Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich möchte zunächst eine Erklärung zum Gedenken an den 17. Juni 1953 abgeben.
Ich eröffne die heutige Sitzung des Deutschen Bundestages mit dem Gedenken an den Volksaufstand in Ost-Berlin und in der DDR am 17. Juni 1953. 39 Jahre sind seit diesem Tag vergangen, an dem die Arbeiter an mehr als 250 Orten zu Hunderttausenden aufstanden und sich in spontanen Demonstrationen gegen die Machthaber in Ostdeutschland erhoben.
Der Aufstand von 1953 hat die ganze Welt aufhorchen lassen. Er war die Erhebung gegen soziale Ungerechtigkeit und Unfreiheit, verbunden mit der Forderung nach freien Wahlen, verbunden mit dem Willen nach Einheit. Es war und bleibt unsere Verpflichtung, Jahr für Jahr daran zu erinnern.
Der 17. Juni war und ist ein Tag der Trauer über die vielen Menschen, die ihre Forderung nach gerechten Arbeits- und Lebensbedingungen, ihr Verlangen nach Freiheit und Demokratie mit dem Leben oder mit langjähriger Haft bezahlt haben. Vom 17. Juni 1953 bis zum Herbst 1989 spannt sich ein Bogen des Freiheitsdranges und des persönlichen Mutes vieler Bürgerinnen und Bürger, die wegen ihres Einsatzes für Freiheit und Demokratie noch lange nach dem 17. Juni 1953, viele sogar ein ganzes Berufsleben lang, Nachteile und persönliche Verfolgung erleiden mußten. Für viele unserer Landsleute im Osten Deutschlands verbindet sich dieser Tag gerade mit der Besorgnis, ihre persönlichen Opfer könnten in Vergessenheit geraten.
Den 17. Juni aus unserer Erinnerung schwinden zu lassen, hieße, die Opfer der kommunistischen Zwangsherrschaft aus unserem Gedächtnis zu tilgen, die lange Reihe derer nämlich, die wegen ihrer Gesinnung und wegen ihres mutigen Eintretens für Recht und Freiheit verfolgt wurden. Sie erwarten von uns zu Recht, daß dieser Einsatz anerkannt und gewürdigt wird.
Der Rechtsausschuß ist übereingekommen, daß im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes, die für heute mittag vorgesehen ist, eine Ehrenerklärung für die
Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft ausgesprochen werden soll. Die Fraktionen haben mich gebeten, diese Ehrenerklärung für den Deutschen Bundestag abzugeben. Ich bitte Sie, sich zu erheben.
({0})
Der Deutsche Bundestag würdigt das schwere Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen, denen durch die kommunistische Gewaltherrschaft Unrecht zugefügt wurde.
Den Menschen, die unter der kommunistischen Gewaltherrschaft gelitten haben, ist in vielfältiger Weise Unrecht oder Willkür widerfahren. Sie wurden ihrer Freiheit beraubt und unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert. Viele sind in unmenschlichen Haftanstalten umgekommen. Sie wurden gefoltert, gequält und getötet. Sie wurden in ihrem beruflichen Fortkommen behindert, schikaniert und diskriminiert. Sie wurden verschleppt. Sie wurden unter Mißachtung elementarer Grundsätze der Menschlichkeit aus ihrer Heimat, von Haus und Hof und aus ihren Wohnungen vertrieben. Sie wurden an Eigentum und Vermögen geschädigt.
Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor allen Opfern kommunistischer Unrechtsmaßnahmen.
Er bezeugt all jenen tiefen Respekt und Dank, die durch ihr persönliches Opfer dazu beigetragen haben, nach über 40 Jahren das geteilte Deutschland in Freiheit wieder zu einen.
Sie haben sich zu Ehren der Opfer erhoben. Ich danke Ihnen.
Ich füge hinzu: Der Aufstand 1953 wurde niedergeschlagen, nicht aber der Freiheitswille in West und Ost. Die Flucht in die Freiheit konnte weder durch Mauer noch durch Stacheldraht beendet werden.
Der Wille zur Freiheit war unbezwingbar und setzte sich 1989 durch. Der Trauer folgte die Freude. Der Unterdrückung und Teilung folgten Freiheit und Einheit; dem 17. Juni folgte der 3. Oktober, der „Tag der Deutschen Einheit". Beides verpflichtet gegenüber Vergangenheit und Zukunft.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Wir setzen nun unsere Sitzung zunächst mit den amtlichen Mitteilungen fort.
Als Nachfolger für den verstorbenen Kollegen Dr. Lutz Stavenhagen hat Abgeordneter Klaus Riegert am 10. Juni 1992 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich und wünsche gute Zusammenarbeit. Herzlich willkommen!
({1})
Herrn Kollegen Johannes Ganz ({2}), der am 5. Juni seinen 60. Geburtstag feierte, spreche ich im Namen des ganzen Hauses nachträglich herzliche Glückwünsche aus.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt.
1. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Unsere Verantwortung in der Welt
2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Perspektiven der europäischen Integration - Drucksache 12/2813 -3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zum Projekt Jäger 90
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Lennartz, Dietmar Schütz, Harald B. Schäfer ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verbot des kommerziellen Walfangs aufrechterhalten - Drucksache 12/2831 -
Außerdem soll bei dem Entwurf des Ersten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.
Die unter Tagesordnungspunkt 8 aufgeführten Vorlagen zur Europapolitik sollen vorgezogen und in der Aussprache zur Regierungserklärung mit beraten werden.
Tagesordnungspunkt 1 „Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates" soll nach der Aussprache zur Regierungserklärung aufgerufen werden.
Weiter ist interfraktionell vereinbart worden, die für heute vorgesehene Befragung der Bundesregierung und die Fragestunde entfallen zu lassen. Ich bitte gleichzeitig um Ihr Einverständnis, daß die für die Fragestunde vorgesehenen Fragen von der Bundesregierung schriftlich beantwortet werden, falls sie nicht zurückgezogen worden sind.*)
Sind Sie mit all diesen Änderungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkte 1 und 2 sowie Tagesordnungspunkt 8 auf:
ZP1 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Unsere Verantwortung in der Welt
*) Die Fragen 5 des Abgeordneten Dieter Maaß ({4}), 9 des Abg. Christian Müller ({5}), 10 und 11 des Abg. Arne Börnsen ({6}), 12 des Abg. Dr. Klaus Kübler, 15 des Abg. Dieter Maaß ({7}), 16 und 17 des Abg. Gerd Andres, 22 des Abg. Jürgen Koppelin, 24 und 25 des Abg. Eckart Kuhlwein, 33 und 34 des Abg. Dr. Dietrich Sperling, 35 des Abg. Christian Müller ({8}), 36 und 37 des Abg. Nils Diederich ({9}), 38 des Abg. Dr.-Ing. Rainer Jork, 47 des Abg. Jürgen Koppelin und 48 des Abg. Dr. Klaus Kübler sind zurückgezogen.
8. Europadebatte
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
49. Bericht der Bundesregierung über die Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Europäischen Gemeinschaften ({10})
- Drucksache 12/2218 Überweisungsvorschlag:
EG-Ausschuß ({11})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zum Entwurf des Vertrags über die Politische Union und die Wirtschafts- und Währungsunion
- Drucksache 12/1788 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft EG-Ausschuß ({12})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der Arbeiten zur Stärkung des Europäischen Parlaments in den Regierungskonferenzen zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politischen Union
- Drucksache 12/2246 Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß ({13})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
d) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu den Ergebnissen der Regierungskonferenzen
- Drucksache 12/2481
Auswärtiger Ausschuß
EG-Ausschuß ({0})
Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
e) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament: „Auf dem Weg zu einer europäischen Infrastruktur - Ein gemeinschaftliches Aktionsprogramm"
- Drucksache 12/2535 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß
EG-Ausschuß ({1}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Post und Telekommunikation Haushaltsausschuß
f) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zu den „Regionen in den 90er Jahren" - Vierter periodischer Bericht über die sozio-ökonomische Lage und Entwicklung der Regionen der Gemeinschaft
- Drucksache 12/2386 Überweisungsvorschlag:
EG-Ausschuß ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Perspektiven der europäischen Integration - Drucksache 12/2813 Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß ({3}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft Finanzausschuß
Zur Regierungserklärung liegen je ein Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir gedenken heute des Tages vor 39 Jahren, als Arbeiter in Berlin, in Jena und Görlitz, in Leuna, Schkopau und vielen anderen Industriezentren der damaligen DDR auf die Straße gingen: gegen die Unterdrückung durch das SED-Regime, gegen die Teilung unseres Vaterlandes, für freie Wahlen, für die Achtung der Menschenrechte und für das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung.
Dieser friedliche Aufstand wurde von Panzern niedergewalzt. Die Geschichte hat aber jenen recht gegeben, die damals für Freiheit und Einheit demonstrierten.
Bis vor zwei Jahren wurde der 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit begangen. Im wiedervereinigten Deutschland ist Tag der Deutschen Einheit nunmehr der 3. Oktober, an dem wir im Herbst 1990 die staatliche Einheit Deutschlands vollenden konnten.
Der 17. Juni ist ein Tag der Trauer und der Mahnung, der 3. Oktober ein Tag der Freude und der Zuversicht.
Bei aller Freude über die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes darf jedoch die Erinnerung an den 17. Juni 1953 nicht verblassen; denn dieser Tag führt uns heute und in Zukunft vor Augen, daß Freiheit und Einheit nichts Selbstverständliches sind, sondern Ziele, für die mutige Menschen schwere Opfer auf sich genommen haben. Er mahnt uns zugleich, nicht nachzulassen in unserem Einsatz für die Achtung der Menschenrechte überall in der Welt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat bei der Konferenz von Rio deutlich gemacht, daß Deutschland seine Verantwortung in der Welt wahrnimmt und seinen Beitrag zur Lösung der weltweiten Probleme im Bereich von Umwelt und Entwicklung leistet.
Ich nehme gern heute die Gelegenheit wahr, insbesondere dem Bundesminister Töpfer und dem Parlamentarischen Staatssekretär Repnik, die durch eine ungewöhnlich engagierte und konstruktive Verhandlungsführung zu einem guten Ergebnis beigetragen haben, meinen Respekt und meinen Dank zu bezeugen.
({0})
Wir haben in Rio weit mehr erreicht, als von manchen Pessimisten vorausgesagt worden ist. Als positive Ergebnisse der Konferenz von Rio können wir festhalten:
Erstens. Eine Klimakonvention mit der weltweiten Verpflichtung zur Begrenzung der Treibhausgase.
Zweitens. Eine Konvention zum Schutz bedrohter Tier- und Pflanzenarten.
Drittens. Eine Erklärung zur nachhaltigen Bewirtschaftung und zum Schutz der Wälder.
Viertens. Die sogenannte Agenda 21, die die zukünftige entwicklungs- und umweltpolitische Zusammenarbeit auf eine neue Basis stellt.
Fünftens. Die Erd-Charta mit Grundprinzipien der Umwelt- und Entwicklungspolitik.
Meine Damen und Herren, von der Konferenz in Rio ist eine Botschaft ausgegangen: die Botschaft der Solidarität, der gleichberechtigten Partnerschaft aller Völker und der gemeinsamen Verantwortung für die eine Welt. Es ist beeindruckend, daß erstmals Staats- und Regierungschefs der Welt über alle Grenzen und Religionen hinweg die Bewahrung der Schöpfung zum gemeinsamen Ziel erklärt haben.
Ich habe für die Bundesrepublik Deutschland deutlich gemacht, daß wir zur weltweiten Solidarität bereit
sind. Sowohl in den Plenarversammlungen als auch bei den bilateralen Gesprächen mit vielen Staats- und Regierungschefs habe ich für gemeinsames weltweites Handeln geworben. Dabei konnte ich auf unsere nationalen Anstrengungen zum Schutz der Umwelt und auf unseren eigenen Beitrag zur internationalen Entwicklungspolitik hinweisen. Für unseren solidarischen Beitrag - nach der Wiedervereinigung, nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation - fand ich viel Verständnis und auch Anerkennung.
Ich habe dargelegt, daß wir Deutschen heute vor drei großen Herausforderungen stehen.
Erstens. Unsere besondere Solidarität gilt den Menschen in den jungen Bundesländern.
Zweitens. Unsere Solidarität gehört unseren Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Wir wollen und müssen den demokratischen und wirtschaftlichen Aufbau in diesen Ländern mit Nachdruck unterstützen. Auch dies ist ein Beitrag zur Sicherung unserer eigenen Zukunft.
Als ein wichtiges Beispiel nenne ich die Sorge um die Sicherheit der Kernkraftwerke in diesen Ländern. Inzwischen kennen wir alle die gravierenden Sicherheitsmängel dieser Anlagen sehr viel genauer. Das kann uns nicht gleichgültig lassen; denn es berührt uns ganz unmittelbar, wie die Erfahrungen mit den Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl gezeigt haben.
Es liegt also in unserem eigenen Interesse, einen Beitrag zur Verbesserung der Sicherheit in den Kernkraftwerken Mittel-, Ost- und Südosteuropas zu leisten. Allerdings - dies füge ich hinzu - ist kein westliches Land allein in der Lage, die Last der Verantwortung und die Bereitstellung der hierfür notwendigen Finanzmittel zu schultern.
Bei dem Weltwirtschaftsgipfel in München werden wir diesen Punkt erörtern. Aber wir wollen und können den unmittelbar betroffenen Staaten, die über solche Anlagen verfügen, die Verantwortung nicht abnehmen. Es muß dabei bleiben, daß jeder Staat für die Sicherheit seiner Kernkraftwerke primär selber verantwortlich ist. Was wir leisten können und wollen, ist auch hier Hilfe zur Selbsthilfe.
Drittens. Wir schulden Solidarität und Hilfe nicht zuletzt den Menschen in den Entwicklungsländern. Das bezieht sich sowohl auf unmittelbare Hilfe als auch auf die Schaffung von nationalen und internationalen Rahmenbedingungen, die die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, an der arbeitsteiligen Weltwirtschaft und damit an der Wohlstandsmehrung teilzunehmen.
Wir wollen eine umfassende Entwicklungspartnerschaft, die den Willen der Entwicklungsländer und ihre eigene Verantwortung für die Politik stärkt. Wir wollen die ärmeren Länder dabei in einer besonderen Weise unterstützen. Dies gilt auch für Entschuldungsmaßnahmen. Wir werden uns deshalb um ein international abgestimmtes Vorgehen bemühen, damit eine faire Lastenteilung gesichert ist.
Der Teufelskreis von Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung muß durchbrochen werden.
({1})
Weltweit ist das Problembewußtsein für die Bekämpfung der Armut und die Erhaltung unserer Schöpfung gewachsen. In Rio wurde ein dynamischer Prozeß eingeleitet, der uns bei der Lösung der drängenden Zukunftsfragen der Menschheit voranbringt.
Die Kräfte, die durch den Abbau des Ost-WestGegensatzes frei werden, sollten nun zur Sicherung der Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit genutzt werden.
({2})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist die Europapolitik, nicht zuletzt auf Grund des Referendums in Dänemark, erneut in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt worden. Das hier und da zu beobachtende Unbehagen an der Entwicklung hat ganz gewiß auch mit dem Tempo der tiefgreifenden Veränderungen in den letzten drei Jahren zu tun.
Viele treibt die Sorge um, ob wir uns über die deutsche Einheit hinaus mit der Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft sowie der Hilfe für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas nicht zu viel auf die Schultern geladen haben. Ich habe durchaus Verständnis hierfür. Aber ich denke, wir dürfen darüber nicht die langfristigen Ziele und die Richtung der Europapolitik aus den Augen verlieren. Angesichts unserer Interessenlage sowie des europäischen und des internationalen Umfelds gibt es keine vernünftige Alternative zu einer Politik, die unser Land, Deutschland, unwiderruflich in Europa eingliedert.
({3})
Die europäische Einigung war, ist und bleibt ein Eckstein der Erfolgsgeschichte unserer Bundesrepublik Deutschland.
Europa hat Deutschland wie kaum einem anderen Land wirtschaftliche und politische Vorteile gebracht. Wie stark die deutsche Wirtschaft mit Europa verflochten ist, zeigt sich unmißverständlich in einer Zahl: Rund Dreiviertel unserer Exporte gehen heute in den europäischen Wirtschaftsraum. In einem ähnlichen Umfang beziehen wir Waren aus diesen Ländern. Dies bedeutet: Wirtschaft, Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland sind auf das allerengste mit der Entwicklung in Europa verbunden.
({4})
Nur wenn wir an der europäischen Einigung konsequent festhalten, können wir in Deutschland weiterhin Arbeitsplätze und Wohlstand sichern.
Unsere erfolgreiche Europapolitik hat letztlich auch ganz entscheidend zur Herstellung der deutschen Einheit beigetragen; denn erst sie hat das Vertrauen geschaffen, das uns in der entscheidenden Stunde die Zustimmung unserer Nachbarn sicherte. Meine Damen und Herren, dies war nicht selbstverständlich; denn es gab und gibt Ängste aus der Vergangenheit, insbesondere die Erinnerung an die Untaten des
Nazi-Regimes, die immer noch in vielen Ländern wach ist.
Entscheidend war daher, daß wir von Anfang an die deutsche Einheit mit einem klaren Bekenntnis zur europäischen Einigung verknüpft haben. Auch dazu stehen wir uneingeschränkt. Wir wollen deutsche Europäer und zugleich europäische Deutsche sein. Dies ist die wohl wichtigste Lehre aus unserer wechselvollen Geschichte, aber auch und nicht zuletzt aus der geographischen Lage im Zentrum Europas.
Wir Deutschen würden vor der Geschichte versagen, wenn wir uns jetzt mit der nationalen Einheit begnügten und nicht alles daran setzten, in diesem entscheidenden Abschnitt europäischer Geschichte die Einigung des Kontinents zusammen mit unseren Partnern, insbesondere mit unseren französischen Freunden, weiter voranzubringen.
Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist eine Klammer weggefallen, die bisher manches zusammengehalten hat. Auch im westlichen Teil Europas sind wir nicht vor der Versuchung gefeit, in nationalistisches Denken zurückzufallen. Es wäre ein historischer und nicht wiedergutzumachender Fehler, wenn Westeuropa angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen seine politische und wirtschaftliche Integration verlangsamen oder gar abbrechen würde.
({5})
Mit einer solchen Haltung würden wir nicht nur uns selbst, sondern auch ganz Europa schaden; abgesehen davon, daß ein zersplittertes Europa als politischer Faktor in der Welt von heute nicht mehr zählen würde. Nur durch entschlossenes Eintreten für die Verwirklichung der europäischen Einigung können wir Rückfällen in den zerstörerischen Nationalismus vergangener Zeiten vorbeugen. Keine lose zusammengefügte Freihandelszone und auch nicht der Binnenmarkt allein, sondern nur eine starke und geschlossene Europäische Union kann diesen Rückfall verhindern und Sicherheit und Stabilität für ganz Europa garantieren.
Die großen Herausforderungen, die vor uns allen liegen, können wir nicht im nationalen Alleingang, sondern nur in enger Partnerschaft mit unseren Freunden meistern. Das gilt nicht nur für Wirtschaft, Handel und Technologie. Es gilt insbesondere auch für die Kernfragen der inneren Sicherheit und nicht zuletzt für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Daher ist es jetzt wichtig, daranzugehen, die Europäische Union konsequent und unbeirrt zu verwirklichen. Der europäische Zug darf nicht angehalten werden, er muß weiterfahren;
({6})
denn Stillstand wäre Rückschritt. Dies ist auch der Kern der gemeinsamen Erklärung, die der französische Staatspräsident und ich am 3. Juni abgegeben haben.
Ich erinnere mich in diesen Tagen immer wieder an das, was Konrad Adenauer 1954 vor der Abstimmung über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung befürchtete:
Wenn sie nicht zutande komme, könne es 25 Jahre dauern, bis ein neuer Versuch möglich sein werde. Das war 1954. Maastricht war 1991: Es hat länger gedauert.
