzen zuwachsen, diese aber nicht sozialversicherungspflichtig abgesichert sind und zu Lasten der Frauen in unserer Gesellschaft gehen.
({40})
So haben wir uns die Neuordnung des Arbeitsmarktes nicht vorgestellt.
Daher ist es nicht akzeptabel, daß Sie beispielsweise das Angebot der Gewerkschaften, auch hier mit den Regierenden zu einer Zusammenarbeit zu
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({41})
kommen, auf diese Art und Weise beantwortet haben. Es war ein Angebot der Gewerkschaften, zu einem „Bündnis für Arbeit" zu kommen. Das, was die Gewerkschaften dort eingebracht haben, waren moderate Lohnabschlüsse. Das ist natürlich in der jetzigen konjunkturellen Situation die adäquate Antwort. Aber die Gewerkschaften wollen sich dadurch eine Zusage einhandeln, daß es zu weniger Kündigungen und zu weniger Beschäftigungsabbau kommt. Das ist doch ein vertretbares und von allen zu unterstützendes Anliegen unserer Gewerkschaften. Wenn Sie darauf mit Abbau des Kündigungsschutzes antworten, dann haben Sie in die Hand gespuckt, die man Ihnen gestreckt hat, meine Damen und Herren!
({42})
Im übrigen ist der Abbau des Kündigungsschutzes, wenn man ihn vor dem Hintergrund der realen Situation auf dem Arbeitsmarkt betrachtet, eine Maßnahme, die im Grunde genommen nur Symbolcharakter hat. Wenn Sie sich die Einlassungen über die Kombination von Kündigungsschutzvorschriften und der Möglichkeit, befristete Arbeitsverträge einzugehen ansehen, die gestern im „Handelsblatt" vorgebracht worden sind, dann werden Sie erkennen, daß dies eine völlig unnötige und überflüssige Provokation der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist. Ich appelliere noch einmal an Sie, diese unkluge und von der Sache noch nicht einmal gerechtfertigte Entscheidung zurückzunehmen.
({43})
Wenn Sie in Ihrem Programm vorsehen, befristete Arbeitsverträge mehrfach zu verlängern, dann frage ich mich, was eigentlich noch der Sinn dieser Provokation ist. Und dann sagen Sie, ein Handwerker, der nur fünf Beschäftigte hat, habe wegen des hohen Kündigungsschutzes Sorge, noch einen einzustellen. Wenn Sie in diesem Ausmaß die befristeten Arbeitsverhältnisse und Kettenverträge zulassen, dann ist das keinem mehr beizubringen. Es wäre an der Zeit, daß Sie nicht immer nur Flickschusterei betreiben. Sie geraten zeitlich in die Enge, weil Sie vor Wahlen nicht diskutieren wollen, und nach den Wahlen geht es hopplahopp. Dann haben wir nichtüberlegte, unausgewogene Entscheidungen.
({44})
Ich bin sicher, wenn ich die Gesichter in Ihrer Fraktion sehe, verehrter Herr Bundeskanzler, es würden ganz prominente Mitglieder Ihrer Fraktion diese Feststellung unterschreiben.
({45}) Ich will aber jetzt die Namen nicht nennen.
Der sechste Punkt, den wir vorschlagen, ist eine Stärkung von Forschung und Innovation in unserer Gesellschaft. Es ist richtig in Ihrem Programm, daß Sie Existenzgründungen erleichtern wollen. Es ist richtig und unterstützenswert in Ihrem Programm, daß Sie den Zugang zu Wagniskapital verbessern wollen. Aber, meine Damen und Herren, bei den Forschungsausgaben darf man nicht kürzen. Wenn man alle Ressorts auffordert zu kürzen, dann müssen wir noch einmal daran erinnern, daß die Forschungsausgaben in den letzten Jahren im Haushalt insgesamt stark zurückgegangen sind.
Deshalb ist der Einwand der ostdeutschen Abgeordneten Ihrer Partei, verehrter Herr Bundeskanzler, gerechtfertigt, wenn sie auf die Notwendigkeit der Verstärkung von Forschungsausgaben gerade in den neuen Bundesländern hinweisen. Überprüfen Sie noch einmal diese Entscheidung! Es ist Sparen angesagt, das will niemand bestreiten, aber nicht bei den Zukunftsinvestitionen unserer Gesellschaft.
({46})
Das gilt genauso für das Hin- und Hergezerre in der Koalition um die BAföG-Regelung. Gut ausgebildete Studentinnen und Studenten sind auch eine Investition in die Zukunft. Wir werden es nicht zulassen, daß die Frage, ob jemand eine gute Ausbildung erhält oder nicht, durch falsche Regelungen wieder allein vom Einkommen seiner Eltern abhängig wird. Wir werden das nicht zulassen.
({47})
Natürlich können wir auch nicht mit dem Rasenmäher Investitionsausgaben kürzen. Es wäre wünschenswert, daß die investiven Ausgaben hin zu erneuerbaren Energien umgepolt werden. Deswegen halten wir an unserem Vorschlag fest, an dieser Stelle die Anstrengungen des Staates zu verstärken und die vorhandenen Ausgaben stärker auf erneuerbare Energien auszurichten, damit wir die Märkte der Zukunft gewinnen und damit die Photovoltaik und die Sonnentechnik nicht nach Japan oder in die Vereinigten Staaten abwandern.
({48})
Natürlich sind wir in der jetzigen Phase auch aufgefordert, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.
({49})
- Verehrte Damen und Herren, ich bin für diesen Zwischenruf dankbar. Ich möchte Sie jetzt noch einmal mit dem Grund vertraut machen, warum wir als Oppositionspartei - das war ein einmaliger Vorgang - an der Saar 1985 aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit erreicht haben. Das gibt es nicht oft. Davon können Sie nur träumen.
({50})
Wir haben die absolute Mehrheit erreicht, weil die ökonomische und insbesondere die finanzpolitische Lage an der Saar völlig aussichtslos war und der Haushalt total überschuldet war, und zwar durch die Politik von CDU und F.D.P. Natürlich können die Länder nicht die Steuern und Abgaben so erhöhen, wie Sie es hier tun.
({51})
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({52})
An der Saar galt nun wirklich, meine feinen Herren von den Liberalen: Steuerland war längst abgebrannt. Wir konnten auf die Erhöhungsorgien, die Sie durchgeführt haben, nicht zurückgreifen. Ich sage Ihnen eines: Wenn Sie schon nicht in der Lage sind, sachgemäße Vorschläge zu machen, dann bleiben Sie zumindest bei der Wahrheit; denn die Grundlage unserer heutigen Debatte muß eine faire und sachgerechte Diskussion sein.
({53})
Weiterhin sage ich, daß Ihre ständige Polemik gegen die Koalition Röder/Klumpp gerichtet ist. Sowohl der ehemalige saarländische Ministerpräsident Röder als auch der ehemalige F.D.P.-Vorsitzende Klumpp haben in diesem Umfang Ihre ständigen abqualifizierenden Bemerkungen gegenüber der Saarpolitik und ihrer Bevölkerung nicht verdient. Auch wenn Sie Großmäuler dagewesen wären, hätten wir die Montankrise und die Bergbaukrise gehabt. Schreiben Sie sich das einmal hinter die Ohren!
({54})
Wenn wir die öffentlichen Haushalte konsolidieren wollen, dann sind wir gut beraten, die Vorschläge des Sachverständigenrates zu akzeptieren.
({55})
- Ich danke Ihnen, Herr Dr. Schäuble, daß Sie für etwas Ruhe in Ihrer Fraktion sorgen. Vielen Dank für diese Fairneß.
Der Sachverständigenrat rät dazu, bei der Haushaltskonsolidierung zwischen kurzfristigen und längerfristigen Konsolidierungsmaßnahmen zu unterscheiden. Er rät weiter dazu, in der Phase der stagnierenden Konjunktur, der erlahmenden Wirtschaft, der Rezession - wie immer Sie das nennen wollen - nicht über Gebühr mit Kürzungen und natürlich auch nicht mit Steuererhöhungen gegenzusteuern.
Diese Politik ist allerdings nur zu rechtfertigen, wenn tatkräftig längerfristige Strukturreformen eingeleitet werden, um die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren.
({56})
- Ja, das mögen Sie vielleicht beabsichtigen, aber wenn man den Schuldenstand sieht, waren Sie nicht erfolgreich in Ihrer Absicht. Das darf zumindestens festgestellt werden.
({57})
Die Vorschläge, die Sie dazu vorlegen, sind
({58})
teilweise geeignet, teilweise sind sie ungeeignet. Wenn beispielsweise der Bundeskanzler den hehren Grundsatz verkündet, wir sollten nicht zulassen, daß jemand, der arbeitet, weniger hat als jemand, der nicht arbeitet, wer wollte ihm da widersprechen?
Wenn er zum Beispiel darauf hinweist, daß wir bei den Sätzen der Sozialhilfe darauf achten müssen, daß dieser Grundsatz eingehalten wird, wer wollte ihm da widersprechen? Wir haben beim Solidarpakt entsprechende Vereinbarungen zur Begrenzung der Sozialhilfesätze getroffen, und wir sind auch in Zukunft bereit, entsprechende Vereinbarungen zu treffen, um dieses Gebot, das unstreitig ist, zu unterstützen.
Aber ich möchte an dieser Stelle auch darum bitten, daß die Sozialhilfeempfänger nicht mit unsachgemäßen, polemischen Bemerkungen ständig herabgesetzt werden.
({59})
Denn wir erleben schon jahrelang eine Debatte, die Sie jetzt wiederholt haben und die heißt: Wer zumutbare Arbeit ablehnt, dem muß die Sozialhilfe gekürzt oder ganz gestrichen werden. Was soll eigentlich das ständige Herumreiten auf dieser Forderung? Sie als deutscher Bundeskanzler müßten doch wissen, daß das längst im Gesetz steht.
({60})
Ich lese Ihnen § 25 vor. Es könnte ja sein, daß das zu einer Information führt:
({61})
Wer sich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten oder eine zumutbare Arbeitsgelegenheit anzunehmen, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.
Was soll also das ständige Wiederholen einer Forderung, die längst in einem deutschen Gesetzbuch steht, und welche Absichten verbinden sich eigentlich damit?
({62})
Ich sage Ihnen noch einmal: Ich weiß ganz genau, daß es populär ist, den Eindruck zu erwecken, es gäbe da Leute, die zumutbare Arbeit ablehnen und gleichwohl Sozialhilfe beziehen. Seien Sie vorsichtig mit solchen Behauptungen! Seien Sie fair und zitieren Sie das deutsche Gesetzbuch! Polemisieren Sie nicht gegen die, von denen viele sich nicht helfen können, die in einer schwierigen Situation ihres Lebens sind!
({63})
Viel sinnvoller wäre es in dieser Frage, den viel zu hohen Eingangssteuersatz von fast 26 Prozent zu senken.
({64})
Dieser Eingangssteuersatz ist einfach eine Aufforderung zur Schwarzarbeit und war eine der Fehlentscheidungen Ihrer Regierung in den letzten Jahren.
({65})
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({66})
Es wäre genauso zu erwägen, ob die bisherige Vorschrift, daß das, was sich ein Sozialhilfeempfänger dazuverdient, ganz auf die Sozialhilfe angerechnet wird, eigentlich wirklich sachgemäß ist oder ob sie nicht vielmehr auch ein Anreiz dazu ist, solche Tätigkeiten überhaupt nicht anzumelden und eben schwarz zu arbeiten. Wäre es nicht ein Reformvorschlag, über den man diskutieren könnte, daß solcher Zusatzverdienst nur teilweise angerechnet wird, um den Sozialhilfeempfängern den Übergang ins Arbeitsleben an dieser Stelle zu ermöglichen und zu erleichtern?
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- Ja, wenn Sie „bravo!" rufen, dann machen wir es doch! Bringen Sie den Gesetzentwurf ein, und wir ziehen es durch!
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- Meine Damen und Herren, ich habe gelesen, daß Sie das jetzt wieder als Absicht bekundet haben.
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Sie haben mich immer noch nicht verstanden. Ein solches Gesetz gibt es nicht. Es wäre an der Zeit, dieses Gesetz zu realisieren.
Der zweite Punkt, den wir ansprechen müssen, ist natürlich die Notwendigkeit, die Kosten im Gesundheitswesen einzudämmen. Aber, meine Damen und Herren, wenn wir die Kosten im Gesundheitswesen eindämmen wollen, bedürfen wir, auch was die Länder- und die Gemeindeseite angeht, einer Gesamtvereinbarung.
Nachdem jetzt die Wahlen vorüber sind, wäre es an der Zeit, daß es zu einer abgestimmten Gesamtvereinbarung kommt; denn es ist nun einmal so: Man kann diese Kostendämpfung nicht nur im Hinblick auf die Krankenhäuser unter Ausklammerung der ambulanten Versorgung und anderer Teilbereiche regeln. Man muß ein Gesamtpaket vorlegen. Wir sind nach wie vor zur Verabschiedung eines sozial ausgewogenen Gesamtpakets bereit.
({70})
Dritter Punkt: Rentenreform. Wir haben bei der Umstellung der Rentenformel von brutto auf netto mitgewirkt, und wir stehen zu dieser Vereinbarung. Wir haben Ihnen ebenfalls gesagt, daß wir bereit sind, beim Vorruhestand eine sachgemäße Lösung zu finden, weil die bisherige Lösung nicht akzeptabel war. Wenn aber jetzt von Ihnen gesagt wird, das, was wir bereits beschlossen haben, sei nicht mehr verhandlungsfähig, dann müssen Sie verstehen, daß dies keine Grundlage einer sachgemäßen Zusammenarbeit sein kann. Wer den Kompromiß sucht, darf nicht sagen, das, was wir bereits entschieden haben, sei nicht mehr verhandlungsfähig.
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Ich möchte Ihnen etwas dazu sagen, daß Sie das Renteneintrittsalter anheben wollen. Im Gespräch mit einem Industrieverband wurde das Anheben des Rentenalters für Frauen noch mit der Bemerkung begründet, das sei Gleichberechtigung. Was dieser Industrieverband wie viele in unserer Gesellschaft übersehen hat, ist, daß das reale Renteneintrittsalter der Frauen höher liegt als das der Männer. Von daher ist aus fiskalischen Erwägungen dieser Vorschlag, der wohl im Hause Blüm entwickelt worden ist, durchaus verständlich. Ob das insgesamt der richtige Ansatz ist, ist zumindest im Hinblick auf die Beschäftigungsart und die Entlohnungsart, die gerade bei den Frauen immer noch eine völlige Schieflage hat, zu hinterfragen.
Aber eines müßte klar sein: Wenn wir auf der einen Seite wollen, daß die Jugendlichen einen Arbeitsplatz finden und nach der Ausbildung auch den Eintritt ins Erwerbsleben finden können, dann ist eine solch rigide Vorgehensweise äußerst problematisch. Wir lösen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht, indem wir die Lebensarbeitszeit für die Älteren verlängern und die Jugendlichen draußen vor der Tür lassen.
({72})
Deswegen wäre es sinnvoller, darüber zu reden, ob man nicht gleitende Übergänge wählt, wie sie bereits beim Vorruhestand diskutiert worden sind. Ich halte solche Ansätze für sinnvoller als dieses strikte Vorgehen nach den alten Verhaltensmustern, das dann eben zu dem sicherlich auch von Ihnen nicht gewollten Ergebnis führt, daß die Jugendlichen noch größere Probleme haben werden, in Zukunft einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden.
An dieser Stelle möchte ich Sie auf die Widersprüchlichkeit Ihrer ordnungspolitischen Vorgehensweise aufmerksam machen. Obwohl Sie immer wieder die Subsidiarität hochhalten, obwohl Sie immer wieder sagen: „Was andere tun können, soll der Staat nicht tun", haben Sie jetzt bei der Lohnfortzahlung gesagt: Nachdem die Tarifvertragsparteien das nicht ordentlich hinbekommen, muß der Staat das jetzt machen. - Interessant ist, daß Sie dieselbe Logik nicht bei unserer Jugend anwenden. Da verlassen Sie sich auf freiwillige Zusagen der Wirtschaft, von denen wir wissen, daß sie nicht eingehalten werden. Wenn Sie also springen, dann springen Sie bitte ganz, sonst ist Ihre Ordnungspolitik so im Schleudern, wie das der Finanzwissenschaftler dargestellt hat, den ich zu Beginn zitiert habe. Das ist nicht logisch.
({73})
Einfache Zusagen - ich denke dabei insbesondere an die neuen Bundesländer - wie „Wir sind bereit, uns zu bemühen, mehr einzustellen" sind in der gegenwärtigen konjunkturellen Phase so unverbindlich, daß jeder weiß, daß sie genausowenig eingehalten werden wie die Kreditzusagen der privaten Banken zur Finanzierung des Aufbaus im Osten.
({74})
Deshalb wäre es sinnvoll, meine Damen und Herren, sich an dieser Stelle weitergehende Schritte zu
Ministerpräsident Oskar Lafontaine ({75})
überlegen. Es ist richtig, daß wir die sozialen Versicherungssysteme sanieren müssen. Es ist aber genauso richtig, daß wir einfach in der Verantwortung stehen, das Vertrauen unserer Jugendlichen in unsere staatliche Organisation und die Gesellschaft zu erhalten. Jugendarbeitslosigkeit muß bekämpft werden, notfalls mit staatlichen Mitteln, meine Damen und Herren.
({76})
Ein vierter Konsolidierungspunkt, den wir ansprechen müssen, sind die öffentlichen Personalhaushalte. Allerdings, meine Damen und Herren: Wer pauschal Nullrunden fordert, muß zunächst einmal in den Spiegel schauen. Er muß zunächst einmal sagen, was er unter Nullrunden versteht, ob er an einen Inflationsausgleich oder einen Rückgang der Realeinkommen denkt.
({77})
Dann muß er sich die Frage nach der sozialen Ausgewogenheit stellen.
Daß wir in den öffentlichen Haushalten Konsolidierungsbedarf haben, wird von niemandem bestritten. Wenn wir im Hinblick auf die Besoldung des Bundeskanzlers, der Ministerpräsidenten und aller anderen, die als Beamte in hohen Besoldungsstufen sind, Null sagen und gleichzeitig dasselbe für diejenigen Beamten und Angestellten, die in den niedrigsten Besoldungsstufen bzw. Vergütungsgruppen sind, vorsehen, dann sind wir in unserem Volke nicht glaubwürdig. Deshalb halte ich etwas davon, in dieser Tarifrunde Sockelbeträge ins Auge zu fassen.
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Im übrigen haben wir seit langem angeboten, bei den Personalkosten im öffentlichen Dienst zwei längerfristig wirkende Strukturreformen zu diskutieren. Ich habe im Bundestag schon mehrfach die Frage der nicht an der Leistung orientierten Regelbeförderung angesprochen und dazu eingeladen, bei den jetzigen Beratungen im Bundesrat darüber zu reden. Wenn wir mehr Leistung in den Verwaltungen wollen, müssen wir über dieses Strukturelement der Besoldung im öffentlichen Dienst sprechen.
Genauso ergebnislos hat das Saarland seit Jahren vorgeschlagen - ich sage das, weil so oft „Saarland" dazwischengerufen wurde -, den Tatbestand zu korrigieren, daß drastische Verkürzungen der Lebensarbeitszeit etwa bei den Beamten gleichwohl zur vollen Pension führen. Eine solche Entwicklung ist nicht akzeptabel.
Da Sie in Ihrem Programm zum Beispiel vorschlagen, Zusatzleistungen bei der Krankenhausversorgung jetzt auch bei den Beamten zurückzunehmen, will ich Sie mit etwas vertraut machen: Sowohl die Abschaffung der Ministerialzulage als auch die Abschaffung dieser Zusatzleistungen sind im Saarland schon längst beschlossen und die Abschaffung der Zusatzleistungen auch in Hamburg und in Bremen.
Es ist gut, wenn Sie dazulernen. Aber glauben Sie ja nicht, daß das, was Sie an Konsoldierungsvorschlägen hier vortragen, andernorts nicht längst in Angriff genommen oder mit größerem Erfolg schon bewältigt worden wäre.
({79})
Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. In der jetzigen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung kommt alles darauf an, die Zeichen auf mehr Wachstum und Beschäftigung zu stellen. Wenn man mehr Wachstum und Beschäftigung will, dann brauchen wir ein abgestimmtes Vorgehen der Geldpolitik, der Lohnpolitik und der staatlichen Finanz- und der Sozialpolitik. Nach unserer Überzeugung haben Geldpolitik und Lohnpolitik in der jetzigen Phase ihre Aufgaben erledigt. Nach unserer Überzeugung sind Ihre Vorschläge zur Finanzpolitik und zur Sozialpolitik nicht hinnehmbar. Sie verletzen das Gebot der Stetigkeit, der Verläßlichkeit und der Ausgewogenheit.
({80})
Zum Gebot der Stetigkeit. Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß wir vor einigen Monaten einen mühsamen Kompromiß beim Kindergeld und bei der Freistellung niedriger Einkommen von den Steuern gefunden haben, um ihn nach wenigen Monaten wieder in Frage zu stellen? Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln - so ist nun wirklich keine stetige Finanzpolitik für unseren Staat zu machen.
({81})
Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß Sie monatelang die Förderung der Abschaffung der privaten Vermögensteuer vorgeschlagen haben in einer Zeit, in der Sie bei Sozialhilfeempfängern, Rentnern, Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe kürzen wollen und die Arbeitnehmer immer stärker belasten wollen? Wer solche Vorschläge monatelang vorträgt, der läßt jedes Empfinden für soziale Gerechtigkeit vermissen.
({82})
Wir werden daher die sich jetzt abzeichnende Korrektur, die Sie vorschlagen und die wir anerkennen, sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt und auf die konkreten Vorschläge hin prüfen.
Eines möchte ich zum Schluß sagen: Bitte glauben Sie uns, es geht nicht nur um die Frage der richtigen Vorschläge in der Finanzpolitik und in der Steuerpolitik und der richtigen Vorschläge, um mehr Innovationen und Wachstum in unserer Gesellschaft durchzusetzen. Es geht vielmehr um einen Kernbestand unserer Nachkriegsgesellschaft. Dieser Kernbestand waren der Sozialstaat und die soziale Gerechtigkeit. Bitte zerstören Sie nicht mutwillig diesen Konsens unserer Nachkriegsgesellschaft! Ein solches Vorgehen wird sich bitter rächen und am Ende zu mehr ArMinisterpräsident Oskar Lafontaine ({83})
beitslosigkeit und zu höherer Staatsverschuldung führen.
