Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/16/1994

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung am frühen Freitagmorgen. Ich schaue mal in die Runde. - Er ist nicht da. Jedenfalls feiert der Kollege Knaape heute seinen 60. Geburtstag. Ich spreche ihm herzliche Glückwünsche von uns allen aus. ({0}) Wir setzen die Haushaltsberatungen fort: 1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1995 ({1}) - Drucksache 13/50 - Überweisung: Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998 - Drucksache 12/8001 - Überweisung: Haushaltsausschuß c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft - Drucksache 13/76 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({2}) Finanzausschuß Am Mittwoch hatten wir für die heutige Aussprache fünf Stunden beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Debatte zum Etat des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung um eine Stunde auf zwei Stunden verlängert werden, so daß die heutige Aussprache insgesamt sechs Stunden dauern soll. Sind Sie damit einverstanden? - Selbstverständlich, am Freitag besonders. Dann ist es so beschlossen. Wir kommen zunächst zum Etat des Bundesministeriums für Wirtschaft, zum Einzelplan 09. Das Wort hat der Bundesminister Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Von Herrn Scharping war dieser Tage zu hören: „Der Sozialstaat muß ebenso erneuert werden wie die staatliche Tätigkeit insgesamt." Das ist überraschend, nicht nur für uns, sondern auch für jene in Ihren eigenen Reihen, die immer noch sozialpolitische Antworten auf wirtschaftspolitische Fragen geben wollen. Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren von der Opposition: Nur voran auf diesem Weg, wenn Sie ihn denn wirklich gehen wollen. ({0}) Aber Sie werden ihn nicht schaffen - nicht, weil Ihnen die Arbeitnehmer weglaufen. ({1}) Diese haben längst begriffen, daß die mißbräuchliche Ausnutzung unseres Sozialsystems eine volkswirtschaftliche Dimension angenommen hat. Diese fordern zu Recht und schon lange Korrekturen am Sozialsystem, wie sie auch, ebenfalls zu Recht, Subventionsmißbrauch und Steuerbetrug nicht hinnehmen wollen. ({2}) Die Arbeitnehmer haben längst verstanden, daß das Arbeitnehmerbild des 19. Jahrhunderts nicht Arbeitsplätze für die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts schaffen kann. ({3}) Sie, meine Damen und I Zerren, werden die Umorientierung zu einer modernen Wirtschaftspolitik nicht schaffen, weil Sie an Ihren Politikfunktionären zerbrechen. ({4}) - Dazu gehören auch Sie, lieber Herr Fischer. - Sie haben nie was anderes gemacht, nie einen Betrieb von innen gesehen, ({5}) noch nie Verantwortung gehabt und noch nie erkannt, daß das, was verteilt werden muß, zunächst einmal verdient werden muß. ({6}) Ihre Politikfunktionäre sind ihren persönlichen Weg gegangen vom gesellschaftspolitischen Seminar irgendeiner Universität über öffentliche Einrichtungen bis hin zu den Plätzen in den Parlamenten. An diesen Politikfunktionären werden Sie scheitern, wenn es um den Entwurf einer modernen Wirtschaftspolitik geht, meine Damen und Herren. ({7}) Ihre Bereitschaft, Nachhilfeunterricht in einem neu zu installierenden Wirtschaftsrat der SPD zu nehmen, läßt ja an sich guten Willen erkennen. ({8}) Sie ist aber auch Eingeständnis Ihrer Defizite in theoretischer und praktischer Wirtschaftspolitik. Sie ist Eingeständnis, daß Sie - ({9}) - Herr Kollege, Ihnen will ich sagen: Wenn Sie irgendwann einmal einen sachlich fundierten oder auch witzigen Zwischenruf machen würden, dann hätten wir alle etwas davon. Das einzige, was Sie können, ist grölen und sich aufregen. ({10}) Meine Damen und Herren, das ist ein Eingeständnis, das Sie mit Ihrer antiquierten, an der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts orientierten Denkweise nicht weiterkommen. ({11}) - Ausnahmsweise, Herr Fischer, bin ich mit Ihnen einer Meinung: auf das 18. Jahrhundert. Nichts gelernt, verhaftet im Weltbild des 18. Jahrhunderts, der Frühphase der Industrialisierung! ({12}) Wohlstand und Sicherheit für Millionen Menschen in Frage zu stellen ist niemandes Ziel. ({13}) Wir wollen hohe Einkommen und soziale Sicherheit auch für die Zukunft gewährleisten. Aber das geht eben nicht mit Ihren Rezepten, den Rezepten von gestern. Arbeitsplätze wandern aus diesem Land ab, weil mehr und mehr Volkswirtschaften unsere Qualitätsstandards mit weit niedrigeren Kosten erreichen können. Das müssen wir wettmachen. Das erfordert mehr Innovation, neue Verfahren und neue Produkte. ({14}) - Und eine andere Opposition, die ein bißchen denken kann, die sich an der Modernität orientiert, an dem, was im 21. Jahrhundert gefordert ist, und nicht an dem, was Sie in 40 Jahren schlecht erfahren haben. Nichts hinzugelernt! ({15}) Wir wollen hohe Einkommens- und Sozialstandards erhalten. Das erfordert eine neue Organisation unserer Arbeitswelt und unserer Gesellschaft. Wir wollen einen schlanken Staat und einen flexiblen Arbeitsmarkt, mehr Eigenverantwortung und weniger Steuern. Daran geht kein Weg vorbei. ({16}) Eine Alternative haben Sie nie geboten. Das ist nicht einmal ein Vorwurf, denn eine Alternative zu den Zielen unserer Wirtschaftspolitik gibt es einfach nicht. Wir zeigen, wie Wirtschaftspolitik gemacht werden muß. ({17}) - Bieten Sie eine Alternative, hier oder anderswo! Nichts als heiße Luft! ({18}) Ein etwas anderer Akzent, da ein bißchen mehr verteilen, da ein bißchen weniger wegnehmen; aber ein Entwurf, eine Alternative, die dem standhalten könnte, was wir entworfen haben, ist aus Ihren Reihen nicht gekommen, meine Damen und Herren. ({19})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister Rexrodt, darf ich Sie einmal unterbrechen. Ich bin durchaus für lebendige Debatten, aber so können wir nicht weitermachen. Wir verstehen ja alle nichts mehr. ({0}) Deswegen bitte ich alle Beteiligten, wieder zuzuhören. ({1})

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Unsere Politik, orientiert an diesen Grundsätzen, hat uns die tiefste Rezession der Nachkriegszeit in eineinhalb Jahren überwinden lassen, hat den Aufschwung Ost in Gang gebracht und die strukturelle Erneuerung unseres Landes eingeleitet. ({0}) Die Fakten sind: Im Westen wird das Bruttoinlandsprodukt 1994 um 21/2 % zunehmen. Am Arbeitsmarkt ist eine Trendwende eingetreten, und in Ostdeutschland haben wir mit 9 % Wachstum in diesem Jahr die Wachstumsregion Nummer eins in Europa geschaffen. ({1}) Ich vermute, daß Sie zum Beweis des Gegenteils nun die hohe Insolvenzquote anführen wollen. Ich will sie nicht bagatellisieren, das ist aber eine typische Spätfolge der Rezession. ({2}) Trotz dieser positiven Entwicklung ist klar, daß die strukturellen Probleme nur zum kleineren Teil gelöst sind. Insbesondere am Arbeitsmarkt steht der Durchbruch noch aus. ({3}) Wir haben kein Patentrezept, aber wir haben ein Konzept, und dieses ist in unserem Standortprogramm zusammengefaßt, das wir Schritt für Schritt in die politische Realität umsetzen. ({4}) Ein Stück davon ist dieser Haushalt 1995. Ein Stück davon ist auch der Haushalt des Bundeswirtschaftsministers. ({5}) Mehr als die Hälfte meines Etats, 6,7 Milliarden DM, ist für die neuen Länder bestimmt. ({6}) Die Sachverständigen haben bestätigt: Die Politik für die neuen Länder ist nicht nur erfolgreich, sie ist ohne Alternative. ({7}) -Ich bin gespannt auf Ihre Alternativen. Sie bestehen darin, am sogenannten zweiten Arbeitsmarkt herumzulaborieren. Aber Sie bieten keine echte Alternative, regen sich immer wieder nur auf, grölen, nichts in der Sache. Mit der Erneuerung des verrotteten Kapitalstocks kommen technischer Fortschritt und Innovation aus den Forschungslabors in die Betriebe. Das ist die Grundlage dafür, daß Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden können. Nur wettbewerbsfähige Betriebe sind in der Lage, Arbeitsplätze zu halten und neue Arbeitsplätze anzubieten. ({8}) Alles andere ist ein Herumlaborieren an den Symptomen. Wir stocken auf bei der Gemeinschaftsaufgabe. Wir bieten mehr Forschungsmittel an, insbesondere für kleine und mittlere Betriebe. Ich habe im Juli ein Förderkonzept für die neuen Länder vorgelegt. Von seiten der Opposition kam der Vorwurf „ungedeckte Schecks" und „Luftnummern" ({9}) Heute sind diese Programme Bestandteil der Koalitionsvereinbarung. Wir sind dabei, ein Konzept auszuarbeiten, das in Kürze verabschiedet werden kann. Der Aufschwung in den neuen Ländern soll durch diese Maßnahmen abgesichert werden, die inbesondere dem Mittelstand zugute kommen werden. ({10}) Wir starten eine Existenzgründungsinitiative für Gesamtdeutschland. Wir geben 250 Millionen DM mehr für kleine und mittlere Betriebe aus. Eigenkapital, Forschung, Entwicklung, Selbständigenhilfe und die berufliche Bildung stehen im Mittelpunkt. Zusätzlich stehen 14 Milliarden DM aus dem ERP-Sondervermögen zur Verfügung. Wir forcieren unsere Außenwirtschaftspolitik. Dazu nehmen wir Geld in die Hand: für die Außenhandelskammern, für die Messeförderung, für Risikoabsicherung. Aber Geld ist es nicht allein. Die Bundesregierung, der Bundeswirtschaftsminister wird auch in Zukunft Türöffner sein, wird Partner der Wirtschaft sein, wenn es darum geht, neue Märkte durch persönliche Ansprache und durch persönliche Präsenz zu erobern. ({11}) Und wir haben es endlich geschafft, im problembeladenen Bereich der Dual-use-Güter eine europäische Harmonisierung herbeizuführen. Lassen Sie mich ein Wort zu dem wichtigen Bereich der Energiepolitik sagen. Wir wollen die Rolle der regenerativen Energien im Energiemix verstärken. Wir wollen verläßliche Rahmenbedingungen für die Energiewirtschaft herbeiführen. ({12}) - Hören Sie doch zu! ({13}) Hierzu müssen wir die Konsensgespräche wieder aufnehmen und Absprachen treffen, die von allen Seiten gewünscht werden. ({14}) Es geht um einen Energiemix, der regenerative Energien und Kohle, Öl und Gas, eine zu verhandelnde Nutzung bestehender Atomkraftwerke und die Entsorgungsfrage sowie die Option für die Nutzung der Kernenergie auch in der Zukunft einschließt. Darum geht es, meine Damen und Herren. ({15}) Es ist sichergestellt, daß für die Kohle der 1995 auslaufende Jahrhundertvertrag ordnungsgemäß zu Ende geführt werden kann. Mit der Umstellung von der Mengensubventionierung auf einen Finanzplafond ab 1996 hatten wir ein erstes deutliches Signal für den Subventionsabbau gesetzt. Über die Degression ab 2001 besteht kein Zweifel mehr. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Kohlepfennig hat erneut eine Diskussion in Gang gesetzt über die enormen Summen, die in die Erhaltung des Bergbaus gesteckt werden. ({16}) Diese Subventionsdiskussion war abzusehen. Das für die nächsten Jahre zu entwickelnde Finanzkonzept für die Kohle wird von der Bundesregierung mit allen Betroffenen, den Kohleländern, dem Bergbau, den Gewerkschaften und der Industrie, erörtert werden. Wer die Aufnahme der Energiekonsensgespräche - das sage ich mit großem Ernst - von der Kohlesubventionierung abhängig macht, nährt den Zweifel, ob er diesen Konsens überhaupt will. Sie werden das im eigenen Interesse gegen sich gelten lassen müssen. Meine Damen und Herren, gehen Sie in diese Gespräche ohne Vorbedingungen! Sonst hat es keinen Zweck. ({17}) Sonst wird das, was die Wirtschaft, die Gewerkschaften, der Bergbau und viele andere mehr wünschen, nicht möglich sein. Vorbedingungen sind nicht angesagt. ({18}) - Sie wollen ja das Ergebnis, das Sie noch gar nicht richtig definiert haben, in Ihrem Interesse vorwegnehmen. Die einen definieren es, die anderen gehen in das Präsidium ihrer Partei und fallen damit aufs Kreuz. Sie haben doch den Energiekonsens kaputtgemacht, weil ein linksorientiertes Präsidium dem Herrn Schröder nicht den Rückhalt gegeben hat, den er gebraucht hätte. Deshalb ist der Energiekonsens in 1993 kaputtgegangen. ({19}) Bei den Kokskohlehilfen - das interessiert manche vielleicht, weil daran Arbeitsplätze und Schicksale hängen; hier ist nicht nur Gegröle angesagt ({20}) stehen wir am Beginn schwieriger Verhandlungen mit dem Bergbau und den Kohleländern. Dabei will ich noch einmal unterstreichen: Die Bundesregierung wird den Hüttenvertrag auch in Zukunft flankieren. Allerdings ist die Bundesregierung entschlossen, den bisherigen Finanzierungsschlüssel zwischen Bund und Bergbauländern zu ändern. ({21}) Die Länder müssen sich dort, wo es wie bei der Steinkohle in starkem Maße um regionale Belange geht, stärker als bisher finanziell engagieren. ({22}) Die Themen Kohle und Energie sind wichtig; aber viel wichtiger noch ist, daß wir uns auf die Zukunftsindustrien orientieren. ({23}) Hierzu plane ich Dialogrunden mit der Umweltwirtschaft, mit der gentechnischen Industrie, mit der Luft- und Raumfahrtindustrie und der Autoindustrie. Außergewöhnliche Chancen bietet auch die Entwicklung zur Informationsgesellschaft mit der Telekommunikationsindustrie und allem, was daran hängt. Diese Zukunftsindustrien verlangen unsere Zuwendung, unsere Aufmerksamkeit. Wir dürfen uns nicht nur auf die Bereiche beschränken, die mit Problemen zu kämpfen haben. ({24}) Mit der wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung steigen auch wieder die Gewinne. Sie rufen ja sehr schnell „Steigende Gewinne, aber keine Arbeitsplätze!" und vergessen dabei, daß Rationalisierung, so bitter sie auch ist, die Grundlage dafür war, daß viele Unternehmen wieder wettbewerbsfähig geworden sind, Arbeitsplätze erhalten können und daß vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen auch wieder Arbeitsplätze neu schaffen. „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen." Das hat kein anderer als Altbundeskanzler Schmidt gesagt. Voraussetzung dafür, daß diese Kette von Gewinnen und Investitionen nicht abreißt, ist, daß wir unsere Wirtschaftspolitik geradlinig fortsetzen, ({25}) daß sich Investieren in Deutschland wieder lohnt, die Arbeitslosigkeit verschwindet, wir ein modernes Land bleiben, technologisch vorn und sozial gerecht. Dafür steht unsere Wirtschaftspolitik. Ein Stück davon ist dieser Haushalt 1995. ({26})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Professor Dr. Uwe Jens.

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß diese Darstellungsweise, wie sie hier Herr Rexrodt geboten hat, wirklich nicht geeignet ist, bei den Bürgerinnen und Bürgern Vertrauen zu schaffen. ({0}) Herr Rexrodt versucht, wie immer, mit flotten Sprüchen die eigentlichen Probleme unserer Wirtschaft hinwegzureden. ({1}) Dabei übersieht er auch noch, daß er häufig unsere sozialdemokratischen Vorschläge propagiert und nicht sagt, woher er sie hat, und so tut, als wären sie sein Eigentum. Das ist ein Plagiat. Das finde ich auch nicht in Ordnung, meine Damen und Herren. ({2}) Natürlich ist die Bundesregierung angetreten, die Situation schönzureden. Das sind wir schon gewöhnt. Wir Sozialdemokraten müssen natürlich auf einige Schwachpunkte hinweisen. Die Lage ist nämlich wirklich nicht so gut, wie sie Herr Rexrodt darzustellen pflegt. ({3}) Im Jahre 1994 haben wir 20 000 Unternehmenskonkurse zu verzeichnen. Das ist die höchste Zahl an Unternehmenszusammenbrüchen, die wir jemals in der Bundesrepublik Deutschland gehabt haben. Was tut die Regierung dagegen? Nichts tut sie. ({4}) Gerade in den neuen Bundesländern müssen die kleinen und mittleren Unternehmen, die gerade gegründet wurden, verstärkt in Konkurs gehen, weil die Zahlungsmoral unter aller Würde ist. So ist es nämlich. Warum tut die Bundesregierung nichts, um diese Konkurse wenigstens ein wenig aufzufangen? Nichts! Fehlanzeige, Herr Rexrodt. Kümmern Sie sich vielleicht einmal darum. Das wäre ganz vernünftig. ({5}) Die Einzelhandelsumsätze sind 1994, seit 30 Jahren zum erstenmal, um 2,6 % gesunken. Auch dort finden verstärkt Unternehmenszusammenbrüche statt. Aber die Regierung beschreibt die Lage in den schönsten Farben und übersieht dies alles. Immer noch 6 Millionen Menschen in dieser Republik suchen einen Arbeitsplatz, aber finden keinen. Das ist der größte Skandal unserer Zeit, und die Regierung tut überhaupt nichts dagegen, meine Damen und Herren. ({6}) Gestern abend hat der Verwaltungsrat der Treuhand beschlossen, die Deutsche Waggonbau zu privatisieren und an eine amerikanische Investmentfirma zu verkaufen. Von 6 500 Arbeitsplätzen, die wir zur Zeit noch haben, werden wahrscheinlich nur noch 2 200 bleiben. 4 300 Arbeitnehmer werden wieder auf die Straße gesetzt. Das bezeichnet man dann noch als großen Erfolg. ({7}) Mindestens zwei Standorte gehen wieder einmal über die Wupper. Siemens ist an diesem Geschäft auch nicht ganz unbeteiligt. Ich finde wenigstens, dieses Geschäft, was gestern abend beschlossen wurde, darf so keine Wirklichkeit werden, meine Damen und Herren. ({8}) So nicht. Ich verlange zumindest, daß die entsprechenden Experten des Haushaltsausschusses, bevor der Herr Waigel seine Unterschrift unter diesen Vertrag setzt, mit ihm ausführlich diskutieren und versuchen, hier die Weichen vernünftig zu stellen. So wie es gestern beschlossen wurde, kann es nicht bleiben. ({9}) Wie nervös diese Bundesregierung mittlerweile ist, zeigt natürlich auch diese Diskussion über das Swatch-Modell. Ich sage noch einmal: Wir haben auch darüber diskutiert. Daß sich der Herr Haungs dafür einsetzt, daß das Ding nach Lahr kommt, kann ich gut verstehen. Wenn ich in der Verlegenheit wäre, würde ich das auch tun. Daß die örtlichen Politiker natürlich dafür kämpfen, dieses Werk in ihre Region zu bekommen, ist doch selbstverständlich. Aber daß z. B. Herr Ost, der eigentlich einen Gesamtüberblick haben sollte, nun auch in das gleiche Horn tutet, befremdet mich doch ein bißchen, muß ich ehrlich sagen. Er wirft uns nämlich immer vor, wir würden in Investitionsentscheidungen der Unternehmen eingreifen: Darüber waren wir uns eigentlich bisher einig. Letzte Investitionsentscheidungen müssen von den Unternehmen getroffen werden und nicht etwa vom Staat. Das geht nun wirklich nicht. Das war bei uns immer Konsens. Deshalb meine ich, Sie sollten vielleicht einmal prüfen, ob die Rahmenbedingungen richtig gestellt sind, warum diese Firma möglicherweise nach Frankreich geht. Aber dieses lautstarke Gezeter in der Öffentlichkeit bringt uns wirklich nicht weiter. Meine Damen und Herren, ich bin noch immer zutiefst davon überzeugt: Wir brauchen dringend so etwas wie einen Beschäftigungspakt. Karl Schiller hat das Konzertierte Aktion genannt. Wir müssen dafür sorgen, daß sich Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Bundesregierung und auch Bundesbank an den runden Tisch der kollektiven Vernunft setzen. Hier muß endlich eine mehr abgestimmte Wirtschaftspolitik betrieben werden. Die Tatsache, daß sie bisher nicht abgestimmt war, hat dafür gesorgt, daß wir bei den großen Zielen Preisstabilität, Wachstum und Vollbeschäftigung leider im internationalen Vergleich deutlich nach unten gesackt sind. Unsere alte Idee, statt Konfrontation Kooperation zu praktizieren, ist wirklich dringend notwendig, muß realisiert werden. Ich fordere Sie auf: Tun Sie das endlich! ({10}) Der Haushalt 09 ist ein weites Feld. Man könnte viel dazu sagen, schafft das aber nicht; wir haben ja auch noch Ausschußberatungen. Das Wirtschaftsministerium hat sich zwar einen neuen Staatssekretär zugelegt, der das Etikett vor der Brust trägt „für den Mittelstand zuständig" . Es ist aber der alte. ({11}) - Na ja, vielleicht ändert sich noch etwas. Mir ist bekannt, daß Herr Kolb der Staatssekretär für Mittelstandsfragen werden soll. Tatsächlich ist es so, daß die Ausgaben für den Mittelstand im Bereich der Forschungsförderung ein bißchen erhöht worden sind - das gebe ich gerne zu -, an anderer Stelle aber sind sie wieder gesenkt worden. Unter dem Strich ist nichts zusätzlich herausgekommen. Wir halten noch immer die Einführung von Personalkostenzuschüssen für Forschung und Entwicklung in kleinen und mittleren Unternehmen für dringlich. Das ist notwendig, um den mittelständischen Unternehmen und vor allem auch den Abgängern der Universitäten zu helfen. Wir halten die Aufstockung der Beteiligungskapitalfonds bei der Deutschen Ausgleichsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau für notwendig. Machen Sie das! ({12}) Wir halten die Schaffung eines Betriebsmittelkreditfonds für kleine und mittlere Unternehmen zur Förderung der Markteinführung und der Erschließung neuer Produkte für notwendig. ({13}) Sowohl für Beteiligungskapital als auch für Risikokapital müssen in den neuen Bundesländern selbstverständlich günstigere Bedingungen geschaffen werden als etwa in den alten. Die Bundesregierung redet nur davon, tut aber nichts. Tun Sie endlich etwas, Herr Rexrodt! ({14}) Die Außenwirtschaftspolitik, meine sehr verehrten Damen und Herren, kommt im Haushalt 09 wieder einmal viel zu kurz. Wir haben mittlerweile ein deutsches Haus in Singapur finanziert, um die deutsche Wirtschaft zu unterstützen, allerdings von Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, nicht von der Bundesregierung. Wir bräuchten viel mehr davon, um auf dem südostasiatischen Markt endlich Fuß zu fassen. Dafür aber sind nicht Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zuständig; dafür sind Sie zuständig. Sorgen Sie dafür, daß die Investitionsbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen in diesem Bereich endlich deutlich verbessert werden, meine Damen und Herren! ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Professor Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken?

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Professor Jens, ich höre Ihre Worte sehr gerne, wenn Sie den Mittelstand umwerben wollen, wie das auch Ihr Fraktions- und Parteivorsitzender macht. Ich erinnere mich aber sehr wohl daran, daß bereits im Jahre 1987 der damalige Bundesgeschäftsführer, Herr Glotz, das gleiche gesagt hat, nämlich daß man die Mittelschicht vergessen habe und jetzt etwas besser machen wolle. Können Sie mir sagen, was Sie zwischenzeitlich, von 1987 bis 1994 - das sind sieben Jahre -, dem Mittelstand mehr an Verständnis entgegengebracht und für ihn getan haben? ({0})

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, Sie wollten dem Kollegen Rexrodt eine verpassen; das ist mir völlig klar. Ich weiß nicht, ob Sie es jetzt noch schaffen, Staatssekretär für Mittelstandsfragen zu werden. Ich gönne Ihnen das von Herzen; das muß ich Ihnen ehrlich sagen. ({0}) Tatsache ist natürlich, daß wir unter unserer Regierung die Lohnkostenzuschüsse hatten. Diese konservative Regierung, die jetzt an der Macht ist, hat sie abgeschafft. ({1}) Das Eigenkapitalhilfeprogramm für die alten Bundesländer wurde von Ihrer Regierung abgeschafft. Ich könnte noch einige weitere Dinge nennen. ({2}) Sie haben gerade in dem Bereich der Mittelstandspolitik tabula rasa gemacht und kräftig gekürzt. Wir fordern seit langem, daß das wieder aufgestockt wird. Es passiert ja nichts. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine weitere Frage des Abgeordneten Rexrodt?

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jetzt geht es aber los. Bitte sehr.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Abgeordneter Jens, ist Ihnen, da Sie den Mittelstand ansprechen, bekannt, daß wir die Eigenkapitalförderung in den neuen Bundesländern durch die Bereitstellung einer Summe von 500 Millionen DM aus Treuhandmitteln und durch ein völlig neu strukturiertes Programm, das auf eine steuerliche Begünstigung der Bereitstellung von Eigenkapital für die neuen Bundesländer hinausläuft, aufgestockt haben? Ist Ihnen bekannt, daß wir das Netz der Außenhandelskammern ausgeweitet haben? Ist Ihnen bekannt, Dr. Uwe Jens ({0}): Jetzt ist es aber gut!

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- daß wir besondere Beauftragte für die neuen Länder in den Botschaften und Außenhandelskammern finanzieren? Ist Ihnen bekannt, daß die Bundesländer - zumindest eine ganze Reihe - ein ureigenes Interesse daran haben, in eigener Verantwortung und mit finanzieller Eigenbeteiligung deutsche Häuser zu errichten? Ist Ihnen das alles bekannt, Herr Abgeordneter Jens? ({0})

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mir ist wirklich sehr viel bekannt, Herr Rexrodt, aber Sie können mir nicht erzählen, daß für die Finanzierung von deutschen Häusern in Südostasien nur ein Bundesland zuständig ist. Dies ist die Aufgabe dieser Bundesregierung. Wessen Aufgabe soll es denn sonst sein? ({0}) Es kann doch wohl nicht sein, daß die Unternehmen in Baden-Württemberg davon profitieren und die Unternehmen in den neuen Bundesländern nichts davon haben. Dies geht nun wirklich nicht. Wo kommen wir denn dann hin? ({1}) All die Maßnahmen, die Sie hinsichtlich der neuen Bundesländer aufgeführt haben, sind so, wie sie dort stehen, sicher richtig. Ich frage Sie, was Sie wahrscheinlich nicht mehr wissen: Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß die Sozialdemokraten seit 1990 umfangreiche Maßnahmen zur Umstrukturierung in den neuen Bundesländern gefordert und gefördert haben und daß erst ein Bundeswirtschaftsminister, der Herr Haussmann, gehen mußte, bis endlich etwas passierte? Sie haben anderthalb Jahre zu spät angefangen, die Umstrukturierung in den neuen Bundesländern voranzubringen. ({2}) Sie haben gewaltige Versäumnisse auf sich geladen. Was Sie jetzt machen, ist mit heißen Nadeln gestrickt und vor allem etwas zu dünn.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Professor Jens, eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Büttner.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Jens, könnten Sie bitte die Kollegen Hinsken und Rexrodt darauf hinweisen, daß während der letzten zwölf Jahre nicht die SPD, sondern die CDU/CSU und die F.D.P. regiert haben und die Verantwortung tragen. ({0})

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Man nennt so etwas Amnesie. Die haben das schon völlig vergessen. Nun tun sie so, als ob das alles nicht geschehen wäre. ({0}) Es wird wirklich höchste Zeit, daß diese Regierung abgelöst wird. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Jens, noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Professor Jens, da ich in den letzten sieben Jahren vergeblich auf Ihre Vorschläge gewartet habe, habe ich mich nochmals zu Wort gemeldet. Da ich Sie als Wirtschaftsexperten persönlich schätze, möchte ich Sie fragen, ob Sie sich bei Ihrem Parteitag in Halle, auf dem der Satz „Eine leistungsfähige Wirtschaftspolitik ist Grundlage für eine Sozialpolitik" gestrichen worden ist, nicht genügend artikulieren und durchsetzen konnten, damit dieser wichtige Satz nicht gestrichen wird. Denn es kann nur verteilt werden, was auch erwirtschaftet wird. ({0})

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, wo Sie, Herr Hinsken, immer waren. Aber wir reden seit vielen Jahren davon, daß wir uns um die Entstehung des Bruttosozialprodukts kümmern wollen. Daß wir hier auch etwas vorgeschlagen haben, werden Sie meiner Meinung nach nicht leugnen können. ({0}) - Ja, natürlich. Ich gebe Ihnen noch einmal das Wirtschaftsprogramm der SPD zu den letzten Wahlen. Darin steht alles ausführlich. Dann lernt vielleicht auch die CSU, was wir alles machen möchten. Aber Sie sind an der Regierung. Vergessen Sie das eigentlich immer wieder? ({1}) Greifen Sie doch unsere Vorschläge endlich auf. Dann würde die wirtschaftliche Situation in unserem Lande mit Sicherheit deutlich besser aussehen. Davon bin ich fest überzeugt. ({2}) Dann könnten wir auch noch mehr sozialpolitische Maßnahmen ergreifen und bräuchten nicht alles zusammenzustreichen, wie Sie das manchmal vorschlagen. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Jens, noch eine Zwischenfrage des Kollegen Sperling.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Jens, teilen Sie meinen Eindruck, daß die Regierenden über eigene Leistungen nicht reden können und sich deswegen mit der Opposition beschäftigen müssen? ({0})

Prof. Dr. Uwe Jens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Sperling, diesen Eindruck teile ich voll und ganz. Meine Damen und Herren, ich möchte noch einige Sätze zur Außenwirtschaftspolitik sagen, damit sich Herr Rexrodt noch einmal aufregen kann. ({0}) Diese Regierung, Herr Rexrodt, kommt noch in Schwierigkeiten. Wir werden auch dabei mithelfen. Sie haben in der Koalitionsvereinbarung festgestellt, daß ökologische und soziale Mindestbedingungen im internationalen Kontext für Sie nicht in Frage kommen. So etwas sei Protektionismus. Wir haben diese ökologischen und sozialen Mindestbedingungen als dringend notwendig betrachtet und im Welthandelsabkommen verankert. Ich möchte mich nun ausdrücklich bei den Kollegen Haungs, Nitsch, Weng und Cronenberg bedanken, daß sie gemeinsam mit uns die Textilplattform unterzeichnet haben, in der die Entwicklung von umweltbezogenen sozialen Standards in der WTO gefordert werden. Wir werden diese überfraktionelle Initiative wieder aufgreifen. Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, sollten sich bei Ihren Kollegen vorher einmal schlau machen, bevor Sie in Ihrer Regierungserklärung ordnungspolitische Ergüsse zum besten geben. ({1}) Hier besteht Handlungsbedarf. Wir müssen dafür sorgen, daß auch in den Ländern, die mit uns in Wettbewerb stehen, die sozialen und ökologischen Mindestbedingungen eingeführt werden, ({2}) zum einen, weil wir so den Menschen dort helfen, und zum anderen, weil wir uns auf diese Art und Weise helfen und den Druck, daß die Unternehmen ins Ausland gehen, ein wenig abschwächen - ein wenig abschwächen, mehr nicht. Meine Damen und Herren, die Kohlepolitik macht mir große Sorgen. Hier ist das Stimmengewirr aus den Koalitionsfraktionen enorm. Wir stehen zu den Beschlüssen vom November 1991. Der Kohlepfennig ist gefallen das wissen Sie -; das war auch vorherzusehen. Aber Sie müssen nun zu den Beschlüssen zumindest des Artikelgesetzes stehen und dafür sorgen, daß 1996 7,5 Milliarden DM und bis zum Jahre 2000 7 Milliarden DM aufgebracht werden. Herr Solms redet in der Öffentlichkeit davon, daß wir auch diese Sache in Frage stellen. Wundern Sie sich eigentlich überhaupt nicht, daß die Bürger Ihnen nichts mehr glauben? ({3}) Erst im November 1991 wurden die Beschlüsse zwischen allen relevanten Gruppen abgestimmt, dann wird das Artikelgesetz vereinbart, und nun stellt der Fraktionsvorsitzende der F.D.P. das in Frage. Sie müssen sich nicht darüber wundern, daß die Bürger kein Vertrauen mehr zu Ihnen haben. Sie sorgen dafür, daß die Politikverdrossenheit in diesem Lande kräftig zunimmt. ({4}) Meine Damen und Herren, die Stahlpolitik ist ein weites Feld. Auch hier hat diese Bundesregierung, vor allem Herr Rexrodt, kräftig dafür gesorgt, daß die deutschen privatwirtschaftlichen Stahlunternehmen immer wieder in Schwierigkeiten gekommen sind. Wir fordern ja nur, daß der gemeinsame Antrag von CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Längerfristige Perspektiven der Stahlindustrie" nach wie vor umgesetzt wird. Der sogenannte Montanunionsvertrag läuft im Jahre 2002 aus. Die ersten Überlegungen, inwieweit Mitbestimmungen daraus ins europäische Recht integriert werden können, werden vermutlich schon Anfang 1995 vorgenommen. Die SPD-Fraktion ist für eine solche Integration. Dies gilt gleichfalls für die Arbeitnehmer und die im Montanunionsbereich tätigen Gewerkschaften. Wenn Bonn nicht stärker als bisher aufpaßt, ist in diesem Bereich die Brüsseler Politik in der Lage, auch die letzten gesunden deutschen Stahlunternehmen kaputtzumachen. Das darf nicht sein. ({5}) Seit 1991 haben wir in den Renommierbranchen unserer Wirtschaft eine noch nie dagewesene Investitionsschwäche zu verzeichnen. Von 1991 bis 1993 betrug die Investitionslücke laut Ifo bei den Investitionsgütern 12,7 Milliarden DM, bei Grundstoff- und Produktionsgütern 5,5 Milliarden DM und im Bereich Verbrauchsgüter 3,5 Milliarden DM. Diese Zahlen hört der Bundeswirtschaftsminister sicherlich nicht gern. Diese Zahlen bedeuten verpaßte Chancen für mehr Beschäftigung und für qualifizierte Industriearbeitsplätze. Wir brauchen dringend mehr Investitionen, wie diese Lücken ausweisen, und wir brauchen mehr Innovationen, also neue Produkte, neue Produktionsprozesse und die Erschließung neuer Märkte. Aber auf diesem Felde passiert seitens dieser Bundesregierung leider nichts. ({6}) Ich glaube, wir brauchen eine Strategie zur Modernisierung unserer Wirtschaft. Die deutsche Wirtschaft leidet zum einen einmal mehr unter den veränderten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und zum anderen unter der Innovationslücke, von der ich gesprochen habe. In Deutschland gibt es kein weltweit tätiges Großunternehmen, das in den letzten 30 Jahren gegründet wurde. Während Japan und die Vereinigten Staaten in der Mikroelektronik Exporteure sind, sind wir und Europa insgesamt Importeure. Die Industrie ist dort ins Hintertreffen geraten, wo sie einmal wichtige Schlüsseltechnologien hervorgebracht hat. Ich erinnere nur an die Unterhaltungselektronik oder an das berühmtberüchtigte Beispiel des Faxgeräts. ({7}) Es gibt in den Unternehmen in Deutschland einfach zu viele Verwalter und zu wenige Unternehmer - das stammt nicht von mir, sondern von Roland Berger. ({8}) Die deutschen Manager versuchen, den Herausforderungen vor allem durch den Abbau von Personal und durch Senkung von Lohnkosten beizukommen. ({9}) Das ist auf alle Fälle risikofreier, als wenn man neue Innovationen einleiten würde; das letztere ist viel risikoreicher. Deshalb wird so gehandelt. Das ist nicht in Ordnung. Die weitverbreitete einseitige Kostenorientierung der deutschen Großunternehmen ist volkswirtschaftlich höchst bedenklich, weil die Eroberung neuer Märkte mittels innovativer Produkte vernachlässigt wird, so Roland Berger. Er hat recht, wenn er feststellt, die Unternehmen müssen dringend viel aktiver werden. Nur durch Innovationen können wir sicherstellen, daß die deutsche Wirtschaft einen Vorsprung gegenüber anderen hat. Es muß Schluß sein mit dem ewigen Gesundschrumpfen, weil uns das nicht weiterbringt. ({10}) Aber nicht nur die Unternehmen sind gefordert, auch die Bundesregierung ist es. Wir brauchen eine Innovationsoffensive auf breiter Ebene; wir brauchen eine neue, viel wirksamere Technologiepolitik, auch durch Einführung eines Technologierates. ({11}) Wir brauchen eine Senkung der Lohnnebenkosten, denn der Faktor Arbeit muß verbilligt werden. Wir brauchen den Abbau von Marktschranken auf allen Ebenen, nicht nur auf den Arbeitsmärkten, sondern vor allem auf den Gütermärkten, Herr Rexrodt. ({12}) Das wäre sinnvoll. Wir brauchen eine Fortbildungs und Qualifizierungsoffensive. Zwar hat sich das duale System grundsätzlich bewährt, es muß aber dringend ergänzt werden durch eine laufende Weiterbildung während des Arbeitslebens. Die Bundesregierung wird mit dem Haushaltsentwurf 1995 ihrer binnen- und europapolitischen Verantwortung für Konjunktur und Beschäftigung nicht gerecht. Ohne kräftig sprudelnde Steuerquellen ist der jetzt vorgelegte Haushaltsentwurf Makulatur. Die Regierung tut aber nichts, um die binnenwirtschaftliche Investitions- und Innovationstätigkeit zu beleben. Diese Regierung ist zur Lösung der wirtschaftspolitischen Probleme in unserem Lande nicht in der Lage. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort in dieser Debatte hat jetzt der Kollege Rainer Haungs.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Jens, dem ich zu seiner Wiederwahl als wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD herzlich gratuliere, hat eine für seine Begriffe ungemein kämpferische Rede gehalten. ({0}) Allerdings ist der Versuch, auf Schwachpunkte der Regierung hinzuweisen, weitgehend mißlungen, pfeifen es doch die Spatzen von den Dächern, daß die Schwachpunkte der SPD im Bereich der Wirtschaftspolitik - ich gehe davon aus, Sie haben den Vortrag Ihres Vorsitzenden Scharping in Tutzing nachgelesen - eventuelle Versäumnisse aller anderen in diesem Land bei weitem übertreffen. ({1}) Trotzdem machen Sie sich zu Recht große Sorgen wegen der Welle der Unternehmenszusammenbrüche in Ost und West. Deshalb sage ich ganz nüchtern zu Ihnen und Ihren Kollegen: Arbeiten Sie an einer Änderung der Unternehmensteuerreform mit! ({2}) Arbeiten Sie dabei mit, daß die Lebensbedingungen für die Unternehmen verbessert werden, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden und daß die Steuern auf Unternehmenserträge, auf Unternehmenskapital, auf Risikokapital gesenkt werden! ({3}) - Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann tun Sie das. Meine Aufforderung an den Kollegen Jens, zu zeigen, daß es ihm Ernst ist, gilt. Ich hoffe, daß wir uns darüber unterhalten können. Dann gab es ja noch den weiteren Wunsch, vorgetragen vom Kollegen Sperling, wir möchten doch über die eigenen Leistungen reden. Deshalb beginne ich damit, über die eigenen Leistungen zu reden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Kollege Haungs, Kollege Schily möchte eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie es?

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Haungs, verfügen Sie über Untersuchungen dahin gehend, welche der auch von Ihnen als besorgniserregend angesehenen Firmenzusammenbrüche auf die steuerliche Belastung zurückzuführen sind?

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Zusammenbruch von Firmen ist immer das Ergebnis des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren. ({0}) Ich sage Ihnen gern, daß, wenn Sie die verschiedenen steuerlichen Belastungen summieren, nicht nur die Steuern auf den Ertrag - das ist ja etwas, was die Unternehmen noch erwirtschaften können -, sondern die Steuern auf die Substanz, Gewerbekapitalsteuer, betriebliche Vermögensteuer, Sie herausfinden werden, daß manches große Unternehmen dadurch noch den Rest bekommen hat. Aussagefähige Untersuchungen über einen Teilbereich der Gründe der Unternehmenszusammenbrüche liegen nicht vor. ({1}) - Darauf kommen wir doch noch. Sie wollten doch erst einmal etwas über die eigenen Leistungen hören. Die deutsche Wirtschaft ist in Fahrt gekommen. Für die nächsten zwei oder drei Jahre werden reale Wachstumsraten von jährlich drei Prozent erwartet. Das Ifo-Institut, nicht wir, erwartet den konjunkturellen Höhepunkt nicht vor 1996. Auch in der Brüsseler Kommission wird ein Konjunkturaufschwung vorausgesehen, der länger ist, als bisher abzusehen war. ({2}) - Ja, neue Arbeitsplätze. Ich danke Ihnen für das Stichwort. Der dänische EU-Kommissar Henning Christophersen erwartet einen vielversprechenden Aufschwung, einen vielversprechenderen Aufschwung als in den 80er Jahren. Damals wurden bei uns - Sie forderten die eigenen Leistungen an - über drei Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. ({3}) Woher kommt die schnelle, unvorhergesehene Erholung?, fragen sich natürlich die SPD-Kollegen, aber auch viele Sachverständige und angebliche Weise. Als wir im letzten Jahr viel optimistischer waren, hat uns die SPD Schönfärberei vorgeworfen. Aber die vorgenommenen Anpassungen in der Wirtschaft und eine im großen und ganzen gelungene Wirtschaftpolitik führen zu neuem Wachstum. Wir sind der Gefahr begegnet, eine Abschottung vorzunehmen. Wir haben den Welthandel nach langen Verhandlungen durch den Abschluß der GATT-Verhandlungen offengehalten. Während die Wachstumsraten steigen, angeführt über den hohen Export, die Investitionen u. a. im Wohnungsbau, aber auch bei den Ausrüstungsinvestitionen, sinken die Preissteigerungsraten, auch in den neuen Bundesländern. Der Arbeitsmarkt - auch das dürfte sich bis zur Opposition herumgesprochen haben - hat sich gefangen. Der private Verbrauch nimmt zu und stützt damit zunehmend den Aufwärtstrend im Inland. Die Diskussion um die Stärkung der Massenkaufkraft erscheint mir deshalb verfehlt. Die Ratschläge, die Ihre Kollegen, Ministerpräsidenten und Sachverständige hier geben - man möge hohe Lohnabschlüsse machen, um die Kaufkraft zu stärken, weil das, so die Logik, automatisch zu mehr Beschäftigung führen könne -, sind falsch. Diese Logik ist in einer offenen Volkswirtschaft, die mit der ganzen Welt verflochten ist, nicht einzuhalten und nicht nachzuvollziehen. Sicher ist nur, daß Lohnerhöhungen, die der Produktivität vorauseilen, Beschäftigung und Wettbewerb der heimischen Anbieter schwächen. ({4}) - Sie haben ein sehr kurzes Gedächtnis, das muß ich Ihnen sagen. ({5}) - Ich kann mich noch gut daran erinnern - das war allerdings im Wahlkampf -, als hier der saarländische Ministerpräsident Lafontaine die Gewerkschaften mitten in den Tarifverhandlungen aufgefordert hat, stärkere Lohnerhöhungen zu fordern. Dies wäre sicherlich das falsche Zeichen gewesen. Irgendwo auf den Seiten meines Manuskripts steht ein hohes Lob an die Gewerkschaft, indem ich sage: Die Gewerkschaften und die Tarifpartner haben im vergangenen Jahr mit einem hohen wirtschaftlichen Problembewußtsein für die gesamte wirtschaftliche Lage Lohnzurückhaltung geübt. So unpopulär diese Forderung auch ist, so sage ich doch: Das sollte auch in den kommenden Jahren geschehen, wenn wir wollen, daß die Lösung des Hauptproblems erfolgt und eine bessere Beschäftigung eintritt. ({6}) Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Es wird auch der SPD-Fraktion trotz allem Bemühen um wirtschaftlichen Sachverstand nicht gelingen, eine bessere Lösung zu finden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Haungs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sperling?

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Haungs, können Sie einen Zusammenhang zwischen dem Rekord an Firmenpleiten und der schwachen Binnennachfrage auf Grund sinkender Nettorealeinkommen sehen?

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diesen einfachen Zusammenhang - das dürfte Ihnen auch bekannt sein - gibt es nicht. ({0}) Hier an dieser Stelle möchte ich auf den schon öfter zitierten Herrn Lafontaine zurückgreifen. Es tut mir leid, aber er hat hier in der letzten Zeit öfter geredet. ({1}) - Ja, es ist schon ein Armutszeugnis, wenn Sie hier immer angeblich kompetente Menschen aus den armen Bundesländern einfliegen müssen, weil es sich die SPD-Fraktion nicht zutraut, die Diskussion zu bestehen. ({2}) Ich möchte die Frage noch beantworten. Er hat hier gesagt: Wenn wir die Strukturprobleme lösen wollen - die er ähnlich analysiert hat wie wir -, dann muß es in den nächsten Jahren eine Konsumzurückhaltung in der breiten Bevölkerung geben, weil wir unsere Wachstumsprobleme anders nicht lösen können. Wenn dies so ist und wenn wir gleichzeitig wissen, daß die Firmen in der Bundesrepublik vor allem an ihren Kostenproblemen, auch an den hohen Steuern, nicht aber an der mangelnden Nachfrage leiden, weil wir, wie ich schon gesagt habe, eine offene Volkswirtschaft mit einer weltweiten Nachfrage haben, kann ich dieser einfachen Logik nicht folgen. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat im Augenblick Herr Haungs, und der Fragesteller ist Herr Sperling.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jetzt bemühe ich mich, die Frage des Kollegen Sperling zu beantworten, und Sie lärmen da nur unqualifiziert dazwischen. Wir können uns die Konsumzuwächse der Zukunft, die wir gerne in Form von realen Lohnerhöhungen wieder verteilen, nur dann leisten, wenn sie vorher von der gesamten Wirtschaft erarbeitet wurden. Und auf diesem Wege sind wir. ({0}) Die Sachverständigen haben uns in ihrem letzten Gutachten gesagt, es wäre ein eklatantes Fehlurteil, wenn wir glaubten, daß wir unsere Strukturprobleme schon überwunden hätten. Dem stimme ich zu, auch wenn ich jetzt für mich einfordere, Herr Kollege Jens, daß ich über den Überblick über meinen Wahlkreis hinaus auch einen gewissen ökonomischen Gesamtüberblick habe. Ich bringe Ihnen gern ein paar Details über die Diskussion und über die Briefwechsel, die der negativen Entscheidung zum Bau des Swatch-Mobils in der Bundesrepublik Deutschland vorausgegangen sind. Wir hätten hier doch alles, was Sie, lieber Kollege Jens, fordern: Wir haben ein innovatives Produkt - es hat zwar ein Schweizer erfunden, aber sei es drum, wir sind ja alle Europäer -, wir haben eine Produktidee, und wir haben von Mercedes-Benz unternehmerischen Wagemut. Dies zusammen - Innovation, Wagemut - führt nach unserer Logik zu Investitionen und Arbeitsplätzen. Nur, wenn die unternehmerische Entscheidung zu einem Standort in unseren Nachbarländern führt, so nützt dies den deutschen Arbeitslosen wenig. Jetzt sage ich Ihnen, wie der Standort Deutschland international für einen Investor, ich füge hinzu: für einen in diesen Tagen oft zitierten Investor aussieht. Wenn er mir schreibt: „Ein Standort in Deutschland, wenn man alle objektiven und subjektiven Faktoren analysiert, kann schwerlich die optimalen Bedingungen erfüllen", dann sind wir doch aufgefordert, all das, was wir, wie Sie sagen, machen sollen, nicht einseitig zu sehen, sondern innerhalb dieses Standortkonzepts zu sehen, das auch vom Wirtschaftsminister vorgetragen worden ist, um für alle - für den innovativen und den traditionellen Bereich, für Industrie und Dienstleistung - die Voraussetzungen zu schaffen, daß die von uns allen gewünschten Arbeitsplätze in Deutschland entstehen und eben nicht in Frankreich, in Ostasien oder in Südosteuropa.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Haungs, gestatten Sie eine weitere Frage des Abgeordneten Sperling?

Dr. Dietrich Sperling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Haungs, ist Ihnen bekannt, daß das Swatch-Auto in Deutschland produziert werden würde, wenn die Firma ihre Standortentscheidung nach Kostengesichtspunkten getroffen hätte?