Auch heute gilt: Wein wir in den Jahren nach der deutschen Einheit nicht auch die Europäische Union verwirklichen, besteht das Risiko, daß es noch länger dauert, bis wir erneut eine solche Chance erhalten. Die Bundesregierung wird deshalb den Vertrag von Maastricht ohne Neuverhandlungen den parlamentarischen Gremien zur Ratifizierung vorlegen.
({7})
Für uns ist es selbstverständlich, daß für Dänemark die Tür zur Europäischen Union offenbleiben muß. Allerdings muß Dänemark seinen Partnern rechtzeitig klar und deutlich sagen, was es selber will. Ich verkenne nicht, daß sich, falls Dänemark sich endgültig für ein Fernbleiben entscheiden sollte, schwierige Rechtsfragen stellen.
Entscheidend ist jetzt, daß wir gemeinsam mit unseren Partnern unseren politischen Willen deutlich gemacht haben, daß wir den Vertrag von Maastricht wie vorgesehen ratifizieren und in Kraft setzen wollen.
Zugleich treten wir dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden, Finnland und der Schweiz Anfang 1993 aufzunehmen und sie beschleunigt abzuschließen.
({8})
Selbstverständlich ist uns auch Norwegen, sofern es dies wünscht, in der Gemeinschaft herzlich willkommen.
Meine Damen und Herren, wer vom Vertrag von Maastricht einen perfekten Bauplan für die Europäische Union erwartet hat, mißversteht den Charakter des europäischen Integrationsprozesses. Die Europäische Union läßt sich eben nicht mit einigen Federstrichen am Reißbrett entwerfen, sondern sie muß, aufbauend auf den Erfahrungen ihrer Mitglieder, Schritt für Schritt entwickelt werden.
Dies war von Anfang an die Grundlage und letztlich das Erfolgsgeheimnis der europäischen Integration von der Gründung der Montanunion über die Römischen Verträge und das Europäische Währungssystem bis hin zur Einheitlichen Akte und zuletzt zum Vertrag von Maastricht. Ich füge hier ausdrücklich hinzu: Dies war auch die Politik aller Bundesregierungen seit 1949.
Wir können mit Recht darauf hinweisen, daß dieser Vertrag in seinen wesentlichen Bereichen unsere Handschrift trägt und daß unsere Interessen voll berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben in Maastricht einen Vertrag unterschrieben, der der künftigen europäischen Währung eine sichere Stabilitätsgrundlage gibt.
Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion setzt voraus, daß sich alle Teilnehmer - das gilt natürlich auch für uns selbst - zu einer
klaren „Stabilitätskultur" im Hinblick auf Inflation, Zinsen und Haushaltspolitik verpflichten.
({9})
- Ich bin froh über Ihren positiven Zuspruch.
An die Adresse derjenigen, die daran zweifeln, daß dies durchgesetzt werden kann, sage ich klar und unmißverständlich: Mit uns wird es keine Aufweichung der Stabilitätsbedingungen geben.
Nur diejenigen Mitgliedstaaten können an der Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion teilnehmen, die durch ihre Politik den dauerhaften Willen und die Fähigkeit zur Stabilität gemäß den in Maastricht vereinbarten Bedingungen unter Beweis gestellt haben.
Meine Damen und Herren, gleichzeitig haben wir in Maastricht gegen manchen Widerstand die Verankerung eines klar formulierten Subsidiaritätsprinzips und damit die Entwicklung hin zu einem föderalen Europa durchgesetzt.
Ich setze mich dafür ein, daß wir zu einer vernünftigen und angemessenen Fortschreibung der Beteiligung der Bundesländer in Fragen der Europäischen Union kommen. Die Arbeiten an entsprechenden Grundgesetzänderungen sind schon weit fortgeschritten. Wir wollen ein föderal verfaßtes Deutschland in einem föderal gegliederten Europa.
({10})
Die europäischen Behörden müssen sich entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip klar auf das beschränken, was auf europäischer Ebene unbedingt geregelt werden muß; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dieses Prinzip bedeutet eine unmißverständliche Absage an ein zentralistisches Europa, an einen bürokratischen Moloch.
({11})
Die Europäische Gemeinschaft muß sich deutlicher als bisher darauf konzentrieren, die grundlegende Ausrichtung in wesentlichen Bereichen gemeinsamen Interesses festzulegen. Dies liegt im Interesse sowohl der Bürger als auch der eigenen Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft.
Dies bedeutet auch, daß wir das, was die Gemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten an Regelungen geschaffen hat, immer wieder kritisch überprüfen müssen.
In Brüssel - ich füge hinzu: aber sicher auch in den nationalen Verwaltungen; ich schließe uns nicht aus - sind wir in der Vergangenheit oft zu perfektionistisch und oft zu bürokratisch vorgegangen. Natürlich brauchen wir in der Europäischen Gemeinschaft faire Wettbewerbsbedingungen. Aber das bedeutet nicht, daß dort alles und jedes bis ins kleinste Detail geregelt werden muß.
({12})
Ich habe daher gemeinsam mit anderen Kollegen für
den Europäischen Rat in Lissabon angeregt, auch über
diese Frage zu sprechen, vor allem darüber, wie der
Grundsatz der Subsidiarität noch besser zum Tragen kommen kann.
({13})
Wir wollen ein Europa, das von dem Reichtum seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt, von den Erfahrungen und Traditionen seiner Mitglieder getragen wird, ein Europa, das nationale und regionale Identitäten schützt, ein Europa, das den notwendigen Freiraum läßt. Eine künftige Europäische Union ist eben kein Schmelztiegel, in dem die nationalen Identitäten aufgehen.
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Die Europäische Union, die wir uns wünschen, ist ein gemeinsames Dach, unter dem wir, ob Deutsche oder Franzosen oder Italiener, unsere Identität behalten. Nur so wird dieses Europa lebensfähig sein. Nur so wird es von unseren Bürgern akzeptiert. Nur so wird es eine Zukunft haben, und dies wünschen wir.
Vor 20 Monaten haben wir die staatliche Einheit Deutschlands vollendet. Viele Erwartungen haben sich in dieser Zeit erfüllt. Aber es hat auch Rückschläge und Enttäuschungen gegeben. Manches wird eben länger dauern; entsprechend höher ist auch der Transferbedarf an finanziellen Ressourcen von West nach Ost.
Wer heute den Weg betrachtet, den wir seit dem 3. Oktober 1990 zurückgelegt haben, sollte sich die Ausgangslage noch einmal in Erinnerung rufen. Inzwischen wissen wir, daß die DDR 1989 vor dem Ruin stand. Sie war praktisch zahlungsunfähig und hatte aus eigener Kraft keinerlei Zukunftschancen mehr.
Im Herbst 1989 war das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in diesem Gebiet nur geringfügig höher als vor dem Zweiten Weltkrieg. Es war etwa ebenso hoch wie in der Bundesrepublik im Jahre 1954. Die Mißwirtschaft des SED-Regimes hatte die Betriebe der DDR international wettbewerbsunfähig gemacht und - schlimmer noch - alle Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung systematisch vernichtet. Der selbständige Mittelstand war ausgeschaltet und enteignet worden; die Planwirtschaftler hatten industrielle Monostrukturen geschaffen, die nur dank der künstlichen Arbeitsteilung im RGW lebensfähig waren.
Noch bei Abschluß des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion , d. h. vor zwei Jahren - man muß sich das immer wieder in Erinnerung rufen -, gingen alle Fachleute davon aus, daß das Vermögen der DDR ausreichen würde, den Staatshaushalt der DDR zu sanieren, die wirtschaftliche Umstrukturierung zu finanzieren sowie den Sparern zu einem späteren Zeitpunkt sogar noch einen Anteil am volkseigenen Vermögen zu gewähren.
({15})
Ich will das angesichts der Diskussion dieser Tage in Erinnerung rufen.
({16})
Damit hier kein Zweifel aufkommt: Das war auf allen Seiten der deutschen Politik gängige Meinung. Manch einer, der sich heute anders äußert, dachte damals genauso.
({17})
- Sie werden nicht behaupten wollen, daß Sie bei den Verhandlungen vor zwei Jahren etwas anderes gesagt hätten. Diejenigen, die das jetzt bei Ihnen behaupten, sollen aufstehen und sagen, wann sie das vor zwei Jahren gesagt haben.
({18})
Sie werden ertragen müssen, daß man nach zwei Jahren daran erinnert, daß wir in dieser Frage eine gemeinsame Einschätzung hatten, obwohl sie sich jetzt als falsch erweist. Auch das ist wahr.
({19})
- Sie glauben doch wohl selbst nicht, was Sie da sagen. Sie haben bei den Verhandlungen doch mit am Tisch gesessen.
({20})
Inzwischen ist unübersehbar, daß das Vermögen der DDR von allen Beteiligten beträchtlich überschätzt wurde.
Als eine weitere schwere Belastung erwies sich die jahrzehntelange Vernachlässigung von Wohnungen, Straßen, Schienenwegen, Telefonen und jeglicher Infrastruktur, die für den wirtschaftlichen Aufschwung unabdingbar sind.
Heute wissen wir aus den damals geheimen SED-Papieren, daß die SED die Kredite aus dem Westen nicht für notwendige Investitionen verwendete. Wesentliche Teile der Kreditmittel wurden gezielt auf Konten im Ausland deponiert, um die zunehmende Zahlungsunfähigkeit des DDR-Regimes zu verschleiern und weitere Kreditfähigkeit vorzutäuschen.
Es wurde gleichzeitig ein unvorstellbarer Raubbau an der Natur betrieben, der uns heute vor enorme Rekultivierungs- und Sanierungsaufgaben stellt.
Meine Damen und Herren, diese schwierige Ausgangslage wurde zusätzlich belastet durch den weitgehenden Zusammenbruch des Osthandels. Wir sind - und auch das war einmal gemeinsame Meinung - im Einklang mit allen Experten im Herbst 1990 davon ausgegangen, daß die Ostexporte aus den neuen Bundesländern zu einem wesentlichen Teil erhalten werden könnten, auch wenn sie nicht mehr die frühere Höhe von 30 Milliarden DM erreichen würden.
({21})
Es ist in diesen Tagen gerade erst ein Jahr her, daß mir Präsident Michail Gorbatschow bei unserer Begegnung in Kiew noch Käufe in Höhe von 20 Milliarden DM zugesagt hat. Im Gefolge der tiefgreifenden Veränderungen in der ehemaligen Sowjetunion erreichen wir heute nicht annähernd diese Zahl.
Wir alle müssen uns die Frage stellen, ob diesen veränderten Rahmenbedingungen immer ausreichend Rechnung getragen wird. Dies gilt übrigens auch für die Lohnpolitik. So sind die Lohnkosten für die Betriebe dramatisch gestiegen, während Umsätze und Produktivität weit dahinter zurückgeblieben sind. Dies geht zu Lasten von Arbeit und Beschäftigung. Und es ist auch wahr, daß es ein Hemmnis ist für Investoren, zu einem stärkeren Engagement zu kommen.
({22})
Wenn man sich an diese Tatsachen erinnert, kann man erst ermessen, welche Fortschritte trotz allem seit dem 3. Oktober 1990 bereits erreicht wurden. Alle Experten rechnen für dieses Jahr mit einem realen Wachstum in der Größenordnung von plus 10 % in den neuen Bundesländern. Die Geschäftserwartungen der Unternehmen sind deutlich nach oben gerichtet. Es ist erkennbar, daß der Aufschwung Ost begonnen hat. Aber er muß natürlich noch an Breite gewinnen.
In der Politik der Treuhandanstalt gewinnt die Sanierungsaufgabe zunehmend an Gewicht, und wir wollen dies auch so. Die Treuhandanstalt unterstützt ihre sanierungsfähigen Unternehmen aktiv bei der Umstrukturierung. Sanierung und Privatisierung greifen ineinander.
Die Verbesserung der Infrastruktur - das ist wichtig für den Aufschwung - ist in vollem Gange. Je Einwohner liegen die öffentlichen Investitionen in Ostdeutschland um 30 % über dem Niveau der westdeutschen Länder. In diesem Jahr wird die Telekom 600 000 neue Telefonanschlüsse einrichten. Das ist mehr als in zehn Jahren in der ehemaligen DDR.
({23})
Die Gesamtinvestitionen für die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern betragen in diesem Jahr über 14 Milliarden DM. Schwerpunkt für die kommenden Jahre sind die 17 „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" mit einem Investitionsvolumen von insgesamt 56 Milliarden DM.
Die privaten Investitionen nehmen zwar ebenfalls deutlich zu, aber sie liegen - dies füge ich hinzu - immer noch spürbar unter dem Niveau der westlichen Länder. Es gibt für mich keinen Zweifel, daß verstärkte Investitionen der Schlüssel für den wirtschaftlichen Aufschwung sind und bleiben.
({24})
Die Bundesregierung setzt deshalb klare Prioritäten bei der weiteren Verbesserung der Investitionsbedingungen in den neuen Bundesländern sowie in der Wirtschaftsförderung. Wir werden auf der Kabinettssitzung im Zusammenhang mit der Entscheidung zum Bundeshaushalt 1993 am 1. Juli 1992 die dazu notwendigen Beschlüsse fassen.
Niemand darf jedoch übersehen: Keine noch so großzügige staatliche Investitionsförderung kann den Lohnkostennachteil ostdeutscher Betriebe ausgleichen. Ich weiß, wie schwierig es insbesondere für die
Gewerkschaften ist, bei ihren Mitgliedern für einen behutsameren Lohnanpassungsprozeß zu werben. Ich weiß dies nicht zuletzt aus den Erfahrungen der letzten Stunden und der Diskussion um den öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern. Aber ich bin mir auch sicher: Viele Arbeitnehmer, die um ihren Arbeitsplatz bangen, wären durchaus damit einverstanden, den Angleichungsprozeß an das westliche Lohnniveau ein wenig zu strecken, wenn dadurch die Überlebenschance ihres Betriebes und die Sicherheit ihrer eigenen Arbeitsplätze erhöht werden könnten.
({25})
Denn der Arbeitsplatz bedeutet für die meisten mehr als nur den Anspruch auf Entlohnung. Viele Menschen finden in ihrer Beschäftigung zugleich Selbstbestätigung und soziale Anerkennung. Langjährige Betriebszugehörigkeit bedeutet auch die Geborgenheit in einem stabilen sozialen Umfeld und damit immer ein Stück persönliche Sicherheit.
Wir verstehen die Sorgen der Menschen sehr gut, die um ihren Arbeitsplatz bangen.
({26})
- Meine Damen und Herren, meinen Sie wirklich, daß es dem Thema entspricht, wenn wir gegenseitig die gute Absicht des anderen bezweifeln?
({27})
Es mag sein, daß wir, wenn es um die Wege dorthin geht, unterschiedlicher Meinung sind. Aber ich finde es völlig inakzeptabel, wenn wir einander absprechen, daß wir gerade die Sorgen unserer Landsleute in den neuen Ländern sehr, sehr ernst nehmen.
({28})
Ich wünsche mir zu diesem Thema eine Debatte, in der jedenfalls der gute Wille und das gemeinsame Wollen nicht in Frage gestellt werden.
Ich sage es noch einmal: Ich verstehe die Sorgen der Menschen sehr gut, die um ihren Arbeitsplatz bangen. Besonders die älteren Arbeitnehmer sowie alleinstehende Frauen mit Kindern haben es schwer, aus Arbeitslosigkeit in die Beschäftigung zurückzufinden. Mit unserer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen über Qualifizierungsangebote bis zum Altersübergangsgeld reicht, helfen wir gerade auch diesem Personenkreis.
In den alten Bundesländern muß das Verständnis noch zunehmen, wie schwierig die Zeit des Übergangs im Osten Deutschlands für die meisten Bürger ist. Der Weg, der im Westen im Laufe einer Generation zurückgelegt wurde, muß im Osten Deutschlands innerhalb weniger Jahre geschafft werden. Dies erfordert eine Bereitschaft und Fähigkeit zur Umstellung, die wir gar nicht hoch genug einschätzen können und zu der viele im Westen selbst unter sehr viel günstigeren Umständen wohl nicht mehr bereit wären.
In diesen Tagen, meine Damen und Herren, erinnere ich mich oft an die Diskussion um Rheinhausen vor wenigen Jahren. Wenn ich mir noch einmal überlege, was damals im Zusammenhang mit der Verlegung von Arbeitsplätzen um eine Distanz von nur 9 km an öffentlicher Diskussion ablief, dann
wundere ich mich schon über manche Stimme des Unverständnisses in den alten Bundesländern angesichts der Sorgen unserer Landsleute in den neuen Bundesländern.
({29})
Wir alle wollen den Aufschwung Ost. Dazu brauchen wir eine stabile Wachstumsgrundlage im Westen. In den alten Bundesländern ist die Konjunktur nach dem wiedervereinigungsbedingten Wachstumsschub in eine ruhigere Phase eingetreten. Im ersten Vierteljahr 1992 betrug das Wachstum plus 1,8 %, begünstigt durch eine Reihe von Sonderfaktoren. Schon für das zweite Halbjahr dürfen wir nach meiner Überzeugung wieder eine lebhaftere Wirtschaftsentwicklung erwarten.
Wir müssen uns jedoch darüber im klaren sein: Zusätzliche Lasten für die westdeutsche Wirtschaft würden nach den hohen Lohnabschlüssen dieses Frühjahres die Konjunktur ernsthaft gefährden. Deshalb lassen sich die öffentlichen Transfers in die neuen Bundesländer auch nicht ohne Gefahr für Stabilität und Beschäftigung weiter steigern.
In diesem Jahr fließen nach Abzug der Steuereinnahmen netto rund 140 Milliarden DM aus öffentlichen Kassen in die neuen Bundesländer. Dies entspricht in etwa dem gesamten erwarteten Zuwachs des Bruttosozialproduktes in diesem Jahr.
Die Hauptlast der Finanzierung trägt der Bund. Etwa jede vierte D-Mark aus dem Bundeshaushalt wird zugunsten der neuen Bundesländer verwendet. Wir stehen zu dieser großen Kraftanstrengung und verteidigen sie auch gegenüber denjenigen in den alten Bundesländern, die dies als Last und unzumutbare Opfer beklagen.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Menschen in den neuen Bundesländern viel in das vereinte Deutschland einbringen, nicht zuletzt in kultureller und menschlicher Hinsicht. Ihre Impulse und ihr Engagement können dazu beitragen, manche über Jahre gewachsene Verkrustungen in der alten Bundesrepublik zu überwinden.
({30})
Wenn der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern weiter vorangekommen sein wird, werden von dort aus auch wesentliche Impulse für die internationale Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Standorts Deutschland ausgehen. Wie nötig wir diese Impulse brauchen, zeigt die gegenwärtige Standortdebatte in unserem Land.
Wenn wir als eine der größten Welthandelsnationen weiter auf Erfolgskurs bleiben wollen, müssen wir uns dem internationalen Wettbewerb stellen, und zwar ohne Wenn und Aber. Deshalb müssen wir bei uns die Standortdiskussion offensiv, zukunftsgerichtet und vor allem ohne Wehklagen führen.
({31})
Dabei muß sich jeder darüber im klaren sein: Es ist unsere - im übrigen gemeinsame - freie Entscheidung, daß wir uns die höchsten Arbeitskosten, die
kürzeste Arbeitszeit und das dichteste soziale Netz leisten. Dafür müssen an anderer Stelle Kosten gespart oder Wege gefunden werden, um die Produktivität erheblich schneller zu erhöhen, als es die Konkurrenz schafft.
({32})
Gelingt dies nicht, geraten Arbeitsplätze und natürlich Einkommen und damit auch soziale Sicherheit in Gefahr.
Diese Probleme sind in der alten Bundesrepublik entstanden und haben nichts, aber auch gar nichts mit dem Thema Wiedervereinigung zu tun. Wir müßten sie auf alle Fälle lösen, auch wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben hätte.