({84})
Es spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben vier Millionen Arbeitslose in unserem Land, und ich finde, die Debatte und die Art, wie wir sie führen, sollten dieser Tatsache Rechnung tragen. Ich bitte Sie alle darum.
({0})
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben gesagt, Fairneß und das Bei-der-Wahrheit-Bleiben sollten die Grundlage dieser Debatte sein. Dem will ich ausdrücklich zustimmen. Sie haben auch gesagt, die Regierungserklärung des Bundeskanzlers beschreibe die Lage und den Handlungsbedarf richtig. Sie haben dann den Vorschlägen zum Teil zugestimmt und zum Teil kritische Anmerkungen dazu gemacht. Aber Sie sind Ihrer eigenen Anforderung, bei der Wahrheit zu bleiben, nicht gerecht geworden, weil Sie dem Bundeskanzler unterstellt haben - das haben Sie ganz am Anfang gesagt -, die Rede sei zwar gut, aber sie hätte schon vor ein paar Wochen, nämlich vor den Landtagswahlen, gehalten werden müssen. Sie haben gesagt, wir hätten vor den Landtagswahlen nicht dasselbe gesagt, was wir jetzt als Konzept vorlegen. Das ist nicht die Wahrheit.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit wir das gleich friedlich ausräumen und es so machen, wie es Herr Lafontaine gesagt hat - mir ist es damit sehr Ernst, daß ein falscher Eindruck ausgeräumt wird -: Wir haben Ende Januar das 50-Punkte-Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze vorgelegt. Ich will hier nicht alles vortragen. Aber Sie haben als erste Punkte unsere Absichten hinsichtlich des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung genannt, Herr Lafontaine.
Jetzt lese ich Ihnen aus unserem 50-Punkte-Programm für Wachstum und Beschäftigung von Ende Januar - der Bundeskanzler hat darauf Bezug genommen; es ist ja veröffentlicht worden, und wir haben darüber debattiert - die Ziffer 18 vor:
Pro Mitarbeiter und Jahr gehen etwa 15 Arbeitstage durch Arbeitsunfähigkeit verloren. Dies führt zu im internationalen Vergleich hohen zusätzlichen Kostenbelastungen der deutschen Unternehmen. Um dem entgegenzuwirken, hält es die Bundesregierung für notwendig, daß die Tarifpartner - entsprechend der Verabredung in dem Gespräch beim Bundeskanzler am 23. Januar 1996 ({2}) - Möglichkeiten zur Verminderung von Fehlzeiten in den Betrieben konkretisieren....
Es wurde immer gesagt: Wenn die Tarifpartner dazu Ergebnisse bringen, muß der Gesetzgeber nicht handeln. Die Tarifpartner haben am Dienstag erklärt, sie seien nicht in der Lage, zu Ergebnissen zu kommen. Ich will das nicht würdigen. Deswegen haben wir entsprechend unserer Ankündigung unsere Beschlüsse gefaßt. Nehmen Sie den Vorwurf zurück, wir hätten vor den Wahlen nicht angekündigt, was wir jetzt beschlossen haben!
({3})
Dann haben Sie gesagt, wir hätten unsere Absichten und Vorschläge zum Kündigungsschutzgesetz nicht vorher bekanntgemacht.
({4})
- Ja, ich lese es Ihnen vor; seien Sie ganz ruhig. - Ich lese zum Kündigungsschutz Ziffer 20 des Aktionsprogramms für Investitionen und Arbeitsplätze vor:
Ohne den Kündigungsschutz einzuschränken, sollen Regelungen präzisiert und klarer gefaßt werden. Dies gilt insbesondere für die Sozialauswahl und die dabei zu berücksichtigenden betrieblichen Notwendigkeiten bei betriebsbedingten Kündigungen.
Das ist das gleiche, was jetzt in unserem Programm steht.
Die Bundesregierung wird die zulässige Dauer von befristeten Arbeitsverhältnissen nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz auf 24 Monate ausdehnen und in diesem Rahmen eine Mehrfachbefristung zulassen.
Die Bundesregierung beabsichtigt, zur Förderung von Beschäftigung in kleineren Unternehmen und von Teilzeitarbeit den Schwellenwert im Kündigungsschutzgesetz zu erhöhen
({5})
und Teilzeitarbeitnehmer im Arbeitsrecht anteilig zu berücksichtigen; sie wird darüber mit den Tarifpartnern Gespräche aufnehmen.
Herr Lafontaine, Sie müssen zurücknehmen, daß wir vor den Wahlen nicht gesagt hätten, was wir diese Woche beschlossen haben.
({6})
Weil Sie es ja so damit haben, daß andere lesen sollen, wie gut man informiert ist, haben Sie, was ich sehr begrüße, gesagt, man solle doch die Möglichkeit der Verrechnung mit dem Bezug von Sozialhilfe bei eigener Arbeit von Sozialhilfeempfängern verbessern. Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich darf Sie darüber informieren, daß das entsprechende Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts vom Deutschen Bundestag am 22. März 1996 verabschiedet worden ist.
({7})
Das Problem ist leider nur, daß der Bundesrat das Gesetz bisher abgelehnt hat. Der Vermittlungsausschuß wird am Montag kommender Woche darüber beraten. Ich hoffe, daß Ihre Ankündigung auf mangelnder Information beruht und so zu verstehen ist, daß Sie darauf hinwirken werden, daß wir rasch die Zustimmung des Bundesrates zu dem vom Bundestag verabschiedeten Gesetz bekommen.
({8})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nachdem klargestellt ist, daß der wesentliche Inhalt dessen, was die Koalitionsfraktionen nach intensiver, aber auch zügiger Beratung gestern abend beschlossen haben, was wir Ihnen vorlegen und was der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vorgetragen und begründet hat, bereits vor den Wahlen angekündigt war, können wir zur Sache zurückkehren. Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers - das hat auch Herr Lafontaine nicht bestritten - hat zutreffend die Notwendigkeit beschrieben, daß wir angesichts dramatischer Veränderungen in der Welt wie in der Wirklichkeit unserer Arbeitswelt und unserer Gesellschaft neue Antworten auf neue Herausforderungen finden müssen. Das ist die eigentliche Aufgabe, die in unserem Land gestellt ist, der sich alle stellen müssen und der wir uns mit unserem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung stellen wollen, dem diese Debatte dient.
Die großen Veränderungen, die in der Welt stattfinden und auf die wir Antworten suchen müssen, können damit beschrieben werden, daß wir eine Globalisierung von Märkten haben, daß der Wettbewerb um die Standorte von Investitionen und Arbeitsplätze nach dem Ende der europäischen Teilung ganz anders geworden ist, als er noch vor wenigen Jahren war, daß wir deshalb um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit um die Zukunft unseres Wohlstands und unserer sozialen Sicherheit ringen müssen und daß wir wettbewerbsfähig bleiben bzw. wettbewerbsfähiger werden müssen, als wir es in den letzten Jahren geworden sind. Das ist die eigentliche Aufgabe.
({9})
Zu den großen Veränderungen gehört ganz genauso - ich könnte viele beschreiben; ich will nur wenige Hauptlinien aufzeigen, um zu begründen, worin unsere Antworten bestehen -, daß wir durch die Entwicklung der modernen Technik und Forschung; insbesondere durch die Kommunikationstechnik und
anderes mehr im Bereich der industriellen Produktion und im Bereich großer Verwaltungen - denken Sie an Banken oder Versicherungen - Rationalisierungsfortschritte haben, die wir zwar beklagen, aber nicht ändern können, denen wir uns stellen müssen, weil sonst noch mehr Arbeitsplätze verlorengehen. Diese Entwicklung führt dazu, daß wir das Ziel Arbeit für alle eben nicht mehr nur im Bereich industrieller Produktion erreichen können, sondern dabei stärker als bisher den Bereich neuer Beschäftigungsfelder, insbesondere die privaten Haushalte und den Dienstleistungssektor insgesamt einbeziehen müssen. Das führt dazu, daß das Problem der Lohnzusatzkosten, das Problem der Flexibilisierung und das Thema, neue Antworten zu suchen, eine ganz andere Bedeutung gewinnen, wenn man Arbeitslosigkeit nicht nur als Möglichkeit zur demagogischen Auseinandersetzung begreift, sondern als eine Herausforderung, zu deren Bewältigung wir alle aufgerufen sind.
({10})
Veränderungen ergeben sich auch auf Grund der demographischen Entwicklung. Am liebsten würden Sie auch noch dafür den Bundeskanzler verantwortlich machen. Ich weiß, daß er Ihrer Meinung nach für alles und vor allem für die Lösung aller Probleme zuständig ist. Ich habe verstanden - ich will ausdrücklich sagen, daß ich Ihre Meinung teile -, daß es, wenn Veröffentlichungen zutreffen, in Vorstandsetagen großer deutscher Unternehmen bei der derzeitigen Situation, wo man zum Teil Dividendenzahlungen aussetzen muß und wo Arbeitsplätze abgebaut werden, als vordringliches Problem angesehen wird, die Anpassung der Vorstandsbezüge an amerikanische Verhältnisse auf die Tagesordnung zu setzen. Ich finde, wir haben dringendere Probleme in unserem Land zu lösen. Dafür ist der Bundeskanzler aber nicht verantwortlich.
({11})
Das sollten wir gemeinsam sagen. Vielleicht können sogar die Arbeitnehmervertreter in den entsprechenden Vorständen daran mitwirken, daß man sich auf die vorrangigen Prioritäten, auch in den Vorstandsetagen, konzentriert. Später kann man dann noch anderes machen.
({12})
Was die demographische Entwicklung betrifft, so müssen wir doch sehen - es hat doch keinen Sinn, uns die Verantwortung gegenseitig zuzuschieben -, daß die Lebenserwartung gestiegen ist und weiter steigt. Daß übrigens die Lebenserwartung in den neuen Bundesländern schon im Vergleich zu 1989 im Ansteigen begriffen ist, gehört zu den erfreulichsten Dingen, die wir in unserem wiedervereinten Vaterlande zu registrieren haben.
({13})
Darüber, daß wir aber bei gleichzeitig gesunkenen
Geburtenzahlen nicht den Weg in eine immer kürzere Lebensarbeitszeit fortsetzen können, wenn die
Grundlagen unseres Wohlstandes und unserer sozialen Sicherungssysteme stabil bleiben und als zukunftsfähig erhalten werden sollen, sollten wir nicht streiten, sondern wir sollten darauf die richtigen Antworten suchen. Wir legen dazu in unserem Programm für Wachstum und Beschäftigung Antworten vor, wobei wir gerne in der Auseinandersetzung mit Ihren Standpunkten überprüfen wollen, ob es noch bessere Wege gibt.
Dies alles sind Veränderungen, auf die wir reagieren wollen und müssen, wenn wir unsere Chancen für die Zukunft sichern wollen. Deswegen geht es gar nicht um Einsparungen, um Opfer und Einschränkungen, sondern es geht darum, die notwendigen Schritte zu tun, damit wir auch weiterhin in Wohlstand, in sozialer Gerechtigkeit und in einer sicheren Zukunft leben können. Das ist das Ziel.
({14})
Dazu müssen wir nach unserer Überzeugung kleine und mittlere Unternehmen befähigen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Deswegen konzentrieren wir uns in unserem Programm auf die Förderung neuer kleiner und mittlerer Unternehmen und auf die Förderung von Existenzgründern. Deswegen setzen wir in unserem Programm darauf, Existenzgründer zu fördern, die Eigenkapitalbildung in neuen, expandierenden Unternehmen zu verstärken und den Zugang zu Wagniskapital zu verbessern. Das alles sind die Schritte. Deswegen konzentrieren wir uns auch darauf, wie schon Ende Januar angekündigt, die Einstellungsmöglichkeiten, auch durch die Anhebung von Schwellenwerten beim Kündigungsschutz, bei kleinen Unternehmen im Handwerk zu verbessern.
({15})
Wir müssen nach unserer Überzeugung Einstellungshemmnisse abbauen, und wir müssen nach unserer Überzeugung die Bereitschaft zur Neueinstellung, zur Schaffung von neuen und von mehr Arbeitsplätzen verbessern. Wir sollten uns nicht durch Scheuklappen und Tabus den Zugang zur Lösung der Probleme versperren. Deswegen finde ich auch, daß der Gesetzgeber in allen Bereichen, die nicht tarifvertraglich geregelt sind - wir respektieren die Tarifautonomie - die Regelungen für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und die Entgeltfortzahlung im Urlaub
({16})
- auch für Beamte; das steht ausdrücklich in unserem Programm, Herr Conradi; ich kann es Ihnen gerne vortragen; ich werbe um Zustimmung -, modifizieren und eine Selbstbeteiligung im Krankheitsfall und eine Anrechnung von Überstunden bei der Entgeltfortzahlung im Urlaub einführen sollte. In allen anderen Ländern ist das auch so geregelt. Ich meine, daß man in den Fällen, in denen man nicht arbeitsfähig ist, nicht genausoviel oder gar mehr bekommen kann wie dann, wenn man erwerbstätig ist. Der Vorschlag, den wir hier machen, nicht etwas Unzumutbares, wie überhaupt alles das, was wir vorschlagen, überhaupt nicht als „Kahlschlag" oder „tiefer Einschnitt" oder „Opfer" zu begreifen ist. Nein, die notwendigen, aber zumutbaren und sozial ausgewogenen und vertretbaren Korrekturen haben ein einziges Ziel: unseren Wohlstand, unsere soziale Sicherheit und mehr Arbeitsplätze auch für die Zukunft zu sichern. Darum und um nichts anderes geht es, und da sollten wir uns nicht gegenseitig diffamieren.
({17})
Wir müssen auch neue Beschäftigungsfelder erschließen. Deswegen glaube ich, daß unser Schritt richtig ist. Ich habe aufmerksam zugehört und die Zuversicht geschöpft, daß die Sozialdemokratische Partei ihre Position, die sie über viele Jahre eingenommen hat, korrigiert. Wir sind der Überzeugung, daß wir private Haushalte stärker als Arbeitgeber für reguläre Beschäftigungsverhältnisse steuerlich anerkennen müssen. Das haben Sie über viele Jahre mit dem Totschlagargument „ Dienstmädchenprivileg " verhindert und diffamiert. Jetzt sind Sie dabei, Ihre Position zu korrigieren. Ich begrüße das ausdrücklich und werbe dafür, daß Sie das unterstützen.
({18})
Wenn wir über die Lebenswirklichkeit von Menschen, Frauen und Männern, reden, dann wissen wir, daß Einstellungen und Lebensplanungen sich verändern, daß heute mehr Menschen als zu Lebzeiten der Generation unserer Eltern und Großeltern ihre Lebensplanung darauf abstellen, daß sie gern erwerbstätig sein wollen und daß sie sich bei der Erledigung häuslicher Arbeit in einem stärkeren Maße als früher auch der Anstellung von Arbeitskräften bedienen wollen. Dieser Leistungsaustausch wird aber nur funktionieren, wenn er außerhalb von Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft erfolgt, wenn wir die steuerlichen Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß dies tatsächlich nicht in die Schattenwirtschaft abgedrängt wird. Deswegen legen wir diesen Vorschlag vor und werben bei Ihnen um Unterstützung.
Ich habe überhaupt bei vielen Ihrer Vorschläge - soweit ich sie nachvollziehen konnte und soweit Sie sie auch schriftlich übermittelt haben - die Sorge, daß das, was Sie aufs Papier schreiben, nicht der Wirklichkeit im Leben entspricht. Man kann wunderbar darüber diskutieren - die Debatte wird auch in meiner Fraktion geführt; liebe Kolleginnen und Kollegen, warum soll man darüber nicht reden? -, ob die Entwicklung bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen auf Dauer ohne jede Veränderung so weitergehen kann. Aber, Herr Kollege Lafontaine, wenn wir diese Beschäftigungsverhältnisse einfach abschaffen, dann - das sage ich Ihnen voraus - wird die Antwort der Realität die sein, daß wir nicht mehr Beschäftigungsverhältnisse bekommen, sondern noch mehr Schwarzarbeit und noch mehr Schattenwirtschaft. Das möchten wir vermeiden.
({19})
Es nützt uns nichts, wenn wir auf dem Papier scheinbar gute Programme machen, die in der Wirklichkeit nicht funktionieren. Wir müssen doch sehen, daß es ein entscheidendes Problem ist, daß ein immer größerer Teil von Beschäftigung in die Grauzone von Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit abdriftet. Deswegen ist es die Hauptaufgabe, wenn wir mehr Arbeitsplätze, mehr Wachstum, mehr wirtschaftliche
Dynamik und damit mehr soziale Sicherheit wollen, daß wir den zu breit gewordenen öffentlichen Korridor - das nennt man Staatsquote bzw. Steuer- und Abgabenquote - etwas enger gestalten. Deswegen sind alle unsere Bemühungen, durch Einsparungen Steuern und Abgaben allmählich senken zu können, nicht Sparaktionen um des Sparens willen, sondern es sind notwendige Beiträge, um mehr Arbeitsplätze zu bekommen. Darum geht es und nicht um einen anderen Zusammenhang.
({20})
Deswegen sind Ihre Alternativen aus meiner Sicht nicht hinreichend geeignet. Sie sagen, wir sollten Leistungen aus der Sozialversicherung auf die öffentlichen Haushalte umfinanzieren. Dieses Argument haben wir auch in unseren eigenen Reihen hin und her abgewogen. Tun wir doch nicht so, verehrte Kolleginnen und Kollegen, als hätte der eine recht und der andere unrecht, sondern lassen Sie uns doch um die bessere Lösung, um die richtigen Antworten ringen! Die Lage ist ernst genug, und die Probleme sind wichtig genug.
({21})
Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß in der jetzigen Situation unseres Landes, unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft die Staatsquote, die wir ja zwischen 1982 und 1989 - der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen - von 52 auf unter 46 Prozent reduzieren konnten, als Folge von 40 Jahren Teilung und Sozialismus wieder zu hoch geworden ist.
Wir müssen deswegen zunächst Einsparungen durchsetzen; denn durch Umschichtungen, durch Umfinanzierungen reduziert man die Staatsquote nicht. Die Staatsquote zu reduzieren heißt, Einsparungen auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherungen vorzunehmen. Aus diesem Grunde haben wir uns dafür entschieden, zunächst auf der Ausgabenseite zumutbare Einsparungen durchzusetzen und in einem nächsten Schritt schnell, aber auch gründlich vorbereitet durch die beiden Kommissionen unter dem Vorsitz von Finanzminister Theo Waigel und Arbeitsminister Norbert Blüm, darüber zu reden, welche weiteren Schritte zusätzlich gegangen werden können.
({22})
Wenn wir uns jetzt dem Zwang zu Einsparungen bei Bund, Ländern und Gemeinden sowie bei den Sozialversicherungen dadurch entziehen würden, daß wir neue Finanzquellen erschließen, dann würden wir einen Fehler machen, und die Staatsquote würde nicht sinken, sondern weiter steigen. Deshalb sind wir dagegen.
({23})
Sie sagen, man sollte eine ökologische Steuerreform durchführen. Wir haben darüber schon einige Male diskutiert; man muß es ja auch immer wieder tun. Auch da hat der eine nicht nur recht und der andere nicht nur unrecht. Wenn wir aber über die Frage diskutieren, ob dies unter Berücksichtigung aller Gesichtspunkte jetzt ein richtiger Schritt ist, dann sage ich Ihnen: Angesichts des Standortwettbewerbs um Investitionen und Arbeitsplätze - noch immer sind unsere Hauptkonkurrenten die westeuropäischen Nachbarn, und die anderen EU-Länder haben im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland durchschnittlich um 25 Prozent niedrigere Strompreise - wird jeder Schritt, der die Kostensituation des Standortes Deutschland im Vergleich zu unseren Partnern in Europa zusätzlich belastet, den Prozeß der Auslagerung von Arbeitsplätzen verschärfen und ist deswegen in dieser Situation das falsche Rezept.
({24})
Aus diesem Grunde möchten wir in dieser Situation nichts tun, was die Chancen für mehr Arbeitsplätze und weniger Arbeitslosigkeit weiter verschlechtert. Deshalb konzentrieren wir uns auf diese Dinge.
Wir haben ja auch hinsichtlich der Durchführung einer Kraftfahrzeugsteuerreform lange miteinander diskutiert, nachgedacht und gerungen, ob es richtig ist, die Kraftfahrzeugsteuer jetzt auf die Mineralölsteuer umzuverlagern, oder ob es nicht der bessere Weg ist, zunächst einmal eine schadstoffemissionsbezogene Kraftfahrzeugsteuerreform zu verwirklichen.
Die Umweltpolitiker haben uns ganz überwiegend gesagt, der bessere Weg, schneller zu einer stärkeren Reduktion der Emissionen durch den Kraftfahrzeugverkehr zu kommen, sei unsere Form der schadstoffemissionsbezogenen Kraftfahrzeugsteuerreform. Wir schlagen Ihnen das so vor,
({25})
weil wir uns darauf konzentrieren müssen, wenn wir der Umwelt helfen wollen.
Das ist im übrigen auch für die wirtschaftliche Dynamik günstig: Wenn wir die Umrüstung der Fahrzeugflotte von nicht schadstoffarmen auf schadstoffärmere Kraftfahrzeuge beschleunigen, bewirkt dies auch einen positiven Impuls für Wachstum und Beschäftigung, für Arbeitsplätze in unserem Land. Auch unter diesem Aspekt scheint uns dies der richtigere Weg zu sein. Deswegen werbe ich schon jetzt um Ihre Zustimmung.
Wir haben aber auch gesagt: Ab 2003 kann unseres Erachtens bei der Kraftfahrzeugsteuerreform der nächste Schritt getan werden, den wir nur im Einvernehmen mit den Ländern gehen wollen und gehen werden. Wir wollen ja all diese Dinge im Einvernehmen mit den Ländern machen, zumal die Kraftfahrzeugsteuer eine Steuer ist, deren Aufkommen ausschließlich den Bundesländern zukommt.
Deswegen müssen wir ökologische und ökonomische Argumente und Gesichtspunkte unter Berücksichtigung und nach eingehender Analyse der heute gegebenen Lage, der Notwendigkeiten und Prioritäten richtig miteinander verbinden. Unser Programm, das wir Ihnen vorschlagen und wofür wir um Ihre Zustimmung werben, ist meines Erachtens der bessere Weg, um der Umwelt zu dienen und zugleich die Chancen für mehr Arbeitsplätze, mehr Beschäftigung und mehr wirtschaftlichen Wohlstand in unserem Lande zu erschließen.