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mir ist in dieser Angelegenheit sehr viel bekannt, und vieles davon ist vertraulich. Auch Politiker sollten, wenn sie Kostenübersichten bekommen, diese nicht in aller Öffentlichkeit darlegen, wenn es von dem Briefschreiber gewünscht wird. ({0}) - Ich will ja dem Herrn Kollegen Sperling die Frage beantworten. Letztendlich führt eine Summe von Gründen dazu, daß dieser Standort nicht in der Bundesrepublik Deutschland liegt. Zu dieser Summe der Begründungen gehören namentlich die Gewerbesteuer, eine deutsche Strafsteuer auf unternehmerische Investitionen, und die Energiekosten. Ich erinnere hier an die Modernisierung der Wirtschaft, die Sie auf unerklärliche Weise mit dem Erhalt des Kohlebergbaus verbinden. Aber sei es drum: Die Gründe sind hohe Energiekosten, hohe Steuerkosten und ein insgesamt hohes Lohn- und Sozialkostenniveau, das allerdings durch eine entsprechende Produktivität in wesentlichen Punkten ausgeglichen wird. Auch wir hätten unsere Zuschüsse in diesem Zusammenhang gegeben. Es soll jetzt niemand sagen, die Franzosen würden hier auf überdurchschnittliche Weise einen Standort subventionieren. ({1}) Hier sind wir alle zusammen Sünder. Der Bund hätte das ehemalige Grundstück des NATO-Flugplatzes auch zu wettbewerbsfähigen Preisen an einen Großinvestor verkauft. Das ist nicht das Problem. Sie dürfen nicht vom Thema ablenken. ({2}) - Auch nach Kostengesichtspunkten. Es ist doch eine Binsenwahrheit und jedem bekannt, daß wir die höchsten Energiekosten haben. ({3}) - Sie haben mich gefragt, was ich weiß, und ich habe geantwortet, daß es eine Summe von Entscheidungsgründen gab und daß bei diesen Entscheidungsgründen auch die Kosten berücksichtigt wurden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Haungs, es gibt eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Haungs, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Bitte um Vertraulichkeit unnötig ist? Haben Sie in den gestrigen Zeitungen die Wirtschaftsteile gelesen? Wenn ja, dann wüßten Sie, daß Ihre Bitte um Vertraulichkeit deswegen unnötig ist, weil der MercedesKonzern - wie nicht nur im Wirtschaftsteil der gestrigen „Süddeutschen Zeitung" zu lesen war - sich bereits öffentlich geäußert und auch erklärt hat, daß es nicht Kostengesichtspunkte, Kostenabwägungen und Subventionsvorteile gewesen sind, die ihn dazu veranlaßt hätten, seinem Aufsichtsrat vorzuschlagen, nach Frankreich zu gehen, sondern allein politische Erwägungen für das Image von Mercedes? Sind Ihnen diese Meldungen bekannt?

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie glauben gar nicht, was mir alles bekannt ist. Wer einen Überblick über alle Meldungen zu diesem Thema in den verschiedenen Zeitungen hat - ich habe ihn -, kann bestätigen, daß es von Mercedes Benz u. a. auch die strategischen Gründe gab, zu der Vielzahl der Produktionsstätten in Deutschland auch eine in Frankreich hinzuzufügen, daß es auch andere unternehmenspolitische Entscheidungen gab, daß es aber auch - darauf bezieht sich die Vertraulichkeit - interne Vergleiche zwischen Kosten an verschiedenen Standorten und Kosten jeglicher Art zwischen einem Standort in Frankreich und einem Standort in Deutschland gab und wir per saldo einen Kostennachteil hatten. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es gibt weitere Fragen, Herr Haungs, von Herrn Duve und Herrn Mosdorf. ({0})

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nichts gegen die Fragen. Ich weise nur darauf hin, daß das den Gang der Verhandlungen und die weiteren Tagesordnungspunkte aufhält.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich schlage vor, wir lassen noch die beiden Fragen zu und setzen dann die Debatte fort. Herr Kollege Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben eben in den Belastungs- und Bestrafungskatalog der deutschen Unternehmen auch die hohen Energiekosten hineingerechnet. Ist Ihnen bekannt, daß fast alle wirtschaftswissenschaftlichen Institute in den letzten zehn Jahren gerade den innovativen Charakter hoher Energiekosten für Investitionen und für die Weiterentwicklung von Produktionsformen am stärksten herausstellen und daß hohe Energiekosten an sich kein Ausweis für das sind, was Sie hier eben gesagt haben, sondern ganz umgekehrt Innovationen mobilisieren? ({0})

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Duve, es gibt sicherlich Punkte, von denen Sie eine sehr große Ahnung haben, aber der Punkt Energiekosten gehört nicht dazu. ({0}) Sprechen Sie beispielsweise einmal mit der Chemieindustrie, mit anderen Industriezweigen, die zu den Branchen gehören, in denen Deutschland noch führend ist! Zu Recht hat der Kollege Jens vorhin hier gesagt, daß es gar nicht mehr allzu viele Branchen gibt, wo wir an der Weltspitze stehen und führend sind. Wenn Sie den Rest davon auch noch vertreiben wollen und unterstellen, daß hohe Energiekosten wirtschaftsfördernd wären, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Hohe Energiekosten haben vielleicht eine Lenkungswirkung im privaten Bereich hinsichtlich der Produktion energiesparender Haushaltsgeräte - das ist ja alles möglich -, aber der Hinweis, daß die hohen Energiekosten ein wesentlicher Werbefaktor zur Ansiedlung von Industrie in Deutschland wären, ist wohl etwas weit hergeholt. ({1})

Siegmar Mosdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Haungs, ich wollte Sie, weil das auch eine wichtige symbolische Entscheidung ist, nur fragen - da es öffentlich ist, kann man das auch sagen -, ob Ihnen bekannt ist, daß die Benchmarking-Untersuchungen der Daimler Benz AG für alle Standorte, die es gab, ergeben haben, daß das Swatch-Mobil in Lahr 480 DM teurer wäre als in Frankreich. Für einen solchen Betrag würde kein Vorstand der Welt die Belegschaft gegen sich aufbringen. Deshalb bitte ich Sie, in diesem speziellen Fall von Swatch, nicht von Kostenfaktoren zu reden; das ist eine unternehmensstrategische Entscheidung, die auf Frankreich gezielt ist. Eine zweite Frage möchte ich anschließen: Ist Ihnen bekannt, daß Alcatel alle Aufträge von France Télécom bekommt, während auf dem deutschen Markt die deutsche Telekom zwei Drittel der Aufträge an Siemens und ein Drittel an Alcatel gibt? Das sind doch Zusammenhänge, die man sehen muß, die man nicht auf Kostenfragen reduzieren kann. ({0})

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will ja nicht rechthaberisch sein, aber ich bin schon der Meinung: Erstens handelt es sich bei dem Swatch-Auto um ein Gemeinschaftsprodukt, bei dem ein neuer Standort und eine neue Belegschaft gesucht werden. Dies ist kein alleiniges Unternehmen von Mercedes-Benz, sondern da hat Herr Hajek mit seiner Swatch-Idee einen hohen Einfluß. Nach den Untersuchungen, die dort gemacht wurden, sagt er, daß in diesem Preissegment bereits Veränderungen von 500 DM pro Auto, wenn dies ein Auto werden soll, das in einer Stückzahl von ein paar hunderttausend gebaut werden soll, nicht geringfügig sind. Also die 500 DM kann ich bestätigen. Seine Untersuchung sagt, daß bereits eine Veränderung um ein paar hundert Mark eine zweistellige Veränderung der projizierten Menge nach sich zieht. Er hat ja immerhin mit seiner Swatch-Uhr einigen Erfolg gehabt, wo man mit einem äußerst niedrigen Preis ein Massenprodukt verkaufen konnte, das sogar qualitativ einwandfrei ist. Das heißt: Da in der Wirtschaft bekanntlicherweise alles miteinander zusammenhängt, sind die Argumente, die Sie in Ihrer zweiten Frage angebracht haben, zwar nicht von der Hand zu weisen; ich wehre mich nur dagegen, hier jetzt so zu tun, als ob nur böse Mächte, Subventionen unserer Nachbarn und andere Gründe ausschlaggebend wären. Ausschlaggebend ist sicherlich die Strategie des Unternehmens, gut, aber ausschlaggebend ist auch die Tatsache, die Sie mir noch einmal bestätigten, daß man mit ca. 500 DM mehr pro Auto rechnen mußte. Da dieses Auto billig sein soll, war es nicht möglich - was ich ja selbst am meisten bedauere -, es in der Bundesrepublik zu produzieren. - Das wäre es zum Swatch-Auto gewesen. Wir haben ja das Trostpflaster, daß, wenn es wirklich so gut und so billig gebaut wird, die Gemeinschaftsfirma erwägt, in Deutschland ein zweites Werk nachzuschieben. Das ist der Trost zu Weihnachten. Wir müssen, meine Damen und Herren, alles unternehmen, um Deutschland aus der Kostenfalle, an deren Bau wir alle gemeinsam beteiligt waren, zu befreien; eine Falle, die sich in Zukunft schneller schließen wird - dieses Beispiel hat es gezeigt -, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Alle, auch die SPD, sagen: mit innovativen Produkten schneller an den Markt gehen; technologischen Vorsprung ausbauen; hohe Wertschöpfungen im Lande halten. Alles gut und schön, aber dazu müssen wir auch alle unseren Beitrag leisten. Sie wollen von uns zu Recht immer hören, was auch die CDU-Wirtschaftspolitiker sagen - was eine Selbstverständlichkeit ist; was die Sachverständigen betont haben -, nämlich daß die Lage auf dem Arbeitsmarkt die größte Herausforderung an die deutsche Wirtschaftspolitik ist. Deshalb haben wir ja mit unserem Standortprogramm den Versuch unternommen - und wir haben damit ja erst begonnen; es wird uns diese vier Jahre beschäftigen bei den Reformschritten der Unternehmensbesteuerung, der Arbeitsflexibilisierung, der Reform des Bildungswesens -, die Standortbedingungen bei uns zu verbessern. Eine Fortsetzung der Standort-Deutschland-Politik ist wahrscheinlich das beste Mittel - nicht kurzfristig, aber auf mittlere Sicht, auf die nächsten vier Jahre -, Deutschland für neue Arbeitsplätze als Zukunftsstandort zu erhalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, daß viele von uns - nicht hier im Plenum, aber in der deutschen Öffentlichkeit - die Veränderungen, die sich in der Welt ergeben haben - Südostasien, neue Wettbewerber auf den Wachstumsmärkten der Welt -, in ihrer Dramatik noch nicht erkannt haben. Es sagt sich zwar so leicht dahin, der Wettbewerb ist auf allen Märkten härter geworden, aber alle Folgerungen daraus haben wir noch nicht gezogen. Ich glaube allerdings: Die Standortdebatte, die wir im vergangenen Jahr ausgelöst haben, hat schon das Problembewußtsein für diese Zusammenhänge geschärft. Ich freue mich, wenn dies jetzt auch bei der SPD-Fraktion - so die Worte, die wir ja dann nur aus der Zeitung lesen - so gesehen wird, daß hier eben das große Defizit an Wirtschaftspolitik im Gegensatz zur Sozial- und Verteilungspolitik erkannt wird. Deshalb hoffe ich allen Unkenrufen zum Trotz, daß wir auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik zusammenarbeiten, um das gemeinsame Ziel, eine Vermehrung der industriellen und anderer Arbeitsplätze am Standort Deutschland, zu erreichen. Dabei müssen allerdings liebe Gewohnheiten über Bord geworfen werden. Aber - das habe ich vorhin schon gesagt - man kann positiv gestimmt sein, weil auch die Gewerkschaften hier ihre Verantwortung sehen und durch eine kluge Lohnpolitik bei der letzten Tarifrunde die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Allerdings lautet mein Appell an die SPD: Lassen Sie es bei den neuen Produkten und Innovationen nicht mit Worten bewenden, sondern arbeiten Sie tatkräftig mit, wenn wir den Gesetzesrahmen dafür schaffen! Der dissonante, vielstimmige Chor bei der Umsetzung der Transrapididee in ein funktionierendes Verkehrssystem war nicht unbedingt ermunternd. Meine Damen und Herren, in der neuen Legislaturperiode haben wir uns ein umfangreiches Programm im Bereich der Wirtschaftspolitik vorgenommen. Einige Dinge habe ich schon genannt. Das Leitziel bei den Steuern sollte sein - ich zitiere den Sachverständigenrat -: Die Steuerbelastung muß vor allem da reduziert werden, wo sie demotivierend auf den Leistungswillen, auf Innovationen und auf Investitionen wirkt. Wenn wir uns das als Leitbild nehmen, sind wir auf dem richtigen Weg. Lassen Sie mich abschließend ein paar Worte zur Kohlefinanzierung sagen. Auch das wurde vom Kollegen Jens angesprochen. Wir werden selbstverständlich eine Folgeregelung finden, welche die von uns beschlossenen Vorgaben im Energieartikelgesetz umsetzen wird. Für die Eingeweihten war die Abschaffung des Kohlepfennigs so überraschend nicht. Ich möchte schon sagen, daß wir in diesem Zusammenhang zwei Aufgaben zu erfüllen haben. Einerseits müssen wir die Zusagen einhalten, die wir gegeben haben, weil hier die Glaubwürdigkeit und das politische Vertrauen gefordert werden. Allerdings wäre die deutsche Steinkohle schlecht beraten, wenn sie sich auf diesen Sätzen ausruhen wollte. Denn die ebenfalls vorgesehene Degression der Kohlebeihilfen wird nun wesentlich stärker ausfallen müssen, als von manchen erwartet, sei es bei der Kokskohle - wo die Zusammenarbeit mit dem Land gefordert wird -, sei es bei der Kohle für die Stromerzeugung. Welches Finanzierungsinstrument auch gefunden wird - wir sind derzeit im intensiven Gespräch darüber -, eine zusätzliche Belastung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft muß ausgeschlossen werden. Deshalb habe ich nicht sehr viel Sympathie für die, die das Urteil zum Kohlepfennig zum Anlaß nehmen, jetzt einen Eintopf von Umweltsteuern, Lenkungsabgaben und Kohlefinanzierung zu kochen, den die deutsche Wirtschaft am Ende auslöffeln muß. Es scheint mir allerdings notwendig - das hat der Bundeswirtschaftsminister auch gesagt -, daß die Energiekonsensgespräche unverzüglich aufgenommen werden und wir in dieser schwierigen Frage unsere Kompromißbereitschaft beweisen. Weitere Schwerpunkte der wirtschaftspolitischen Tätigkeit der CDU/CSU-Fraktion in den nächsten vier Jahren werden die Wettbewerbspolitik, das Unternehmensrecht, die Entwicklung des Handels und die Rolle von Banken und Aufsichtsräten sein. Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben in den nächsten vier Jahren sehr viel Grund, über strittige Themen zu diskutieren. Ich hoffe sehr, daß wir sowohl im Ausschuß als auch im Plenum zu den Lösungen kommen, die uns bei dem größten Problem, der Beseitigung der Arbeitslosigkeit in den alten und in den neuen Bundesländern, helfen werden. Danke. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. ist im Moment dabei, ihren zweiten Kanzlersturz einzuleiten, diesmal nicht nach der Methode des Schmidtchen Erbschleicher, sondern durch unabwendbare Insuffizienz, durch Schwindsucht. ({0}) Der Herr Wirtschaftsminister hat kräftig dazu beigetragen. Denn bevor Ihre Partei, Herr Laermann, über das ruhende Mandat nachdenken konnte, hatte er bereits das Amt des ruhenden Wirtschaftsministers besetzt. ({1}) Inhaltsleere und Turborhetorik - wir haben heute früh eine Gehörprobe davon bekommen - sind die Markenzeichen Ihrer Politik sowie ein ungehöriger Abstand zu den eigentlichen Leistungsträgern in diesem Land, Herr Rexrodt, zu den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, und auch zu den Aufbauwilligen, den Kreativen, die mit neuen Ideen ihre eigene Existenz aufbauen und neue Arbeitsplätze schaffen wollen. ({2}) In einer gewissen Weise geht es Ihnen wie Ihrem großen Vorsitzenden, der Anfang dieser Woche den politischen Tatsachenfundus damit bereichert hat, daß er uns hat wissen lassen, daß ein halber Rücktritt so etwas ist wie ein verstopfter Durchfall. Bei Ihnen wird man die Angst nicht los, daß der nächste Schritt in die Hose gehen könnte. Eine Koordination des Aufbaus Ost hat in Ihrem Hause eigentlich nie stattgefunden; sie lag immer im Kanzleramt. Nun geht der dort Verantwortliche, Johannes Ludewig, als Staatssekretär ins Wirtschaftsministerium. Die „Zeit" schreibt dazu: Der Kanzler schickt seinen Aufpasser ins Wirtschaftministerium und legt Rexrodt an die kurze Leine. Nötig war es. Bellen dürfen Sie immerhin noch; das haben Sie heute morgen bewiesen. Aber in lausigen Zeiten freut man sich über Dürftiges. Mit großem Stolz verweisen Sie ständig darauf, daß es in den neuen Bundesländern satte Wachstumsraten gibt. Aber Sie wissen genauso gut wie wir, daß das die tatsächliche Lebenslage, die tatsächliche Wirtschaftslage überhaupt nicht widerspiegelt: Es gibt eine Million Arbeitslose, das Versprechen von den industriellen Kernen hat sich als hohle Phrase erwiesen, nach der Gründungswelle rollt jetzt eine Pleitenwelle durchs Land, ein neuer Insolvenzrekord für 1994 deutet sich an. Nun ist nicht jede Pleite, Herr Rexrodt, eine F.D.P.-Pleite - da würde man Ihnen einfach zuviel Einfluß zugestehen -, aber Sie haben maßgeblich dazu beigetragen. Sie haben die Treuhand dem vor Ihnen sitzenden Finanzminister überlassen. Der hat sie erst als Melkkuh der Nation betrachtet, bis er gemerkt hat, da ist gar nicht soviel herauszuholen. Dann hat sie Frau Breuel als marktwirtschaftliche Dunkelkammer besetzt. Sie kann dort schalten und walten, wie sie will, wie weiland der Landvogt Geßler in der Schweiz regiert hat, undemokratisch, zentralistisch, selbstherrlich. Ich erinnere hier nur an solche Probleme wie Risikokapital, wo Sie Treuhandunternehmen eigentlich hätten unter die Arme greifen müssen. Sie hätten den Patenten, die dort schlummern, zum Durchbruch verhelfen müssen. Sie als ehemaliger Treuhanddirektor hätten hier eigentlich Besseres wissen müssen und tun können. Doch sie haben dazu nichts getan. Sie haben im Gegenteil Ihre Steckenpferde aus der ordoliberalen Mottenkiste geholt: Ladenschlußgesetz, Rabattgesetz. Ich bin gespannt, wann wir diese Pferdchen hier wieder aufgezäumt erleben werden. Die Wirtschaft im Osten muß aufgebaut werden. Es fehlt nach wie vor an einem Konzept. Die ökologische Erneuerung, die neue Wirtschaftszweige, neue Berufsbilder, neue Produkte, neue Betriebe, neue Arbeitsplätze entstehen lassen könnte, wird von Ihnen nicht in Angriff genommen. Sie wissen das, aber Sie tun nichts. Sie versuchen, die Öffentlichkeit zu täuschen. Wenn ich beispielsweise in Ihrem Haushalt den Ansatz für die Förderung rationeller Energieanwendung sehe, der sich von 20 Millionen DM auf 200 Millionen DM verzehnfacht hat, dann muß ich sagen: Hier unterschlagen Sie einfach, daß es nicht um die Förderung regenerativer Energien geht, nicht um Energieeinspartechnologien, sondern schlicht um die bisher schon mitfinanzierte Sanierung ostdeutscher Fernwärmenetze. Das ist ja nicht schlecht, aber gefragt ist der ökologische Umbau, nicht die finanzielle Umbuchung. Gerade im Osten ist durch den unseligen Stromvertrag eine beispielhaft modernisierte Energieversorgung verhindert worden, eine Energieversorgung, die Werner Schulz ({3}) nicht auf KKW setzt, sondern auf KWK, auf KraftWärme-Kopplung. Die Fernwärmesysteme sind vorhanden. Vielleicht hätte man zumindest diese Voraussetzungen aus der alten DDR aufgreifen können, um weiterzukommen. ({4}) Das Bundesverfassungsgericht hat erfreulicherweise einen Strich durch die Kohlepfennigrechnung der Regierung gemacht. Das war nötig und bietet neue Chancen. Wir brauchen keinen Kohlepfennig, wir brauchen auch keine dauerhafte Kohlesubventionierung oder Subventionierung der Kohleverstromung, sondern wir brauchen eine Energiewende, also Energieerzeugung durch regenerative Energieträger, durch rationelle Energieanwendung und vor allen Dingen durch eine ökologische Steuerreform, mit der wir zu einer wirklichen Energiesteuer kommen und nicht zu einer Kohlesubventionsteuer. ({5}) Das heißt, wir brauchen auch einen Strukturwandel in den Bergbaugebieten Ost und West. Soweit eine Kohlesubvention überhaupt erforderlich ist, sollte sie in die öffentlichen Haushalte eingestellt werden, mit dem Druck, sie alsbald wieder abzuschaffen. Jedenfalls gehört sie nicht auf die Stromrechnungen der Bürgerinnen und Bürger. Der Verkauf der Waggonbau AG an eine amerikanische Finanzmaklerfirma wirft ein bezeichnendes Licht auf die Lage der ostdeutschen Industrie. Dieser erfolgte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, wie der IG-Metall-Bezirkschef Hasso Düvel es nannte. Hier stellt sich die Frage, ob damit wirklich zur Sicherung von Arbeitsplätzen, zum Börsengang und zu neuen Zukunftschancen beigetragen wird oder ob diese Aktion wieder in der Ausschlachtung eines weiteren ostdeutschen Großunternehmens endet. Das Mißtrauen ist groß und begründet. Vor allem die Marktsituation der ostdeutschen Industrie ist nach wie vor schwach. Wir brauchen eine Revitalisierung der Ostmärkte, der traditionellen Absatzgebiete der ostdeutschen Industrie. Hier ist eine völlig neue Unterstützung des Osthandels gefragt. Es gibt - und Sie haben darauf hingewiesen - natürlich einen Aufschwung in der Wirtschaft. Aber das ist wahrlich nicht Ihr Verdienst; Sie haben nichts dazu beigetragen. Nach wie vor fehlt dessen strukturelle Gestaltung. Wir werden diese Regierung deswegen nicht an den zufälligen Glückstreffern messen, sondern an den versäumten Chancen. Davon kann man Ihnen, Herr Rexrodt, heute schon sehr viele gut-oder, besser gesagt: schlechtschreiben. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat der Abgeordnete Rolf Kutzmutz das Wort.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der Erklärung des Wirtschaftsministers, daß das Ziel jeder Wirtschaftspolitik die Zurückdrängung und Beseitigung der Arbeitslosigkeit sei, bin ich davon ausgegangen, daß ich diese Zielstellung auch im Haushalt wiederfinden muß. Das ist aber nicht so. Keine der dringenden Reformen wird auch nur eingeleitet. Noch immer lohnen sich Spekulationen über Banken mehr als investive Maßnahmen in der Wirtschaft. Es fehlt die Neuberechnung der sogenannten Lohnnebenkosten nach Umsatz und Gewinn. Immer noch werden Unternehmen mit vielen Beschäftigten letztlich durch den Staat bestraft. Tatsache ist, daß trotz des verkündeten Ziels der Vollbeschäftigung ein Riesenpotential an menschlicher Arbeit nicht genutzt wird. Geschaffenen Arbeitsplätzen müssen ehrlicherweise auch die weggefallenen gegengerechnet werden. Überhaupt geht man mit Zahlen recht locker um. Herr Waigel sprach vorgestern von 1,5 Millionen Arbeitsplatzzusagen für die neuen Bundesländer. Tags zuvor hatte noch Herr Dr. Lammert für die Bundesregierung die Frage nach einem Zuwachs an Arbeitsplätzen im Jahre 1995 bundesweit mit 200 000 bis 250 000 beantwortet. Fünf Jahre Treuhandgeschichte beweisen jedoch schmerzhaft, daß Zusagen allzuoft nicht einmal dann verbindlich sind, wenn sie vertraglich vereinbart wurden. Es findet gleichzeitig an anderen Stellen ein Arbeitsplatzabbau statt, übrigens in Ost und in West. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung kommt zu dem Schluß, daß sich auch 1995 die Arbeitslosigkeit auf einem - ich zitiere - „erschreckend hohen, nicht hinnehmbaren Niveau", nämlich bei 3,6 Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen, bewegen wird. Es ist notwendig, daß im Bereich der Wirtschaftsförderung, in der Förderlogik- und struktur, Veränderungen vorgenommen werden. Es geht um die Art und Weise, wie Arbeitsplätze erhalten und gesichert werden können, wie Innovationen und Produkte bei Verfahren gefördert werden, wie neue Märkte erschlossen und eine notwendige Verbindung von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hergestellt wird. Ein ganz wesentliches Element stellt dabei die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" dar. Aus den Erfahrungen in den neuen Bundesländern will ich einige Vorschläge zur inhaltlichen Ausgestaltung des Rahmenplanes zur Gemeinschaftsaufgabe unterbreiten. Erstens. Die Abgrenzung der Fördergebiete wird für die Arbeitsmarktregionen bekanntlich nach festgelegten Indikatoren vorgenommen. Dabei sollte neben den aufgeführten Kennziffern die Unterbeschäftigungsquote in den Regionen als Merkmal hinzugezogen werden, weil die durchschnittliche Arbeitslosenquote nur teilweise die realen Fördernotwendigkeiten widerspiegelt. Zweitens. Für die Chance zu einer selbsttragenden Entwicklung ist es notwendig, neben den im Rahmenplan definierten Zielen auch ein Aufbauziel für vom Strukturumbruch besonders betroffene Regionen im Rahmen der GA zu definieren. In diesem Zusammenhang muß auch über die Notwendigkeit von verstärkten Existenzsicherungsmaßnahmen vor allem für den mittelständischen Bereich nachgedacht werden. Herr Tyll Necker erklärte vor kurzem: Die munteren Aufschwungjahre im Mittelstand sind vorbei ... Das Gründerpotential ist ausgeschöpft. Um so mehr geht es darum, die Förderprogramme darauf einzustellen, die Unterkapitalisierung mittelständischer Betriebe überbrücken zu helfen. Kein mittelständischer Betrieb in Ostdeutschland kann sich etwas wie die Beiersdorf AG leisten, die ihre Zahlungsziele mit neun Monaten angibt, um Gothaplast aus dem Markt zu verdrängen. Drittens. Die im Rahmenplan festgehaltene angebotsorientierte Ausrichtung der Regionalpolitik sollte durch die gleichberechtigte Einbeziehung nachfrageorientierter Potentiale ergänzt werden. Viertens. Die Grundorientierung der Gemeinschaftsaufgabe als Hilfe zur Selbsthilfe sollte zur umfassenden Entwicklung von Regionen genutzt werden. Dies erfordert, neben der Bindung der Förderhöhe an die Investsumme verstärkt regionalpolitische sowie arbeitsmarktpolitische Zielsetzungen in die Förderwürdigkeit einzubeziehen. Politik, meine Damen und Herren, wird oft als Kunst des Machbaren dargestellt. Wenn die Bundesregierung sich schon nicht als Ansammlung von Künstlern versteht, als Macher - und sei es nur für bessere Rahmenbedingungen der Wirtschaft - sollte sie sich wenigstens versuchen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Ernst Schwanhold.