({33})
In vielen Ländern der Welt, nicht zuletzt in Europa, werden ungeachtet der parteipolitischen Ausrichtung der jeweiligen Regierung die Rahmenbedingungen für Unternehmensinvestitionen verbessert; denn die Investitionen von heute sind Arbeitsplätze und Einkommen von morgen. Deshalb bleibt auch bei uns die Fortsetzung der Unternehmensteuerreform vordringlich. Dabei geht es überhaupt nicht um Steuergeschenke für wenige, sondern um Beschäftigungs- und Einkommenschancen für alle.
({34})
Deshalb wollen wir bis zum Ende dieses Jahres den Beschluß über die zweite Stufe der Unternehmensteuerreform fassen; denn wichtig ist: Zu Beginn des Europäischen Binnenmarktes am 1. Januar 1993 müssen die Unternehmen verläßliche Kalkulationsgrundlagen haben. Dies wird selbstverständlich auch im Gespräch mit den Bundesländern und nicht zuletzt mit den Kommunen zu geschehen haben.
Auch die Regierungen unserer Partner in der EG bereiten ihre Länder durch entsprechende Reformen auf den Binnenmarkt vor. Unabhängig von der jeweiligen parteipolitischen Orientierung - ich sage es noch einmal - steht für sie alle dabei die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund.
Jenseits aller kurzfristigen Kostenaspekte - so wichtig diese auch immer sind - hängt die Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland auch von einer Reihe ganz anderer Faktoren ab. Dazu gehören - ich nenne dies an erster Stelle - die kulturelle Vielfalt, Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik sowie eine leistungsfähige Infrastruktur und Verwaltung. Diese Stärken des Standorts Deutschland müssen wir bewahren und fortentwickeln.
({35})
Entscheidend ist auch, daß wir uns rechtzeitig auf die deutlich zu beobachtenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen einstellen. Das gilt auch für die dramatischen Verschiebungen im Altersaufbau der Bevölkerung unseres Landes. Als Folge einer der niedrigsten Geburtenraten in der Welt und der erfreulicherweise weiter ansteigenden Lebenserwartung kehrt sich die Bevölkerungspyramide in unserem Land der Tendenz nach um. Derzeit liegt der Anteil der über 60jährigen an der Gesamtbevölkerung bereits bei über 20 %, und er steigt weiter. Schon heute leben in Deutschland über 3 Millionen Menschen im Alter von über 80 Jahren.
Dies alles verlangt Vorsorge in unserem Sozial- und Gesundheitssystem. Wer die Entwicklung betrachtet, erkennt: Die Pflegeversicherung ist eben kein Luxus, sondern eine dringende Notwendigkeit.
({36})
Meine Damen und Herren von der SPD, ich bin eigentlich erstaunt darüber, daß Sie sich zu diesem Thema überhaupt zu Wort melden;
({37})
denn es gibt niemanden in diesem Haus, der weniger Berechtigung hätte, sich dazu zu äußern, als Sie. Diese demographische Entwicklung war schon in den Jahren von 1969 bis 1982 klar erkennbar. Sie haben nichts, aber auch gar nichts getan.
({38})
- Es hat doch keinen Sinn, daß Sie die Tatsachen durch Geschrei aus der Welt schaffen wollen. Ihre Erregung zeigt doch nur, daß Sie genau wissen, daß Sie in dieser Frage total versagt haben.
({39})
Ich habe für die Bundesregierung in der Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode festgestellt, daß wir in dieser Legislaturperiode die notwendige Gesetzgebung zur Pflegeversicherung durchsetzen werden. Genau dies werden wir tun.
Soziale Leistungen müssen sich immer auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gründen. Auch hier werfen die Tatsachen Fragen auf, denen sich niemand entziehen kann. Wir haben heute - im Vergleich zu anderen Ländern in der Europäischen Gemeinschaft extrem lange Ausbildungszeiten im akademischen Bereich.
({40})
Wir haben ein Renteneintrittsalter von durchschnittlich unter 59 Jahren.
({41})
Wir haben mit 37,7 Stunden die kürzeste Wochenarbeitszeit aller Industrieländer und als Folge kurzer Wochenarbeitszeiten und langen Urlaubs eine Jahresarbeitszeit von rund 1 500 Stunden. Das ist wesentlich weniger als in vergleichbaren Ländern in Europa und in der Welt.
({42})
Diese Bilanz wird nicht etwa durch längere Maschinenlaufzeiten in unseren Betrieben ausgeglichen. Sie wissen alle, daß wir auch in dieser Frage mit das Schlußlicht bilden. Das sind doch Tatsachen, die ungeachtet aller parteipolitischen Überlegungen und ungeachtet der Frage, ob jemand eher auf der Seite der Gewerkschaften oder eher auf der Seite der Industrie steht, von jedem erkannt werden. Ich weiß
aus Gesprächen mit vielen wichtigen Repräsentanten der deutschen Gewerkschaftsbewegung, daß sie genauso wie ich und andere sehen, daß hier ein Problemberg auf uns zukommt, den wir angehen müssen.
({43})
Deswegen bin ich überzeugt, daß die Sicherung unserer Zukunft verlangt - und zwar von allen Verantwortlichen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft -, jetzt die Kraft und den Mut aufzubringen, die notwendigen Weichenstellungen vorzunehmen.
Deutsche Einheit, europäische Einigung, der Zusammenbruch des kommunistischen Systems und der Aufbau von Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, vor allem aber auch der Aufbau in den neuen Bundesländern, sind für uns vor allem eine großartige Chance und die Herausforderung unserer Generation schlechthin.
({44})
Wir haben jetzt die einmalige Chance, am Ende dieses Jahrhunderts Frieden und Freiheit für ganz Europa auf Dauer zu sichern. Wir wollen und werden diese Chance nutzen zum Wohle kommender Generationen, weil dies unsere Pflicht vor der Geschichte ist.
({45})
Ich erteile jetzt dem Abgeordneten Klose das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gipfel in Rio ist gelaufen. Das Ergebnis ist mager. Das ist nicht zuallererst die Schuld der Bundesregierung. Sie haben sich bemüht, Herr Bundeskanzler; Herr Kollege Töpfer, Sie auch. Das soll anerkannt werden.
Wer allerdings international erfolgreich sein will, muß zu Hause das tun, was nötig und möglich ist. Deutschlands Rolle in der Welt definiert sich über Deutschland, über die Figur, die wir zu Hause machen. Global denken, lokal handeln: Herr Bundeskanzler, dieses Motto sollten Sie sich zu eigen machen. Die Betonung liegt auf „handeln".
({0})
Daß es hier Defizite gibt, haben Sie, Herr Bundeskanzler, und andere Redner auf Ihrem kleinen Parteitag selber bestätigt. Sie haben sich selbst zum Handeln aufgerufen. Wie schön. Mit verbalen Zusagen ist es aber nicht getan. Tun Sie endlich etwas, und fangen Sie in Deutschland an.
({1})
Im übrigen helfen Ihnen Hinweise auf die Verhaltensweise anderer in der Vergangenheit heute nicht weiter, Herr Bundeskanzler. Wir leben in der Gegenwart, und Sie stellen gegenwärtig die Bundesregierung. Es ist Ihre Pflicht, zu handeln.
Herr Bundeskanzler, Sie wissen so gut wie wir alle: Die Stimmung in Deutschland ist nicht gut - um es vorsichtig zu formulieren. Die Stimmung ist im Osten
und im Westen gleichermaßen gedrückt. Die Menschen im Osten erleben die deutsche Einheit immer noch als Akt der Befreiung. Das ist sie ja auch: eine Befreiung, die die Menschen dort zuallererst sich selbst zu danken haben. Die Menschen dort haben das kommunistische Regime in einer unblutigen Revolution beinahe über Nacht beiseite gefegt; eine große historische Leistung. Der Stolz, der sich damit verbindet, darf den Menschen im Osten nicht genommen werden.
({2})
Aber er wird ihnen genommen, wenn sie immer deutlicher das Gefühl haben müssen, daß ihnen die westdeutsche Ordnung einfach übergestülpt wird und - schlimmer noch - daß sie zu kollektiven Sozialhilfeempfängern der Westdeutschen werden.
Für den Prozeß der Ernüchterung, der Enttäuschung und der Verbitterung, der in den neuen Ländern nicht durchweg - das gebe ich zu -, aber doch sehr verbreitet anzutreffen ist, sind Sie verantwortlich, Herr Bundeskanzler. Ihr Wort von den blühenden Landschaften, Ihr Versprechen, keinem werde es schlechter gehen, vielen besser, ist schal und bitter geworden.
({3})
Ich habe nichts gegen Optimismus. Politiker sind ja von Amts wegen zu einem Mindestmaß an Optimismus geradezu verpflichtet.
({4})
Wenn aber Optimismus in Schönfärberei umschlägt, empfindet es manch einer, vor allem in den ostdeutschen Ländern, wie Hohn.
({5})
Natürlich geht es vielen materiell besser, Herr Bundeskanzler, und vieles hat sich zum Positiven verändert. Was aber antworten Sie konkret der alleinerziehenden Mutter, zweite Hälfte 40, arbeitslos, wenn sie nach ihren Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt fragt? Genügt der Hinweis auf das soziale Netz? Nein, Herr Bundeskanzler, das genügt nicht. Diese Frau und die vielen älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehören zu den Verlierern. Es ist Ihre Aufgabe, eine Aufgabe der Regierung, ihnen gleichwohl eine Perspektive anzubieten.
Arbeitsmarktpolitische Angebote - nicht das beste, aber vielfach doch das einzig mögliche Angebot - dürfen nicht abgebaut, sondern müssen beibehalten und ausgeweitet werden.
({6})
Ganz anders Ihre Politik, Herr Bundeskanzler: Vorruhestandsregelung, Kurzarbeiterregelung, beides läuft Ende dieses Monats aus, bei ABM wird gekürzt in Ost und West. Eine Politik, die den Menschen sehenden Auges ihre einzige Chance nimmt, ist nicht nur falsch und kurzsichtig, sondern schäbig. Ändern Sie das, Herr Bundeskanzler!
({7})
Noch können Sie dringende, mutige arbeitsmarktpolitische Initiativen ergreifen. Das Land Brandenburg hat dazu einen Vorschlag gemacht. Wir unterstützen diesen Vorschlag. Tun Sie es auch!
({8})
Natürlich - da soll man sich nichts vormachen - kostet das Geld. Die Gestaltung der deutschen Einheit kostet viel Geld. Woher soll es kommen, wenn nicht von den Westdeutschen? Die seien nicht bereit zur Solidarität, sagen Sie, Herr Bundeskanzler.
({9})
Mittlerweile ist das wohl auch so.
({10})
- Hat er Ihnen das noch nicht gesagt? Uns hat er es gesagt:
Aber ich muß Ihnen sagen, Herr Bundeskanzler: Auch dazu haben Sie erheblich beigetragen;
({11})
denn Sie haben doch in den Monaten vor der Bundestagswahl wahrheitswidrig erklärt, die deutsche Einheit sei ohne Steuererhöhungen, sozusagen aus der Westentasche zu finanzieren. Dieses Wort galt bis zur Bundestagswahl. Dann wurde es gebrochen, durch Sie, Herr Bundeskanzler. Sie können niemandem sonst die Schuld dafür zuweisen.
({12})
Sie haben damit genau das produziert, was Sie jetzt beklagen: mangelnde Solidarität ein entscheidender, bis heute fortwirkender Fehler.
({13})
Herr Bundeskanzler, warum bringen Sie nicht den Mut auf - Mut vor dem eigenen Volk, hat Wolfgang Thierse gesagt -, um es klar zu sagen: Ohne befristete Steuererhöhungen geht es nicht. Mit Einsparungen allein plus Krediten schaffen wir es nicht. Der Bundespräsident hat es gesagt.
({14})
Er hat recht, zumindest in diesem Punkt, und das wissen Sie auch.
Einsparungen müssen sein, sicher, und ohne weitere Kredite geht es nicht. Aber wir können uns als inzwischen massiv Kapital importierendes Land nicht immer höher verschulden, nicht zuletzt, weil dann die Bundesbank das von unseren europäischen Nachbarn erwartete Zinssignal nach unten nicht geben kann. Es geht nicht ohne eine Finanzierung auch über Steuererhöhungen. Wir Sozialdemokraten haben das vor der Bundestagswahl gesagt, und wir sagen es auch heute. Wir glauben nicht, daß die Westdeutschen unsolidarisch sind, daß man sie nicht überzeugen kann.
({15})
Wir glauben zusammen mit dem Ministerpräsidenten von Sachsen, Professor Biedenkopf, daß die Stimmungslage in Deutschland schlecht ist, weil die politische Führung, also die Bundesregierung, den Menschen die wirkliche Lage nicht erklärt.
({16})
Ich zitiere:
Aus der Sicht der Menschen gibt es noch keine durch die politische Führung inhaltlich beschriebene und verständlich gemachte Darstellung der wahren Herausforderungen und des Nutzens, der für ganz Deutschland in der Bewältigung dieser Herausforderung liegt.
Ja, so ist es. Die Leute wollen wissen, woran sie sind, was es für sie bringt. Und sozial gerecht muß es zugehen.
({17})
Herr Bundeskanzler, machen Sie einen neuen Anfang. Ich wiederhole es: Mut vor dem eigenen Volk ist gefragt. Der 17. Juni wäre ein guter Tag gewesen, diesen Mut zu demonstrieren. Offenbar trauen Sie sich nicht.
({18})
Überhaupt scheint mir, meine Damen und Herren, daß Sie sich, daß vielleicht wir alle uns zu wenig zutrauen. Politik, auch in der Demokratie, kann es nicht allen Leuten recht machen. Sie soll es auch gar nicht versuchen. Demokratie heißt nicht Beliebigkeit; Entscheidungen sind gefragt, Klarheit ist gefragt und Verläßlichkeit.
({19})
Ich sage das auch mit Blick auf Europa. Europa muß sich auf die Deutschen verlassen können. Europa braucht Deutschland; aber wir Deutschen brauchen auch Europa.
({20})
Wir profitieren politisch und materiell von Europa. Drei Punkte betone ich besonders.
Erstens. Die Europäische Gemeinschaft hat den Wohlstand der Mitgliedsländer gefördert, ganz besonders auch den der Bundesrepublik Deutschland.
Zweitens. Die Europäische Gemeinschaft wird als Instrument zur Lösung von Problemen gebraucht, die die Problemlösungskompetenz der Nationalstaaten überfordern. Umweltprobleme gehören dazu. Ich wünschte mir, die Europäische Gemeinschaft würde dabei in der Welt eine ähnliche Vorreiterrolle übernehmen, wie die Bundesrepublik Deutschland sie in Europa hat bzw. hatte.
({21})
Die EG hätte in Rio eine größere Rolle spielen können und nach meiner Meinung spielen müssen.
({22})
Drittens. Die Europäische Gemeinschaft hat sich als wirksames Konstrukt zur Einbindung von nationalen
Ambitionen und zur Dämpfung von Hegemonialgelüsten erwiesen. Die EG ist schon in der bisherigen Konstruktion ein Instrument der Friedenssicherung. Wir wären, um es klar zu sagen, verrückt, wollten wir ausgerechnet heute, in Zeiten zerfallender Strukturen, die Europäische Gemeinschaft in Frage stellen.
({23})
Wir wollen sie nicht in Frage stellen oder schwächen; wir wollen sie stärken.
Eben diese Grundeinstellung prägt unsere Haltung zu den Verhandlungsergebnissen von Maastricht; daran halten wir fest. Wir fügen hinzu: Eben weil wir die EG stärken wollen und Maastricht als positiven Zwischenschritt sehen, muß jetzt eine große Anstrengung unternommen werden, um die Demokratisierung Europas voranzutreiben. Die Deutschen sind nicht gegen Europa, die Dänen übrigens auch nicht.
({24})
Aber die Menschen haben zunehmend das Gefühl, nicht mehr gefragt zu werden.
({25})
Was zu geschehen hat, wird von oben angeordnet. Das geht aber nicht; das geht nicht mehr so weiter.
Eine große öffentliche Debatte ist erforderlich, las man gestern in einer großen Zeitung. Von einer „Offensive des Verstehens" war auf dem kleinen Parteitag der CDU die Rede. Gut so, aber bitte beachten Sie die Reihenfolge. Wir, die Politiker, müssen die Menschen, ihre Hoffnungen und Ängste kennen und verstehen, und dann müssen wir uns mit unseren Programmen und Entscheidungen verständlich machen. Das ist die richtige Reihenfolge.
({26})
Was Europa angeht, so fürchten sich die Menschen vor der großen Anonymität.
({27})
Deshalb muß Europa durchschaubarer und demokratischer werden. Das ist der Kern unserer Forderungen.
({28})
Herr Bundeskanzler, wir erwarten, daß Sie sich diese Forderungen zu eigen machen. Wir erwarten, daß Sie sich mit größerer Kraft als bisher für die Realisierung dieser Forderungen einsetzen. Europa braucht ein wirkliches Europäisches Parlament.
({29})
Es braucht dieses Parlament als Forum wirklich europäischer Willensbildung.
Wie geht es weiter, meine Damen und Herren? Der Vertrag von Maastricht wird an Deutschland nicht scheitern. Das ist die zentrale Botschaft, die am Vortag des irischen Referendums vom Deutschen Bundestag ausgehen muß.
({30})
Nur im Rahmen Europas können wir den Wohlstand dauerhaft sichern und die ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit bestehen. Europa bleibt die richtige Antwort auf die Gefahr des Nationalismus. Angesichts der Entwicklung in Mittel- und Osteuropa brauchen wir eine handlungsfähige Europäische Gemeinschaft. Wir wollen nach der Einigung Deutschlands an der Vertiefung der europäischen Integration festhalten.
Meine Damen und Herren, der Vertrag von Maastricht ist ein Kompromiß. Nicht alle unsere Wünsche sehen wir in dem Vertrag erfüllt.
({31})
Über das Europäische Parlament habe ich gesprochen.
Glauben Sie ernstlich, Herr Bundeskanzler, daß die Einhaltung der Stabilitätskriterien für die europäische Währung ohne parlamentarische Kontrolle gewährleistet ist? Wir glauben das nicht, und mit uns sorgen sich viele Menschen darum, ob die Stabilität unserer Währung in der Wirtschafts- und Währungsunion noch gewährleistet ist. In diesem Punkt hätte mehr erreicht werden können, wenn die Bundesregierung hartnäckiger verhandelt hätte. Viele Irritationen wären auch vermieden worden, wenn Parlament und Öffentlichkeit frühzeitig und umfassend über das informiert worden wären, was in den Regierungskonferenzen verhandelt wurde. Ihre Informationspolitik, Herr Bundeskanzler, ist mangelhaft.
({32})
Zur europäischen Sicherheitsarchitektur heute nur eine Anmerkung: Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich die Frage gefallen lassen, inwieweit die Gründung eines deutsch-französischen Korps Zweifel an der Perspektive des vereinten Europa gesät hat.
({33})
Ich jedenfalls kann die Irritationen verstehen, die dieser Alleingang bei den Bürgerinnen und Bürgern insbesondere in den kleineren Nachbarstaaten, in Dänemark zum Beispiel, ausgelöst hat.
({34})
Die Nachbarstaaten reagieren zu Recht empfindlich, wenn sie durch deutsch-französische Initiativen vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Die Menschen in Europa reagieren zu Recht empfindlich, wenn Militärpolitik zum Motor der Integration gemacht werden soll.
({35})
Um so mehr, meine Damen und Herren, bedaure ich, daß zumindest Teile der Regierungskoalition auch nach dem dänischen Referendum und der zunehmenden öffentlichen Kritik bei uns nicht klüger geworden sind. Um es klar zu sagen: Ein Ja zu Maastricht ist nicht gleichbedeutend mit einem Ja zu Kampfeinsätzen im Rahmen der WEU.