Ich glaube, daß das, was Sie unter dem Schlagwort „ökologische Steuerreform" in die Debatte eingebracht haben, am Ende nur zu einer Verteuerung der Energie und zu weniger Beschäftigung und im Ergebnis auch zu weniger Umweltstandards in Europa führt; denn wenn die Produktion aus Deutschland verlagert wird, dient das ja auch der Umwelt nicht, weil wir die höchsten Umweltstandards in der Produktion haben.
({26})
- Herr Kollege Fischer, mein Wahlkreis endet an der Stadtgrenze von Straßburg. Ich könnte Ihnen jetzt die Presseerklärung des Druckhauses Burda in Offenburg verlesen, mit der begründet wurde, warum der Verlag gezwungen ist, einen Teil seiner Produktion von deutschen Standorten in die Druckerei in Vieux-Thanne im Oberelsaß zu verlagern, weil die Kosten durch die Tarifverträge, die im Bereich der Druckindustrie geschlossen worden sind, in den deutschen Betrieben genau doppelt so hoch sind wie in dem elsässischen Betrieb.
({27})
- Entschuldigen Sie, ich könnte Ihnen eine Reihe von Betrieben in anderen Bereichen nennen. Wenn Sie mal in der Gegend sind, zeige ich sie Ihnen.
({28})
- Auch wenn er daraus lernt! Ich werbe bei jedem um Einsicht, und man soll die Hoffnung nie aufgeben.
({29})
Ich habe die Diskussion um den Produktionsstandort für ein neues Automobil in Lothringen oder in Baden-Württemberg sehr genau miterlebt. Herr Bundeskanzler, Sie haben sich damals dankenswerterweise zusammen mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten um diese Entscheidung bemüht, ohne daß wir in die Entscheidung der Unternehmer eingreifen wollten; das können wir nicht, und das dürfen wir auch nicht. In jener Diskussion hat die Frage der Energiepreise in Baden-Württemberg einerseits und in Elsaß-Lothringen andererseits eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Deswegen: Wer Energiepreise in Deutschland erhöht, muß die Frage beantworten, ob das bei mehr als 4 Millionen Arbeitslosen verantwortbar ist. Ich halte es nicht für verantwortbar.
({30})
Herr Ministerpräsident Lafontaine, wenn wir uns eigentlich einig sind - ({31})
- Ich habe mir angesichts des Ernstes der Lage und der Bedeutung der Aufgabe, vor der unser Land und unsere Gesellschaft stehen, vorgenommen, nur zur Sache zu argumentieren und nicht immer nur schwarzweiß zu malen, und deswegen werde ich nicht jeden Ihrer Zwischenrufe aufnehmen; dann käme ich ein wenig vom Pfad der Tugend ab.
({32})
Wenn wir uns einig sind, daß wir, um mehr Arbeitsplätze schaffen zu können, die zu hohe Belastung an Steuern und Abgaben reduzieren müssen, dann sollten Sie, Herr Lafontaine, unsere Vorschläge hier nicht so sachwidrig darstellen. Sie haben am Schluß plötzlich gesagt, daß Sie offenbar zur Kenntnis genommen haben, daß unser Vorschlag eben nicht ist, die private Vermögensteuer ersatzlos abzuschaffen. Ich meine, es ist doch in Ordnung, daß wir in der Diskussion manche Vorschläge gemacht haben; man wird doch noch ein bißchen diskutieren dürfen. Aber da wir gesagt haben, am Donnerstag, dem 25. April, werden wir entscheiden, und schon am Freitag, dem 26. April, möchten wir das gern mit Ihnen im Bundestag debattieren, sollten wir uns doch an das halten, was wir gemeinsam vorgeschlagen haben.
Unser Vorschlag ist, die Vermögensteuer genauso wie die Gewerbekapitalsteuer auf Betriebsvermögen als Steuern, die im Standortwettbewerb Investitionen behindern, abzuschaffen
({33})
und die private Vermögensteuer, die Steuer auf Privatvermögen, mit der Erbschaftsteuer zusammenzufassen. Dann haben wir soziale Ausgewogenheit und zugleich Steuervereinfachung.
({34})
- Ja, natürlich!
({35})
Herr Scharping, Sie haben in dem Zusammenhang das Wort „obszön" gebraucht,
({36})
und ich habe gesagt, wer so redet, kann nur wenig Argumente haben. Die Sprache ist manchmal verräterisch. Die Art, wie Herr Lafontaine hier aufgetreten ist, war es übrigens auch.
({37})
Kehren Sie zu einer sachgerechten Debatte zurück!
Wenn wir die Gewerbekapitalsteuer nicht abschaffen, wenn Sie Ihre Blockade der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer nicht endlich aufgeben, müssen wir zum 1. Januar in den neuen Bundesländern die Einheitsbewertung einführen. Dann bricht
die Steuerverwaltung in den neuen Bundesländern zusammen; sie kann das gar nicht leisten.
({38})
Die Tatsache, daß in den letzten fünf Jahren annähernd 200 Milliarden DM Direktinvestitionen aus Deutschland ins Ausland geflossen sind, was aus vielen Gründen gut, notwendig und richtig ist - der Bundeskanzler hat das in seiner Regierungserklärung zutreffend beschrieben -, daß dem aber nur knapp 19 Milliarden DM Direktinvestitionen aus dem Ausland in Deutschland gegenüberstehen, beschreibt etwas von dem Prozeß der Abwanderung von Investitionen und Arbeitsplätzen aus Deutschland. Dies können wir nicht hinnehmen. Das müssen wir ändern!
({39})
Weil dies so ist, dürfen wir in Deutschland investiertes Kapital nicht höher besteuern, als es in anderen Ländern der Fall ist. Sonst werden noch mehr Arbeitsplätze abwandern. Deswegen muß die Gewerbekapitalsteuer, die es sonst nirgendwo in Europa gibt, weg. Deswegen muß nach dem Urteil des Verfassungsgerichts auch die Vermögensteuer auf Betriebsvermögen weg.
Dann aber macht es keinen Sinn - das werden Ihnen auch Ihre Finanzminister in den Ländern sagen -, die Vermögensteuer auf den privaten Teil der Vermögen aufrechtzuerhalten. Sie führt zu einem Steueraufkommen von etwa 4 Milliarden DM. Die Finanzministerien der Länder sagen uns, daß sie, um diese 4 Milliarden DM zu erheben, Kosten in Höhe von 2 Milliarden DM haben. Das macht doch keinen Sinn. Dann ist es doch vernünftiger, den Betrag, der sich netto an Aufkommen für die Länder tatsächlich ergibt, auf die Erbschaftsteuer zu schlagen und die Vermögensteuer ganz abzuschaffen und damit insgesamt ein einfaches und sozial ausgewogenes System zu schaffen. Das ist unser Vorschlag.
({40})
Sie haben gestern abend - Herr Scharping schon einige Tage zuvor, und er hat offenbar gestern abend Zustimmung gefunden - gesagt: Der Solidaritätszuschlag muß schnell abgebaut werden.
({41})
- Jeder darf klüger werden. Wir werden manchmal auch klüger bzw. entwickeln uns weiter, Herr Kollege Gerhardt.
Sie haben nun vorgeschlagen - darauf will ich aufmerksam machen -, statt dessen eine Abgabe in Höhe von 1 Prozent auf alle privaten Geldvermögen zu erheben. Ich habe mir überlegt, wie das funktionieren kann. Da stellt sich nämlich wieder das Problem des Unterschiedes zwischen Papier und Lebenswirklichkeit. Wir haben mit der Vermögensteuer nämlich schon einen Steuersatz auf Privatvermögen in Höhe von 1 Prozent; diese Abgabe gibt es. Das Gesamtaufkommen der Vermögensteuer auf Privatvermögen - für die Erhebung sind die Länder zuständig - liegt derzeit bei knapp 4 Milliarden DM. Dabei handelt es sich aber nicht nur um die Geldvermögen, sondern um alle Privatvermögen zusammen.
Herr Scharping, die Rechnung, mit einer einprozentigen Abgabe auf Geldvermögen, die es im Prinzip schon gibt, plötzlich ein Aufkommen von 35 Milliarden zu bekommen, ist in der Wirklichkeit - ({42})
- Nein, das hat nichts mit brutto oder netto zu tun.
({43})
Das ist etwas, was in der Lebenswirklichkeit nicht funktionieren kann. Diese Rechnung geht nicht auf. Wissen Sie, was Sie erreichen werden? Sie werden die Kapitalflucht dramatisch verschärfen.
({44})
Deswegen möchte ich an Sie appellieren: Cherlegen Sie sich solche Vorschläge gut! Sie funktionieren nicht. Wenn ich sehe, daß es gemäß der gesamtwirtschaftlichen Statistik 3,5 Billionen DM Privatvermögen gibt, kann ich natürlich ausrechnen, daß 1 Prozent davon 35 Milliarden DM sind. Wie soll das aber funktionieren? Wir haben einen Steuersatz auf Privatvermögen von 1 Prozent. Diese Frage hätten Sie sich stellen müssen.
({45})
- Aber Herr Scharping, die Vermögensteuer wird nicht auf die Erträge erhoben, sondern auf den Bestand.
({46})
- Verehrte Kollegen, es kann sich doch jeder einmal versprechen.
Die Vermögensteuer wird auf die Vermögen erhoben. Die Steuer auf die privaten Geldvermögen, die Sie mit 1 Prozent erfassen wollen, wird auf den Wert erhoben. Da gibt es keine Einheitsbewertung.
({47})
- Verzeihen Sie: Die privaten Geldvermögen werden von der Steuer mit 1 Prozent des Wertes erfaßt. Sehen Sie im Vermögensteuergesetz und im Bewertungsgesetz nach! Die Besteuerung erfolgt so.
Diese Steuer ergibt heute insgesamt nicht einmal 4 Milliarden DM; und darin sind noch andere Vermögenswerte erfaßt. Deswegen sage ich Ihnen: Ihr Vorschlag funktioniert nicht. Sie sind manchmal, wie auch wir, in der Gefahr, sich in den Konzepten eines Entwurfs zu sehr auf das Papier zu konzentrieren und die Realität aus dem Blick zu verlieren. Das aber hilft unserem Lande nicht. Daher ist Ihr Vorschlag zur Lösung unserer Probleme ungeeignet.
({48})
Deswegen glaube ich, daß das, was wir jetzt in unserem Programm auch steuerlich auf den Weg bringen, der richtige Weg ist. Das, was wir an VorschläDr. Wolfgang Schäuble
gen machen, um die notwendige Rückführung von Steuern und Abgaben, um die notwendige Verringerung des öffentlichen Korridors zu erreichen, ist wichtig, ist zumutbar, und es verdient in keinem Falle eine Diffamierung, wie Sie sie teilweise in Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht haben.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben selber gesagt, im Bereich der Sozialhilfe wären Sie bereit, darüber zu reden, daß man sie vielleicht nicht erhöhen muß. Unser Vorschlag basiert darauf, daß wir Preisstabilität haben. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen. Glückwunsch an uns alle, daß wir einen Finanzminister der Stabilität und Solidität wie Theo Waigel haben!
({49})
- Verzeihen Sie, die Bundesbank hat doch nicht die Zinsen gesenkt, weil Herr Lafontaine das gutheißt oder nicht. Vielmehr hat sie die Zinsen senken können, weil die gesamtfinanziellen Verhältnisse in unserem Land dank unserer Finanzpolitik so sind, daß das zur Zeit niedrigste Zinsniveau in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland heute stabilitätspolitisch verantwortbar ist.
({50})
Das ist die Einheit von Geld-, Finanz- und übrigens auch Lohnpolitik.
({51})
Ich begrüße ja, Herr Lafontaine, daß Sie heute zur Lohnzurückhaltung aufgefordert haben. Aber ich habe noch im Ohr, daß ich Ihnen in den zurückliegenden Debatten immer wieder erklären mußte, daß Ihre Aufforderung nicht zur Lohnzurückhaltung beiträgt.
({52})
- Nein, die Konjunktur ist ja inzwischen nicht besser geworden als vor einem Jahr. Das Argument kann nicht gelten.
({53})
Wenn Sie heute sagen, Lohnzurückhaltung sei aus konjunkturellen Gründen geboten,
({54})
während Sie vor einem Dreivierteljahr behaupteten, man dürfe aus konjunkturellen Gründen keine Lohnzurückhaltung üben, dann kann irgend etwas nicht stimmen.
({55})
Ich begrüße, daß Sie zur Lohnzurückhaltung aufgefordert haben. Ich unterstütze dies. Aber wenn wir jetzt glücklicherweise eine größere Stabilität haben, als noch vor einem Jahr angenommen, dann - da stimme ich Ihnen zu, und das ist auch unser Vorschlag - müssen wir die Sozialhilferegelsätze im nächsten Jahr nicht anheben.
Aber wenn wir die Sozialhilferegelsätze nicht anheben müssen, weil wir Preisstabilität haben, weil wir keine Inflation haben, dann, denke ich, ist es auch richtig, daß wir gemeinsam noch einmal darüber reden - das ist unser Vorschlag -, ob wir die Anhebung des steuerfreien Existenzminimums nicht um ein Jahr verschieben können, genauso wie wir gemeinsam sagen, die Anhebung der Sozialhilfesätze kann um ein Jahr verschoben werden. Das hängt doch miteinander zusammen. Das halte ich nicht für unzumutbar, auch wenn es eine Sache ist, die niemandem von uns leicht fällt.
In der Familienpolitik, im Werben für mehr Familienleistungsausgleich läßt sich - nehmen Sie es mir nicht übel, verehrte Freunde von der F.D.P. - die CDU/CSU-Fraktion ungern von. irgend jemandem übertreffen.
({56})
Ich sage aber ganz ehrlich: Ich glaube, bei einem Konsolidierungsbedarf von 50 Milliarden DM für die öffentlichen Gesamthaushalte und 25 Milliarden DM für den Bundeshaushalt, der doch gar nicht bestritten ist, und bei den Schwierigkeiten, in einem Jahr diesen Konsolidierungsbedarf sozial zumutbar und ausgewogen zu erbringen, ist es doch richtig, daß man, wenn man die Sozialhilfesätze nicht anhebt - dafür werben im übrigen insbesonders die Städte, Gemeinden und Landkreise -, dann das steuerfreie Existenzminimum, das einen Bezug zu den Sozialhilfesätzen hat, ebenfalls nicht anheben sollte. Wenn wir von ausgewogenen Konzeptionen reden, dann, finde ich, ist unser Vorschlag ausgewogener als der Ihre, zu sagen: Die Sozialhilfe wird nicht angehoben, aber die Steuerfreibeträge werden weiter angehoben.
Steuerfreibeträge und Kindergeld - darauf haben wir uns im letzten Jahr mühsam miteinander verständigt - müssen einander entsprechen. Deswegen ist unser ausgewogener Vorschlag richtig und notwendig. Er ist uns nicht leichtgefallen, und ich will die Probleme auch gar nicht verharmlosen.
Angesichts dieser Lage sollten im übrigen diejenigen, die für die öffentlichen Verwaltungen Tarifverhandlungen zu führen haben, ihrer Verantwortung gerecht werden. Aber, Herr Lafontaine, damit das auch klar ist: Sie haben Vorschläge für das, was dort verhandelt werden soll, gemacht. Sie haben das Wort Sockelbetrag in den Mund genommen. Ich rate dringendst - ich bin Innenminister und Verhandlungsführer für Tarifverhandlungen gewesen -, jeden Einfluß der Politik auf Tarifverhandlungen zu unterlassen.
({57})
- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie
mir bitte eine Bemerkung: Wenn Sie die Tonart, in
der Ihr Parteivorsitzender gesprochen hat, noch in
Erinnerung haben - ich habe mich sogar bemüht, ihm trotzdem hinreichende Ruhe zu verschaffen - und diese mit der Tonart vergleichen, in der ich - ohne jede Verletzung - darauf antworte, dann werden Sie Unterschiede feststellen. Auch ich könnte Ihnen Unverschämtheiten an den Kopf werfen. Das interessiert aber die Menschen in unserem Lande überhaupt nicht. Sie interessiert, wie wir das Land voranbringen.
({58})
Sie haben vielleicht noch nicht die Gelegenheit gehabt, unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung zu lesen. Auch deswegen hat diese Debatte ja ihren Sinn. Auf Seite 13 unseres Programms haben wir unter der Ziffer VI geschrieben:
Angesichts der extrem angespannten Lage der öffentlichen Haushalte steht für Tariferhöhungen und Besoldungsanpassungen keine Verteilungsmasse zur Verfügung.
Das ist genau das, was ich sage: Wir vermeiden jeden Ratschlag und jede Aussage dazu, wie das Ergebnis der Tarifverhandlungen aussehen soll; denn das ist Sache der Verhandlungen der Tarifpartner. Das ist unser Verständnis und der Respekt vor der Tarifautonomie. Ich kann Ihnen nur raten: Machen Sie das genauso, machen Sie keine Vorschläge für die Tarifverhandlungen. Sie bezahlen am Ende nur teuer dafür. Ich habe das selber erlebt. Jemand hat einmal gesagt, mehr als 4 Prozent dürften es nicht sein, und dann war die Meßlatte schon entsprechend angelegt. Das war eine teure Veranstaltung, Herr Parteivorsitzender Gerhardt. Das ist schon ein paar Jahre her, aber ich habe daran noch eine gewisse Erinnerung.
({59})
Herr Lafontaine, Sie sollten diesen Fehler nicht machen.
Ich glaube, daß es insgesamt um das geht, was wir in unserem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung vorlegen: Abbau von Einstellungshindernissen, Stärkung der kleinen Betriebe und des Mittelstands, Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienstleistungsbereich und in privaten Haushalten, Deregulierung, Verbesserung der Möglichkeiten des Zugangs für Eigen- und Fremdkapital, aber auch Stabilisierung der Beitragssätze, wobei wir auch die Kraft aufgebracht haben, notwendige Prioritäten zu setzen - wir halten an der Pflegeversicherung für stationäre Behandlung fest, was in einer solchen Situation auch nicht leicht, aber richtig und notwendig ist -, Reduzierung des Krankenversicherungsbeitrags, Stabilisierung des Rentenversicherungsbeitrags unter 20 Prozent, eine begrenzte Beitragsreduzierung bei der Bundesanstalt für Arbeit und darüber hinaus Senkung des Bundeszuschusses zur Bundesanstalt im nächsten Jahr, weil das notwendig und unvermeidbar ist; denn wir müssen die Konsolidierung von 25 Milliarden DM im Bundeshaushalt erreichen, und wir erreichen das auf eine Weise, die insgesamt ausgewogen ist, die niemandem in diesem Lande Unzumutbares zumutet und die die Grundlagen unseres Sozialstaates nicht gefährdet, sondern für die Zukunft sichert. Darum geht es.
Deswegen werbe ich dafür: Reden Sie nicht das Programm in einer diffamierenden Weise schlecht, sondern ringen Sie mit uns um den besten Weg! Das ist eine Anstrengung, die wir in diesem Lande gemeinsam leisten müssen, Bund, Länder und Gemeinden. Das ist ein Konzept, das auch die finanziellen Interessen, die Haushaltsprobleme von Ländern und Gemeinden, angemessen berücksichtigt. Das ist eine Konzeption, die die Tarifpartner in ihrer Autonomie nicht einschränkt, aber in ihrer Verantwortung voll in Anspruch nimmt. Das müssen wir auch, weil wir das Land sonst nicht voranbringen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, unterstützen wir Ihre Bemühungen auch gegen manche Diffamierung, diesen für die Zukunft notwendigen Dialog zwischen Politik, Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften weiterzuführen.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich war froh, daß der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Jürgen Rüttgers, am Mittwoch - allem öffentlichen Schlachtengetümmel nach dem Dienstagabend zum Trotz - zusammen mit den Spitzenverbänden von Wirtschaft und Gewerkschaften eine gemeinsame Initiative von Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften zur Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen und zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit vorstellen konnte. Das ist genau der richtige Weg, den wir gehen. Sie haben das Thema angesprochen. Das zeigt, daß wir auch weiter darauf setzen können und setzen werden, alle Kräfte in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zur Bewältigung unserer Zukunftsprobleme in Anspruch zu nehmen.
Aber das bedeutet auch: Jeder muß in seinem Bereich seine Verantwortung wahrnehmen. Das Bemühen um Konsens darf nicht dazu führen, daß wir am Ende auf Grund des Prinzips des kleinsten gemeinsamen Nenners nicht mehr zur Lösung von Problemen fähig sind. Vielmehr heißt Konsens: gemeinsame Verantwortung, gemeinsames Ringen um den besseren Weg. Das heißt aber auch: Wahrnehmung von Verantwortung, Entscheidungsfähigkeit.
Wir dürfen nicht der Versuchung nachgeben, am Ende jeden Besitzstand zu verteidigen. Denn in einer Zeit, in der das Ausmaß und das Tempo von Veränderungen in unserer Gesellschaft wie in der Welt um uns herum größer sind, als es uns lieb ist, müssen wir zur Innovation fähig bleiben. Wir nehmen unseren Teil der Verantwortung wahr. Dem dient unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung. Dazu bitte ich Sie um Ihre Mitwirkung.
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Meine Kolleginnen und Kollegen, ich habe gelegentlich Zwischenrufe gehört, die ich nicht wiederholen möchte, die aber, wenn ich mir sicher wäre, daß ich sie richtig gehört habe, gerügt werden müßten. Ich empfehle doch sehr, die Emotionen in dieser Beziehung etwas
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
unter Kontrolle zu halten, damit wir uns nicht gegenseitig mehr Schwierigkeiten machen, als nötig ist.
({0})
Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem Abgeordneten Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung angesprochen - von keiner Seite wird es bestritten -: Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich in der schwersten Strukturkrise seit ihrem Bestehen, einer Strukturkrise, die eng zusammenhängt mit den globalen Veränderungen, mit dem Ende einer ganzen Weltordnung in den Jahren 1989/ 90 - diese Veränderung kann man wahrhaft fast weltrevolutionär nennen -, aber auch mit Entwicklungen, die innergesellschaftlich und ökonomisch längst angelegt waren und dann nur gewaltig beschleunigt wurden. Wenn ich mir die Debatte anhöre, frage ich mich: Wie weit werden wir mit den Ritualen, die wir alle gemeinsam im Laufe der Jahre entwickelt haben, tatsächlich den Lösungsnotwendigkeiten, die aus dieser Strukturkrise entstehen, gerecht?