Ernst Schwanhold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002122, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was uns der Bundeswirtschaftsminister heute morgen geboten hat, hatte nichts mit der wirklichen Problemlage der deutschen Wirtschaft zu tun. ({0}) Es war allenfalls der Versuch einer Rechtfertigung gegenüber den Kritikern, die vor der Regierungsneubildung unisono seinen Rücktritt gefordert hatten, angefangen von Herrn Ost über Herrn Solms bis tief in die Reihen der F.D.P. hinein. Substanz war nicht dabei, und ich sage Ihnen, Herr Rexrodt, Ihre Kritiker hatten recht: Ihr Rücktritt wäre ein Schritt nach vorn gewesen. ({1}) Wenn Sie darauf schimpfen, daß Lafontaine oder andere hier auftreten, dann kann ich mir schon vorstellen, daß Sie darüber ärgerlich sind. Sie haben nämlich in den nächsten Wochen und Monaten niemanden mehr in den Ländern, den Sie hierher rufen könnten, der Substanz genug hat, um die Wirtschaftspolitik der F.D.P. zu vertreten. Sie sind allein auf weiter Flur. Es bleibt nichts übrig, Sie haben abgemeiert, und dies wird sich in Hessen und in NordrheinWestfalen fortsetzen. ({2}) Selten hat ein Bundeshaushalt der Lage der deutschen Wirtschaft so wenig entsprochen wie dieser Haushalt. Dabei verhehle ich überhaupt nicht, daß sich niemand mehr als die Sozialdemokraten darüber freut, daß endlich ein paar Menschen zusätzlich wieder in Arbeit kommen. Aber dies angesichts von fünfeinhalb oder sechs Millionen Menschen, die einen Arbeitsplatz suchen, als Erfolg zu feiern, ist schon Bescheidenheit auf niedrigstem Niveau und der Lage der Menschen wirklich nicht angemessen. ({3}) Auch wie die 20 000 Konkurse hier abgehandelt werden, ergibt keinen Sinn. Es sind nämlich gerade die von Ihnen gefeierten Neugründungen, denen die zweite Luft fehlt; und Sie mit Ihrer Wirtschaftspolitik sorgen nicht dafür, daß sie in der Wachstumsphase die zweite Luft bekommen. Das sind Ihre Versäumnisse. ({4}) Daß die Innovationskrise der deutschen Wirtschaft fortbesteht, daß die Strukturkrise fortbesteht, daß Sie bei der Kostenkrise noch nicht wirklich vorangekommen sind, sind drei fundamentale Fehler, die von Ihnen eingestanden werden, ohne daß Sie auch nur einen einzigen Lösungsansatz bieten. Das ist ein Stück aus dem Tollhaus und eine Unverschämtheit. ({5}) Ich will zu den Herausforderungen nur in aller Kürze etwas sagen, denn ich habe außerordentlich wenig Zeit zur Verfügung. Die deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik muß auch im beginnenden Konjunkturaufschwung, der übrigens im wesentlichen durch außenwirtschaftliche Elemente getragen und durch binnenwirtschaftliche Vorgaben von Ihnen eher noch behindert wird, die Struktur- und Modernisierungskrise bewältigen. Die weltwirtschaftlichen Veränderungen müssen berücksichtigt werden. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit, auch die technische Wettbewerbsfähigkeit der Produkte, weiter ausbauen. Dabei will ich ein falsches Signal von Ihnen, Herr Rexrodt, noch einmal deutlich auf den Prüfstand stellen. Vor wenigen Wochen sind Sie durch die Lande gezogen und haben gesagt, man müsse innerhalb der Bundesrepublik ein Moratorium in der Umweltpolitik haben. Abgesehen davon, daß dieser Bereich in den letzten Jahren der einzige Wachstumsmarkt gewesen ist - nachsorgender Umweltschutz, Technologien mit 700 000 Arbeitsplätzen bei uns -, verunsichern Sie die Wirtschaft und sorgen dafür, daß Fehlallokationen oder Fehlentwicklungen eingeleitet werden - wenn sich noch irgend jemand in der Wirtschaft auf Ihre Aussagen verlassen würde! Dies ist allerdings Gott sei Dank nicht der Fall. Denn die chemische Industrie hat gestern angekündigt, sie wolle Konsensgespräche über zukünftige Umweltziele und Umweltplanungen vor dem Hintergrund eines „sustainable development", einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, führen. Dies ist ein Erfolg der sozialdemokratischen Diskussion. Dazu gehört auch die Debatte um eine ökologiErnst Schwanhold sehe Steuerreform. Erst wenn es gelingt, die Kosten für Umwelt in die betriebswirtschaftlichen Rechnungen zu internalisieren, wird aus Umweltschutz ein Eigeninteresse der Unternehmen. Dann erst werden wir Ordnungsrecht auf ein Minimum zurückführen können: wenn die Unternehmen aus sich selbst heraus Umweltschutz durch politische Vorgaben internalisieren. Dies verhindern Sie durch Ihre leichtfertigen Sprüche. ({6}) Daß dabei natürlich ökonomische, ökologische und soziale Ziele miteinander in Einklang gebracht werden müssen, ist vollständig richtig. Daran gibt es keinen Zweifel. Gelegentlich sind die unterschiedlichen Ziele auch überbetont worden. Ich glaube, dies zu erkennen ist insbesondere vor dem Hintergrund der nächsten innovativen Schritte wichtig, die wir innerhalb der Industriegesellschaft der Bundesrepublik einzuleiten haben. Die Stichworte dazu sind: Informationsindustrie, Informationsgesellschaft. Auch die chemische Industrie ist ein wesentliches Element, das von Ihnen völlig vergessen worden ist. Die Produktion der High-Tech-Produkte dort leidet übrigens nicht unter hohen Energiepreisen. Das ist nur bei jenen Produkten der Fall, die vor 20 Jahren entwickelt sind und einfach weiter produziert wurden, ohne daß dort Innovation und Forschung hineingesteckt worden ist, energieeinsparende und stoffsparende Maßnahmen ergriffen wurden. In all diesen Bereichen ist weder im Haushalt des Forschungsministeriums noch in Ihrem Haushalt etwas in nennenswertem Umfang eingestellt worden - nichts als schöne Worte. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang sagen: Es wird der deutschen Wirtschaft eher helfen, Herr Rexrodt, wenn Sie nicht als „Türöffner" in die Märkte des Fernen Ostens hineinwirken. Denn die letzten Erfahrungen, als Deutsche dort ihre Produkte plazieren wollten, waren für die Unternehmen eher negativ. Die Unternehmen hätten das alleine besser gekonnt. Was wir brauchen, sind Häuser der Technik und Häuser des Handels, aber nicht mit Sprechblasen ausgestattete Außenhandelskammern, die allenfalls den Großunternehmen helfen können. Nein, wir müssen es schaffen, daß auch mittelständische und kleine Unternehmen, insbesondere aus Ostdeutschland, in jenen Märkten in Fernost Fuß fassen können. Dies geht nur durch deutsche Präsenz dort. Für diese Präsenz hat die Bundesregierung zu sorgen, nicht alleine das Land Nordrhein-Westfalen und das Land Baden-Württemberg. Es geht um eine konzertierte Aktion der Länder, der Industrie und insbesondere des Bundes, um diesen Markt für die Zukunft nicht zu verspielen. ({7}) Mein letzter Satz: Wir werden in den weiteren Beratungen noch einmal die Möglichkeit haben, Ihnen zu verdeutlichen, welche Vorschläge der Sozialdemokraten zur Mittelstandsförderung Sie - sehr zum Leidwesen von Herrn Ost, Herrn Hinsken und anderen - versäumt haben. Ich freue mich darüber, daß Sie dafür zwischenzeitlich 367 Millionen DM in den Haushalt eingestellt haben. Aber dies kann allenfalls ein Ansatz sein, können nur erste Schritte sein, um in der Umsetzung bei kleinen und mittleren Unternehmen neue, innovative Techniken von der Grundlagenforschung schnell zur Produktivität zu führen. Dort ist viel nachzuarbeiten. Ich fordere Sie auf: Gehen Sie den Weg der vielen Anträge, die wir dazu gestellt haben und die Sie mit Ihrem Votum immer verhindert haben, in Zukunft mit, damit wir am Ende sagen können: Es hat sich gelohnt. Wir haben zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Damit haben wir auch den sozialen Frieden in diesem Land als das letzte stabile Element befördert. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter Redner zu diesem Geschäftsbereich Rolf Olderog.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im Bundestag wieder einen Tourismus-Ausschuß. Deshalb möchte ich über Tourismus, Fremdenverkehr und Freizeitwirtschaft sprechen, über einen Wirtschaftsbereich, der in Deutschland insgesamt seit Jahren einen ungebrochenen Aufschwung erlebt und der selbst durch wirtschaftliche Krisen offensichtlich nicht gebremst wird. Ich möchte über eine Branche sprechen, die weltweit die Wachstumsbranche Nummer eins ist. Jahr für Jahr machen 80 Millionen Deutsche 160 Millionen Reisen mit Übernachtungen. ({0}) Die Wertschöpfung in der Tourismusbranche in Deutschland entspricht der Baubranche oder der Automobilindustrie. Aber der Tourismus bietet z. B. dreimal so viele Arbeitsplätze wie die Automobilindustrie. Insgesamt bietet er in Deutschland über zwei Millionen Arbeitsplätze bei einem Wertschöpfungsanteil von 6 %. Wir dürfen sicher sein, daß das Arbeitsplatzpotential dieses Dienstleistungsbereiches in Deutschland, insbesondere in den neuen Bundesländern, noch lange nicht ausgeschöpft ist. Aber die politische Bedeutung des Bereichs Freizeit, Urlaub und Reisen ist nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu sehen. Es gibt kaum ein Bundesministerium, das nicht mit touristischen Fragen befaßt wäre. Nur beispielhaft nenne ich den Umweltschutz. Weit über 50 % der vom Pkw-Verkehr ausgehenden Luftverschmutzung gehen von Freizeit- und Reiseaktivitäten aus. Doch der Freizeitbereich erhält darüber hinaus seine politische Bedeutung in unserer sogenannten Freizeitgesellschaft noch durch etwas anderes: Freizeitaktivitäten prägen immer stärker die für die Menschen, für ihr Wohlbefinden und für die von ihnen empfundene Lebensqualität maßgeblichen Erfahrungen, Haltungen und Werte. Dabei birgt die zunehmende Freizeitorientierung der Deutschen nicht nur Chancen, sondern offensichtlich auch Risiken und Gefahren wie einseitige Konsumorientierung, zuneh532 mende Übersättigung und auch einen erkennbaren Verfall traditioneller Werte und Tugenden wie die Bereitschaft zu Verzicht, Pflichterfüllung und sozialer Verantwortung. Die Politik ist auch im Bereich von Freizeit, Reisen und Urlaub gefordert, geistig Orientierung und Führung zu geben. ({1}) Welches sind nun die wichtigsten tourismuspolitischen Herausforderungen? Nur einige Themen: Erstens. Wir müssen weiterhin den Aufbau des Tourismus in den neuen Bundesländern betreuen und fördern. ({2}) Die neuen Länder setzen sehr gezielt auf den Aufbau des Tourismus und können schon heute durchweg mit zweistelligen Zuwachsraten eindrucksvolle Erfolge vorzeigen. Zweitens. Wir müssen die westdeutschen Urlaubsregionen international wieder voll wettbewerbsfähig machen. ({3}) Insgesamt müssen die Anbieter von Urlaub in Deutschland viel professioneller arbeiten, insbesondere im Bereich Marketing und Werbung. Drittens. Bei Reisebüros und Reiseveranstaltern erleben wir einen dramatischen Konzentrationsprozeß. ({4}) Die bedrohten kleinen und mittleren Betriebe brauchen Orientierung und Anpassungshilfen. Viertens. Der Tourismus muß noch mehr Rücksicht nehmen auf Landschaft, Natur und Umwelt. Fünftens. Wir müssen bessere Urlaubschancen für Behinderte, sozial Schwache und kinderreiche Familien erarbeiten. Sechstens. Wir wollen Negativerscheinungen im Ferntourismus wie Sextourismus, Kinderprostitution, Gefährdung der kulturellen Identität im Zielland und zunehmenden Umweltschäden entgegentreten. ({5}) Meine Damen und Herren, wir Tourismuspolitiker wollen alles dafür tun, ({6}) daß deutschen Urlaubern im In- und Ausland ein anspruchsvolles Angebot zur Verfügung steht, daß die deutsche Tourismuswirtschaft erfolgreich arbeitet, daß wir aber zugleich auch im boomenden Freizeitbereich wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen erkennen und zukünftig vermeiden. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zum Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Einzelplan 11. Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das sozialpolitische Hauptwort dieses Jahres heißt Umbau. Nun wird es ganz unterschiedlich interpretiert. Die einen empfehlen den Umbau beim Nachbarhaus; die eigenen Tapeten dürfen nicht verändert werden. Die anderen versuchen Umbau mit der Planierraupe. Umbau, wie ich ihn verstehe, ist in der Sozialpolitik überhaupt nichts Neues. Er begleitet sie von Anfang an; denn im Unterschied zu den ideologischen Politikentwürfen hat die Sozialpolitik nie behauptet, sie hätte Patentrezepte. Sie ist nie mit dem Versprechen angetreten, alle Probleme der Welt mit einem Schlag zu lösen. Nein, die Sozialpolitik hat auf akute Lebensnöte geantwortet. Ich gebe zu, daß sie deshalb nicht immer sehr systematisch war, aber vielleicht war sie deshalb etwas lebensnäher. Aber weil das so ist, weil sie auf akute Lebensnöte geantwortet hat, ist auch ein Reformbedarf in sie eingebaut, eine ständige Überprüfung, wobei ich allerdings diese Überprüfung nicht so verstehe, als könnten wir mit dem Anspruch antreten, die Welt zum zweitenmal zu erfinden. Umbau ist immer eine Kombination zwischen Erhalten und Verändern. ({0}) Deshalb steht uns auch keine Tabula rasa zur Verfügung. In der Sozialpolitik haben wir es mit Lebensplanungen von Menschen zu tun, mit Rentenzusagen, die gegeben werden, die in Lebensplanungen eingefügt sind. In die Rente kann man nicht ein- und aussteigen, wie man bei einer Straßenbahn ein- und aussteigen kann. Deshalb warne ich vor einer ideologischen Sozialpolitik, die die Menschen, für die sie da ist, aus dem Blick verliert. Freiheit und Sicherheit sind keine Gegner. Freiheit ohne Sicherheit: Das ist die Freiheit des Naturreiches. Da frißt der große Fisch den kleinen Fisch. Sicherheit ohne Freiheit: Das ist die Sicherheit des zoologischen Gartens. Im Gefängnis ist es übrigens auch sehr sicher. Also kommt es immer - das ist die Kunst jeder Politik - auf die Balance verschiedener Ansprüche an. Es stört mich, daß gerade in der letzten Zeit die Sozialpolitik von vielen Problembesichtigern und Betroffenheitsexperten beunruhigt wird. Die besichtigen ein Problem, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, sind betroffen und reisen zum nächsten Problem weiter. ({1}) Die Lebensdauer ihrer Vorschläge entspricht ungefähr der Brenndauer einer Wunderkerze. Was sie gestern gesagt haben, interessiert sie heute nicht mehr. ({2}) So kann man keine Sozialpolitik machen. Sie ist auf ein Mindestmaß an Kontinuität angewiesen. Wenn einer operiert wird, muß er vorher wissen, wer die Operation bezahlt. Ein Arbeitnehmer muß wissen, daß er in der Arbeitslosigkeit nicht ins Nichts fällt. Ein Beitragszahler muß wissen, wie sein Rentenanspruch gesichert werden kann. Was die Sozialpolitik nicht versprechen kann - obwohl manche in Versuchung sind, dem Prinzip „immer mehr" zu folgen -, ist, alle Probleme durch Mehrausgaben zu lösen, so nach dem Vorbild des Turmbaus zu Babel. Bäume wachsen nicht in den Himmel, und die Sozialpolitik wächst nicht ins Paradies. Deshalb muß sie in der Tat in Augenschein nehmen, daß das, was sie bezahlt, nicht von Lottokassen bezahlt wird, auch nicht von Ölscheichs, sondern von denen, die arbeiten, und die sind an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen. ({3}) Wer etwas Neues will - und, meine Damen und Herren, es werden immer neue soziale Fragen entstehen, auch Fragen von gestern haben sich überlebt, das Leben entwickelt sich weiter -, kann nicht das einfache Draufsatteln, das einfache Mehr als Antwort geben. Er muß zum Geben und zum Nehmen fähig sein. ({4}) Sie werden nämlich, wenn Sie nur geben, bald niemanden mehr haben, dem Sie etwas nehmen können. ({5}) Insofern geht es um diese Balance. In der Tat haben wir zwölf Jahre Sozialpolitik betrieben, Neues gestaltet und an anderer Stelle gespart. Ich finde die Sozialpolitik der reinen Expansion einfallslos. Sparen und Gestalten ist das Kunststück. Ich gebe zu, daß das Nehmen immer große Aufmerksamkeit und viele Widerstände erzeugt hat, während das Geben so klammheimlich passiert ist. Ich kann einmal die zwölf Jahre Revue passieren lassen: Hinterbliebenenreform, Einführung von Kindererziehungszeiten - fast klammheimlich -, Pflegeversicherung. Aber auf der anderen Seite mußte auch gespart werden. Wir fangen mit dem Konsolidieren nicht erst heute an. Allein die umkämpften Entlastungen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung aus diesen 12 Jahren betragen in diesem Jahr 57 Milliarden DM. Ich bitte, dieser Zahl Beachtung zu schenken; denn viele tun so, als hätten wir erst gestern mit dem Sparen begonnen: 57 Milliarden DM. Ohne unsere Sparmaßnahmen der letzten zwölf Jahre, ohne unsere Konsolidierungsmaßnahmen, die mit hartem Widerstand bekämpft wurden, hätte es 57 Milliarden DM Mehrausgaben in der Renten- und in der Arbeitslosenversicherung gegeben. ({6}) Hätten wir von 1982 bis 1989 nicht konsolidiert, wären wir 1990 kollabiert. Hätten wir von 1982 bis 1989 nicht konsolidiert, wären wir nicht zu der großen Leistung fähig gewesen, die deutsche Einheit mit der Absicherung des Sozialstaates zu verbinden. ({7}) Eigen- und Mitverantwortung, das ist die Balance. Hilfe zur Selbsthilfe, das ist der eigentliche Kern der Sozialpolitik. Ihr Ziel ist der selbstverantwortliche Mensch, nicht der vom Kindergarten an rund um die Uhr vom Staat betreute, sondern jemand, der seine Lasten tragen kann. Deshalb kommen wir nicht ohne Solidarität, ohne Mitverantwortung aus. Ich will das am Beispiel der Pflege verdeutlichen. Die Pflegeversicherung war notwendig. Es gibt viele Hilflose. Aber wir waren zum Ausgleich verpflichtet. Über die Finanzierung dieses Ausgleichs wird bis zum heutigen Tage gestritten. Ich will noch einmal in Erinnerung rufen, daß alle Vorschläge, die immer wieder in die Diskussion kommen, schon einmal bearbeitet worden sind. Da gab es z. B. den Vorschlag, zum Ausgleich den Urlaub zu kürzen. Man muß darauf aufmerksam machen: Der Gesetzgeber hat keinen Zugriff darauf; das ist Sache der Tarifpartner. Diese haben den Vorschlag abgelehnt. Dann hatten wir den Vorschlag, Karenztage einzuführen. Den Vorschlag haben beide Tarifpartner, also auch die Arbeitgeber - ich lege Wert darauf, das zu betonen -, abgelehnt. ({8}) Ich gestehe, wenn dies beide ablehnen, ist der Vorschlag um seine Effektivität gebracht, weil ihn die Tarifpartner anschließend wieder einkassieren könnten. Wir haben sogar die Lohnfortzahlung für den Feiertag aufheben wollen, um den Feiertag zu retten. Dies wurde mit dem Argument „Eingriff in die Tarifautonomie" abgelehnt. Ich weiß nicht, warum wir die Diskussion immer wieder von vorn beginnen. Die jetzige Regelung, einen Feiertag abzuschaffen, war das, was machbar und durchsetzbar war. Ich will auch darauf hinweisen, daß wir mit der Pflegeversicherung nicht nur Geld verteilen wollen - das ist keine Verteilungsmaschine -, sondern daß wir auch eine Infrastruktur von nachbarschaftlichen Diensten errichten, daß es uns nicht nur auf mehr Geld für Hilfsbedürftige ankam, sondern auf eine Hilfe aus der Nachbarschaft. Ich glaube, daß die großen Organisationen die Prinzipien des Sozialstaats nicht erfüllen und daß wir gerade dort, wo die Großfamilie früher ihren Platz hatte, heute neue Nachbarschaften und neue Solidaritätskreise brauchen. Deshalb meine Aufforderung auch an die Länder, ihren investiven Verpflichtungen nachzukommen. Wir haben die Pflegeversicherung nicht eingeführt, damit die Kommunen sparen und die Landesfinanzminister ein Geschäft machen. Wir haben sie eingeführt, um eine neue Infrastruktur von sozialen Hilfen zu schaffen. ({9}) Im übrigen wird, wenn es um die zusätzlichen Belastungen für die Pflege ab 1. Januar geht, übersehen, daß der Rentenversicherungsbeitrag am 1. Januar von 19,2 % auf 18,6 % sinkt. Das ist keine dauerhafte Entlastung, aber eine Entlastung auf einen Satz, der unter jener Linie liegt, die wir vor der deutschen Einheit für 1995 geschätzt haben. Damals haben wir nämlich 19 % geschätzt. ({10}) Das ist eine Verbesserung um 0,4 % gegenüber unserer früheren Schätzung. Reale Politik: Unsere Prognosen waren schlechter als die Realität. Im übrigen entlastet die Pflegeversicherung die Krankenversicherung um 4 Milliarden DM. Ohne die Pflegeversicherung müßten die Beiträge dort um 0,4 % steigen. Meine Damen und Herren, die Rentenversicherung erhalten und verändern - immer die gleiche Balance. In der Rentenversicherung erhalten bleiben muß das Leistungsprinzip. Dort, wo Leistung steuerungsfähig ist, sollte sie nicht durch Fürsorge ersetzt werden. Ich kenne keinen anderen verläßlichen Maßstab als den Lohn. Wir sind keine Planwirtschaft, in der Leistungen durch Orden prämiert werden. Der Lohn ist der Bezugspunkt. Deshalb halten wir an der lohnbezogenen dynamischen Rente fest. Sie ist ein Garant für Verläßlichkeit, Staatsfreiheit und Manipulationsschutz für die Rentner. ({11}) Wenn unsere Rente sicher sein soll, werden wir uns den Trend zur Frühverrentung nicht leisten können. Das tatsächliche Renteneintrittsalter liegt unter den gesetzlichen Grenzen bei rund 59 Jahren. Wir werden uns die längsten Ausbildungszeiten, den frühesten Renteneintritt und die längsten Rentenzeiten nicht leisten können. Wer es mit den Rentnern und der Rentenversicherung gut meint, darf sich deshalb einer schrittweisen Erhöhung der Altersgrenze nicht in den Weg stellen. Das ist nach unserer Philosophie mit Wahlfreiheit verbunden: Es steht jedem, der früher ausscheiden möchte, frei, dies zu tun. Der Gesetzgeber sollte sich nicht als Vormund der Arbeitnehmer aufspielen. Dieser Arbeitnehmer muß dann allerdings Renteneinbußen in Kauf nehmen. Die Rentenversicherung wird die „Arbeitsteilung" nicht verkraften, daß sie nur die schwierigen Fälle aufnehmen soll, während die „guten Risiken" von den berufsständischen Versorgungswerken versichert werden. Dieses Spiel ist eine Katastrophe für die Rentenversicherung. Sie ist weder der Lastesel für alles, was zwar gut und nützlich ist, aber von den Beitragszahlern nicht bezahlt werden kann, noch können wir uns eine Solidaritätsselektion leisten: Die „Guten" in die berufsständischen Versorgungswerke, und der Rest muß unter sich bleiben. Dies ist eine Solidaritätsverweigerung. Deshalb kann der Sozialstaat dies nicht zulassen. ({12}) Die Renten- und überhaupt die Sozialversicherung hängt davon ab, ob Arbeit für alle vorhanden ist. Sie ist die Quelle jeder sozialen Sicherheit. Im Wahlkampf habe ich die Arbeitsteilung häufig erlebt - ich habe mich vorhin etwas darüber amüsiert -: Für Arbeitsplatzverluste ist die Bundesregierung zuständig, für Arbeitsplatzgewinne sind die Unternehmer zuständig. Dieses Kinderspiel können Sie vielleicht noch Ihren Kindern als Hausmärchen erzählen. Aber in einer Sozialen Marktwirtschaft kann, will und soll der Staat nicht für alles verantwortlich sein. Er muß mitwirken. Wir haben uns nie der Verantwortung entzogen, und wir haben unseren Teil dazu beigetragen, daß es in der Wirtschaft wieder aufwärts geht. Beigetragen haben aber auch die Vernunft der Tarifpartner und - wie ich hoffe - ein neuer Elan der Unternehmer. Wir müssen weg von den Klagemauern. Wir brauchen Innovation und Initiative. Wir sind zum Teil auf unseren Erfolgen eingeschlafen und haben Innovationsmöglichkeiten verpennt. Dies gilt nicht nur für Produkte, sondern auch für Arbeitsorganisationen, für eine moderne Tarifpolitik, deren Eis etwas zu schmelzen beginnt, und die Flexibilität. Ich erinnere mich noch an Diskussionen von vor zehn Jahren. Damals war es ein Teufelswort. Heute nehme ich mit Befriedigung zur Kenntnis, daß viele verstanden haben, daß wir aus der „Parademarschorganisation" unserer Gesellschaft austreten müssen. Die Arbeitsmarktpolitik muß nicht die Unternehmer ersetzen. Sie muß denen helfen, die es besonders schwer haben, die es aus eigener Kraft nicht schaffen. Das sind beispielsweise die Langzeitarbeitslosen. Wer jahrelang keinen Arbeitsplatz hat, hat es schwer, zurückzukommen. Manchmal muß er an die Hand genommen werden. Es hindern nicht nur Arbeitsmarktprobleme den Zugang, sondern vielleicht auch soziale Probleme, psychische und Schuldenprobleme. Aber jeder einzelne - der Behinderte, der Kranke - hat ein Recht auf Arbeit. ({13}) Wir wollen deshalb neue Wege gehen bis hin zum Verleih von Arbeitslosen durch die Bundesanstalt für Arbeit, um die Zugbrücke herunterzulassen, damit diese in die Betriebe hineinkommen. Sie müssen eine Chance zur Erprobung bekommen. Dort hineinzukommen ist der erste Schritt. Was nützt uns ein sozialer Schutz, der nur diejenigen schützt, die Arbeit haben, der aber für diejenigen, die keine Arbeit haben, eine Aussperrungsmauer ist? Wir müssen neue Wege gehen. ({14}) Wir müssen gerade diejenigen, die es schwer haben, an die Hand nehmen. Ein Verleih ist keine Maßnahme auf Dauer, sondern der erste Schritt. Wenn das Vorhaben scheitert, muß der Betreffende an der Hand der Bundesanstalt gelassen werden. Wir brauchen eine Sozialpolitik in der Nähe der Menschen. Die Bundesanstalt zahlt zwölf Wochen lang das Arbeitslosengeld für denjenigen weiter, der im Betrieb erst eine Qualifizierungsmaßnahme erhalten möchte. Das alles ist Sozialpolitik nicht in Höhe der Wolkenkuckucksheime. Wir brauchen keine Politik der Phrasen und Parolen. Wir brauchen eine Sozialpolitik für die Menschen, die allerdings auf die Mitwirkung der Menschen - der Unternehmer, der Betriebsräte und der Tarifpartner - angewiesen ist. Ich finde, es ist - ich verwende das Wort nicht inflationär - eine Schande, daß zwei Drittel der deutschen Unternehmer ihre Beschäftigungspflicht für Behinderte nicht erfüllen. Es ist auch ein hundsmiserabler Zustand, daß von den 16 Ländern nur ein Land - das ist das Saarland - die Beschäftigungspflicht erfüllt. ({15}) Die Bundesregierung erfüllt sie inzwischen wieder. ({16}) Man kann nur dann Appelle an die Unternehmer richten, wenn man selber Vorbild ist. ({17}) Deshalb nicht so viele Worte! Liebe Länder, liebe Kommunen, wir brauchen kein neues Gesetz. Alles Nötige haben wir. Wir brauchen nicht immer neue Paragraphen. Wir brauchen vielmehr mehr guten Willen und vielleicht auch mehr Phantasie. Manchmal mangelt es auch an der Phantasie, einen Arbeitsplatz behindertengerecht einzurichten. Soziale Einheit: 44,2 Milliarden DM gibt der Bund im Einzelplan 11 für die soziale Einheit aus, allein 6,4 Milliarden DM in acht Jahren, um in den neuen Ländern die Pflegeheime mit besseren Investitionen auszustatten. Damit soll der hundsmiserable Zustand, in dem der Sozialismus die Hilflosesten untergebracht hat, verbessert werden. Wenn ich mir Pflegeheime in den neuen Ländern ansehe, dann muß ich feststellen: Das ist geradezu das Dokument einer Barbarei, die rücksichtslos gegenüber denjenigen gehandelt hat, die sich nicht wehren konnten. ({18}) Ausgerechnet diejenigen, die sich Sozialisten nannten, haben sich als Barbaren gegenüber den Pflegefällen erwiesen. ({19}) Auch der Finanztransfer von West nach Ost, an dem die Sozialversicherung beteiligt ist, ist wichtig. Der Anteil der Sozialversicherung nimmt ab: von 17,1 % 1991 auf 13 %, der des Bundes nimmt zu: von 53,6 % auf 76,1 %. Mit anderen Worten: Der Anteil der Beitragszahler geht zurück, und der Anteil der Steuerzahler nimmt zu. Das ist, wie ich glaube, im Sinne der Gerechtigkeit eine richtige Entwicklung. Die Steuerzahler waren auch schon jetzt beteiligt. Allein 72 Milliarden DM Bundeszuschuß in der Rentenversicherung und 24 Milliarden DM in der Arbeitslosenversicherung sind von den Steuerzahlern finanziert worden. Deshalb ist es richtig, worauf das Finanzministerium hingewiesen hat, daß die oberen 5 % der Steuerzahler mit 8 % am Transfer von West nach Ost und die unteren 50 % der Steuerzahler mit 3,6 % beteiligt sind. Das trägt, wie ich glaube, zur Korrektur des Bildes bei, hier wäre eine Politik eingeleitet worden, die einseitig sei. Mein letztes Wort bezieht sich auf Europa. Wenn sich die Wirtschaft europäisiert, muß die Politik das auch tun. Gott sei Dank haben wir einen Europäischen Binnenmarkt und eine europäische Finanzpolitik. Also muß es auch eine europäische Sozialpolitik geben. Ich bin nicht für einen sozialen Eintopf. Die Systeme sind gewachsen. Sie müssen aufeinander abgestimmt werden. Andere Bereiche können harmonisiert werden. Asbest ist in Neapel genauso krebserzeugend wie in Wanne-Eickel. Also kann es einheitliche Werte geben. ({20}) Wichtig ist, daß das in Europa nicht zu Lohndumping kommt. Deshalb halte ich es für eine der wichtigsten Aufgaben, die Entsenderichtlinie durchzusetzen. ({21}) Es gilt der alte Grundsatz - ich denke, es ist wichtig, daß wir darin übereinstimmen; wir können zwar viel Streit haben, aber das würde unsere Position stärker machen -: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Wenn dieser Grundsatz ausgehöhlt wird, dann kann das entweder nur Betrug an den ausländischen Kollegen sein, die zu einem Viertel des Lohns ihrer deutschen Kollegen arbeiten, oder - das ist wahrscheinlicher - die Deutschen werden arbeitslos. Das wäre eine Olympiade von Lohndumping. Das wäre ein Programm zur Entlassung. Das wäre ein Programm, das eine erworbene, über Generationen erarbeitete Tarifkultur, einen Teil unserer Sozialkultur, über Nacht ruinieren würde. ({22}) Ich halte im Sinne Europas eine Dienstleistungsfreiheit für uneingeschränkt notwendig. Der Portugiese ist uns lieb und willkommen; aber er kann hier nur zu dem Lohn arbeiten, der den deutschen Tarifen entspricht; ({23}) denn sonst haben wir ein Programm zum Ruin von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. ({24}) - Beruhigen Sie sich, Frau Europa. Beruhigen Sie sich! Meine Damen und Herren, es ist keine Präsidentschaft vor mir so energisch und so entschlossen für die Entsenderichtlinie eingetreten. ({25}) Deshalb werden wir in der nächsten Woche einen Sonderrat haben. Ich kündige schon jetzt an: Wenn uns das Ganze nicht gelingt, dann müssen wir über nationale Ersatzlösungen nachdenken, ({26}) was ich bedaure, was aber notwendig ist, und zwar im Interesse Europas. Denn ich will Europa nicht denje536 nigen opfern, die Gründe dafür suchen, die Integration abzulehnen. Deshalb müssen wir alles dafür tun, daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber dies als ihr gemeinsames Ziel ansehen: die Schaffung eines einheitlichen sozialen Europas. ({27})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Ottmar Schreiner. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seien Sie versichert, ich werde mich bemühen, die Lautstärke des Ministers Rexrodt von heute morgen deutlich zu unterbieten. Wir sind schließlich im Advent. Da sollte man etwas pfleglicher miteinander umgehen. ({0}) Zur Rede des Bundesarbeitsministers fällt einem nicht sehr viel ein, weil sie eine gelungene Mischung aus Weihnachtsansprache und nostalgischem Blick zurück war. ({1}) Was das Ministerium eigentlich in den nächsten Jahren machen will, positive Handlungsperspektiven, Handlungsoptionen, die Beantwortung der Fragen, was mit Umbau des Sozialstaats gemeint ist, welche Bereiche wie umgebaut werden sollen: Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Die einzig konkrete Äußerung bezog sich auf die Entsenderichtlinie. Darauf komme ich nachher zurück. ({2}) - Ja, Weihnachten ist ein Fest des Schenkens. Weihnachten ist allerdings nicht nur ein Fest der hohlen Phrasen. Der Minister widmet das Weihnachtsfest in ein Fest der Phraseologie um; das ist eigentlich nicht Sinn des Weihnachtsfests. ({3}) Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß bei näherer Prüfung aus arbeits- und sozialpolitischer Sicht die Koalitionsvereinbarungen und der Haushaltsentwurf des Bundesarbeitsministeriums sich als eine phantasielose Fortschreibung einer perspektivlosen „Weiter so" -Politik zusammenfassen lassen. Der immer wieder eingeforderte Umbau des Sozialstaates gerät in Ihren Händen zu einem platten Abbau von sozialen Leistungen. Ich werde es Ihnen belegen. Zur Erleichterung der Durchsetzung dieses Abbaus wird regelmäßig eine verantwortungslose Mißbrauchsdebatte inszeniert, die auch den letzten Rest von menschlichem Anstand gegenüber in Not geratenen Personen vermissen läßt. ({4}) Schließlich bleiben dringend notwendige Umbaumaßnahmen auf der Strecke. Meine Damen und Herren, ich will einen Hinweis auf die von der Bundesregierung selbst gesetzten Rahmenbedingungen geben. In den „Sozialpolitischen Informationen", herausgegeben vom Bundesarbeitsministerium, heißt es in der Ausgabe vom 8. Dezember dieses Jahres: Rund ein Drittel des Bruttosozialprodukts wird gegenwärtig für soziale Leistungen aufgewendet. Dieser Anteil kann nicht erhöht werden. Angesichts sich verändernder Rahmenbedingungen ist deshalb ein kontinuierlicher Umbau des Sozialstaats erforderlich. Der begonnene Umbau des Sozialstaats wird in der 13. Legislaturperiode konsequent fortgesetzt. Diese Formulierungen sind in mehrerlei Hinsicht irreführend. Zunächst wird mit dem Hinweis, daß ca. ein Drittel des Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen aufgewendet wird, der Eindruck erweckt, den Beziehern von Sozialeinkommen ginge es so gut wie nie zuvor. Tatsächlich liegt die Sozialleistungsquote, also der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt, zur Zeit in Westdeutschland mit 30,3 % immerhin drei Prozentpunkte unter der Vergleichszahl von 1982. Dabei hatten wir im letzten Jahr der Regierung von Helmut Schmidt zwar eine durchaus vergleichbare wirtschaftliche Lage, aber ca. 400 000 Arbeitslose in Westdeutschland weniger als heute und nur ca. die Hälfte der heutigen Zahl von Sozialhilfeempfängern, damals etwa 1,6 Millionen, heute 3,2 Millionen. Die Betroffenen erhalten folglich deutlich geringere Leistungen. Die außergewöhnlich hohe Sozialleistungsquote von fast 70 % in Ostdeutschland - 70 % des Bruttoinlandsprodukts in Ostdeutschland! -, die den gesamtdeutschen Anteil dann auf ca. ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts hebt, ist notwendig, wird politisch gewollt und wird hier hoffentlich von niemandem bestritten. Sie ist allerdings keineswegs Ausdruck eines ausufernden Sozialstaates, sondern vor allem Folge des ökonomischen Strukturbruchs und der damit einhergehenden hohen Massenarbeitslosigkeit insbesondere in Ostdeutschland. ({5}) Auch gerade dies ist ein Armutszeugnis für die Wirtschafts-, Struktur- und Finanzpolitik der Bundesregierung. ({6}) Zweitens. Die Formulierungen der Bundesregierung unterschlagen, daß über die Sozialleistungsquote in wachsendem Maße Leistungen finanziert werden, die eindeutig gesamtstaatliche Aufgaben sind und mit den sozialen Sicherungssystemen absolut nichts zu tun haben. ({7}) So schreibt z. B. die verehrte sozialpolitische Sprecherin der F.D.P.-Fraktion, die mich ganz begeistert anguckt, Frau Dr. Babel, in einem jüngsten Buchbeitrag ich zitiere Sie, Frau Kollegin -: In jüngster Zeit wurde der Rentenversicherung im Rahmen des Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes die Entschädigung für SED-Opfer im Rentenrecht aufgebürdet. Auch dies ist unzweifelhaft eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die über Steuern zu finanzieren gewesen wäre. So Frau Dr. Babel. ({8}) Was hat eigentlich, Herr Minister Waigel, das 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz mit der gesetzlichen Rentenversicherung zu tun, außer daß Sie die Koalition genötigt haben, die Finanzierung zu übernehmen. Frau Dr. Babel fährt fort: Die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und damit die Belastung des Faktors Arbeit wären deutlich geringer, wenn der Gesetzgeber auf die Überfrachtung der Rentenversicherung mit solchen Leistungen verzichten würde. ({9}) Dazu kann man nur sagen: Gut gebrüllt, Löwin! In hohem Maße widersprüchlich, ja nachgerade perfide wird es dann, wenn die gleichen Leute, Herr Kollege Waigel, die die sozialen Sicherungssysteme mit sachfremden Aufgaben belasten, anschließend behaupten, die Sicherungssysteme seien nicht mehr finanzierbar. Lösen Sie bitte diesen Widerspruch auf! ({10}) Drittens. Bei näherer Betrachtung der Sozialleistungsquote, die immerhin rund 1 Billion DM ausmacht und zu über zwei Dritteln aus Versicherungsbeiträgen aufgebracht wird, fällt auf, daß ein erheblicher Teil der Gesamtausgaben - übrigens mit deutlich steigender Tendenz - für Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe ausgegeben wird. Das spricht nun keineswegs für die Qualität der Sozialpolitik, sondern belegt nachdrücklich und zuallererst das Versagen einer beschäftigungsorientierten Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Meine Damen und Herren, die derzeitige Finanzkrise ist also keineswegs Folge eines überbordenden Sozialstaats, sondern einer weitgehend verfehlten Politik dieser Bundesregierung. Bekannt ist, daß sich die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit für die öffentlichen Hände insgesamt 1993 auf ca. 116 Milliarden DM belaufen haben. Die Schätzzahlen für 1994 belaufen sich auf über 130 Milliarden DM gesamtfiskalische Kosten für alle öffentlichen Hände, durch Massenarbeitslosigkeit verursacht. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme erfolgt ganz überwiegend aus den Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Damit ist klar: Das Ausmaß der beitragspflichtigen Beschäftigung ist die maßgebliche Grundlage unserer Sicherungssysteme. Klar ist damit aber auch: Das Gebot der Stunde ist nicht die Demontage des Sozialstaats, sondern die energische und wirkungsvolle Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. ({11}) Meine Damen und Herren, einige Anmerkungen zur Beschäftigungspolitik: Ich habe mir mit großem Bedauern heute morgen die Rede des Bundeswirtschaftsministers angehört, weil ich denke, daß es Sinn macht, wenn sich Sozialpolitiker ein wenig in die Wirtschaftspolitik einmischen, zumindest aber zuhören. - Der Herr Minister ist leider nicht mehr da. - Er hat heute morgen nicht einen einzigen Satz zu dem gesagt, was wir verlangen, nämlich eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik. ({12}) Er hat heute morgen eine reine Klamaukrede gehalten und keinen einzigen inhaltlichen Satz gesagt, sondern nur Worthülse an Worthülse gereiht und sich im übrigen mit polemischen Rundumschlägen begnügt. Kein einziger inhaltlicher Satz! ({13}) - Ja, er hat einen inhaltlichen Satz gesagt. Er hat auf den massenhaften Mißbrauch von Sozialleistungen hingewiesen. Darauf komme ich noch zurück. Die Kommission der Europäischen Union hat heute vor einem Jahr das Weißbuch „Wachstum und Beschäftigung" präsentiert und dabei das Ziel ausgegeben, die Arbeitslosenquote in ihrem Mitgliedsbereich bis zum Jahre 2000 zu halbieren. Das dazu skizzierte Wunschszenario besteht aus einem Mix von angestrebten durchschnittlichen Jahreswachstumsraten des Bruttoinlandprodukts in Höhe von 3 bis 3,5 % sowie einer Steigerung der Beschäftigungsintensität des Wachstums. Gemeint ist damit vor allem eine andere Verteilung der Arbeitszeit sowie eine offensive Arbeitsmarktpolitik. Es würde zu weit führen, die Vorschläge hier im einzelnen darzustellen, wiewohl es lohnenswert wäre. Meine Sorge, meine Vermutung ist aber, daß die Bundesregierung dieses Weißbuch bis zur Stunde schlicht verschlafen hat. Ich habe nicht eine einzige Initiative der deutschen Bundesregierung in den letzten zwölf Monaten kennengelernt, die in irgendeinem Bezug zu den zahllosen beschäftigungspolitischen Vorschlägen der Europäischen Kommission in Brüssel gestanden hätte. Das ist eine völlige Bankrotterklärung Ihrer Regierung. Kein einziger Punkt wurde aufgegriffen. ({14}) Die Erklärung gibt der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors. Er hat in einem Interview im April dieses Jahres gesagt - ich denke zu Recht -: Aber das Weißbuch ist wirklich das einzige, was eine mittel- und langfristige Perspektive anbietet. Denn die Regierungen sind kurzsichtig geworden und denken nur an kurzsichtige Maßnahmen. Das Weißbuch blickt in die Zukunft. Und in Richtung Zukunft schauen heißt schon anfangen, die Dinge zu verändern. Er macht also den Vorhalt: Die Regierungen sind beschäftigungspolitisch kurzsichtig geworden. Ich frage die Bundesregierung: Halten Sie das Ziel der EG-Kommission, Halbierung der Arbeitslosenquote bis zum Jahr 2000, für realistisch? Ich frage: Welche Vorschläge wollen Sie jetzt, ein Jahr später, aufgreifen? Welche Instrumente, die dort vorgeschlagen worden sind, lehnen Sie ab - und gegebenenfalls mit welcher Begründung? Welche beschäftigungspolitischen Initiativen beabsichtigen Sie, Herr Minister, im Rahmen der EG-Ratspräsidentschaft? Auch Sie sind ja eine Art Präsident bei den Arbeitsministern - ein zwar etwas kleiner Präsident, aber Sie sind immerhin Präsident! ({15}) Was schlagen Sie im Bereich der beschäftigungspolitischen Initiativen vor, die das EG-Weißbuch - vor einem Jahr, wohlgemerkt - präsentiert hat? Das EG-Weißbuch warnt im übrigen ausdrücklich vor einer Strategie, die in der Bundesregierung viel Sympathie findet, nämlich vor einer deutlichen Lohndifferenzierung nach unten. Ich zitiere: So würde insbesondere die breitere Lohndifferenzierung nach unten zu einem realen Rückgang der Löhne führen. Dies wäre aber nur dann machbar, wenn auch die Arbeitslosen- und Sozialversicherungsleistungen gesenkt würden. Zusammen mit der Ausdehnung der Teilzeitarbeit würde dies bei sonst gleichen Voraussetzungen auch die bestehende Einkommensverteilung noch ungleicher machen und könnte eine neue Kategorie von erwerbstätigen Armen schaffen, die von ihrem Lohn nicht annehmbar leben könnten und so in ähnlicher Weise marginalisiert würden wie die Arbeitslosen. Es gibt in Ihren Koalitionsvereinbarungen eine Reihe von Hinweisen, daß Sie genau dies wollen, nämlich die Lohndifferenzierung nach unten schieben. Wir kriegen dann in Deutschland das, was wir in den Vereinigten Staaten längst haben, nämlich arme Erwerbstätige, für die das Einkommen nicht ausreicht, ein auskömmliches Leben zu führen. Gerade das werden wir nicht mitmachen. ({16}) Ich will Sie im übrigen darauf hinweisen, daß Überlegungen dieser Art ein offenkundiger Beleg dafür sind, daß Sie die unteren Tarifeinkommen nicht kennen, daß Sie nicht mehr wissen, Herr Kollege Waigel, daß z. B. eine alleinerziehende Verkäuferin bei voller Arbeitszeit in einem Jahr weniger Erwerbseinkommen hat, als hochverdienende Spitzenverdiener über das Ehegattensplitting vom Staat steuerlich geschenkt bekommen. Also, Wirtschaftswachstum allein wird nicht ausreichen. Alle Prognosen, die ich kenne, signalisieren, daß wir über wirtschaftliche Wachstumsraten in den nächsten Jahren bestenfalls geringfügige zusätzliche Beschäftigungseffekte haben werden, weil - das ist die Erklärung - wir davon auszugehen haben, daß nach der Konjunkturkrise die Arbeitsproduktivität ebenfalls in hohem Maße steigt. Wenn aber das Wirtschaftswachstum Beschäftigungseffekte erzeugt, die keinesfalls auch nur halbwegs ausreichen werden, eine Antwort auf das Problem der Massenarbeitslosigkeit zu geben, was schlagen Sie dann vor? Davon war hier in der Wirtschafts- und Sozialdebatte bis zur Stunde nichts zu hören. Ich sage Ihnen: Eine erste Antwort ist die Arbeitsmarktpolitik. Nun kommen Sie mir nicht mit dem geradezu blödsinnigen Vorwurf, die Sozialdemokraten wollten eine ABM-Gesellschaft. ({17}) - Offenkundig ist Ihre Dummheit kaum zu überschätzen. Jetzt kommt der Vorwurf schon wieder mit dem Zwischenruf: „Wollt ihr doch!" - Wenn die Prognosen richtig sind, daß wir über wirtschaftliche Wachstumsprozesse in den nächsten Jahren das Problem der Arbeitslosigkeit auch nicht annähernd in den Griff kriegen, dann muß man sich doch ernsthaft überlegen, ob nicht eine sinnvolle und expansive Arbeitsmarktpolitik - zumindest für einige Jahre - eine Alternative zu der horrend hohen Langzeitarbeitslosigkeit darstellt. ({18}) Was ist denn Ihre Alternative dazu? Ihre Alternative dazu ist, daß Sie in Kauf nehmen, daß die Langzeitarbeitslosigkeit enorm steigt. ({19}) - Das ist kein Unsinn. Wir haben gegenwärtig schon weit über 1 Million Langzeitarbeitslose. Ich möchte ganz gerne einmal sehen, wenn Sie ein oder zwei Jahre arbeitslos wären, wie sich Ihr Befinden dann darstellt, Herr Kollege Kauder. Darüber läßt sich locker reden, wenn man nicht selber betroffen ist. - Wenn es keine andere Alternative gibt, ist mir eine expansive Arbeitsmarktpolitik - berufliche Bildung, Fortbildung, Umschulung, sinnvolle öffentliche Projekte - allemal lieber als die stumpfsinnigste Alternative, nämlich Langzeitarbeitslosigkeit tatenlos hinzunehmen. ({20}) Nun will ich Ihnen sagen: Der arbeitsmarktpolitische Teil Ihres Haushaltsentwurfs, Herr Dr. Blüm, befindet sich in völligem Widerspruch zu den Forderungen auch der EG-Kommission. Im Weißbuch „Wachstum und Beschäftigung" heißt es: „Es ist nicht länger möglich, die hohe Zahl der Arbeitslosen in Europa als unvermeidliche Gegebenheit hinzunehmen. " Diese Einstellung kommt jedoch in der Struktur der Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung zum Ausdruck. Und weiter schreibt die EG-Kommission: „Rund zwei Drittel der öffentlichen Ausgaben zugunsten der Arbeitslosen bestehen in Beihilfen ({21}) und nur ein Drittel in aktiven Maßnahmen. Hier müssen alle vollständig umdenken." Bei Ihnen sind es inzwischen mehr als zwei Drittel! Rund 70 % der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr - die Arbeitslosenhilfe gar nicht mal eingerechnet - bewegen sich im Bereich der passiven Leistungen in den verschiedensten Varianten. ({22}) - Das stimmt sehr wohl, wenn man zu den aktiven Leistungen nur die rechnet, die entweder direkte gesellschaftliche Wertschöpfung sind oder als Vorbereitung, etwa in Form von beruflichen Qualifizierungen, auf Wertschöpfungsprozesse zu interpretieren sind. Von Umdenken kann bei dieser Bundesregierung überhaupt keine Rede sein. Der von der EU-Kommission massiv kritisierte falsche Weg wird im nächsten Jahr - ausweislich Ihres Entwurfs - sogar beschleunigt fortgesetzt. Im Haushaltsentwurf steigen die Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe kräftig an. Gleichzeitig wird der Bundeszuschuß an die Bundesanstalt gekürzt. Welche Perspektiven haben Sie eigentlich für die nunmehr über 1 Million Langzeitarbeitslosen? - Bitte, Herr Dr. Blüm oder Herr Dr. Theodor Waigel: Sie sind doch auch Experte auf diesem Feld. Was sind Ihre Perspektiven angesichts des Zuschnittes dieses Haushaltes? Ich könnte Ihnen jetzt seitenlang aus einer Resolution des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit zitieren. Der Grundtenor dieser Resolution - ich will mir das ganze Zitat ersparen, weil meine Redezeit eh nicht ausreicht - lautet: Wir brauchen mehr aktive Arbeitsmarktpolitik, weil es für die Langzeitarbeitslosen keine andere Alternative gibt. ({23}) Wie stehen Sie zur Resolution des Verwaltungsrates? Ich frage Sie! Wie stehen Sie zu den Beschäftigungshilfen für Langzeitarbeitslose, die jetzt auslaufen? Sollen die verlängert werden? Der Verwaltungsrat selbst hat in seinem eigenen Etatbeschluß einen deutlichen Akzent auf die aktive Arbeitsmarktpolitik gesetzt. Sie versuchen, mit dem Haushaltsentwurf des Bundes all diese Maßnahmen, die in die richtige Richtung zielen, zurückzuschneiden, zu stutzen, in die umgekehrte Richtung zu führen. Wir befinden uns in der Frage der Ausweitung der aktiven Arbeitsmarktpolitik zumindest für einige Jahre in voller Übereinstimmung mit dem Papier der beiden Kirchen. Wir befinden uns in Übereinstimmung mit einer gemeinsamen Erklärung der IG Metall und von Gesamtmetall, die allesamt darauf drängen, daß der Anteil der aktiven Maßnahmen - insbesondere Strukturverbesserung und -anpassung, berufliche Bildung usw. - deutlich ausgeweitet wird. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen Vorschlägen bei den anstehenden Gesprächen mit den Tarifvertragsparteien endlich zum Durchbruch zu verhelfen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte gerade dem Kollegen Blüm noch eine Zwischenfrage stellen. Der hat nämlich 1991 in einer Hochglanzbroschüre des Bundesarbeitsministeriums geschrieben: Arbeit fördern ist nicht teurer als Arbeitslosigkeit finanzieren.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, lassen Sie die Zwischenfrage jetzt zu, die der Kollege Schemken stellen möchte?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen Moment, ich will nur noch die Frage an den Kollegen Blüm los werden, dann kann er gerne seine Zwischenfrage stellen. - Kollege Blüm hat also geschrieben: Arbeit fördern ist nicht teurer als Arbeitslosigkeit finanzieren. - Wenn es also keine finanziellen Gründe sind, was sind denn dann die Gründe, daß Sie den Anteil der aktiven Maßnahmen weiter zurückschrauben? Das einzige, was wirklich steigt, sind die Mittel für die Arbeitslosenhilfe. Das ist das einzige, was wirklich nach oben geht. Das ist Ausdruck von nichts anderem als wachsender Langzeitarbeitslosigkeit. Wie sieht das der Herr Dr. Blüm? Sie bewegen sich in völligem Widerspruch zu Ihren eigenen Erkenntnissen! Wo liegen die wahren Gründe für diesen reaktionären Haushaltszuschnitt? ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Blüm zu?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich habe sie geradezu bewirken wollen.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, würden Sie 15 Milliarden DM für Fortbildung und Umschulung und knapp 10 Milliarden DM für ABM in Ihrer Rechnung als nichts bezeichnen?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bezeichne das nicht als nichts. Aber diese Beträge stehen in überhaupt keiner Relation zu den Kostenvoranschlägen für Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld und den Kosten bei der Sozialhilfe. Übrigens muß man bei den passiven Leistungen auch noch Altersübergangsgeld und Vorruhestandsleistungen einrechnen, denen ja ebenfalls keine Wertschöpfung gegenübersteht. Die zentrale Kritik der EG-Kommission ist - und sie sagt, wir müssen umdenken -, daß zwei Drittel der Ausgaben - bei Ihnen sind es inzwischen mehr, 70 % - in die passive Finanzierung fließen anstatt in die aktive Arbeitsförderung. Das ist die Kritik! ({0}) Lassen Sie mich noch einige wenige Sätze zum Umbau des Sozialstaats sagen. Ich bin jetzt leider wirklich etwas knapp mit der Zeit. ({1}) Ich könnte Ihnen etwas zur Arbeitszeit sagen. Gestern war eine Pressemeldung des Vorsitzenden der IG Metall zu lesen. Überschrift: "IG Metall fordert Abbau von Überstunden". In der Meldung heißt es dann: Die Metallgewerkschaft hat von den westdeutschen Unternehmen Neueinstellungen statt Überstunden gefordert. Wie IG Metall-Chef Klaus Zwickel am Dienstag vor Gewerkschaften in Frankfurt am Main betonte, könnten rund 100 000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn die Metallunternehmen auf 2 bis 3 Prozent Mehrarbeit verzichteten. Seit Juli dieses Jahres seien die Überstunden in der metallverarbeitenden Industrie um 30 Prozent, in der Automobilindustrie sogar um 60 Prozent gestiegen. Herr Kollege Blüm, es macht überhaupt keinen Sinn, diese Äußerungen mit einer Unschuldsmiene zu begleiten. Sie sind wesentlich mitverantwortlich dafür, daß es über die Arbeitszeitgestaltung nicht zu ausreichenden Beschäftigungseffekten kommt, ({2}) weil Sie im Sommer dieses Jahres ein Arbeitszeitgesetz verabschiedet haben, das insgesamt eine Wochenarbeitszeit bis zu 60 Stunden hinzunehmen bereit ist. Ich sage Ihnen, nicht die Gewerkschaften sind die Betonköpfe. Die Gewerkschaften haben in den letzten Jahren sehr viel Flexibilität an den Tag gelegt. ({3}) Stichwort: Maschinenlaufzeiten, Stichwort: Teilzeit usw. Die wahren Betonköpfe sitzen in manchen Chefetagen der deutschen Unternehmerschaft, wo beschäftigungspolitische Verantwortung weder gesehen noch wahrgenommen wird. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schreiner, ich muß Sie noch einmal fragen, ob Sie bereit sind, eine Zwischenfrage des Kollegen Schemken zuzulassen.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, der Kollege Schemken ist ein Kolping-Freund, und ich erwarte eine freundliche Zwischenfrage. Bitte schön! ({0})

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, Sie haben soeben aus der Resolution des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit zitiert. Sie haben im weiteren Verlauf die Forderungen der IG Metall und der Kirchen - der EKD und auch der Bischofskonferenz - zitiert. ({0}) Sind Sie mit mir einig, daß alle diese Forderungen - auch die Resolution, die der Verwaltungsrat der Bundesanstalt für Arbeit selbst gefaßt hat - an die Bundesanstalt für Arbeit selber gerichtet sind, weil in der Bundesanstalt Arbeitnehmerschaft und Arbeitgeberschaft in der Selbstverwaltung zusammenwirken? So ist es gedacht, so ist dieser Appell. Sind Sie mit mir einig, daß dieser Appell sicherlich gerade auch an die im Tarifbereich Verantwortlichen gerichtet ist?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das war jetzt wirklich eine ziemlich alberne Zwischenfrage. ({0}) Sie wissen doch selbst, daß die Vorschläge der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit jederzeit über den Haushaltsentwurf des Bundesarbeitsministeriums korrigiert werden können, und sie sind wieder genau in die falsche Richtung korrigiert worden. ({1}) Sie reden sonntags pausenlos über Selbstverwaltung, und wenn die Selbstverwaltung vernünftige Vorschläge macht, dann werden die von der Bundesregierung zurechtgestutzt. Was hat es denn noch für einen Sinn mit dieser Selbstverwaltung, wenn sie faktisch keine Möglichkeiten hat, ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen? Sie reden nur noch davon, Sie handeln nicht mehr. ({2}) Meine Damen und Herren, ich hatte beabsichtigt, noch längere Ausführungen zu den wirklichen Umbauproblemen zu machen. ({3}) - Ja, da würden Sie sich aber sehr wundern. - Ich könnte Sie z. B. einmal fragen: Was macht denn die Bundesregierung in diesem Haushalt im Hinblick auf ein zentrales Problem, nämlich daß wir im Zuge einer älter werdenden Bevölkerung auch gleichzeitig älter werdende Belegschaften kriegen? Was macht die Bundesregierung eigentlich dagegen, daß in Deutschland nur ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn sie aus der Erwerbsarbeit ausscheiden, das Rentenalter gesund erreicht? Wir haben eine extrem hohe Frühinvaliditätsquote auf Grund von arbeitsbedingten Erkrankungen und Invaliditäten. Was machen Sie in Richtung Arbeitsschutz? - Sie stutzen den kümmerlichen Haushalt der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zusammen und ziehen ein Arbeitsschutzrahmengesetz, das Sie im Sommer dieses Jahres eingebracht haben, nach wenigen Wochen kläglich zurück. Das ist Ihre Antwort auf Umbaunotwendigkeiten. Was machen Sie mit Blick auf die Forderung nach einer neuen preislichen Bewertung der Produktionsfaktoren Energie und Arbeit? Ich darf Ihnen zum Schluß zitieren

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Schreiner, bitte zitieren Sie nichts mehr. Sie haben noch einen Satz.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich zitiere: Gegenwärtig wird durch unser Steuer- und Abgabensystem - wider alle ökonomische Vernunft Ottmar Schreiner das besonders teuer gemacht, wovon wir gegenwärtig im Überfluß haben: Arbeit. Dagegen ist das, woran wir - zumal unter globalen Gesichtspunkten - eigentlich sparen müßten und dessen Knappheit uns immer deutlicher vor Augen tritt in einem Zeitalter, in dem bei jeder Entscheidung auch ökologische Gesichtspunkte eine Rolle spielen müssen, viel billiger: Energie und Rohstoffe. Ökonomisch wie ökologisch sinnvoller wäre es, im Mix der Produktionsfaktoren menschliche Arbeit billiger zu machen und im Gegensatz den Verbrauch von Rohstoffen und Energie zu verteuern. ({0}) Dieses Zitat -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Schreiner, Sie sind ein gutes Stück über Ihre Redezeit. Ihre Zeit geht dem nächsten Kollegen Ihrer Fraktion ab.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann darf ich das damit abschließen. Dieses Zitat, diese frohe Botschaft stammt aus den Händen der konservativen Großfestung Wolfgang Schäuble. Wo schlägt sich das in irgendeiner Form in der Regierungserklärung, in den Koalitionsvereinbarungen oder in den Haushalten der Ministerien nieder?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Schreiner, bitte!

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen letzten Satz, Herr Präsident.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das ist schon der x-te letzte Satz.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine persönliche Bemerkung, bitte. - Herr Blüm, Sie haben am 7. September -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nein, Herr Schreiner, das geht nicht.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, es geht wirklich um ein hohes Anliegen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nein, das geht nicht. Ihre Redezeit ist endgültig zu Ende. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann schönen Dank für die Aufmerksamkeit. Ihnen ist manches erspart geblieben. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein Redner seine Zeit weit überschreitet und seine Fraktion möchte, daß er ausredet, muß sie Zusatzzeit anmelden. Diese Zeit geht so oder so dem nächsten Redner seiner Fraktion ab. Wenn der amtierende Präsident sagt, die Redezeit ist schon ein Stück überschritten, dann darf bitte nur noch ein einziger Satz folgen. Es ist nicht fair, dann noch mit mehreren Zitaten zu kommen. ({0}) - Herr Schreiner, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede ein Versprechen in bezug auf Adventsstimmung und Lautstärke gegeben, das Sie sofort gebrochen haben. ({1}) Ich erteile als nächster Rednerin der Kollegin Andrea Fischer das Wort.

Andrea Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002652, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es waren die GRÜNEN, die vor zehn, fünfzehn Jahren den Begriff des Umbaus des Sozialstaates eingeführt haben. Damals verbanden wir damit die Idee, den Sozialstaat an neue, veränderte Lebensverhältnisse anzupassen, um ihn damit zukunftsfähig zu machen. Seitdem der Verdacht bei uns immer größer wird, daß mit Umbau im wesentlichen Abbau gemeint ist, geben wir dieses Wort gerne an Sie zur geneigten Verwendung weiter. Es gibt noch ein anderes Wort, das im Moment der letzte Schlager auf dem politischen Markt ist. Das ist das Wort von der Modernisierung des Sozialstaats. Die SPD hat das ein bißchen spät gemerkt und läuft nun etwas kopflos hinterher, um herauszufinden, was das auf sozialdemokratisch heißt. ({0}) Meine Damen und Herren von der SPD, die CDU spielt in Sachen Sozialmißbrauch Schach. Da können Sie nicht mit „Fang den Hut" hinterherhüpfen. ({1}) Denn hier werden im Moment die Spielregeln neu ausgehandelt. Nach meiner Auffassung wird die Auseinandersetzung über die Zukunft des Sozialen jedoch zwischen zwei falschen Polen geführt. Die eine Alternative ist, daß man einfach den Status quo erhalten möchte, die andere, daß der Sozialstaat so lange hemmungslos abgebaut wird, bis die Leute gar nicht mehr wissen, was das eigentlich ist: Sozialstaat. ({2}) Ich glaube, daß das eine falsche Alternative ist. Ich würde hier gern über das Problem reden, daß die herrschende Sozialstaatspolitik einen ganz stark vormundschaftlichen Charakter hat. Herr Blüm, Sie haben vorhin gesagt, Ihr Ziel sei der selbstverantwortliche Mensch. Ich weiß nicht, ob wir den schaffen müssen. Ich glaube viel eher, daß eine moderne Sozialstaatspolitik die Ansprüche der Menschen auf Selbstbestimmung und Autonomie - die sie längst haben - ernst nehmen muß. ({3}) Andrea Fischer ({4}) Moderne soziale Politik muß die Menschen dabei unterstützen, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen, und zwar auch und gerade in Lebenssituationen, in denen ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist. Ich möchte das gern an zwei Lebenslagen deutlich machen, an denen sich zeigt, daß die Sozialpolitik zur Zeit einiges falsch macht. Zunächst zur Arbeitsmarktpolitik: Sie, Herr Minister Blüm, lassen zu, daß die Arbeitslosen zur Zeit zur Manövriermasse einer ratlosen Finanzpolitik werden, auch wenn Sie im Moment die Begrenzung des Arbeitslosenhilfebezugs auf zwei Jahre vertagt haben. Nach meinem Eindruck ist das nicht aus tieferer Einsicht geschehen, sondern weil Sie wissen, daß die Bündnisgrünen und die SPD Ihnen das im Bundesrat nicht durchgehen lassen werden. Die Sachargumente hingegen scheinen mir an Ihnen immer abzuprallen, nämlich daß Langzeitarbeitslosen nur mit aktiver Arbeitsmarktpolitik geholfen werden kann, nicht mit dem Abschieben in die Sozialhilfe. Die erneute Überwälzung der Kosten auf die Kommunen würde deren Handlungsspielraum wirlich bis zur Unkenntlichkeit einschränken. Das kann doch nicht Ihr Verständnis von Subsidiarität sein, die untersten Ebenen des politischen Handelns zu reinen Wurmfortsätzen der Bundespolitik zu machen und ihnen jede Gestaltungsmöglichkeit zu nehmen. ({5}) Sie haben in der Regierungserklärung von Brücken gesprochen, die Sie den Arbeitslosen bauen wollen. Damit bin ich sehr einverstanden, Herr Minister Blüm. Aber das, was Sie zusammen mit Herrn Minister Waigel aktuell betreiben, wenn Sie solche Pläne pflegen, ist das Gegenteil: Sie bauen den Arbeitenlosen Rutschbahnen in die Sozialhilfe. ({6}) Dann gibt es Ihren Konflikt mit der Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit. Sie können doch nicht einerseits über die Langzeitarbeitslosigkeit klagen, wie Sie es gerade soeben getan haben, und andererseits Gelder von der Bundesanstalt zurückhaben wollen - ich meine damit die Gelder für die berufliche Bildung und für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen -, mit denen genau diese Brücken gebaut werden sollen. Das ist doch ein Widerspruch. Wenn Sie davon sprechen, daß Sie die Arbeitslosen an die Hand nehmen, dann habe ich den Eindruck, daß diese Hand vor allen Dingen leer ist. ({7}) Ich glaube, es wäre ein wirklicher Befreiungsschlag, wenn sich die Bundesregierung von ihrer ideologischen Ablehnung der Arbeitsförderungspolitik lösen könnte. Dann könnten wir gemeinsam nach einer konzeptionellen Neugestaltung der Arbeitsförderung suchen, um zu einer Arbeitsförderung aus einer Hand zu kommen, die den Arbeitslosen tatsächlich die Brücken zurück in die Beschäftigung baut, nach denen sie suchen. Ich möchte jetzt über Ihr Lieblingskind sprechen, Herr Minister Blüm, die Pflegeversicherung. In der Kleinkindphase verlangen die lieben Kleinen nach besonders viel und intensiver Betreuung durch den Vater. Aber dieser Vater hat, glaube ich, gerade bei der Geburtshilfe einige Fehler gemacht, so daß dieser kleine Wurm keine ganz so rosige Zukunft vor sich hat. Ich würde mich gern an der Kinderbetreuung beteiligen. ({8}) Sie wundern sich darüber, daß es weiterhin Debatten über die Feiertagslösung und ähnliches gibt. Die Finanzierungslösung, die Sie so nennen, ist so verquast, daß Sie sich nicht wundern dürfen, daß sie Ihnen dauernd auf die Füße fällt. Aber ich will hier gar nicht ein weiteres Mal darüber reden, daß Sie hier einen Systembruch begangen haben, indem Sie zum ersten Mal die Arbeitgeber aus der Verantwortung für die gemeinsame Finanzierung der sozialen Sicherung entlassen haben. ({9}) Ich möchte heute vielmehr über einen Aspekt reden, der über dem Drama um die Finanzierung der Pflegeversicherung völlig aus dem Blick geraten ist, nämlich über die Qualität. Für die Betroffenen ist es längst offenbar, aber öffentlich wird es bislang kaum besprochen, wo die Problempunkte liegen. Hier nenne ich beispielhaft die Konkretisierung der Pflegeversicherung in Form der Einteilung in Pflegestufen, die kürzlich erfolgte Erschwerung des Zugangs zur Eingangsstufe in der Pflegeversicherung und die Tatsache, daß es noch kein Konzept für die Realisierung des Prinzips „Rehabilitation vor Pflege" gibt. Diese und andere Mängel verbessern die Situation der Pflegenden und der Pflegebedürftigen nicht. Zunächst einmal verschieben Sie einfach nur Gelder zwischen verschiedenen Trägern. ({10}) Die Pflegepolitik muß demgegenüber die Grenzen zwischen Pflegebedürftigkeit und einem Leben ohne Pflege fließender machen. Die Pflegepolitik muß die Selbständigkeit der Pflegebedürftigen unterstützen, wo immer dies möglich ist. Die Pflegepolitik muß einen Rahmen schaffen, der den privaten Pflegepersonen ihre wertvolle Arbeit erleichtert. Wie wenig ganz offenkundig den Vätern und Müttern der Pflegeversicherung die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen gilt und welch ein verkürztes Verständnis sie von dieser Lebenssituation haben, zeigt sich meines Erachtens exemplarisch an der Bestimmung, daß die Leistungen der Versicherung bei einem Auslandsaufenthalt ruhen. Wissen Sie, was das für Tausende von Behinderten heißt? - Faktisch ein Ausreiseverbot! ({11}) Eine moderne Pflegepolitik muß die Rechte der Pflegebedürftigen stärken, ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung unterstützen, und sie muß durch ein flexibles dezentrales Netz von Sozialstationen und anderen Institutionen die Strukturen schaffen, innerhalb deren Gemeinsinn gelebt werden kann. Die Pflegenden brauchen vielfältige Unterstützung, denn Andrea Fischer ({12}) wir können von ihnen nicht verlangen, daß sie alle Helden und Heldinnen sind. In diesem Zusammenhang habe ich sehr gern von Ihnen gehört, Herr Minister Blüm, daß Sie eine Infrastruktur von sozialen Hilfen schaffen wollen. Da würden wir gern mitarbeiten, weil uns dieses als eine der entscheidenden politischen Aufgaben zur Umsetzung der Pflegeversicherung erscheint. ({13}) Für uns Bündnisgrüne sind Subsidiarität und Eigenverantwortung keine Zauberformeln, um sich aus der finanziellen Verantwortung zu stehlen. Ohne eine solidarische Übernahme der Lasten wird die Zukunftsfähigkeit der neuen Versicherung nicht zu sichern sein. Es kann sogar sein, daß die Pflegeversicherung auf Dauer nicht ohne einen Bundeszuschuß auskommt. Wir können uns darüber hinaus im Rahmen der Pflegeversicherung eine ergänzende Kapitalbildung vorstellen, damit auch bei veränderter demographischer Situation die Lasten gemeinsam von allen getragen werden können. ({14}) - Frau Babel, ich habe mir gedacht, daß Sie glauben, daß ich Ihnen damit entgegenkomme. Ich habe gesagt: innerhalb der Umlagefinanzierung und um die Lasten gemeinsam tragen zu können. Ich möchte auch noch folgendes klarstellen: Wenn ich hier die ganze Zeit von Selbstbestimmung rede, dann meine ich damit nicht die Eigenverantwortung, von der gerade Sie von der F.D.P. so gerne sprechen. ({15}) Denn für Sie bedeutet Eigenverantwortung in der Regel nichts anderes als die Re-Privatisierung von sozialen Risiken. ({16}) - Geben Sie mir bitte eine Chance, meinen Satz zu Ende zu führen. Ich glaube, das ist ein vormodernes Verständnis von Liberalismus. Individuelle Lebensentwürfe zu verfolgen setzt zwangsläufig ein soziales Netz voraus; sonst wird es zu einem Drahtseilakt mit Absturzgefahr. ({17}) Selbstbestimmung ist auf Unterstützung angewiesen. Auch Solidarität können wir nicht einfach beschwören. Solidarität braucht Ermutigung, damit Gemeinsinn gelebt werden kann. Diese Ermutigung durch formale und auch finanzielle Unterstützung zu leisten, macht in meinen Augen und in den Augen der Bündnisgrünen ein modernes Sozialstaatsprojekt aus. ({18}) Wenn wir, ausgehend von diesem Gedanken der Ermutigung zum Gemeinsinn, den Sozialstaat modernisieren, dann, glaube ich, können wir auch die Zustimmung der Menschen zu diesem Sozialstaatsprojekt gewinnen. Denn ohne diese Zustimmung hat der Sozialstaat allemal keine Zukunft. Ich danke Ihnen. ({19})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Gisela Babel, Sie haben das Wort. ({0})