({36})
Zusammenfassend: Trotz seiner Mängel ist der Vertrag von Maastricht aus unserer Sicht ein wichtiger
Schritt im Prozeß der europäischen Einigung. Es kommt jetzt auf folgendes an.
Erstens. Im Ratifizierungsprozeß müssen die Weichen für ein Europa der Freiheit, der Demokratie, des Rechtsstaates und des Sozialstaates gestellt werden, für ein Europa, das die bundesstaatliche Ordnung der Mitgliedstaaten achtet.
Zweitens. Die künftige europäische Währung muß stabil sein. Der Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion kann daher nicht automatisch erfolgen, sondern erfordert eine erneute politische Bewertung und Entscheidung durch Bundestag und Bundesrat.
({37})
Die Bundesregierung muß das Recht des Parlaments respektieren, vor der Einführung einer europäischen Währung erneut zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Stabilität dieser Währung wirklich vorliegen.
({38})
Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen Parlamentsvorbehalt den Vertragspartnern rechtsverbindlich mitzuteilen. Nur so kann der Sorge der Menschen urn die Stabilität unserer Währung begegnet werden.
Drittens. Das Europäische Parlament muß den Auftrag erhalten, eine europäische Verfassung auszuarbeiten. Es ist nicht länger akzeptabel, daß sich der europäische Integrationsprozeß weiterhin den Augen der Öffentlichkeit entzieht. Europa muß eine Verfassung erhalten, die in öffentlicher Debatte erarbeitet wurde und die von der Zustimmung der Völker getragen wird.
({39})
Noch etwas, Herr Bundeskanzler: Wir erwarten von Ihnen, daß Sie sich mit Nachdruck für eine europäische Lösung des Zuwanderungsproblems einsetzen. Wir wissen, daß dies schwer ist. Der Bundesinnenminister hat sich kürzlich dazu geäußert. Sie müssen ihm dabei helfen, weil es schwer ist, denn jeder denkt zuerst an sich selbst. Es handelt sich aber um ein gesamteuropäisches Problem, das im übrigen noch zunehmen wird. Der Zuwanderungsdruck aus dem Osten und aus dem Süden ist groß. Er wird eher größer, zumal ich nicht erkennen kann, daß der Gipfel von Rio einklagbare Zusagen für mehr Hilfe für den Osten und für den Süden gebracht hätte.
Das aber, meine Damen und Herren, ist der Kern des Problems: Europa hat der Welt seinen Lebensstil aufgedrängt; Europa müßte jetzt vorangehen und mehr tun.
({40})
Die Hauptverantwortlichen für die weltweiten Umweltgefährdungen, die reichen Industrienationen, waren, wenn ich es so sagen darf, in Rio großzügig mit Bekenntnissen und engherzig mit verbindlichen Zusagen. Die Taschen der Industrieländer blieben fest zu. Was fehlte, waren bindende Erklärungen über die Bereitschaft, den eigenen Beitrag zur globalen Umweltverschmutzung und zur Energievergeudung deutlich zu reduzieren. Was fehlte, waren verbindliche Zusagen, in welchem Umfang in den Entwicklungsländern eine umweltverträgliche Entwicklung gestützt werden kann. Auch die Finanzzusagen des Bundeskanzlers waren nicht eindeutig. Die Festlegung eines Zeitplans zur Aufstockung der Entwicklungshilfe auf 0,7 % wurde von der Bundesregierung im Vorfeld von Rio verhindert. Wir mißbilligen das ausdrücklich, Herr Bundeskanzler.
({41})
Dennoch will ich zugeben, der Weltgipfel von Rio war eine wichtige Konferenz. Nie zuvor wurden die weltweiten Auswirkungen einer Überbeanspruchung von Umwelt und Ressourcen so umfassend von Politikern aufgegriffen. Erstmals haben sich die Staaten der Welt auf eine gemeinsame Erd-Charta und ein gemeinsames Pflichtenheft zum Umgang mit unserer Umwelt und unseren Ressourcen verständigt.
Was wir daraus machen, liegt ganz allein bei uns. Haben Sie den Mut, Herr Bundeskanzler, die mageren Ergebnisse von Rio ehrgeizig fortzuentwickeln und in die Tat umzusetzen.
({42})
Gelegenheit dazu werden Sie schon bald haben. Sorgen Sie dafür, daß beim Weltwirtschaftsgipfel in München im Juli die offengebliebenen Fragen von Rio wieder auf die Tagesordnung kommen:
({43})
die Lösung der Verschuldungskrise, die Verbesserung der Position der Entwicklungsländer im internationalen Welthandel. Die G-7-Staaten müssen Schritte entwickeln, wie der globale Ressourcentransfer, der heute von Süd nach Nord läuft, umgekehrt werden kann.
Meine Damen und Herren, das Pflichtenheft von Rio für die nationalen Regierungen ist lang. Für uns als hochentwickelte Industrienation muß das Thema Energiesparen ganz oben stehen. Die Bundesregierung hat in Rio auch dadurch an Verhandlungsgewicht gewonnen, daß sie den ehrgeizigen Beschluß zur Absenkung der CO2-Emissionen vorweisen konnte. Machen Sie diesen Beschluß glaubwürdig, Herr Bundeskanzler, indem Sie hier zu Hause ein anspruchsvolles Energiesparprogramm durchsetzen.
({44})
Meine Damen und Herren, die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland ist weltweit gewachsen; das ist wahr. Ob wir daraus die nötigen Konsequenzen ziehen, das ist die Frage. Die Konferenz von Rio ist zu Ende. Sie sind wieder zu Hause, Herr Bundeskanzler. Hier sind Sie konfrontiert mit den deutschen und den europäischen Realitäten. Hier müssen Sie beweisen, was Ihre in Lateinamerika gesprochenen Worte wert sind.
Ich danke Ihnen.
({45})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit großer, schneller Veränderungen. Manchmal hat man fast den Eindruck, daß sich das Tempo der Geschichte beschleunigt. Vieles an neuen Fragen, neuen Chancen, aber auch neuen Ungewißheiten führt dazu, daß die Menschen nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Industrieländern Unsicherheiten, Unbehagen empfinden. Vielleicht hat es damit zu tun, daß die Menschen zu begreifen beginnen, daß Grenzen sie nicht mehr schützen und daß die Probleme unserer einen Erde immer weniger teilbar werden und unsere Verantwortung für diese eine Erde auch immer weniger teilbar wird. Deshalb war es gut, daß der Umweltgipfel in Rio stattgefunden hat und besser verlaufen ist und bessere Ergebnisse erbracht hat, als es die allermeisten zuvor mit viel Sorge für möglich gehalten hätten.
({0})
Daran hat die Bundesregierung - der Bundeskanzler, Helmut Kohl, der Bundesumweltminister und die anderen Vertreter der Bundesregierung - einen entscheidenden Anteil. Herr Bundeskanzler, die CDU/CSU-Fraktion dankt Ihnen und Ihrer Regierung für diese hervorragende Arbeit.
({1})
Wir werden sie fortzusetzen haben.
Im übrigen, Herr Klose: Wenn ein Oppositionsführer sagt, die Europäische Gemeinschaft hätte in Rio eine ähnliche Vorreiterrolle im Umweltschutz spielen sollen, wie die Bundesrepublik es innerhalb Europas tut, dann ist das eine angemessene Bewertung der erfolgreichen Arbeit dieser Bundesregierung auf dem Gebiet des Umweltschutzes.
({2})
Diese Vorreiterrolle werden wir weiter wahrzunehmen haben. Gelegentlich bringt das auch Auseinandersetzungen. Wir sind in vielem weit vorangegangen; das muß auch weiterhin so sein. Aber es muß dann auch fair bewertet und anerkannt werden. Man kann nun nicht für alles, was in Rio letztlich nicht schon ganz gelungen ist, am Ende doch wieder in Pflichtübungen die Bundesregierung verantwortlich machen. Das macht keinen Sinn.
Wenn Grenzen weniger schützen, dann ist wohl auch wahr, daß es keiner mehr allein schafft: in Europa nicht und auch darüber hinaus nicht. Deswegen ist die politische Einigung Europas gerade in den 90er Jahren von entscheidender Bedeutung für Europa und für die Deutschen.
({3})
- Es ist gut, daß wir in dieser Frage einig sind. - Und es ist richtig, daß wir die deutsche Einheit in die europäische Einigung eingebunden haben und eingebunden halten. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bin ganz überzeugt, daß - weit jenseits der ökonomischen Probleme - die innere Stabilität, die Sicherung von Frieden und Freiheit für Deutschland und Europa heute, morgen und darüber hinaus ohne substantielle Fortschritte auf dem Weg zur Politischen Union Europas in den vor uns liegenden Jahren dramatischen Gefährdungen unterworfen sein könnte.
({4})
Es ist ja nicht so, daß die Risiken mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion verschwunden sind. Die Lage ist weniger berechenbar, die Quantität der Gefährdungen ist eine andere. Aber zugleich findet nach dem Ende des Ost-West-Konflikts mitten in Europa zum erstenmal wieder Krieg statt. Bis heute ist Europa unfähig, diesen Krieg zu verhindern oder zu beenden. Das kann auf die Dauer nicht so bleiben. Auch sollte das Beispiel nicht Schule machen. Ich befürchte, es läßt sich genügend Konfliktpotential überall in Ost- und Südosteuropa und darüber hinaus vorstellen, wo das Beispiel Schule machen könnte, wenn Europa seine Kräfte nicht rasch stärker bündelt, um Frieden zu sichern und Krieg zu verhindern.
({5})
Herr Kollege Klose, Sie haben recht: Maastricht - aber darüber haben wir schon im Dezember 1991 debattiert - hat nicht alle Wünsche voll erfüllen können, die wir gemeinsam, Bundesregierung, Koalitionsfraktionen und Opposition, vor Maastricht formuliert haben. Aber das ist immer so, wenn man zu zwölft zu einem Ergebnis kommen muß. Da muß man schauen, wie weit man vorankommt. An der Bundesregierung jedenfalls - im Dezember waren wir uns darüber noch einig - hat es nicht gelegen, daß wir beispielsweise nicht schon jetzt stärkere Rechte für das Europäische Parlament erreicht haben. Das muß man der Wahrhaftigkeit halber hier klar und deutlich ausführen.
({6})
Natürlich wollen wir auf der Grundlage von Maastricht weitere Schritte auf dem Wege zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zur Politischen Union, zu einer stärkeren demokratischen Ausgestaltung der Europäischen Union, zur Schaffung stärkerer Rechte des Europäischen Parlaments tun. Natürlich muß eine europäische Verfassung geschaffen werden, weil das Subsidiaritätsprinzip in Europa am Ende auf dem Papier stehenbleibt, wenn es nicht durch eine Verfassung mit klaren Kompetenzzuweisungen für die europäische Ebene, für die nationale Ebene und für die Ebene der Regionen und der Bundesländer bei uns gesichert wird. Denn nur bei klaren, verbindlichen Kompetenzzuweisungen - was eine Verfassung leisten muß - kann das Subsidiaritätsprinzip wirklich verankert werden.
Aber wenn wir die politische Einigung Europas aus überragend wichtigen Gründen wollen, dann ist es doch richtig, daß wir das, was wir in dieses vereinte Europa besonders einbringen können, über die Ratifizierung des Maastricht-Vertrages einbringen.
Herr Kollege Klose, wissen Sie, ich habe die Jahre sozialdemokratischer Regierungszeit noch in Erinnerung. Sie hören es nicht gerne, und ich würde bei den
Mißerfolgen auf Ihrer Seite auch nicht gerne daran erinnert werden,
({7})
aber ich muß Ihnen, wenn Sie Risiken für die Stabilität unserer Währung beschreiben, doch sagen: In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung das größte Risiko für die Stabilität der D-Mark.
({8})
- Entweder haben Sie die stattlichen Inflationszahlen der 70er Jahre nicht mehr in Erinnerung, oder Sie können eigentlich nicht widersprechen.
({9})
Wenn wir in Ihrer Regierungszeit zwei Jahre finden, in denen die Inflationsrate nicht höher als viereinhalb Prozent war, dann haben wir die 13 Jahre schon ganz durchmessen. Das können Sie doch überhaupt nicht bestreiten.
({10})
Ich sage noch einmal:
({11})
Die europäische Währung am Ende dieses Jahrzehnts wird nicht weniger stabil sein, als die D-Mark unter der Verantwortung der CDU/CSU-geführten Bundesregierungen in der Geschichte der Bundesrepublik geworden ist.
({12})
Ich bin im übrigen auch dafür, Herr Kollege Klose, daß wir, was das Inkrafttreten der dritten Stufe betrifft, bei dem verbleiben sollten, was wir, wenn ich mich richtig erinnere, am 5. Dezember doch einvernehmlich - jedenfalls trägt die Drucksache Ihre Unterschrift ebenso wie die meine - hier beschlossen haben. Ich will es hier noch einmal vorlesen und frage, ob Sie da jetzt nachbessern und abweichen wollen oder ob Sie dasselbe gemeint haben - gesagt haben Sie es anders -: Vor Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion muß der Deutsche Bundestag befaßt werden.
({13})
Er muß befaßt werden, aber wir wollen keinen Zweifel setzen, daß das, was in Maastricht vereinbart wurde, verbindlich ist.
({14})
Ich wäre dankbar, wenn Sie da auch von Ihrer Seite aus keine Zweifel setzen würden.
Nun haben Sie gesagt: Wer seine globale Verantwortung und seine Verantwortung in Europa wahrnehmen will, der muß natürlich auch das eigene Haus in Ordnung halten. Ich habe versucht, Ihnen wirklich aufmerksam zuzuhören. Einen Vorschlag habe ich nicht gehört. Sie haben ein paar Mal gesagt, man solle
handeln, und dann haben Sie gesagt, man solle einen neuen Anfang machen.
({15})
- Na gut, ich will Ihnen jetzt gerade erklären, was die von uns getragene Bundesregierung alles tut,
({16})
weswegen mir das mit dem Handeln und dem neuen Anfang einigermaßen komisch vorkommt, insbesondere dann, wenn man nicht einen einzigen konkret weiterführenden Vorschlag macht.
({17})
- Ich kann es Ihnen noch einmal vorlesen, wenn Sie das wollen. Vielleicht kann mir jemand den Text bringen.
({18})
- Na bitte. Dann lassen Sie mich doch mal reden.
Es ist doch wohl so, daß auch von Ihrer Seite nicht gefordert wird - weil es ja wirtschaftlich nicht verantwortbar und nicht leistbar wäre -, daß die Summe der Transferleistungen von West nach Ost aus den alten in die neuen Bundesländer, in der Größenordnung gesteigert werde. Das haben Sie bisher nie gesagt.
Der Bundeskanzler hat vorgetragen, daß netto 140 Milliarden DM aus öffentlichen Kassen pro Jahr in die ostdeutschen Länder transferiert werden. Und ich sage Ihnen: Das ist die Größenordnung, die überhaupt noch ökonomisch zu verkraften ist. Deswegen streiten wir gar nicht, und deswegen machen Sie auch gar keine anderen Vorschläge über die Höhe der Leistungen für die ostdeutschen Bundesländer, sondern wir streiten offenbar über die Frage der Finanzierung.
Da machen Sie nun einen merkwürdigen gedanklichen Sprung. Einmal sagen Sie, wir hätten doch gegen unsere Hoffnung im Jahre 1990 inzwischen die Steuern erhöht, und anschließend sagen Sie, man könne das alles nicht nur auf Kredit finanzieren. Also, das eine oder das andere kann ja nur richtig sein.
({19})
- Aber Herr Klose, Sie können doch nicht sagen, es würde alles nur kreditfinanziert. Sie müssen doch sagen, daß für 50 Milliarden DM Steuern und Beiträge erhöht werden mußten und daß damit eine Grenze der Belastbarkeit unserer wirtschaftlichen Entwicklung erreicht ist,
({20})
weswegen wir eben nicht weitere Steuererhöhungen vorsehen dürfen, wenn wir die wirtschaftlichen Auftriebskräfte nicht entscheidend lähmen wollen. Darum geht die Diskussion.
Daß den Sozialdemokraten immer nur weitere Steuererhöhungen einfallen, das ist in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland eine nicht neue Erfahrung. Nur, wir werden damit die wirtschaftlichen Kräfte nicht ausreichend haben, die wir brauchen, nicht um die Kosten der deutschen Einheit das ist auch so ein dummes Wort -, sondern um die Folgen von 40 Jahren Sozialismus in Deutschland zu überwinden.
({21})
Deswegen sagen wir - und das müssen wir durchsetzen -: Wir müssen das durch eine strenge Begrenzung der Ausgaben im Westen solide finanzieren. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, nicht um Ihnen noch einmal Ihre schlechte Vergangenheit vorzuhalten, sondern nur, um Ihnen die ökonomischen Größenordnungen ins Bewußtsein zu führen, damit Sie ernsthaft diskutieren können, füge ich hinzu: Bezogen auf das Volkseinkommen war die Neuverschuldung im Bundeshaushalt im Jahre 1981 und im Jahre 1982 unter sozialdemokratischer Führung höher als in den Jahren 1991, 1992 und 1993. Das heißt: Wir brauchen nach der deutschen Wiedervereinigung weniger Schulden im Bundeshaushalt, als Sie in der alten Bundesrepublik Deutschland ohne die deutsche Einheit gemacht haben.
({22})
Wir kommen - das ist wirklich wichtig - mit den Finanzmassen zu Rande, wenn es gelingt - dazu brauchen wir allerdings auch die Sozialdemokraten -, ein gleichgerichtetes Ausgabeverhalten auch bei den Ländern und den Kommunen durchzusetzen, so wie es im Finanzplanungsrat verabredet worden ist. Dies ist wirtschaftlich notwendig, weil wir sonst in eine wirtschaftliche Entwicklung hineinschlittern würden, in der wir Anfang der 80er Jahre - als Folge einer unverantwortlichen Schuldenpolitik unter der Führung der SPD - waren.
({23})
Deswegen müssen wir das durchsetzen. Deswegen werden wir auch, wenn neue Notwendigkeiten beim Ausbau unseres sozialen Sicherungssystems gegeben sind und wir uns dafür entschieden haben, eine bessere Vorsorge für das Risiko der Pflegebedürftigkeit in dieser Legislaturperiode zu schaffen - seien Sie ganz unbesorgt, wir werden es schaffen -, zugleich an anderer Stelle Entlastungen vornehmen, damit die Arbeitskosten insgesamt nicht steigen. Steigende Arbeitskosten können wir uns um der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft willen nicht leisten. In dieser Hinsicht wird auch Ihr Beitrag gefordert sein. Sie werden erwarten können, daß Ihnen die Fragen gestellt werden, auf die Sie zu antworten haben.
Aber wenn Sie, Herr Kollege Klose, von Handlungsfähigkeit in der europäischen Politik in der Zuwanderungs-, Einwanderungs- und Asylpolitik gesprochen haben, dann muß ich Sie jetzt doch in aller Eindringlichkeit und in aller Ruhe auf folgendes hinweisen: Wir haben am 30. April hier eine intensive und gründliche Debatte über diese Fragen geführt. Wir haben damals miteinander verabredet, daß wir jetzt rasch Gespräche führen wollen. Wir haben inzwischen das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet. Aber die Sozialdemokratische Partei und die Fraktion sind noch immer nicht in der Lage, mit uns die notwendigen Gespräche zu führen, damit wir in der europäischen Asylpolitik gemeinsam handlungsfähig werden.
({24})
- Sie wissen, daß das die Wahrheit ist. Herr Kollege Klose, Sie sind vielleicht in der Reihenfolge immer noch anderer Meinung, aber manchmal verharren selbst Sie zu lange in alten Irrtümern;
({25})
denn die Wahrheit ist, daß Sie in der europäischen Asylpolitik nicht einen Millimeter weiterkommen werden, wenn wir nicht zunächst die Selbstbindung und Fesselung der Bundesrepublik Deutschland durch unsere ganz einzigartige Verfassungslage vorher aufheben.