({0})
Meine große Furcht ist, meine Damen und Herren, Herr Bundeskanzler, daß es dann nicht zwischen den demokratischen Parteien sozusagen zu einem Wechselspiel kommt, wenn diesmal die Erneuerung nicht gelingt. Sie haben die Politik des Aussitzens beendet und haben endlich etwas vorgelegt. Der einzige Maßstab, der daran angelegt werden kann, ist: Ist dieses Programm zukunftsfähig? Macht es die Bundesrepublik Deutschland unter den neuen weltwirtschaftlichen Bedingungen, aber auch unter den neuen Bedingungen im Inland zukunftsfähig, ja oder nein?
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie im Blick auf die kommende Generation die Prioritäten in bezug auf die Zukunftsfähigkeit! Denn die Sicherheit der Renten in der Zukunft wird vor allem von der jüngeren Generation zu gewährleisten sein. Wenn hier keine Prioritäten gesetzt werden, dann haben Sie hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit in einem zentralen Punkt versagt.
({1})
Ich möchte hier nicht in Schwarzmalerei und Panikmache verfallen, aber wir stehen momentan am Anfang eines Prozesses und wissen nicht, ob am Ende der Abbau oder die Erneuerung des Sozialstaates stehen wird.
Wenn ich mir dieses Programm, das Sie heute vorgelegt haben, in seiner ganzen sozialen Schieflage, in seiner gnadenlosen Einseitigkeit anschaue, mit der die Lasten nach unten weitergereicht werden und den Erben großer Vermögen demnächst ein Erntedankfest versprochen wird, dann sage ich Ihnen: Wir sind hier am Beginn eines Abbauprozesses unseres Sozialstaates, und davor habe ich politisch große Angst.
({2})
Denn das würde unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen, meine Damen und Herren.
Wenn eine der großen Errungenschaften, an denen ja gerade Ihre Partei einen wesentlichen Anteil hat, nämlich an der Entwicklung des demokratischen Sozialstaates nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - und das war eine gelungene Antwort auf die beiden großen totalitären Herausforderungen dieses Jahrhunderts: auf die mörderischen Ideologien vor allem des Nationalsozialismus und des Kommunismus -, in Frage gestellt wird, dann werden wir irgendwann auch wieder die Frage der Stabilität des demokratischen Verfassungsstaates diskutieren müssen. Und deswegen: Am Sozialstaat hängt nicht nur die zwingende moralische Frage der sozialen Gerechtigkeit in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, sondern auch die Zukunft der Demokratie als solcher.
({3})
Deswegen, Herr Bundeskanzler, ist gerade dieses Grundprinzip des Sozialstaates, zu dem sich aus der Tradition des Zentrums, der katholischen Enzykliken, die in diese Richtung gehen, wesentliche Teile der Union bekennen - unbeschadet aller Unterschiede in Ihrer Partei weiß ich, daß dies zum Kernbestand Ihrer Parteitradition gehört -, so unendlich wichtig: das Prinzip der Solidarität. Nur, wenn dieses Prinzip der Solidarität lediglich ein Schönwetterprinzip bleibt, wenn es nicht auch und gerade dann gilt, wenn weniger zu verteilen ist, wenn wir nicht auch und gerade dann daran festhalten, dann leiten Sie, Herr Bundeskanzler - ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt -, erste Schritte zum Abbau, zur Zerschlagung des Sozialstaates ein und brechen dadurch mit einer Tradition, auf die Sie und Ihre Partei in den vergangenen Jahrzehnten zu Recht - unbeschadet aller sonstigen Differenzen - stolz sein können.
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- Nein, wenn ich mir anschaue, daß gegenwärtig die Abrißbirne ausgepackt wird, in welchem Umfang gegenwärtig versucht wird, Sozialabbau zu betreiben, Frau Kollegin Fuchs, dann sage ich Ihnen: Wir stehen hier vor einer „neuen Qualität von Sozialabbau". Ich gehöre nun weiß Gott nicht zu denen, die der Meinung sind, man solle Begriffe wie „Klassenkampf von oben" so ohne weiteres einführen. Aber wenn ich mir anschaue, mit welchem fast an Zynismus grenzenden Kalkül die Gewerkschaften durch eine 20prozentige Reduktion der Lohnfortzahlung und 10prozentige Reduktion beim Krankengeld zum Arbeitskampf provoziert werden sollen, dann sage ich Ihnen: Offensichtlich soll hier eine Politik eingeleitet werden, die bereit ist, weit über das hinauszugehen,
Joseph Fischer ({5})
was wir bisher an Sozialabbau kennen. Genau darum geht es, meine Damen und Herren.
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Aber ich möchte zurückkommen zur Frage der Zukunftsfähigkeit. Die erste Frage, die wir uns hier stellen müssen, ist doch die nach der Krise der Haushalte. Dahinter steckt die Beschäftigungskrise und hinter dieser Beschäftigungskrise die Herausforderung eines radikalen Strukturwandels.
Ich habe das Prinzip der Solidarität für uns definiert. Es ist unverzichtbar. Aber genauso notwendig ist es, daß dieses Prinzip der Solidarität beim Sparen um- und eingesetzt wird. Wenn Sie jetzt auf der einen Seite Einschnitte machen, vor allen Dingen bei Leistungsempfängern, und gleichzeitig ankündigen, daß Sie die Vermögensteuer abschaffen wollen, dann - sage ich Ihnen - kündigen Sie das Prinzip der Solidarität auf.
({7})
Und wenn Sie Schweden angeführt haben, Herr Bundeskanzler, dann sollten Sie auch anführen, daß die Vermögen in Schweden steuerlich ganz anders belastet werden als bei uns.
({8})
Wenn Sie diesen Weg gehen wollen, daß wir, wenn unten Einschnitte gemacht werden müssen, auch die Schultern stärker belasten, die mehr tragen können - und die nominal hohen Spitzensteuersätze in diesem Land sind ja dergestalt skandalös, daß gut organisiertes großes Vermögen tendenziell einen Steuersatz null oder wenig darüber zu bezahlen hat, das muß dringend geändert werden -,
({9})
wenn Sie also dieses Prinzip Schwedens bei der Erneuerung des Sozialstaates hier durchsetzen wollen - nur, davon findet sich nichts in Ihrem Papier -, dann werden wir Sie voll unterstützen. Das heißt nämlich: Wenn Lasten unten getragen werden müssen, dann hat um so mehr auch oben Lastenverteilung stattzufinden. In Ihrem Programm ist das Gegenteil der Fall.
({10})
Der Bundeskanzler hat heute zu Beginn seiner Rede einen Satz gesagt, den man zur Kenntnis nehmen sollte. Er hat die Wachstumserwartungen nach unten korrigiert. Ich frage Sie, wieweit die Annahmen des Finanzministers für das 50-Milliarden-Loch ebenfalls zu korrigieren sind.
({11})
- Nächste Woche, sagt Herr Lafontaine.
Denn wir wissen ja, in der Annahme steckt etwas Erstaunliches - da müßten eigentlich die Kollegen von der F.D.P. spitze Öhrchen bekommen -: In der Annahme ist enthalten, daß das Steuervolumen, das dem 50-Milliarden-Loch für 1997 zugrunde liegt, bereits Steuererhöhungen beinhaltet. Wenn Sie jetzt die Wachstumszahlen nach unten korrigieren müssen und wenn wir gleichzeitig davon ausgehen, daß es nicht zu Steuererhöhungen kommen wird - Sie haben das hier noch einmal gesagt -, dann reden wir vermutlich nicht über ein 50-Milliarden-Loch für 1997, sondern vielleicht von einem 100-MilliardenLoch. Es kann sehr gut sein, daß wir heute wieder einmal eine Scheindebatte führen, und zwar auf Grund der Annahmen, die der Bundesfinanzminister vorgelegt hat.
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Aber noch schlimmer, Herr Bundeskanzler: Sie haben gerade eine - so empfinde ich es - sehr deprimierende Botschaft rübergebracht. Sie wissen, die Beschäftigungswirksamkeit bei realem Wachstum liegt etwa an der Schwelle von 1,8 Prozent, das heißt aber im Klartext: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat uns gerade mitgeteilt, daß mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen in 1997 fest zu rechnen ist.
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Darüber hinaus sage ich Ihnen: Die Teile in Ihrem Programm, die die Belastungen unten erhöhen, bringen nicht einen Arbeitsplatz mehr. Ich behaupte: Sie bringen auch nicht eine Mark an Investitionen mehr. Was sie jedoch bringen werden, ist ein Anstieg bei den Sozialhilfekosten und vor allen Dingen ein Anstieg der Arbeitslosenzahlen.
Das Generalabräumen bei den ABM-Stellen und ähnliches mehr: Führt das zu mehr Arbeitsplätzen oder zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen?
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Hier wird auch und gerade in den ostdeutschen Ländern, Herr Bundeskanzler, etwas zerschlagen, was noch eine leicht blühende Landschaft hätte werden können. In der Konsequenz bedeutet das: In Ostdeutschland werden ABM-Strukturen zerschlagen und damit Strukturen, an denen die soziale Infrastruktur hängt. Was das mit der Herstellung der inneren Einheit zu tun hat, muß mir mal jemand erklären.
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Schauen wir uns die Zukunftsfähigkeit an. Es gibt einen breiten Konsens. Wir müssen die Arbeitskosten, vor allem die Lohnnebenkosten, senken. Wir erklären aber nicht, daß wir deswegen die Leistungen kürzen wollen. Wir unterstützen Sie daher nachdrücklich bei der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung, aber: Warum haben Sie nicht
Joseph Fischer ({16})
den Mut, wenn die Arbeitskosten das drängendste und drückendste Investitionsproblem im innereuropäischen Vergleich sind, gleichzeitig eine Strukturreform anzupacken? Wir tragen sie mit. Die zweite Stufe der Pflegeversicherung muß kommen, und zwar jetzt, aber lassen Sie sie uns aus Steuermitteln finanzieren.
Und zum zweiten - das ist ein Grundprinzip von uns -: Wir wollen die Bedarfsorientierung unten nicht aufgeben, sondern an ihr festhalten. Wir führen lieber die Bedarfsorientierung oben in den Sozialstaat ein.
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Ich sage Ihnen, Herr Kollege Blüm, aus eigenem Erleben: Meine Mutter war, bevor sie starb, ein Schwerstpflegefall. Die beiden Kinder konnten sich - Gott sei Dank - ihre Pflege leisten. Ich kenne aber viele - ich weiß auch, wie hoch die Pflegekosten bei Schwerstpflegefällen sind -, die sich die Pflege nicht leisten können. Insofern bin ich ein nachdrücklicher, emphatischer Unterstützer Ihrer Position bei der Pflegeversicherung.
Aber noch einmal zurück zur Bedarfsorientierung - ich führe meinen eigenen familiären Fall an -: Wenn man sich bei Sozialhilfeempfängern von der Bedarfsorientierung verabschiedet und sie durch die Deckelung sich selbst überläßt, dann bin ich dafür, daß bei Einkommen, wie meine Schwester und ich sie beziehen, Bedarfsorientierung im Pflegefall eingeführt wird.
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Herr Bundeskanzler, damit kommen wir in aller Sachlichkeit zu unserem Hauptvorwurf - ich nehme an, der eine oder andere im CDU-Präsidium und in der CDU-Fraktion sieht das ähnlich -: Warum haben Sie jetzt nicht die Kraft, zu sagen: Okay, wir müssen - bedingt durch die internationale Konkurrenz -, wenn wir unseren Sozialstaat in tragenden Teilen, in wichtigen Strukturen erhalten wollen, bei sinkendem Anteil des Arbeitseinkommens am Gesamteinkommen neue Finanzierungswege gehen. Da bleibt nur die Steuerfinanzierung, wie es skandinavische Sozialstaaten mit Recht vorgemacht haben.
Wir bieten Ihnen an, eine Gegenfinanzierung über eine entsprechende Mineralölsteuererhöhung in einer Größenordnung von 20 Prozent mitzutragen.
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- Pfennig, Entschuldigung. Heute haben sich schon andere versprochen.
Warum haben Sie nicht den Mut, eine richtige, zentrale sozialpolitische Entscheidung gleichzeitig mit einer entsprechenden strukturellen Erneuerung, die den Sozialstaat zukunftsfähig macht, zu verbinden?
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Nun komme ich zum zweiten Punkt: zu der kommenden Generation. Daß es da nicht einen Aufstand in der Union gibt! Also, Herr Kollege Schäuble: Wenn ihm nichts mehr einfällt, fällt ihm sein Juraexamen ein, und er zieht sich hinter die Juristerei zurück.
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Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen: Sie laufen bei der Vermögensteuer mit dem Verfassungsgerichtsurteil wie mit einer Monstranz am Himmelfahrtstag durch die Gegend.
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Der Herr Gerhardt wird nicht müde, permanent das Verfassungsgerichtsurteil zu zitieren. Wenn es aber um den Rechtsanspruch beim Kinderfreibetrag geht, wird vom Verfassungsgerichtsurteil nicht geredet, sondern dann kommen winkeladvokatorische Argumente, um der eigenen Fraktion den Abschied von eigenen Grundprinzipien klarzumachen.
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Ich sage Ihnen, Herr Kollege Schäuble, Herr Bundeskanzler, das ist für uns die zentrale Frage: die Zukunftsfähigkeit, die kommende Generation. Das Signal, das Sie jetzt senden, ist, daß die Union mit ihrer Familienpolitik in dem Moment, in dem es bei den Haushalten ernst wird, bereit ist, als erstes in diesem Kernbereich der Zukunftsfähigkeit zu streichen. Und das wollen wir nicht!
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Wir machen Ihnen ein Angebot. Herr Uldall und andere wollen doch, daß die Veräußerungsgewinne bei Immobilien versteuert werden. Wenn Sie heute drei Immobilien veräußern und damit länger als drei Jahre warten, gilt dies nicht als gewerblich und Sie können in Deutschland den Gewinn brutto einstecken. In Amerika - da handelt es sich ja nun weiß Gott um das Mutterland des Kapitalismus - müssen sie ihn selbstverständlich versteuern. Wenn Sie ein Aktienpaket, auf das Sie keine Dividende bezogen haben, länger als ein halbes Jahr halten, haben Sie in Deutschland ebenfalls einen freien Veräußerungsgewinn. Das wollen Ihre Experten ändern.
Wir bieten Ihnen an: Machen Sie es jetzt! Wir stimmen zu. Dann können wir ziemlich genau die Erhöhung des Kindergeldes gegenfinanzieren. Was spricht denn dagegen, meine Damen und Herren?
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Das sind zwei konkrete Angebote, die wir Ihnen als Oppositionspartei gemacht haben, nämlich in zentralen Bereichen eine Strukturveränderung mitzutragen und gleichzeitig ein eindeutiges Signal für
Joseph Fischer ({26})
die Orientierung an der jüngeren Generation zu geben.
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Ich frage Sie: Warum macht diese Bundesregierung das nicht mit?
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen nächsten Punkt ansprechen. Herr Bundeskanzler, Sie sagten, die Rente für die gegenwärtige Generation der Rentner sei sicher. Ich frage Sie: Wo läuft bei Ihnen das „gegenwärtig" ab? Wo ist die Grenze? Wir bestreiten ja gar nicht die für die Rente ungünstige demographische Entwicklung. Aber die Union sollte in diesem Zusammenhang vielleicht einmal über eine Neubewertung der Einwanderungspolitik in diesem Lande nachdenken.
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Ich frage Sie: Reicht es in einer solchen Situation, wo es um die Zukunftsfähigkeit geht, über die Jugend, über die heutige Generation und darüber zu reden, was im Jahre 2030 ist?
Wenn ich mir Ihr Programm anschaue, frage ich mich: Wo bleibt in dieser Situation der Schwerpunkt der Familienförderung? Sie können doch nicht nur die demographische Entwicklung in diesem Lande beklagen, für die Sie - ich gebe es ja ehrlich zu - nichts können. Auf der anderen Seite müssen wir uns alle gemeinsam, nicht nur die Bundesregierung, ans Bein binden: Eines der reichsten Länder ist nach wie vor nicht eines der kinderfreundlichsten Länder. Das ist der eigentliche Skandal nach zwölf Jahren CDU/ CSU-Regierung in diesem Lande.
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Meine Damen und Herren, wir bieten Ihnen ausdrücklich an, daß wir, wenn Sie eine Einkommensteuerreform mit Senkung des Spitzensteuersatzes linear-progressiv, aber auch mit Senkung des Einkommensteuersatzes machen, konstruktiv mitarbeiten werden, weil wir das für dringend geboten halten - nur, wenn Sie das wollen!
Derjenige, der es bisher nicht wollte, war Theo Waigel. Bei der Ökosteuer hat er blockiert, beim Bericht der Bareis-Kommission hat er blockiert. Insofern hat Oskar Lafontaine völlig recht: Warum ausgerechnet jetzt die Waigel-Kommission nach der BareisKommission mehr als die Idee eines Mäuschens produzieren soll, ist eine Frage, die Sie sich wohl selbst werden beantworten müssen.
Aber wenn wir diese Reform der Einkommensteuer mit der Senkung des Spitzensteuersatzes machen - wofür wir sind -, bei Streichung der Subventionen, bei Streichung der Umgehungstatbestände - völlig legal, das heißt Verbreiterung der entsprechenden Bemessungsgrundlagen - und bei einer linear-progressiven Absenkung des Eingangssteuersatzes, dann hat natürlich die Vermögensteuer eine ganz andere Perspektive, als das Herr Schäuble dargestellt hat. Insofern besteht für uns ein direkter Zusammenhang zwischen der Reform der Einkommensteuertarife und der Vermögensteuer und der Erbschaftsteuer. Da vertreten wir eine völlig andere Position.
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Bei der Gewerbekapitalsteuer sind wir für die Abschaffung dieser Substanzbesteuerung - wenn den Gemeinden eine entsprechende Gegenfinanzierung angeboten wird, was der Fall ist. Aber bei der Gewerbeertragsteuer sind wir ganz anderer Meinung. Wir wollen ihre Revitalisierung und nicht ihre Abschaffung, weil es keine Substanzbesteuerung ist.
Ich sage Ihnen in dem Zusammenhang noch ein letztes: In der Bundesrepublik Deutschland kommt jetzt ein Generationswechsel, bei dem zwischen 2 000 und 3 000 Milliarden an Vermögensbesitz vererbt werden. Wir wollen keine konfiskatorische Besteuerung oder ähnliches. Aber wir sind der Meinung, daß es ein Skandal ist, wenn angesichts dieser Tatsache in diesem Land Sozialleistungen bei den Schwächsten abgebaut werden müssen und wir uns gleichzeitig eine Erbschaftsteuer leisten, mit der wir weltweit im Vergleich zu anderen reichen Ländern das Schlußlicht bilden. Hier sind wir ganz anders als die „Partei des neuen Egoismus".
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Hier ist Solidarität, gerade der Erben, angesagt. Hier darf man nicht über Senkung reden, sondern hier reden wir über Erhöhung.
Wir reden nicht über die Abschaffung der Vermögensteuer, sondern auch hier wollen wir, daß ein entsprechender Anteil gezahlt wird. Wir wollen runter bei den Lohnnebenkosten. Wir wollen Mittelstandsförderung betreiben. Wir freuen uns, wenn es nach zwölf Jahren endlich so weit ist, daß die Eigenkapitalbildung beim Mittelstand gefördert werden soll. Warum haben Sie das nicht schon längst gemacht?
Eines muß ich Ihnen sagen: Sie hätten jetzt Einsparmöglichkeiten beim Militärhaushalt. Auch im Verkehrshaushalt haben Sie wunderbare Einsparmöglichkeiten. Damit ich nicht mißverstanden werde: Ich bin nachdrücklicher Anhänger eines schnellen Umzugs nach Berlin. Aber überprüfen Sie doch einmal diese Luxusbauten, die dort geplant werden. Auch hier wären Einsparmöglichkeiten. Auch hier wäre vermutlich weniger besser.
Das, meine Damen und Herren, sind die Punkte, die wir anpacken müssen. Es geht um die Zukunftsfähigkeit dieses Landes. Bei der jüngeren Generation versagen Sie völlig. Die Solidarität beginnen Sie unter dem Druck der gegenwärtigen Entwicklungen aufzukündigen. An diesem Punkt werden wir entschieden Widerstand leisten, weil die Zukunft des Sozialstaats zugleich die Zukunft der sozialen Demokratie ist. Wir wollen keine amerikanische Entwicklung.
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Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen auch keine amerikanische Entwicklung, Herr Kollege Fischer,
({0})
die von einer „Hire-and-fire"-Mentalität begleitet wird. Der Herr Bundespräsident hat das, was wir mit dem Hinweis auf Amerika meinen, vor wenigen Tagen sehr präzise ausgedrückt: Wir brauchen ein Stück dieser mentalen Standortfähigkeit, die diese Nation ausstrahlt. ({1})
Er hat das mit einen Hinweis auf Carl Zuckmayer zitiert. Es geht nicht vorrangig um die Frage von Arbeitsbedingungen und Investitionen. Es geht um die mentale Fähigkeit zur Veränderung, die wir in Deutschland brauchen.
({2})
Das, Herr Kollege Fischer, ist nun einmal klar zu beantworten, und das ist auch die Grundlage unseres Programms.
Wir werden der Veränderungen mit der sozialpolitischen Begleitung von Problemen nicht Herr werden; die kennen wir. Beschäftigungsprogramme haben wir schon gemacht. Strukturhilfen sind gewährt worden. Frühverrentungen sind gemacht worden. Arbeitszeitverkürzungen sind gemacht worden. Die AB-Maßnahmen sind erhöht worden. Viele haben geglaubt, die 35-Stunden-Woche bringe den Beschäftigungsschub. All das, was die Opposition hier im Hause erzählt, ist reale Politik, aber die Arbeitslosenzahl ist gestiegen. Deshalb kann das nicht die letzte Antwort sein.
({3})
Das hat die Koalition bewegt, sich neu zu verabreden. Ich möchte sehr persönlich sagen, Herr Bundeskanzler, Herr Kollege Waigel: Vielleicht wissen wir erst heute in der Debatte und in den nächsten Tagen, was dies für eine Bedeutung für die Koalition und für unser Land haben wird. Ich halte das für eine der wichtigsten Entscheidungen in dieser Legislaturperiode und bedanke mich ausdrücklich bei CDU und CSU für die faire Zusammenarbeit und das gute Übereinkommen.