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Andres, vielleicht kommen wir noch zu diesem Thema. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim Haushalt des Bundesarbeitsministers, Einzelplan 11, bricht regelmäßig eine Fachdebatte über die Arbeitsmarktpolitik aus. Arbeitsmarktpolitik ist derzeit sicher das undankbarste und schwierigste Feld. Sie gilt als erfolgreich, wenn die Zahl der Beschäftigten steigt und die Zahl der Arbeitslosen sinkt; sie gilt als nicht erfolgreich, wenn Arbeitslosigkeit sich ausbreitet oder stagniert. Eigentlich müßten Sie aber auch dann, wenn Sie diesen Erfolgsmaßstab anwenden, von seiten der Opposition anerkennen, daß die Arbeitsmarktpolitik einige Erfolge aufweisen kann. Die Zahl der Arbeitslosen geht zum erstenmal zurück. Sie sollten solche positiven Signale durchaus würdigen. Im Osten sank die Zahl der Arbeitslosen von August bis November allein um 1,7 Prozentpunkte und liegt erstmals unter einer Million. Natürlich ist eine Million noch eine bedrückend hohe Zahl, meine Damen und Herren. Aber es ist ein Signal, daß wir sagen können: Es ist gelungen, die Zahl der Arbeitslosen zu senken. Die Zahl der Kurzarbeiter im Westen der Bundesrepublik hat sich innerhalb eines Jahres um mehr als zwei Drittel vermindert. Wir verschweigen ja nicht: Die Zahl der Arbeitslosen, in Millionen gezählt, ist zu hoch. Aber, meine Damen und Herren, der Staat, allen voran der Bund, nämlich die Bundesanstalt für Arbeit, aber auch die Länder, unternimmt ja große Anstrengungen auf diesem Gebiet; der Staat gibt viel Geld aus; er erörtert viele Strategien; und er betet das Gebet von Geschäftigkeit und Verantwortung. Mit neuen Heilsworten wie Industriepolitik, mit neuen Verhandlungsrunden, dem Tisch der kollektiven Vernunft beim Kanzler, an dem dann auch Gewerkschafter erscheinen können und Industrievertreter Platz nehmen werden, wird der Öffentlichkeit vorgespielt, daß sich der Staat nicht nur verantwortlich fühlt und nicht nur verantwortlich handeln will, nein, daß er es im Grunde in der Hand hat, Arbeitsplätze entstehen zu lassen und Arbeitsplätze zu erhalten. Die staatsgläubigen Parteien nähren diese Glaubensgrundsätze. Die Opposition - nun haben wir ja eine ganze Staffel von Sprintern auf der Strecke, die alle Fackeln der Beschäftigungspolitik durch die Arena tragen und einander mit Forderungen nach mehr Geld für die Sicherung der Beschäftigung und mehr Geld für Qualifikation überbieten - fordert ein noch stärkeres Eingreifen des Staates in Wirtschaft und Beschäftigung. Meine Damen und Herren, trotz all dieser vorgegaukelten Geschäftigkeit ist unser Einfluß auf unternehmerische Entscheidungen, die allein für reguläre Beschäftigung sorgen, nicht sehr groß. Das läßt sich daran ablesen, daß die deutsche Wirtschaft im Jahre 1993 weit mehr im Ausland investiert hat als ausländische Firmen in der Bundesrepublik. Das jüngste Beispiel, über das in der Haushaltsdebatte und auch in den anderen Bereichen mehrmals gesprochen worden ist, ist die Entscheidung von Mercedes Benz, das Swatch-Auto in Frankreich zu bauen, und dort werden Arbeitsplätze entstehen. Es kann in solchen großen Runden nicht gelingen, die Rahmenbedingungen für die neuen Arbeitsplätze so kurzfristig zu verbessern. Wir sollten diesen Eindruck auch nicht erwecken. Die Personalzusatzkosten in einer Höhe von 40 % mit Arbeitgeberanteil werden nur in einem mühsamen Prozeß vermindert werden. Das gleiche gilt für die schon mehrfach genannte Dauer der Genehmigungsverfahren. Sie wird auch nicht nach einer erfolgreichen Runde beim Kanzler schon auf ein Maß geschrumpft sein, das etwa mit Belgien vergleichbar wäre, wo diese Genehmigungsverfahren halb so lang sind wie in Deutschland. Die eigentlichen Probleme liegen ja hier. Das wissen wir, und deswegen müssen wir uns dies mit Bescheidenheit in bezug auf die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik vor Augen führen. Meine Damen und Herren, für uns steht im Vordergrund, die Anreize zu schaffen. Wir können, ohne daß im ersten Arbeitsmarkt Schaden entsteht, nicht die Frage beantworten, wie wir wirklich alle, die Arbeit suchen, in Arbeit bringen. Aber wir müssen die Aufnahme von Arbeit lohnend machen, und wir sollten auch in Zukunft mit Geld sparsamer umgehen. Insofern spricht einiges durchaus für Veränderungen in der Arbeitslosenhilfe. Wir könnten ihre Dauer von der Dauer der Beitragsjahre abhängig machen. Das würde junge Leute anspornen, sich um einen Arbeitsplatz auf dem normalen Arbeitsmarkt zu bewerben. ({0}) Ältere Arbeitslose könnte ich mir durchaus mit großzügigen Fristen vorstellen, möglicherweise bis zur Rente.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte das nicht gern. ({0}) Ich habe nicht soviel Redezeit. ({1}) Durch eine solche Befristung würden auch die ortsnäheren Sozialämter früher mit der Bedürftigkeitsprüfung befaßt. Die Sozialämter haben das nötige Rüstzeug dazu. Die Finanzierung ist ein völlig gesondertes Problem. Ich bin nicht der Meinung, daß wir darüber den Haushalt des Bundes sanieren sollten; aber sozialpolitisch müssen wir uns mit solchen Konzepten doch auseinandersetzen. ({2}) Zum verbesserten Mitteleinsatz in der Arbeitsmarktpolitik. Meine Damen und Herren, wir erleben jedes Jahr von neuem ein Schauspiel, und zwar im Spätherbst. Nicht nur, daß die Blätter fallen; im Spätherbst setzt bei uns auch die Wanderung ein. Die Millionen wandern nämlich dort, wo sie nicht ausgegeben werden konnten, weil AB-Maßnahmen nicht eingerichtet wurden, an Arbeitsämter, die dynamisch zugreifen und auf einmal 70, 80 oder über 100 AB-Maßnahmen finanzieren können. Dieses gilt dann als ein Ausdruck höchst aktiver Arbeitsmarktpolitik. Meine Damen und Herren, das kann auch nicht richtig sein. Ich weiß, daß es die Bindung an die Kameralistik ist, die einen solchen Prozeß hervorruft. Aber es ist sozialpolitisch, arbeitsmarktpolitisch nicht sehr sinnvoll. ({3}) Wir sollten dafür sorgen, daß bei den AB-Maßnahmen im Grunde dort geholfen wird, wo die Probleme besonders schwierig sind, wo die Strukturumwandlung besonders harte Folgen hat. Noch ein Wort dazu. Es hat sich erwiesen, daß die AB-Maßnahme, wenn sie von der mittelständischen Wirtschaft eingerichtet wird, sehr oft zu einer dauerhaften Beschäftigung führt. Wir müßten auch hier Erfolgskontrollen anmahnen. Dann könnten wir in Zukunft einen Schwerpunkt setzen und sagen: Hier sind AB-Maßnahmen besonders zukunftszugewandt und aussichtsreich. ({4}) Ein Wort noch zur privaten Arbeitsvermittlung. Das Thema ist ja in der Diskussion gewesen. Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, daß der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit die privaten Arbeitsvermittler rügt und an ihnen etwas auszusetzen hat. Es ergibt sich die Frage, warum der größte Konkurrent der privaten Arbeitsvermittler dafür sorgt, daß hier eine Art Kontrolle ausgeübt wird. Das Gesetz wäre ja nicht gekommen, wenn wir diese Aufgabe den Gewerbeaufsichtsämtern übergeben hätten. Die hätten das gern getan. Wenn ich es recht verstanden habe, waren Sie nicht bereit, ein solches Gesetz mitzutragen. Die SPD wollte es im Bundesrat nicht. Ich hoffe aber, der Präsident der Bundesanstalt ist sich der Tatsache bewußt, daß, wenn er sich kritisch äußert, immer auch der Verdacht naheliegen könnte - ich sage es vorsichtig -, er sei befangen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Babel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Beck, es tut mir leid, auch Ihnen muß ich das nächste Mal eine Zwischenfrage gestatten. Aber ich kann ja nicht immer zu den Fragen von Herrn Gilges nein sagen. - Bitte schön.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, daß sich insbesondere auf Grund der Berichte der Verwaltungsausschüsse der Arbeitsämter herausstellt, daß die privaten Arbeitsvermittler überhaupt nicht bereit sind, die Intention, die Sie und die CDU/CSU-Fraktion gehabt haben, aufzunehmen, sondern ihre Funktion einzig und allein darin sehen - so heißt es auch in ihren Schreiben -, Beschäftigte aus Arbeitsverhältnissen abzuwerben, um sie zu besseren Bedingungen an andere weiterzugeben? Das ist für die Betroffenen zwar interessant, aber Ihre Intention von damals geht nicht auf. Auch weiterhin bestehen Bestrebungen dieser privaten Arbeitsvermittler, offen zu sagen, daß sie überhaupt nicht bereit sind, kritische Fälle von Arbeitnehmern zu vermitteln. Ist Ihnen das bekannt?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Gilges, es ist mir bekannt. Mir ist aber auch etwas bekannt, was Sie vielleicht nicht sehen: Wir sind ja wirklich erst am Anfang; ({0}) die private Arbeitsvermittlung hat die ersten Genehmigungen erst vor vier oder vielleicht sechs Wochen erteilt. Nun wollen wir einmal den Stab nicht schon jetzt brechen und glauben, wir hätten bereits Erkenntnisse. ({1}) Ich bin der Meinung, daß wir das ruhig schon ansprechen sollten, vielleicht durchaus kritisch. In der ganzen Vermittlungstätigkeit wird sich Bewegung einstellen. ({2}) Es wird sich einfach an den Angeboten zeigen, daß sich durch die Flexibilisierung dieser Aufgabe viele Effekte herausstellen, die durchaus positiv sind. Aber wenn wir schon jetzt klagen „Ich habe es ja gleich gesagt, es geht alles daneben! " dann brechen wir von vornherein den Stab. ({3}) Davor möchte ich warnen. ({4}) - Auch ich habe das damals schon gesagt. Es wird am Anfang natürlich sogenannte schwarze Schafe geben, ({5}) bevor sich solide private Arbeitsvermittlungen herausbilden. Ich glaube, daß sie auch in den Vermittlungsbereichen, von denen Sie geredet haben, durchaus Fuß fassen können, auch dort, wo es z. B. darum geht, Behinderte zu vermitteln. Das wird alles gehen. ({6}) Aber der Mißstand, den ich ansprach, liegt darin, daß Herr Jagoda, dessen Behörde selber die Genehmigungen ausstellt und über die Seriösität der Anbieter eine gewisse Kontrolle ausüben soll, schon jetzt, kaum nach der Gründungsphase - sie betreiben erst die Information, es liegen noch gar nicht viele Vermittlungen vor -, sagt, dieses und jenes könne er nicht dulden. Ich finde, das ist nicht fair. Wir sollten den privaten Arbeitsvermittlern eine faire Chance geben. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Babel, der Kollege Gilges möchte gerne eine zweite Zwischenfrage stellen, und auch der Kollege Heinrich hatte sich zu einer Zwischenfrage gemeldet. Die Uhr steht.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Gilges, ich nehme an, daß Ihre Absichten mir gegenüber klargeworden sind und ich Ihre Frage auch klar beantwortet habe. Deshalb möchte ich nur die Frage des Kollegen Heinrich zulassen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Babel, ist Ihnen bekannt, daß allein auf Grund der Tatsache, daß private Arbeitsvermittler zugelassen worden sind, in den Arbeitsämtern eine enorme Aktivität entstanden ist ({0}) und auf einmal das erreicht wurde, was man immer gefordert hat, nämlich hinaus in die Betriebe zu gehen, ({1}) um die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort zu studieren und eine effektive Vermittlungstätigkeit wahrnehmen zu können?

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, das weiß ich. Der große schlafende Riese ist aufgewacht, und es entwickeln sich enorme Aktivitäten, die wir ja alle begrüßen. Wie wir als Liberale ja wissen, kann Wettbewerb das Geschäft durchaus beleben und positiv wirken. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe in meiner letzten Rede Ausführungen zur Rentenversicherung gemacht und möchte heute nur noch einiges zu dem Thema „Frühverrentung" und zu dem Bereich „Altersversorgung und Betriebsrenten" sagen. Der Trend zur Frühverrentung kann ja dem Gesetzgeber nicht gleichgültig sein. Bis jetzt wurde den Arbeitnehmern, die auf Grund ihrer körperlichen Verfassung nur einen Teilzeitjob wahrnehmen konnten, auf Grund des besorgniserregenden Zustandes auf dem Arbeitsmarkt - eben weil die Angebote nicht da waren - kein hinlänglich akzeptabler Job angeboten, mit der Folge, daß ihnen eine Erwerbsunfähigkeitsrente zugesprochen wurde. Dazu kommt, daß das Bundessozialgericht in Kassel zur Zeit prüft, ob auch ungelernte ältere Langzeitarbeitslose vor ihrem 60. Lebensjahr einen Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit beantragen können. Ich halte das für eine ganz besorgniserregende Entwicklung, weil hier das Thema Arbeitslosigkeit in die Finanzierung durch die Rentenversicherung kommt. Dazu werden wir als Gesetzgeber sicherlich noch einige Überlegungen anstellen müssen. Zur Betriebsrente. Auch hier haben wir eine Rechtsprechung, die dazu geführt hat, daß in den Betrieben Betriebsrenten nicht mehr zugesagt werden, weil die Anpassungszeiträume eine solche Betriebsrente im Laufe der Jahre sehr teuer machen. Wir sollten hier im Gesetzgebungsverfahren neue Bestimmungen treffen, die diese Anpassungszeiträume wieder verkleinern, und insofern über eine Attraktivitätssteigerung den Arbeitgebern signalisieren, wie wichtig es uns ist, daß Betriebsrenten eingeräumt werden können. ({1}) Schließlich müssen wir bei den berufsständischen Versorgungswerken mehr als bisher die Abgrenzung von der Rentenversicherung vornehmen. Für die klassischen Berufe darf es keinen Errichtungsstopp für Versorgungswerke geben. Ich erinnere daran, daß man, glaube ich, in Hamburg immer noch nicht das berufsständische Versorgungswerk für Rechtsanwälte einrichten konnte, weil die SPD es blockiert. Hier sollte der Weg also noch offen sein. Auf der anderen Seite sehen wir kritisch, daß neue Berufskreise, die nicht zu diesen klassischen Freiberuflern zählen, plötzlich mit Unterstützung ihrer Landesregierung auf die Idee kommen, die Rentenversicherung zu verlassen und ein eigenes Versorgungswerk zu gründen. Das wäre für die gesetzliche Rentenversicherung mit einem nicht verkraftbaren Aderlaß verbunden, den wir nicht wollen. Wir Liberalen stehen dafür ein, daß es hier zu einer politisch und rechtlich einwandfreien Lösung kommt. ({2}) Meine Damen und Herren, ich sage nur zum Schluß noch einige Worte zur Koalition. Die F.D.P. bekommt derzeit viele ungebetene Ratschläge auch von politischen Freunden. Dazu zähle ich die Ermahnung des Kollegen Geißler, die F.D.P. solle sich jetzt nicht als Bremser des sozialen Fortschritts aufführen. Herr Geißler, was ist sozialer Fortschritt? Wäre die Einrichtung neuer sozialer Sicherungssysteme ohne Rücksicht auf volkswirtschaftliche und demographische Entwicklungen und ohne Rücksicht auf Finanzierbarkeit Fortschritt? Ist die von Ihnen geforderte Einführung von Prämien für Teilzeitarbeit, die von den Betroffenen abgelehnt werden, Fortschritt?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Sie sind schon ein Stück über Ihre Redezeit hinaus.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Der Grundsatz Ihrer Sozialpolitik lautet „Viel hilft viel" . Wir dagegen meinen: Kostenbegrenzung, um Chancen für Arbeit in Deutschland zu verbessern, Steigerung der sozialen Effektivität, um mit aufgewendeten Finanzmitteln den angestrebten Zweck besser, schneller und sparsamer zu erreichen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Sie sind schon sehr weit über Ihrer Redezeit!

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie, Herr Kollege Geißler, das Ziel einer sozial verantwortlichen Politik anerkennen, werden wir gut zusammenarbeiten. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat die Kollegin Petra Bläss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre wieder rühmt sich Bundesarbeitsminister Blüm, mit dem Einzelplan 11 den größten Brocken vom Haushaltskuchen abbekommen zu haben, und läßt im Rahmen der Haushaltsberatungen keine Gelegenheit aus, seine Lieblingslangspielplatte mit den wohlbekannten Hits von den geschaffenen Arbeitsplätzen, den gestiegenen Renten und dem bewährten sicheren sozialen Netz abzuspielen. Derartige Selbstzufriedenheit scheint mir angesichts der nicht mehr übersehbaren und nicht mehr wegzudiskutierenden sozialen Schieflage hierzulande nicht nur fehl am Platze, sondern auch äußerst besorgniserregend zu sein. Angesichts anhaltender Massenarbeitslosigkeit ist die Konstruktion unseres Sozialversicherungssystems aus den Fugen geraten. Herr Minister Blüm, wenn Sie die Parole „Erhalten und verändern" ausgeben, dann fürchte ich, daß Ihre Interpretation lautet: Erhalten in bezug auf die Abgabenbelastung und verändern in bezug auf die Leistungsgewährung. ({0}) Wer ignoriert, daß das vielgerühmte System sozialer Sicherung den gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen nicht mehr gewachsen ist, betreibt pure Augenwischerei. Das Problem so kraß zu benennen heißt keineswegs, Schwarzmalerei zu betreiben, sondern sollte die Ausgangsbasis für einen längst überfälligen breiten gesellschaftlichen Dialog über eine Reform der Sozialpolitik sein. In Anbetracht der Waigelschen und Rexrodtschen Reformfreudigkeit à la Deregulierung und Sozialabbau füge ich vorsichtshalber hinzu: einer Sozialpolitik, die die eigenständige und menschenwürdige Existenz eines jeden Menschen, unabhängig von Geschlecht, Alter und Nationalität in den Mittelpunkt stellt. ({1}) In dem vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz kürzlich veröffentlichten Diskussionspapier „Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" wird in aller Deutlichkeit darauf verwiesen, daß die hohe Arbeitslosigkeit einen tiefen Riß in unserer Gesellschaft markiert, durch den viele Menschen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand ausgeschlossen werden, und daß es hierzulande trotz der Wohlstandsentwicklung offene und verdeckte Armut in einem Umfang gibt, der eine gezielte Politik der Armutsbekämpfung erforderlich macht. „In Armut vereint -Jeder elfte Deutsche ist bedürftig - Die Zahl der Armen steigt weiter", so lautete eine Schlagzeile in der Zeitschrift „Die Woche" vom 2. Dezember, untermauert durch folgende Statistik: Wer ist arm? 7,25 Millionen Menschen, die weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatsnettoeinkommens zur Verfügung haben. Das sind 430 000 Studentinnen und Studenten, 5 Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, 2,2 Millionen Jugendliche, 760 000 Ausländerinnen und Ausländer sowie 1 Million Obdachlose bzw. Wohnungssuchende. In der „Frankfurter Rundschau" von gestern waren Zwischenergebnisse der Bremer Forschungsgruppe „Sozialhilfekarrieren" zu lesen. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Koalition, daß Sie solche Artikel zur Kenntnis nehmen und nicht länger diese Realität ignorieren. Die Sozialpolitik, Herr Minister Blüm, hat nicht angemessen auf akute Lebensnöte geantwortet, denn diese Statistik spricht tatsächlich für Armut und Not in diesem Land des Wohlstands. ({2}) Vor genau diesem Hintergrund gilt es, den vorliegenden Haushaltsentwurf zu bewerten. Vom Gesamtpaket der sozialen Sicherungsleistungen im Bundeshaushalt - da beziehe ich die Einzelpläne 15, 17 und 25 ein - von 178,8 Milliarden DM werden ganze 9,3 Milliarden DM für Anpassungsmaßnahmen und produktive Arbeitsförderung, also im weitesten Sinne für gestaltende Sozialpolitik ausgegeben. Das sind gerade einmal 5,2 %. Der überwiegende Teil sind wiederkehrende gesetzliche geregelte Individualleistungen. Der vorgeschlagene Haushaltsposten „Zur Erprobung neuer Wege der Arbeitsmarktpolitik" in Höhe von sage und schreibe 8 Millionen DM ist, sofern es sich nicht um einen Druckfehler handelt, in seiner Unangemessenheit ein peinliches Zeugnis einer verheerenden Prioritätensetzung. ({3}) Denn es gehört doch mittlerweile zu den Binsenweisheiten, daß es allemal sinnvoller ist, Arbeit und nicht Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Damit sind wir bei den geplanten Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe. Die sollen nämlich satte 18,4 Milliarden DM gegenüber 12,1 Milliarden DM 1994 betragen wegen - wie es in den Erläuterungen heißt -„erwarteter höherer Empfängerinnen- und Empfängerzahlen und Kopfsätze". Die Bundesregierung verspricht sich von einer nicht näher definierten „Neuordnung der Bestimmungen zur Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe", der im übrigen der Bundesrat zustimmen müßte, ab 1. Oktober 1995 einen Einspareffekt von 1 Milliarde DM. Erinnern wir uns: Auf Grund massiven Protests der Städte und Gemeinden mußte Finanzminister Waigel vorerst seinen dreimal gescheiterten Versuch aufgeben, die Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre zu begrenzen. Sie wissen genau wie wir alle im Saal, Herr Minister Waigel, daß das das finanzielle Aus der Kommunen bedeutet hätte. Was ist nun geplant? Zum einen die Kürzung des Sozialhilferegelsatzes um satte 20 %. Wenn zugleich sogenannte gemeinnützige Arbeit geleistet wird, dann wäre die Hälfte des Einkommens anrechnungsfrei. Dies alles wird geschickt verkauft unter dem Slogan: Anreiz zur Arbeit schaffen. Welche konkreten Auswirkungen hätte dies? Zunächst die Senkung der Mittel für Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, aber vor allem einen erhöhten Druck, daß Gemeinschaftsarbeit geschaffen wird und damit zunehmend prekäre Beschäftigungsverhältnisse angenommen werden. ({4}) Das würde genau dazu führen, daß sich der ungeschützte dritte Arbeitsmarkt weiter verfestigt. Das provoziert nahezu Niedriglöhne auf dem ersten Arbeitsmarkt. ({5}) Vor allem Frauen, die Sozialhilfe zu geringem Einkommen erhalten, kämen in der Summe viel schlechter weg. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, weil Sie nachgefragt haben. ({6}) - Wenn Sie das so in Frage stellen, nehme ich das als Infragestellung. Bei 550 DM Verdienst beträgt die bisherige Aufstockung 162 DM plus Kosten für die Unterkunft. Künftig wären das dann nur noch 90 DM. Hände, besser gesagt: Rotstift weg von der Sozial- und Arbeitslosenhilfe! Dies müßte und sollte unter Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitikern Grundkonsens für jede Haushaltsdiskussion sein. ({7}) Die Forderung von Betroffenen, Initiativen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Gewerkschaften nach einer existenzsichernden Grundsicherung darf nicht länger von seiten der Regierung als Schreckgespenst vom Tisch gewischt werden. Die PDS hat im vergangenen Jahr ihr Konzept einer sozialen Grundsicherung vorgelegt und wird dies offensiv in die Debatte um den notwendigen Aus- und nicht Abbau des Sozialstaats einbringen. Dabei stehen für uns zunächst drei Schritte im Vordergrund: die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht für jede geleistete Arbeitsstunde, eine vorleistungsunabhängige Leistungsgewährung sowie die Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung. Ihr angedachtes Bürgergeld ist nichts weiter als ein verschleierter Sozialabbau, eine Art Privatisierung von Sozialleistungen durch die Hintertür. Das finde ich als Sozialpolitikerin hundsgemein, weil es die Augen verkleistert. ({8}) Energisch einfordern werden wir zudem die Schaffung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors; denn angesichts hoher und anhaltender Arbeitslosigkeit müssen endlich neue Wege beschritten werden. In der gegenwärtigen Situation ist es notwendig, dafür zu sorgen, daß nicht immer weniger Menschen immer mehr arbeiten müssen und gleichzeitig immer weniger Beschäftigte von ihrem Arbeitseinkommen leben können. Die vorhandene Arbeit muß deshalb möglichst gleichmäßig auf viele Menschen umverteilt werden. ({9}) Die bisherige, aber auch die künftige Politik der Bundesregierung ist kontraproduktiv und sozial unverantwortlich. ({10}) Ihr erklärtes Ziel ist es, Arbeit aufzusplitten, zu flexibilisieren und billiger zu machen bei gleichzeitigem Abbau der tariflichen Rechte und Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten. Null-Runden, Lohnverzichtsforderungen und Eingriffe in die Tarifautonomie werden auch in dieser Legislaturperiode bestimmend sein. Gerade erst, heute früh, kam die Radiomeldung, daß Herr Stihl, der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, zu einer Lohn-Null-Runde und zur Kürzung des Weihnachtsgeldes aufgerufen hat. Meine Herren Minister Rexrodt und Blüm, die letzten Nachrichten aus Nürnberg bieten ganz und gar keinen Anlaß zum Optimismus. Was die neuen Bundesländer betrifft, Frau Babel, so finde ich es beschämend, minimale Rückgänge der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern als Erfolg zu verbuchen. Das heißt nämlich, daß man sich mit einer Massenarbeitslosigkeit als Sockelgröße, insbesondere mit der hohen Frauenerwerbsarbeitslosigkeit im Osten Deutschlands, abgefunden hat. ({11}) Auch die Arbeitsmarktsituation im Westen sieht traurig aus. Sie wissen selber, daß die ansteigenden Zahlen über die Arbeitslosigkeit vor allem auf Massenentlassungen und nicht nachlassende Betriebsstillegungen zurückzuführen sind. Gleichzeitig mit unserer Beratung des Bundeshaushalts hier findet die Beratung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg statt. Sie wissen ganz genau, daß mit einer Ablehnung des vorgelegten gekürzten Bundeshaushalts zu rechnen ist. Wir können uns noch sehr gut daran erinnern, wie dieses Spiel in den letzten vier Jahren aussah. Es war, denke ich, ein sehr trauriges, das darin bestand, daß der Bundestag -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Bläss, Sie sind ein gutes Stück über Ihre Redezeit hinaus.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. aber vielleicht kann ich wenigstens diesen Gedanken zu Ende führen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nein. Nach dieser Ermahnung ist nur noch ein letzter Satz zulässig.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Wir werden genau dieses Problem wieder auf den Tisch bekommen, weil der Nachtragshaushalt letztlich von uns bestätigt werden muß. Die Finanzlücke im Bundeshaushalt wird noch viel größer, wenn wir jetzt in Nürnberg, d. h. bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik, sparen. Daß das kontraproduktiv ist, hat, wie ich glaube, schon die bisherige Debatte gezeigt. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Julius Louven, jetzt haben Sie das Wort.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über den Einzelplan 11. ({0}) Sein Volumen beträgt 132,3 Milliarden DM. Bei einer Steigerungsrate von 1,5 % ist er der mit Abstand größte Etat. Was sagt dieser Etat aus? Erstens: Der Sozialstaat funktioniert noch. Zweitens: Die große Summe bedeutet jedoch nicht, daß es keine Probleme gibt. Schließlich drittens; Wir stoßen an Grenzen. Man kann diesen Etat nicht beliebig ausweiten; denn alles, was wir ausgeben, muß irgendwo erwirtschaftet werden. ({1}) Wenn ich unsere Sozialversicherungssysteme betrachte, sehe ich zwei große Risiken, erstens die demographische Entwicklung und zweitens die hohe Arbeitslosigkeit. Ich wende mich zunächst dem ersten Problem zu. Auf Grund der Tatsache, daß die Menschen bei uns immer älter werden und die Anzahl der Jüngeren kleiner wird, bekommen wir Probleme in allen Sozialversicherungszweigen. Dies macht sich insbesondere in der Rentenversicherung bemerkbar. Mit der Rentenreform 1989, die 1992 in Kraft trat, haben wir hier im Deutschen Bundestag im Konsens notwendige Schritte beschlossen. Auf Grund der neuen Entwicklungen in der Bundesrepublik hat der Verband der Rentenversicherungsträger von Prognos ein Gutachten über die langfristige Rentenentwicklung erarbeiten lassen. Das Ergebnis wurde vor einigen Wochen vorgestellt. Mir sagt dieses Gutachten, daß unser beitragsbezogenes Rentensystem Bestand haben kann. Ich teile aber nicht die fast euphorischen Ansichten, wonach es für die Rentenversicherungen keine Probleme gibt. Nach einer optimistischen Variante kommt Prognos für das Jahr 2005 zu einem Rentenversicherungsbeitrag von 21,3 % und zu einer Gesamtsozialversicherungsbeitragssumme von 41,6 %. Dies ist ein um 2,3 Prozentpunkte höherer Sozialversicherungsbeitrag als heute. In der pessimistischen Variante kommt Prognos für das Jahr 2005 zu einer Gesamtbeitragsbelastung von 43 %. Dies sind schon 3,5 Prozentpunkte mehr als heute. Die Prognos-Zahlen für das Jahr 2010 möchte ich Ihnen ersparen; Sie können sich vorstellen, wie sie aussehen. Ich bin vor diesem Hintergrund nicht bereit, die Hände in den Schoß zu legen. Ich meine, daß auch in der Rentenversicherung Handlungsbedarf besteht. Wir sollten schon in dieser Legislaturperiode damit beginnen, Vorbereitungen für eine weitere Rentenreform zu treffen. Wir wissen, daß ein langer Vorlauf erforderlich ist. ({2}) - Ich kann Sie überhaupt nicht verstehen. Im übrigen möchte ich weiterreden. Beitragserhöhungen, wie von mir geschildert bzw. von Prognos dargestellt, können, Herr Gilges, weder Arbeitnehmer noch Arbeitgeber respektieren. Ich bin sogar der Meinung, daß die Menschen in der Bundesrepublik von uns erwarten, daß wir in diesem Bereich handeln. Interessant ist für mich das Ergebnis einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen vom September letzten Jahres, wonach 77 % der Menschen in der Bundesrepublik glauben, daß wir uns in Zukunft das bislang in Deutschland erreichte Niveau der Löhne, der Arbeitszeiten, der Urlaubsdauer und der Renten nicht mehr leisten können. ({3}) Die Menschen spüren und erkennen die Probleme und erwarten eine Antwort. Vor diesem Hintergrund empfehle ich jungen Leuten, schon heute zusätzlich für das Alter vorzusorgen, indem sie auf ein paar Flaschen Bier oder ein paar Packungen Zigaretten verzichten. ({4}) Die Beitragshöhe in der Sozialversicherung steht auch in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit. Sozialpolitisch muß sich alles darauf konzentrieren, diese entscheidend zurückzudrängen. Patentrezepte hat niemand, und mit Schuldzuweisungen dienen wir keinem Arbeitslosen. Meine These ist: Es gibt reichlich Arbeit. Diese ist jedoch zu teuer und wird zuwenig flexibel genutzt, ({5}) Nun unterstellen Sie mir bitte nicht, ich wolle auf ein portugiesisches oder gar polnisches Lohnniveau. ({6}) - Jetzt kommen Sie mit einem ganz neuen Thema. Der Herr Minister hat doch heute morgen eine glasklare Zusage gemacht, daß es zu einer Entsenderichtlinie kommt oder zu einem nationalen Alleingang. ({7}) Ich möchte mit Ihnen, meine Damen und Herren, in einen Dialog darüber eintreten, wie wir in der Frage der Arbeitslosigkeit weiterkommen. Immer wieder liest man in den Zeitungen markige Worte. Herr Zwickel von der IG Metall erklärt: Die Lohnzusatzkosten müssen runter. Gleiches hat Herr Professor Jens hier heute morgen erklärt. Herr Murmann, der BDA-Präsident, ist der gleichen Meinung, fordert jedoch in derselben Rede, daß die arbeitsmarktbedingte Verrentung bleiben müsse, was ja erheblich auf die Lohnnebenkosten drückt. Der DGB-Chef Schulte erklärt im Hinblick auf die Wirtschaftsrunde beim Kanzler, es dürfte keine Tabuthemen geben. Wiederum liest man, daß die Gewinne der Unternehmen steigen. Deshalb seien 6 % Lohnerhöhung gerechtfertigt. Am gleichen Tag kann man lesen, daß in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr 25 000 Pleiten zu erwarten sind, wodurch mehr als 370 000 Arbeitsplätze verlorengehen. ({8}) - Diese Pleiten, Herr Dreßler passieren doch wohl nicht, weil die Unternehmen steigende Gewinne haben, sondern aus anderen Gründen. ({9}) Ich denke, es ist unbestreitbar, daß wir es bei uns mit einer Kostenkrise zu tun haben. Wir haben lange Zeit geglaubt, mit der sprichwörtlich hohen Qualität unserer Produkte seien wir international auf der sicheren Seite. „Made in Germany" verschaffte uns die Möglichkeit, daß eine deutsche Maschine um ein Drittel teurer sein durfte als ein ausländisches Konkurrenzprodukt. Diese Zeiten sind nun vorbei. Handeln ist gefragt. ({10}) Wenn wir uns auch in den kommenden Jahren weiter gegenseitig blockieren und in fruchtloser Konfrontation verharren, werden wir am Ende alle miteinander schlechter dastehen und vom Bürger die Quittung bekommen. ({11}) Verantwortliches Handeln erhoffe ich mir aber nicht nur von den demokratischen Parteien, sondern auch von den Verbänden, den Gewerkschaften, den Arbeitgebern und den Kirchen, letztlich von allen Bürgern. Es wird in den kommenden Jahren mehr denn je auf unsere Bereitschaft ankommen, eingefahrene Denkmuster und vermeintlich angestammte Besitzstände aufzugeben. ({12}) Es darf nicht mehr sein, daß die Tarifpartner in guten Zeiten auf Teufel komm raus Tarifverträge abschließen und in schlechten Zeiten das Ergebnis dieser verfehlten Tarifpolitik uns in Nürnberg vor die Türe karren. ({13}) Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik fehlen 5 Millionen zukunftsträchtige Arbeitsplätze. ({14}) In diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern, daß von 1983 bis 1989, auch auf Grund maßvoller und langfristiger Tarifabschlüsse, mehr als 3 Millionen Arbeitsplätze gewonnen wurden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Louven, der Kollege Gilges würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, diese lasse ich zu, aber im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit und auch mit Rücksicht auf die Kollegen, die nach Hause wollen, dann keine mehr. - Bitte.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte, Herr Kollege Gilges.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Louven, sind Sie bereit, anzuerkennen, daß die Lohnabschlüsse der Gewerkschaften zum Nachteil der Arbeitnehmer dazu geführt haben, daß die Nettokaufkraft der Arbeitnehmer in den letzten drei, vier Jahren durchschnittlich - ich nenne jetzt wirklich die unterste Zahl - um 3 % gesunken ist? Es ist einfach ein Fakt, daß die Lohnabschlüsse dazu geführt haben, Herr Louven, daß die Arbeitnehmer heute eine geringere Kaufkraft haben, als sie - wenn ich jetzt einmal zurückrechne -1980 hatten. Die Arbeiter, die Gehalt oder Lohn erhalten, können immer weniger für ihr Geld kaufen. ({0}) Es ist den Gewerkschaften - ich sage das auch als Gewerkschaftsfunktionär - leider nicht gelungen, einen Kaufkraftausgleich zu schaffen. Jetzt sagen Sie, die Tarifabschlüsse seien unverschämt gewesen. Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Das geht an der Realität objektiv vorbei. ({1})

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gilges, erstens habe ich nicht von unverschämten Tarifabschlüssen gesprochen, und zweitens bin ich durchaus bereit, anzuerkennen, daß die Gewerkschaften oder die Tarifpartner maßvolle Tarifabschlüsse getätigt haben, auch mit negativen Auswirkungen für die Arbeitnehmer. Aber Sie müssen doch einfach einmal anerkennen, wie die Notwendigkeiten sind. Herr Schröder stellte sich in Niedersachsen vor die Fernsehkameras und erklärte voller Stolz, bei der Dasa in Lemwerder 1 000 Arbeitsplätze gerettet zu haben. Er konnte sie nur retten, weil die Betriebsräte damit einverstanden waren, daß es einen Lohnabschlag gab, weil man sonst einfach nicht konkurrenzfähig geblieben wäre. Dies ist doch die Situation, und dies müssen Sie anerkennen. ({0}) Arbeitslosigkeit, meine Damen und Herren, ist nicht das Ergebnis eines arbeitsplatzvernichtenden Fortschritts und auch nicht die Folge eines weltweit verstärkten Wettbewerbs, sondern sie ist das Resultat - hier zitiere ich aus einer vor wenigen Monaten vorgelegten OECD-Beschäftigungsstudie - von Verkrustungen in unseren Volkswirtschaften, die die Fähigkeit, ja selbst die Bereitschaft zu notwendigen Anpassungen gelähmt haben. Ich kann jedem empfehlen, diese Studie aufmerksam zu lesen. Viele suchen ja immer noch das Heil in bekannten Ausweichstrategien, also in mehr Staatseingriffen, in der Ausweitung eines zweiten Arbeitsmarktes und in drastischer Arbeitszeitverkürzung. Herr Kollege Schreiner, wenn Sie hier heute morgen erklären, Sie wollten keine ABM-Gesellschaft, muß ich Ihnen entgegenhalten: Ich war bei der Vorstellung Ihres Buches „Mehr Arbeit", und dort habe ich nun wirklich den Eindruck gewonnen, daß Sie sich in Richtung auf eine ABM-Gesellschaft bewegen, ({1}) jedenfalls daß Sie mehr Staatseingriffe bei Fragen der Beschäftigung wollen. ({2}) Derartige Programme, Herr Kollege Schreiner - hier zitiere ich erneut die OECD-Studie - haben die Arbeitslosigkeit noch in keinem Fall signifikant verringert. ({3}) Nein, meine Damen und Herren, dies ist nach meiner festen Überzeugung nicht der richtige Weg. Die Entwicklung in der Vergangenheit belegt doch eindeutig, daß der entscheidende Handlungsbedarf gerade nicht hinsichtlich des Auf und Ab der Konjunktur besteht, sondern hinsichtlich unserer Fähigkeit, den strukturellen Wandel zu bewältigen. ({4}) Was wir mithin brauchen, sind Lösungen zur Bewältigung des Strukturwandels sowie der Flexibilitäts- und Kostenkrise. Dies besagt nicht nur die OECD-Studie, sondern dies drücken auch die Deutsche Bundesbank, die Monopolkommission und der Sachverständigenrat so aus. Die Entwicklung der modernen Volkswirtschaft ist gekennzeichnet von einer Gewichtungsverlagerung. ({5}) Der Industriesektor verliert; der private Dienstleistungssektor gewinnt an Bedeutung. Wir haben dies ja, Herr Kollege Schreiner, sehr eindrucksvoll in Hongkong studieren können, ({6}) wo bei etwa 6 Millionen Einwohnern in wenigen Jahren 1,2 Millionen industrielle Arbeitsplätze verloren gingen bzw. ins billigere China ausgelagert wurden. Trotzdem gibt es in Hongkong keine Arbeitslosigkeit. ({7}) Ein ähnliches Bild zeigt sich in den USA. Dort sind im privaten Dienstleistungssektor zwischen 1980 und 1990 pro tausend Einwohner im erwerbsfähigen Alter gut 50 Arbeitsplätze netto hinzugekommen, in Deutschland hingegen im Dienstleistungsbereich nur 17. Die anerkannte Beratungsfirma McKinsey hat zu dieser Gewichtsverlagerung eine länderübergreifende Studie vorgelegt. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß Deutschland mehr noch als andere Volkswirtschaften Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich schaffen muß, um den Beschäftigungsrückgang im Industriesektor aufzufangen. Wir müssen aufhören, mit dem Argument zu arbeiten, bei Arbeitsplätzen in diesem Bereich handele es sich um solche minderer Qualität. Die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen, die Ausgliederung von Dienstleistungen aus den Unternehmen und die Schaffung von Dienstleistungsarbeitsplätzen in den privaten Haushalten und in der Pflege - das sind Entwicklungen, auf die wir angewiesen sind, wenn wir Erfolg haben wollen. ({8}) Wir müssen uns aber auch dem Problem der Kostenkrise stellen. Wir haben in Deutschland die höchsten Lohn- und Lohnnebenkosten mit den niedrigsten Arbeitszeiten und der größten Fehlzeitenquote. ({9}) Es macht keinen Sinn, davor die Augen zu verschließen, wissen wir doch, daß zu hohe Arbeitskosten dazu führen, daß Arbeitsplätze nicht geschaffen, vielmehr ins Ausland verlagert oder durch Maschinen ersetzt werden. Murmann und Zwickel, meine Damen und Herren, haben recht: Die Lohnnebenkosten sind zu hoch, und da diese zu 50 % tarifbedingt sind, sollten die Tarifvertragsparteien hier handeln. Jetzt müssen sie zeigen, daß sich die Tarifautonomie bewährt. Das gleiche gilt für die Selbstverwaltungen, die es sich mit Zusatzforderungen wie beispielsweise bei der Bundesanstalt für Arbeit oft zu einfach machen. Forderungen stellen, die andere bezahlen müssen, das ist für mich kein verantwortliches Handeln. Die zurückliegende Tarifrunde hat gezeigt, daß die Sozialpartner zu vernünftigen Lohnabschlüssen fähig sind. Ich frage aber: Warum nur in konjunkturellen Krisenzeiten? Ich bin der Meinung, daß die Tarifvertragsparteien nicht nur Interessenvertreter der beschäftigten Insider sein dürfen, sondern auch die arbeitslosen Outsider sehen müssen. ({10}) Natürlich ist auch die Politik gefordert. Es ist unser erklärtes Ziel, auch die staatlich bedingten Lohnnebenkosten zu reduzieren. ({11}) Die drei Prozent einigungsbedingter Sozialversicherungsbeiträge sind auch für mich ein Ärgernis. Könnten wir sie streichen, wäre das ein großer Erfolg. Aber, meine Damen und Herren, wir machen es uns zu einfach, wenn wir fordern, daß die Kosten auf den Bundeshaushalt abgewälzt werden sollen. Drei Prozent entsprechen 40 Milliarden DM; die aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren, wird so einfach nicht gehen. Von daher sollten wir gemeinsam überlegen, wie wir durch Einsparungen zu besseren Regelungen kommen. Wir müssen darüber reden, ob alle versicherungsfremden Leistungen in schwierigen Zeiten so weiter gewährt werden müssen, wie das derzeit geschieht. Ich sehe hier größere Einsparmöglichkeiten, wobei wir jedoch nichts erreichen, wenn gleich bei der ersten Überlegung vom Verrat am Sozialstaat gesprochen wird. ({12}) Abraham Lincoln, der vor mehr als hundert Jahren amerikanischer Präsident war, hat einmal gesagt: „Man hilft den Menschen nicht, wenn man für sie tut, was sie selbst tun können. " Ich füge hinzu: Wir müssen uns in Zukunft verstärkt darauf besinnen, was der Grundwert der Solidarität erfordert. Nach meinem Verständnis ist das die gemeinschaftliche Absicherung jener Risiken, die der einzelne nicht allein und aus eigener Kraft tragen kann. ({13}) Wir haben die Nächstenliebe in vielen Bereichen verstaatlicht. Die Frage ist, ob wir jetzt die Kraft haben, von unseren Bürgern mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge zu fordern. In diesem Zusammenhang muß ich - darauf warten Sie vielleicht schon - auch das Thema Mißbrauch in der Sozialversicherung ansprechen. ({14}) Ihre frühere Kollegin Frau Schmidt und Ihr Parteivorsitzender Scharping haben mit ihren jüngsten Vorstellungen, wonach wir uns um Mißbrauch in der Sozialgesetzgebung kümmern müssen, recht. Vieles ist in diesem Bereich zum Kavaliersdelikt verkommen. Wenn Frau Schmidt sagt: Wir, die SPD, dürfen nicht die Partei der Arbeitslosen werden und die CDU die Partei der Arbeitenden, so sollte Ihnen das schon zu denken geben. ({15}) Es ist doch so, daß wir dem Hinnehmen von Mißbrauch und mit staatlicher Regulierung von Arbeit die Arbeitslosigkeit nur noch vergrößern. Ich kann, meine Damen und Herren von der SPD, bis heute Ihren Widerstand nicht nachvollziehen, den Sie geleistet haben, als wir mit der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes Arbeitslosenhilfebezieher zu Saisonarbeiten heranziehen wollten. Wenn ich in Versammlungen unsere Absicht schilderte und erklärte, daß auch in diesem Jahr wieder mehrere hunderttausend osteuropäische Saisonbeschäftigte hier waren und der Bundesrat mit SPD-Mehrheit unsere Absicht gekippt hat, löste das bei den arbeitenden Menschen Unverständnis aus. Wenn mir dann von seiten Ihrer Partei entgegengehalten wird, wir wollten wohl wieder einen Arbeitsdienst einführen, so ist das wirklich an der Sache vorbei kritisiert. Wir wollen weder die alleinerziehende Mutter noch ältere oder kranke Menschen, sondern - nach dem Motto: Arbeit schändet nicht -, diejenigen einbeziehen, die zu arbeiten in der Lage sind. ({16}) Ich kann nur hoffen, daß wir vor dem Hintergrund der neuen Diskussion in Ihrer Partei zu Regelungen kommen, die unsere arbeitenden Menschen und die Unternehmer entlasten, womit auch ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit getan wäre. Ich fordere Sie auf, nicht bei jedem Reformschritt mit dem Bundesrat zu drohen, sondern mit uns gemeinsam im Interesse der Beschäftigten an die Arbeit zu gehen. Meine Damen und Herren, der Kollege Schreiner hat soeben davon gesprochen, daß wir in der Adventszeit sind. Das ist die letzte Sitzung vor Weihnachten. Ich erlaube mir trotz der hitzigen Debatte, Ihnen allen schöne Feiertage und ein gutes neues Jahr zu wünschen. ({17})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Rudolf Dreßler, Sie haben das Wort.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will mit einem Zitat beginnen, das ich heute morgen in der „Süddeutschen Zeitung" gelesen habe, welches ich sehr bemerkenswert finde und das in seiner Quintessenz mit dem Namen Theo Waigel beginnt. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß dieser Name auch durch Günter Rexrodt, Horst Seehofer oder Norbert Blüm ersetzt werden könnte. ({0}) Es heißt dort: Fazit: - es geht um diese Debatte, sprich: den gestrigen und vorgestrigen Tag insonderheit Theo Waigel wird sich in den kommenden Monaten auf harte Auseinandersetzungen mit einer Opposition einstellen müssen, die jetzt nicht nur am längeren Hebel der Macht sitzt, sondern die zumindest in der steuerpolitischen Auseinandersetzung um eine verfassungsrechtlich wasserdichte Lösung der Existenzminimum-Problematik auch die überzeugenderen Argumente hat. ({1}) So können wir das durchdeklinieren, Haushalt für Haushalt. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich will ausdrücklich sagen: Besonders die Beiträge von Frau Babel und Herrn Louven haben sich von jenen der Regierungsmitglieder hier entscheidend abgesetzt, weil sie diejenigen waren, die konkretisierten, was eigentlich vorgesehen ist, wozu diese Minister zu feige waren. ({2}) Deshalb ausgesprochenes Kompliment, daß hier endlich einmal Tacheles geredet wurde! Frau Dr. Babel, Herr Louven, meine Damen und Herren, ich möchte, fast zum Abschluß dieser Debatte, einmal versuchen, ob man bezüglich der Situation unseres Staates, wie sie die Statistiker für uns, für Sie, für die Gesellschaft darstellen, eine Verständigung erzielen kann. ({3}) - Ich versuche es. Ich lese über die verteilungspolitischen Entwicklungen der Jahre 1983 bis 1993 die Veränderungen in Prozenten - diese Zahlen sind nicht wegzuradieren -: Anstieg der Bruttolohn- und Gehaltssumme 59 %, Anstieg der Bruttogewinneinkommen 79 %, Anstieg der Sozialbeiträge und der Lohnsteuer der Arbeitnehmer 77 %, ({4}) Anstieg der Steuern und Abgaben auf die Gewinneinkommen 47 %. Also: Anstieg der Nettolohn- und Gehaltssumme 51 %, Anstieg der Nettogewinneinkommen 82 %. ({5}) Nun frage ich die Regierung und frage Sie: Was haben Sie dazu im Hinblick auf Ihre soeben hier gehaltenen Reden konkret zu bemerken? ({6}) Zweiter Punkt. Man muß, Herr Hinsken, nicht ausgewiesener Wirtschaftspolitiker sein, um folgendes zu wissen: Die Lohnstückkosten geben am ehesten Aufschluß über die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften und auch über Branchen. Anstieg der Lohnstückkosten der Gesamtwirtschaft in jeweiliger Landeswährung zwischen 1980 und 1993 - 13 Jahre -: Italien plus 204 %, Großbritannien plus 100 %, Frankreich plus 86 %, USA plus 68 %, Bundesrepublik Deutschland - es geht jetzt um Westdeutschland - 38 %, Japan 29 %. ({7}) Durchschnitt aller Vergleichsländer: 73 %. Daraus folgt, daß die internen Faktoren in Westdeutschland die Lohnstückkosten unterdurchschnittlich beeinflußt haben. Das ist ganz klar. ({8}) Der Anstieg der Lohnstückkosten in Westdeutschland liegt im Vergleichszeitraum sogar um 50 % unter dem durchschnittlichen Anstieg in den Vergleichsländern. Was haben diese beiden Reden zu diesem Sachverhalt und was hat die Regierung in diesen drei Tagen zu diesen deutschen Fakten hier auf den Tisch gelegt? Welche Konsequenzen werden gezogen? Ich habe nichts gehört. Ich höre: Löhne herunter! Ich höre auf der anderen Seite: Beiträge herunter! ({9}) Nun sagt Herr Louven: Die Lohnzusatzkosten müssen herunter. Dazu, Herr Louven, möchte ich uns alle an einen Sachverhalt erinnern, der Sie als Einzelperson genauso betrifft wie die Mehrheit dieses Hauses. Denn es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, Herr Louven, daß Ihre Partei seit zwölf Jahren mit der F.D.P. dieses Land regiert - damit dieses Mißverständnis, daß andere in den letzten zwölf Jahren dieses Land regiert hätten, hier einmal abgeräumt wird! ({10}) Nun kommt meine These: Es ist objektiv durch Fakten nachprüfbar, daß keine Tarifvertragspartei, weder Gewerkschaften noch Arbeitgeberverbände, die Lohnnebenkosten, die Beitragssituation in den letzten vier Jahren in die Höhe geschoben hat. Der einzige Hochtreiber dieses Sachverhaltes waren Sie mit Ihrer Koalition und dieser Regierung. ({11}) Und nun wenden wir uns ein paar Minuten, Herr Louven, dem Ausgangspunkt dieses Dramas zu: Es war der Herbst 1991, drei Monate vor Inkrafttreten einer Rentenreform, die endgültig damit Schluß machen wollte, daß der Staat in die Rentenrücklagen griff, um dann anschließend durch Beitragsmanipulation - sprich: Beitragserhöhung - diesen politischen Diebstahl zu kompensieren. Im Oktober griff die Regierung noch einmal zu, drei Monate vor Inkrafttreten, indem sie nämlich in einmaliger Art und Weise die Arbeitslosenversicherungsbeiträge um über 50 % erhöhte, von 4,3 auf 6,8 %, und indem sie die Rentenversicherung - damit es nicht so auffiel - gleichzeitig um 1 % reduzierte. ({12}) Dadurch hat sie die Rücklagen innerhalb der ersten drei Jahre dieses Tuns dermaßen aufgezehrt, daß sie im vorigen Jahr die Rentenbeiträge erneut exorbitant erhöhen mußte. Gleichzeitig hat sie über den Transfer der Arbeitslosenversicherungsbeiträge, die nicht innerhalb der Arbeitsmarktpolitik ursprüngliche Verwendung fanden, die Unternehmen und die Beschäftigten um jährlich knapp 50 Milliarden DM zusammen zusätzlich belastet. ({13}) Diese Bundesregierung und wir alle wissen: Hätten alle Deutschen dieses über Steuerpolitik mit aufgebracht, wozu wir als Opposition ausdrücklich unsere Zustimmung signalisiert haben, dann hätten wir die deutschen Unternehmen um die Hälfte dieses Betrages seit drei Jahren entlastet oder besser: nicht zusätzlich belastet, nämlich um ungefähr 25 Milliarden DM. Das sind Fakten dieser vergangenen, gerade hinter uns liegenden Legislaturperiode. ({14}) Dies können Sie nicht wegdrücken. Und ich sage Ihnen noch einmal: Wenn dies die parlamentarische Opposition seit drei Jahren fordert, einzelne Mitglieder der Regierungskoalition - ich nenne Norbert Blüm als ein Beispiel - dies in ihren Reden vor sich hertragen, die F.D.P. dies hier verschiedentlich rhetorisch dargeboten hat, warum nehmen Sie dann seit drei Jahren das Angebot der Opposition, dies zu verändern, nicht an? ({15}) Es gibt, meine Damen und Herren, keinen Widerstand der Arbeitgeberverbände, die dies nämlich unterstützen. Es gibt auch keinen Widerstand der Gewerkschaften. Ich frage: Warum setzen sich F.D.P., CDU/CSU und Bundesregierung gegen den gesammelten Rest Deutschlands mit dieser konstruierten zusätzlichen Belastung von Unternehmen und Arbeitnehmern seit Jahren durch? Warum tun sie das, obwohl sie die Chance hätten, einen breiten gesellschaftlichen Konsens in der Lösung dieser Frage endlich herbeizuführen? ({16}) Kein Wort hier während dieser Haushaltsdebatte! Was hindert Sie, Herr Waigel, dies endlich zu tun? Wenn die Chance besteht, Lohnnebenkosten um ca. 4 % mit der Opposition zusammen zu senken, dann werden doch alle Ihre Äußerungen, Ihre verbalen Äußerungen hier an diesem Rednerpult unglaubwürdig, wenn es eine Mehrheit, eine große Mehrheit im Parlament tun würde, wenn die gesellschaftlichen Gruppen, die Tarifvertragsparteien es unterstützen, aber Sie nicht den Mumm haben, dies endlich auch umzusetzen. ({17}) Dritter Punkt. Sie, Herr Louven, nennen hier das Problem der Rentenversicherung und sagen, die demographische Entwicklung macht Ihnen Probleme. Das ist, mit Verlaub, nicht neu. Das kennen wir, seit Rentenversicherung existiert. Ich darf Sie nur daran erinnern, daß die Zahlen, die wir heute haben, Herr Louven, was die demographische Entwicklung betrifft, günstiger sind als jene, die uns 1989 zum Rentenkonsens führten. Ich will Ihnen da nur einen kleinen Nachhilfeunterricht geben. ({18}) Das ist aber nicht das Problem. Das Problem, meine Damen und Herren, war in einem Satz in Herrn Louvens Rede offenkundig, und der lautete, er sei der Meinung - als Sprecher der CDU/CSU-Fraktion -, daß die Rentenversicherung insoweit in dieser Legislaturperiode Handlungsbedarf habe, und zwar, sagt er, wegen der Beitragssätze ab 2 000. Ist es unbekannt, Herr Louven, daß Ihr Parteifreund Blüm, daß Ihr Vorgänger im Amt der CDU/CSU-Fraktion, daß der Vorgänger von Frau Dr. Babel im Amt der F.D.P.-Sprecherin für Soziales mit uns gemeinsam schon 1989 festgestellt haben, daß diese Zahlen vorliegen, also seit über sechs Jahren bekannt sind, und daß wir immer in der Veröffentlichung dieses Zahlenwerkes davon ausgegangen sind, daß eben nicht die Beitragsbelastung in den anderen Sozialversicherungssystemen, wie ich es gerade aufführte, Arbeitslosenversicherung, sein dürfen, damit die Kompensation dieses Sachverhaltes über Arbeitslosenversicherung in der Gesamtbelastung wieder ausgeglichen wird? Alles alte Hüte. Nun kommt Herr Louven und sagt: Nein, die Zeiten sind vorbei. Was heißt das? Das heißt erstens: Sie wollen die Beiträge nicht senken. Zweitens. Weil Sie sie nicht senken wollen, wollen Sie eine Rentenreform, die objektiv unnötig ist, in Szene setzen und damit eine Verunsicherung in diesen Drei-Generationen-Vertrag hineinbringen, um in Wahrheit etwas abzubauen à la Kurt Biedenkopf, à la Meinhard Miegel und, wie ich im Sommer dieses Jahres gelesen habe, à la Wolfgang Schäuble. Das ist der eigentliche Hintergrund. ({19}) - Herr Louven, damit Sie das in Ihre Zwischenfrage einkleiden können: Glauben Sie bitte nicht - damit das am Anfang dieser Legislaturperiode klar gesagt worden ist -, daß sich die sozialdemokratische Bundestagsfraktion an einer solchen Manipulation der Rentenversicherung beteiligen wird. Bitte schön. ({20})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Louven, bitte.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dreßler, können Sie mir sagen, an welcher Stelle meiner Rede ich davon gesprochen habe, daß wir Beiträge nicht senken wollen? Sind Sie darüber hinaus bereit, anzuerkennen, daß ich gesagt habe, die 3 % einigungsbedingter Beitrag sind auch für mich ein Ärgernis?