({26})
- Aber natürlich. Herr Klose, alles was Sie sagen, reden Sie gegen Ihre eigene bessere Überzeugung und Ihr besseres Wissen. Sie haben sich, ehe Sie Fraktionsvorsitzender waren, oft genug öffentlich genau in dieser Richtung ausgesprochen.
({27})
Reden Sie nicht gegen Ihre eigene Überzeugung. Sie wissen ganz genau, daß wir zu weiteren Schritten in der europäischen Asylpolitik nicht fähig sind, solange wir nicht in der Lage sind, unser Grundgesetz an den Standard der übrigen europäischen rechtstaatlichen Demokratien und im übrigen auch an den der Genfer Flüchtlingskonvention anzupassen. Das ist der Punkt. Genau dies ist der Punkt.
({28})
Hier nimmt unser Gemeinwesen, nimmt die Stabilität unserer freiheitlichen Ordnung Schaden mit jeder Woche, die vergeht, ohne daß wir vorankommen. Das friedliche Zusammenleben von deutschen und ausländischen Mitbürgern nimmt mit jeder Woche, in der Sie die Dinge weiter verschieben, Schaden,
({29}) und Sie versündigen sich.
Herr Abgeordneter Dr. Schäuble, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier zu beantworten?
Bitte sehr.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Herr Kollege Schäuble, wollen Sie mir nicht zustimmen, daß z. B. die Lösung der Frage, daß die vielen Bürgerkriegsflüchtlinge heute bei uns in das Asylverfahren kommen, wohin sie nach unser aller Meinung nicht hineingehören, quantitativ viel wichtiger ist als die Ergänzung des Art. 16, die rein quantitativ völlig uninteressant ist?
Frau Kollegin Matthäus-Maier, wenn Sie zugehört hätten, was ich schon am 30. April gesagt habe, dann wüßten Sie, daß ich dieses genau gesagt habe.
Zweitens, wenn Sie sich mit dieser Materie näher befassen würden, dann werden Sie vielleicht erkennen, daß es bei der Frage im Grunde nur darum geht, daß die Länder den Kommunen bei den Bürgerkriegsflüchtlingen außerhalb des Asylverfahrens eine gleiche Kostenregelung ermöglichen wie bei Asylverfahren. Das ist nämlich der Punkt, weswegen die Kommunen - ({0})
- Entschuldigung, das ist Sache der Länder. Ich bin ja dazu bereit. Wir haben am 30. April über eine Reihe von Punkten gesprochen, die wir gemeinsam auf den Weg bringen wollen.
({1})
- Ja, das frage ich Sie. Das ist genau meine Frage. Weil Sie sich bis heute in der SPD-Fraktion nicht entscheiden konnten, die Gespräche aufzunehmen.
({2})
Meine Bitte ist, daß Sie das nicht auf den Herbst verschieben, sondern daß wir heute, in dieser Woche anfangen.
Wir haben das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz verabschiedet. Sie können sich nicht weiter verweigern und immer weiter auf die lange Bank schieben. Sie versündigen sich.
({3})
Sie können die Verantwortung nicht tragen. Deswegen habe ich ganz höflich darum gebeten.
({4}) - Sie reagieren gleich so.
({5})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wenn man hört, wie Sie sofort schreien, dann wird das alles genau bestätigt. Ich sage es noch einmal: Ich habe ganz höflich nur darum bitten wollen, daß wir die Gespräche jetzt endlich aufnehmen. Es sind jetzt fast zwei Monate seit dem 30. April vergangen.
({6})
- Das ist doch nicht wahr. Sie wissen es nicht, oder Sie reden gegen besseres Wissen. Es hat bis heute nicht ein einziges verbindliches Gespräch zwischen der Koalition und der SPD gegeben. Wir warten darauf.
Sie können es nicht länger verantworten. Deswegen bitte ich darum
({7})
- ich sage es so lange, bis Sie es sich ruhig anhören -, daß Sie die Gespräche nicht auf den Herbst schieben, sondern jetzt endlich handlungsfähig werden. Sie können es nicht länger verantworten.
({8})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Frage, die Sie, Herr Kollege Klose, heute in die Debatte eingeführt haben, hat etwas damit zu tun, daß die Menschen zu ahnen beginnen, daß die Probleme viel weniger durch Grenzen von uns ferngehalten werden können, die Wanderungsprobleme nicht - auch nicht mit einer Grundgesetzänderung -, die Umweltprobleme nicht.
({9})
- Natürlich, das haben wir schon alles oft gesagt. Es ist doch alles klar. Darüber wollen wir doch miteinander reden.
({10})
Eine Grundgesetzänderung löst nicht alles. Aber ohne eine Grundgesetzänderung kommen wir keinen Schritt mehr voran. Deswegen müssen Sie diesen Schritt einmal tun.
({11})
Wenn Sie wollen, können Sie es wirklich begreifen. Wenn Sie es noch nicht begreifen, dann wollen Sie es nicht begreifen. Das ist mein Eindruck.
Aber ich möchte etwas anderes sagen. Ich sage Ihnen, in einer Zeit, in der sich soviel so schnell verändert, und in einer Zeit, in der die Menschen im vereinten Deutschland so viele bange Ungewißheiten haben, angesichts des Zwangs, daß sich soviel in so kurzer Zeit so schnell verändert, angesichts dessen, daß keiner genau weiß, wo es in Europa hingeht, das durch den Eisernen Vorhang nicht mehr geteilt wird, in einer Zeit, in der die Menschen Fragen über Fragen haben und die Antworten immer langsamer und weniger verbindlich gegeben werden können, in einer solchen Zeit sollten wir darauf achten, daß unsere Freiheitsordnung in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa stabil bleibt. Ich sage Ihnen, nicht nur nach außen sind Frieden und Freiheit immer auch gefährdet und bedürfen vorsorglichen Handelns und vorsorglichen Denkens, sondern auch nach innen können Frieden und Freiheit - d. h. dann auch innere Sicherheit - gefährdet werden. Wenn wir heute nicht ein Übermaß an Zustimmung und Vertrauen eines Großteils unserer Bevölkerung in die politischen Parteien und das System unserer demokratischen Ordnung insgesamt haben, was wohl wahr ist, dann hat das gewiß viel damit zu tun, daß wir gelegentlich so tun, als könnten wir alle Probleme der Menschen lösen, obwohl wir ehrlicher sagen sollten, daß wir vieles nicht können und manches auch nur Schritt um Schritt.
Während wir auf der einen Seite zu viele Erwartungen schüren, leisten wir auf der anderen Seite das
wenige, was wir tun können und tun sollten, nicht. Wir können den Menschen nicht die Hoffnung geben, es gebe in der Zukunft keine Wanderungsbewegungen mehr, solange das Gefälle zwischen Ost und West und Nord und Süd so groß ist. Wir könnten den Menschen aber das Gefühl geben, daß wir das, was wir an Steuerungsmöglichkeiten in einer europäischen Zusammenarbeit haben, auch wahrnehmen. Die Menschen erwarten von uns nicht mehr, als wir leisten können. Sie erwarten aber, daß wir das, was wir für die Stabilität unserer Freiheitsordnung leisten können, dann auch wirklich tun.
({12})
Wenn wir heute, am 17. Juni, zusammen sind, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und an die Opfer nicht nur des 17. Juni, sondern eines totalitären Unrechtssystems im geteilten Deutschland denken, sollten wir die Erinnerung an diesen Tag zum Anlaß nehmen, uns selbst zu verpflichten, das uns Mögliche zu tun, um Frieden und Freiheit nach innen und außen auch für die Zukunft zu sichern.
Herzlichen Dank.
({13})
Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Otto Solms das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir, zuvor eine kurze Bemerkung zu der Kontroverse zur Asylpolitik zu machen, die wir eben erlebt haben. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat gestern ohne eine Gegenstimme bei wenigen Enthaltungen beschlossen, daß wir bereit sind, über eine Verfassungsänderung in Vorbereitung einer europäischen Asylkonvention auf der Basis der Maßstäbe, die die Genfer Flüchtlingskonvention und die Menschenrechtskonvention setzen, zu sprechen.
({0})
Ich sage das mit einer gewissen Befriedigung, weil ich diesen Weg schon im August letzten Jahres öffentlich für den richtigen erklärt habe. Das hat sich nun auch durchgesetzt.
({1})
Es ist jetzt Sache der SPD, das Ihre zu tun, weil sie nicht nur über ihre Mehrheit im Bundesrat mit in der Verantwortung ist, sondern weil sie für jede Verfassungsänderung gebraucht wird.
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestagsfraktion bedankt sich beim Bundeskanzler für diese Standortbestimmung der internationalen Politik Deutschlands, die er abgegeben hat. Wir teilen alle Aussagen, die er getroffen hat, und halten sie auch deshalb für wichtig, weil in dieser Situation des Umbruchs in der Welt gemeinsames deutsches Handeln nach außen, über die Parteigrenzen hinaus, notwendig ist und sichtbar werden muß.
({2})
Die Trennungslinie zwischen Ost und West verlief mitten durch Deutschland. Nach dem Wegfall der
Ost-West-Konfrontation kristallisiert sich im wiedervereinigten Deutschland das ganze Umbruchsgeschehen. Unsere Verantwortung in der Welt wahrnehmen, heißt, diesen Umbruch zu gestalten. Alte Ordnungen sind zerstört, neue sind vielfach erst im Entstehen begriffen. Dieser Prozeß ist nicht nur von Hoffnung und Chancen begleitet, sondern auch von Ängsten und Unsicherheiten. Das ist das, was wir gegenwärtig so deutlich spüren.
In solch einer Phase der Desorientierung besteht die Gefahr des Rückgriffs auf alte, längst überlebte Kategorien und Denkschablonen. Weltweit läßt sich eine Tendenz zur Wiederbelebung nationaler Denkmuster beobachten. Der Nationalstaat ist ein Gebilde des 19. Jahrhunderts; er ist keine Antwort auf die Zukunftsaufgaben des 20. Jahrhunderts.
({3})
Er war im übrigen auch keine Antwort auf die Probleme des 19. Jahrhunderts.
Unsere Zukunftsprobleme sind globaler, grenzüberschreitender Natur. Ich nenne nur die Umweltproblematik, die Wanderungsbewegungen, die weltweite Verflechtung der Wirtschaft, die hohe Mobilität von Menschen, Informationen und Waren. Es wäre ein fataler Irrtum zu glauben, daß wir unsere Zukunftsaufgaben in nationalen Alleingängen bewältigen könnten. Verantwortliches Handeln für die Zukunft kann nur bedeuten: ganzheitlich denken und gemeinsam handeln - in Europa und in der ganzen Welt.
({4})
Das heißt nicht, den eigenen Bezugsrahmen aus den Augen zu verlieren oder - um es mit einem Wort des Bundeskanzlers zu sagen - die eigene Heimat zu vernachlässigen.
Der Rückzug auf das Nationale allein ist keine Antwort, weil die Probleme, um deren Lösung wir ringen, über die nationalen Grenzen hinausreichen. Aber auch Internationalität als alleiniger Bezugspunkt ist nicht ausreichend. Der einzelne Mensch mit seinen persönlichen Bedürfnissen bezieht seine Befindlichkeit aus seinem direktem Umfeld, aus Familie, Verein, Beruf, aus seiner eigenen Heimat. Auch dabei spielt die Nation natürlich eine wichtige, aber doch eine begrenzte Rolle. Nötig ist deshalb der Brückenschlag zwischen den Bezugspunkten heimatlichen Empfindens, nationalen Denkens und internationalen Handelns. Unsere Vision der Vereinigten Staaten von Europa ist eine solche Synthese.
Deshalb bin ich der festen Überzeugung, daß wir auf dem eingeschlagenen Weg zur Europäischen Union weitergehen müssen. Daran kann auch das Ergebnis der Abstimmung in Dänemark nichts ändern. Die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht muß eingehalten werden.
({5})
Die Devise darf aber nicht heißen: Augen zu und durch; dies meine ich auch durchaus selbstkritisch. Es ist deutlich geworden, daß noch ein großer Erklärungsbedarf zu den Verträgen von Maastricht besteht. Das heißt: Jetzt tut Aufklärung not. Das Ergebnis in
Dänemark hat uns aufgeschreckt. Wenn wir die richtigen Schlüsse ziehen, kann dieser Schock aber auch eine heilsame Wirkung haben.
Die Vorteile der europäischen Integration sind in vieler Hinsicht schon so selbstverständlich geworden, daß sie häufig nicht mehr wahrgenommen werden.
Die Bedeutung der Vereinigung Europas verbindet sich mit vier zentralen Begriffen: Freiheit und Sicherheit, Stabilität und Wohlstand. Die immer enger werdende Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft hat ein Vertrauensverhältnis der europäischen Partnerländer geschaffen, das wir uns vor Beginn des Prozesses kaum vorzustellen wagten. Das wiedergefundene Ansehen, das Deutschland in der Welt genießt, ist ohne die Europäische Gemeinschaft nicht denkbar.
({6})
Die Europäische Gemeinschaft hat zur Stabilisierung und Sicherung der Wertegemeinschaft der westlichen Staaten beigetragen. Nicht nur aus der wirtschaftlichen, sondern auch aus der politischen Attraktivität bezieht das Modell des vereinten Europas seine Zugkraft für die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas.
Die Frage der Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft ist deshalb auch die Frage nach einer politischen und ökonomischen Perspektive für diese Staaten. Es ist die Überzeugung der F.D.P.: Die Erweiterung und wachsende Integration schließen sich nicht aus.
({7})
Damit die europäische Vision Wirklichkeit wird, können wir nicht beim bislang Erreichten stehenbleiben. Die Wirtschafts- und Währungsunion muß daher untrennbar mit der Politischen Union verbunden werden. Dabei muß klar sein: Wir wollen kein Europa der Bürokraten; wir brauchen auf allen Ebenen demokratische Kontrolle. Auch in diesem Punkt ist Maastricht weiterzuentwickeln.
Meine Damen und Herren, die Unverzichtbarkeit internationaler Zusammenarbeit wird besonders in der Umweltpolitik deutlich. Unserer Verantwortung für die Zukunft werden wir nur gerecht, wenn wir grenzübergreifende Lösungen finden.
Der Gipfel in Rio war der Beginn eines ernsthaften Dialogs der Industrienationen mit den Entwicklungsländern über die zukünftige Entwicklung dieser Erde. Die Erwartungen an den Gipfel waren hoch. Im Vorfeld des Gipfels wurde zunehmend Kritik geäußert. Unbeschadet aller Kritik wurden in Rio aber eine unumkehrbare Weichenstellung vollzogen und ein erster Schritt hin zu einer globalen Umwelt- und Entwicklungspartnerschaft getan.
Ich glaube, Herr Klose, das ist die zentrale Aussage von Rio, die - mir jedenfalls - mehr Anlaß gibt, ermutigt und zuversichtlich in die Zukunft zu sehen, als diesen Ansatz von vornherein kaputtzureden.
Der Erhalt der Lebensgrundlagen auch für die zukünftigen Generationen ist zu einem politisch hochrangigen Thema geworden. Dieser Prozeß ist nicht
mehr umkehrbar. Es kommt nun darauf an, ihn fortzuführen.
Erste Voraussetzung ist die zügige Ratifizierung der ausgehandelten Konventionen. Die Umsetzung und Verbesserung der Konventionen müssen durch die Nachfolgekonferenzen gesichert werden. Das bleibt die Aufgabe. Die beschlossene Einrichtung einer eigenen UN-Organisation wird für die Fortdauer des Dialogs sorgen müssen. Die Bundesregierung muß sich auf der nächsten UN-Vollversammlung dafür einsetzen, daß diese Organisation innerhalb der UNO ein starkes Gewicht erhält.
Die Bundesrepublik Deutschland muß bei dieser internationalen Zusammenarbeit weiterhin eine Vorreiterrolle spielen. Aber auch die Entwicklungsländer müssen die Voraussetzungen für mehr Demokratie und Marktwirtschaft schaffen; denn sonst wären diese Bemühungen umsonst.
({8})
Die Armutsbekämpfung, die Verringerung des enormen Bevölkerungswachstums und der Umweltschutz müssen die zentralen Ziele dieser Strategie sein. Insbesondere fehlt eine Strategie zur Begrenzung des Bevölkerungswachstums, was die F.D.P.-Fraktion und ich besonders bedauern.
({9})
Die Kirchen, insbesondere eine Kirche, sind dazu aufgerufen, auch daran endlich mitzuwirken.
({10})
Unsere Aufgaben in der Welt können wir nur auf der Grundlage einer soliden, leistungsfähigen Wirtschaft und einer stabilen, freiheitlichen Gesellschaft, und zwar in ganz Deutschland, wahrnehmen. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Einheit Deutschlands herzustellen ist die zentrale Aufgabe der deutschen Innenpolitik. Die F.D.P. wird sich dieser Aufgabe weiterhin mit aller Entschlossenheit und Energie zuwenden; nein: Wir werden noch mehr Energie, noch mehr Kräfte einsetzen, um diesen Prozeß zu forcieren.
({11})
Dabei ist die Transformation der Planwirtschaft der ehemaligen DDR in die Marktwirtschaft unsere wichtigste politische Aufgabe. Die Voraussetzungen dafür sind folgende. Erstens: Verankerung klarer ordnungspolitischer Prinzipien. Das heißt, dauerhafte Sanierung ist nur durch Privatisierung möglich. Der Kurs der Treuhandanstalt ist darauf verstärkt auszurichten. Die Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse muß über den Markt erfolgen. Natürlich muß saniert werden; aber die Sanierung muß immer das Ziel der endgültigen Privatisierung haben.
({12})
Zweitens: Stärkung der Investitionstätigkeit. Die Rahmenbedingungen für Investitionen müssen weiter verbessert werden; die Investitionszulage muß unverändert fortgeführt werden. Die F.D.P. fordert, das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost verstärkt und verstetigt fortzusetzen. Die Beseitigung der admini7972
strativen Hemmnisse hat ganz besonderen Vorrang. Das Zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz schafft die notwendigen Verbesserungen. Es wird gegenwärtig parallel zu dieser Veranstaltung weiterverhandelt. Wir tun dies auch in enger Abstimmung mit den Experten aus den Bundesländern, insbesondere aus den neuen Bundesländern. Ziel ist, dieses Gesetz noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Ich denke, das wird gelingen.
Drittens: Korrektur von Fehlentwicklungen. Transfers müssen vermehrt investiv statt konsumtiv eingesetzt werden. Die Lohnentwicklung darf der Produktivitätsentwicklung nicht weiter so stark vorauseilen. Deshalb brauchen wir Öffnungsklauseln und mehr Flexibilität in den Tarifverträgen, damit sie sich den örtlichen Gegebenheiten anpassen können. Das schafft den Rahmen für mehr Arbeitsplätze.
Eine leistungsfähige Wirtschaft im Westen ist Voraussetzung für die Finanzierung des Aufschwungs im Osten. Das bedeutet strikte Ausgabendisziplin der öffentlichen Hände, Rückführung der öffentlichen Defizite, Begrenzung der Steuer- und Abgabenbelastung für Arbeitnehmer und Unternehmen, Vorfahrt für Investitionen. Wenn man sich an diesen Zielsetzungen orientiert, wird diese große Aufgabe gelingen.
({13})
Die Qualität des Investitionsstandorts Deutschland muß behauptet und verbessert werden. Unsere Wettbewerbsländer tun vieles, um ihre Standortbedingungen zu verbessern. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht überholt werden.