({4})
Meine Damen und Herren, der Punkt ist doch nicht, daß sich hier Regierung und Opposition gegenübersitzen und wir mit Freude Sparmaßnahmen einleiten würden.
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Wir wissen, daß sie schwerwiegend sind und daß
man Menschen überzeugen muß. Aber wir wissen
auch: Wir würden die Gesellschaft um ihre Zukunft
betrügen, wenn wir jetzt nicht zu Entscheidungen kämen. Das ist der Kern unseres Programms.
({6})
Unser Programm verlangt dieser Gesellschaft nicht zuviel ab. Es verlangt nur eines: Fähigkeit zum Wandel, Fähigkeit zu neuem Denken und Fähigkeit zu strukturellen Veränderungen. Ich erkläre ausdrücklich für die F.D.P.: Wir wollen diesen Wandel, wir wollen diese Veränderungen, wir wollen der jungen Generation eine Zukunftschance mit einer neuen, gesicherten Rentensystematik und mit neuen Beschäftigungsmöglichkeiten geben. Dazu bitten wir um ein Stück Zurückhaltung bei Tarifverhandlungen und um Geduld von einem Jahr bei den Zuwächsen. Das kann eine Gesellschaft ertragen, die wie unsere Gesellschaft in diesem Wohlstand lebt. Darum bitten wir.
({7})
Weltweit werden die Gesellschaften gewinnen, die die Veränderungen kompetent bewältigen, und es werden diejenigen verlieren, die verdrängen. Das Wahlergebnis im März hat im übrigen gezeigt, daß die Mehrheit der Bevölkerung denen mehr zutraut, die ihr sagen: Wir wollen uns verändern. - Wir haben all das, was jetzt beschlossen worden ist, im Wahlkampf jedem, der es hören wollte, erklärt, als notwendige Grundlage von Entscheidungen.
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Die große Oppositionspartei hat die Wahlen auch deshalb verloren, weil sie die Probleme verdrängt hat und weil sie zum Wandel und zur Modernität gegenwärtig nicht auskunftsfähig ist. Das war der Kern dieser Entscheidungen.
({9})
Man muß einfach die Wahrheit sagen. Jeder weiß, daß Tarifverhandlungsrunden der Vergangenheit denen geholfen haben, die Beschäftigung hatten, und denen eher Schwierigkeiten gemacht haben, die Beschäftigung suchten. Jeder weiß, daß Solidargemeinschaften, die wir haben, von den eigenen Mitgliedern überstrapaziert worden sind, weil viele geglaubt haben, sie könnten auf Kosten Dritter leben, und es hinterher zu Beitragssteigerungen in exorbitanter Höhe gekommen ist.
Jeder weiß, daß Steuern in unserem Land hoch sind. Wenn es so einfach wäre, daß Steuersenkungen nur Ausfall in Haushalten bedeuteten, dann hätte man das schon in den 80er Jahren spüren müssen. Da hat diese Koalition Steuersenkungen durchgeführt. Das Ergebnis war: mehr Beschäftigung und mehr Konsolidierung der Haushalte.
({10})
Wenn die Steuerhöhe über die Haushaltskonsolidierung entscheiden würde, dann müßten wir einen überschäumenden Haushalt haben. - Hohe Steuern haben wir genug. ({11})
Aber wir haben Probleme. Das zeigt, daß der umgekehrte Weg von Senkung und Entlastupg die einzige Chance ist.
({12})
Ich will noch einmal - auch für die Öffentlichkeit - sagen: Macht eine Koalition, die mit der SPD vor vier Monaten Kindergeld von 70 auf 200 DM erhöht und 7,2 Milliarden DM Familienleistungsausgleich geschaffen hat, eigentlich einen politischen Fehler und schädigt sie die Zukunft des Landes, wenn sie jetzt darum bittet, die nächste Erhöhungsstufe erst im nächsten Jahr zu verwirklichen? Ist das eine Beeinträchtigung unserer Gesellschaft? In welchem Land leben wir denn, wenn diese Gesellschaft eine Erhöhung ein Jahr später nicht aushalten kann? Das ist doch wirklich zumutbar!
({13})
Jetzt reden wir einmal über Beschäftigung. Wer hat uns denn mit dem Stichwort „ Dienstmädchenprivileg " beschimpft,
({14})
obwohl die Bundesanstalt für Arbeit nahezu 700 000 Beschäftigungsverhältnisse in privaten Haushalten prognostiziert? Schwarzarbeit haben Sie mit Ihrem Verhalten gefördert! Wir wollen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
({15})
Es zählt auch zur einfachen Wahrheit, daß in einem Betrieb mit fünf Arbeitnehmern - das sind meistens keine Betriebe mit großem Gewinn; das sind Betriebe, die in Form der Personengesellschaft geführt werden - die Entscheidung darüber, ob man einen weiteren Arbeitnehmer einstellt, auch davon abhängig ist, wie man, wenn die Ertragslage nicht mehr so gut ist, mit dem Risiko fertig wird. Deshalb ist die Erhöhung des Schwellenwertes eine Chance für Tausende von Beschäftigungsverhältnissen in Deutschland und bedeutet nicht eine Vernichtung von Arbeitsplätzen.
({16})
Der Kern unserer gemeinsamen Verabredung ist doch nicht mehr und nicht weniger, als aus gemachten gesellschaftlichen Erfahrungen soziale Sicherungssysteme im Verhältnis zu Beschäftigungschancen neu zu justieren. Jeder in Deutschland weiß, daß Verteilungspolitiker in langen Jahren des Wachstums soziale Sicherungssysteme geschaffen haben, die jetzt Beschäftigung gefährden. Da aber das höchste soziale Gut Beschäftigung ist, müssen die sozialen Sicherungssysteme so umgebaut werden, daß dieses größte Gut mehr zum Durchbruch kommen kann. Das ist der Kern des Programms.
({17})
Wir wollen ihnen wieder neue Chancen geben.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, jeder weiß, daß die Gewerbekapitalsteuer eine Substanzbesteuerung ist. Sie haben im vergangenen Jahr die Koalition gebeten, die Beratungen darüber etwas zu verschieben, und dies mit der Ankündigung verbunden, auch die SPD sei auf dem Wege der Überlegung und brauche hinsichtlich einer Verfassungsänderung noch ein bißchen Zeit. Wir haben darauf reagiert. Jetzt aber kommen Sie wieder und erklären, Sie seien nicht bereit, die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Das ist das absurdeste steuerpolitische Bekenntnis, das ich seit langem gehört habe. Es ist falsch; die Annahmen stimmen nicht.
Wenn Sie uns erzählen wollen, daß ein Diffamierungspotential bei einem Aufkommen aus der Besteuerung privater Vermögen in Höhe von 2 Milliarden DM möglich sei, wovon die Hälfte im übrigen durch Verwaltungskosten aufgezehrt wird,
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und daß die Koalition nicht den richtigen Weg gehe, wenn sie allein aus Vereinfachungsgründen dies bei der Erbschaftsteuer mit einbinden will, dann täuschen Sie die deutsche Öffentlichkeit. Stecken Sie die Diffamierung beiseite; es lohnt sich nicht.
({19})
Meine Damen und Herren, wir haben dieses ganze Paket deshalb auf den Weg gebracht - es ist schwierig genug -, weil unsere Gesellschaft auch im Interesse der demokratischen Stabilität Auskunft über die Beschäftigung in Deutschland braucht. In unserem Land ist Arbeitslosigkeit ein größeres Problem - auch im kollektiven Gedächtnis unserer Nation - als in jedem europäischen Nachbarland. Wir haben dieses Paket auf den Weg gebracht, um der jüngeren Generation auch eine Zukunftschance zu vermitteln, wenn sie nach ihrem Erwerbsleben soziale Sicherheit im Hinblick auf das Älterwerden haben will. Darüber wird es ohnehin noch eine heiße Debatte geben.
Aber ich sage uns allen in der Koalition: Ich begrüße außerordentlich, daß wir zu den beiden zentralen Punkten Tarifreform im Steuersystem sowie Diskussion der Rentenformel und der Neuentwicklung der zukünftigen sozialen Sicherheit in unserer Gesellschaft verabredet haben - es ist richtig, wie es der Herr Bundeskanzler erklärt hat -, daß wir noch in dieser Legislaturperiode, also vor Wahlen, Entscheidungen treffen und die Gesetzgebung abschließen. Das sind die wichtigsten psychologischen Orientierungsdaten für Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Nicht das Verschieben der Sozialhilfeerhöhung um ein Jahr gefährdet unsere Zukunftsfähigkeit und den sozialen Zusammenhalt, auch nicht das Verschieben der Familienförderung um ein Jahr. Unsere Gesellschaft braucht für den sozialen Zusammenhalt in den großen Entwicklungslinien die Auskünfte, die eine Regierung geben muß. Die geben wir unserer Gesellschaft in dieser Legislaturperiode.
({20})
Das ist die wichtigste Entscheidung dieser Koalition.
Dahinter ist die übrige Diskussion darüber, die Lohnfortzahlung tariffähig zu machen, die Gesellschaft zu bitten, damit einverstanden zu sein, daß wir Erhöhungen um ein Jahr verschieben, eine zweitrangige Diskussion. Entscheidend ist, ob diese Gesellschaft und die politisch führenden Kräfte noch die Fähigkeit haben, Systeme zu verändern, bei denen die Erkenntnis der letzten Jahrzehnte jedem klar vor Augen geführt hat, daß sie der Beschäftigung schaden und Zukunftsvorsorge verbauen.
Herr Kollege Fischer, Ihre Bewegung hat Verdienste. Sie hat Engagement für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen mit in diese Gesellschaft gebracht. Die Staatsquote aber ist das gesellschaftliche Ozonloch der Bundesrepublik Deutschland, und dieses muß beseitigt werden.
({21})
Darüber werden wir einen schönen Kompetenzstreit führen.
({22})
Ich freue mich darauf. Es kann eine politische Partei für die Zukunft der Gesellschaft Aussagen nur treffen, wenn sie hinsichtlich der Grundannahmen der großen Systeme ein Reformmodell vorstellt, das finanzierbar ist, den sozialen Zusammenhalt festigt und die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland stabilisiert.
({23})
Eines füge ich hinzu: Nahezu jedes europäische Nachbarland hat im Hinblick auf diese Systeme schon reagiert. Alle um uns herum haben bei all dem, was wir heute besprechen, ihre Entscheidungen getroffen. Wenn Sie, Herr Kollege Scharping, in der Sozialistischen Internationale nachfragen, geben Ihnen diejenigen, die irgendwo in der Verantwortung standen oder stehen, nahezu die gleichen Auskünfte wie der Herr Bundeskanzler heute morgen.
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Wir erfinden hier kein Modell, das die Armen ärmer und andere reicher machen soll.
({25})
Wir haben uns zu diesen Entscheidungen entschlossen, weil ein Stück gesellschaftliche Zukunft damit verbunden ist.
({26})
Wir haben das auch deshalb unternommen, weil wir wissen, daß, wenn in einer Gesellschaft ganze Schichten wegbrechen, wenn die keine Beschäftigungschancen mehr haben, die Demokratie doch sehr gefährdet ist. Wir haben bei Wahlen schon Vorboten erlebt. Wir haben bei der baden-württembergischen Landtagswahl wider Erwarten schon bei den kleinsten Hinweisen den Pendelausschlag erlebt, der zeigt, was sich in dieser Gesellschaft vollzieht, wenn Menschen Angst vor Wettbewerb haben und sich nicht offen den Veränderungen stellen. Eines wissen wir aber: Jeder, der sich Veränderungen entzieht, jeder, der das verdrängt, wird scheitern.
Man mag diese Koalition kritisieren, weil sie darum bittet, mit Zuwächsen zu einem späteren Zeitpunkt einverstanden zu sein. Man mag sie kritisieren, weil sie Einsparungen vornimmt. Man mag sie auch kritisieren, weil sie die Lohnfortzahlung tariffähig macht. Man muß aber eines zur Kenntnis nehmen: Dieses Land steht jetzt im Kern vor der Frage der Veränderungsbereitschaft und der Modernisierungsbereitschaft.
Wer zur Modernisierung nicht bereit, nicht fähig oder in der Lage ist, der kann hier nicht regieren. Die Auskunft der Koalition ist die Fähigkeit der Koalition zur Modernisierung des Standortes Deutschland. Deshalb wollen wir auch weiter gut und fair zusammenarbeiten.
({27})
Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der Gruppe der PDS, Dr. Gregor Gysi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben es nach meiner festen Auffassung nicht mit einer Haushaltskrise zu tun, sondern mit einer Gesellschaftskrise.
({0})
Wir erleben zumindest den versuchten Durchbruch des Neoliberalismus, getragen von der Koalition, von der Bundesregierung, von Arbeitgeberverbänden und auch von Banken. Es geht hier nicht um ein Sparprogramm; in Wirklichkeit geht es um eine Kulturwende.
({1})
Das fängt schon mit der Sprache an. Der Vorsitzende der F.D.P. hat uns gerade erklärt, daß der Sozialabbau modern sei. Das aber heißt, daß jemand, der für soziale Gerechtigkeit eintritt, unmodern ist. Das heißt, daß die Frage des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit als eine Frage des letzten Jahrhunderts betrachtet wird.
Ich finde, wir sollten nicht wie beim Asyl, wie beim Begriff Flüchtling und bei anderen Dingen zulassen, daß die Begriffe „sozial" und „solidarisch" negativ besetzt werden!
Sie müssen in unserer Gesellschaft einen positiven Klang behalten.
({2})
Ich halte das Programm im übrigen auch für verfassungswidrig. Es gibt nicht wenige Personen, deren
Würde durch dieses Programm verletzt wird. Das verstößt gegen Art. 1 des Grundgesetzes.
Aufgegeben wird die Anforderung des Art. 14, daß Eigentum und Vermögen zugleich dem Gemeinwohl dienen sollen. Davon kann nach diesem Programm überhaupt keine Rede sein.
({3})
Vor allem wird auch die Sozialstaatlichkeit aufgegeben, die im Art. 20 des Grundgesetzes festgeschrieben ist.
Mit diesem Programm wird ein Gründungskonsens der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben.
({4})
Übrigens hat das weitgehende Folgen; nicht nur materielle. Wenn Sie den Sozialabbau so fortsetzen, wie diese Koalition und diese Regierung es tun, dann, behaupte ich, schaffen Sie auch neue Chancen für den Rechtsextremismus, der bekanntlich immer sehr sozialpopulistisch auftritt und dadurch leider an Einfluß in dieser Gesellschaft gewinnen wird. Auch dafür tragen Sie dann Verantwortung.
({5})
Sie verstoßen auch gegen das Gebot der deutschen Einheit, schon deshalb, weil Sie den Sozialabbau unter anderem mit den Kosten für den Aufbau in den neuen Bundesländern begründen. Sie wissen ganz genau, was die Folge davon ist, nämlich eine Ablehnungsstimmung in der Bevölkerung Westdeutschlands und eine Demütigung der Bevölkerung Ostdeutschlands, obwohl Ihnen bekannt ist, daß Ihre Sozialabbaupläne mit der Einheit überhaupt nichts zu tun haben. Das nenne ich Spaltungspolitik.
({6})
Da hilft es auch nicht, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Rede erklären, daß Sie es nicht beklagen, daß dafür Kosten entstanden sind. Das ist noch demütigender. Warum erwähnen Sie denn jeden Tag die Kosten für die deutsche Einheit, wenn Sie sie gar nicht beklagen? Sie erwähnen sie, um unsere Bevölkerung psychologisch zu spalten. Und dabei wissen Sie auch noch, daß die Zahlen falsch sind.
({7})
Herr Schäuble und auch Sie, Herr Gerhardt, haben eindeutig unrecht, wenn Sie erklären, daß all das, was jetzt passiert, vor den Landtagswahlen gesagt worden sei. Zeigen Sie mir doch einmal, wo in Ihrem 50-Punkte-Programm steht, daß das Kindergeld entgegen den gesetzlichen Festlegungen am 1. Januar 1997 nicht erhöht werden soll! Kein Mensch hat das vorher gesagt.
({8})
Das gilt entsprechend für den Kinderfreibetrag und für andere Regelungen.
Wenn Sie auf die Lohnfortzahlung hinweisen, dann haben Sie auch nur erklärt, daß die Tarifpartner etwas anderes vereinbaren sollen.
({9})
Sie haben mit keinem Wort gesagt, daß Sie die Gesetze ändern werden, um die Tarifpartner zu zwingen, die Lohnfortzahlung zu reduzieren. Das ist das, was Sie jetzt tun. Nein, Sie haben vor den Wahlen nicht die Wahrheit gesagt, so wie Sie noch vor keiner Wahl die Wahrheit gesagt haben.
({10})
Das einzige, was man den Wählerinnen und Wählern anlasten kann, ist, daß sie immer wieder darauf hereinfallen, zumindest ein Teil davon. Vielleicht werden es aber auch weniger.
({11})
- Wissen Sie, ich gehe auch mit der Bevölkerung kritisch um und halte auch nichts davon, daß man sich nicht kritisch zu Leuten äußert.
({12})
- Das machen wir doch. Ich muß mich doch auch dafür rechtfertigen, warum 1990 so viele CDU gewählt haben. Das hat auch etwas mit Schuld und Vergangenheit zu tun. Sie müssen aber zugeben, es läßt in den neuen Bundesländern nach. Wir sind lernfähig.
({13})
Sie täuschen auch mit diesem Programm. Denn in einem Brief an alle Bürgerinnen und Bürger - das erinnert mich übrigens auch an andere Zeiten ({14})
hat der Herr Bundeskanzler dargelegt, daß es zwar hart sei, was auf die Bürgerinnen und Bürger zukomme, aber dringend notwendig sei, um das Hauptproblem einer Lösung zuzuführen: das Problem der Arbeitsplätze. Jetzt möchte ich gerne von Ihnen wissen: Wieso soll mit diesem Programm irgendein Arbeitsplatz geschaffen werden? Das müssen Sie einmal erklären.
Was machen Sie denn in Wirklichkeit? Sie reduzieren die Kaufkraft nach eigenen Angaben um 25 Milliarden DM. Wenn Sie die Kaufkraft um 25 Milliarden DM reduzieren, weil Sie das sozusagen den sozial Bedürftigen wegnehmen, dann wird die Folge sein, daß die Binnennachfrage um 25 Milliarden DM zurückgeht. Das Ergebnis ist ein Abbau von Dienstleistungen, ein Abbau von Produktion und damit selbstverständlich der Abbau von Arbeitsplätzen. 25 Milliarden DM entsprechen 100 000 Arbeitsplätzen, die Sie mit diesem Programm abbauen.
({15})
- Ach, versuchen Sie sich doch nicht als Sachverständiger der DDR. Sie verstehen doch kaum etwas von der Bundesrepublik, geschweige denn von der DDR.
Ich sage Ihnen: Die Kaufkraftreduzierung wird uns viele Arbeitsplätze kosten.
Sie wollen die Kuren verteuern und kürzen. Schafft das Arbeitsplätze oder beseitigt das Arbeitsplätze im Kurenbetrieb? Sie wollen die Gesundheitsvorsorge
im wesentlichen reduzieren. Schafft das Arbeitsplätze im medizinischen Bereich, oder baut das Arbeitsplätze im medizinischen Bereich ab? Sie wollen dafür sorgen, daß Brillen und für die nächste Generation auch Zahnersatz nicht mehr bezahlt werden. Schafft das Arbeitsplätze, oder baut das nicht Arbeitsplätze ab?
({16})
Sie wollen das Rentenalter erhöhen. Sagen Sie mir doch einmal, wie Sie dadurch Arbeitsplätze schaffen wollen, wenn Menschen länger arbeiten müssen und die nächste Generation keine Arbeitsplätze bekommt. Das ist auch ein Abbau von Arbeitsplätzen.
({17})
Sie wollen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kürzen und werden damit auch die Zahl der Arbeitslosen gerade in den neuen Bundesländern drastisch erhöhen.
({18})
- Ja, das ist schon so. Sie wissen ganz genau: Wenn überhaupt, brauchen wir eine Arbeitszeitverkürzung, damit die Arbeit auf mehr Schultern verteilt wird; denn in immer weniger Zeit wird von immer weniger Menschen immer mehr hergestellt. Statt dessen verlängern Sie die Arbeitszeit mit der gegenteiligen Wirkung. Das Ganze, was Sie machen, ist auch eine schlimme Solidaritätsverletzung.
Der Kanzler hört zwar nicht mehr zu, obwohl es um seine Erklärung geht, aber vielleicht lernt er ohnehin nicht mehr dazu. Nur eines will ich sagen: Er hat gesagt, wir dürfen nicht an Besitzständen kleben. Das sagt übrigens auch Herr Schäuble laufend. Ich möchte gerne einmal wissen, wessen Besitzstände hier gemeint sind. Nennen Sie mir doch einmal einen einzigen Punkt aus diesem Programm, der den Bundeskanzler, mich oder irgendeinen anderen hier im Saal betrifft. Wir haben danach keine einzige Mark weniger. Aber die sozial Schwachen und die Lohnabhängigen haben danach weniger.
({19})
Wessen Besitzstände greifen Sie denn täglich an? Unsere doch nicht. Wir haben uns doch in dieser Zeit die Diäten gerade erhöht, und die nächste Erhöhung soll am 1. Juli 1996 folgen. Die Anpassung der Sozialhilfe soll ausfallen. Die Anpassung der Diäten und unserer Kostenpauschale soll stattfinden. Das verstehen Sie unter sozialer Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft!
({20})
- Aber es ist wahr. Nennen Sie mir den Punkt, bei dem wir etwas draufzahlen, wenn Ihr Programm verwirklicht wird! Nichts! Wir haben danach sogar mehr. Aber die sozial Schwachen in dieser Gesellschaft müssen draufzahlen. Das ist keine Schieflage mehr, das ist skandalös, was Sie hier betreiben.
({21})
Die wirklich Vermögenden in dieser Gesellschaft müssen Sie ja nicht fürchten. Die Vermögensteuer soll praktisch abgeschafft werden. Die Erbschaftsteuer soll gesenkt werden, und zwar gerade für große Erbschaften, nicht für die kleinen. Das ist das eine. Wie gesagt: keine Anpassung bei der Sozialhilfe, keine Erhöhung des Kindergeldes. Beim Kindergeld ist das Ganze übrigens auch noch verfassungswidrig. Das ist die andere Antwort, die diese Koalition gibt. Das gilt übrigens auch für das Dienstmädchenprivileg.