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Louven, das zweite bestätige ich Ihnen ausdrücklich. Das Problem liegt nur in folgendem: Es ist, seitdem Sie es geschaffen haben, für Sie ein Ärgernis. Sie sind aber seit drei Jahren nicht bereit, es wieder abzuschaffen. Das ist ja das Problem. ({0}) Wissen Sie, zwischen der Rhetorik „es ist ein Ärgernis" und der Formulierung „es hier zu verändern", wozu wir bereit sind, besteht eben eine Lücke. ({1}) Dann haben Sie gefragt, ich solle Ihnen sagen, an welcher Stelle Sie das gesagt hätten. Diese Frage will ich Ihnen präzise beantworten. Sie haben es, Herr Louven, wie folgt formuliert: Weil nach Prognos die Beiträge bis dahin steigen, müssen wir jetzt eine Rentenreform machen. Was heißt das denn, ohne Ihnen bösartig etwas zu wollen, im Analogieschluß? Wir senken die anderen nicht - habe ich doch gesagt -, um die Kompensation zu bewirken. Weil wir das nicht tun, müssen wir logischerweise im System minimieren, damit es wieder hinkommt. Das ist doch das Problem. ({2}) - Herr Louven, entschuldigen Sie bitte, ich bin völlig wach. Ich habe heute wirklich nur Milch, Kaffee und Orangensaft getrunken. Das, was Sie gesagt haben, interpretiere ich. Seien Sie doch dankbar, daß ich Ihnen so aufmerksam zugehört habe. ({3}) Ich will zum Schluß noch eine Bemerkung zu einer Aussage machen, die mich sehr, sehr sensibilisiert hat, meine Damen und Herren. Sie ist in einer Unruhe des Parlaments etwas untergegangen. Aber sie hat, glaube ich, elementare Bedeutung. Das war der letzte Satz in der Rede von Frau Babel. Dieser Satz lautete - ich zitiere -: Herr Geißler, wenn Sie die von uns - F.D.P. - markierten Grundsätze anerkennen, werden wir gut zusammenarbeiten. Diesen Satz finde ich sehr bezeichnend, und ich warte darauf, daß die CDU/CSU dem Deutschen Bundestag erklärt, was das für sie bedeutet. Daß die Regierung es nicht tut, kann ich sogar noch verstehen. Sie sitzt in einer Koalition. Aber wenn Frau Babel für die F.D.P. hier Koalitionsdiskussionen mit dieser Tragweite anzettelt - und ich kenne das Programm der F.D.P. -, dann erwarte ich von der CDU/CSU, daß sie im Deutschen Bundestag erklärt, daß sie dieses Programm - „Sozialpolitisches Programm" nennt sie das - der F.D.P. nicht verfolgt, sich davon distanziert und mindestens bei ihrer nicht präzisen Linie bleibt. Aber definitiv hier zu sagen „Kürzen in allen Sozialversicherungsbereichen" , „Privatisierung auf Deubel komm raus" , „Wenn Sie das nicht tun, arbeiten Sie nicht gut zusammen" - Herr Louven, da sind Sie hier eine Erklärung schuldig. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel?

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sofort, Herr Präsident. Da sich Frau Babel meldet, will ich noch eine Bemerkung zur F.D.P. machen. Frau Babel, Sie können das ja eventuell einbeziehen. Es geht um ein wichtiges politisches Datum. Ein Ereignis hat ja in diesen Tagen Aufschluß gegeben über den Zustand der Regierung und den Charakter ihrer Politik: Das war der F.D.P.-Parteitag in Gera. Ich nehme an, Sie waren dabei, Frau Dr. Babel. ({0}) Das Datum Ihres Parteitages war mit der Tatsache verknüpft, daß ein möglicher Abgang des Herrn Kinkel als Beginn der Staatskrise bezeichnet worden ist. ({1}) Das heißt, Frau Dr. Babel: Was Anfang der Woche noch als Staatskrise bezeichnet oder heraufbeschworen wurde, definieren Sie jetzt am Ende der Woche so, als hätten Sie alles im Griff. Das glaubt Ihnen nun wirklich keiner mehr, nicht einmal die verbliebenen Mitglieder der F.D.P. ({2}) Aber sicherlich haben Sie jetzt dazu eine Erklärungsfrage. Bitte schön.

Dr. Gisela Babel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000069, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dreßler, sind Sie bereit, zuzugestehen, daß ich formuliert habe, daß wir Liberale Sozialpolitik unter zwei Ziele stellen, nämlich erstens, die Kosten möglichst zu begrenzen, um Arbeit in Deutschland zu halten, und zweitens, die eingesetzten Mittel zu einem größtmöglichen Effekt zu bringen, d. h. aus jeder Mark möglichst viel Sozialpolitik zu machen, und sind Sie auch bereit, zuzugestehen, daß es sehr schwerfällt, sich vorzustellen, daß sich die Union diesen Zielen nicht mit uns zusammen verpflichtet fühlt?

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Dr. Babel, mit Verlaub: Das zweite will ich deshalb nicht beantworten, weil es eine Kampfansage an die CDU/CSU war. Da ich Sozialdemokrat bin, möchte ich diese Kampfansage von Ihnen an die CDU/CSU nicht kommentieren. ({0}) Aber das erste ist viel bemerkenswerter. Ich will ausdrücklich bestätigen, daß Sie das gesagt haben. Nun erkläre ich Ihnen auch, warum ich zu meiner Schlußfolgerung gekommen bin. 1961 hat Ludwig Erhard, der bekanntlich der CDU angehörte, im Bundestagswahlkampf auf dem Marktplatz in Mannheim folgenden Satz gesagt: „Im Mittelpunkt der Wirtschaft steht der Mensch." Diesen Satz, Frau Babel, können Sie im Kommunistischen Manifest finden, in der Sozialenzyklika des Papstes, in den Liberalen Thesen, im CDU-Programm, im SPD-Programm, überall. ({1}) Das Problem beginnt, wenn wir „Mittelpunkt", „Wirtschaft" und „Mensch" definieren. ({2}) Die beiden Sätze, die Sie gerade formuliert haben, waren genauso allgemein. Was sich jedoch dahinter verbirgt, Frau Babel, steht in Ihrem Partei- bzw. Regierungsprogramm. Das habe ich gelesen. Das haben Sie damit nur meinen können, doch wohl nicht unseres. Nun frage ich Herrn Louven und Herrn Geißler, ob sie das, was Sie dort geschrieben haben, unterschreiben. Sie sollen das vor dein Bundestag erklären. Denn wenn Sie sagen, wenn das nicht passiert, können Sie nicht gut zusammenarbeiten, dann ist doch das dies Eingeständnis, daß diese Koalition, bevor sie begonnen hat, faktisch schon am Ende ist. Deshalb möchte ich von Ihnen darauf eine Antwort. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort. ({0}) Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen ({1}): Warten Sie einmal ab. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dreßler, Sie können ganz unbesorgt sein: Diese Koalition hat ihre Koalitionsvereinbarung schneller und erfolgreicher auf den Weg gebracht ({2}) als jede Koalition, die damals mit Ihnen stattgefunden hat. ({3}) Wir haben bisher alle Abstimmungen in diesem Deutschen Bundestag gewonnen. Bei Ihrer ersten Nagelprobe bei der Aussprache zur Regierungserklärung haben bei Ihnen 30 oder 40 Kameraden gefehlt. Ich nehme an, daß Sie eine solche Nagelprobe nicht jeden Tag machen wollen. Wir haben in diesem Jahr neben den Wahlen, die wir gewonnen haben, viel Arbeit auf den Weg gebracht. Wir stellen uns der Diskussion. Sie sind Opposition. Das ist hier die ganz normale Verteilung. Wir sind mit dem Fazit und mit dem, was in diesem Jahr erreicht wurde, mit der Konjunktur, mit den Perspektiven sehr zufrieden. Sie können sich darauf verlassen: Wir werden diese erfolgreiche Arbeit miteinander fortsetzen. ({4}) Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie hatten eine Zwangspause in der Zeit, als die „Troikaner" auftreten mußten. Wir werfen Ihnen das nicht vor. Ihre Fraktion hat durch kräftigen Applaus etwas Abbitte geleistet für diese, wie ich meine, nicht berechtigte Zurücksetzung, die Sie im letzten Jahr erfahren haben. Nur, normalerweise sollte man verlangen können, daß jemand in einer solchen Pause etwas hinzulernt. Aber es war Ihnen kein Hut zu alt, um ihn nicht noch einmal aus dem Schrank zu nehmen, kein Kalauer war Ihnen zu abgedroschen, als daß er nicht noch einmal gekommen wäre. Natürlich mußte zum 87. Mal der Jäger herhalten. Liebe Frau Matthäus-Maier, was wollen Sie eigentlich? Wir haben Gott sei Dank 3 300 Raketen abgebaut, ({5}) 20 000 Atomsprengköpfe gibt es nicht mehr, 33 000 Panzer gibt es nicht mehr. Wollen Sie eigentlich, daß die Phantom noch 20 Jahre fliegt? Wollen Sie die MiG 29 kaufen? Wollen Sie das amerikanische Flugzeug kaufen? Oder sollen wir dann, wenn ein solcher Flieger notwendig ist, eine gemeinsame europäische Produktion vornehmen, um damit Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern? Das ist doch die Alternative. ({6}) Was Sie hier betreiben, ist - Sie wissen es - reine Demagogie. ({7}) Zur Schuldenexplosion: Man darf doch wenigstens erwarten, daß hier differenziert wird. Tatsache ist: Auf 1,4 Billionen DM Bundesschulden kommen Sie nur, wenn Sie zu den eigentlichen Bundesschulden die Schulden des ERP-Programms, des Kreditabwicklungsfonds, des Fonds Deutsche Einheit, der Treuhandanstalt und des kommunalen Wohnungsbaus in Ostdeutschland sowie die Schulden bei Bahn und Post addieren. Während Ihrer gesamten Regierungszeit haben Sie nicht ein einziges Mal die Schulden des ERP-Sondervermögens, der Post oder der Bahn in die Bundesschulden eingerechnet. Wieder reine Polemik, um eine falsche Wirkung zu erzielen. ({8}) Allerdings, Frau Matthäus-Maier, Wiedervereinigungsschulden hatten Sie nicht. Die Wiedervereinigung wäre mit Ihrer Politik auch nicht gekommen. Dieser Schulden schämen wir uns nicht. ({9}) Wer absolute Schuldenzahlen isoliert aufreiht, verschleiert; denn in der gleichen Zeit wächst die Leistungsfähigkeit in Form des Sozialprodukts. Übrigens hat sich die Schuldenquote während Ihrer Regierungszeit mehr als verdoppelt. Seit 1982 aber ist sie nur um 11 % gestiegen. Deswegen wird niemand die Schuldenhöhe beschönigen, aber man muß wenigstens die Relationen sehen und sie beurteilen können. Im internationalen Vergleich stehen wir trotz Einheit und trotz Rezession gut da. ({10}) Alle finanzwirtschaftlichen Daten belegen dies. ({11}) - Sie werden doch nicht die Zahlen der OECD leugnen. In neuesten Berichten heißt es schwarz auf weiß in bezug auf das Schuldenstandskriterium für Deutschland: 1995 59,1 %, 1996 58,3 %. Damit erfüllen wir alle Kriterien von Maastricht. Wenn wir neben Luxemburg als einziger Staat in Europa diese strengen Kriterien erfüllen, dann brauchen wir uns doch von Ihnen keinen Vorhalt wegen unserer Finanzpolitik machen zu lassen. ({12}) Sie waren sich nicht zu schade, nochmals die Mär von dem Buchungstrick zu bringen. Die Abgabe von sieben Mehrwertsteuerpunkten an die Länder schafft keinen Spielraum auf der Ausgabenseite; denn die 1995 zum Ausgleich für den Bund wegfallenden Ausgaben für den Fonds Deutsche Einheit werden durch neue Ausgaben zugunsten der neuen Länder ersetzt, nämlich für den Erblastentilgungsfonds, für die Investitionsförderung Aufbau Ost und für die Nachfolgeeinrichtungen der Treuhandanstalt. Das sind zusammen mehr als 30 Milliarden DM. Im übrigen gibt es den Kampf zwischen Bund und Ländern um Umsatzsteuerpunkte seit 1949. Nicht zum erstenmal tritt der Bund Mehrwertsteuerprozentpunkte an die Länder ab. Warum sollen nun ausgerechnet diese sieben Mehrwertsteuerprozentpunkte, die der Bund 1995 an die Länder abtritt, auch künftig beim Bund noch als Einnahmen verbucht werden? Es macht doch keinen Sinn, sie einfach als Durchgangsposten einzusetzen. ({13}) Wenn ich keine Einnahmen habe, dann kann ich auch keine Ausgaben verbuchen. Auch hier billigste Polemik! Dieser Haushalt ist ein Konsolidierungshaushalt und ein Zukunftshaushalt. Noch nie sind so viele Strukturänderungen in einem Haushalt aufgenommen und verwirklicht worden: die Regelung der Erblast im Erblastentilgungsfonds, die Finanzierung der Treuhandnachfolgeinstitutionen, die Neuregelung des Finanzausgleichs und die Altschuldenhilfe. Der Weg zur Reduzierung der Staatsquote ist klargestellt. Es gibt eine Steigerung von nur 0,9 % bei einem erwarteten Nominalwachstum von 5,5 %. Das ist genau die Konsolidierungslinie und der Konsolidierungskurs. Die Ausgabensteigerung ist auf einem fast historisch niedrigen Niveau. Nur 1953 lagen wir mit minus 3,3 % noch besser. Der Haushalt 1994 wird sicher 13 Milliarden DM weniger Kredite benötigen, als ursprünglich gedacht. Auch 1995 werden wir mit 58 Milliarden DM erheblich weniger brauchen, als ursprünglich gedacht. Mit der Entlastung, die Ländern und Kommunen zugute kommt, wird der Kapitalmarkt 1995 um mehr als 50 Milliarden DM entlastet. Das ist das Signal für die Kapitalzinsen; das ist das Signal für Europa und die G 7. ({14}) Dennoch setzen wir deutliche Impulse für die Entwicklung von Innovationen am Standort Deutschland. Die Ausgaben für Forschung und Technologie steigen überdurchschnittlich. Der Bund bietet den neuen Ländern eine hälftige Kofinanzierung eines Dreijahresprogramms zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation mit einem Gesamtvolumen von 1,2 Milliarden DM an. ({15}) - Lassen Sie sich doch Valium geben! Sie müssen sich einmal anschauen, wie Sie sich von morgens bis abends in diesem Parlament aufführen. ({16}) Es ist wirklich wahr: Sie verwechseln den Bundestag mit einem Panoptikum. ({17}) Mit einem Luftfahrtforschungs- und Technologieprogramm in einer Größenordnung von 1,2 Milliarden DM sollen umweltschonende Triebwerke, ein ÖkoJumbo und neue Hubschraubertechnologien gefördert werden. ({18}) - Jetzt fängt er schon wieder an. Mit der Finanzierung des Fahrweges für den Transrapid durch den Bund wird ein Spitzenprodukt deutscher Technologie gefördert. ({19}) Der Ansatz der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulausbau" wird gegenüber 1994 um weitere 120 Millionen DM auf 1,8 Milliarden DM angehoben. Das ist ein Zuwachs in diesem Schlüsselbereich gegenüber 1990 von immerhin 60 %. Nun, meine Damen und Herren, ein Wort zur Steuerpolitik. Sie von der SPD werden den Bürgern und Arbeitnehmern gut erklären müssen, warum Sie sich einer aufkommensneutralen und mittelstandsfreundlichen Unternehmensteuerreform verweigern wollen. ({20}) Sie sollten sich darüber einmal mit dem Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg, Ihrem Parteifreund Spöri, der hier einmal Steuerpolitik gemacht hat, auseinandersetzen. Er ist sehr wohl für weitaus kräftigere Senkungen in diesem Bereich. Er sieht sich mit einer neuen Konkurrenz- und Wettbewerbslage konfrontiert, die Baden-Württemberg vor zehn oder vor 15 Jahren noch nicht verspürt hat. Es ist uns beim Standortsicherungsgesetz doch auch gelungen, Wege zu finden, um die Steuern auf die gewerblichen Einkünfte und die Körperschaftsteuer zu senken und diesen Nachteil gegenüber anderen Ländern zu beseitigen - natürlich mit dem Schönheitsfehler, der dadurch entstanden ist, daß es Einkunftsarten verschiedener Form gibt. Nun zum Punkt Familie. Ein Drittel der Bundesausgaben - wenn ich das noch einmal sagen darf - fließt in die soziale Sicherheit. Stellen Sie sich einmal vor: Im Jahre 1989 waren es über 90 Milliarden DM, die im Bundeshaushalt für Soziales ausgegeben wurden. Jetzt sind es über 170 Milliarden DM. Nie seit 1959 ist in einem Bundeshaushalt prozentual mehr für Soziales ausgegeben worden. Wir lassen uns von Ihnen den Vorwurf mangelnden sozialen Gespürs nicht machen. ({21}) Zum Familienleistungsausgleich, dem wir uns im nächsten Jahr stellen. Wir bleiben grundsätzlich beim dualen System. Die Aufwendungen für Kinder müssen bei der steuerlichen Beurteilung der Leistungsfähigkeit als Kinderfreibetrag berücksichtigt werden. ({22}) Nun kenne ich das uralte Motto, das Sie aus der Mottenkiste ziehen. Sie wissen aber ganz genau, daß das Bundesverfassungsgericht die horizontale Gerechtigkeit ganz stark in den Vordergrund gerückt hat. ({23}) Sie können ein Ehepaar mit Kindern nicht genauso hoch besteuern wie ein Ehepaar ohne Kinder. Das ist der entscheidende Punkt, um den Sie nicht herumkommen. ({24}) Darüber hinaus muß dann natürlich beim Kindergeld ein Äquivalent gefunden werden. Genau um dieses Problem werden wir uns am Anfang des Jahres kümmern. Nun zu dem Thema Existenzminimum und den entsprechenden Plänen. Liebe Frau Matthäus-Maier, sagen Sie doch einmal, für welches Modell Sie sind. Haben Sie ein eigenes? ({25}) Sind Sie für das Modell der Gutachterkommission? Dann sagen Sie es bitte. Dann stellen Sie sich aber auch bitte hin und sagen: Ich bin für die Vollbesteuerung der Renten, ich bin für die Besteuerung von Lohnersatzleistungen, Wohngeld, Erziehungsgeld, der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, gegen die Abzugsfähigkeit der Kirchensteuer, der Spenden an Vereine und gemeinnützige Organisationen. Wenn Sie das alles wollen, dann finden Sie in uns Gesprächspartner. Dann marschieren wir aber mit Ihnen zu den Betroffenen, nicht nur wir, sondern miteinander. Oder sind Sie für das Schleußer-Modell, das Modell Ihres nordrhein-westfälischen Finanzministers, der einen höheren Eingangssteuersatz vorschlägt, was letztlich wie eine Ergänzungsabgabe ab einem zu versteuernden Einkommen von 50 000 DM wirkt? Wahr ist eines: Mit 15 Milliarden DM wollen wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllen. Das ist eine Nettoentlastung für alle. Jetzt polemisieren Sie mit dem erfundenen Begriff des Kleinen-Leute-Buckels. Das wird dann ganz bewußt, um jemanden persönlich zu diskriminieren, mit einem Namen, nämlich dem meinen, verbunden. So macht man es in der Politik. Ich finde, das ist der beste Weg zur Politikverdrossenheit. ({26}) Sie können sich mit mir auseinandersetzen, aber diese gemeine Personalisierung ist eine miese Form der politischen Auseinandersetzung. ({27}) Die Tatsachen lassen sich nicht verbiegen. Die Bezieher geringerer Einkünfte werden durch meinen Tarifvorschlag prozentual und auch in absoluten Beträgen am meisten entlastet. Bei einem zu versteuernden Einkommen von 122 000 DM beträgt die Steuerschuld bisher 42 000 DM. Nach dem neuen Tarif sind es 41 242 DM, das sind 758 DM weniger; Entlastung: 1,8 %. Bei einem zu versteuernden Einkommen von 20 000 DM waren bisher 2 943 DM zu zahlen, nach neuem Recht sind es 2 177 DM. Das sind 766 DM weniger; Entlastung: 26 %. Wer profitiert denn Ihrer Meinung nach von unserem Tarif: der Reiche? Nein. Dann hören Sie aber endlich mit dieser widerlichen Neidkampagne auf. ({28}) Was Sie über die Grenzbelastung sagen, ist eine Gespensterdiskussion. Letztlich entscheidet, was nach Abzug der Steuer unter dem Strich vom Einkommen übrigbleibt. Niemand kann dann in Abrede stellen: Das Zusammenwirken von Tarifverlauf und Grundentlastung führt zu einer sozial ausgewogenen Gesamtbelastung. Auch die Absenkung des Tarifverlaufs um 0,7 Prozentpunkte macht Sinn. Es ist nur recht und billig, daß diejenigen, die keine Grundentlastung mehr beanspruchen können, einen Ausgleich bekommen. ({29}) Dann konnte die Forderung „Steuerhinterziehung bekämpfen" natürlich nicht ausbleiben. ({30}) - Wir sind uns doch wohl einig. ({31}) Sie haben sich doch gebrüstet, daß Sie an so vielen Regierungen beteiligt sind. Tun denn Ihre Länderfinanzminister mehr als die CDU- bzw. CSU-Finanzminister? ({32}) Was macht denn Herr Schleußer? Ich habe den Vorschlag doch an die Arbeitsgruppe der Länderfinanzminister weitergegeben. Nichts ist dabei herausgekommen. Hier im Bundestag so zu tun, als gäbe es Milliarden zu holen, in den Ländern aber nichts zu unternehmen und mir dann sagen zu wollen, da sei nichts zu machen, das ist Pharisäismus in Reinkultur. ({33}) Sie haben versucht, den Bundesbankpräsidenten gegen mich in Front zu stellen. Ich zitiere aus seiner Rede vom 22. November 1994 in Bonn: Im Verlauf des Jahres 1993 hat erfreulicherweise zumindest der Bund seine finanzpolitische Linie neu adjustiert. Vor allem mit den Haushaltsbegleitgesetzen für 1994 hat er den Weg für stärkere staatliche Ausgabeneinsparungen gebahnt. Der im Sommer dieses Jahres vorgelegte Entwurf des Bundeshaushalts 1995 und die mittelfristige Finanzplanung weisen grundsätzlich den Weg in die richtige Richtung. Das hat der Bundesbankpräsident auch in der Kabinettssitzung jetzt im Dezember in klarer Form zum Ausdruck gebracht. Sie können die Bundesbank nicht gegen unsere Finanzpolitik in Anspruch nehmen. ({34}) Nun zum Vorwurf, wir würden sozialen Kahlschlag betreiben, Politik zu Lasten der Sozialhilfe machen. Ich habe mir einmal die Einnahmen eines Normalarbeitnehmers, verheiratet, zwei Kinder, in den alten Bundesländern zusammenstellen lassen: verfügbares Einkommen bei Erwerbstätigkeit 3 115 DM; Sozialhilfeanspruch - alle Zahlen gelten für dieselbe Familienstruktur - 2 860 DM; Arbeitslosengeld einschließlich Kindergeld, Zuschlag zum Kindergeld und Wohngeld 2 645 DM; Arbeitslosenhilfe einschließlich Kindergeld und Zuschlag zum Kindergeld und Wohngeld 2 418 DM. Meine Damen und Herren, es kann doch wohl nicht wahr sein, daß die Sozialhilfezahlungen über den Lohnersatzleistungen liegen. Hier stimmt doch etwas nicht mehr. ({35}) Darum fordere ich Sie auf, mit uns gemeinsam an die Reform und die Abstimmung zwischen Sozialhilfe und Lohnersatzleistungen heranzugehen, um wieder vernünftige Relationen im Interesse aller zu finden. ({36}) - Einen kleinen Moment; ich wollte doch gerade auf Sie eingehen. Sie sind ja noch nervöser als Ihr Kollege Tauss. Lassen Sie sich doch nicht anstecken! ({37}) - Ganz ruhig. Ich habe Ihnen vorhin doch auch ganz ruhig zugehört. Sie waren wenig verständlich, aber ich war doch trotzdem ganz gelassen. Wir haben doch Vorweihnachtszeit. Wen haben Sie als Kolpingsohn denn zum Erzieher gehabt? Ich bitte Sie. Getreu Kolping ganz ruhig. ({38}) Zurück zur Europäischen Union. Wir haben das Weißbuch sehr ernst genommen. Genau vor einem Jahr haben wir das erste Mal darüber geredet. Wir haben die Grundzüge umgesetzt, wir haben die makroökonomische Politik abgestimmt und sind an Strukturmaßnahmen herangegangen. Ich stimme weitgehend mit dem überein, was Präsident Delors in dem Zusammenhang vorgeschlagen hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schreiner?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Bitte schön.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, nachdem Sie eben das Lohnabstandsgebot erwähnt und den angeblich mangelnden Abstand zwischen normalem Erwerbseinkommen und dem Einkommen aus Sozialhilfe kritisiert haben, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt ist, daß das Bundesministerium für Familie und Jugend unter der damaligen Führung von Frau Ministerin Rönsch noch im Sommer dieses Jahres eine umfängliche Studie präsentiert hatte, deren erklärter Tenor lautete, der Abstand zwischen den unteren Erwerbseinkommen und der Sozialhilfe sei gewahrt, allerdings mit der Ausnahme von Mehrkindfamilien. Der Grund dafür sei aber nicht eine zu üppige Sozialhilfe, sondern ein völlig mißratener Kinderlastenausgleich. ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Ich habe hier ein Beispiel, und mir wird doch wohl jeder zugeben, daß dieses Beispiel so nicht stehenbleiben kann. Was soll ich denn dem Arbeitslosen sagen, der am Stammtisch einen Sozialhilfebezieher trifft und feststellt, daß er, der Jahre oder Jahrzehnte in die Sozialversicherung, in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hat, weniger als derjenige herausbekommt, der nie einen Pfennig eingezahlt hat? Ich kann es ihm nicht klarmachen. ({0}) Darum plädiere ich dafür, daß wir aufeinander zugehen und eine gemeinsame Reform in Angriff nehmen. Wir haben die Anregungen von Präsident Delors sehr ernst genommen. Zu ihnen gehören die Beseitigung unzeitgemäßer Regulierungen, die Senkung der Lohnnebenkosten, Anreize zur Arbeitsaufnahme, berufliche Qualifizierung, eine beispielhafte Mittelstandspolitik, die wir immer hatten und die die anderen jetzt nachmachen, die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit und die Vermittlung von Arbeitskräften. Wir haben die Probleme noch lange nicht gelöst; aber wir sind uns alle darüber im klaren, daß Strukturreformen notwendig sind. Herr Schreiner, ich wünschte mir, Sie kämen hier und da mit dem von mir sehr geschätzten Ministerpräsidenten der Niederlande, Wim Kok, zusammen, einem Sozialdemokraten und früheren Gewerkschaftsführer, der in einer beispielhaften Einsicht in die Dinge eine aufeinander abgestimmte Finanz- und Sozialpolitik betreibt und der in Essen die Schlußfolgerungen mit unterzeichnet hat, wonach die Lohnsteigerungen unter dem Produktivitätsfortschritt sein müßten, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Hätten wir bloß einen Wim Kok in Deutschland, dann brauchten wir uns solche Debatten hier nicht anzuhören. ({1}) Nun sehe ich leider den Kollegen Schulz nicht mehr. Herr Kollege Schulz, Sie haben hier Frau Breuel, die sich in diesem Parlament nicht verteidigen kann, mit dem Geßler im „Tell" verglichen. Ich weise diese Gemeinheit zurück. ({2}) Im Verwaltungsrat der Treuhandanstalt und in vielen anderen Gremien waren die Ost-Ministerpräsidenten und hervorragende Gewerkschaftler dabei, im Vorstand der Treuhandanstalt haben aus den Gewerkschaften kommende kluge Leute verantwortungsvoll mitgearbeitet. Die allermeisten Entscheidungen sind dort einstimmig gefallen. Es ist wirklich Bösartigkeit, diese Erfolge in dieser Form darzustellen und damit die Menschen im Osten gegen eine Institution und gegen Menschen aufzuhetzen. Das ist politische Hetze. ({3}) Nun, 1--lerr Dreßler, noch zu der Frage der versicherungsfremden Leistungen. Die verschiedenen Zweige der Rentenversicherung erhalten 1995 zusammen über 70 Milliarden DM, die Arbeitslosenversicherung einschließlich Arbeitslosenhilfe über 30 Milliarden DM, und im Bereich der sozialen Sicherung der Landwirte geben wir insgesamt über 6 Milliarden DM aus. Hinzurechnen darf man sicherlich auch die Ausgaben für das Altersübergangsgeld von knapp 6,5 Milliarden DM. Zusammen macht das über 100 Milliarden DM, die zu drei Vierteln direkt in die Sozialversicherung fließen und sie im übrigen unmittelbar entlasten. Man wird also nicht behaupten können, daß sich hier der Bund aus seiner Verantwortung zurückzieht. Wenn der Bundeszuschuß wegen der besseren Konjunktur zur Bundesanstalt zurückgeht, dann ist es doch kein Rückzug, sondern dann können wir Gott sei Dank die Nettokreditaufnahme stärker senken, ({4}) auf die Art und Weise den Kapitalmarkt weniger beanspruchen und auf die Art und Weise die Zinsen senken. Das ist das Wichtigste, was wir für die Investitionen und für Arbeitsplätze tun können. ({5}) Meine Damen und Herren, die Opposition hat in diesen letzten Tagen keinen einzigen konkreten Einsparvorschlag gemacht, nur mehr gefordert. Diesen Widerspruch werden Sie nicht auflösen. Wir werden unsere konsequente und erfolgreiche Finanzpolitik fortsetzen und damit Erfolg haben. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Waigel hat sich zum Einzelplan Arbeit und Soziales gemeldet. Er hat zu diesem Bereich Arbeit und Soziales keine drei Sätze gesagt. ({0}) Seine Rede war der durchsichtige Versuch, die Scharte von Mittwoch auszuwetzen; denn daß Ihre Steuerpolitik ungerecht und Ihre Finanzpolitik unsozial ist, wissen die Menschen in diesem Land. ({1}) Die höchsten Schulden, die es je gab, die höchsten Zinszahlungen, die es je gab, die höchste Zahl an Pleiten, die es je gab, die höchste Steuer- und Abgabenquote in den 50 Jahren dieser Republik, die höchste Arbeitslosenquote, die wir je in diesem Lande hatten, gehen auf Ihr Konto. Deswegen sollten Sie etwas zurückhaltender sein mit Ihrer Selbstbelobigung, Herr Finanzminister. ({2}) Dann sagen Sie, es seien noch nie die Nebenhaushalte zur Bundesschuld addiert worden. Ich wiederhole meine Zahlen von Mittwoch. Ich habe gesagt: Als Sie Helmut Schmidt gestürzt haben, betrugen die Schulden des Bundes inklusive aller Nebenhaushalte 390 Milliarden DM. Dies hätten Sie mittlerweile nachprüfen können, Herr Waigel. Dies war selbstverständlich inklusive Bahn, Post und ERP. Heute betragen Ihre Bundesschulden inklusive aller Nebenhaushalte 1,4 Billionen DM. Es bleibt dabei: In den zwölf Jahren der Regierung Kohl haben Sie 1 Billion DM Schulden oben drauf gepackt. Dann stehen Sie auch dazu. Wenn Sie sagen, Sie stünden besser da als andere Länder, dann trifft das in der Tat zu. Aber ich frage Sie: Sollen wir wirklich erst in die Situation der USA, der Belgier, der Italiener geraten, die heute alle nicht mehr wissen, wie sie ihre Haushalte finanzieren, wie sie schwerwiegendste Kürzungen hinbekommen sollen? Ich halte den Hinweis, etwa auf die USA, denen wir uns sehr genähert haben, für überhaupt nicht hilfreich. Ich möchte nicht, daß meine Kinder und Enkelkinder kein Geld mehr für die Schaffung von Arbeitsplätzen, für gerechte Steuerreformen ausgeben können, weil wir ihnen mit den Zinsen die Haare vom Kopfe fressen, meine Damen und Herren. ({3}) Wenn Sie sagen, wir hätten für unsere Forderungen keine konkreten Finanzierungsvorschläge gemacht, dann ist auch das die Unwahrheit, Herr Finanzminister. ({4}) Erstens habe ich keine milliardenschweren Forderungen erhoben, sondern überwiegend Umschichtungsvorschläge gemacht. Ein konkretes Beispiel: Als wir angemahnt haben, daß Sie bitte schön auf den sogenannten Zukunftsetat, nämlich den Etat der zusammengelegten Ministerien für Bildung und Wissenschaft sowie Forschung und Technologie, der nach Ihrer Vorstellung nur entsprechend dem Durchschnitt des gesamten Haushaltes wachsen soll, etwas drauflegen sollen, habe ich ganz konkret gesagt, woher Sie die Mittel holen sollen. Zur Überraschung aller, meine Damen und Herren, doch nicht nur zur Überraschung der Sozialdemokraten, sondern auch zur Überraschung Ihrer eigenen Leute wollen Sie in 1995 den Verteidigungsetat bereits wieder um 670 Millionen DM erhöhen. Sie wollen ihn nicht etwas kürzen, sondern ihn schon wieder um eine solch enorm hohe Summe erhöhen. Wir Sozialdemokraten bleiben allerdings dabei: Diese 670 Millionen DM wären besser aufgehoben, wenn sie dem sogenannten Zukunftsetat zufielen, nicht dem Verteidigungshaushalt. ({5}) Da Sie den Jäger 90 angesprochen haben, tue auch ich dies. Das ist nämlich kein Thema aus der Mottenkiste. Die meisten Leute wissen nicht, daß wir uns am Ende der sogenannten Entwicklungsphase befinden. Man unterscheidet bei den großen Rüstungsvorhaben eine sogenannte Entwicklungsphase und eine sogenannte Produktionsphase. Jetzt, am Ende der Entwicklungsphase, auszusteigen ist unsinnig; denn dann wäre die Vertragsstrafe genausohoch wie die Kosten, die entstehen, wenn weiterentwickelt würde. Meine Damen und Herren, wir stehen vor der Entscheidung, ob wir den Jäger 90 bauen. Wir sind dabei parlamentarisch und finanziell frei. Deswegen sollten die Menschen in diesem Lande auch vor den Wahlen, die im Jahre 1995 stattfinden, die Alternative kennen: Sie wollen den Jäger 90 bauen. Wir sagen: Wir wollen den Jäger 90 nicht bauen. Wir haben kein Geld dafür. Wir wollen dafür Sozialwohnungen bauen, pro Jäger 90 1000 Sozialwohnungen. Das ist wichtiger als ein neuer Vogel. ({6}) Herr Waigel, Sie haben hier wieder behauptet - mittlerweile, da Sie es trotz unserer Klarstellung immer wieder tun, ist dies nicht Unwissenheit, sondern die glatte Unwahrheit; ich habe meinen Kindern beigebracht, daß man eine bewußte Unwahrheit Lüge nennt -, ({7}) nach dem Vorschlag von uns Sozialdemokraten würden Leute mit Kindern genausohoch besteuert wie Leute ohne Kinder. Ich habe zigmal dargestellt - das wissen Sie -, daß wir vom ersten Kind an 250 DM bzw. vom vierten Kind an 350 DM Kindergeld als sogenannten Abzug von der Steuerschuld fordern. Das heißt - jetzt sage ich das so, daß es hier jeder versteht; sonst bekomme ich wieder Zwischenfragen -: Wenn z. B. ein Arbeitnehmer heute im Monat 800 DM Lohnsteuer zahlen muß und zwei Kinder hat, dann zahlt er diese nach unserem Vorschlag nicht mehr. Ihm werden vielmehr zweimal 250 DM, also 500 DM, von seiner Lohnsteuerschuld abgezogen, d. h. er zahlt nur noch 300 DM Lohnsteuer. Der kinderlose Kollege, der nebenan an der Werkbank steht, zahlt weiterhin 800 DM. Wenn aber der Kinderlose 800 DM zahlt, der mit zwei Kindern aber nur 300 DM, wie können Sie dann immer noch behaupten, nach dem Vorschlag von uns Sozialdemokraten würden beide gleich viel bezahlen? Bitte lassen Sie dieses alberne Argument in Zukunft weg. ({8}) Zum letzten Punkt, der bei Ihnen offensichtlich sitzt, weil Sie immer auf prozentuale Entlastungen ausweichen: Nach dem Waigel-Tarif - warum ärgern Sie sich, wenn ich dies Waigel-Tarif nenne?; Sie haben doch das krumme Ding, das keiner liebt, erfunden ({9}) soll eine Familie mit 60 000 DM zu versteuerndem Einkommen um 21 DM im Monat entlastet werden. Nach dem gleichen Waigel-Tarif soll eine Familie, die mehr als 240 000 DM im Jahr verdient, um 128 DM im Monat entlastet werden. Es hat doch offensichtlich nichts mit Neid zu tun, wenn man dies kritisiert. Wer aber unsere Kritik wiederum als Neiddiskussion kritisiert, der hat den letzten Funken Mitgefühl für die Situation der Familien mit Kindern verloren. Sie wissen gar nicht mehr, was in den Familien mit Kindern los ist, meine Damen und Herren. ({10}) Ich möchte diese Neiddiskussion einmal umdrehen, Herr Waigel - Sie benutzen dies nur, weil Sie ein schlechtes Gewissen haben -: ({11}) Eine Bundesregierung, die für Eltern mit niedrigen Einkommen 65 DM im Monat an Entlastung aus dem Kinderfreibetrag für ihr Kind zuläßt, der Spitzenverdienerfamilie aber 181 DM für ihr Kind zubilligt, vermittelt den Eindruck, als würde sie es den Eltern mit dem geringen Einkommen neiden, wenn sie genausoviel bekämen wie die reichen Eltern. Meine Damen und Herren, Sie neiden den kleinen Leuten, daß wir sie gleichbehandeln wollen. ({12}) Ich bringe ein zweites Beispiel für die Neiddiskussion. Können Sie mir einmal sagen, was es mit Neid zu tun hat, wenn wir Sozialdemokraten monieren, daß Sie die Lohnsteuerfreiheit des Essenszuschusses für Arbeitnehmer in Höhe von 1,50 DM pro Essen streichen, weil Sie angeblich kein Geld haben, gleichzeitig aber die Bewirtungskosten für Unternehmen immer noch in Höhe von 80 % absetzbar bleiben? ({13}) Nein, wir werden uns im Bundesrat und dann hier im Vermittlungsausschuß zusammenraufen müssen. Sie haben keine Mehrheit im Bundesrat, und wir haben keine Mehrheit im Bundestag. Deshalb müssen wir uns bei den Steuergesetzen zusammenraufen. Aber auf eines können Sie sich verlassen: Mit Sozialdemokraten werden Sie nie einen Kompromiß erhalten, der bei den kleinen und mittleren Verdienern absahnt und die Großverdiener davonkommen läßt. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung liegen nicht vor. Wir kommen damit zum Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Das Wort hat der Bundesminister Jochen Borchert.