({14})
Die Erwartungen unserer Landsleute in den neuen Bundesländern dürfen nicht enttäuscht werden. Sie haben sich gegen ein Leben unter einem sozialistischen Regime und für ein demokratisches, freiheitliches System entschieden. Mit dem 17. Juni haben wir in der alten Bundesrepublik versucht, das Bewußtsein für diesen Freiheitsdrang lebendig zu halten. Der 17. Juni hat uns damals an die Bürgerinnen und Bürger in der DDR erinnert, die ihr Streben nach Freiheit und Demokratie mit unzähligen persönlichen Einbußen, mit langjähriger Haft, teilweise gar mit ihrem Leben bezahlt haben. Mit dem Vollzug der deutschen Einheit hat der 17. Juni als Gedenktag seine Bedeutung verloren. Nicht bedeutungslos geworden ist aber die Botschaft, die sich mit diesem Gedenktag verbindet.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es war offensichtlich ein sehr kurzer Weg vom Karneval in Rio zum Aschermittwoch nach Bonn. Schon nach fünf Minuten hat der Herr Bundeskanzler den für mich bemerkenswerten Satz gesagt: Unsere besondere Solidarität gehört den Menschen in den neuen Bundesländern. - Ich hatte
die Hoffnung damit verbunden, daß heute in seiner Regierungserklärung neue Akzente gesetzt werden.
Ich weiß ja nicht, Herr Bundeskanzler, wer Ihnen die Reden schreibt. Aber ich habe das Gefühl, daß diejenigen, die das machen, über die Lage in Ostdeutschland sehr wenig informiert sind oder aber vielleicht auch die Wahrheit nicht wissen wollen.
„Die europäische Einheit ist kein Schmelztiegel, in dem nationale Identitäten aufgehen", haben Sie gesagt. Ich antworte Ihnen: Die Deutsche Einheit ist auch kein Schmelztiegel, in dem unterschiedliche regionale Bedingungen automatisch aufgehen.
Sie haben Ihre Sorge und Ihr Verständnis zum Ausdruck gebracht, daß viele Menschen im Osten Deutschlands um ihren Arbeitsplatz bangen. Die Wirklichkeit ist aber so, daß viele nicht mehr bangen müssen, weil sie gar keinen Arbeitsplatz mehr haben. 1,2 Millionen Arbeitslose, 500 000 Kurzarbeiter, 750 000 Vorruheständler, 540 000 Arbeitnehmer in der beruflichen Weiterbildung ohne Garantie auf einen Arbeitsplatz, 400 000 Arbeitnehmer in ABM ohne Garantie auf einen Arbeitsplatz, 580 000 Pendler und seit Herbst 1989 700 000 Berufstätige, die ihren Wohnort von Ostdeutschland nach Westdeutschland verlegt haben. Damit nähert sich die Quote der realen Arbeitslosigkeit einer astronomischen Höhe.
Interessant ist allerdings, daß viele Menschen die Arbeitslosigkeit noch nicht einmal als das wichtigste sie persönlich bewegende Problem bezeichnen; es sind „nur" 62,5.%. Aber immerhin äußern 69,1 % ihre Sorge um die wachsende Rücksichtslosigkeit in der Gesellschaft und 90 % ihre Sorge über steigende Kriminalität und Gewalt. Ich rede gar nicht über die Wirkung der Ankündigung der Steigerung der Wohnungsmieten für viele Menschen. Ich rede auch nicht lange darüber, welche Konsequenzen die Ausgrenzung eines großen Teils der Intelligenz hat, daß sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt an den Hochschulen eine Hochschulintelligenz formiert, die vom politischen Pluralismus so weit entfernt ist wie von wissenschaftlichen Spitzenleistungen. Welches Land kann es sich leisten, einen international so bekannten und renommierten Wissenschaftler wie Professor Klinkmann die Lehr- und Forschungsfähigkeit an der Rostocker Universität abzusprechen?!
Es ist zu Recht hier gesagt worden, die innere Einheit - wirtschaftlich, sozial, ökologisch - in Deutschland sei eine wesentliche Voraussetzung für die innere Einheit in Europa. Ich denke allerdings, daß dazu gehört, daß man den Bürgern in Ost und West klar sagt, in welchen Zeitdimensionen diese innere Einheit hergestellt werden soll. Sie, Herr Bundeskanzler, sprachen im Frühjahr 1990 von zwei Jahren,
(
Das habe ich nie gesagt!)
im Mai 1991 von drei bis fünf Jahren. Ich kann Ihnen die Zitate belegen, Herr Bundeskanzler.
({0})
Ihr Präsidiumsmitglied, Herr Biedenkopf, spricht von 25 bis 30 Jahren. Ich frage Sie: Wie soll Ihre Politik glaubwürdig sein, wenn solch unterschiedliche AusDr. Dietmar Keller
sagen in solch kurzer Zeit von der Regierungskoalition kommen
({1})
Ernstzunehmende Wirtschaftswissenschaftler sprechen davon, daß etwa 10 Jahre lang 150 Milliarden DM für den Aufbau Ost an Transferleistungen nötig sind. Sie sprachen heute davon, daß in diesem Jahr 140 Milliarden DM an Transferleistungen nach Ostdeutschland gehen. Was wird in den Jahren 1993 folgende?
Ich denke, die Bundesregierung krankt daran, daß sie daran glaubte, daß die Marktkräfte und die D-Mark allein ein Wirtschaftswunder lostreten würden. Die Bundesregierung krankt daran, daß sie Ihre Finanzpolitik kurzfristig ausgerichtet hat und keine klaren Vorstellungen über die Dimensionen langfristiger Transferleistungen hat. Die Bundesregierung krankt daran, daß sie keinen klaren Zeithorizont und damit die notwendigen Politik- und Wirtschaftsschwerpunkte für den Osten Deutschlands formuliert.
({2})
Oder ich irre mich, und der Bundesregierung fehlt offensichtlich nur der Mut, die bittere Wahrheit und die sich daraus ergebenden Konsequenzen den Bürgern in Ost- und Westdeutschland zu sagen. Beides aber, fehlende Konzeption und fehlender Mut zur Wahrheit, sind gleichermaßen eine Katastrophe.
Der Generalsekretär der CDU hat auf dem kleinen Parteitag einen Satz gesagt, der mir sehr bekannt vorkommt - ich zitiere -:
Umbruchzeiten sind Hochzeiten für radikale Vereinfacher. Sie machen sich die neue Unübersichtlichkeit zunutze, indem sie für komplexe Sachverhalte simple Antworten anbieten. Es wäre nichts gewonnen, aber viel verloren, wenn wir der Versuchung erliegen würden, diese Leute an Populismus überbieten zu wollen.
Das erinnert mich an die Zeiten der SED. Da gab es nämlich auch keine Fehlerdiskussion und keine rückwärtsgerichtete Diskussion.
({3})
Da gab es nur die Notwendigkeit und die Pflicht zur Erfolgsdiskussion. Machen Sie das ruhig der SED nach, und Sie werden dort landen, wo die SED gelandet ist!
Wenn Sie permanent von Altlasten reden, dann sage ich Ihnen: Die Wissenschaft und die Geschichte werden Ihnen nicht verzeihen, daß Sie nicht begreifen, daß es wohl eine Altlast der SED gibt, daß es aber bereits eine Neulast der CDU/CSU und F.D.P. gibt
({4})
und daß Sie sich hinter dieser Altlast nicht verstecken können. Sie können hier „unglaublich" rufen. Hören Sie auf das Wort Ihrer Wissenschaftler und Ihrer Fünf Weisen, und Sie wissen, was die Altlast bis zum Herbst
1989 ist und worin die Neulast nach dem Herbst 1989 besteht!
Herr Bundeskanzler, Sie haben mehrfach davon gesprochen, daß die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gewissermaßen als Modell der europäischen Einigung dienen dürfte. Tun Sie das den Menschen in Europa bitte nicht an! Die Entwicklung, die durch die Verwirklichung von Maastricht in Gang käme, würde den Weg zur gesamteuropäischen Integration nicht öffnen, sondern versperren. Sie würde eine ungeheure Machtzusammenballung in den westeuropäischen Zentralinstitutionen bewirken, vor allem auf den Gebieten der Währungs- und Finanzpolitik, der Innenpolitik, der Justiz-, Außen- und Sicherheitspolitik.
({5})
Sie brächte trotz der freilich sehr bescheidenen Aufwertung des Europäischen Parlaments keine neuen Formen demokratischer Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die Gestaltung der europäischen Politik.
Wir wollen die Integration Europas, weil heute nicht nur die globalen, sondern auch die regionalen, die ökonomischen, wissenschaftlich-technischen, sozialen und ökologischen Probleme nur über den Rahmen der Nationalstaaten hinaus und nur durch das gleichberechtigte Zusammenwirken der Völker und Staaten lösbar sind. Annäherung, Vertrauen und Solidarität zwischen den Europäern erfordern den Aufbau eines Europa von unten: die Wahrung der kulturellen Werte, Identitäten und regionalen Besonderheiten aller seiner Teile, eines Europas, in dem die Entmilitarisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorangetrieben wird.
Regierungserklärungen und Debatten waren in der Geschichte des Deutschen Bundestages immer ein parlamentarischer Höhepunkt. Schade, lang, lang ist es her!
(Beifall bei der PDS/Linke Liste -
Ja! - Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Da waren Sie noch bei der SED! - Christian Schmidt [Fürth] [CDU/ CSU]: Sie trauern jemandem nach!)
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie erwartet, sind die Ergebnisse des Gipfels von Rio weit hinter den Erfordernissen der Zeit zurückgeblieben, obwohl die Bemühungen der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer, insbesondere auch des Bundesumweltministers, durchaus zu achten sind.
Ich möchte unseren vor und während der Konferenz von Rio getroffenen Feststellungen an dieser Stelle jedoch nichts hinzufügen, sondern mich auf den ursprünglichen Anlaß der heutigen Debatte beschränken: Das aktuelle Thema ist der europäische Einigungsprozeß. Mein Kollege Schulz wird später noch auf die deutschlandpolitischen Aspekte der Regierungserklärung eingehen.
Der Bundeskanzler hat auch heute wieder seine Haltung zu den in Maastricht vereinbarten zeitlichen und inhaltlichen Vorgaben bekräftigt. An dieser Stelle ist darüber schon mehrfach debattiert worden; die bisher von Befürwortern und Kritikern vorgebrachten Argumente sind hinreichend bekannt.
Die jüngste Entwicklung im Vorfeld der anstehenden Ratifizierung der Verträge sollte nun Anlaß genug sein, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen aus ihr zu ziehen sind, und die Kritik endlich ernst zu nehmen.
Das Ergebnis der Volksabstimmung in Dänemark weist darauf hin, daß die neue Verantwortung der Deutschen in der Welt nicht überall so vorbehaltlos begrüßt wird, wie das die Bundesregierung tut. Befürchtungen vor dem übermächtigen Nachbarn Deutschland gehörten offenbar ebenfalls zu den Motiven für die Entscheidung des dänischen Wahlvolkes - ein Grund mehr, dererlei Ängste, berechtigt oder nicht, in die Überlegungen zur neuen Rolle Deutschlands einzubeziehen.
Man kann zu den Verträgen von Maastricht stehen wie man will. Eines ist aber inzwischen mehr als offensichtlich: das Fehlen einer hinreichend überzeugenden demokratischen Legitimierung der dortigen Entscheidungen. Damit meine ich nicht nur das allseits anerkannte demokratische Defizit der EG-Institutionen und ihrer Entscheidungsfindung, sondern auch die offensichtliche Unklarheit über die Akzeptanz der Maastrichter Verträge durch die betroffenen Völker.
Die dänische Abfuhr für Maastricht haben die europäischen Regierungen, unter ihnen die deutsche, mit der Arroganz der Exekutive nur als lästige Betriebsstörung wahrgenommen. Die technische Panne eines Volksentscheids soll nun das mühsam erzielte Verhandlungsergebnis nicht beeinflussen, schon gar nicht in Frage stellen.
Dies ist rechtlich problematisch; denn der Vertrag tritt unzweifelhaft nur dann in Kraft, wenn er von allen zwölf Mitgliedstaaten ratifiziert worden ist. Also muß entweder das dänische Parlament trotz des Referendums zustimmen - was schwer vorstellbar ist -, oder die Dänen müssen so oft zu den Urnen gerufen werden, bis eine Mehrheit für Maastricht zustande kommt. Oder es gibt doch noch Nachverhandlungen, wodurch die Zukunftsaussichten für das mühsam ausgehandelte Vertragswerk nicht gerade rosiger werden. Aber den Störfaktor Volk wegen dieses Dilemmas zu ignorieren, sollte sich nach unserem Demokratieverständnis grundsätzlich verbieten.
({0})
Schwerer noch als die rechtliche Problematik wiegt die politische. Das Plebiszit der Dänen hat schlaglichtartig deutlich gemacht, auf welch dünnem Eis die Konstrukteure der europäischen Union ihre Schlösser bauen. Die Zustimmung zur Europäischen Gemeinschaft ist nirgendwo ungeteilt. Westeuropäische Parlamente befürchten Souveränitätsverlust, viele Bürgerinnen und Bürger den Verlust nationaler Geborgenheit.
Auch im vereinten Deutschland haben sich Ängste entwickelt. In Ostdeutschland ist die Bereitschaft, schon jetzt den nächsten Schritt zur Vertiefung der EG zu tun, kaum daß die Folgen der deutschen Einheit deutlich zutage getreten sind, nur sehr gering. Aber auch in den alten Bundesländern fühlen sich immer mehr Menschen von der Entwicklung überfordert. Die Kosten der Einheit beginnen sich als Gefahr für den Wohlstandszuwachs und für die Stabilität der D-Mark zu entpuppen. Die Freude über den Zusammenbruch des östlichen Systems ist längst durch die Sorge über seine Folgen getrübt.
Jedoch: Obwohl immer offenkundiger wird, daß die eingefahrenen Gleise verlassen werden müssen, befürwortet die Bundesregierung die weitere Beschleunigung der westeuropäischen Integration. Die beiderseits der früheren Systemgrenzen vorhandenen Probleme - einerseits die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Osteuropa und andererseits die Schwächung nationaler Strukturen in Westeuropa zugunsten eines durch die Exekutiven dominierten, für viele Menschen anonymen und unüberschaubaren Brüsseler Apparates - verunsichert diese und trägt zu ihrer vielzitierten Politikverdrossenheit bei.
Die Europäische Währungsunion ist das Projekt nur eines Teils von Europa; des Teils, dessen Wohlstand und bisherige wirtschaftliche Integration vom ehemaligen Eisernen Vorhang zugleich mit beeinflußt und geschützt wurde. Sie ist das Projekt eines Westeuropa, das es so nicht mehr gibt.
Ich bin nicht dafür, die oft noch formlose und unbestimmte Angst vieler Menschen nun einfach zur neuen politischen Richtschnur zu erklären. Dieser primitive Populismus ist eher die Domäne von Schönhubers Republikanern oder von Diestels Ostpartei, falls dieses realitätsferne Nostalgieprojekt tatsächlich Gestalt annehmen sollte. Aber ich bin sehr dafür, die Ängste der Menschen als ernst zu nehmende Alarmsignale anzusehen. Viele von ihnen haben schneller als die Regierung erkannt, daß nichts mehr so sein wird, wie es bisher war. Jedoch wollen sie nicht das Vertraute um einer äußerst vagen Vision willen aufgeben, solange die Regierungen ihnen ausreichend klare Vorstellungen des Europas von morgen nicht vermitteln können.
Auch die Bundesregierung hätte in der gegenwärtigen Situation die Ergebnisse eines Referendums zu fürchten und lehnt es deswegen ab. Abseits aller populistischen Vorstellungen meine ich aber, daß auch in Deutschland ein Referendum angestrebt werden sollte.
({1})
Dabei sollte weniger die Ablehnung befürchtet als vielmehr die Notwendigkeit und die Chance einer breiten öffentlichen Diskussion über die europäischen Perspektiven gesehen werden. In dieser Diskussion muß es um die demokratischen Institutionen auf europäischer Ebene, um die Folgen der Währungsunion, um die Rechte der Kommunen und Länder, um die nationalen und supranationalen Kompetenzen auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet und auch um die Einbeziehung der osteuropäischen Reformstaaten gehen.
Meine Damen und Herren, es ist Skepsis anzubringen gegenüber der häufig vorgetragenen Auffassung, daß die Europäische Union gemäß den Maastrichter Beschlüssen alle Erscheinungen des Nationalismus zurückdrängen wird. Wie das dänische Beispiel zeigt, fürchten sich gerade die kleineren Nationen vor bürokratischen und zentralistischen Entscheidungen, die ihre Besonderheiten nicht mehr ausreichend berücksichtigen, jedenfalls weniger als beispielsweise die des wirtschaftlich und politisch stärkeren Deutschland.
Zweifel sind auch deswegen angebracht, weil gerade für den ehemals sowjetisch dominierten Teil Europas, in dem jetzt nationalistische Entwicklungen eine so dominante Rolle spielen, Westeuropa immer noch keine brauchbaren Lösungen anzubieten hat. Die Einheit Europas wird umso besser zu erreichen sein, je mehr den nationalen Erfordernissen seiner Bestandteile Rechnung getragen wird. Daraus ergibt sich zwingend, daß das Europäische Parlament wie auch die nationalen Parlamente, die Regionen, die Länder und Kommunen und nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger eine bedeutendere Rolle übernehmen müssen. Niemandem wäre gedient mit einer zwar institutionell verankerten, aber von den Bürgerinnen und Bürgern nicht angenommenen Europäischen Union.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat Herr Bundesminister Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu Europa: Wir freuen uns, daß die Vereinigung Deutschlands unter einem europäischen Dach stattfindet; so der Europäische Rat in Dublin auf seiner Tagung am 28. April 1990. Der 17. Juni 1992 ist ein gutes Datum, um sich an diesen Zusammenhang zu erinnern. Der Ausgang des Referendums in Dänemark zu den Verträgen von Maastricht - damit müssen wir uns beschäftigen - zeigt: Europa kann eben nur entstehen, wenn es nicht nur in Verträgen, sondern auch in den Herzen seiner Bürger verankert ist.
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Unsere Antwort auf dieses Votum kann deshalb nicht lauten: Augen zu und durch. Vielmehr gilt: Wir müssen unsere Gemeinschaft den Bürgern nahebringen, wir müssen ihnen bewußt machen, daß die Idee für diese Gemeinschaft mit dem Ziel geboren wurde, die europäischen Völker dauerhaft miteinander zu versöhnen und zu befrieden. Über allen technischen Regelungen muß wieder das Entscheidende in den Vordergrund rücken: Diese Gemeinschaft wurde gegründet, um ihren Bürgern das größtmögliche Maß an wirtschaftlichen Zukunftschancen, Freizügigkeit sowie sozialer und innerer Sicherheit zu geben. Wir müssen den Menschen sagen, was alle Europäer, besonders wir Deutschen, die wir bisher am meisten von Europa profitiert haben und auch weiterhin am meisten profitieren werden, zu verlieren hätten, wenn
das in Maastricht gesteckte Ziel der Europäischen Union nicht erreicht würde.
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Das Signal aus Dänemark muß jedoch zugleich Anlaß für eine andere Botschaft sein, nämlich für die Botschaft: Europa lebt. Wir halten an der Verwirklichung der Europäischen Union fest. Sie ist alternativlos. Wir sind entschlossen, die in Maastricht geschlossenen Verträge unverändert und fristgerecht in Kraft zu setzen.
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Das dänische Mehrheitsvotum gegen Maastricht macht den beschlossenen Weg für die anderen Partner nicht unrichtig. Wenn sich zwölf zu etwas entschlossen und sich etwas vorgenommen haben und einer aus dem Pulk zurückfällt, muß nicht das Ziel aufgegeben werden. Nicht der Pulk muß die Richtung ändern, sondern der Zurückfallende mit Hilfe der anderen möglichst schnell wieder aufzuschließen, um mit den anderen gemeinsam durchs Ziel zu kommen. Das wollen wir.