Bei Herrn Gerhardt ist mir folgendes aufgefallen - es ist interessant, wie argumentiert wird -: Bei den sozial Schwächeren in unserer Gesellschaft wird immer gesagt, wir brauchen neue Gesetze, um den Sozialmißbrauch in diesem oder in jenem Falle auszuschließen. Da sitzen ganze Expertengruppen und denken darüber nach, wie man verhindern kann, daß irgendwo in Hamburg oder in Erfurt eine Sozialhilfeempfängerin 10 DM zuviel bekommt. Aber bei den Vermögenden argumentieren Sie immer umgekehrt. Da sagen Sie: Wir können die nicht höher besteuern, denn dann halten die sich nicht an die Gesetze; dann beschäftigen sie die Dienstmädchen eben schwarz, oder sie begehen Kapitalflucht; und bevor die kriminell werden, schenken wir es ihnen lieber. Das ist Ihre Argumentation, die Sie hier im Ernst anbieten.
({22})
Mit diesem Argument können Sie auch den Diebstahlsparagraphen abschaffen, weil er häufig verletzt wird. Das ist wohl keine sehr günstige Ausgangsposition, die Sie hier gewählt haben.
Natürlich gibt es Kapitalflucht. Wissen Sie was? Dann besteuern Sie doch endlich die Kapitalflucht! Steuern heißen Steuern, weil man damit steuern kann. Wenn Sie nicht wollen, daß das Kapital ins Ausland geht, dann machen Sie den Gang des Kapitals ins Ausland steuerpflichtig. Dann bricht Ihre ganze Argumentation zusammen, die Sie hier anbieten, wenn es um höhere Steuern für wirklich Reiche und Vermögende geht.
({23})
Für alle anderen Vorschläge, die Sie unterbreiten, läßt sich dasselbe erklären. All das ist letztlich eine Verletzung des Solidaritätsprinzips. Auch die Nullrunde im öffentlichen Dienst ist wieder völlig unabhängig von der Höhe der Einkünfte.
Und dann Ihre Argumentation bei der Lohnfortzahlung: Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, das betreffe nur 20 Prozent, dann sage ich Ihnen, daß das falsch ist, weil nämlich in vielen Tarifverträgen auf die gesetzlichen Bestimmungen Bezug genommen wird. Wenn Sie die gesetzlichen Bestimmungen ändern, dann betrifft das sehr viele Beschäftigte, die eine Reduzierung bei der Lohnfortzahlung in Kauf nehmen müssen.
Aber was noch viel schlimmer ist: Wenn es erst einmal einen Teil der Beschäftigten betrifft, dann ist doch klar, daß die Arbeitgeber in den anderen BereiDr. Gregor Gysi
chen sagen werden, daß sie die Konkurrenz nicht aushalten. Wenn A bei der Lohnfortzahlung weniger zahlt, muß auch B weniger zahlen. Das wird das Argument sein, und das wissen Sie auch. Deshalb wollen Sie das ja einleiten, damit die Lohnfortzahlung doch beachtlich in Frage gestellt wird und damit eine der wesentlichen und erstreikten Errungenschaften dieser Bundesrepublik Deutschland.
Dasselbe gilt auch für das Kindergeld, - ich will darauf jetzt nicht weiter eingehen, auch aus zeitlichen Gründen - und für die Reduzierung der Leistungen für die Arbeitslosen.
Dann sagen Sie immer, die Renten sind sicher, die Rentnerinnen und Rentner betrifft das alles gar nicht. Abgesehen davon, daß ich an diese Versicherung nicht glaube: Teurere Kuren, betrifft das etwa nicht Rentnerinnen und Rentner? Die Nichtbezahlung von Brillen: Betrifft das etwa nicht Rentnerinnen und Rentner? Die Tatsache, daß man für jedes Arzneimittel zukünftig mehr Geld zahlen muß, betrifft das nicht auch gerade Rentnerinnen und Rentner? Das alles sind Sozialkürzungen zu Lasten derjenigen, die inzwischen aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind und die besonders auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind.
Jetzt sage ich Ihnen etwas, was mir wirklich besonders wichtig ist und was ich mit dem Wort Kulturwende meine. Es ist ein Detailpunkt, aber ein ganz schlimmer. Herr Schäuble, ich bitte Sie, wirklich noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken. In Ihrem Programm steht, daß in der gesetzlichen Krankenversicherung ab 1. Januar 1997 für Menschen, die bis dahin nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben, künftig und für immer die Kostenerstattung von Zahnersatz entfällt. Das heißt: Sie machen für die nächste Generation Armut wieder sichtbar.
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Sie wissen, daß man in jedem Dokumentarfilm über die Dritte Welt die Armut unter anderem sofort daran erkennt, daß ab einem bestimmten Alter ganz viele Menschen zahnlos sind.
({25})
- Ja, natürlich. Sie wissen sehr wohl- schauen Sie sich doch einmal alte Filme und Photographien an! -, daß im vorigen Jahrhundert und in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Altersarmut unter anderem sofort zu erkennen war, da sie auch mit Zahnlosigkeit verbunden war. Denn das Geld reichte nie dafür, Zahnersatz selbst zu bezahlen oder für diesen Zweck über Dauer eine eigene zusätzliche Versicherung abzuschließen.
Sie machen damit schon im äußeren Erscheinungsbild des Menschen Armut wieder kenntlich. Ich sage Ihnen: Das ist eine wirkliche Kulturwende. Das haben diese Menschen nicht verdient. Demütigen Sie sie nicht auch noch zusätzlich neben der materiellen Kürzung, die Sie vorbereiten!
({26})
Ihr vorgesehener Abbau des Kündigungsschutzes ist in seiner Begründung abenteuerlich. Natürlich können Sie immer sagen: Jede Art von Kündigungsschutz behindert Einstellungen. Immer wenn ich irgendwelche Pflichten eingehe, ist das natürlich schwerer, als wenn ich gar keine eingehe. Das beste ist, daß man einstellen und kündigen kann, wann immer man will, und daß es keine Tarifvereinbarungen gibt. Dann werden Einstellungen gefördert. Wenn Sie gar keinen Lohn zahlen, dann gibt es natürlich noch mehr Einstellungen. Das ist alles klar. Aber wir haben ja auch gewisse rechtliche und zivilisatorische Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt, auch wenn es einmal etwas schwieriger ist, sie ein- und durchzuhalten.
Statt dessen nichts Positives auf der anderen Seite der Gesellschaft. Was spricht denn so sehr gegen eine Abgabe für Besserverdienende? Unser Vorschlag lautete: 10 Prozent der bisherigen Steuerschuld bei Menschen draufsatteln, die netto 60 000 DM oder mehr im Jahr verdienen - nachdem schon Steuern und Versicherungsbeiträge bezahlt wurden! Jeder, der 5 000 DM oder mehr im Monat zur Verfügung hat - nachdem er seine Steuern und Versicherungen bezahlt hat -, kann nicht bestreiten, ein Besserverdienender zu sein. Diejenigen sollen auf ihre bisherige Steuerschuld noch einmal 10 Prozent drauflegen. Falls sie also Steuern in Höhe von 10 000 DM im Jahr gezahlt haben, sollen sie nun 11 000 DM zahlen. Niemanden von uns würde das ruinieren. Niemand von uns würde dadurch zu einem Sozialfall werden. Wir könnten aber fast alle finanziellen Probleme des Haushalts lösen, wenn Sie sich zu einer solchen Maßnahme bereit erklären würden.
({27})
Es ist bekannt, daß wir natürlich eine Erhöhung der Vermögensteuer vorschlagen. Entgegen der Meinung von Herrn Fischer bin ich auch nicht dafür, den Einkommensteuerspitzensatz zu senken. Im Gegenteil, er müßte wieder angehoben werden. Natürlich brauchen wir bei großen Erbschaften auch eine höhere Besteuerung.
Wenn Sie Mittel in Höhe von 25 Milliarden DM einsparen wollen, dann wäre dies doch so einfach. Lassen Sie uns über den Transrapid nachdenken!
({28})
Lassen Sie uns über die in Berlin geplanten Protzbauten für die Regierung neu diskutieren!
({29})
Lassen Sie uns über das Ehegattensplitting bei kinderlosen Ehen diskutieren! Das macht im Jahr allein 30 bis 80 Milliarden DM aus. Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie wir eine jährliche Steuerhinterziehung von 100 Milliarden DM und mehr bekämpfen! Dieses Geld würde zusätzlich zur Verfügung stehen.
Deshalb müssen Sie nicht den Kranken, den Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern so in die Tasche greifen, wie Sie das im Augenblick tun. Es gibt Alternativen zur Politik des sozialen Kahlschlags, gerade wenn man Massenarbeitslosigkeit bekämpfen will.
Lassen Sie mich zum letzten Punkt kommen. Mit diesem Programm hat die Bundesregierung den Lohnabhängigen, den Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern, den Kranken, den Rentnerinnen und Rentnern, den Arbeitslosen und den Kindern den sozialen Krieg erklärt. Sie haben Wind gesät. Ich hoffe, daß Sie schon am 1. Mai 1996 den ersten Sturm ernten werden.
({30})
Ich erteile das Wort dem Bundesfinanzminister Dr. Theodor Waigel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben Herrn Peffekoven zitiert. Wenn Sie die Beurteilungen und die Mitwirkungen des Herrn Professors Peffekoven in allen Bereichen einmal solide und zusammenhängend darstellen würden, wäre erkennbar, daß das ganz sicher keine Unterstützung Ihrer Finanzpolitik ist.
Wenn er kritisiert, daß da und dort die Stetigkeit fehlt, dann deswegen, weil wir im Bundesrat daran gehindert worden sind,
({0})
vieles zur Konsolidierung durchzuführen. Und wenn Sie jetzt im Bundesrat die notwendigen Entlastungen der Länder und der Kommunen durch das Asylbewerberleistungsgesetz und die Reform des Sozialhilferechts verzögert und nicht rechtzeitig in Gang gesetzt haben, dann tragen Sie mit die Verantwortung dafür, daß die Konsolidierung nicht schon im Jahre 1996 in dem Umfang stattfindet, wie sie hätte stattfinden können.
({1})
Sie haben dann wieder das Einkommensteuerrecht zitiert. Es ist schade, daß Herr Bürgermeister Voscherau nicht da ist. Ich hätte von ihm ganz gern einmal eine detaillierte Aufstellung über die Millionäre in Hamburg gehabt. Man kann nicht nur ein Wort in die Debatte werfen und dann die Begründung schuldig bleiben und damit die Emotionalität schüren. Das ist keine seriöse und keine ehrliche Steuer- und Finanzpolitik.
({2})
Vollends scheinheilig ist es, wenn Sie sich wieder hinter Herrn Professor Bareis und die Kommission stellen. Gehen Sie einmal Punkt für Punkt die Gegenfinanzierungsvorschläge durch, und sagen Sie, ob Sie den Abbau der Steuerfreiheit von Nachtarbeits- und Sonntagszuschlägen, steuerliche Verschlechterungen im Gemeinnützigkeitsbereich, die Nichtabzugsfähigkeit der Kirchensteuer, ob Sie das alles wollen! Dann unterhalten wir uns weiter.
Übrigens, was die Steuerpolitik anbelangt, sind Sie geradezu das personifizierte Steuerpolitikhindernis. Die Konjunktur wäre in diesem Jahr anders gelaufen, wenn wir die Unternehmensteuerreform, wenn wir den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer und die
Verbesserung der Gewerbeertragsteuer rechtzeitig zum 1. Januar 1996 hätten in Kraft setzen können.
({3})
Dann wundere ich mich über eine merkwürdige Doppelzüngigkeit. Auf der einen Seite wird Abbau der Vergünstigungen und damit Herabsetzung des Steuersatzes verlangt. Dann bieten wir an einem Punkt eine aufkommensneutrale Verbesserung der Unternehmensteuerstruktur an, und zwar in einem Bereich, in dem wir Weltspitze sind, nämlich bei den Sätzen für die degressive Abschreibung: 30 Prozent in Deutschland, höchstens zwischen 10 und 20 Prozent in allen anderen Ländern. Wenn wir das auf eine breitere Grundlage stellen und damit sehr schnell Abgaben oder Steuern abschaffen wollen, dann müssen Sie doch bereit sein, spätestens im Jahre 1997, nämlich dann, wenn die Konjunktur wieder läuft, wenn auch die Investitionskonjunktur wieder läuft, den Bereich an Gegenfinanzierung anders zu beurteilen, als Sie das im Augenblick tun.
Meine Damen und Herren, ich bin gern bereit, mit Ihnen, Herr Lafontaine, eine Diskussion über die versicherungsfremden Leistungen zu führen. Nur muß sie ehrlich erfolgen. Damit ist nämlich keine Abgabenentlastung verbunden, sondern das ist eine Verschiebung. Dann muß man darüber diskutieren, wo versicherungsfremde Leistungen Eingang in die sozialen Sicherungssysteme gefunden haben. Bei der Finanzierung der Einheit jedenfalls nicht. 80 Prozent der Einheitskosten sind steuerfinanziert. Wollen Sie denn die Knappschaft - das Saarland ist ja auch betroffen - möglicherweise rückwirkend für die letzten 20 Jahre dagegenstellen, die landwirtschaftliche Sozialpolitik, die Arbeitslosenhilfe? Und berücksichtigen Sie überhaupt nicht den 20prozentigen Rentenzuschuß? Tun Sie doch nicht so, als ob das die Lösung der Probleme wäre!
Was die Schuldenhöhe anbelangt: 1995 hatten wir, gemessen am BIP, 58 Prozent Schuldenstandsquote. Zu einem Zeitpunkt, als es schwierig war, in Deutschland Finanzpolitik zu machen, haben wir mit der Privatisierung der Bundesbahn und der Regionalisierung etwas, wie ich meine, strukturell Wichtiges und Vernünftiges gemacht.
({4})
Dabei haben wir die Länder noch gut ausgestattet.
Nur, wir haben die Schulden in den Bundeshaushalt übernommen, damit dies überhaupt möglich war. Diese Schulden spiegeln sich jetzt natürlich in den Kennziffern wieder. Die Bahnschulden können wir also aus der Quote herausrechnen.
Wir müssen die Schuldenstandsquote auch um die Lasten der Einheit bereinigen. Herr Gysi, wenn wir die Kosten der Einheit darstellen, dann ist dies kein Vorwurf gegenüber den Menschen in den neuen Bundesländern. Im Gegenteil, wir sagen, daß mit ihrer Leistung in den neuen Bundesländern der gleiche Stand erreicht worden wäre wie in den alten Bundesländern. Sie haben aber unter der verbrecherischen
Politik Ihrer Vorgänger gelitten, mit denen Sie in einem direkten Zusammenhang stehen.
({5})
Herr Fischer, was die Annahmen des BMF anbelangt: Ich kann Ihnen nur sagen - wenn Sie zu telefonieren aufhören -, daß wir von den Annahmen der offiziellen Steuerschätzung ausgehen. Im Mai des vergangenen Jahres hat die Steuerschätzung stattgefunden, die für den jetzigen Finanzplan erforderlich ist. Jetzt findet wieder eine Steuerschätzung statt, die für den nächsten Finanzplan zugrunde gelegt wird. Wir nehmen für den Haushalt und den Finanzplan jedesmal die Steuerschätzung, die dafür vorgesehen ist. Sie wird von Bund, Ländern und der Bundesbank unter Einbeziehung der wirtschaftlichen Forschungsinstitute erstellt. Objektiver kann man das nicht machen.
Nun hat Herr Fischer wieder vorgeschlagen, eine Steuer auf Spekulationsgewinne einzuführen. Darüber könnte man durchaus reden, wenn es Sinn machte. Nur, wer den Finanzplatz Deutschland, den Finanzplatz Frankfurt, erhalten will, der muß sich darüber im klaren sein, daß wir bei der bestehenden Freiheit des Kapitalverkehrs in Europa nur eines erreichen, nämlich daß der Verkauf dann in London stattfindet und nicht mehr in Frankfurt. Wollen wir damit wirklich den Finanzplatz Deutschland ruinieren? Sie haben doch einen Kämmerer in Frankfurt gehabt, der ein Minimum an Finanzkenntnissen hat. Vielleicht können Sie sich mit ihm zu einem Privatissimum treffen, um gemeinsam zu überlegen, welche Auswirkungen das auf Deutschland hätte.
({6})
Herr Gysi, es lohnt sich eigentlich nicht, auf Sie einzugehen. Sie haben aber etwas über die Rentner, auch die der früheren DDR, gesagt. Unter dem früheren Regime waren die Rentner in der DDR die ärmsten Menschen. Wir haben ihnen durch eine Steigerung der Rente, die sich sehen lassen kann, die Menschenwürde wiedergegeben.
({7})
Mit diesem Konsolidierungs- und Strukturreformpaket stellen die Koalition und die Bundesregierung die Weichen für mehr Wachstum und Beschäftigung. Wir greifen die strukturellen Schwächen des Standorts Deutschland auf. Sie stehen im Mittelpunkt. Wir müssen gemeinsam mit den Tarifpartnern alles tun, um sie zu beseitigen.
Die Staatsquote ist zu hoch. Dies ist nicht durch eine ausufernde Staatspolitik entstanden, sondern indem wir eine ganze Volkswirtschaft übernommen haben. Bis zum Jahr 2000 müssen wir die Staatsquote wieder auf den Stand vor der Wiedervereinigung, auf etwa 46 Prozent, senken. Wir müssen im Rahmen einer symmetrischen Finanzpolitik den einen Teil für die Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast und den anderen Teil für die Reduzierung der Defizite verwenden.
Angesichts einer 25jährigen Erfahrung in Deutschland und in anderen Ländern wissen wir, daß auf Grund globaler Märkte Fehler in der Struktur sofort bestraft werden: Absatzverlust, steigende Preise, steigende Zinsen, weichere Währung, weniger Wachstum und mehr Arbeitslosigkeit.
Die Erfahrung in Deutschland und in allen G-7-Ländern sowie der Europäischen Union zeigt, daß eine solche Konsolidierung nicht nur mittel- und langfristig, sondern auch kurzfristig auf die Konjunktur und auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze wirkt. Es ist völlig übereinstimmend mit der zwischenzeitlichen Meinung im internationalen Währungsfonds und in der Gruppe der G 7.
Die SPD muß sich entscheiden, was sie will: höhere Schulden, wie es der Vorsitzende des Haushaltsausschusses angedeutet hat, oder ob man von zu hoher Staatsverschuldung spricht wie Frau Matthäus-Maier oder ob man wie Herr Scharping die Vermögensabgabe fordert. Ich nehme an, Sie werden dazu nachher sicher noch einiges sagen.
Nur, Herr Scharping, meine Frage an Sie ist: Wollen Sie wirklich eine Verteuerung des Kapitals und damit eine Zinserhöhung, was folglich negative Auswirkungen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen hätte? Haben Sie eigentlich bedacht, daß das Bundesverfassungsgericht eben festgestellt hat, daß hohe Kapitalvermögen wegen der hohen Ertragsteuerbelastung nicht zusätzlich mit einer Substanzabgabe belastet werden dürfen?
({8})
Ich finde, das war ein Schnellschuß von Ihnen.
({9})
Sie sollten sich noch einmal gut überlegen, ob Sie das in der Diskussion aufrecht erhalten.
Zwischenzeitlich weiß doch jeder, mit einer steuerfinanzierten Nachfrageerhöhung sind die Probleme nicht mehr zu lösen. Das haben die 70er Jahre gezeigt. Nur Konsolidierung schafft Wachstum. Der positive Zusammenhang zwischen Konsolidierung und Wachstum gilt auch kurzfristig.
Lassen Sie mich einmal das Beispiel einiger anderer Länder darstellen. In Österreich soll das Budgetdefizit des Bundes in den Jahren 1996 und 1997 von jetzt 5 auf 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verringert werden. Das bedeutet Einsparungen pro Jahr in Höhe von 1,4 Prozent des BIP. Im öffentlichen Dienst gilt eine zweijährige Nullrunde mit Reallohnverzicht. Daneben gibt es Einschnitte bei den Frühpensionen, den Renten und bei der Arbeitslosenversicherung.
In Schweden soll der Haushalt bis 1998 ausgeglichen werden, ausgehend von einem Defizit in Höhe von 10,5 Prozent des BIP. Das bedeutet Einsparungen von jährlich etwa 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Schwerpunkte der Ausgabenkürzungen liegen im Personalbereich und bei den Sozialausgaben.
Auch in Finnland wird bis Ende 1997 ein ausgeglichener Gesamthaushalt angestrebt. Im Zentralbudget 1996 beträgt das Einsparvolumen 1,9 Prozent des BIP. Einsparbereiche sind die Renten und die Arbeitslosenunterstützung.
Sehr nah bei uns liegen die Niederlande. Sie haben einen Ministerpräsidenten - er war früher Finanzminister, kommt aus dem sozialistischen Bereich und war Gewerkschaftsvorsitzender. Dort ist für den Zeitraum 1995 bis 1998 ein Einsparvolumen von 2,75 BIP-Punkten zu erzielen. Gespart wird im Gesundheitswesen, bei den Renten, beim Kindergeld, bei sonstigen Sozialleistungen. Die Lohnabschlüsse im öffentlichen Dienst der Niederlande lagen 1994 bei nominal null Prozent, 1995 bei 0,5 Prozent, und für 1996 sind zum 1. Oktober 0,75 Prozent vereinbart.
({10})
- Sie sagen „Na und" ! Ich bitte Sie, endlich mal dem Beispiel von Wim Kok zu folgen, das in Ihre Politik umzusetzen und es auch gegenüber den Tarifpartnern zum Ausdruck zu bringen. Dann wären wir nämlich sehr viel weiter.
({11})
Unsere gestern gefaßten Beschlüsse liegen mit einem Sparvolumen von 50 Milliarden DM für den öffentlichen Gesamthaushalt oder 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Rahmen dessen, was sich auch andere Länder zutrauen.
({12})
Für den Haushalt 1996 bleiben wir bei einer Defizitgrößenordnung von rund 60 Milliarden DM. Trotz der Einsparungen ist das Budget auch unter Berücksichtigung der Nettoentlastung des privaten Verbrauchs um 15 bis 20 Milliarden DM durch das Jahressteuergesetz 1996 und den Wegfall des Kohlepfennigs insgesamt konjunkturgerecht. Von einer Überkonsolidierung oder von einem „Kaputtsparen" kann überhaupt keine Rede sein.