Jochen Borchert (Minister:in)

Politiker ID: 11000233

Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestern haben wir in den frühen Morgenstunden die letzte Agrarratssitzung unter deutscher Präsidentschaft mit wichtigen Beschlüssen für unsere Bauern erfolgreich abgeschlossen. Mit diesen Beschlüssen haben wir erreicht, daß der Agrarteil des GATT-Vertrages fristgerecht verabschiedet worden ist. Die beschlossenen Änderungen der Marktorganisationen können flexibel und unbürokratisch umgesetzt werden. Bei der Neuregelung im Rahmen des agrarmonetären Systems haben wir durchgesetzt, daß die deutschen Bauern vor aufwertungsbedingten Einkommenseinbußen geschützt werden. Die Tier- und Flächenprämien bleiben im Rahmen der Agrarreform auch in Zukunft von aufwertungsbedingten Kürzungen verschont. ({0}) Damit haben wir das bisher geltende agrarmonetäre System festgeschrieben und weiter verbessert. Die Freimarge für aufwertende Währungen bleibt unverändert bei 5 %. Wird in einem - sicher unwahrscheinlichen - Fall diese Freimarge überschritten, tritt der Ministerrat zusammen, um zum Schutz der landwirtschaftlichen Einkommen die erforderlichen Maßnahmen zu beschließen. Mit diesen Beschlüssen ist eines der wichtigsten agrarpolitischen Anliegen der Koalition bereits nach einem Monat verwirklicht. Die agrarmonetären Beschlüsse setzen den Schlußpunkt unter eine für die Landwirtschaft insgesamt erfolgreiche Präsidentschaft in Europa. ({1}) Ich nenne als Beispiele die Verbesserung der einzelbetrieblichen Förderung, die Verlängerung des Verbotes für BST bis Ende 1999, die Absicherung der Trockenfutterbeihilfe, die Sicherung der Kartoffelstärkeproduktion in Deutschland, die Regionalisierung der Ölsaatenflächen und vor allen Dingen zum erstenmal deutliche Verbesserungen beim Tierschutz in Europa. Meine Damen und Herren, dies ist praktische Agrarpolitik, eine erfolgreiche Agrarpolitik dieser Koalition für die deutschen Bauern. ({2}) Unsere Agrarpolitik der nächsten Jahre steht unter dem Motto: verläßliche, zukunftsweisende Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft. Wir werden den eingeschlagenen Weg in der europäischen Agrarpolitik fortsetzen: Marktentlastung mit Ausgleichszahlungen und eine nachhaltige Anwendung der flankierenden Maßnahmen. Die Bundesregierung bekennt sich zu einer wettbewerbsfähigen, marktorientierten und umweltverträglichen Landwirtschaft in ganz Deutschland. ({3}) Wir wollen die strukturelle Vielfalt mit bäuerlichen Familienbetrieben im Voll-, Zu- und Nebenerwerb, mit Kooperationen, aber auch mit Betrieben in anderen Betriebs- und Rechtsformen. Wir wollen vor allem an der bewährten bäuerlichen Produktionsweise festhalten, die sich an der Nachhaltigkeit der Bewirtschaftung und der Flächenbindung in der Tierhaltung orientiert. Wir haben ein klares agrarpolitisches Konzept, um diese Ziele zu erreichen. Wie sieht es nun bei der SPD aus? ({4}) - Dann müssen Sie aber sehr mutig sein, wenn Sie hier „gut" rufen. Ich habe versucht, ein Konzept zu finden. Ich habe überhaupt kein Konzept gefunden. In der letzten Debatte ist aus Fachzeitschriften vorgelesen und zitiert worden. Dies ersetzt noch kein agrarpolitisches Konzept. Wenn ich es richtig sehe, dann besteht dieses Konzept, ({5}) bestehen die agrarpolitischen Vorstellungen aus einem verstaubten Griefahn-Verschnitt mit überkommenen Ökoträumen, mit weltfremder Fortschrittsfeindlichkeit und mit bürokratischer Leistungsverhinderung, Herr Sielaff. Ein bißchen PDS im Osten, ein bißchen grün im Westen, insgesamt nur unverbindliches Wischiwaschi. ({6}) Das reicht sicher zur Folklore auf Diskussionsveranstaltungen, nicht aber als seriöse Grundlage für die Bauern und für die Agrarpolitik. ({7}) Wenn es stimmt, was die Zeitungen berichten, daß die hessische SPD das Heckenschneiden genehmigungspflichtig machen will ({8}) und aufgelesene Feldsteine als schützenswerte Sonderbiotope deklariert, dann gute Nacht, deutsche Landwirtschaft. ({9}) Die Landwirtschaft braucht unsere volle Unterstützung. Dafür steht die Agrarpolitik der Bundesregierung. Das beweisen auch die Haushaltsansätze für den Einzelplan 10. 12,5 Milliarden DM werden wir 1995 für die Bäuerinnen und Bauern bereitstellen. ({10}) Diese Summe kannte die Landwirtschaft bereits vor der Bundestagswahl. Wir haben den Bauern vor der Wahl gesagt, was wir wollen und was wir finanzieren können. Niemand wird bestreiten, daß es eine der zentralen agrarpolitischen Aufgaben ist, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft zu verbessern. Wir haben in harten Verhandlungen die hierfür notwendigen Änderungen der Agrarstrukturförderung in Europa durchgesetzt. Damit ist der Weg frei für eine zukunftsweisende einzelbetriebliche Investitionsförderung. Wir wollen die erweiterten Fördermöglichkeiten, z. B. das höhere förderfähige Investitionsvolumen, bereits im nächsten Jahr in die Praxis umsetzen. ({11}) Darüber hinaus wollen wir für die einzelbetriebliche Förderung für 1995 100 Millionen DM mehr bereitstellen. Deshalb strebe ich eine entsprechende Umschichtung in der Gemeinschaftsaufgabe an. Mit den Komplementärmitteln der Länder stehen dann rund 170 Millionen DM mehr zur Verfügung. Damit können Zukunftsinvestitionen in Höhe von rund 1 Milliarde DM durchgeführt werden. Wir sind uns doch einig: Die deutsche Landwirtschaft braucht diese verbesserte Förderung. Wenn man Landwirten dieses Investitionsprogramm verweigert, dann verbaut man ihnen die Weichenstellung für die Zukunft. In der Agrarsozialpolitik haben wir die Weichen bereits in der letzten Legislaturperiode neu gestellt. ({12}) Wir haben die lange geforderte eigenständige soziale Sicherung der Bäuerin eingeführt. Wir haben für eine gerechte Beitragsregelung gesorgt. Wir haben ferner die langfristige Finanzierbarkeit der Sozialpolitik, vor allen Dingen der Alterssicherung, garantiert. ({13}) Die Bundesregierung wird allein hierfür in den Jahren 1995 bis 1997 über 1 Milliarde DM bereitstellen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat auf der europäischen wie auf der nationalen Ebene alles getan, um die schwierige Umstrukturierung der Landwirtschaft in den neuen Bundesländern zu erleichtern. Ich erinnere insbesondere an die Ausnahmeregelungen bei der Agarreform, an die Sonderregelungen in der einzelbetrieblichen Investitionsförderung und an die Förderung aus den Strukturfonds der Europäischen Union, die sogenannte Ziel-1-Förderung. Die Bundesregierung wird auch in Zukunft alles tun, um Landwirtschaft und ländliche Räume zu stärken, in Ost und in West. Dafür ist der Einzelplan 10 dieses Bundeshaushaltes ein solides Fundament. Er ist ein Weg für eine erfolgreiche Agrarpolitik der nächBundesminister Jochen Borchert sten Jahre. Deshalb rufe ich Sie auf: Unterstützen Sie diesen Agrarhaushalt im Interesse der deutschen Bäuerinnen und Bauern! Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Sielaff.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wollen ... eine wettbewerbsfähige, marktorientierte und umweltverträgliche Landwirtschaft, die hochwertige Nahrungsmittel ... erzeugt und die die natürlichen Lebensgrundlagen erhält und die Kulturlandschaft pflegt und die wirtschaftliche und soziale Stabilität ländlicher Räume sichert. ({0}) - Mein lieber Herr Hornung, ich habe erwartet, daß Sie hier zwischenrufen. Ihre Zwischenrufe sind nicht immer von der besten Qualität. Dies war ein Zitat aus der Rede, die Herr Borchert am 24. November dieses Jahres hier im Hause gehalten hat. ({1}) Weiter hat er gesagt: Wir wollen ... das Erreichte stabilisieren, verläßliche Rahmenbedingungen sichern und weitere Entwicklungsperspektiven eröffnen. ({2}) - Dem könnte sicherlich, Herr Carstensen, jeder hier im Hause zustimmen. Nur, aus dem Munde des Bundesernährungsministers, der heute diesen Haushalt hier zu verteidigen hat, sind es Sprechblasen ohne Substanz. Ich werde einige Dinge dazu sagen. Wo sind denn die konkreten Ansätze und Finanzhilfen zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im ländlichen Raum? Und vor allem: Wo finden sie konkret im Haushalt ihren Niederschlag? Sie, Herr Borchert, wollen eine umweltverträgliche Agrarpolitik und wehren sich gleichzeitig vehement gegen die Umsetzung der Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" und gegen das Gutachten des Sachverständigenrates zu Fragen der Umweltverträglichkeit der Landwirtschaft. Sicher stehen dort viele unangenehme Dinge. Aber Sie sollten sie offensiv angehen und sich nicht, wie Sie das derzeit überall tun, auf die kleinen Fortschritte zurückziehen, die hier und da durchaus erkennbar sind. Ein Blick in die Statistik zeigt uns, daß einige Trends in die richtige Richtung gehen. Wir begrüßen das. So ist z. B. der Verbrauch an Düngemitteln bei uns rückläufig. Die gleiche Entwicklung brauchen wir EU- und weltweit. Bioprodukte sind auf dem Vormarsch. Hier sind besonders junge Landwirte, aber auch andere am Marktgeschehen orientierte Landwirte gefordert. Seit Jahren aber versuchen Schwarzseher mit der Meldung, daß die Ökonische voll sei, Unsicherheiten zu verbreiten. Meine Damen und Herren, dieser Markt ist noch nicht ausgereizt. Es wird nur endlich Zeit, daß die Vermarktungschancen verbessert werden. ({3}) Wo aber ziehen Sie Konsequenzen? Der Agrarbericht 1994 der Bundesregierung zeigt erneut, daß Wettbewerbsfähigkeit und Marktorientierung der deutschen Landwirtschaft gegenüber denen der wichtigsten Konkurrenten in der EU stark zu wünschen übriglassen. Die deutsche Landwirtschaft, insbesondere in den alten Ländern, ist nicht für den EU-Binnenmarkt gerüstet. Lediglich Mittelmaß konnte die Kohl-Regierung trotz enormer Förderungen erreichen. Nur eine leistungsfähige Landwirtschaft bzw. ausreichende Einkommen für unsere Bäuerinnen und Bauern ermöglichen umweltverträgliche Produktionsweisen und notwendige ökologische Innovationen. Geben wir uns aber hinsichtlich einer wettbewerbsfähigen Landwirtschaft nicht der Illusion hin, es könne einen echten Wettbewerb gegenüber der gewerblichen Wirtschaft geben. Es gibt, Herr Borchert, auch keinen echten Wettbewerb innerhalb der Landwirtschaft. Es sollte dabei nicht vergessen werden, daß die Landwirtschaft von den Unsicherheiten der Natur abhängig ist und daß die völlig verschiedenen Standortfaktoren himmelweite Unterschiede schaffen und Witterungseinbrüche innerhalb von wenigen Minuten jede Wettbewerbsfähigkeit zerstören können. Auch das muß man sagen, wenn man von Wettbewerbsfähigkeit spricht. Die Landwirtschaften der Gemeinschaft sind integriert, und dieser Prozeß wird sich fortsetzen. Hier muß unser wichtigstes Ziel sein, die ökologischen und gesundheitlichen Standards in den europäischen Gemeinschaften zu verbessern. Da, wo wir den anderen Staaten voraus sind, dürfen wir diesen Vorsprung nicht aufgeben. Die hohen deutschen Standards dürfen nicht leiden. Ein Wettbewerb zu Lasten der Umwelt schadet allen, aber vor allem der Landwirtschaft selbst. ({4}) Sie, Herr Borchert, bauen immer wieder einen künstlichen Gegensatz zwischen Ökologie und Landwirtschaft auf und schaden damit unseren Landwirten. ({5}) Sie versuchen offensichtlich, Mißstimmung unter den Bauern zu schüren, mit der Warnung, die Landwirtschaft dürfe nicht bedingungslos, so Ihre Redensarten, der Umweltpolitik untergeordnet werden. Wann sehen Sie endlich ein, daß Sie den Landwirten besser den Standortvorteil einer ökologisch besonders hochwertigen Produktion nahebringen sollten, anstatt z. B. in Brüssel gegen die Beibehaltung des Trinkwasservorsorgewertes zu agitieren? ({6}) Ein Blick in diesen Haushaltsentwurf, auf den Einzelplan 10, zeigt: Der Agrarstandort Deutschland soll gegenüber 1994, dem laufenden Haushalt, mit weniger Bundesmitteln - insgesamt 5,5 % weniger - gesichert werden. Wir wissen auch, daß in den Vorjahren bereits Mindereinnahmen zu verzeichnen waren. Es besteht folglich kein Grund zum Jubeln. Wenn schon weniger Geld für die Landwirtschaft zur Verfügung steht, dann fordern wir eine gezieltere Verteilung und den Mut, die Vergabe von Mitteln an ökologische und soziale Kriterien zu binden. ({7}) In der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes", dem Instrument, mit dem die verbalen Ziele dieser Regierung umgesetzt werden müßten, tut sich überhaupt nichts. Insbesondere werden nicht die investiven Maßnahmen verstärkt. Der Agraretat schrumpft besonders durch die Halbierung der Ausgleichsmaßnahmen, durch Kürzungen bei der Gemeinschaftsaufgabe, durch das Auslaufen der alten Milchrentenaktionen und auch durch Einsparungen nach der Agrarsozialreform. Da haben Sie sich, Herr Minister Borchert, vom Finanzminister das gesamte eingesparte Geld, das eigentlich der Landwirtschaft erhalten bleiben sollte, leichtfertig aus der Tasche ziehen lassen. Ich will dabei dem Bundesminister Borchert nicht den ernsthaften Willen absprechen, einiges in der Agrarpolitik zu ändern und neue sachliche und räumliche Schwerpunkte zu setzen. Angesichts der ungünstigen Einkommenssituation in vielen landwirtschaftlichen Betrieben, des Eigenkapitalverzehrs und der Mittelmäßigkeit unserer Wettbewerbsfähigkeit ist das auch dringend geboten. Der Haushaltsentwurf 1995 zeigt allerdings: Die Bundesregierung hat nicht die Kraft, wirklich dringend notwendige Änderungen herbeizuführen. Davon war auch hier heute nichts zu hören. ({8}) Wir haben deshalb in dieser Woche eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Die zu erwartende Antwort wird zeigen, wie weit Worte und Taten der Bundesregierung z. B. bei der einzelbetrieblichen Förderung, die ein wichtiges Mittel gezielter Strukturpolitik im geeinten Deutschland ist, auseinanderklaffen. Wir halten eine Debatte darüber für unerläßlich, da es bei der Regierungskoalition bedrohliche Bestrebungen gibt, sich von den Prinzipien gezielter Förderung noch weiter zu entfernen. Meine Damen und Herren, mehr als bisher müssen wir Umweltverträglichkeit und Wettbewerbsfähigkeit bei Erzeugung und Verarbeitung, Sicherung der Entwicklungschancen der landwirtschaftlichen Betriebe und Landschaftsschutz bzw. Landschaftspflege im Einklang sehen. Landwirtschaft und Agrarpolitik drohen, so meine ich, ins gesellschaftliche Abseits zu geraten, ({9}) wenn es nicht gelingt, die große gesellschaftliche Bedeutung dieses Wirtschaftszweiges, Herr Susset, im Bewußtsein der Gesamtbevölkerung zu verankern. Nur so läßt sich langfristig die gesellschaftliche und finanzielle Unterstützung der Landwirtschaft sichern. Seit Jahren mahnen wir an dieser Stelle die immer gleichen Dinge an. Ich nenne nur einige Beispiele: Die Düngemittelverordnung schmort nun schon mehr als drei Jahre vor sich hin, weil sich CDU-Umwelt- und CDU-Agrarminister nicht einigen können. ({10}) Herr Borchert, es ist schon eine Dreistigkeit, wenn Sie - Herr Heinrich, hören Sie gut zu - Anfang der Woche zum zigtausendsten Male in einem Interview zum besten geben, daß die Düngeverordnung kurz davor ist, nun vorgelegt zu werden. Ganz nebenher haben Sie natürlich der Landwirtschaft gleich versprochen, daß keine Belastungen für die Betriebe daraus erwachsen werden. Wir sind gespannt, wie und wann Sie dieses Versprechen einlösen. ({11}) Wir sind gespannt, Herr Borchert. Die erforderliche Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes - das wissen Sie, Herr Zwischenrufer, sehr genau - blieb aus. Ein geplantes Bodenschutzgesetz blieb stecken und wurde nicht auf den Weg gebracht. Die flankierenden Maßnahmen - das zweite wichtige Standbein der EU-Agrarreform - einer umweltgerechten landwirtschaftlichen Produktion sind verspätet eingeführt worden und mit unzureichenden Mitteln ausgestattet. Die EU-Agrarpolitik ist in Deutschland, wie ich meine, eine flügellahme Ente, nicht zuletzt wegen der mangelnden Bereitschaft der Bundesregierung im Bereich der begleitenden Maßnahmen. ({12}) - Wenn Sie sagen, das ist eine Übertreibung, geben Sie immerhin zu, daß ich nicht ganz unrecht habe. Das ist schon einiges aus den Reihen der CDU/CSU. Meine Damen und Herren, das Konzept für den ländlichen Raum, zu Beginn der letzten Legislaturperiode in den Koalitionsvereinbarungen seinerzeit angekündigt, ist bisher immer noch nicht vorgelegt worden. Nichts dazu ist im Haushalt des Landwirtschaftsministers, geschweige denn in den Haushalten anderer Ministerien zu entdecken. ({13}) - Herr Heinrich, Sie haben eine ganze Legislaturperiode Zeit gehabt. Das ist ja schon eine LegislaturpeHorst Sielaff riode überfällig. Jetzt fangen Sie wieder von vorne an und sagen: Wir wollen es jetzt lösen. Das sind diese bekannten Vertröstungen. Ich fürchte, die Lösung dauert so lange, bis Sie eines Tages nicht mehr im Parlament sind. ({14}) Dabei haben Landwirtschaft und Ernährungsgewerbe in vielen ländlichen Regionen eine große Bedeutung. Sie sind in manchen dieser Räume der Hauptarbeitgeber. Es müssen aber andere Arbeitsplätze hinzukommen, wenn wir dem ländlichen Raum lebenserhaltende Maßnahmen zukommen lassen wollen. Deshalb gehören Landwirtschaft und die Entwicklung ländlicher Räume für mich zusammen. Agrarpolitik muß Politik für den gesamten ländlichen Raum sein. Ohne Landwirtschaft haben auch die vor- und nachgelagerten Bereiche in der Ernährungswirtschaft - Molkereien, Schlachthöfe und anderes - keine Überlebenschance. Der viel strapazierte Begriff der Regionalisierung muß, meine ich, wieder einen höheren Stellenwert für die Landwirtschaft bekommen. ({15}) Diese Nähe und die damit erhöhte Transparenz müssen als Hauptplus der regionalisierten Erzeugung gesehen werden. Die Akzeptanz der Gesellschaft für Fördermittel für die Landwirtschaft wird letztendlich auch davon abhängen. Meine Damen und Herren, die Regionalisierung darf aber nicht dazu führen, daß sich die Bundesregierung immer mehr aus der Verantwortung herausstiehlt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch einen Satz zur Schweinepest sagen: Das ist ein gesamtnationales Problem geworden und ist nicht mehr regional anzugehen und zu bewältigen. ({16}) Deshalb darf sich der Bund nicht so passiv verhalten, wie er es bisher weitgehend getan hat. Auch er hat eine Verantwortung. Die bisherigen Hilfen und Programme müssen ausgeweitet werden; denn ganze Regionen gehen wirtschaftlich kaputt. Und da kann man nicht die Verantwortung vorwiegend den Ländern zuschieben. Ich sehe den Herrn Kollegen Graf. Er hat ja sehr früh darauf hingewiesen, und er hat in seiner Region die Probleme in starkem Maße. Er weist uns immer wieder drängend darauf hin. Ich meine, wir sollten gemeinsam versuchen, hier mehr zu tun für die Betriebe, die bankrott, die kaputtgegangen sind, ohne eigene Schuld. Die Erwerbsalternativen für landwirtschaftliche Betriebe sind, meine Damen und Herren, wo immer möglich und sinnvoll, zu unterstützen. Einkommensquellen im außerlandwirtschaftlichen Bereich, der Ausbau von Dienstleistungen usw. stehen dabei ganz oben. Auch die unvoreingenommene Prüfung und Unterstützung des umweltverträglichen Anbaus und des Einsatzes nachwachsender Rohstoffe gehören dazu. Eine Vielfalt von Möglichkeiten wartet. ({17}) Was allerdings die Treibstofferzeugung aus nachwachsenden Rohstoffen angeht, so überwiegt bei mir noch einige Skepsis. Nur wenn sichergestellt ist, daß die Produktion extensiv und genauso umweltverträglich erfolgt wie in der Nahrungsmittelerzeugung, wenn sichergestellt ist, daß keine neuen Subventionslöcher entstehen, nur dann werden wir auch hierzu unser Ja geben können. ({18}) Auch die Hanfproblematik gehört auf den Tisch. Es geht nicht an, daß die Papierindustrie diese Rohstoffe aus benachbarten EU-Ländern importiert, und unsere Bäuerinnen und Bauern draußen bleiben. Wenn man sich der Züchtung des Hanfes - einer aus ökologischer Sicht bestimmt interessanten Nutzpflanze - annehmen will und den Gehalt an Betäubungsmittel eliminieren kann, sind wir mit der Förderung des Anbaus einverstanden. Ob gewisse hohe Erwartungen allerdings erfüllt werden - ich denke da an die Erwartung von tausenden zusätzlicher Arbeitsplätze -, wage ich zu bezweifeln. Qualitativ hochwertige nachwachsende Rohstoffe schaffen Einkommen für unsere Bäuerinnen und Bauern. Besondere Chancen liegen bei vielfältiger Produktion für die Industrie, womit auch ein ökologisch sinnvoller Beitrag für den Industriestandort Deutschland geleistet werden kann. Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang vielleicht einen kurzen Satz zur Gentechnologie. Ich meine, wir sollten hier sehr zurückhaltend sein. Wir wissen, daß es manche Probleme für die Landwirtschaft bringt, wenn ich an die Patentierung und ähnliche Probleme denke, und wir sollten auch deutlich machen, daß wir in vielen Bereichen für die Landwirtschaft diese Technologie nicht brauchen. ({19}) Wir bedauern sehr, daß es dem Landwirtschaftsminister nicht gelungen ist, den einstimmigen Beschluß des Deutschen Bundestages für eine dauerhafte Verlängerung des BST-Moratoriums in Brüssel durchzusetzen. Wir hoffen, daß er bei seinem Wort bleibt und wir hier in der Bundesrepublik keine Freilandversuche haben werden. ({20}) Wir werden ihn in dieser Frage auch in Brüssel unterstützen. Meine Damen und Herren, man müßte auch einiges zum Waldzustandsbericht sagen und zur Bewertung des Bundesministers, wo er sehr oberflächlich davon spricht, daß es kein Waldsterben gebe, weil er genau weiß, daß die Waldflächen, die bereits nicht mehr existieren, in der Statistik überhaupt nicht mehr auftauchen und die Situation viel dramatischer und problematischer ist. Hier wäre einiges zur vernünftigen forstwirtschaftlichen Verwertung von Durchforstungs-, Schwach- und Abfallholz zu sagen. Ich merke das hier nur an. Dieser Haushaltsplan enthält, meine Damen und Herren, leider wenig Hoffnungsvolles und keine Zukunftsperspektiven für unsere Landwirtschaft. Das bedauern wir. Ich frage mich abschließend: Wo bleibt da eigentlich der Einfluß oder der Protest der vielen Funktionäre und Mitglieder aus den Bauernverbänden in den Reihen der Regierungskoalition, die ich hier vor mir sehe? ({21}) Meine Damen und Herren, ich glaube, ein bißchen mehr Protest im Interesse der Bäuerinnen und Bauern täte ihnen gut. Danke schön. ({22})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bartolomäus Kalb.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein bißchen mehr Protest täte vor allen Dingen gut in bezug auf all die Vorschläge, die wir schon in der letzten Debatte - bei der ersten Lesung vor der Wahl - hier diskutiert haben. Deswegen brauche ich darauf nicht mehr eingehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst möchte ich Bundesminister Borchert sehr herzlich gratulieren zu den Ergebnissen des Agrarrates, die unter seinem Vorsitz erzielt werden konnten. ({0}) Es standen für Europa, aber insbesondere für die deutsche Landwirtschaft, ganz wichtige Punkte zur Entscheidung an - von A wie agrarmonetäres System bis Z wie Zuckermarktordnung. Die Verhandlungsergebnisse, die Sie, Herr Minister, erzielt haben, können sich sehen lassen. Herzlichen Dank. ({1}) Die Schwierigkeit der Verhandlungen hat aber auch gezeigt, daß für die deutsche Landwirtschaft gute und akzeptable Ergebnisse nur erzielt werden können, wenn ein Höchstmaß an Sachverstand und Kompetenz gepaart mit politischem Gespür und Geschick eingebracht wird, d. h. wenn Politiker und auch Beamte erster Klasse dort verhandeln und der Landwirtschaft nicht schon hier im Lande eine nachrangige Bedeutung zugeschrieben wird, wie das die SPD durch die beabsichtigte Eingliederung des Agrarbereichs in das Umweltressort zum Ausdruck gebracht hat, die dann noch dazu das Gesamtressort mit Frau Griefahn besetzen wollte. Gott sei Dank sind wir davon verschont geblieben. ({2}) Nach dem einmaligen Auftritt der Frau Griefahn hier am 6. September redet ja ohnehin in Bonn niemand mehr davon.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kalb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff? ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. ({0}) - Aber der Umstand, warum sie vertretungsweise Landwirtschaftsministerin geworden ist, ist nicht sehr gut.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kalb, wollen Sie mit dieser Polemik wirklich wiederum einen künstlichen Gegensatz zwischen der Umweltpolitik und der Landwirtschaft aufbauen? ({0}) Sonst machen Sie Ihre Aussagen doch bitte an klaren Aussagen zur Agrarpolitik von Frau Griefahn hier deutlich, und zitieren Sie dann, wo Sie zu einem solchen Schluß kommen.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann Ihnen ja in Erinnerung rufen, was reihenweise Ihre Vertreter zu diesem Thema gesagt haben. Sie unterstellen uns immer - und Sie haben es gerade vorhin wieder getan -, wir würden einen Gegensatz zwischen Agrarpolitik und Umweltpolitik herstellen. Nein, ganz im Gegenteil: Wir sind geschlossen und entschieden der Meinung, daß eine intakte Umwelt nur mit den Bauern erhalten werden kann, nicht aber gegen die Bauern. Ich werde darauf noch zurückkommen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es besteht ein zweiter Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar von dem Kollegen Thalheim.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn es den Kolleginnen und Kollegen nicht zu lange wird, können wir schon so weitermachen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ja, es geht bei allen auf die Weihnachtspause. Bitte, Herr Thalheim.

Dr. Gerald Thalheim (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002311, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kalb, bewerten Sie auch die Tatsache, daß in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen das Landwirtschafts- und das Umweltministerium jetzt zusammengelegt worden sind, so negativ? ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Thalheim, erstens hatten Sie ganz spezielle Probleme mit einem Landsmann - oder eingeflogenen Landsmann -, mit einem Herrn Düvel, wenn ich mich daran recht erinnere, und zweitens ist das ein UnterBartholomäus Kalb schied. Darauf komme ich jetzt auch gleich zu sprechen. ({0}) Jedermann weiß, daß die Kompetenzen im agrarpolitischen Bereich nicht mehr in erster Linie bei den Ländern liegen, sondern daß sich hier natürlich erhebliche Kompetenzverschiebungen ergeben haben. Aber Sie wissen folgendes genau so gut wie ich: Gerade die Verhandlungen der letzten Tage haben wieder gezeigt, wie wichtig und wie notwendig es ist, daß die bundesdeutsche Landwirtschaft auch in Brüssel kompetent vertreten wird, weil es dort nämlich um nicht mehr und nicht weniger geht als etwa das gleiche Finanzvolumen für die deutsche Landwirtschaft, wieviel der gesamte bundesdeutsche Agraretat in etwa ausmacht, und weil es darüber hinaus wohl nochmals um etwa dieselbe Größenordnung geht, wenn nicht sogar mehr, durch das Ordnungsrecht und durch die Regelungen, die dort getroffen werden, wovon die deutsche Landwirtschaft dann ganz unmittelbar berührt ist. Sonst wäre es gar nicht verständlich, warum Sie, wenn die Verhandlungen nicht die Ergebnisse bringen, die Sie erwarten, dann immer Kritik an den Regierungsmitgliedern hier üben. Dies haben Sie in der Vergangenheit getan. ({1}) Also müssen die in Brüssel doch etwas zu sagen haben. Sonst könnten Sie das gar nicht kritisieren. ({2}) - Aus Bayern kamen schon immer sehr gute Vertreter - auch der Agrarpolitik. Das sollten Sie durchaus wissen, und Sie erkennen das ja auch durchaus an. ({3}) Ich will die Zeit nicht über Gebühr strapazieren, weil wir ohnehin schon Freitag nachmittag haben. Ich darf also fortfahren. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß es für uns besonders darauf ankommt, daß auch in Brüssel die Politik, wie wir sie hier formulieren und wie sie im Interesse der deutschen Landwirtschaft insgesamt ist, hervorragend vertreten wird, und das geschieht. Besonders wichtig, Herr Minister, war, daß im agrarmonetären Bereich der Beschluß der Verlängerung der Freimarge von 5 % erreicht werden konnte. Das ist eine ganz wichtige Geschichte, damit Preis-und Einkommenseinbußen bei den Marktordnungsprodukten weitestgehend vermieden werden können. Das Verfahren der Ratifizierung des GATT-Abkommens im amerikanischen Kongreß hat gezeigt, daß man auch in Amerika mit den Ergebnissen offensichtlich nicht so ganz einverstanden ist. Kritik wird also nicht nur von deutscher Seite, von deutschen Bauern geübt, sondern auch von den Amerikanern. Das Verfahren hat aber auch gezeigt, daß Amerikaner sehr viel vom Freihandel reden, aber gerne eine Einbahnstraße hätten. Das kann und darf nicht hingenommen werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die EG-Agrarreform wurde mit viel Skepsis und Kritik begleitet. Die vorangegangene Politik des Versuches, Absatz- und Preisgarantien zu geben, war nicht mehr aufrechtzuerhalten. Heute kann man feststellen, daß die vereinbarten Elemente positive Wirkung zeigen. Die Lagerbestände fast aller Interventionsprodukte konnten in vergleichsweise kurzer Zeit erheblich reduziert werden. Das spart Kosten und nimmt Druck von den Märkten. Wie das Beispiel Getreide zeigt - der Minister hat vorhin schon darauf hingewiesen -, fangen die Marktkräfte jetzt an, positiv zu wirken. Die Erfahrungen belegen, daß stimmt, was ich immer gesagt habe: daß wir, wenn nicht die Mechanismen geändert werden, noch soviel Geld bereitstellen können - wir können die Gesetzmäßigkeiten des Marktes nicht außer Kraft setzen. Deshalb muß die Politik der Marktentlastung konsequent fortgesetzt werden. ({4}) - Danke für den Zwischenruf. Er steht im Widerspruch zu dem, was in der letzten Debatte von Ihrer Seite gesagt worden ist. Hier unterscheiden wir uns ganz gewaltig. Ihre damalige Agrarsprecherin im befristeten Beschäftigungsverhältnis, Frau Griefahn, sagte in der Debatte am 6. September 1994 - ich zitiere aus dem Protokoll -: Eine SPD-geführte Bundesregierung wird die gegenwärtige Politik der Marktentlastung ... nicht fortsetzen, . . . Ich freue mich, daß Sie mehr von Agarpolitik verstehen als Frau Griefahn. ({5}) - Ich habe Ihnen das hier bereits gesagt. Ich komme auch auf diesen Punkt zurück. Wir werden den eingeschlagenen Weg der EU-Agrarpolitik zur Marktentlastung und weiteren Einkommenssicherung einschließlich der dauerhaft sicheren Ausgleichszahlungen konsequent weiterverfolgen. So haben wir es in der Koalitionsvereinbarung festgelegt. Weil wir Marktentlastung nicht nur, Herr Kollege Sielaff, wie Sie uns immer wieder vorwerfen, mit dem Instrument der Flächenstillegung erreichen wollen, heißt es folgerichtig weiter: Die Erforschung und Markteinführung von längerfristig wettbewerbsfähigen nachwachsenden Rohstoffen muß verstärkt gefördert, neue Märkte müssen erschlossen werden. Das unterstützen wir, wie vorgesehen, mit weit über 50 Millionen DM, und das unterstützen auch fortschrittliche Länder wie beispielsweise Bayern. Im übrigen: Wer hat in der EG durchgesetzt, daß auf stillegungspflichtigen Flächen Produkte für den Rohstoff- und Energiebereich angebaut werden dürfen? Es war doch diese Bundesregierung, es war dieser Minister. Erst diese Regelung hat einen gewissen Marktdurchbruch für diese Produkte gebracht. Uns sind, wo immer es vernünftig ist, Kulturflächen lieber als Brachflächen. Das macht aus volkswirtschaftlichen, aus betriebswirtschaftlichen, aus ökologischen und auch aus ästhetischen Gründen Sinn. ({6}) Wie vorhin schon erwähnt, müssen wir mithelfen, der Landwirtschaft Nahrungsmittelmärkte zu sichern, mit neuen Produkten neue Märkte zu erschließen und die Bauern in die Lage versetzen, ihre vielfältigen Aufgaben für das Gesamtwohl, insbesondere im landeskulturellen Bereich, zu erfüllen. Da hilft es nichts, die Landwirtschaft zu diskriminieren, wie das in besonderer Weise aus Kreisen der SPD geschehen ist. Ich habe das vorhin angesprochen. Ich nenne hier nur den Namen Kolo aus Bayern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns, der CSU, war es immer besonders wichtig, dem bäuerlichen Familienbetrieb einen hohen Stellenwert einzuräumen. Die bäuerliche Landwirtschaft ist nach meiner festen Überzeugung jene Form, zu der und deren Produkten der Verbraucher und den Lebensraum mitnutzende Bürger das höchste Maß an Vertrauen hat. Eine industriell-gewerbliche Produktion fände sicher keine Akzeptanz. Staatliche Leistungen wären hierfür wohl auch nicht zu rechtfertigen. Die Frage der Akzeptanz ist für die Landwirtschaft von ganz elementarer Bedeutung. Auch wir sind darauf angewiesen. Denn wir verwalten hier nur das Geld des Bürgers. Es kommt aber darauf an, daß auf allen Ebenen - der europäischen Ebene, der Bundesebene, der Landesebene und auch der kommunalen Ebene - den Belangen der Landwirtschaft Rechnung getragen wird, daß nicht durch uns Entlastungen der Landwirtschaft erfolgen, während die anderen Ebenen, auch die kommunalen Ebenen, zusätzliche Belastungen vornehmen. Ich möchte mich noch mit einem Vorschlag des Bayerischen Bauernverbands auseinandersetzen, insbesondere einer Forderung von dessen Präsident Sonnleitner, der immer wieder fordert, es müsse eine 3 %ige Mehrwertsteuererhöhung bei den Nahrungsmitteln erfolgen, die für die Finanzierung landeskultureller Leistungen eingesetzt werd en könnte. Ich sehe überhaupt keine Chance für eine Realisierung dieses Vorschlags. Ich finde niemanden, der ernsthaft darüber diskutiert. Erstens sind Steuern allgemeine Deckungsmittel und werden nach den vom Parlament für richtig erachteten Prioritäten ausgegeben. Zweitens. Niemand könnte der Landwirtschaft zusichern, daß die erwarteten Einnahmen ihr auch zufließen werden. Drittens. Wir haben aus gutem Grund bei den zurückliegenden Mehrwertsteueranpassungen den verminderten Steuersatz unverändert gelassen. Ich erinnere hier an den sozialen Aspekt. Viertens. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, daß es sich nicht um eine Steuer, schon gar nicht um eine im klassischen Mehrwertsteuersystem, sondern um eine 3%ige Abgabe auf Nahrungsmittel handeln würde. Ich darf hier in Erinnerung rufen, was das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem Kohlepfennig entschieden hat. Fünftens. Ich halte es für einen Trugschluß, zu glauben, daß eine solche Belastung keinen Druck auf die Preise und Erlöse ausüben würde. Sechstens. Ich glaube nicht, daß sich der Bauernverband und der Berufsstand insgesamt damit Freunde schaffen würde, insbesondere nicht bei jenen betroffenen Bevölkerungsgruppen, die sicherlich sehr viel Verständnis für die Landwirtschaft aufbringen und Sympathie für sie haben. Wir können bei allem Wohlwollen nicht alle Forderungen der Landwirtschaft erfüllen. Die Landwirtschaft unterliegt, wie andere Bereiche der Urproduktion auch, seit der ersten Welle der Industriealisierung im vergangenen Jahrhundert einem permanenten Anpassungsdruck. Politik kann eigene Entscheidungen und unternehmerisches Handeln in den Betrieben nicht ersetzen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Schluß, Frau Präsidentin. - Was wir aber tun können, ist, mit rechtlichen und finanziellen Mitteln die Rahmenbedingungen zu schaffen und mitzuhelfen, daß die dem Berufsstand innewohnenden Kräfte sich entfalten können, daß verdeckte Chancen freigelegt und die stabilisierenden Elemente unterstützt werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Sie haben wirklich überzogen.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte nur noch einen Schlußsatz sagen, Frau Präsidentin. - Aristoteles Sokrates Onassis, der griechische Großreeder, hat einmal gesagt: Geld ist nicht alles, aber Voraussetzung für vieles. In diesem Sinne wollen wir sehr sorgfältig in die Einzelberatung des Einzelplans 10 eintreten. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken-Deipenbrock.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bundesminister, nach Ihren Darstellungen ist die Agrarpolitik der Bundesregierung eine regelrechte Erfolgsserie. Entweder, Herr Borchert, haben Sie, so es ihn denn überhaupt gibt, einen Preis für Realitätsferne verdient, oder das, was sich in der Landwirtschaft entwikkelt, ist für Sie tatsächlich ein Erfolg. Während Ihrer Regierungszeit haben 200 000 landwirtschaftliche Betriebe aufgeben müssen. Pro Jahr wurden in der Landwirtschaft 30 000 Arbeitsplätze abgebaut. Das ist eine beachtliche Leistung, wie Sie Herrn Blüm vermitteln können. Der Aufbau Ost hat fast 700 000 Menschen in der Landwirtschaft der neuen Länder den Arbeitsplatz gekostet. Das Einkommen geht dank Ihrer Niedrigpreispolitik immer weiter zurück. Es ist kein Wunder, daß unter diesen Bedingungen der Nachwuchs ausbleibt, was ja sehr beklagt wird. Die Wälder sterben ungehindert weiter. Es sind bereits 64 % der Bäume krank. Da helfen auch alle Kalkungen nicht. Nitrat verseucht das Grund- und das Trinkwasser. Das Image der Landwirtschaft wird sich erst dann verbessern, wenn das nicht mehr der Fall ist. Auch die Qualität der Lebensmittel sinkt immer weiter. Die Zunahme von Allergien bei Kindern ist ein Beweis dafür. Die Zahl der Salmonellenerkrankungen steigt. Die BSE-Problematik steht weiterhin im Raum. Sie wollen die Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft im Wettbewerb stärken. Das ist wirklich ein toller Begriff. Von welchem Wettbewerb reden Sie denn eigentlich? An der Agrarpolitik der Bundesregierung hätte doch Herr Honecker seine reinste Freude: ({0}) von der Milchquote bis zur Weinmengenregulierung, die Überwachung per Satelliten für die Flächenstillegung - eine Überwachung bis zur Unterhose. Entsprechend sieht es doch auch in den Ställen und auf den Äckern aus. Es wird das angebaut und gemacht, was subventioniert wird, ob das Leinsaat in Mengen oder ob das teilweise ökologischer Landbau ist, ob Mutterkühe angeschafft oder aber wieder abgeschafft werden, ob Obstbäume angepflanzt oder aber gefällt werden. Auch die nachwachsenden Rohstoffe fallen zum Teil unter eine solche Subventionspolitik, die von jeder ökonomischen und auch von jeder ethischen Überlegung weit entfernt ist. Es gibt sinnvolle Entwicklungen, aber z. B. die Weizenverbrennungen oder die Rapsölveresterung würde ich ganz bestimmt nicht darunter zählen. ({1}) Herr Borchert, nur noch drei Handelskonzerne stellen die Nachfrageseite dar. Molkereien und Schlachthöfe werden im Galopp immer weniger. Da könnten Sie Wettbewerb schaffen, Herr Borchert, oder die F.D.P., die als Träger der liberalen Wirtschaftspolitik völlig funktionslos geworden ist. Wenn Sie da eine Wettbewerbsfähigkeit herstellen würden, dann würden Sie etwas für die Landwirtschaft tun. Aber statt dessen weichen Sie auf irgendwelche Nebenkriegsschauplätze aus und halten Umweltauflagen für das, was die deutsche Landwirtschaft tatsächlich behindert. Wettbewerbsfähig werden auch nicht die Betriebe sein, die Sie jetzt mit der einzelbetrieblichen Förderung zu Agrarfabriken machen. Wettbewerbsfähigkeit wird sich in Zukunft daran ausrichten, wie nachhaltig und wie umweltgerecht produziert wird. Das heißt, daß das Wasser nicht belastet werden darf und daß in Lebensmitteln keine Pestizidrückstände vorhanden sein dürfen. Sie wird sich daran orientieren, welche neuen Dienstleistungen, welche Vermarktungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten eine neue moderne Landwirtschaft den Verbrauchern anbieten kann. Sie wird sich daran ausrichten, daß die Landschaftspflege durch die Bewirtschaftung und durch den Erhalt der Landwirtschaft erfolgt. Die Kommunen sollen nicht noch in Massen Landschaftspflegegelder aufbringen müssen, die sie sowieso nicht haben. ({2}) Sie wird sich daran messen, wie viele Arbeitsplätze in der Landwirtschaft erhalten bleiben und neu geschaffen werden können, und nicht daran, wie viele - wie nach Ihrer Politik - abgeschafft werden. ({3}) Der Begriff von Leistungsfähigkeit, Herr Borchert, orientiert sich am Gestern. Ich hoffe, daß diese Politik, eine Art West-Staatskapitalismus, bald genauso überwunden sein wird wie die alte DDR. ({4}) Wir wollen kein „Weiter so", denn dann passiert, daß von den 600 000 Betrieben, die wir noch haben, nur noch 60 000 übrigbleiben. Das sehe ich nicht als Zukunft der Landwirtschaft. ({5}) Herr Waigel hat gesagt, wir sollen sparen. Es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig. Wir machen Ihnen gerne Sparvorschläge. Sie können die Gelder für die Waldkalkungen - die 530 Millionen, die Herr Borchert, ohne daß es etwas nutzte, aufgebracht hat - dadurch einsparen, daß wir endlich die Schadstoffemissionen, die vom Individualverkehr und von der Landwirtschaft ausgehen, begrenzen. Wir brauchen keine Millionen für die Schweinepest auszugeben, wenn Sie die Impfung zulassen und wenn Sie für eine Verringerung der Massentierhaltung und der Konzentration sorgen. ({6}) Wir brauchen auch keine Milliarden im Gesundheitswesen auszugeben, wenn Sie die Qualität der Nahrungsmittel wiederherstellen und die Gentechnik in diesem Bereich, die zu noch mehr Allergien führen wird, nicht einführen. ({7}) Wir können weitestgehend auf die EU-Subventionen verzichten. Die Milliarden, die für Lagerung, Export und Wertminderung ausgegeben werden, schaden den Bauern mehr, als sie nützen. Die können Sie an die Verbraucher, an die Bürger und an die Landwirte zurückgeben. Dann gibt es auch wieder mehr Geld, um Nahrungsmittel endlich wieder über den Preis bezahlen zu können, statt von Waigels Gnaden auf Staatsknete angewiesen zu sein. ({8}) Wir können auch auf die Flächenstillegungsprämien und die Wasserpfennige verzichten, wenn die Produktion in der Landwirtschaft so ist, daß die Umwelt durch Agrarchemie und Intensivierungsmittel nicht mehr belastet wird. Dann haben wir auch keine Überschüsse mehr und können die Lager auflö570 sen. Dann können wir endlich wieder einen Markt herstellen, einen richtigen Markt, der mit Angebot und Nachfrage etwas zu tun hat und der den Bauern neue Möglichkeiten gibt, unternehmerisch tätig zu sein, wie es die F.D.P. einfordert. Dann könnten auch die Preise der Produkte wieder steigen. Verstecken Sie sich nicht wieder hinter Brüssel! Ich weiß, was jetzt kommt. Die Bundesregierung hat in Brüssel einen ausgesprochen großen Einfluß, und von Deutschland müssen die Vorschläge für eine neue Agrarreform ausgehen, die ohnehin ansteht. ({9}) Wir brauchen für eine neue Agrarpolitik einen wirksamen Außenschutz, das weiß ich. Wir brauchen ihn als Schutz vor Dumpingpreisen innerhalb und außerhalb Europas. Erst wenn es einen fairen Handel gibt, kann die Erweiterung nach Osten auch funktionieren, ohne sich verheerend auszuwirken. Sonst werden Rußland oder Ungarn vor der Situation stehen, daß sie den gleichen Schaden erleiden wie die Entwicklungsländer, die jetzt an Westeuropa Importfuttermittel exportieren dürfen. Wir wollen, daß die Erweiterung tatsächlich funktioniert und den Menschen nützt. Danke. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Meine Damen und Herren, ich habe damit angefangen und will es fortsetzen: Auch dieser Kollegin herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede. ({0}) Das Wort zu einer Kurzintervention hat Kollege Graf. Er bezieht sich auf die vorletzte Rede.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere die Äußerung des Kollegen Kalb, der der SPD-Fraktion in ihrer Gesamtheit vorgehalten hat, sie würde die deutsche Landwirtschaft diskriminieren, veranlaßt mich, hier kurz zu intervenieren und diesen Vorwurf entschieden zurückzuweisen. ({0}) Ich möchte sogar sagen, daß der Vorwurf vielleicht Sie viel mehr trifft. Was haben wir eigentlich heute morgen vom Bundeslandwirtschaftsminister und von Ihnen, Herr Kalb, zur Zukunft der deutschen Landwirtschaft gehört? Null! Ich danke dem Kollegen Sielaff dafür, daß er das Thema Schweinepest angesprochen hat. Sie konnten zur Kenntnis nehmen, daß die Schweinepest in mehreren Bundesländern ganz aktuell wieder ausgebrochen ist. Der Bund hat in der Vergangenheit so gut wie nichts getan und hat alles den Ländern und Brüssel überlassen; das zeigt die Hilflosigkeit dieser Regierung. Ich fordere den Landwirtschaftsminister von dieser Stelle aus auf, den deutschen Landwirten zu sagen, wohin die Reise geht. Bei uns geht Tag für Tag ein Betrieb kaputt. Was sollen die Leute bei uns im Lande aus dem entnehmen, was Sie ihnen nicht gesagt haben? Das sind keine Antworten, das ist keine Perspektive für die Zukunft, da muß man mehr erwarten. Ich bitte Sie, das klarzustellen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kalb, ich gebe Ihnen das Wort zu einer kurzen Antwort.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich darf dazu folgendes sagen. Erstens. Wo sind denn Ihre Leistungen in den Ländern, insbesondere bei der Frage des soziostrukturellen Einkommensausgleichs? Zweitens. Sie sagen, ich hätte zu Unrecht Kritik an der SPD geübt. Hier sitzt doch ein Leidtragender, der Herr Thalheim, der selber in einer Presseerklärung der SPD die Vorstellungen des seinerzeitigen Schattenministers in Sachsen, des Herrn Düvel, zurückgewiesen hat. Herr Düvel hatte gesagt: Keine Leistungen mehr für die Landwirtschaft; das können wir sparen. ({0}) Es war der Agrarsprecher der SPD im Bayerischen Landtag, der die Aussagen seines dortigen Fraktionskollegen und umweltpolitischen Sprechers, Herrn Kolo, zurückgewiesen hat. Dieser war nämlich - ich zitiere aus dem Gedächtnis - der Auffassung, es gelte, endlich einmal die Wahrheit auszusprechen und klarzumachen, daß die Landwirtschaft der größte Umweltschädiger sei; dies müsse einmal beim Namen genannt werden. ({1}) Das sind die Sachverhalte, auf die ich mich bezogen habe. Ich wollte sie heute nur nicht ausführlich wiedergeben. Wenn Sie mir zuhören würden und wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, nicht nur zehn Minuten, sondern eine halbe Stunde zu sprechen, hätte ich mich sehr umfänglich mit der Agrarpolitik auseinandersetzen können. Herr Kollege Graf, ich bin gern bereit, den Dialog mit Ihnen fortzuführen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat nun der Abgeordnete Ulrich Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren jetzt drei Tage den Bundeshaushalt. Angesichts einer Steigerung in Höhe von knapp 1 % und einer zusätzlichen Verschuldung von 58 Milliarden DM ist dieser Haushalt den Umständen entsprechend wohl so zu akzeptieren. Die Landwirtschaft gehört in der Gesamtbetrachtung zu den Bereichen, die von Einsparungen am stärksten betroffen sind. Mehr als 900 Millionen DM werden im Landwirtschaftsetat eingespart; ({0}) das entspricht etwas weniger als 7 %. ({1}) Wenn man diese Einsparungen einmal vor dem Hintergrund der aktuellen Einkommenssituation der Landwirte betrachtet, ({2}) bedeutet dies natürlich einen zusätzlichen Einkommensverlust. ({3}) Die Gewinne der landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe im Wirtschaftsjahr 1993/94 sind in den alten Bundesländern um etwa 11 % zurückgegangen. Die Gewinne je Arbeitskraft der Beschäftigten in der Landwirtschaft liegen mittlerweile 45 % unter dem gewerblichen Vergleichslohn eines Arbeitnehmers, und das bei gleichzeitig rund 40 % höherer Arbeitszeitbelastung. ({4}) Im europäischen Vergleich liegen die deutschen Bauern ebenfalls fast ganz hinten, nämlich an drittletzter Stelle. ({5}) - Herr Sielaff, jetzt hören Sie einmal zu. Meine Damen und Herren, das Resümee ist: ({6}) So kann es nicht weitergehen. ({7}) Wir müssen schon fragen, was wir bei gleichen europäischen Rahmenbedingungen falsch gemacht haben, wenn die finanzielle Situation der deutschen Bauern im Vergleich zu der in anderen europäischen Staaten sehr viel schlechter ist. ({8}) Ich möchte einmal probieren, hier einige Antworten zu geben. ({9}) An erster Stelle der Ursachen sind bei uns die höheren Vorkosten, die höheren Löhne, der größere Anteil des Dienstleistungsbereichs zu nennen. ({10}) Dazu kommen eine ganze Reihe von Wettbewerbsverzerrungen, z. B. strengere Umweltauflagen, Auflagen im Baubereich und in anderen Bereichen. Ich denke hier an die Immissionsschutzgesetze, an den Bereich des Pflanzenschutzes, den Düngemittelbereich. Eine Vielzahl von Verordnungen und Gesetzen, die wir hier im Deutschen Bundestag gemeinsam verabschiedet haben, ({11}) bringen unsere Landwirte im europäischen Wettbewerb in die Hinterhand und benachteiligen sie massiv. ({12}) Finanziell haben wir dies in der Vergangenheit nicht ausgeglichen. National hat kein Ausgleich in ausreichendem Maße stattgefunden. Ich sage hier klipp und klar: Die Wettbewerbsverzerrungen können so nicht weitergehen. Entweder wir bauen sie ab, oder wir zahlen den Bauern einen Ausgleich. ({13}) Zudem sind unsere Betriebsstrukturen in vielen Fällen nicht wettbewerbsfähig. ({14}) Es wird in Zeiten knapper Mittel nun darauf ankommen, das wenige Geld, das wir haben, so einzusetzen, daß wir gegensteuern und zu einer leistungsfähigen, wettbewerbsfähigen Landwirtschaft kommen. ({15}) Denn auf Dauer ist der Agrarstandort Bundesrepublik nur zu halten, wenn es wettbewerbsfähige Einheiten gibt und wir weg vom Gießkannenprinzip hin zu einer konkreten, stärker an der einzelbetrieblichen Förderung ausgerichteten Hilfestellung kommen. ({16}) Ich möchte als Beispiel die Milchproduktion nennen. In der Bundesrepublik Deutschland liefern die Milchviehbetriebe im Durchschnitt weniger als 100 000 kg Milch pro Betrieb. Im europäischen Vergleich liegt die Produktion zwei- bis viermal höher, als es bei uns, insbesondere in den alten Bundesländern, der Fall ist. Hinzu kommt noch, daß wir uns eine eigene deutsche Spezialität leisten, nämlich die der Milchquotenregelung, die an der Einzelbetriebsquote orientiert ist. Um diese erkannten Defizite auszugleichen - darum kann sich wohl niemand herummogeln -, brauchen wir erstens eine bessere Investitionsförderung und zweitens eine Veränderung des Milchquotenregimes. ({17}) Es kann nicht sein, daß wir bei der Milchquote den Nichtmelkern die besten Chancen lassen, hingegen denjenigen, die über die Milchproduktion ihr Geld verdienen sollen, Prügel in den Weg legen. ({18}) Wenn wir feststellen müssen, daß wir in den alten Bundesländern Vorkosten bei der Milchproduktion zwischen 5 und 15 Pfennigen pro Liter Milch haben, die den Bauern niemand bezahlt, sondern die sie selber bezahlen müssen, obwohl sie gleichzeitig noch die schlechteren Strukturen haben, dann können wir nicht erwarten, daß in Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland auch noch erfolgreich Milch ermolken werden kann. ({19}) Das wird nicht klappen. Deshalb müssen wir die Rahmenbedingungen entsprechend ändern. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gestatte sie sehr gerne.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Heinrich, mit Erstaunen Ihre Worte zustimmend zur Kenntnis nehmend, frage ich Sie, ob Sie und der Herr Kollege Bredehorn gewillt sind, in Zukunft im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten die Position, die Sie z. B. zur Milchquote dargelegt haben, mit Nachdruck zu vertreten. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kastning, wenn ich nicht die Auffassung verträte - und zwar schon seit 1991 -, daß wir eine Angleichung an die Situation in den neuen Bundesländern brauchen, weil ich die Benachteiligungen in den alten Bundesländern einfach nicht auf Dauer hinnehmen will, dann wäre es hier nicht der geeignete Ort, so deutliche Worte zu sprechen. Ich bin hierher gekommen, weil ich sagen will, wie es weitergehen soll. Mir geht es nicht um das Lamentieren über dieses und jenes, was nicht gemacht worden ist, sondern darum, die Konsequenz aus den erkannten Schwachstellen unserer Politik zu ziehen. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der zweite Bereich, den die Landwirtschaft mitverantwortlich prägt und wofür sie in der Vergangenheit nicht ausreichend honoriert worden ist, ist der Bereich der Pflege unserer Kulturlandschaft, ({1}) die Erhaltung unserer ländlichen Räume. Dies ist ausschließlich mit der Landwirtschaft und nicht gegen sie möglich. ({2}) Das ist in weiten Bereichen der Bundesrepublik Deutschland auch nur mit einer intakten Struktur, mit Neben- und Zuerwerbsbetrieben, mit Haupterwerbsbetrieben, und zwar in allen Gesellschaftsformen, möglich. Wir sollten vermeiden, den einen in die Ecke zu stellen und den anderen hochzuloben. Wir brauchen hier eine gesamtheitliche Betrachtung. In der Bewirtschaftung unserer Naturflächen spielt jeder einzelne Betrieb seine berechtigte Rolle. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, als dritten Punkt - ich muß schnell zu Ende kommen, denn das rote Licht leuchtet schon - möchte ich noch die nachwachsenden Rohstoffe ansprechen, weil sie in Zukunft immer wichtiger werden. ({4}) Wenn wir die flächendeckende Landbewirtschaftung bejahen - das tue ich von dieser Stelle aus ausdrücklich - und wenn wir auf der anderen Seite wissen, daß wir nicht mehr alle Flächen für die Nahrungsmittelproduktion brauchen, dann besteht die Möglichkeit, auf freiwerdenden Flächen nachwachsende Rohstoffe anzubauen. ({5}) - Wir arbeiten immer ökologisch sinnvoll, Herr Kollege Sielaff. Durch den Anbau nachwachsender Rohstoffe kann nämlich ein zusätzliches positives Element in unsere gesamte Umweltdiskussion hineingebracht werden, nämlich eine Verringerung des CO2-Ausstoßes. ({6}) Das hehre Ziel der Bundesregierung, den CO2-Ausstoß um 25 % zu verringern, kann man nicht erreichen, indem man nichts tut. ({7}) Vielmehr muß man die nachwachsenden Rohstoffe ganz entscheidend in die Betrachtung mit einbeziehen. ({8}) Deshalb bin ich ausdrücklich froh darüber, daß wir ein zunehmend dichteres Netz an Tankstellen bekommen, die Biodiesel am Markt durchsetzen. Ich möchte, daß auch diese wichtigen Aufgaben in Zukunft weiterverfolgt werden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich noch einen Satz sagen?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich habe Ihnen schon zusätzlich Zeit gegeben. Jetzt ist eigentlich wirklich Schluß. Also, einen Satz, aber einen kurzen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich ausdrücklich. In der Debatte über die Entwicklung der Europäischen Union haben wir gestern mehrere Male gehört, daß eine EU-Agrarreform gefordert worden ist, und dies auch von Sprechern aus Ihren Reihen. Ich sage, wenn wir uns hier nicht darauf verständigen können, daß wir nicht nach drei Jahren einer umfassenden Agrarreform inklusive einer GATT-Regelung jetzt schon wieder eine neue Agrarreform anmahnen und hier in Aussicht stellen wollen, dann brauchen wir nicht zu denken, daß das auch noch einigermaßen dem Klima und der Bereitschaft, Land in Zukunft auch noch bäuerlich zu bewirtschaften, förderlich ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt ist wirklich Schluß, Herr Kollege.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das sind immer die Wunder der kurzen Schlußsätze. Jetzt hat der Kollege Dr. Günther Maleuda das Wort.