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In gut einer Woche tritt der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs in Lissabon zusammen. Er wird den Beschluß der Außenminister von Oslo bestätigen, Bilanz ziehen und die nötigen Orientierungen für den weiteren Gang der Europäischen Union, für die Erweiterung um neue Mitglieder und für die Sicherung der notwendigen Mittel zur Erfüllung der anstehenden Aufgaben geben. Es muß deutlich werden, daß mehr Europa keine Einschränkung nationaler oder regionaler Besonderheiten, sondern ein Mehr an Rechten und Lebenschancen für die Menschen bedeutet. Es muß deutlich werden, daß der Vertrag von Maastricht europäische Lösungen bei der Bekämpfung des internationalen organisierten Verbrechens und des Drogenhandels ermöglicht. Es muß deutlich werden, daß der europäische Bürger durch die Unionsbürgerschaft zusätzliche Bürgerrechte auf europäischer Ebene erhält. Es muß deutlich werden, daß in Maastricht keineswegs der Zentralismus oder Bürokratismus gesiegt haben, sondern der Föderalismus. Es muß deutlich werden - der Bundeskanzler hat bereits darauf hingewiesen - daß der Vertrag von Maastricht den Einstieg in eine wirkliche gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet, eine Gemeinsamkeit, deren Dringlichkeit uns die bestürzende Entwicklung in Kroatien und in BosnienHerzegowina täglich erneut aufzeigt.
Es muß natürlich auch eine Botschaft nach innen ausgehen - auch darauf ist schon hingewiesen worden -: an die Institutionen der Gemeinschaft mit dem Ziel größerer Transparenz, mehr demokratischer Kontrolle und größtmöglicher Bürgernähe. Wir müssen uns davor hüten, die große Linie zu verlieren und das europäische Ziel zu sehr auf seine technischen Einzelheiten zu reduzieren. Es ist eben mehr verlangt als Marktordnungen, Management und Wohlstandsmaximierung. Die Menschen haben nicht nur materielle Sehnsüchte. Das haben der Fall der Mauer und der
Systemwandel in Mittel- und Osteuropa bewiesen. Wir brauchen auch eine Erneuerung der europäischen Vision der Gründungsväter. Wir brauchen die Angabe der Richtung, die den Menschen auch moralisch-ethisch die Orientierung gibt, nach der sie so deutlich verlangen.
Meine Damen und Herren, die Europäische Gemeinschaft ist aus den Erfahrungen zweier zerstörerischer Weltkriege erwachsen und stellt die einschneidenste politische Neuerung der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts dar, nämlich den Versuch, das Verhältnis der europäischen Völker zueinander dauerhaft auf neuer Grundlage zu regeln. Die Entwicklung in eine gute europäische Zukunft ist aber - darauf muß man hinweisen - kein Selbstläufer.
Was es besonders für uns Deutsche bedeuten würde, wenn es schiefginge, liegt auf der Hand. Die Wunden zweier Weltkriege und der Verbrechen der Naziherrschaft sind noch kaum verheilt. Die Sorgen selbst unserer Freunde im Vorfeld der Wiedervereinigung müssen uns eine Lehre sein. Deshalb dienen wir nicht nur dem europäischen, sondern auch unserem nationalen Interesse, wenn wir zusammen mit Frankreich der Motor der europäischen Integration bleiben. Gott sei Dank ist die Anziehungskraft der Gemeinschaft geblieben. Zu Europa gibt es keine Alternative.
Meine Damen und Herren, mit Erschütterung verfolgen wir, was sich gegenwärtig in Bosnien-Herzegowina abspielt: Eroberung, Vertreibung und Zerstörung. Die Opfer sind in der Hauptsache Zivilisten, die das Unglück haben, einer jeweils anderen Nation anzugehören.
Die Hauptverantwortung hierfür trägt die serbische Regierung und - das muß deutlich gesagt werden - die Armee, auch für die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Auf diese Politik kann es nur eine Antwort geben: Die Staatengemeinschaft muß den Aggressor in seine Schranken weisen, mit allen erdenklichen wirtschaftlichen und politischen Instrumenten. Ich sage, was ich schon mehrfach nach draußen gesagt habe: Auch das Damoklesschwert einer möglichen militärischen Intervention gehört dazu. Ich sage dies ganz bewußt, auch wenn es uns Deutschen schwerfällt, militärische Maßnahmen zu fordern, an denen wir uns aus einsichtigen Gründen nicht beteiligen können.
Die serbische Nation muß wissen, daß die Politik ihrer führenden Vertreter ihr Land in ein Exil von Europa, in Isolierung und Verarmung zu führen droht; ich sage dies nicht gerne; denn wir betreiben hier aus der Bundesrepublik, aus Deutschland, keine antiserbische Politik, die sich gegen das Volk richtet.
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Wir wünschen gute und freundschaftliche Beziehungen zum neuen serbisch-montenegrinischen Staat und zur serbischen Nation insgesamt, in welchem Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawien diese auch immer leben mögen. Aber Gewalt auf dem europäischen Kontinent können wir nicht mehr hinnehmen. Die Beachtung der in der Charta der Vereinten Nationen, der KSZE-Schlußakte und in der Charta
von Paris verankerten Grundsätze ist die unerläßliche Grundlage für Frieden und Wohlstand in ganz Europa.
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Die Bundesregierung hat sich stets vor der Front bewegt, wenn es um die Forderung nach Sanktionen ging. Ich bin zufrieden und dankbar, daß in Europa und auch über die Vereinten Nationen jetzt solche Sanktionen verhängt worden sind. Die Befriedung von Bosnien-Herzegowina muß mit der Schaffung vor allem einer Sicherheitszone in und um Sarajevo beginnen. Der Flughafen muß der UN-Kontrolle unterstellt werden. Nur so wird es möglich sein, humanitäre Hilfe zu leisten.
Meine Damen und Herren, die Art und Weise wie die Europäische Gemeinschaft und wie die Staaten der KSZE mit der Herausforderung der Krise im ehemaligen Jugoslawien fertig werden, wird u. a. auch ihr Bild in der Öffentlichkeit bestimmen. Deshalb ist entschiedenes Handeln gefordert, auch im Rahmen der KSZE. Das unselige Töten unschuldiger Menschen muß jetzt endlich und schnell ein Ende haben.
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Lassen Sie mich noch zwei Sätze zu einem anderen Thema hinzufügen, von dem ich trotzdem glaube, daß es hier angesprochen werden sollte: Heinrich Strübig und Thomas Kemptner sind frei. Wir freuen uns mit ihnen und ihren Familien, denen die schlimme Zeit der Geiselhaft ein Äußerstes an Tapferkeit abverlangt hat. Dies ist - das sage ich auch als früherer Bundesminister der Justiz - ein Tag des Siegs des Rechts über das Unrecht.
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Alle Versuche, unseren Rechtsstaat zu erpressen, sind gescheitert, und die konsequente Haltung der Bundesregierung hat sich als richtig erwiesen.
Unser Dank gilt in dieser Stunde - und das sage ich mit Nachdruck - allen, die sich über drei Jahre hinweg intensiv für die Freilassung unserer Landsleute eingesetzt haben und die es schließlich heute Gott sei Dank erreicht haben, daß sie frei sind.
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Als nächster hat der Kollege Günter Verheugen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen, Herr Außenminister, daß uns die Nachricht über die Freilassung der letzten beiden deutschen Geiseln, die Sie uns gerade übermittelt haben, ebenso freut wie Sie. Wir schließen uns dem Dank, den Sie ausgesprochen haben, an. Ich möchte aber den Beauftragten der Vereinten Nationen, Herrn Picco, ausdrücklich in diesen Dank einschließen.
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Es war ganz sicher richtig und ist zu begrüßen, daß sich unser Rechtsstaat in dieser Situation nicht hat erpressen lassen.
Meine Damen und Herren, in unserem Land hat sich europapolitisch - das soll jetzt mein Thema sein - eine völlig neue Lage entwickelt. Die Politik der europäischen Einigung, die jahrzehntelang eine Art Selbstläufer und schon in der Gefahr war, ein bißchen langweilig zu werden, sieht sich plötzlich einer Kritik gegenüber, die an Boden gewinnt und sich immer fundamentalistischer gebärdet. Es gibt wie immer mehrere Arten, auf diesen Zustand zu reagieren. Zwei davon sind in der Regierungskoalition zu finden. Es wird Sie nicht überraschen, daß ich beide für falsch halte.
Die Bundesregierung selber, an der Spitze der Bundeskanzler, scheint sich zu einer Durchhaltestrategie entschlossen zu haben, nach der Devise: Augen zu und durch. Aber ich glaube, daß die Fragen, die der Vertrag von Maastricht und erst recht der Ausgang des dänischen Referendums aufgeworfen haben, nicht beantwortet werden, wenn man dem einfach ein selbstgerechtes „Weiter so" entgegensetzt.
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Herr Bundeskanzler, Sie haben Maastricht mit ausgehandelt, und Ihr ehrliches Engagement für die europäische Einigung bezweifle ich überhaupt nicht, ganz im Gegenteil.
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Aber Sie sollten vielleicht doch eines bedenken: Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten ist bei uns deutlich größer geworden. Die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse des Landes wächst. In einer solchen Situation können sich die Menschen geradezu verhöhnt fühlen, wenn sie das Gefühl bekommen müssen, daß ihre Sorgen von der Regierung nicht ernstgenommen werden. Ich warne davor, in dieser Weise mit den Gefühlen der Menschen umzugehen, vor allem dann, wenn man eine Politik betrieben hat, wie Sie es im Zusammenhang mit Maastricht getan haben.
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Sie haben es nämlich an der psychologischen Vorbereitung der deutschen Öffentlichkeit fehlen lassen. Die deutsche Öffentlichkeit war auf diese Union eben nicht vorbereitet, und darum traf sie die Information über den Inhalt dieser Union, besonders über die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung, geradezu wie ein Schock.
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Ich würde das nicht mit der in der Tat teilweise unverantwortlichen Behandlung des Themas durch sehr unterschiedliche Medien erklären. Man muß zwar immer mißtrauisch sein, wenn der „Spiegel" und die „Bild"-Zeitung in dieselbe Kerbe schlagen; das ist wohl klar.
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Aber wir sollten bei der Suche nach den Ursachen ein wenig tiefer ansetzen.
Daß im Augenblick die Reaktionen auf politische Entscheidungen so ungewohnt heftig ausfallen, hat mit der Lebenssituation der Deutschen seit der Einigung zu tun. Was eigentlich zu einem Bewußtsein von mehr Sicherheit führen müßte, hat in Wirklichkeit zu einem weitverbreiteten Gefühl geführt, das von einem unbestimmten Unbehagen bis zu wirklicher Zukunftsangst reicht. Ich denke, daß die ungerechte Lastenverteilung bei der Bewältigung der Einheitskosten die Verteilungskämpfe so dramatisch verschärft hat, daß viele Menschen ihre eigene wirtschaftliche Zukunft als gefährdet ansehen, und das alles in einem Europa, dessen östlicher und südöstlicher Teil sich in unterschiedlichen Stadien der Auflösung befinden, mit Krieg, Bürgerkrieg, Flüchtlingselend und - wie wir gerade von Herrn Kinkel gehört haben - doch nur bescheidenen Handlungsmöglichkeiten der europäischen Institutionen.
In dieser Situation bietet das, was Sie bisher gesagt haben, weder Perspektive noch Antwort. Das gilt auch für die Europapolitik. Ich frage: Wer kann sich eigentlich darüber wundern, daß die alten Vorurteile gegen die EG und Deutschlands angebliche Zahlmeisterrolle jetzt in Verbindung mit neuer und weitgehend unberechtigter Kritik die Europapolitik vor ernsthafte Legitimationsprobleme gestellt haben? Wir müssen uns diesen Problemen stellen; die Regierung muß es tun. Es kann nicht nach der Devise gehen: Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter. Wir wissen ja, aus welchen Geschöpfen eine Karawane gewöhnlich zusammengesetzt ist.
Meine Damen und Herren, innerhalb der Regierungsparteien gibt es eine zweite Denkschule. Ich bitte um Entschuldigung; das Wort „denken" sollte in diesem Zusammenhang vielleicht nicht gebraucht werden. Es gibt also eine zweite Richtung, vor allem in der CSU, die sich an die Spitze der populär gewordenen Europakritik setzten möchte. Diese Leute haben ganz richtig erkannt, daß das Heruntermachen und das Verächtlichmachen des Gedankens der europäischen Einigung eine besonders erfolgreiche Waffe im Arsenal der Rechtsradikalen ist. Sie versuchen jetzt, diese Leute rechts zu überholen und an Europafeindlichkeit noch zu übertreffen. So etwas ist immer gründlich danebengegangen; es wird auch diesmal danebengehen.
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Wer auf den Instrumenten der Rechtsradikalen mitspielt, macht deren Musik nur um so lauter; mehr erreicht er nicht.
Wenn der Herr Finanzminister als CSU-Vorsitzender neben seinem Kampf gegen vernünftige Sparvorschläge einmal Zeit zum Nachdenken findet, dann geht ihm vielleicht auf, was eine Sottise wie die vom Esperanto-Geld wirklich anrichten kann. Bei der Gewissenserforschung kann Herr Waigel sich und den bayerischen Ministerpräsidenten Streibl gleich einbeziehen. Was beide auf dem Pfingsttreffen der Sudetendeutschen gesagt haben, hat weit über die unmittelbar betroffene Tschechoslowakei hinaus das Vertrauen in die außenpolitische Seriosität und demokratische Zuverlässigkeit unseres Landes in Frage gestellt.
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Meine Damen und Herren, was muß, was kann jetzt geschehen? An erster Stelle geht es darum, den Gedanken der europäischen Enigung vor weiteren Beschädigungen zu bewahren. Die Sorgen der Menschen müssen ernstgenommen werden, sie müssen aufgenommen werden. Die Regierung kann sich nicht darauf verlassen, daß die Europabegeisterung der ersten Nachkriegsgeneration so ohne weiteres überlebt.
Man muß sich ja vorstellen, wie der Normalbürger die EG sieht: als ein zähes, undurchsichtiges Gefeilsche hinter verschlossenen Türen. Europa wird nicht als ein Europa der Bürger erlebt; so, wie es konstruiert ist, kann man das auch nicht.
Die Hauptkritik am Vertrag von Maastricht, die übrigens auch bei dem Referendum in Dänemark eine Rolle gespielt hat, ist daher berechtigt: Die Politische Union soll errichtet werden ohne tragfähiges demokratisches Fundament. Dieser Versuch wird scheitern.
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Die Völker Europas werden es nicht tolerieren, daß ihre Lebensbedingungen von einer anonymen Institution ohne ausreichende Transparenz, demokratische Kontrolle und demokratische Partizipation diktiert werden sollen. Wer die Politische Union retten will - und wir wollen das -, der muß die fehlende demokratische Perspektive hinzufügen. Wir haben dazu eine Reihe von Vorschlägen gemacht, z. B. die Öffentlichkeit des europäischen Gesetzgebungsverfahrens. Wo in aller Welt, Herr Bundeskanzler, gibt es das noch, daß die Gesetze hinter verschlossenen Türen gemacht werden wie im Europäischen Rat?
Wie lange will sich dieser Bundestag es noch gefallen lassen, daß Parlamentsrechte, die er abgegeben hat, in Brüssel zu Machtzuwachs von Exekutiven führen? Volle parlamentarische Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments: Wie will die Gemeinschaft ein demokratisches Gesicht zeigen, wenn das Parlament in seinen Rechten verkrüppelt bleibt?
Was uns selber angeht, Herr Bundeskanzler: Bringen Sie in Ordnung, daß wir uns bei der Währungsunion einem Automatismus unterwerfen sollen, der einfach über uns hinweggehen kann! Damit kein Mißverständnis aufkommt: Der Parlamentsvorbehalt beim Übergang zur dritten Stufe der Währungsunion ist für uns eine unverzichtbare Bedingung, ohne die der Vertrag von Maastricht nicht ratifiziert werden kann.
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- Herr Schäuble, ich komme sofort zu dem, was Sie wissen wollen. Uns ist klar, daß dieser Parlamentsvorbehalt im Augenblick nur eine Wirkung auf die innerstaatliche Willensbildung hat. Sie können den Vertrag nicht durch einen nachträglich eingelegten Vorbehalt ändern; das wissen wir.
Aber die Situation kann sich ändern, und sie wird sich auch ändern. Der ursprüngliche Vertrag von
Maastricht ist schon erledigt. Er muß entweder verändert oder ergänzt oder mit einem zweiten Vertrag korrigiert werden. Was uns auf dem Ratifizierungshindernislauf von Irland über Portugal und Griechenland bis Frankreich und Großbritannien noch erwartet, weiß ja keiner. Ich rate sehr dazu, sich auf unangenehme Überraschungen einzustellen und sich eine neue Strategie einfallen zu lassen.
Wir verlangen hier und heute keine Nachverhandlungen. Aber Nachverhandlungen sind möglich. Wir verlangen keinen zweiten Vertrag, aber es ist möglich, daß es zu einem zweiten Vertrag kommt. Das ist dann die Gelegenheit, die deutschen Wünsche, nämlich mehr Demokratie und eine Bremse gegen den automatischen Übergang in die Euro-Währung, noch einmal auf die Tagesordnung zu bringen.
Der Bundeskanzler ist zur Ratifizierung des Unionsvertrags von Maastricht auf die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und auf die sozialdemokratisch geführten Bundesländer angewiesen. Sie wissen das. Wir haben uns vor den Verhandlungen in Maastricht geäußert. Unsere Erwartungen sind nicht erfüllt worden. Der Vertrag ist ein Kompromiß, an dem wir schwer zu schlucken haben. Dennoch gibt es ein übergeordnetes außenpolitisches und auch ein nationales Interesse, warum dieser Vertrag an Deutschland nicht scheitern darf. Die dauerhafte unwiderrufliche Einbringung Deutschlands in die europäische Integration ist eine Lehre aus der Geschichte, die nicht nur wir, sondern auch unsere Nachbarn als absoute Notwendigkeit begreifen, nach der deutschen Einheit eher noch mehr.
Machen wir uns nichts vor: In ganz Europa wird aufs sorgsamste registriert, wie das größer gewordene Deutschland sich auf der weltpolitischen Bühne verhält. Da wird jeder Schritt - ich bedaure das, aber es ist so - durchaus mit Mißtrauen betrachtet. Darum ist eines klar: Wenn der Vertrag von Maastricht an uns scheitern würde, würde das international als ein Signal für eine fundamentale Wende der deutschen Außenpolitik verstanden werden, eine Wende weg von Europa, zurück auf den deutschen Sonderweg, der in diesem Jahrhundert schon zweimal ein furchtbarer Irrweg gewesen ist.
Das ist der Grund, Herr Bundeskanzler, warum wir gesagt haben: Wir arbeiten kooperativ und konstruktiv daran mit, daß die Voraussetzungen, auch die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, für die Ratifizierung des Vertrages von Maastricht geschaffen werden. Wir werden bei dieser Linie bleiben. Aber wir bleiben auch bei der Forderung, daß Sie bei den bevorstehenden Regierungskonferenzen und bei den bevorstehenden Verhandlungen im Zusammenhang mit den Ratifizierungsvorgängen in anderen Ländern die Wünsche, die wir hier vorgetragen haben, in die europäische Diskussion einbringen. Ich glaube noch nicht einmal, Herr Bundeskanzler, daß Ihnen das schwerfallen wird; denn ich weiß ja, daß Sie in Wahrheit genauso denken.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als dieser 12. Deutsche Bundestag, der erste aus gesamtdeutschen freien Wahlen hervorgegangene Bundestag, zum erstenmal zusammentrat, da spürten wir hier alle wohl nicht nur, daß ein bewegtes Kapitel deutscher Geschichte abgeschlossen war, sondern auch, daß uns als europäischem Mittelstaat eine politische Neuorientierung abverlangt wird. Eine Neuvermessung unseres politischen Handlungsspielraums wurde schon deswegen notwendig, um kein politisches Vakuum in Europa entstehen zu lassen.