({13})
Wer wie Sie von der Opposition die notwendigen Strukturreformen im Sozialbereich als „Sozialabbau" diffamiert, hat im Gegensatz zu vielen Bürgern den Ernst der Lage nicht verstanden.
({14})
Die Bürger wissen sehr wohl: Dies ist notwendig. Sie sind auch bereit, ihren Beitrag zu erbringen, weil sie sich der Verantwortung für ihr eigenes Leben, für das Gemeinwohl und für die nächste Generation durchaus bewußt sind. Wir setzen auf die Vernunft der Menschen.
({15})
Mit dem Einstieg in notwendige Strukturreformen, in mehr Flexibilität und Eigenverantwortung brechen wir die Ausgaben- und Abgabendynamik, die bisher eine deutliche Senkung der Lohnnebenkosten verhindert. Mit den Änderungen bei der Lohnfortzahlung, beim Kündigungsschutz und bei den befristeten Arbeitsverhältnissen räumen wir entscheidende Bremsklötze für Neueinstellungen aus dem Weg, gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten.
({16})
Dieses Konsolidierungspaket entlastet auch Länder und Gemeinden deutlich. Es trägt wesentlich dazu bei, daß die Länder ihren Konsolidierungsbeitrag von 25 Milliarden DM erbringen können. Damit passen die Maßnahmen genau zu den bereits von vielen Bundesländern eingeleiteten, zum Teil drastischen Sparmaßnahmen, die von Haushaltssperren über Kürzungen im gesamten Budget bis hin zu einem deutlichen Personalabbau reichen.
Neben dem, was in dem Konzept steht, muß natürlich auch gesehen werden, welche Entlastungen die Kommunen und damit indirekt auch die Länder durch die Einführung der Pflegeversicherung haben. Das ist eine der größten Entlastungen gerade im kommunalen Bereich.
({17})
Steuerpolitisch geht es jetzt um die Verwirklichung des abgekoppelten Teils des Jahressteuergesetzes 1996, um die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und eine mittelstandsfreundliche Senkung der Gewerbeertragsteuer bei vollem Ausgleich der Einnahmeausfälle der Gemeinden durch Beteiligung am Aufkommen der Umsatzsteuer. Ich bin sehr froh, daß die Kommunen, vor allen Dingen vertreten durch die kommunalen Spitzenverbände, sehr klar erkannt haben, daß dies ihre große Chance ist, die Finanzausstattung der Kommunen dauerhaft qualitativ und auch quantitativ zu verbessern.
({18})
Wir gehen einen wichtigen Schritt im Hinblick auf Mittelstandsverbesserung und Eigenkapitalausstattung durch die Verbesserung des § 7 g des Einkommensteuergesetzes. Wir werden den Solidaritätszuschlag absenken, und zwar zum 1. Januar 1997 auf 6,5 Prozent und zum 1. Januar 1998 auf 5,5 Prozent.
Die Neuregelung der Erbschaft- und Schenkungsteuer wird sozial ausgewogen erfolgen. Dabei werden wir dem Umstand Rechnung tragen, daß die Vermögensteuer auf Privatvermögen entfällt, und zwar genau aus den Gründen, die Wolfgang Schäuble vorhin dargestellt hat. Wir wären doch wirklich von allen guten Geistern verlassen, nur den erhebungsaufwendigsten Teil einer Steuer weiter zu erheben im Wissen darum, daß dafür in den nächsten Jahren entweder eine neue Hauptfeststellung bei der Einheitsbewertung oder eine riesige Bedarfsbewertung stattfinden muß, und im Wissen darum, daß die Stellen bei den Ländern knapp sind und daß wir sehr gut ausgebildete Finanzbeamte sehr wohl für andere Dinge, nicht zuletzt bei der Betriebsprüfung, dringend benötigen könnten.
({19})
Dieser private Teil der Vermögensteuer wird mit der Erbschaftsteuer zusammengefaßt. Dies ist durch
eine Veränderung der Struktur des Erbschaftsteuertarifs möglich. Sie werden damit keine Möglichkeit haben, sich ein neues Verhetzungspotential aufzubauen. Sie werden sich nicht - wie früher beim Jäger 90 - ein Thema suchen können, das Sie uns dann in jeder Debatte vorhalten. Nein, wir sind sicher: Der Wegfall der Gewerbekapitalsteuer, der Wegfall der Vermögensteuer, die Verbesserung der Gewerbeertragsteuer, die Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer und eine vernünftige Gestaltung der Erbschaft- und Schenkungsteuer sind wichtige, positive Signale für Deutschland und seine Zukunftsfähigkeit sowie für die Investitionsbereitschaft gerade der Unternehmen.
({20})
Herr Scharping, denken Sie doch noch einmal darüber nach, was uns eigentlich die Verdoppelung des Vermögensteuersatzes für Private, damals im Solidarpakt, gebracht hat: eine Verlagerung von Kapital, eine Umschichtung in den Haushalten und weniger diesbezügliche Möglichkeiten für uns. Wer mit dem Kapital so umgeht, wie Sie es tun, der muß bei einem freien Kapitalverkehr in Europa fürchten, daß das Kapital Deutschland verläßt. Das ist so ziemlich das letzte. Wir brauchen attraktive Bedingungen, damit Kapital wieder verstärkt nach Deutschland kommt und deutsches Kapital in Deutschland bleibt. Das ist unsere Politik.
({21})
Meine Damen und Herren, wir werden auch unseren Kurs fortsetzen, fragwürdig gewordene Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen zurückzuschneiden. Allein in den letzten sechs Jahren haben wir Steuersubventionen in der Größenordnung von über 40 Milliarden DM in Deutschland abgebaut. Wir werden das fortsetzen. Wir denken an die Sonderabschreibungen für Schiffe und Flugzeuge, für die es meines Erachtens keinen Raum mehr gibt. Wir wollen und müssen gemeinsam mit den Ländern
- aber da besteht die Mehrheit aus SPD-Finanzministern - noch verstärkt gegen Steuerbetrug und Steuergestaltungsmißbrauch angehen.
({22})
- Wir sind dazu bereit. Reden Sie doch endlich mit Ihren Länderfinanzministern!
Herr Scharping, wir haben doch damals bei der Diskussion um einen Ausgleich für die mit dem Solidarpakt verbundenen Belastungen die Finanzminister gebeten, uns Vorschläge dazu zu machen, was mehr getan werden könnte. Dann sind Herr Schleußer und andere zurückgekommen und haben gesagt, das sei eine Illusion und die Summen, die genannt würden, seien schlichtweg Humbug; sie könnten nicht mehr tun.
Lachen Sie doch nicht und unterhalten Sie sich mit den Leuten, die von dem Thema offensichtlich mehr als Sie verstehen.
({23})
Wir wollen eine deutliche Verbreiterung der Bemessensgrundlage, und wir wollen dies durch eine umfassende Reform der Einkommensteuer verwirklichen. Daran werden wir in den nächsten Wochen und Monaten intensiv arbeiten. Ziel ist, die Steuerreform zum 1. Januar 1999 in Kraft zu setzen.
Bei der Gelegenheit werden wir auch das vom Bundesrat angestoßene Thema „Dienstwagen und Verpflegungspauschsätze" noch einmal diskutieren. Wir sind für Verbesserungsvorschläge durchaus aufgeschlossen. Nur wünsche ich mir dann schon, daß man nicht nur Vereinfachungen und Verringerungen von Pauschsätzen will, sondern daß man dann, wenn andere es tun, es akzeptiert und keine neuen Initiativen in Gang setzt.
({24})
Meine Damen und Herren, der Wohlfahrts- und Steuerstaat - das müssen wir alle konstatieren - hat seine Grenzen erreicht. Wir können die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft - dazu gehört neben einem hohen individuellen und sozialen Lebensstandard auch die persönliche Freiheit und sozialer Gemeinsinn - im 21. Jahrhundert nur bewahren, wenn wir nicht kleinkariert Einzel- und Gruppeninteressen verteidigen. Mit diesem Programm für den Standort Deutschland im 21. Jahrhundert pakken wir die Wachstumsprobleme entschlossen an, schaffen die politischen Rahmenbedingungen für einen neuen Aufschwung und vermeiden unzumutbare Härten. Wir stellen uns damit der Gegenwart und der Zukunft.
Ich danke Ihnen.
({25})
Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lage ist ernst, in mancher Hinsicht ist sie dramatisch. Sie ist ernst wegen der wirtschaftlichen Entwicklung, wegen der finanziellen Folgen für die öffentlichen Haushalte, wegen der Situation auf dem Arbeitsmarkt und vieler anderer Umstände. In dieser Situation muß es Änderungen geben. Der Streit geht nicht um die Frage, ob es Änderungen geben muß, sondern darum, in welche Richtung sie gehen. Der Streit geht nicht um die Frage, ob man in einer krisenhaften Situation Chancen entwickelt, sondern um die Frage, ob diese Regierung fähig ist, für das Land insgesamt Chancen zu entwickeln,
({0})
und ob sie eine neue, eine moderne, eine soziale Demokratie wirtschaftlich und kulturell begründen und die Kräfte bündeln kann, fernab der Tatsache, daß diese Regierung vor dem 24. März die Öffentlichkeit,
das Parlament und die Bürgerinnen und Bürger belogen hat.
({1})
Fernab dieser Tatsache mache ich auf eines aufmerksam: Mit der Bereitschaft der Gewerkschaften, strukturelle, tiefgreifende Reformen im Sinne von Beschäftigung und Wachstum mitzutragen, mit der Einsicht der Wohlfahrtsverbände und Kirchen, im Zweifel auch noch mit einem Angebot der Opposition spielt man nicht taktisch. Genau das aber haben Sie getan.
({2})
Sie vertun eine enorme Chance und fallen zurück in den alten Trott. Sie machen aus einem Holzweg einen Trampelpfad Ihrer Politik!
({3})
Und ich sage das in allem Ernst; denn wer dauernd nach Auswegen sucht, landet am Ende in der Ausweglosigkeit. Ihre Politik ist in der Ausweglosigkeit gelandet.
({4})
In einem Land mit acht Millionen Menschen, die als arm gelten, mit sechs Millionen Menschen, die mit irgendeiner Form von öffentlicher Unterstützung leben, mehr als vier Millionen Menschen, die arbeitslos sind, mehr als zwei Millionen Menschen, die eine preiswerte Wohnung suchen, mehr als einer halben Million Kinder, die ohne anständiges Dach über dem Kopf leben, häufig sogar auf der Straße leben müssen usw. usw., Herr Bundeskanzler, in einem solchen Land, das unbestritten Reichtum hat und Chancen bietet, aber mit dem Reichtum und den Chancen ungleich und ungerecht umgeht, dank Ihrer Politik,
({5})
sich in einem solchen Land, Herr Bundeskanzler, hinzustellen und von einer ungeheuer erfolgreichen Politik zu reden, das muß den betroffenen Menschen und den vielen anderen, die sich Sorgen machen, wie Hohn und wie selbstgefällige Arroganz in den Ohren klingen!
({6})
Ich finde, so mobilisiert man keine Kräfte.
({7})
Und dann, Herr Bundeskanzler, haben Sie davon geredet, man dürfe sich in einer solchen Situation nicht an Besitzständen festhalten. Ja, welche Besitzstände meinen Sie denn da? Die Besitzstände derer, denen Sie die Lohnersatzleistungen seit mehreren
Jahren gekürzt haben und erneut kürzen wollen? Die Besitzstände derer, die hoffen, daß es eine intelligente Lösung zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gibt statt der pauschalen Bestrafung aller, die krank geworden sind?
({8})
Die Besitzstände jener Menschen, die Kinder alleine erziehen?
Ich finde es - und ich sage das auch hier im Parlament - eine Obszönität, daß die Erhöhung des Kindergeldes ausgesetzt werden soll und Sie gleichzeitig die Vermögensteuer abschaffen wollen. Das ist eine soziale Obszönität!
({9})
Und dann wird ja fröhlich immer an den falschen Fronten gefochten. Ich nenne Ihnen fast wahllos einige Beispiele:
Da kommt der Bundesfinanzminister und sagt, die SPD müsse endlich mal die Frage beantworten, ob sie mehr Kreditaufnahme wolle. Zunächst, damit Sie Ihre Antwort haben: Wir sind der Auffassung, daß man die 160 Milliarden Mark Kosten der Arbeitslosigkeit nicht durch Ausgabenkürzung hereinholen kann. Das ist völlig ausgeschlossen.
({10})
Man muß den Sozialstaat langfristig konsolidieren, ja, aber ich sage einmal: Lügen Sie doch nicht sich, dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit in die Tasche! Ich habe hier einen Vermerk Ihrer Arbeitsgruppe Haushalt. Da steht: Im Bundeshaushalt 1997 beträgt nach derzeitigem Stand die Deckungslücke 30 Milliarden. Diese resultiert aus Steuermindereinnahmen usw. Diese Deckungslücke soll in Höhe von 25 Milliarden durch Einsparungen und in Höhe von 5 Milliarden durch eine Erhöhung der Nettokreditaufnahme geschlossen werden.
Meine Damen und Herren, es ist unredlich, eine Täuschung der Öffentlichkeit und für die weitere Debatte auch nicht gerade fruchtbar, uns vorzuwerfen, wir wollten die Erhöhung der Nettokreditaufnahme, während Ihre Arbeitsgruppen fröhlich vereinbaren, wir reden nur von 25 Milliarden und verschweigen die 5 Milliarden, die wir zusätzlich beim Kredit aufpacken wollen.
({11})
Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel: Standortfaktoren. Die Arbeitgeber, nicht die SPD, nicht die Gewerkschaften und nicht irgend jemand sonst, sagen: Für den Standort sind erstens Qualifikation, zweitens technisches Wissen, drittens Arbeitsproduktivität, viertens effektives Management, fünftens Abgabenquote besonders wichtig. Irgendwo bei zwölftens oder dreizehntes kommen die Arbeitskosten.
Abgabenquote: Nie zuvor hat eine Regierung in der Bundesrepublik Deutschland die Abgabenquote
so hoch getrieben wie diese. Das ist die Folge ihrer Feigheit, dem Steuerzahler die Wahrheit zu sagen.
({12})
Sie sagen: Die Arbeitskosten in Deutschland sind zu hoch. Das heißt nichts anderes, als daß der Bock, sich als Gärtner gerierend, die Folgen seiner eigenen Untaten beklagt.
({13})
Die Arbeitskosten in Deutschland sind nicht zu hoch, wohl aber die Abgaben auf die Arbeit.
Ich frage Sie in allem Ernst, ob Ihnen in einer exportorientierten Nation, die Nachfrage im eigenen Land zur wirtschaftlichen Belebung braucht, nicht etwas auffällt, wenn Sie sich folgendes anhören: Die Lohnquote der Arbeitnehmer, also ihr Anteil am gemeinsam Erwirtschafteten, beträgt in Japan 75 Prozent, in den USA und Großbritannien 72 Prozent, in der Europäischen Union im Durchschnitt 70 Prozent und in Deutschland 66 Prozent.
Die Tatsache, daß die Arbeitnehmer durch den Einsatz ihrer Arbeitskraft seit Jahren - wirtschaftlich gesprochen - keinen wachsenden Ertrag mehr haben, wirkt sich auf der Nachfrageseite unserer Wirtschaft aus und hat zur logischen Konsequenz, daß wir in wirtschaftliche Schwächen hineinrennen. Wenn Sie diesen Prozeß fortsetzen, werden Sie die wirtschaftlichen Schwächen fortsetzen.
({14})
Niemand bestreitet - wir sagen das auch in unserem eigenen Vorschlag -, daß wir die Zukunft sichern und den Zusammenhalt stärken müssen. Jawohl, es muß einiges verändert werden, es muß langfristig konsolidiert werden, aber dann bitte auch auf allen Seiten.
Ich habe von unhaltbaren Zuständen gesprochen und ein bestimmtes politisches Vorhaben obszön genannt. Es ist am 14. Februar 1996 ein Urteil des Bundesfinanzhofs auf der Grundlage geltender Gesetze in Deutschland ergangen. Die Anschaffungskosten für ein in ein Einfamilienhaus eingebautes Schwimmbad gehören zu den Anschaffungskosten des Gebäudes und damit zur Bemessungsgrundlage für den Abzugsbetrag nach § 10e Einkommensteuergesetz.
Das heißt in schlichtem Deutsch folgendes: Wir haben es hier mit einer Koalition zu tun, die bereit ist, die Erhöhung des Kindergeldes auszusetzen, die aber unfähig ist, die Anschaffungskosten für ein privates Schwimmbad aus der Wohnungsbauförderung herauszunehmen. Das nenne ich skandalös.
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Nun will ich Ihnen noch etwas im Zuge der wahllosen Beispiele - die Redezeit und Ihr Bedürfnis, nach Hause zu kommen, ist eine doppelte Begrenzung dafür, Ihnen jedes denkbare Beispiel zu nennen - zu den Vermögen und ihrer Entwicklung sagen. Wir sind der Auffassung - das ist die erste grundsätzliche Antwort der Sozialdemokratie -: Entlastet die Arbeit von Kosten, sorgt dafür, daß sich der Einsatz von Arbeitskraft stärker lohnt!
Das hat Folgen für die Lohnnebenkosten, für die Sozialversicherungsbeiträge, für die langfristige Konsolidierung des Sozialstaats, für die Beseitigung struktureller Defizite und für vieles andere. Es muß auch eine Folge in der Frage haben: Was lohnt sich eigentlich in Deutschland? Seine Arbeitskraft einzusetzen bekanntlich nicht, das muß man tun, um leben zu können. Zu investieren lohnt sich zu wenig, das ist auch ein allgemein bekannter Tatbestand, für den Sie leider Verantwortung tragen. Geldvermögen anzusammeln lohnt sich besonders. Das zeigt eine einfache Zahl, und ich nenne sie Ihnen nur für den Westen Deutschlands, weil sich im Osten Deutschlands, wie die Dinge liegen, Vermögen nur in ganz, ganz wenigen Händen ansammeln kann - skandalöse Zustände, wie ich finde, und wirtschaftlich übrigens höchst unvernünftig.
Wir haben am Ende des Jahres 1994 ausweislich der Antwort der Bundesregierung in Deutschland ein Bruttogeldvermögen von 4 320 Milliarden DM. Auf den Westen Deutschlands entfallen davon 4 038 Milliarden DM. Im Westen Deutschlands ist allein das Geldvermögen - ich rede gar nicht von Grundbesitz und anderem - von 1989 bis 1994 um 40 Prozent gewachsen, um 40 Prozent!
Wir können ja gern über technische Einzelheiten streiten; aber ich sage nochmals: Schauen Sie sich einmal die Erträge der Vermögen an und fragen Sie sich dann, ob Sie es mit der christlichen Motivation von Politik, mit dem schlichten moralischen Anstand, mit dem Empfinden für Gerechtigkeit oder mit der wirtschaftlichen Vernunft vereinbaren können - ich behaupte, mit keinem der vier Punkte -, daß der Zuwachs von Geldvermögen in der Bundesrepublik Deutschland in fünf Jahren 40 Prozent und der Zuwachs des Wertes der eingesetzten Arbeitskraft null beträgt. Das ist nicht verantwortbar.
({16})
Nun kommen Sie mir doch nicht mit Ihrem technischen Klunkerkram! Natürlich können wir darüber reden, wie man Freibeträge macht - da haben wir einen Vorschlag gemacht -, wie wir das im einzelnen technisch organisieren usw. Die Tatsache, daß Sie immer technische Einwände erheben, kann doch eines nicht bemänteln: Sie haben den Willen nicht, für sozial gerechte Verhältnisse zu sorgen.
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Und dann redet der Bundeskanzler mit großer Geste und ebenso großer Selbstgefälligkeit von einer ungeheuer erfolgreichen Politik, davon, daß wir uns nicht an den Besitzständen festhalten dürften.
({18})
Meine Damen und Herren, die sozialdemokratische Antwort ist klar und eindeutig.
Erstens. Wir wollen die Arbeit von Kosten entlasten, das heißt Lohnnebenkosten senken.
({19})
Und wir wollen gleichzeitig dafür sorgen, daß das stilliegende Vermögen und der Verbrauch von Umwelt dazu herangezogen werden.
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Zweitens. Wir wollen auf diese Weise einen zukunftsträchtigen Weg eröffnen. Kollege Schäuble hat einen Einwand im Zusammenhang mit den Energiekosten gemacht, den ich ernst nehme. Ich nehme ihn durchaus ernst. Ich möchte aber Sie, Herr Kollege Schäuble, vor allen Dingen jedoch die deutsche Öffentlichkeit darauf hinweisen, daß es in Deutschland nur ganz eingeschränkt bestimmte Branchen gibt - im wesentlichen solche, die Prozeßenergie einsetzen -, in denen der Anteil der Energiekosten höher ist als der Anteil der Lohnkosten. Vor diesem Hintergrund ist jedes Modell, das im selben Umfang Lohnkosten herunterbringt und die Finanzierung über die Energiekosten sucht, für diese Unternehmen ein Vorteil, nicht ein Nachteil.
Wir haben Ihnen ausdrücklich gesagt: Wir sind bereit, über die Frage der Prozeßenergie, über die Frage möglicher Umbrüche sorgfältig miteinander zu reden. Aber auch das sage ich Ihnen: Es liegt doch nicht an der mangelnden Bereitschaft, über einzelne Fragen zu reden, sondern an Ihrem Unwillen. Sie wollen das nicht, Sie wollen es schlicht nicht und machen deswegen allerlei Vorwände.
({21})
Wir sind der Meinung, Leistung muß gefördert werden, berufliche Selbständigkeit, Risikobereitschaft und dergleichen mehr. Ich frage mich nur: Wie wollen Sie das hinkriegen in einem Land, das sich durch Sicherheitsdenken auszeichnet und manchmal ja auch blockiert? Wie wollen Sie es hinbekommen, daß junge Leute eine Existenz gründen können, daß sie das Wagnis der beruflichen Selbständigkeit eingehen, daß sie die Chancen des Aufstiegs suchen, wenn sie gleichzeitig in Deutschland weder eine mittelstandsorientierte Börse noch einen anständigen Zugang zu Wagniskapital oder Risikofinanzierung oder irgend etwas haben?
Was Sie auf diesem Gebiet geboten haben und jetzt vorhaben, -ist schlicht jämmerlich. Es wird den Herausforderungen der wirtschaftlichen Zukunft in Deutschland nicht gerecht.
({22})
Drittens. Wir wollen Normalverdiener und Leistungsträger entlasten. Es tut mir herzlich leid, aber für mich ist ein Mensch, der sehr viel Geld auf der Bank liegen hat, im Zweifel der Erbe eines Leistungsträgers, aber nicht unbedingt selbst ein Leistungsträger.