Dr. Günther Maleuda (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002730, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundeslandwirtschaftsminister Borchert hat hier heute, wie auch zur Begründung der Regierungserklärung, vor allem die positiven Seiten der Landwirtschaft beleuchtet. Es bleibt in der Tat die Frage zu beantworten, wie mit dem Haushalt 1995 vor allem die kritischen Aspekte des Strukturwandels gelöst werden sollen. Meine Damen und Herren, Abgeordnete des Bundestages und des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern verschiedener Fraktionen haben nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers und der Debatte dazu auf Einladung des Landesbauernverbandes von Mecklenburg-Vorpommern an einer Podiumsdiskussion in Waren/Müritz teilgenommen. Neben der Anerkennung der positiven Impulse, die die Marktwirtschaft in den ostdeutschen Dörfern ausgelöst hat, wie die stärkere Bindung der Bauern an ihr Eigentum und hohe Leistungen pro Fläche und Tier, war eine parteiübergreifende Feststellung: die öffentliche Akzeptanz der Landwirtschaft ist gering, um nicht zu sagen abwertend. ({0}) Die Landwirte fühlen sich durch die Politik nicht ausreichend vertreten und sehen ihre Leistungen von der Produktion bis zur Ökologie unterbewertet. Im Vorfeld der Haushaltsdebatte wurde Bundeslandwirtschaftsminister Borchert nicht müde, bei seinen Ostvisiten die frohe Botschaft zu verkünden, der Aufbau der ostdeutschen Agrarwirtschaft befinde sich auf gutem Weg, ({1}) selbstverständlich dank der CDU/CSU- und F.D.P.-Politik und der aus dem Bundeshaushalt von 1990 bis 1994 bereitgestellten rund 15,5 Milliarden DM. ({2}) Zweifellos ist das ein gewaltiger Betrag, aber - und das gehört zu einer ehrlichen Bilanz - nur ein Bruchteil der Vermögensverluste, die die Agrarbetriebe auch als Folge der Währungsunion von 1990 hinnehmen mußten. Wenn auf die neuen Länder mit rund einem Drittel der gesamtdeutschen Agrarfläche heute nur noch ein Sechstel des Viehbestandes und gar nur 11 % der Bruttowertschöpfung der Landwirtschaft in Deutschland entfallen, verbirgt sich hinter diesen Zahlen eine in der deutschen Agrargeschichte einmalige Vernichtung von Produktions-, Beschäftigungs- und Einkommenspotentialen mit entsprechenden Folgen für die Menschen. ({3}) Im Osten Deutschlands war und ist der Strukturwandel verbunden mit der radikalen Verringerung der Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft, besonders der Frauen: ein Ausdruck der Entwertung des Vermögens, der Zerstörung der Absatzwege und auch des Produktionsrückgangs. Ich möchte hier an dieser Stelle nur einige markante Zahlen aus Mecklenburg-Vorpommern nennen, einem Land, in dem die Ausfuhr dominierend war, heute aber landwirtschaftliche Produkte eingeführt werden. Von sechs Arbeitsplätzen sind fünf nicht mehr vorhanden. Die Schweinebestände sind auf etwa 25 %, die Rinder- und Kuhbestände auf unter 50 % reduziert. Ich meine, das sind schon grundlegende Aspekte, die im Rahmen des Strukturwandels und auch der Haushaltsdiskussion einer Beantwortung zuzuführen sind. Die Lage und das Leben auf dem Lande, im ländlichen Raum überhaupt, dem etwa 70 % bis 80 % der Fläche und 35 % der Bevölkerung zugerechnet werden, ist kompliziert und bei weitem nicht überall zukunftssicher. Noch dominieren Langzeitarbeitslosigkeit, Überalterung, Abwanderung, beginnende Verarmung und auch Tendenzen der Verödung in einigen Gebieten. Davor die Augen zu verschließen heißt, diesen Prozeß dem Selbstlauf zu überlassen. Leben, Leistungen und Erwartungen der Bäuerinnen und Bauern kann man hier in fünf Minuten nicht darstellen, nicht würdigen oder angemessen vertreten. Deshalb möchte ich kurz und knapp vier Forderungen skizzieren: Wir fordern erstens, daß die Agrarpolitik so ausgestaltet wird, daß durch Chancengleichheit aller Betriebsformen in Deutschland die Bauern aus Ost und West gleichfalls zusammenwachsen, ({4}) zweitens daß der tatsächliche gesellschaftliche Wertbildungsprozeß in der Landwirtschaft Grundlage der Leistungsbewertung wird, drittens daß durch die Entwicklung regionaler ökologischer Kreisläufe im ländlichen Raum die Massenarbeitslosigkeit auf dem Lande überwunden wird. Im Interesse vieler Landwirte fordern wir viertens die langfristige Verfügungssicherheit über die jahrzehntelang bewirtschafteten einstigen volkseigenen Flächen ({5}) und weitgehende Entschuldungsmaßnahmen bei Altkrediten. ({6}) Wenn Sie, Herr Bundeslandwirtschaftsminister, inzwischen davon sprechen, daß sich die ostdeutsche Agrarstruktur auch künftig von westeuropäischen Strukturen unterscheiden wird, wenn Sie also A sagen, dann sagen Sie bitte auch B: Sorgen Sie dafür, daß dort verstärkt investiert werden kann. Das wäre ein Vorteil nicht nur für die Bauern, sondern für die Allgemeinheit.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das war ein schöner Schlußsatz. Jetzt müssen Sie aufhören.

Dr. Günther Maleuda (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002730, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Der Anteil der juristischen Personen an den Investitionsförderungsmitteln beträgt bekanntlich nur knapp 10 %; in bezug auf

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, die Redezeit ist wirklich vorüber.

Dr. Günther Maleuda (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002730, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- die Produktionsleistungen wäre eine Veränderung notwendig. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Siegfried Hornung. ({0})

Siegfried Hornung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000961, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es weihnachtet; wir sind alle friedlich. Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Das zentrale Anliegen unserer Agrarpolitik ist eine leistungsfähige, vielfältig strukturierte, umweltverträgliche Landwirtschaft in familien-bäuerlicher Tradition, die sich im europäischen Wettbewerb behaupten kann. Unsere engagierten Bäuerinnen und Bauern sollen durch klare agrarpolitische Rahmenbedingungen ihre Zukunftschancen nutzen können. Die erfolgreiche agrarpolitische Arbeit der Bundesregierung ist Ausdruck einer Politik, die unserer Landwirtschaft einen hohen Stellenwert einräumt. Zu dem mit der Agrarreform eingeschlagenen agrarpolitischen Weg gibt es keine realistische Alternative. Er ist ein vernünftiger Kompromiß, der den Interessen der deutschen Landwirtschaft am meisten Rechnung trägt. Der wichtigste Grundsatz unserer Agrarpolitik, nämlich Mengenrückführung gegen sicheren Einkommensausgleich, konnte europaweit und GATTkonform verankert werden; dies ist ein Erfolg. An diesem Grundsatz darf niemand rütteln. ({0}) Sehr geehrter Herr Minister Borchert, Ihnen sage ich recht herzlichen Dank. Sie haben gerade jetzt in Ihrer Ratspräsidentschaft in Brüssel ein Höchstmaß erreicht. In einzelnen Punkten komme ich noch darauf zurück. Wir können über das, was von Ihnen dort geleistet worden ist, froh sein. ({1}) Wie vorher bei der Milch zeigt die Agrarreform vor allem beim Getreide deutliche Wirkung: Produktion, Überschüsse und Investitionskosten sind zurückgegangen, Interventionskosten eingeschlossen. Die Erzeugerpreise haben sich nach langer Zeit wieder vom Stützpreis abgehoben. Nun gilt es, die Reform weiterzuentwickeln. Wir werden dabei alles unternehmen, um sie einfacher zu gestalten, und praxisferne Bürokratie abbauen. Mit dem Haushalt 1995 wird eine neue Seite der Agrarsozialpolitik aufgeschlagen. Sie bringt die lange geforderte Bäuerinnenrente, sorgt für eine gerechtere Beitragsgestaltung und sichert die langfristige Finanzierbarkeit in der landwirtschaftlichen Altershilfe. Mit der Unfall-, Kranken- und Pflegeversicherung ist die Agrarsozialpolitik ein wichtiger Bereich der nationalen Landwirtschaftspolitik, ({2}) für den wiederum gut 7 Milliarden DM vorgesehen sind. Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe sind jetzt die Weichen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft zu stellen. Standort Deutschland heißt nämlich auch, eine flächendekkende Landbewirtschaftung zu sichern. Dies ist eine globale Aufgabe, die nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nahrungsmittelproduktion zu sehen ist, sondern auch unter dem Gesichtspunkt, daß die Erhaltung und Pflege der Umwelt - besser gesagt: unseres einzigen Lebensraumes - mehr und mehr Eingang in das Bewußtsein unserer Bevölkerung finden. Ebenso ist die Chance von nachwachsenden Rohstoffen und deren praktischer Einsatz zu sehen. Eine breite Palette von Möglichkeiten bietet sich an. Mit der Fachagentur „Nachwachsende Rohstoffe" wurde ein Instrument geschaffen, das die sachgerechte Einführung in die Praxis fördert. Angesichts der Klimaveränderungen könnte die Landwirtschaft einen wichtigen Beitrag zum Naturkreislauf leisten. Sogenannte Non-Food-Produkte passen im übrigen hervorragend in die europäische Agrarpolitik. Auch wenn die Agrarpolitik in Deutschland in die richtige Richtung weist, darf nicht darüber hinweggetäuscht werden, daß die Einkommen der Bauern nach wie vor sehr niedrig sind. Weitere Belastungen sind der Landwirtschaft nicht zuzumuten. In den beiden vergangenen Jahren - das ist bitter - sind die Gewinne regional und produktbezogen um bis zu zweistellige Zahlen zurückgegangen. Trockenperioden und Schweinepest haben diese Situation noch verschärft. Im laufenden Wirtschaftsjahr zeichnet sich erfreulicherweise eine Stabilisierung der betrieblichen und wirtschaftlichen Situation ab. Auch daran können wir erkennen, daß die Agrarreform greift. ({3}) Dennoch bestehen zahlreiche Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der deutschen Landwirtschaft im EU-Binnenmarkt. Vor allem im Bereich des UmweltSiegfried Hornung und Tierschutzes müssen die Wettbewerbsbedingungen vereinheitlicht werden. ({4}) Wir sehen es als wichtige Aufgabe an, daß die deutsche Landwirtschaft vor währungsbedingten Preis- und Einkommenssenkungen geschützt wird; dafür treten wir ein. Der Bundesminister hat hier Wertvolles erreicht. Es ist unerläßlich, bis zur Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion die währungsbedingten Einkommensnachteile auszugleichen. Neben diesen politischen Maßnahmen muß der entscheidende Einkommensbeitrag für die Landwirtschaft nach wie vor aus dem Markt erwirtschaftet werden. Ich rufe deshalb unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger auf, mehr einheimische Nahrungsmittel zu kaufen, ({5}) die den hohen deutschen Qualitätsnormen entsprechen. Ich weise hier noch darauf hin, daß Jochen Borchert erreicht hat, daß BST bis 1999 verboten ist und keine Feldversuche erlaubt sind. ({6}) - Herr Fischer, bei Ihnen ist auf diesem Sektor überhaupt nichts passiert. - Nahrungsmittel werden „eingedeutscht", weil die deutsche Qualität sehr viel besser ist. Ich zitiere den englischen Landwirtschaftsminister Waldegrave - hören Sie einmal zu, was er sagt -: Es ist eine Erfolgsstory, die Entwicklung des Vieh- und Fleischexportes gewinnt immer mehr an Bedeutung. Trotz der Diskussion um BSE ist der britische Rindfleischexport auf 1,13 Milliarden DM im letzten Jahr gestiegen. - Ich kann Ihnen daher nur empfehlen: Kaufen Sie deutsche Nahrungsmittel. ({7}) Dies bietet zugleich die größte Gewähr dafür, daß auch künftig Natur und Umwelt sachgerecht gepflegt und erhalten werden können. Meine Damen und Herren, ich möchte in Richtung Opposition noch sagen: Der letzte Bauer der SPD ist - leider - aus dem Deutschen Bundestag ausgezogen. Ich zitiere hier - das ist vielleicht der kommende Kandidat - Schröder. Nachdem der niedersächsische Landwirtschaftsminister Funke seine Amtsgeschäfte vorläufig niedergelegt hatte, sagte Schröder, es könne wohl keine Dauerlösung sein, daß Frau Griefahn das niedersächsische Landwirtschaftsministerium vertrete. Jedenfalls könne er sich nicht vorstellen, daß eine Landwirtschaftsministerin namens Griefahn beim niedersächsischen Landvolk mit offenen Armen aufgenommen werde. ({8}) Herr Scharping wollte das allen deutschen Bauern zumuten. Wir sind glücklich, daß dies nicht auf uns zugekommen ist. Ich möchte deswegen sagen: Die Bauern halten nicht als billiger Jakob her dort, wo es gerade gebraucht wird. Man kann nicht immer die Bauern beleidigen und ihnen den Schwarzen Peter zuschieben. Die Bundesregierung hat mit dem Entwurf des Einzelplanes 10, des Agraretats des Haushalts 1995, eine gute Agrarpolitik auf den Weg gebracht, die unseren Landwirten verläßliche Rahmenbedingungen schafft und weitere Perspektiven eröffnet. Dafür bedanke ich mich recht herzlich. Ich bin zuversichtlich, daß wir in eine gute Beratung einsteigen. ({9})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten liegen nicht vor. Ich rufe jetzt den Einzelplan 12, Bundesministerium für Verkehr, auf. Hierzu sollen alle Reden zu Protokoll gegeben werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist so. Dann rufe ich nun Einzelplan 16, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, auf. Das Wort hat die Bundesministerin Angela Merkel. ({0}): Brennstabspolitische Sprecherin der Bundesregierung!)

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland messen dem Umweltschutz eine große Bedeutung bei. Das wissen wir aus allen Umfragen. Dem trägt die Bundesregierung durch ihren Haushalt Rechnung. Wir wollen eine umweltverträgliche Entwicklung des Wachstums. Wir wissen, daß es nicht nur um die Entwicklung des Industriestandorts Deutschland geht, sondern daß es für die Menschen - es sind immerhin 80 Millionen in unserem Lande - um den Lebensraum Deutschland geht, wenn wir über unsere Zukunft sprechen. So haben wir in unserem Haushalt trotz schwieriger finanzieller Gegebenheiten die Umweltforschungsmittel auf dem Stand des Jahres 1994 fortgeschrieben und die Fortsetzung der Pilotprojekte im Inland, aber auch - das möchte ich ganz besonders hervorheben - im Ausland gesichert. 25 Millionen DM stehen z. B. im kommenden Haushaltsjahr für das neue Aktionsprogramm Tschernobyl einschließlich der Beratungshilfen für die mittel- und osteuropäischen Staaten zur Verfügung. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle sagen, daß diese Mittel und die Hilfe für die mittel- und osteuropäischen Staaten gerade aus Umweltsicht für mich ein ganz besonderer Schwerpunkt sind, wo jede Mark sehr gut eingesetzt ist. Ich bitte Sie alle um Ihre Unterstützung, daß wir - bei allen Schwierigkeiten, die bei diesem Programm auftreten - gemeinsam * ) Anlage 2 handeln, weil dies ein ganz wesentlicher Punkt ist, der uns einen sollte. ({0}) Wir wollen Deutschland auf das 21. Jahrhundert vorbereiten. Das heißt, wir müssen uns überlegen, welches Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität in Zukunft bei uns gilt. Dazu möchte ich ganz deutlich sagen: Für mich schließen Wohlstand und Lebensqualität immer auch die Bewahrung der Schöpfung ganz explizit ein. ({1}) - Richtig, klatschen Sie doch, wenn es gut ist. Die aktuelle Diskussion um die Zukunft unserer Energieversorgung ist für mich ein Beispiel, bei dem wir genau dies miteinander diskutieren können. ({2}) Wir brauchen eine umweltschonende, eine ressourcensparende, eine sichere und effiziente, aber natürlich auch eine wettbewerbsfähige Energieversorgung. Dazu gehört aus meiner Sicht, daß wir neben Mineralöl und Erdgas, Steinkohle und Braunkohle auch Kernenergie und natürlich erneuerbare Energiequellen in unsere Überlegungen einbeziehen. ({3}) Meine Damen und Herren, wir müssen einmal ganz unvoreingenommen miteinander darüber diskutieren, welcher Sicherheitsstandard an welcher Stelle gilt und welche Folgen welche Energiequelle hat. Dann müssen wir überlegen, ob wir mit den regenerierbaren Energiequellen, die umweltschonend sind, unseren Industriestandort, unser Land und unser Lebensniveau erhalten können oder ob wir nicht doch noch ein paar andere Energiequellen brauchen. ({4}) - Natürlich ist das der Punkt. - Wir müssen über alle Energieformen diskutieren; wir werden dazu Gelegenheit haben. ({5}) Das Urteil des Verfassungsgerichts, daß der Kohlepfennig verfassungswidrig sei, bringt uns in die Situation, daß wir neu überlegen müssen, in welcher Weise in unserem Lande die Versorgung mit Energie gesichert wird. ({6}) - Natürlich schnell, aber auch in einer Weise, die zukunftsfähig ist. Für mich kann ein solches zukunftsfähiges Modell der Energieversorgung nicht allein in der Unterstützung der Kohle bestehen - ich hoffe, Sie vertreten das gemeinsam mit uns im Wahlkampf in NordrheinWestfalen -, sondern wir müssen genauso über andere Energiequellen nachdenken, die wir fördern müssen und die heute aus anderen Gründen noch nicht wettbewerbsfähig sind. Dazu gehören die erneuerbaren Energiequellen, aber, Herr Fischer, dazu gehört natürlich auch die Frage - vor ihr stehen wir; egal, ob wir langfristig Kernenergie wollen oder nicht -, wie wir die sichere Entsorgung der bei der Kernenergie entstehenden Abfälle gewährleisten wollen. ({7}) - Die Bundesregierung sagt dazu, daß die Verweigerungshaltung, die derzeit von allen Seiten eingenommen wird, wenn irgendwo ein Zwischen- oder Endlager erkundet oder beschickt werden soll, bestimmt nicht die richtige Antwort darauf ist. Wir wollen den Menschen sagen: Kernenergie und die Zwischenlagerung der Rückstände - sie sind ein Resultat von Beschlüssen, die Sie gefaßt haben - sind sicher. ({8}) - Ja, für verschiedenste Arten von radioaktiven Stoffen. Herr Fischer, Sie wissen das mindestens genausogut wie ich. Aber für die Abfälle, die heute anfallen, haben wir eben keine oder zu wenige Lagerstätten, und Sie verhindern alles das, was zu machen wäre. Damit leisten Sie keinen Beitrag zu einer vernünftigen Energieversorgung. ({9}) Ich lade Sie, Meine Damen und Herren, ein, mitzumachen, wenn wir darüber nachdenken, wie unsere Energieversorgung auf eine zukunftsfähige Basis gestellt werden kann. Eine nachhaltige Entwicklung schließt heute das Zusammenwirken aller Nationen ein. Wir brauchen Ansätze, die global gültig sind, und wir müssen unseren Beitrag dazu leisten. Ich möchte an dieser Stelle ein Projekt der grenzüberschreitenden Umweltförderung nennen, die Kläranlage in Swinemünde. Ich werde Verträge über zwei weitere Umweltprojekte in Böhmen zusammen mit dem sächsischen Umweltminister und dem bayerischen Umweltminister am Montag in Prag unterzeichnen. Ich denke, das sind Ansätze, bei denen wir helfen und gleichzeitig etwas Wichtiges für unsere Umwelt tun. ({10}) Neben den Mitteln des Bundes für den Umweltschutz in Höhe von insgesamt 8 Milliarden DM spielt für mich die Vergabe von zinsgünstigen Umweltschutzkrediten eine genauso wichtige Rolle. Ich möchte hier die Kredite des ERP-Sondervermögens, die der Banken des Bundes, der Deutschen Ausgleichsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau erwähnen, die in erheblicher Weise dazu beitragen, daß umweltfördernde Projekte überhaupt realisiert werden können. Die wesentlichen Fördermittel, die wir seitens der Bundesregierung ausgeben - das ist sachgerecht -, verwenden wir da, wo es am schlimmsten ist: in den neuen Ländern. Abwasserreinigung, Altlastensanierung, moderne Umwelttechnologien in der Produktion - das sind dort unsere Schwerpunkte. Jeder, der sich einmal das Braunkohlesanierungsprogramm bei der LAUBAG oder bei der MIBRAG angeschaut hat, sieht: 160 Millionen Kubikmeter Erd- und Gesteinsmassen werden verlagert; 10 000 Hektar werden saniert und rekultiviert. Er bekommt einen Eindruck davon, was man heute mit moderner Technik und Technologie machen kann, wenn man es will. Das ist im Sinne des Umweltschutzes. Ich glaube, das ist unbestreitbar. Es ist natürlich von großer Wichtigkeit, daß die Menschen, die dort leben, durch die Politik der Bundesregierung ein sinnvolles Beschäftigungsfeld erhalten. Das halte ich für einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltung der deutschen Einheit. ({11}) Aber, meine Damen und Herren, darüber müssen wir uns ebenfalls im klaren sein: Staatliche Ausgaben für den Umweltschutz sind kein Beweis dafür, daß Umweltschutzpolitik bereits realisiert wird. Kosten müssen internalisiert werden; das heißt, auf das Verursacherprinzip kommt es an. Das müssen wir schrittweise durchsetzen. Es muß natürlich staatliche Komponenten der Förderung für neue Wege geben, aber, insgesamt gesehen, darf nicht der Steuerzahler, sondern muß der Verursacher von Umweltschäden die Kosten für deren Vermeidung und Beseitigung tragen. ({12}) Ich glaube, daß hier ein Schwerpunkt meiner Arbeit und der der Bundesregierung sein wird: Abfallwirtschaftspolitik. Das heißt Verantwortung einfordern für den ganzen Lebenszyklus von Produkten. Wir müssen verschiedene Verordnungen erlassen oder aber mit der Industrie Gespräche darüber führen, ob sie bereit ist, Selbstverpflichtungen einzugehen. Das müssen dann aber Selbstverpflichtungen sein, die ein paar Zähne haben. Es darf keine Selbstverpflichtung zum Nulltarif sein. Dann sind wir auch zur Deregulierung bereit. Weiter planen wir eine Novellierung der Verpackungsverordnung, um Gerechtigkeit zu gewährleisten und das Trittbrettfahren zu erschweren. All das sind Punkte, die ich für wichtig halte und die eine Umweltpolitik im Sinne des Verursachungsprinzips kennzeichnen. Die Lösung von Umweltfragen ist für die Zukunft unseres Landes von großer Bedeutung. Deshalb glaube ich, daß wir mindestens so angestrengt und so vernetzt zwischen den Ressorts arbeiten müssen, wie das in der Vergangenheit der Fall war. Ansonsten wird nicht deutlich werden, daß die Umweltpolitik uns alle angeht. Die Bundesregierung tut das durch ihre Politik in vorbildlicher Weise. Herzlichen Dank. ({13})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Wozu melden Sie sich?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zu einer Zwischenfrage.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Eine Zwischenfrage ist nicht mehr möglich. Die Rednerin hat das Rednerpult verlassen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann stelle ich eine Nachfrage.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das ist nicht möglich. Sie müssen etwas schneller sein.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Man sagte mir, eine Nachfrage sei möglich. Insofern möchte ich sie mir schon gestatten.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Es tut mir leid, das geht nicht.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann ist das eine Kurzintervention, wenn es erlaubt ist. ({0})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Wir befinden uns in der ersten Runde. Nach der Geschäftsordnung geht das nicht. Aber wir sind flexibel. Sie haben, da Sie das Bedürfnis haben und die Verkehrsdebatte ausgefallen ist, das Wort.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen vielmals, Herr Präsident. Frau Merkel, ich möchte Sie gerne fragen, ob das, was Sie gerade vorgetragen haben, alles ist, was die Bundesregierung zum Klimagipfel im nächsten Frühjahr in Berlin zu bieten hat.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Als Zwischenbemerkung kann ich das nicht ansehen. Ich frage die Frau Ministerin trotzdem, ob sie dazu etwas sagen will. ({0})

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Frau Kollegin, um die Sache nicht hinauszuzögern, wäre ich gerne bereit, in einer kleinen privaten Unterhaltung mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen. Heute war der Haushalt dran und nicht die Klimakonferenz. Wir werden noch ausreichend Gelegenheit haben, darüber miteinander zu sprechen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Jetzt hat die Kollegin Marion Caspers-Merk das Wort.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte der Kollegin die Frage gerne richtig beantwortet: Die Frau Ministerin sagt hier deshalb nichts, weil sie gerade aus Brüssel zurückgekommen ist, wo die EU-Umweltminister zwei Tage getagt haben - mit äußerst dürftigen Ergebnissen. Auch das, was hinsichtlich der Klima578 konferenz verhandelt wurde, ist eigentlich nur ein heißer Luftballon und wenig konkret. ({0}) Unter anderem hat die Frau Ministerin in einer Pressemitteilung - insofern setzt sie die gute Tradition von Herrn Töpfer fort - vor der Unterrichtung des Parlaments mitgeteilt, daß es eine CO2-/EnergieSteuer geben werde. Jetzt hört man davon nur noch sehr wenig; es ist nur eine magere Empfehlung herausgekommen, daß sich die dafür Zuständigen - im Prinzip der ECOFIN-Rat - Gedanken darüber machen sollten, wie eine CO2/-Energie-Steuer auf europäischer Ebene aussehen könnte. Mit großen Ankündigungen werde unter dem Strich nichts erreicht. Damit habe ich Ihre Frage wohl beantwortet. Wir kommen jetzt zu Ihrem Haushalt, Frau Merkel. Sie haben ein Regierungsprogramm vorgestellt, das unter der Überschrift „Deutschland fit machen für das 21. Jahrhundert" als Aufbruch in die Zukunft bezeichnet wurde. Wenn wir von der SPD diese Ankündigung ernst nähmen, dann müßte der Umwelthaushalt komplett anders aussehen. Es müßte aus anderen Haushaltstiteln umgeschichtet werden. Wir bräuchten ein wirkliches Klimaschutzprogramm in diesem Umwelthaushalt. ({1}) Wir bräuchten Mittel für die Forschungsförderung und Mittel für neue Produkte, und wir bräuchten vor allen Dingen den Einstieg in eine ökologische Steuerreform. ({2}) All das finden wir in diesem Haushalt nicht. Statt dessen finden wir Business as usual. Wie jedes Jahr wird ein kleiner Haushalt vorgelegt: 1,4 Milliarden DM. Das sind 0,3 % des gesamten Haushaltvolumens. Das ist eines der kleinsten Budgets. Jedes Jahr passiert derselbe Rechentrick. Dieser Haushalt wird nämlich künstlich aufgebläht. Es werden alle möglichen Dinge, die in anderen Haushaltstiteln enthalten sind, dazugerechnet. Darunter fallen so „intelligente" Umweltschutzmaßnahmen wie die Kanalreinigung von bundeseigenen Grundstücken. Sie blähen also Ihren Haushalt künstlich auf. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich hier heiße Luft, denn es bleibt nicht viel von Umweltpolitik über. Aber es kommt noch schlimmer: In vielen Haushalten verbergen sich ökologisch unsinnige Maßnahmen, die sich bei einem Kassensturz zu einer verheerenden Bilanz der konservativen Umweltpolitik addieren. Aber nicht nur im Haushaltsplan, sondern auch in Ihrer Umweltpolitik insgesamt werden die Weichen falsch gestellt. Denn es ist doch eine Binsenweisheit: Umweltschutz kostet Geld, aber unterlassener Umweltschutz kostet sehr viel mehr Geld. ({3}) Durch eine intelligente Umweltpolitik mit Hilfe einer ökologischen Steuerreform könnte für die Umverteilung sehr viel Geld eingenommen und in ökologisch sinnvolle Projekte umgeleitet werden. Betrachten wir nur das Beispiel Gewässerschutz: Damit wir unser Wasser überhaupt noch trinken können, werden in Deutschland schätzungsweise 25 Milliarden DM für Trinkwasseraufbereitung und Gewässerschutz aufgewandt. Bezahlt wird dieser Aufwand von den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Daß wir unser Wasser so aufwendig behandeln müssen, hat auch etwas mit den Schadstoffeinträgen aus intensiver Landwirtschaft zu tun. Deswegen müßte man hier ansetzen und eine ökologisch vernünftige Landwirtschaftspolitik betreiben, statt hinterher - technologisch aufwendig - die Schadstoffe, die man vorher eingebracht hat, wieder aus dem Wasser herauszuholen. ({4}) Dasselbe kann man bei Lärmschutz- oder bei Lärmminderungsmaßnahmen vorrechnen. Ihre nachgeordnete Behörde, das Umweltbundesamt, hat festgestellt, daß Herzkreislauferkrankungen durch Lärmeinwirkungen Gesundheitskosten in der Größenordnung von ca. 6,4 Milliarden DM jährlich verursachen. Das ist das Fünffache Ihres gesamten Haushalts. Würden Sie endlich eine vernünftige Lärmvorsorgepolitik machen, dann wären auch diese Summen, die wir alle über die Gesundheitskosten aufbringen müssen, nicht mehr nötig. Deswegen müßten Sie eigentlich Ihren Umwelthaushalt auch darauf untersuchen: Was ist unterlassener Umweltschutz in den anderen Budgets? Zusammengefaßt: Ihr Umwelthaushalt, Frau Merkel, ist an Bescheidenheit kaum zu überbieten und gibt dazu noch die falschen umweltpolitischen Signale. Ihre Bemühungen werden darüber hinaus durch ökologisch unsinnige Ausgaben in vielen anderen Ressorts auf den Kopf gestellt. Was vor uns liegt, ist das in Zahlen gegossene Nischendasein einer konservativen Umweltpolitik, die sich als Feigenblatt mißbrauchen läßt. Gefragt wäre statt dessen eine Ökologisierung aller anderen Politikbereiche. Das wird nicht geleistet. ({5}) In Ihrer Not argumentieren Sie, daß nachsorgender Umweltschutz, der sich in Ausgaben für die Umweltreparatur zeigt, nicht mehr der richtige Weg sei, sondern daß vorsorgender Umweltschutz, der die externen Kosten des Umweltschutzes in die Preise integriert, das Gebot der Stunde sei. Das haben Sie soeben noch einmal ausgeführt. Dieser Ansatz ist richtig, wir teilen ihn. Wir kritisieren aber, daß Sie keinen einzigen Schritt in diese Richtung gehen. Denn Sie müßten zunächst einmal diejenigen Schritte gehen, die Sie heute verschwiegen haben. Was passiert denn nun mit der Energiesteuer? Was passiert denn nun mit dem Reduktionsziel in der Klimapolitik, daß wir nämlich CO2-Gase bis zum Jahre 2005 um 25 % reduzieren wollen? Wo finden sich denn diese Ansätze in Ihrem Haushaltsplan wieder? Sie beklagten soeben wieder die Problematik Ordnungsrecht, und daß wir zu viele Regelungen haben. ({6}) - Ja, wir stimmen dem zu. Wir würden sogar eine Modernisierung der Ordnungspolitik mitmachen, die echte Umweltschutzziele nach vorne bringt. Aber Sie machen doch gerade das Gegenteil: Sie haben in der Regierungserklärung wieder jede Menge Verordnungen angekündigt, die wir schon seit vier Jahren kennen. Das sind die alten Verordnungen, die immer wieder neu aufgelegt werden, anstatt ökonomische Instrumente einzusetzen. ({7}) Warum sperren Sie sich denn gegen die Abfallabgabe? Das wäre doch eine Möglichkeit, zuviel Ordnungspolitik aufzugeben. Was ist eigentlich mit dem Projekt Umweltgesetzbuch, was ist aus diesem Projekt geworden? ({8}) - Ich belehre Sie gerne. Das ist ein Instrument, das man zur Modernisierung des Ordnungsrechtes einsetzen könnte. Es würde nämlich stoffbezogene, anlagenbezogene und medienbezogene Regelungen, die sich teilweise widersprechen, zusammenführen und so zu einer echten, für die Länder vollziehbaren neuen, modernen Ordnungspolitik führen. Aber auch dieses haben Sie - wie viele andere Dinge - auf Eis gelegt. Die Bundesregierung hat zu dem Thema ,, ökologische Steuerreform" sehr wenig ausgesagt; in den ganzen Koalitionsvereinbarungen finden wir hierzu nur zwei Sätze. Einer der beiden Sätze sagt, daß an dem Ziel einer aufkommensneutralen CO2-/EnergieSteuer weiterhin festgehalten wird. ({9}) - Richtig, ich bedanke mich, Herr Kollege Fischer. - Das nimmt dem Ganzen noch einmal das Konkrete. Das heißt, es ist von der alten Idee nichts mehr übriggeblieben. Zunächst hat man gesagt, man verhandle mit Europa und man werde das Konzept einer Energiesteuer vorlegen. Aus diesem Konzept ist jetzt vier Jahre lang nichts geworden. Auf dem Essener Gipfel hat man sich dann so geeinigt, daß man sagt, eine europaweite Energiesteuer sei subsidiär. Jedes einzelne Land könne unter diesem Kriterium CO2/Energie-Steuern beschließen. Was heißt das? Das heißt, es funktioniert nach dem Motto: Hannemann, geh du voran. Aber es geht natürlich keiner. Und die Umweltministerin selbst befindet sich genauso auf dem geordneten bzw. ungeordneten Rückzug, weil sie nämlich in einer Presseerklärung von gestern in der „FAZ" angekündigt hat, sie sei gegen einen nationalen Alleingang. Also was sollen wir nun machen? Nationale Alleingänge lehnen Sie ab. Eine EU-weite CO2-/Energie-Steuer ist offensichtlich gescheitert, weil Sie nur noch Empfehlungen für eine solche, die irgendwann einmal kommen soll, geben, und der Klimaschutz bleibt insgesamt auf der Strecke. Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon 1993 ein Konzept für eine Energiesteuer vorgelegt. Ich finde es skandalös, daß derzeit von Umweltverbänden, von Forschungsinstituten und auch einzelnen Wirtschaftsunternehmen über die Frage einer ökologischen Steuerreform diskutiert wird - es gibt sogar einen Förderkreis für dieses Thema, dem namhafte Wirtschaftsunternehmen beigeordnet sind -, aber die Bundesregierung zu diesem Thema schweigt. Sie hat hierfür weder ein Konzept noch ein Ausgleichsmodell noch eine Rückgabesystematik. Was sie bislang gemacht hat, ist reines Abkassieren bei der Mineralölsteuer, die nur die kleinen Leute belastet, aber unter dem Strich für die Umweltpolitik nichts gebracht hat. ({10}) Wenn ich also einen Strich unter das ziehe, was Sie bislang vorgelegt haben, Frau Merkel, dann ist Ihr Programm kein Aufbruch in die Zukunft, sondern es ist ein Salto rückwärts in eine umweltpolitische Vergangenheit. Ich finde es programmatisch, daß der Umwelthaushalt als letzter Haushalt vor der Weihnachtspause unter Ausschluß der Öffentlichkeit am geheimsten Ort der Republik, dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages, behandelt wird. ({11}) Es freut mich besonders, daß aus Solidarität so viele Kollegen dageblieben sind. Ich fand es richtig, daß wir über diesen Haushalt in seiner Bescheidenheit und in seiner Dürftigkeit umfassend debattieren. Ich bedanke mich. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt die Kollegin Vera Lengsfeld, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Merkel, im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Meinung, daß die Bundesregierung mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf beweist, daß sie Umweltpolitik zur Bedeutungslosigkeit verurteilen will. Daß Ex-Umweltminister Klaus Töpfer, der dieser schwarzen Regierung offensichtlich zu grün war, zur Bewährung den beschleunigten Umzug nach Berlin organisieren soll, kann Berlin-Befürworter nur bedingt freuen; denn mit dem Tiergartentunnel ist ein Großangriff auf die Berliner Stadtökologie geplant, der nicht nur die Berliner Grünen, sondern auch konservative Bewahrer der Schöpfung um den Schlaf zu bringen imstande ist. ({0}) Unklar ist auch, ob sich Herr Töpfer in Berlin aufhalten wird, wenn die Stadt in wenigen Monaten Ort der Nachfolgekonferenz von Rio ist. Angenehm könnte ihm ein solcher Aufenthalt nicht sein, denn Herr Töpfer hat seine Unterschrift unter ein Dokument gesetzt, dessen Bedeutung die Bundesregierung nicht mehr anerkennen will. Bekanntlich hat sich Deutschland mit der Klimakonvention von Rio verpflichtet, die Stabilisierung der Kohlendioxidemissionen auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird. Als Zielmarken - dies zur Erinnerung - haben internationale Wissenschaftlergremien dafür eine 20%ige CO2-Reduktion bis zum Jahr 2005 und eine 80%ige bis zum Jahr 2050 benannt. Um dieses Ziel zu erreichen, müßte jedoch das größte Reformprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht werden. Vor allem in der Wirtschafts- und Energiepolitik bedürfte es eines drastischen Kurswechsels. Doch das hat die Bundesregierung, die völlig auf ein „Weiter so" verpflichtet ist, entweder nicht begriffen, oder - schlimmer - sie hat es begriffen, handelt aber nicht danach. ({1}) Alles, was sie zu den Eckpunkten einer Energiewende, dem Energiesparen und zur Förderung der erneuerbaren Energien zu bieten hat, wäre lachhaft, wenn es nicht so traurig wäre. In der Titelgruppe 03 „Maßnahmen zur Förderung der rationellen und sparsamen Energieverwendung" ist tatsächlich das Soll für 1995 auf 199,2 Millionen DM angewachsen. Dies ist jedoch mitnichten einer ökologischen Offensive geschuldet, sondern nur einer Umgruppierung innerhalb des Haushaltsplans; denn 150 dieser knapp 200 Millionen DM werden, wie schon seit Jahren, für die Fernwärmesanierung in den neuen Bundesländern verwendet. Für die erneuerbaren Energiequellen bleiben 1995 30 Millionen DM, 1996 18 Millionen DM, 1997 7 Millionen DM und 1998 2 Millionen DM. ({2}) Besser, Frau Umweltministerin, könnte man in Worten gar nicht zusammenfassen, was den erneuerbaren Energien bei der Fortsetzung der derzeitigen Regierungskoalition blüht. Das gleiche Elend beim Energiesparen: Die Mittel für das Vor-Ort-Beratungs-Programm und die Beratung kleiner und mittlerer Unternehmen, im Klimaschutzprogramm der Bundesregierung an prominenter Stelle herausgestellt, sind mit 13 Millionen DM so knapp bemessen, daß sie bereits im März überzeichnet sind. Das ist die traurige energie- und umweltpolitische Realität in Deutschland. ({3}) Mit Zukunftssicherung hat das nichts zu tun. Als Ersatz für die sinnvolle Energieberatung dient jetzt anscheinend die Finanzierung von Informations- und Aufklärungsschriften, die der Bevölkerung die Verträglichkeit der integrierten Entsorgungskonzepte für nukleare Abfälle suggerieren. Dafür, denken wir, sind selbst 750 000 DM zuviel. ({4}) Schwer vorstellbar ist auch, welchen Nutzen die schriftlichen Appelle an die Bevölkerung zum umweltgerechten Verhalten erzielen sollen, wenn die Bundesregierung selber mit schlechtem Beispiel vorangeht; warten doch bis zum heutigen Tag die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes, die Ozon-Verordnung, das allgemeine Tempolimit und das Bodenschutzgesetz vergeblich auf ihre Verabschiedung. ({5}) Ein Armutszeugnis für die Bundesregierung ist weiter, daß sie in Sachen Kohlepfennig vom Verfassungsgericht Nachhilfeunterricht brauchte. Obwohl Herr Rexrodt medienwirksam über die Einführung einer Energiesteuer nachdenkt, ändert sich nichts am bisherigen Festhalten an der unverantwortlich hohen Subventionierung der Energiegewinnung aus Steinkohle. ({6}) Lösungsvorschläge der Länder, die Kohlesicherungspolitik und CO2-Minderungs-Ziele wirkungsvoll miteinander zu verknüpfen, sind jetzt die notwendigen Schritte, um die zweifelsfrei erforderliche Kohlesicherung mit einer nachhaltigen Energiesparpolitik zu verbinden. Eine reine Kohlefinanzierungssteuer oder auch eine Mehrwertsteuerlösung lehnen wir ab. Statt dessen eröffnet die Finanzierung durch eine Energiesteuer die Chance, einen Teil der Einnahmen in der Übergangsphase für den Kohlepfennig einzusetzen und dann schrittweise und sozialverträglich in den Topf für die Förderung des Energiesparens und der regenerativen Energiequellen zu überführen. ({7}) Mit einer solchen Verfahrensweise gelänge es dem Gastgeberland Deutschland, die geplante Nachfolgekonferenz von Rio, in die immerhin 22 Millionen DM fließen sollen, mit positiven Inhalten zu füllen. Heute morgen haben wir ja die frohe Botschaft aus Brüssel bekommen, daß es uns nunmehr freisteht, eine Energiesteuer einzuführen. ({8}) Wir freuen uns natürlich, daß unsere jahrelangen Forderungen endlich eine solche Resonanz gefunden haben, und möchten nun davor warnen, die Steuersätze zu niedrig festzuschreiben und Einzelverbraucher und Industrie unterschiedlich zu behandeln. ({9}) Zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich noch auf eines der brennendsten ökologischen Probleme im Osten zu sprechen kommen. Ich meine das Bergrecht Ost. Im Einigungsvertrag wurden die grundeigenen Bodenschätze zu bergfreien deklariert; sie stehen damit zur uneingeschränkten Verfügung derer, die Abbaurechte in den Bergwerksfeldern für ein Handgeld erworben haben. Die Folge ist heute, daß z. B. 10 % der Landesfläche von Thüringen vom Abbau bedroht sind. Abgebaut werden sollen Teile des Stollensytems des KZ Dora, bedeutende Teile des Südharzer Gipskarstgebietes - das UNESCO-Biosphärenreservat werden soll -, die Kalkfelsen der Thüringer Pforte und die Basaltkuppen des Dolmar. Selbst Teile des Goethepfades zwischen Weimar und Großkochberg, auf dem unser größter Dichter zu Fuß oder zu Pferde zu seiner Muse Charlotte von Stein eilte, sollen unter dem Schaufelradbagger verschwinden. ({10}) Als Ausgleich dafür ist in Sichtweite des Schlosses Großkochberg eine Mülldeponie geplant. Frau Merkel, Sie haben die Chance, dies zu verhindern. Ich würde Sie bitten, sie zu nutzen. ({11}) Die Bürgerinitiativen gegen diesen Raubbau werden es Ihnen danken. Es könnten dann immerhin 7,9 Millionen DM für „die Erforschung der Faktoren, die die Bürger und Bürgerinitiativen zur Ablehnung von Maßnahmen etwa des Straßenbaus, der Industrieansiedlung und der Energieversorgung veranlassen", gespart werden. Diese Millionen sollten besser zur dringend notwendigen Förderung der Substitution von Naturrohstoffen genutzt werden. Statt Bodenschätze zum Nulltarif zu verschleudern, müssen Energie- und Ressourcenverbrauch durch eine Primärenergiesteuer gedrosselt werden. Solange das nicht passiert, stellen Pläne wie der Einzelplan 16 eine Umweltgefährdung dar. Vielen Dank. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Ich möchte die Haushaltsdebatte dazu nutzen, klarzumachen, was die F.D.P. in der kommenden Legislaturperiode als wichtige Projekte in der Umweltpolitik ansieht. Wir wollen in der Tat den Umweltschutz voranbringen. Wir setzen nicht auf mehr Staat, sondern wir setzen auf mehr Freiheit und auf mehr Verantwortung. ({0}) Wer immer mehr staatliches Handeln fordert, schränkt die Freiheit ein und entläßt aus der Verantwortung. Das gilt auch für den Schutz der Umwelt. Wir wollen mehr marktwirtschaftliche Elemente im Umweltschutz. Das bedeutet - das muß man hinzufügen -: mehr Freiheit in der Wahl der Mittel, mehr Freiheit im Wettbewerb und mehr Freiheit durch geringere Belastung. ({1}) Marktwirtschaftliche Instrumente fordern viele, auch die GRÜNEN. Die GRÜNEN wollen allerdings etwas anderes. Wenn man sich das Programm der GRÜNEN ansieht - ich habe das mit Blick auf die heutige Debatte noch einmal getan -, stellt man folgendes fest. ({2}) - Ich habe es in der Tat sehr gut durchgelesen, Herr Fischer. - Die GRÜNEN wollen ein gigantisches Abgabenerhöhungsprogramm und eine gigantische Aufblähung der staatlichen Subventionen. Es ist allzu verständlich, wenn die GRÜNEN ihr Programm hinter dem staatsmännischen Gehabe von Ihnen, Herr Fischer, verstecken wollen. ({3}) Man muß deutlich aussprechen, was alles in diesem Programm steht: Abfallabgabe, Verpackungsabgabe, Schwerverkehrsabgabe, Nahverkehrsabgabe, Mineralölsteuererhöhung auf 5 DM und Primärenergiesteuer. Das ist die Summierung dessen, was Sie wollen. Sie sagen aber nicht, wie Sie das gegenfinanzieren wollen. ({4}) Wir sagen jedenfalls: Durch eine erhöhte Steuerbelastung für den Bürger kann das nicht geschehen. ({5}) Ein Wort zu Ihnen, Frau Caspers-Merk, und zur CO2-/Energie-Steuer. Sie haben das hier vehement eingefordert. Alle, die bei den Energiekonsensgesprächen dabei waren, sagen mir, daß sich die Sozialdemokraten - mit einer einzigen Ausnahme - massiv dagegen gewehrt haben. Da frage ich mich, was das hier eigentlich soll. lch frage die GRÜNEN: Gibt es bei Ihnen eigentlich niemanden, der sein Geld mit eigener Arbeit und eigenem Risiko verdient? ({6}) Mit diesem Schröpfungsprogramm, das in Ihrem Programm steht, zerstören Sie jede Akzeptanz für den Umweltschutz. ({7}) Und was soll der Staat nicht alles subventionieren: den öffentlichen Personennahverkehr, erneuerbare Energien, dezentrale Energieversorgung, abfallarme Technologien, ökologisches Bauen usw. usf. Das, lieber Herr Fischer, sind Rezepte von gestern für die Probleme von heute und morgen. So schaffen Sie keine tragenden Strukturen, weder hier noch - auch das steht in Ihrem Programm - in der Dritten Welt. ({8}) Sie fördern Mitnahmeeffekte, Sie fördern Effektivitätsverluste, Sie fördern ein Versorgungsdenken. ({9}) Wenn letztendlich die Kuh gemolken ist, der Steuerzahler ausgequetscht ist, dann bricht alles zusammen. Wer die nachhaltige Entwicklung durch den Staat finanzieren will, wird Schiffbruch erleiden. ({10}) - Herr Fischer, Sie rufen hier ständig dazwischen. Ich biete Ihnen an: Stehen Sie auf, stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann werde ich diese gern beantworten. Dann habe ich dafür genügend Zeit. ({11}) Die F.D.P. hat andere Vorstellungen von einer marktwirtschaftlichen Umweltpolitik. Wir wollen die Eigenverantwortung stärken. Deswegen unterstützen wir die schnelle und fristgerechte Umsetzung der EG-Öko-Audit-Verordnung. Die Industrie entwickelt Regeln für ein Umweltmanagement. Integrierter Umweltschutz wird zum Unternehmensziel, und er wird überprüfbar. Wir gewinnen ein Stück Freiheit. Der Staat kann Überwachungsbürokratie abbauen, und die Umwelt profitiert. Das nenne ich intelligente Umweltpolitik, wie Sie sie eingefordert haben, Frau Caspers-Merk. Diese findet überwiegend außerhalb des Haushalts statt. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Von wem denn?

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Von der Kollegin Altmann.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön. ({0})

Gisela Altmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002618, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich muß in Ihrer Rede eine Minute zurückgehen. Sie haben so schnell gesprochen; so schnell konnte ich nicht denken. Ich hoffe, Sie sind meiner Frage trotzdem gewachsen. Sie haben in Ihrem Wortschwall den GRÜNEN attestiert, sie hätten ein Rad ah. Ich wollte Sie fragen: Gilt das beispielsweise auch für die Wirtschaftsjunioren, d. h. für Unternehmerverbände, die inzwischen auch von einer ökologischen Steuerreform und einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft reden? ({0}) Würden Sie dazu bitte auch so ein qualifiziertes Urteil abgeben wie zu den GRÜNEN?

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Kollegin, ich bedauere außerordentlich, daß Sie es so empfunden haben, als hätte ich gesagt, daß Sie ein Rad ab haben. Das habe ich mitnichten gewollt. ({0}) Ich sage ganz deutlich, daß die Vorstellungen beispielsweise der Wirtschaftsjunioren näher an unseren Vorstellungen liegen als die Vorstellungen der GRÜNEN. Auch wir wollen ökonomische Lenkungsinstrumente. Aber wir wollen nicht alles auf das Ordnungsrecht draufsatteln und die Abgabenbelastung nicht erhöhen. Wir wollen das Ordnungsrecht zurückdrängen. Wir wollen vor allen Dingen Entlastung an anderer Stelle. Sie können nicht allen Ernstes die Steuerquote noch mehr hochtreiben wollen. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. ({1}) [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Waigel ist der Schuldige! - Gegenruf des Bundesministers Dr. Theodor Waigel: Das nehmen Sie sofort zurück! Ich glaube, der Fischer ist los!) Wir wollen die marktwirtschaftlichen Instrumente weiterentwickeln. Knappe Deponiekapazitäten könnten z. B. über Zertifikate handelbar gemacht werden. Auch Fluglärmkontingente könnte ich mir vorstellen. Im Abwasserbereich könnte man durch Zertifikationslösungen ebenfalls etwas erreichen. So könnte das seinen Preis bekommen. So kann der Umweltverbrauch über den Preis reguliert und verringert werden. Die F.D.P. wird dazu Pilotprojekte vorschlagen. Das haben wir in der Koalitionsvereinbarung festgehalten, und das hat die F.D.P. durchgesetzt. Sie werden sehen, daß wir hier Pilotprojekte durchführen werden. ({2}) Wir wollen die Produktverantwortung verwirklichen. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz stellt dafür die Weichen. Jetzt muß das ausgefüllt werden. Dazu müssen die Rücknahmeverordnungen für Altautos, Elektronikschrott und Batterien vorgelegt werden. ({3}) Die Wirtschaft hat die Chance für freiwillige Lösungen. Wir laden sie dazu ein. Aber sie darf mit ihren Angeboten nicht mehr lange warten. Diese müssen unseren umweltpolitischen Zielsetzungen entsprechend und kartellrechtlich in Ordnung sein. Wir werden an dieser Stelle die Produktverantwortung vorantreiben. Die F.D.P. wird in diesem Zusammenhang auch weiterhin für die mittelständischen Interessen in der Umweltpolitik eintreten. ({4}) Überzogene Fristen, zu hohe Quoten und Festlegungen auf großtechnische Verfahren treiben kleine und mittlere Betriebe in die Arme der kapitalkräftigen Konzerne. Wir wollen weder Staatsmonopole noch Monopolkonzerne. Dafür wird die F.D.P. eintreten. ({5}) Die F.D.P. will mehr wirtschaftliche Freiheit und Effizienz durch Privatisierung auch im Umweltschutz. Abwasser- und Abfallentsorgung in den Kommunen müssen privatisiert werden. Beamte und der öffentliche Dienst sind nicht die besseren Unternehmer. Deshalb werden wir die privatrechtlichen und öffentlich rechtlichen Organisationsformen steuerlich gleichstellen. Steuerprivilegien für Hoheitsbetriebe sind antiquiert. Wir werden sie abschaffen. ({6}) Die F.D.P. will mehr Wettbewerb im Umweltschutz. Abwasser- und Abfallanlagen müssen im Wirtschaftlichkeitswettbewerb ausgeschrieben werden. Staatliche Zuschüsse dürfen nur noch für die wirtschaftlichste Version gegeben werden. Ich finde, der Bürger hat einen Anspruch auf größte Sparsamkeit im Umgang mit seinem Geld. Die F.D.P. will mehr Freiheit und Innovation durch Deregulierung. Wir brauchen technologische und ökologische Innovationen, und wir brauchen sie schnell. ({7}) Der Staat darf sie nicht durch überlange und überflüssige Genehmigungsverfahren behindern. 80 % der immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren sind Änderungsverfahren, oft, um Energieverbrauch, Rohstoffeinsatz, Schadstoffausstoß und Abwässer zu reduzieren. Beispiel Ulm: Die Müllverbrennungsanlage könnte längst kleiner gebaut werden, als geplant. Die Abfallvermeidung zieht. Das bedeutet weniger Abfälle, weniger Schadstoffe, weniger Anlieferungsverkehr. ({8}) Warum benötigen wir hier eigentlich noch ein neues Genehmigungsverfahren? Ich bin der Meinung, umweltentlastende Anlagenänderungen müssen genehmigungsfrei gestellt werden. ({9}) Wir werden in dieser Legislaturperiode auch das Bodenschutzgesetz vorantreiben. Frau Lengsfeld, Sie haben gesagt, daß man in der letzten Legislaturperiode vergeblich auf die Verabschiedung gewartet hat. Ich empfehle Ihnen einen Blick nach Hessen, wo der Umweltminister Fischer in der Koalitionsvereinbarung gesagt hat, daß er das als Landesgesetz in den Landtag einbringen wolle. Auch dort ist das nicht gemacht worden. Offensichtlich kann das so einfach nicht sein. ({10}) Hier werden die GRÜNEN nämlich schizophren. Sie fordern ökologische Innovationen. Sie wollen sie durch Staatsknete sponsern, aber die Genehmigungsverfahren wollen sie verlängern. Sie wollen die in der letzten Legislaturperiode durchgesetzten Beschleunigungen zurücknehmen. Sie wollen noch mehr Schwerfälligkeit in den Unternehmen. Das finde ich am interessantesten. Jetzt sollen auch noch Betriebsrat und Gewerkschaftsfunktionäre Tiber neue Produkte und Produktionsverfahren mitbestimmen. Soviel Naivität, Inkompetenz und Staatsgläubigkeit kann auch der Kabarettist vom Dienst, Fischer, nicht verdecken. ({11}) Herr Fischer, Sie haben mein Mitgefühl, daß Sie dieses Programm vertreten müssen. Die F.D.P. wird dafür sorgen, daß Sie nicht in die Gefahr kommen, das Programm umsetzen zu müssen. Vielen Dank. ({12})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Köhne, PDS.

Rolf Köhne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002702, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe verbliebene 35 Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Ja, wir haben gezählt. Und offensichtlich ist es hier im kleinen Kreis wesentlich lustiger. ({1}) Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zur Debatte vom Mittwoch. Als der Herr Bundesminister Waigel am Mittwoch die Leistungen von Frau Breuel bezüglich der Treuhand nannte, habe ich Beifall geklatscht; denn es ist in der Tat eine historische Leistung, aus real existierendem Vermögen mehr als 200 Milliarden DM Verlust zu machen. Früher wurden für solche Zerstörungen ganze Kriege benötigt. Ich hoffe als Hannoveraner, daß sich solche Leistungen bei der Expo 2000 nicht wiederholen. Nun zum Thema. Wie ich dem vorgelegten Haushaltsentwurf entnommen habe, will die Regierung 1995 ca. 8 Milliarden DM für Umweltschutz, umweltverbessernde Maßnahmen sowie umweltrelevante Forschung ausgeben. Dabei erscheinen mir einige dieser Zahlen zweifelhaft. Die Vorrednerinnen von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben dazu gesprochen. Für Militär und Rüstung hingegen hat die Regierung 48 Milliarden DM veranschlagt. Nach NATO-Kriterien sind es sogar 60 Milliarden DM. Angesichts drohender klimatischer Veränderungen, des Ozonlochs, der Schädigung des Waldes, sanierungsbedürftiger Böden, der Bedrohung des Wattenmeeres, wachsender Müllberge und insbesondere angesichts der Tatsache, daß die kapitalistischen Metropolen des Nordens weitaus mehr Energie und Rohstoffe pro Kopf verbrauchen als die Peripherie, sind dies völlig falsche Prioritäten. Darüber hinaus sind in den angeführten 8 Milliarden DM rund 1,3 Milliarden DM enthalten, die eher der Umweltgefährdung als dem Umweltschutz dienen. Ich meine die ca. 800 Millionen DM für den Bereich Kernforschung und die ca. 600 Millionen DM für die Endlagerung von radioaktivem Müll aus den Atomkraftwerken. Angesichts der von offizieller Seite anerkannten Tatsache, daß auch bei deutschen Atomkraftwerken Kernschmelzunfälle nicht ausgeschlossen werden können - wie es sich z. B. aus der deutschen Reaktorsicherheitsstudie Kernkraftwerke, Phase B, ergibt -, daß also ein deutsches Tschernobyl eine real existierende Möglichkeit ist, fordern wir den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie. ({2}) Ich möchte dazu - ebenso wie der Herr Bundesminister Waigel - Immanuel Kant zitieren: „Du kannst, wenn du sollst." Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Thema „Entsorgung von radioaktiven Abfällen" möchte ich noch einiges anmerken. Die Bundesregierung treibt Roßtäuscherei, wenn sie dem Haushaltstitel 712 33 die Bezeichnung „Errichtung von Anlagen des Bundes zur Sicherung und Endlagerung radioaktiver Abfälle ({3}) " gibt. Entsprechend der Realität müßte dieser Haushaltstitel eigentlich die Bezeichnung tragen: „Herumbuddeln in einem zur Endlagerung ungeeigneten Salzstock". Die Fakten dazu sind seit 1983 weitgehend bekannt. Deshalb gibt es auch breiten Widerstand in der Bevölkerung, wie wir ja erst kürzlich bei dem unsinnigen Castor-Transport erlebt haben. Es ist mir deshalb völlig unverständlich, warum die Regierung außer den 1,4 Milliarden DM, die sie in Gorleben bereits zum Fenster hinausgeworfen hat, 1995 noch einmal 140 Millionen DM und ab 1996 weitere 2,2 Milliarden DM zum Fenster hinauswerfen will. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß der frühere niedersächsische Ministerpräsident Albrecht 1979 eingestehen mußte, daß die Wiederaufbereitung politisch nicht durchsetzbar sei. Ich prophezeie Ihnen, daß dies infolge öffentlichen Drucks eines Tages auch für Schacht Konrad und den Schacht in Gorleben wird gesagt werden müssen. Ich komme zu meiner Schlußbemerkung. Wenn wir in diesem Hause in Zukunft dafür Sorge tragen, daß mit der gleichen geistigen Energie und der gleichen finanziellen Ausstattung, mit der bisher Atomkraft und Rüstung erforscht und betrieben wurden, in Zukunft für erneuerbare Energien und Rohstoffe, für wirksamen Umwelt- und Naturschutz geforscht, gedacht und gearbeitet wird, dann werden wir die Umweltprobleme, die wir weltweit haben, lösen können. Doch von einer solchen Herangehensweise ist in diesem Haushalt nichts zu spüren, und deshalb wird er unsere Zustimmung auch nicht erhalten. Ich danke Ihnen. ({4})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Jetzt spricht Herr Dr. Klaus Lippold, CDU/CSU.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Haushalt, den wir heute hier in einführender Lesung besprechen, wächst überdurchschnittlich. Das muß man einmal sehr deutlich hervorheben. Frau Caspers-Merk, wer es noch nicht gelernt hat: Die Umweltpolitik der Union hat nie die Kosten im Haushalt mit dem Umweltschutzerfolg gleichgesetzt. ({0}) Die bedeutendsten Umweltschutzerfolge haben wir auf ganz andere Art und Weise erzielt. Wenn wir das nur mittels Ausgaben hätten machen sollen, wäre das nie zu schaffen gewesen. ({1}) Nicht den Erfolg einer Politik zu betrachten, sondern die Höhe der Ausgaben, egal, wie effizient diese Ausgaben sind, ist eine klassische SPD-Position. Das ist der Fehler, den Sie permament machen. ({2}) Nicht hohe Ausgaben dürfen das Ergebnis sein. Vielmehr muß man mit den Ausgaben, die man tätigt, etwas erreichen oder auf anderem Wege jemanden veranlassen, etwas zu tun. Die Luftreinhaltung in der Bundesrepublik Deutschland ist nicht durch Ausgaben im Haushalt, sondern durch die Ausgaben der Wirtschaft bedingt worden, die die Unionspolitik und die liberale Politik veranlaßt und durchgesetzt haben. Das ist der Grund dafür, daß es heute in vielen Bereichen eine wesentlich günstigere Situation gibt als in anderen Ländern.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. - Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lengsfeld?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, darf ich Ihre einführenden Worte so verstehen, daß Sie Ihre geringsten umweltpolitischen Erfolge dort haben, wo Ihre Ausgaben am höchsten sind?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie können das drehen und wenden, wie Sie wollen. Da wir über eine breite Palette von Erfolgen verfügen, brauchen wir über deren Kosten weniger zu sprechen. Wir können mit unseren Erfolgen vorweisen, ({0}) was wir im Dienste der Menschen geleistet haben. ({1}) - Hören Sie doch einmal zu, Herr Fischer! Damit komme ich zum nächsten Punkt. Eine Reihe von Rednern haben die internationale Klimakonvention, die Fragen des internationalen Klimaschutzes angesprochen. Wer anders als die Bundesrepublik Deutschland hat bislang eigentlich überhaupt einen solchen Beitrag zur Verringerung der Spurengasemissionen geleistet? Wir sind das einzige Land, das bisher ein solches Maximum an Spurengasemissionen verringert hat. Wir hatten bei Erzeugung wie Verwendung das muß man nachlesen, Herr Fischer - einen Anteil von 10 % an den Fluorchlorkohlenwasserstoffen weltweit. ({2}) Wir sind die ersten, die ausgestiegen sind.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Herr Kollege Dr. Lippold, gestatten sie eine Zwischenfrage der Kollegin Altmann?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hätte gerne eine Spezifizierung Ihrer Erfolge. Würden Sie auch den Bundesverkehrswegeplan als Erfolg bezeichnen? ({0}) - Nun seien Sie doch einmal still! Das ist ja furchtbar. Herr Töpfer hatte ja in Rio versprochen, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 um 25 %, zu senken. Das Umweltbundesamt hingegen sagt, daß die CO2-Emissionen bei einer Verwirklichung des Bundesverkehrswegeplans um 50 % steigen würden. Meine Frage ist also, ob das einer Ihrer Erfolge ist.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben in keiner Weise recht. Der Bundesverkehrswegeplan schließt sowohl den Straßenbau als auch die Bahn ein. ({0}) Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Republik ist der Ausgabenbereich für die Bahn größer als der Ausgabenbereich für die Straße. Wir danken dem Finanzminister, daß er eine solche Entwicklung möglich gemacht hat. Das muß man sich dann aber einmal aneignen. ({1}) Der nächste Punkt ist der - dazu müßten Sie einmal die Kollegen befragen, die in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" waren -, daß CO2 natürlich auch mit einer Verstetigung des Verkehrsflusses, also einer Vermeidung von Staus, verringert werden kann. Auch das muß man sich klarmachen. Wer die Umwegfahrten in unseren Städten zielstrebig provoziert, provoziert steigende CO2-Emissionen. Das ist klimaschädlich, ganz abgesehen davon, daß es gesundheitsschädlich ist. ({2}) Früher blieb man bei der Beantwortung einer Frage meist stehen. Das muß nicht unbedingt sein und hat sich heute geändert. Auch in der Bundesrepublik sind die CO2-Emissionen ich sage das ganz deutlich - nicht nur wegen der Betriebsaufgaben in den neuen Bundesländern, sondern auch wegen der Einsparmaßnahmen, die ergriffen wurden, zurückgegangen. Wenn man das Einsparpotential z. B. im Hausbaubestand in den neuen Bundesländern einbezieht, kommt man auf ganz erhebliche Summen. Wir haben sowohl in den alten wie in den neuen Bundesländern eine Reduktion zu verzeichnen, insbesondere dann, wenn man den Bevölkerungszuwachs in den neuen Bundesländern herausrechnet. All das wollen Sie ja nicht zur Kenntnis nehmen. Das heißt, wir werden schlicht und ergreifend durchaus dabei bleiben können, daß wir bis zum Jahre 2005 die Spurengase um insgesamt 50 % reduziert haben werden, so wie wir es zugesagt haben. Einen solchen Erfolg gibt es nirgendwo anders. Auch haben wir nie - lassen Sie mich insoweit die Kollegin Lengsfeld korrigieren - von einer weltweiten CO2-Reduktion bis zum Jahr 2005 gesprochen, denn das wäre nicht darstellbar. Sie haben dabei übersehen, verehrte Frau Kollegin, daß wir natürlich den Entwicklungsländern, die ein ganz anderes Emissionsverhalten haben, heute nicht das zumuten können, was wir den Staaten des industrialisierten Nordens zumuten wollen. Wir differenzieren also in der Reduktion. Das bedeutet, daß die Entwicklungsländer und auch andere Länder einen Zuwachs haben können, während wir für die Industrieländer des Nordens eine Reduktion wollen. Ich glaube, das ist notwendig. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir hätten natürlich heute für diesen Haushalt noch in ganz anderer Form Mittel zur Verfügung, wenn wir nicht Aufräumarbeiten für das leisten müßten, was unter SED/PDS in den neuen Bundesländern und in der vormaligen DDR gemacht worden ist. Das, was wir bei Dr. Klaus W. Lippold ({3}) Wismut und anderswo heute mühsam beseitigen müssen, das geht auf Ihr Konto, das geht auf Ihre verfehlte, menschenverachtende Politik zurück. ({4}) Es spricht für Ihren Zynismus, daß Sie sich noch heute nicht bei den Opfern entschuldigt haben. Das wäre Anstand. Da braucht man nicht zu lachen. Die Schädigung der Menschen dort geht auf Ihr Konto. Wer das damals verantwortet hat - Sie haben es ja zu großen Teilen mitverantwortet -, der kann hier nicht sagen, dieses und jenes in Sachen Bodenschutz werde nicht getan oder sollte beachtet werden. Die Weltausstellung in Hannover wird, meine Damen und Herren, ja wohl auch von den Sozialdemokraten gefordert. Ich erinnere mich, daß eine charmante Dame aus Ihrem Bereich darauf geachtet hat, daß die Expo-Ausstellung spezifisch unter die Empfehlungen der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" aufgenommen wurde. Man muß das doch alles einmal differenziert betrachten. Man kann nicht in Hannover etwas fordern, was man dann hier kritisiert. Das muß dann schon aufgearbeitet werden. So wie bisher geht es nicht. ({5}) Wir werden auch unseren Weg des Schutzes sowohl der tropischen Wälder als auch der borealen Wälder weitergehen. Ich glaube, daß die Vernichtung hier im Norden als genauso gewichtig wie die Vernichtung der Wälder im Süden anzusehen ist. Wir werden das Ganze mit einem Kampf gegen die zunehmende Desertifikation kombinieren, weil die Ausbreitung der Wüsten das Gebiet bedroht, in dem Menschen wohnen. Wir wollen aber, daß in diesem Gebiet auch später noch Menschen wohnen können. ({6}) Das erfordert Technologietransfer, das erfordert Finanztransfer. Wir werden gemeinschaftlich miteinander feststellen müssen, daß dies auch für die Zukunft eine Aufgabe bleibt. Wir haben diese Aufgabe noch nicht vollständig gelöst. Hier werden wir mehr tun müssen. Ich bin sehr froh, daß wir im Bereich der „Länder im Übergang", der „Countries in Transition", wie es neudeutsch heißt, Hervorragendes leisten. Beziehen wir diese Länder mit ein, so wenden wir für Entwicklungshilfe insgesamt 1,3 % des Bruttosozialproduktes auf. Das ist sehr viel. Dennoch dürfen wir diesen Punkt nicht aus dem Auge verlieren, weil die Probleme der Dritten Welt größer und nicht kleiner werden. Daher werden wir über alle Parteigrenzen hinweg hier auch in Zukunft gefordert sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Umweltpolitik kann nicht sektoral betrieben werden, wenn sie Erfolg haben will. Sie erfordert zwingend, daß ökologisch orientierte Marktwirtschaft, wie wir sie in der Bundesrepublik im Programm der Union festgeschrieben haben, ({7}) dadurch auf globaler Ebene angewandt wird, daß wir globale Umweltpolitik mit den Fragen der Weltwirtschaftsordnung, mit WTO und GATT verknüpfen. Umweltschutz muß in der Weltwirtschaftsordnung verankert sein. Nur eine vernetzende Betrachtung kann sicherstellen, daß wir im erforderlichen Maße fortschreiten. Wenn wir heute über globale Umweltstandards im Welthandel diskutieren, dann muß man erkennen, daß diese nicht reichen, weil erstens die Diskussion am Anfang steht und weil zweitens die Institutionen und Organisationsstrukturen auf Weltebene, die sich mit Umweltschutz auseinandersetzen, nicht so stark oder gestärkt sind, wie es bei Weltbank, GATT, WTO und letztendlich dem Internationalen Währungsfonds der Fall ist. ({8}) Insofern müssen diese Umweltschutzstrukturen neu gestaltet werden, und zweitens müssen sie mit den Wirtschaftsstrukturen, die ich gerade genannt habe, vernetzt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, in diesem Zusammenhang werden auch der Nord-Süd-Konflikt und der Nord-Süd-Ausgleich eine Rolle spielen. Die besondere Rolle des Nordens, dessen besondere Verantwortung, habe ich angesprochen. Aber sie wird durch das Einbeziehen der Entwicklungsländer ergänzt werden müssen. Denn wenn wir die Entwicklungsländer nicht einbeziehen, werden die Probleme in absehbarer und überschaubarer Zeit nicht gelöst werden können. Wer nur den Norden ins Visier nimmt, vergißt, daß sich in Zukunft die Probleme auf der Südhalbkugel abspielen werden. Auch dies ist ein Punkt, der bei der Vertragsstaatenkonferenz von entscheidender Bedeutung ist. Wenn wir die europäische Ebene betrachten, werden wir feststellen, daß das fünfte Umweltschutzprogramm ein Fortschritt ist. Die Neubeitritte von Schweden, Finnland, Österreich haben aus unserer Sicht den ganz entscheidenden Vorteil, daß jetzt die Gruppe der umweltorientierten Länder um die Bundesrepublik Deutschland, um die Niederlande, um Dänemark durch drei weitere Länder verstärkt wird. Ich glaube, daß uns das bei der Entscheidungsfindung im europäischen Rahmen in Zukunft hilfreich sein wird. Wir werden auf diese Art und Weise sicherlich mehr umsetzen können als bislang. Ich hoffe, daß dieses dann auch in der nötigen Schnelligkeit passiert und nicht so wie bislang. Wir haben die Ergebnisse des Rates jetzt zur Kenntnis genommen. Wir haben festgestellt, daß es eine Reihe vernünftiger Ansätze gibt, die der Rat jetzt auf den Weg bringen will, u. a. die Reduktion des Verbrauchs beim Auto bis 2005 in einer drastischen Form. Ich bin der Meinung, daß dies ganz deutlich die Dr. Klaus W. Lippold ({9}) Position bestätigt, die von der Bundesrepublik eingenommen worden ist, nämlich - und das ist nichts Neues - in der Frage der CO2-/Energie-Steuer ein Herunterbrechen auf die Verbrauchssteuern. Ich sage hier noch einmal ganz klar und deutlich: Die Lösung, die gefunden werden muß, wird keine reine Energiesteuer sein können, sondern wird schon eine CO2-/Energie-Steuer sein müssen, damit diejenigen Schadstoffe auch entsprechend belastet werden, die mit zur Klimaproblematik beitragen. Das kann man dann nicht einfach außer Betracht lassen und durch eine elegante Lösung nur auf die Energiesteuern umlegen. Man kann nicht möglicherweise auch noch Subventionen verstetigen, die wir wesentlich besser in anderen Bereichen des Umweltschutzes oder zur Erneuerung der Wirtschaft einsetzen können als in diesem Bereich. Ich glaube also, daß wir mit den Ergebnissen, wie sie jetzt der EU-Gipfel gebracht hat, einen weiteren Schritt gegangen sind, insbesondere, wenn ich an die einzelnen Kriterien denke, die zum Punkt CO2-Energie-Steuer verabschiedet worden sind. Ich glaube aber, daß die Ergebnisse dort erneut deutlich gemacht haben, daß wir in der Bundesrepublik eine führende Rolle haben und daß selbst die Europäische Union, die weiter ist als andere Blockstrukturen auf dieser Erde, ein Maß an Umweltschutz realisiert, das das Maß an Umweltschutz in der Bundesrepublik Deutschland noch lange nicht erreicht. Hier wird weiterhin ein Auftrag für uns liegen, und wir werden diesen Auftrag wahrnehmen. Was ich für wichtig halte, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist, daß wir in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland einen ausgesprochenen Schwerpunkt bei den Umweltschutzausgaben in den neuen Bundesländern gesetzt haben. Dies muß auch so sein - das ist ein Unterschied zu den vorherigen Aussagen -, weil wir dort die Industriestruktur noch nicht haben, die wir dort gerne hätten, und weil deshalb der Staat Dinge leisten muß, die wir hier in den alten Bundesländern Privaten zuordnen können. Aber ich halte es schon für wichtig, daß wir z. B. bei der Reduktion der Belastung der Gewässer, der Elbebelastung, der Oderbelastung, ganz erhebliche Erfolge erreicht haben und daß auch die küstennahe Belastung in der Ostsee ganz deutlich heruntergefahren werden konnte. Ich bin der Meinung, daß diese Politik ganz entschieden verstärkt werden muß, daß diese Politik auch mit Blick auf die Anrainerstaaten, die Oberlaufstaaten bei den in Frage kommenden Flüssen, verstärkt werden muß, damit wir hier zu weiteren Fortschritten kommen. Ich glaube, daß das ein Punkt ist, der über alle Parteien hinweg so gesehen werden muß. Keiner kann ein Interesse daran haben, daß die Ostsee ein biologisch totes Meer wird. Die Gefahr ist nach wie vor gegeben. Deshalb geht es nicht nur um die Anstrengungen hier, sondern auch um die Anstrengungen in anderen Bereichen. Wir wollen marktwirtschaftliche Instrumente im Umweltschutz - die Kollegin Homburger ist darauf bereits eingegangen -, keinen bürokratischen Umweltschutz. Was ich für wichtig halte, ist, daß wir sehr schnell die Öko-Audit-Richtlinie umsetzen müssen. ({10}) Herr Fischer, die Öko-Audit-Richtlinie beinhaltet, daß dies vorläufig eine freiwillige Veranstaltung der Wirtschaft ist. Wenn wir auf die Frage der Bürokratisierung kommen, sehr geehrter Herr Fischer, lade ich Sie ein, die Dinge insbesondere im rot-grün-regierten Hessen vor Ort anzupacken. Bei der Öko-Audit-Verordnung wird es nämlich darum gehen, daß die Betriebe, die diese umsetzen, von dem überzogenen bürokratischen Apparat, den Sie z. B. in Hessen darüberstülpen wollen, befreit werden. Dann will ich auch von Ihnen hören, daß Sie es mittragen, wenn wir sagen: Bei demjenigen, der Öko-Audit macht, verzichten wir auf die Einhaltung der Positionen a, b, c, d, e. Sie sollten dann nicht sagen: Die Unionsparteien reduzieren den Umweltschutz!, ({11}) nur weil wir die Konsequenzen aus der Öko-AuditVeranstaltung ziehen. Das muß ein Punkt sein. Wesentlich ist, daß wir damit die Dynamisierung des Umweltschutzes im Betrieb erreichen könnten. ({12}) Ich glaube, daß man dies attraktiv gestalten muß. Das heißt aber auch, daß man das Ordnungsrecht nicht ständig verschärfen kann, wenn ein betriebsinterner Faktor dynamisiert wird, der Umweltschutz signalisiert. Auf Boden-, auf Naturschutz muß nicht weiter eingegangen werden. Ich wiederhole noch einmal, daß ich ein Energieeinsparungsprogramm im Altbau für erforderlich halte. Lassen Sie mich abschließend sagen, daß nach dem Länderprüfbericht der OECD aus dem Jahre 1993 Deutschland im Vergleich zu anderen OECD-Staaten eine führende Position einnimmt. Wenn uns dies Dritte bestätigen, ist das, so meine ich, ein guter Ausgangspunkt, jedoch nichts, worauf man sich beruhigt zurückziehen kann. Wir werden diese Position ausbauen. Im nächsten Prüfbericht der OECD wird stehen, daß wir den Abstand zu den anderen Staaten vergrößert haben. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({13})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Das Wort hat der Kollege Klaus Lennartz, SPD.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mich an die Debatten über den Umwelthaushalt in den vergangenen Jahren erinnere, so steht mir stets das gleiche Bild vor Augen: Die CDU/CSU-Fraktion läßt sich, damals von Umweltminister Töpfer, heute von Frau Merkel vertreten; die Zustandsbeschreibungen der SPD-Vertreter und -Vertreterinnen werden von den wenigen Pflichtanwesenden der Koalitionsfraktionen auf das heftigste bestritten. Wenn es hochkommt, verkünden Koalitionsabgeordnete in Kurzinterventionen pflichtgemäß die Parole: Bei uns ist alles geregelt! Wir sind die Besten! ({0}) - Das war wieder einmal typisch. Sie sind die Besten im Verbalradikalismus; das ist aber auch alles. Geändert hat sich in dem darauffolgenden Jahr nichts. Die Umweltpolitik ist nicht besser geworden. Eine vernetzte, schlüssige Konzeption, die Luft, Wasser und Böden entlastet, ist nicht erkennbar. Die Umweltbelastungen steigen. Klimagefahren, Verkehrsbelastungen, Waldsterben und Trinkwassergefährdung steigen weiter an, während Koalitionsabgeordnete rufen: Wir tun, was wir können. - Dies, meine Damen und Herren, ist eben nicht genug. Ich spreche nicht davon, daß man noch mehr Gesetze, noch mehr Verordnungen, noch schärfere Auflagen für den Umweltschutz produzieren sollte. Ich spreche vielmehr vom fehlenden Regierungskonzept zur ökologischen und sozialverträglichen Einbettung unseres Wirtschaftens. Dabei, meine Damen und Herren, ist allen Beteiligten klar, daß der Bundesrepublik Deutschland eine tragende Rolle zukommt, wenn es gilt, mit ganzheitlichen Konzepten ökologische, wirtschaftliche und soziale Probleme einzubinden und damit zentrale Entscheidungen für die Zukunft der Menschheit mitzugestalten. Das ist eine Aufgabe, die sich uns als Industrienation stellt. ({1}) Es müßte allen klar sein, daß wir Naturschranken nicht weiter beliebig überspringen dürfen, wenn wir die Zukunft unserer Kinder auf dieser Erde sichern wollen. In der Analyse dessen, was getan werden müßte, gibt es viele Übereinstimmungen; ich nenne als ein Beispiel das Ziel der Reduzierung von Kohlendioxid-Emissionen. In der Einschätzung dessen, was konkret getan wird und getan werden muß, gibt es auseinanderdriftende Vorstellungen. Alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte außer der Koalition sind sich darüber im klaren, daß es mit der „Weiter-so-Mentalität", die dieser Regierung anhaftet, nicht weitergehen kann. Dies trifft nicht nur, aber gerade auch auf die Umweltpolitik zu, auf alle übrigen wichtigen Politikfelder ebenso. Während wir früher mit „Made in Germany" werben konnten, werben heute bereits andere Industrienationen mit dem Slogan „Made for Germany". Die Bundesrepublik Deutschland gilt heute unter führenden Industrienationen als lahme Ente. In der Rangfolge des Bruttosozialproduktes pro Einwohner sind wir vom fünften auf den sechzehnten Platz hinter Italien und Österreich zurückgefallen. (Joseph Fischer ({2}) - Das ist auch unglaublich, lieber Herr Kollege Fischer. Wir können bestimmte Dinge nur ändern, wenn wir umstrukturieren und uns umorganisieren. Wir müssen mit Hilfe neuer Technologiefelder versuchen, die Märkte des 21. Jahrhunderts zu erschließen. Darum geht es. Da nützt auch keine stockkonservative Politik. ({3}) Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die strukturkonservative Haltung der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen hat in den vergangenen Jahren zu einer kritisch-reservierten Distanz gegenüber Innovationen geführt. Sie scheuen neue Wege, weil sie auf den alten gerade noch mit Ach und Krach weitergekommen sind. ({4}) Die alten Wege werden sich aber sehr bald verlieren, auch wenn sie heute noch bequemer sind als die neuen. ({5}) Auch nach der Chance des Neubeginns nach den Bundestagswahlen sind kaum Ansätze zu erkennen, ist kaum Bereitschaft zu erkennen, das wirklich moderne Deutschland zu schaffen. Neue Köpfe werden wenig ausrichten, wenn die alten Köpfe im alten Denken verhaftet bleiben. Frau Homburger, das gilt auch für die neue Umweltministerin. Das Ergebnis wird Stillstand sein. Dies zeichnet sich jetzt schon bei der Vorbereitung der ersten Folgekonferenz von Rio im Frühjahr 1995 in Berlin ab. Die Bundesregierung kann dort keinerlei materiellen Fortschritt präsentieren, kann kein zukunftsweisendes Beschlußpapier vorlegen und wird damit vor der Weltgemeinschaft klimapolitisch mit leeren Händen dastehen. Die deutsche Präsidentschaft in der EU - ein zweites Beispiel - war umweltpolitisch folgenlos und damit folgenschwer für die Zukunft unserer natürlichen Lebensgrundlagen, für die Zukunft eines umweltverträglichen Wirtschaftens. Wer für einen Klimaschutz und für einen sparsamen Umgang mit begrenzten Ressourcen eintritt, muß Energieeinsparung fördern sowie Alternativen suchen und erforschen. Einsparen muß sich in der Zukunft für den Nutzer und Verbraucher von Energie mehr lohnen als der Zubau neuer Kraftwerkskapazitäten. Dies muß deutlich werden. ({6}) Viel zu viele Arbeitsplätze im Umweltschutz bestehen heute im nachsorgenden Bereich, viel zuwenig in Bereichen, die Umweltprobleme erst gar nicht entstehen lassen. Bei der Photovoltaik beispielsweise geht es darum, daß wir die industriepolitischen und demzufolge weltweiten Zukunftsmärkte erschließen. Wer sollte es machen, wenn wir es nicht tun? Wer sollte die Alternative dafür sein? Hierin liegt unsere Aufgabe. Im Bundeshaushalt und im politischen Alltag der Bundesregierung sind hierfür keine neuen Ansätze erkennbar. Die Notwendigkeit staatlicher Anreize für energiesparende Investitionen, rationelle Energienutzung und Emissionsminderung wird anerkannt, jedoch von der Bundesregierung in keiner Weise in politische Taten umgesetzt. ({7}) Der Umwelthaushalt ist mit 0,3 % des Gesamthaushaltes einer der kleinsten Einzelpläne. Der Forschungsetat, der auch deutlich ökologische Schwerpunkte haben könnte, ist in den letzten sieben Jahren um 30 % geschrumpft und hat heute einen Anteil von knapp 2 % des Bundeshaushaltes. ({8}) Das, was nun dazugekommen ist, kompensiert noch nicht einmal das, was in den letzten Jahren bewußt herausgestrichen worden ist. Da frage ich mich, wo denn die Zukunft der Technologien des 21. Jahrhunderts ist, wenn die Rahmenbedingungen durch die Politik nicht geschaffen werden. ({9}) Das wäre unsere Aufgabe gewesen. Ihre Aufgabe wäre es gewesen, ein Zukunfts- oder ein Umweltkabinett zu fordern, in dem die widerstreitenden Interessen gebündelt werden und demzufolge zukunftsorientiert, perspektivisch gehandelt wird. Sie hätten dem, was wir wollen, politische Inhalte geben müssen. Das alles haben Sie nicht gemacht. Diese Chance hätten Sie gehabt. ({10}) - Herr Waigel ist an manchem schuld. ({11}) - Lieber Herr Fischer, manche Sachen würde ich nicht ironisch nehmen, aus dem einfachen Grunde: Was Herr Waigel verschuldet, ist die Zukunft unserer Kinder und unserer Kindeskinder. ({12}) Was hier mit einer falschen Finanzpolitik gemacht wird, was nicht in zukunftsorientierte Forschung gesteckt wird, das hat dieser Mann mit zu verantworten. ({13}) Das würde ich nicht ironisch nehmen. ({14}) - Sie brauchten nicht auf die Toilette zu gehen. Es wäre besser, wenn Sie für das, was Sie hier zu verantworten haben, zurücktreten würden. ({15}) - Wenn es mir abhanden kommen würde, mich über Ihre falsche Politik aufzuregen, dann müßte ich wirklich aussteigen. Wer so brutal ist, daß er dies nicht hinnimmt, lieber Herr Kollege Waigel, der sollte sich seine weiteren Schritte in der Politik wirklich überlegen. ({16}) Meine Damen und Herren, deutlicher, wie ich es eben getan habe, kann man vorhandene politische Schwerpunkte normalerweise nicht beschreiben. Aber es hängt nicht alles vom Geld ab. Manches ließe sich auch ohne großen finanziellen Aufwand regeln, ich betone nochmals: nicht durch die Produktion von weiteren Pfunden von Gesetzen und Verordnungen, sondern durch klug und vorausschauend gesteuerte, vernetzte Politik. Darauf sollte unser Handeln ausgerichtet sein. ({17}) - Sie können ruhig etwas sagen, Herr Kollege. Ich bin gerne bereit, mich mit Ihnen auseinanderzusetzen. Die Kollegin Ingrid Matthäus-Maier in einer derartigen Form anzugreifen - und das ohne Substanz - und nicht bereit zu sein, zu ertragen, wenn Sie mit Substanz angegriffen werden, das zeichnet Sie aus. ({18}) - Lieber Herr Kollege Waigel, ich möchte eine Anmerkung dazu machen: Sie verstehen es, die Redezeiten so geschickt hinzubekommen, daß Sie noch kurz vor 13 Uhr reden können und versuchen dann noch, mit Ihrer manipulativen Rede Dinge nach außen darzustellen, die bar jeder Wahrheit sind. Das muß ich Ihnen zugestehen: Das haben Sie verstanden. Aber alles andere, was Sie gesagt haben, war substanzlos. ({19}) - Lieber Herr Kollege Waigel, wir können den Dialog ja fortsetzen. ({20}) Es wäre nur sinnvoll, wenn Sie einmal zum Ursprung der Finanzpolitik kommen würden, wie es jeder Kommunalpolitiker kann. Diese Grundsätze sind Ihnen abhanden gekommen.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Wenn Sie mir bei diesem Dialog einen Hinweis gestatten: Ihnen läuft die Zeit weg. ({0})

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön, Herr Präsident. Meine Damen und Herren, dabei wäre es gar nicht so schwer, durch geschickt plazierte ökologische Signale die Vorreiterrolle der Bundesrepublik Deutschland bei technischen Innovationen weltweit zurückzugewinnen, um somit zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen und unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu schonen, übrigens nicht nur unsere, sondern gerade auch die in den Schwellenländern, in denen moderne Energietechnologie in den nächsten Jahren so sehr gebraucht wird. Doch das Wursteln mit einem uralten Energiewirtschaftsgesetz und einem Steuersystem, das sich um ökologische Anreize nicht schert, hat bei uns weiter Konjunktur. Sie sehen zu, wie wir auf den wichtigsten Forschungsfeldern, wo ökologische Technologien für die Zukunft reifen, im internationalen Vergleich mehr und mehr zurückfallen. Was nutzen relativ sichere Atomreaktoren bei uns zu Haus, wenn bei unseren Nachbarn im Osten nach wie vor keine westeuropäischen Angebote für die Sanierung maroder Atomkraftwerke vorliegen? Was nutzen uns Hochgeschwindigkeitszüge, die mit 300 km/h Reisende durch Europa schießen, wenn sich mehr und mehr Lkw mit Gütern über unsere Straßen wälzen und ein intelligentes, automatisiertes Güterverkehrssystem abseits der Straße noch nicht einmal in Ansätzen erkennbar ist? ({0}) Wir Sozialdemokraten werden Ihnen ein Programm für Klimaschutz, Wirtschaftsmodernisierung und Arbeitsplätze in Deutschland vorlegen, das umweltpolitische, wirtschaftliche und soziale Fragen gemeinsam behandelt und für eine moderne Energiepolitik, eine moderne Verkehrspolitik, für mehr Klimaschutz in der Land- und Forstwirtschaft sowie für solide öffentliche Finanzen in einer modernen, ökologischen Volkswirtschaft wirbt. Sie sind eingeladen, die alten Verkrustungen der isolierten Einzelbetrachtung von Problemen abzuwerfen und mit uns gemeinsam am modernen Deutschland zu bauen. „Die Zukunft gestalten, statt die Zukunft verschlafen" sollte Ihre Devise sein. ({1}) Seien Sie echte Wertkonservative beim Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen, aber lösen Sie sich von den konservativen Instrumenten, die unsere Nation in den vergangenen Jahren schon weit genug zurückgeworfen haben. Ich bedanke mich. ({2})

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001136

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen nicht vor. Wir kommen zu den Überweisungen. Das Haushaltsgesetz 1995 und der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998 auf den Drucksachen 13/50 und 12/8001 sollen dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. ({0}) Der Bericht über den Stand und die voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft auf Drucksache 13/76 soll zur federführenden Beratung dem Haushaltsausschuß und zur Mitberatung dem Finanzausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Januar 1995, 13 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen, die Sie lange ausgeharrt haben, ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr. In diesen Wunsch schließe ich mit Dank jene ein, die uns an diesen drei Tagen geholfen haben, bewährt und freundlich wie immer. Ihnen allen alles Gute. ({1}) Die Sitzung ist geschlossen.