({23})
Für mich sind die Leute, die arbeiten gehen, die Facharbeiter, die Ingenieure, die Handwerker, die Polizeibeamten, die Krankenschwestern, die eigentlichen Leistungsträger dieses Landes, und die wollen wir entlasten.
({24})
Da sage ich mit kritischem Blick sowohl auf die Union wie auch auf die Grünen: Redet bitte schön nicht immer so viel von der Senkung des Spitzensteuersatzes! Fangt mal bei den Leuten an, die bei einem normalen Einkommen einen Eingangssteuersatz von knapp 26 Prozent haben!
({25})
- Ist doch in Ordnung. Daß die Grünen in einer gewissen Gefahr sind, sich allzu egoliberal den F.D.P.lern anzunähern, ist unbestritten.
({26})
Auch der Abgeordnete Joschka Fischer muß bei aller Freundschaft aushalten, daß sich Sozialdemokraten auch mit grüner Politik kritisch auseinandersetzen. Ihr seid ja keine Unberührbaren.
({27})
Wichtiger aber ist mir folgendes: In einer solchen Zeit eine langfristige Konsolidierung des Sozialstaats zu betreiben, das setzt die Bereitschaft voraus, unbefangen darüber nachzudenken, was noch geht. Für die Sozialdemokratie stellt sich die Herausforderung - daraus machen wir auch gar keinen Hehl -, zu sagen: Wir können nicht mehr mit dem Status quo des Jahres 1982, sondern wir müssen mit dem Status quo des Jahres 1996 anfangen, also schlicht die eingetretene Realität als Ausgangspunkt nehmen. Wir können nicht daran vorbeisehen, daß Sie 13, 14 Jahre Politik gemacht haben, mit erheblichen Folgen für arbeitende Menschen, für sozial Schwächere usw.
Deswegen sagen wir auch völlig offen: Forderungen nach Verbesserungen beispielsweise der Lohnersatzleistungen haben wir fallengelassen. Es gibt Bereiche, in denen der Sozialstaat dringend der langfristigen Konsolidierung bedarf. Mein Freund Oskar Lafontaine hat über die Sozialhilfe gesprochen.
({28})
- Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß es in Ihrer Partei unmöglich ist, daß man eine Konkurrenz ausficht
und trotzdem kollegial und freundschaftlich zusammenarbeitet.
({29})
Deswegen ist der Bundeskanzler Dr. Kohl zu einer solch einmaligen Erscheinung geworden, daß Sie sein Abtreten fürchten müssen, weil danach nichts mehr ist.
({30})
Wenn die Elefanten - oder man müßte sagen: Buddhas - auf der Wiese trampeln, wächst kein Gras mehr. Das ist nun einmal so. So stark ist der Steuermann allerdings auch wieder nicht, daß Sie jetzt alle hoffen können, in dieser Konstellation noch einmal bis 1998 zu kommen.
Aber ich will zurück zur Sache; die ist mir wichtiger.
({31})
Wir wissen, daß manche Bereiche des Sozialstaats, zum Beispiel die Kuren, zum Beispiel die Frage, an die Sie sich auch nicht herantrauen, nämlich Leistungsstrukturen und leistungsgerechte Bezahlung im öffentlichen Dienst, oder bestimmte Privilegien bei der Beihilfe oder bestimmte Bevorzugungen von Beamten bei der Altersversorgung - ich könnte noch einige nennen -, in Ordnung gebracht werden müssen. Dazu sagen Sie nichts.
({32})
Sie sagen nur etwas zu den Schwächeren, den Menschen, die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe beziehen. Aber bei denen, die ihre Interessen organisieren können, die Ihnen im Zweifel noch ein bißchen Druck machen, da haben Sie eine absolut zynische Einschätzung, nämlich: Es habe sich in den letzten 12, 13 Jahren herausgestellt - jetzt zum Beispiel am 24. März -, daß man Menschen auf diese Weise ausgrenzen, mies behandeln, ins Abseits drängen könne, und sie würden sich nicht wehren. Ich fürchte, Sie erliegen da einer Illusion; denn das Protestpotential, das gegen diese Art von Politik in Deutschland wachsen wird, wird Ihnen Schwierigkeiten machen. Das wäre egal. Es wird aber auch für die demokratische und soziale Stabilität dieses Landes eine Schwierigkeit bedeuten, wenn Sie so weitermachen.
({33})
Meine Damen und Herren, was Sie uns vorlegen - unbeschadet mancher Einzelheiten, über die man dann reden kann; aber es geht hier ja um eine grundsätzliche Richtung -, ist in einer finanziellen, in einer sozialen, in einer wirtschaftlichen Schieflage. Das
Schlimmste ist aber: Es ist in einer so offenkundigen moralischen Schieflage.
({34})
Ich will Ihnen ausdrücklich ankündigen, daß wir Ihnen diese Auseinandersetzung weder in wirtschaftlicher noch in finanzieller, noch in sozialer, noch in kultureller Hinsicht ersparen werden. Ich wiederhole: Sie werden keine Zustimmung finden, wenn Sie an dem Unfug und an der wirklichen Obszönität festhalten, das Kindergeld nicht zu erhöhen und gleichzeitig die Vermögensteuer zu beseitigen.
({35})
Ich hatte mir im Freistaat Sachsen einigen Ärger zugezogen. Ich gebe zu, meine Bemerkung damals im Deutschen Bundestag war leichtfertig, und manche mußten sie als Verletzung empfinden. Ich hatte damals Kurt Biedenkopf gelobt. Von ihm gibt es den Satz, der Kapitän sei nicht so häufig auf Deck zu sehen - heute konnten wir ihn sehen -, er beschränke seine Tätigkeit darauf, die vielen Löcher im Schiff unter der Wasserlinie abzudichten, um die Sinkgeschwindigkeit zu verringern.
({36})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Union, Sie verzeihen mir den Hinweis: Eine klügere, treffendere und kürzere Zusammenfassung Ihrer Politik ist auch mir nicht eingefallen.
({37})
Ich erteile nun dem Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat heute nacht ein Programm beschlossen, das den Anspruch erhebt, Alternative zu unserem Beschäftigungs- und Wachstumsprogramm zu sein. Ihr Programm ist mit heißer Nadel genäht. Herr Scharping hat die Philosophie soeben dargestellt. Es enthält eine Reihe von Zielvorstellungen, die durchaus in vieler Hinsicht mit dem übereinstimmen, was wir wollen. Das Programm enthält darüber hinaus eine ganze Reihe von konkreten Vorschlägen.
Wenn ich mir diese konkreten Vorschläge ansehe, dann muß ich feststellen, daß es entweder Vorschläge sind, die wir in den vorliegenden Programmen über Haushaltskonsolidierung, über Mittelstandsförderung und über Vermögensbildung längst
gemacht haben, oder aber daß sie - so kann man all das, Herr Scharping, was Sie soeben vorgetragen haben, zusammenfassen - dem alten Strickmuster folgen.
({0})
Dieses alte Strickmuster besteht darin, daß Sie entweder, um - darin stimmen wir überein - Leistung zu fördern und Arbeit billiger zu machen, die Wirtschaft durch die Einführung einer Ökosteuer, wie Sie das nennen, höher belasten oder daß Sie - das verbrämen Sie mit sozialpolitischem Anspruch - denen, die potentielle Investoren sind, mehr nehmen wollen, um Gerechtigkeit, wie Sie es ausdrücken, nach unten wahren zu können.
Dabei übersehen Sie aber, daß wir in Deutschland einen Steuertarif und eine -belastung haben, die durchaus auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, der Unternehmen und der Menschen abstellen, und daß immer dann, wenn wir die Steuerschraube zu stark anziehen, wenn wir übertreiben, letztlich weniger Steuern fließen und damit die Ressourcen, die wir brauchen und die ja auch Sie wollen, um Arbeit billiger zu machen, nicht mehr vorhanden sind. Wer an der Steuerschraube dreht und dabei überzieht, wer die Bezieher höherer Einkommen immer stärker belasten will, der führt eine Situation herbei, die darauf hinausläuft, daß die Investoren aus Deutschland abwandern, daß nicht mehr in unserem Land, sondern anderswo investiert wird und daß Steuer vermieden und hinterzogen wird. Wir wollen eine gerechte Steuerreform in diesem Land, wir wollen eine Besteuerung entsprechend dem Einkommen; aber wir wollen kein Überziehen, und wir wollen nicht, daß in diesem Land am Ende weniger Steuern fließen.
Das aber, meine Damen und Herren von der SPD, ist Ihr Strickmuster. Ich brauche das gar nicht ideologisch zu definieren. Ich habe ja Verständnis dafür, daß eine sozialdemokratische Partei im Parlament und anderswo den Anspruch erhebt, die kleinen Leute, die Bezieher kleiner Einkommen zu schützen, und, da sie Reformen machen will, verkündet, oben darauflegen zu wollen. Ich sage Ihnen aber noch einmal: Das Beispiel anderer Länder hat gezeigt, daß Sie, wenn in der Steuerpolitik überzogen wird, am Ende weniger haben werden. Deshalb ist eine solche Politik, wie sie von Ihnen gewollt wird, im Ansatz falsch. Vielmehr haben wir gesehen, daß immer dann, wenn in unserem Land und anderswo Steuern gesenkt worden sind, am Ende mehr Steuern geflossen sind und damit die Spielräume für eine überzeugende Wirtschafts- und Sozialpolitik größer geworden sind. Sie wollen den anderen Weg gehen, und das ist der falsche Weg.
({1})
Wir haben in den gesamten 80er Jahren eine Politik der sozial ausgewogenen Steuersenkung betrieben und haben dennoch mehr Steuern eingenommen.
({2})
Erst durch die Vereinigung, die mit Aufwendungen und Belastungen verbunden war - diese kennen Sie genau -, ist eine Situation herangewachsen, die wir jetzt dringend durch eine langfristig angelegte, sorgfältig vorbereitete Steuerreform revidieren müssen. Das ist unser Programm. Das ist die Alternative zu dem, was Sie heute nacht mit heißer Nadel genäht und beschlossen haben.
Wir bereiten demgegenüber eine große Tarifreform bei der Einkommensteuer und eine langfristige Sicherung der Renten sorgfältig vor.
({3})
Wir werden für diese Einkommensteuerreform, die sozial ausgewogen sein wird, noch in diesem Jahr die Eckpunkte vorlegen. Das Steuersystem wird einfacher, transparenter und gerechter werden.
Bei der langfristigen Sicherung der Renten werden wir vor allem der demographischen Entwicklung Rechnung tragen. Wir alle wissen, daß die Rentenformel so, wie sie derzeit besteht, nicht mehr angewandt werden kann. Wer eine Mitarbeit an diesen Reformen, an dieser sozial ausgewogenen und gerechten Steuerreform sowie an der Reform der Rentenversicherung verweigert, hat mit der Zukunft unseres Landes nichts im Sinn.
Neben diesen mittel- und langfristigen Projekten bedarf es jetzt einer Kostensenkung - da sind wir uns einig; das haben Sie ja auch hineingeschrieben - für unsere Unternehmen. Das soll nun die Unternehmensteuerreform leisten, die Sie im vorigen Jahr im Bundesrat verhindert haben, was eine Ursache dafür war, daß die Konjunktur in diesem Jahr einen schlechteren Verlauf genommen hat, als ursprünglich angenommen. Es gibt dafür zweifellos auch noch andere Ursachen; aber das war eine unter mehreren Ursachen.
Meine Damen und Herren, mit der Reform der Erbschaftsteuer und, Herr Fischer, der Zusammenfassung mit der Besteuerung privater Vermögen wollen wir dazu beitragen, daß in der schwierigen Phase der Übertragung von Vermögen auf die nächste Generation Millionen von Arbeitsplätzen gesichert werden.
Es ist höchste Zeit, die steuerlichen Voraussetzungen für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Privathaushalten zu verbessern. Damit erschließen wir ein großes Potential von Dienstleistungen. Wenn ich an die Widerstände denke, die aus der Sozialdemokratie unter der Überschrift „Dienstmädchenprivileg" kamen - das ist heute morgen schon angesprochen worden -, dann bin ich sehr froh, daß wir jetzt nach Überwindung von Schwierigkeiten in den eigenen Reihen dieses Projekt mit Entschiedenheit und Entschlossenheit angehen. Ich erwarte hiervon nicht die Lösung aller Probleme von heute auf morgen. Die Zahl der Arbeitsverhältnisse in den Haushalten wird
nur langsam steigen; aber sie wird steigen, und sie wird auf mehrere Zehntausend und dann Hunderttausende von Arbeitsplätzen ansteigen.
Mit einer erweiterten Ansparabschreibung wollen wir den Existenzgründern helfen. Auch das steht in Ihrem Programm.
Wenn ich alle Maßnahmen in unserem Aktionsprogramm und davor zusammenzähle - was Kredite angeht, was Innovationsförderung angeht, was Garantieübernahmen durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau und durch den Staat selbst angeht -, dann haben wir für den Mittelstand in den letzten Monaten, in den letzten Jahren Vergünstigungen und Verbesserungen auf den Weg gebracht, die es in dieser Form im Nachkriegsdeutschland noch nicht gegeben hat. Unser Ziel ist eine neue Kultur, eine neue Kultur der Existenzgründungen. Wenn jeder mittelständische Existenzgründer drei neue Arbeitsplätze schafft, dann können wir uns ausrechnen, wie viele neue Arbeitsplätze bei 100 000 Unternehmensgründungen in kürzester Zeit in diesem Land entstehen können.
({4})
Deshalb stehen wir zur Mittelstandspolitik und zu den Vergünstigungen, die wir trotz angespanntester Haushaltslage in den letzten Jahren durchgesetzt haben.
Meine Damen und Herren, wegen der Kürze der Zeit nur noch wenige Worte zu den Sozialleistungen. Wer geht schon gern an die Leistungen für Rentner oder an Kuren oder an Sozialleistungen insgesamt heran? Aber dürfen wir denn - das ist meine Frage - zulassen, daß steigende Ausgaben über steigende Lohnzusatzkosten eine steigende Arbeitslosigkeit hervorrufen? Die Beiträge zur Rentenversicherung steigen auf über 20 Prozent, die zur Krankenversicherung auf 14 Prozent und die zur Arbeitslosenversicherung auf 7 Prozent, wenn nichts passiert. Hinzu kommt die Pflegeversicherung; da sind es 1,7 Prozent.
Das ist ein Teufelskreis, der zu mehr Arbeitslosigkeit führt, weil die Lohnzusatzkosten in den Unternehmen eine Dimension angenommen haben, die dazu geführt hat, daß Beschäftigung abgebaut wird. Wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen.
({5})
Nur so halten wir unser Sozialsystem auf Dauer stabil, gerade angesichts der demographischen Probleme, vor denen wir stehen. Deshalb sage ich mit Nachdruck: Diese 25 Milliarden DM Einsparung bei der Sozialversicherung sind 25 Milliarden DM mehr Spielraum für Investitionen und Arbeitsplätze.
({6})
Es sind deshalb Spielräume, weil die Senkung der
Lohnzusatzkosten die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich erhöht. Daß es bei Senkung
der Sozialversicherungsbeiträge zur Schaffung von Arbeitsplätzen kommt, liegt auf der Hand.
Ein weiterer Punkt: Wir müssen uns mit den Beschäftigungshemmnissen auseinandersetzen. Viele Sozialgesetze, wie das Kündigungsschutzgesetz, haben sich zu Regelwerken entwickelt, die Unternehmen davon abhalten, zusätzlich Leute einzustellen. Gehen Sie doch einmal hinaus und sprechen Sie mit Handwerkern, mit Dienstleistungsunternehmen! Die Leute stellen nicht ein, weil sie Angst haben, daß sie, wenn sie statt fünf Mitarbeitern sechs oder sieben haben, in das juristische Dickicht des Arbeitsrechts hineinkommen oder hohe Abfindungen zahlen müssen, wenn sie für diese Arbeitnehmer nichts mehr zu tun haben. Schutzrechte sollen wieder so gestaltet sein, daß sie auch Arbeitslosen eine faire Chance bieten, und deshalb haben wir diese Veränderungen vorgenommen.
({7})
Ein Tabuthema war seit Jahrzehnten die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Nirgendwo in Europa und auch in anderen Ländern außerhalb Europas gibt es eine 100-Prozent-Regelung. Wer wollte bestreiten, daß unser System nicht nur Sicherheit für den wirklich kranken Arbeitnehmer gebracht hat, sondern auch zu Mißbrauch und zu hohen Fehlzeiten sowie zu nicht mehr bezahlbaren Kosten in den Unternehmen geführt hat und führt?
({8})
- Herr Gysi, nun gehen Sie doch einmal hinaus! Sprechen Sie nicht nur mit Ihren Leuten!
({9})
Sprechen Sie mit dem kleinen Handwerksmeister! Der hat drei oder vier Leute, und zwei Leute sind krank oder auch nur einer, und am Monatsende müssen die Löhne gezahlt werden. Wer soll sie denn hereinbringen? Das geht nicht. Da muß eine Entlastung her.
({10})
Sie gehen an den Realitäten des Lebens vorbei. Sehen Sie sich doch einmal an, was in anderen Ländern passiert ist, in Skandinavien und in all den Ländern, wo es eine Korrektur bei der Lohnfortzahlung in maßvoller Art und Weise gegeben hat! Sehen Sie sich an, wie sich die Zahl der Krankmeldungen verringert hat, wie die Produktivität gestiegen ist, wie die Leistungskraft dieser kleinen Unternehmen gestiegen ist und wie das am Ende dazu geführt hat, daß es wieder mehr Beschäftigung gibt!
Meine Damen und Herren, machen Sie sich doch nichts vor! Wir treten nicht an, um den Sozialstaat abzuschaffen. Wir sind angetreten, damit in den Unternehmen wieder investiert wird, damit Beschäftigungshemmnisse abgebaut werden und damit Menschen in Handwerksbetrieben, in DienstleistungsbeBundesminister Dr. Günter Rexrodt
trieben und auch in großen Betrieben eingestellt werden.
({11})
Sie mögen andere Vorstellungen über den Weg, der zu gehen ist, haben; aber das Motiv können Sie uns nicht absprechen. Wenn Sie mit der Wirtschaft sprechen, dann werden Sie all das, was ich hier vorgetragen habe, bestätigt finden.
({12})
Diese wichtigen Veränderungen, die dem Anspruch einer Reform wirklich Rechnung tragen, werden zu höherer Wettbewerbsfähigkeit, zu besseren Wachstumschancen und zu mehr Arbeitsplätzen führen; das ist gar keine Frage. Was wir heute und in den letzten Tagen an sogenannten Rezepten von der Opposition gehört haben, wird der Bedeutung dieses Themas nicht gerecht. Wann endlich lernen Sie, daß man Arbeit nicht verteuern darf, wenn man Arbeitsplätze schaffen will? Sie erheben den Anspruch, Herr Scharping - auch eben wieder -, daß Sie die Arbeitskosten senken wollen. Sie wollen eine Sonderabgabe für Reiche erheben. Das klingt zwar gut; aber keiner darf sich wundern, wenn dann das Geld außer Landes geht, weil die Menschen befürchten, daß eine solche Sonderabgabe dann auch für andere Zwecke, für welche Zwecke auch immer, eingeführt wird. Das ist das alte Denkraster: Immer oben zugreifen, dann haben wir das Geld, um unsere Träume realisieren zu können.
({13})
Wohlstand entsteht in unserem Lande nur, wenn es für Kapitalanlagen und Investoren attraktiv gemacht wird. Sehen Sie sich doch einmal die ausländische Presse an. Wie definiert sie denn „german disease", die deutsche Krankheit? Sie wird damit definiert, daß die Lohnzusatzkosten zu hoch sind, daß die Steuern zu hoch sind, daß die Spitzensteuersätze zu hoch sind, daß es eine Gewerbekapitalsteuer gibt, daß es eine Gewerbeertragsteuer gibt. Das denken wir uns doch nicht aus; das konstatiert die ganze Welt. Das hat dazu geführt, daß die deutsche Wirtschaft im Ausland Investitionen in Höhe von 50 Milliarden DM im Jahre 1995 getätigt hat und in unserem Land nur 14 Milliarden DM investiert worden sind.
({14})
Die Standortbedingungen für die Wirtschaft sind zu schlecht; deshalb fehlt es an Arbeitsplätzen. Wir werden dieses Problem nicht nach Ihrer Methode, der Methode Eisenbarth lösen, sondern dadurch, daß wir die Wirtschaft entlasten.
({15})
Daß dabei auch soziale Gerechtigkeit eine Rolle spielen muß, ist doch gar keine Frage, meine Damen und Herren.
({16})
Ein Reformprogramm wie das unsere wird natürlich - das sehen wir - auf viel Sympathie stoßen. Es wird aber auch Ablehnung und Protest erfahren. Wir werden unseren Weg entschlossen gehen. Härten sind in dieses System eingebaut; sie sind unvermeidbar. Aber wir wollen keine Abschaffung des Sozialstaates. Es ist heute morgen schon gesagt worden: Die meisten Maßnahmen, die wir durchführen, laufen darauf hinaus, daß eine Erhöhung, die vorgesehen und angekündigt war, für einen bestimmten Zeitraum, in der Regel um ein Jahr, verschoben wird.
Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, daß dieses Land wieder wettbewerbsfähig wird und daß die viel zu hohe Arbeitslosigkeit zurückgeführt werden kann. Wir haben uns hier ehrgeizige Ziele vorgenommen; das weiß ich sehr wohl. Die Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 von 4 Millionen auf 2 Millionen zurückzuführen setzt eine Menge voraus. Die Programme, die wir im Januar und gestern verabschiedet haben, sind dafür eine wichtige Voraussetzung und Vorbedingung.
Es kommt jetzt darauf an, daß die Politik, daß die Wirtschaft und daß die Gewerkschaften ihre Schularbeiten machen. Ich bin sicher, daß mehr Menschen in diesem Land erkannt haben, worauf es ankommt, daß mehr Menschen in diesem Land bereit sind, Opfer zu bringen, wenn dies dann dazu führt, daß Arbeitsplätze gehalten und geschaffen werden können. Unsere Vorschläge, unsere Reformen erfüllen den Anspruch, daß sie eine Entwicklung in diese Richtung in Gang setzen. Ich bitte um Ihrer aller Mitwirkung.
({17})
Ich schließe die Aussprache. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 8. Mai 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.