Zugegebenermaßen ist uns dieser Prozeß bisher nicht immer leichtgefallen. Mancher hatte die Utopie, wir könnten es uns in einer Art politischen Biedermeiers recht behaglich einrichten. Auch unsere Partner hatten und haben so ihre Probleme, alle Diskussionen in Deutschland zu verstehen.
Was steckt z. B. dahinter, wenn das Eingreifen internationaler Organisationen in Konflikte gefordert wird, gleichzeitig aber große Teile der SPD das „Ohne mich" der 50er Jahre predigen? Was steckt dahinter, wenn es eine veröffentlichte Meinung fertigbringt, den größten politischen Erfolg Deutschlands in diesem Jahrhundert - die Wiedervereinigung - auf die noch nicht zur Gänze gelösten materiellen Fragen zu reduzieren, ganz so, als ob die Arbeiter in Bitterfeld und Berlin heute vor 39 Jahren tatsächlich nur wegen der Reduzierung ihrer Arbeitsnormen ausgezogen wären, und nicht weil sie, wie Wladimir Bukowski sagt, diesen „ stechenden Schmerz der Freiheit" gespürt hätten!
Ich danke dem Bundeskanzler, daß er in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht hat, daß sich Deutschland seiner internationalen Verantwortung zu stellen bereit ist. Dabei kann Deutschland auf Grundmaximen der auswärtigen Politik zurückgreifen und muß sie nur auf die neuen Gegebenheiten anwenden. Grundmaxime ist mehr als je zuvor, daß sich deutsche internationale Politik an dem deutschen Interesse zu orientieren hat, den Schutz der Lebensräume auf dieser Welt in operationale Politik umzusetzen. Uns allen ist bewußt, daß heute die Weichen für den Schutz der Welt von morgen gestellt werden müssen. Deswegen stellt die Rio-Konferenz einen Erfolg dar. Sie befriedigt nicht in allen Ergebnissen; aber der mit Rio eingeleitete Prozeß ist eine echte Hoffnung für die Zukunft unserer Erde.
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Eines nämlich hat der Bundeskanzler in Rio deutlich gemacht: in der Umweltpolitik gilt nicht mehr das Axiom von der normativen Kraft des Machbaren, jetzt gilt das Axiom der normativen Kraft des Notwendigen. Natürlich wird man nicht alle Aufgaben gleichzeitig schultern können, aber man kann und darf sie nicht mehr beiseite schieben. Insbesondere ist die Klimakonvention zu begrüßen, wenngleich wir von ihr einen höheren Grad der Verbindlichkeit erwartet hätten.
Eine Grundmaxime, die ebenfalls Konstante der deutschen Politik seit Konrad Adenauer ist, ist die
Politik der europäischen Integration. Wir haben, wenn wir von der deutschen Teilung gesprochen haben - die linke Seite dieses Hauses hat ja bedauerlicherweise hierüber in den letzten Jahren nicht mehr gesprochen , nicht vergessen, daß die Teilung Deutschlands ein Teil der Teilung Europas war. Deswegen ist auch die Einigung Deutschlands ein Teil der Einigung Europas. Weil das vielen so selbstverständlich war - und hier stimme ich dem Kollegen Verheugen durchaus zu -, haben wir eine wirklich tiefgehende Europadebatte bis vor Maastricht nicht gehabt. Dabei ist sie Teil einer kontroversen gesamteuropäischen Debatte, wie auch das bedauerliche Ergebnis des dänischen Referendums zeigt. Offensichtlich ist es in Dänemark nicht gelungen, die Richtigkeit der Idee und die Richtigkeit des Konzepts „Europa" aufzuzeigen.
Die Richtigkeit der Idee „Europa" ergibt sich für uns Deutsche schon aus unserer wirtschaftlichen, geographischen und politischen Situation, auch unserer Orientierung auf Frieden und Freiheit. Die europäische Integration ist das Fundament der Werte- und Stabilitätsgemeinschaft, die wir in Europa auch und gerade nach dem Zerfall des Kommunismus bitter nötig haben. Demjenigen, der meint, Europa werde nun von selbst zum ungeteilten Hort von Frieden, Freiheit und Demokratie, empfehle ich nur einen Blick nach Sarajewo, Moldawien oder in manch andere GUS-Republik.
Und noch eines: Europäische Integration ist deutsche Rückversicherung, Rückversicherung dafür, daß nicht ein alleinstehendes Nationaldeutschland wieder zwischen Fronten gerät. Deswegen kann Deutschland, kann die deutsche Nation ihre Interessen nur im europäischen Kontext wirksam vertreten.
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Auch wenn es unbequem ist und manche darüber schimpfen: Wir kommen ohne ein geeintes politisches Europa nicht aus.
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Das heißt zwar nicht, daß alle Dinge im Konzept der Europäischen Gemeinschaft optimal geregelt sind. Aber das bedeutet nicht - Herr Kollege Verheugen, hier haben Sie fälschlicherweise einen Widerspruch konstruiert -, daß ich mich an Stimmungen orientieren kann. Ich muß, wenn das Maximen der deutschen Politik sind, bereit sein, diese Position auch in schwieriger Diskussion zu vertreten. Das hat nichts mit „Augen zu und durch" zu tun. Vielmehr hat es mit tiefster Überzeugung und mit der Kraft zu tun, aus dieser Überzeugung heraus in den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern einzutreten.
Wenn Sie die Bereitschaft der Bürger ansprechen, Europa zuzustimmen, so ist ein entscheidender Punkt sicherlich die Frage, ob es uns gelingt, Europa „schlanker" zu machen: weg mit manchem Ballast, der vom Ansatz her gut gemeint war, aber nur den Eindruck politischer Erbsenzählerei hervorruft. Es gilt nochmals festzuhalten: Nur die Kompetenzen nach
Christian Schmidt ({3})
Europa, die unbedingt notwendig sind, und von diesen Kompetenzen sparsam Gebrauch machen!
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Ich bin fest davon überzeugt, daß Art. 235 EWG-Vertrag, mit dem wir nun seit 35 Jahren leben, in seiner jetzigen Form bald „beerdigt" werden muß. Wir brauchen klarere Kompetenzabgrenzungen zwischen EG und nationaler bzw. Länder-Ebene.
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Jacques Delors hat dies ebenfalls erkannt. Kürzlich kündigte er in unserer Fraktion - ich nehme an, daß er das in der Ihrigen gestern auch getan hat - die Rückübertragung von Kompetenzen an. Hierfür müssen aber - über ein Präsidentenwort hinaus - klare Regelungen und stärkere Kontrollbefugnisse des Europäischen Parlaments her.
Es ist ausdrücklich zu begrüßen, daß der Bundeskanzler die Frage der Entschlackung der EG und ihre bürokratischen Mißwüchse in Lissabon zum Thema machen will.
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Allerdings warne ich davor, zwischen den auf gezeigten Varianten, politischen Einstellungen hin und her zu tänzeln, Herr Kollege Verheugen, wie Sie das getan haben. Wer die Zustimmung zu den Maastrichter Verträgen daran knüpfen möchte, daß die Beteiligung des Deutschen Bundestages vor dem Eintritt in die dritte Stufe in einer anderen als in der bisher vereinbarten Form festgehalten wird, muß sich darüber im klaren sein, daß er eine Büchse der Pandora öffnen kann, wenn er damit Nachverhandlungen fordert.
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Sie haben zwar gesagt, Sie würden das nicht tun. Aber wenn ich Sie recht verstanden habe, war daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß Sie diese Verknüpfung letztendlich wollen.
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Ich bitte, diesen Schritt, der wohl auch im Gegensatz zu den Äußerungen Ihres Fraktionsvorsitzenden steht, noch einmal sehr genau zu überdenken.
Ich verstehe, daß die Bundesländer zukünftig mehr gefragt werden wollen, wenn ihre Zuständigkeiten berührt sind. Ich danke dem Bundeskanzler für seine diesbezüglichen Worte und hoffe, daß die berechtigten Wünsche der Länder auf Mitwirkung der gesamten Bundesregierung und des Bundestages stoßen. Ich bitte alle Diskussionspartner herzlich darum, zu bedenken, daß die ursprüngliche Staatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland von den Ländern ausgeht und sie deswegen einen Anspruch darauf haben, ihre Zuständigkeiten auf Bundesebene im vereinten Europa wahrzunehmen.
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Auch davon wird der breite politische Konsens über die Ratifizierung mit abhängen.
Die Währungsunion bedarf vollständiger, nachvollziehbarer Darlegungen in der vielzitierten Diskussion „draußen im Lande". Auch hier darf es kein anbiederndes Zurückweichen vor kritischen Kommentaren geben, genausowenig wie Unsicherheit und Sorge bei unseren Mitbürgern in Büro- oder Technokratenart weggewischt werden können. Ich gestehe zu, daß mancher von uns als dem Wahlvolk verpflichteter Politiker ab und zu sehr davon überrascht wird, mit welcher Nonchalance von Brüssel aus Einwände weggewischt werden können. Das ist ein Plädoyer für ein stärkeres parlamentarisches Mitspracherecht auf europäischer Ebene.
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Im übrigen sind dann jeweils wir diejenigen, die das auch mit auszutragen haben, weil wir den Dialog mit den Bürgern führen. Deswegen ist es selbstverständlich notwendig, hier auch die Kompetenzen zu verschieben.
Klar muß uns dabei sein, daß die europäische Wirtschaft in vielen Bereichen mit Nordamerika und Japan konkurriert und daß nationale Alleingänge nicht nur im Bereich der High-Tech-Produkte den wackeren Kämpfer immer zum zweiten Sieger werden lassen. Also sollten wir uns im Wirtschafts- und Währungsraum straffen und stabilisieren. Es kann nicht oft genug festgehalten werden, daß oberstes Prinzip in der EWU die Stabilität sein wird, die Stabilität, die wir selbst brauchen, um anderen außerhalb der EG zum Anker dienen zu können.
Theo Waigel ist hier für seine klare Linie schon zu danken, denn in Wahrheit hat vor einem Jahr auch in diesem Hause kaum einer geglaubt oder zu hoffen gewagt, daß gegen die vielen Verwässerungs- und Kompromißversuche von vielen Seiten das klare Konzept der Währungsunion durchgehalten werden konnte.
Wir können dabei allerdings nicht stehenbleiben und werden uns der Mühe unterziehen müssen, in einem beharrlichen, längeren Gespräch, in einer längeren Diskussion das Gespräch zu führen, daß der Bürger von uns erwartet. Er hat Sorge, daß eine überstürzte Einführung einer Währungsunion zu seinem Schaden gereichen würde. Wir wissen objektiv, daß diese Sorge nicht bestehen muß. Wir sind deswegen verpflichtet, in diesem Sinne auch mit ihm zu sprechen. Da oder dort, wo Psychologie und wo Ängste mit hineinspielen, muß man auch bereit sein, psychologischen Aspekten nachzugeben, dort, wo das ohne die Gesamtsache zu beschädigen, möglich ist.
Manches ist noch bruchstückhaft in Europa und ruft nach mehr Zusammenarbeit. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik liegt ebenso wie die Währungsunion in tiefem deutschen Interesse. Wir müssen dabei auch von einem gewissen Provinzialismus und einer Selbstbeschränkung loskommen. Dies schließt unsere Bereitschaft ein, uns an internationalen friedenserhaltenden und friedenswiederherstellenden Maßnahmen zu beteiligen. In diesem Zusammenhang ist allerdings klar, daß eine einschränkende,
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überflüssige Ergänzung des Grundgesetzes in dieser Frage unsere Zustimmung nicht bekommen wird.
Partnerschaft in Europa heißt auch engerer außen- und sicherheitspolitischer Dialog mit Osteuropa und Südeuropa bzw. den Mittelmeeranrainern.
Wer international Verantwortung trägt, muß verläßlich sein. Natürlich erfordert die neue Lage in Europa auch die Bereitschaft zu Kurskorrekturen. Aber neben internationalen Friedenseinsätzen erwarten unsere Bündnispartner auch den Nachweis des Willens zur angemessenen Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit.
Gerade im sensibler gewordenen Verhältnis zu den USA ist es notwendig, immer wieder zu betonen, daß wir zur NATO als politischem Stabilitätsanker Nummer eins stehen und daß die NATO amerikanischer Präsenz in Europa bedarf. Diese Anschauung wird nur dann verständlich zu machen sein, wenn sie von Bündnistreue und verstärktem Dialog auch in anderen politischen Feldern, wie etwa der Umweltpolitik oder der Politik gegenüber den Staaten des ehemaligen Ostblocks, begleitet wird. Ich bin überzeugt davon, daß der Weltwirtschaftsgipfel in München zu diesem Dialog das Seinige dazu beitragen wird, um auch das Verständnis auf der nordatlantischen Schiene weiter zu festigen.
Im übrigen verlangt man von uns auch, daß wir zur realistischen Selbsteinschätzung unserer Lage fähig sind. Manchmal frage ich mich, was denn ein Bürger Zimbabwes, wo tiefe Hungersnot herrscht, oder ein kroatischer oder moslemischer Bürger Bosniens oder auch ein Bürger Lettlands sich denkt, wenn er unsere Krisendramatik und die Krisenszenarien sieht und die Lösungsperspektiven für die Probleme in seinem Land mit unserer Situation vergleicht.
Da würde es schon manchem Politiker der Bundesrepublik Deutschland, aber auch manchem Bürger guttun, wenn er bei aller Berücksichtigung der Probleme und bei aller Notwendigkeit des Verständnisses insbesondere für die Situation in den neuen Bundesländern seine Klagetöne ein ganz klein wenig mehr piano anstimmen würde.
Herzlichen Dank.
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Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein Armutszeugnis für diesen Bundestag, wenn nach einer fast dreistündigen Debatte jetzt auch eine Frau mal zu Wort kommen darf.
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„Unsere Verantwortung in der Welt" - ein wahrhaft anspruchsvolles Thema, dem sich der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung gewidmet hat. Ich hätte mir allerdings gewünscht, daß er dieser Verantwortung auch in Rio gerecht geworden wäre. Statt dessen erfuhren die Teilnehmer, daß es die
Bundesregierung wohl doch nicht so ernst meint mit der Gestaltung einer sozial, ökologisch und ökonomisch gerechten Weltordnung.
Während der Bundesumweltminister in Rio wenigstens noch davon sprach, daß es notwendig sei, vor allem im Norden ein Umsteuern zu erreichen und sich der Verantwortung im Hinblick auf die Belastungen zu stellen, die die Gesellschaften der Industrieländer der Umwelt weltweit aufgelegt haben, speiste der Kanzler die Teilnehmer mit seiner „Botschaft der Solidarität" ab.
Der in Rio diskutierte Prozeß wird eine Lösung der Zukunftsfragen der Menschheit nicht im Automatismus a priori bringen. Ja, auch die Bundesregierung ist gefordert, die Dokumente von Rio mit Leben zu erfüllen und durch konkretes Handeln umzusetzen. Davon ist allerdings bisher herzlich wenig zu spüren: Verkehrsminister Krause hält nach wie vor an seinen wahnwitzigen Plänen einer allmählichen Betonierung der Bundesrepublik fest. Finanzminister Waigel fördert durch seine nur den kleinen Steuerzahler treffende Politik die Just-in-time-Produktion und damit den rasant zunehmenden Lkw-Verkehr auf den Straßen. Herr Minister Spranger betreibt eine Entwicklungspolitik, die verhindert, daß die tiefgreifenden sozialen Probleme in den Entwicklungsländern gelöst und damit zugleich die Ursachen für den Raubbau an der Natur beseitigt werden. Für Wirtschaftsminister Möllemann ist die ökologische Effizienz nur ein Thema auf Rang zehn.
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Es ist höchste Zeit, zu begreifen, daß unsere Verantwortung in der Welt vor allem heißen muß, hier und heute zu hinterfragen, ob das, was als Wohlstand oder Lebensqualität definiert wird, nicht eher Ausdruck geistiger Verarmung ist und somit keinesfalls eine attraktive Perspektive für die Welt als Ganzes sein kann. Ein menschenwürdiges Leben beginnt eben nicht beim Auto mit dem Stern, sondern dort, wo Beziehungen entwickelt werden, die bedingungslose Konkurrenz, Neid und Haß ausschließen - und das nicht nur im nationalen Maßstab.
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Eine gerechte Weltordnung erfordert zwingend gerechtes Teilen des Reichtums, aber auch der Belastungen. Wir alle tragen eine hohe Verantwortung für diese eine Welt und ihre Zukunft. Schöne Reden helfen da nicht weiter. Konkretes Handeln ist gefragt. Dazu gehört heute eine drastische Reduzierung des CO2-Ausstoßes durch Senkung der Mobilität auf ein notwendiges, vernünftiges Maß und damit Vermeidung von Verkehr; die endgültige Durchsetzung des Tempolimits als Einstieg für einen grundlegenden Wandel in der Verkehrspolitik; die Gestaltung eines ökologisch vertretbaren Energiesystems unter Einbeziehung vielgestalteter Energieträger; Abfallvermeidung, die Vorrang vor der Ausarbeitung immer neuer Abfallentsorgungstechnologien hat; wirksame, projektbezogene, direkte Entwicklungshilfe - diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Ein Wort noch zum Schluß: Gleichberechtigte Partnerschaft, Teilen - all das sind hehre Forderungen, die ich voll und ganz unterstütze.
Auf einem Umweltsymposium in Sao Paolo aus Anlaß des Rio-Gipfels fragte allerdings eine Schülerin der dortigen deutschen Schule, wie denn das Teilen in der Welt funktionieren sollte, wenn schon das Teilen zwischen Ost und West in Deutschland nicht funktioniert. Die Antworten darauf waren mehr als mager.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als nächster Redner hat der Minister für Wirtschaft, Herr Haussmann, das Wort.
({0})
- Entschuldigung, Herr Kollege! Wir hatten hier gerade ein solches Wirrwarr mit der Liste, daß ich übersehen habe, daß Sie nicht mehr Wirtschaftsminister sind. An Herrn Möllemann richte ich meine Entschuldigung natürlich ebenfalls.
Frau Präsidentin! Ich bedanke mich für die freundliche Einführung. Aber ich rede natürlich als Abgeordneter der F.D.P.-Fraktion und möchte kurz zu unserem Kernthema Europa zurückkehren.
Ich habe - wie Herr Schäuble - sehr genau hingehört, was Herr Klose gesagt hat. Mir ist dabei allerdings nicht ganz klar geworden - das betrifft auch die Ausführungen von Herrn Verheugen -: Wo steht die SPD zu Maastricht?
({0})
Man will zwar keinen zweiten Vertrag, aber man erwartet einen zweiten Vertrag und meldet bereits Forderungen an einen solchen an, meine Damen und Herren.
Man will zwar Maastricht, aber man redet heute nicht mehr von einer Befassung im Bundestag, sondern von einer erneuten politischen Entscheidung, meine Damen und Herren.
({1})
Sie müssen aufpassen, daß es in anderen EG-Staaten nicht als Opting out, als Ausstiegsklausel aus den Verträgen von Maastricht empfunden wird.
({2})
Deshalb erkläre ich hier für die F.D.P. - das ist wichtig für die Diskussion unserer Nachbarstaaten -: Wir sind nicht nur hier für die Ratifizierung, sondern wir werden ohne Wenn und Aber ratifizieren.
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Meine Damen und Herren, das gilt für die gesamte Fraktion und für die Partei.
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Deshalb möchte ich noch drei Dinge äußern:
Erstens. Wir spüren heute: Für Europa muß erneut gekämpft werden. Viele haben sich verschätzt. Der alte Europakonsens reicht nicht aus. Eine neue Zustimmung zu Europa muß in einer großen öffentlichen Debatte erneut zurückgeholt werden. Wir dürfen uns nicht täuschen. Wir haben es derzeit nicht mit der üblichen Europamüdigkeit zu tun, sondern es herrscht teilweise offene Europafeindschaft, die innerstaatlich und parteipolitisch mißbraucht wird.
Meine Damen und Herren, wir brauchen aber auch die Unterstützung wichtiger gesellschaftlicher Gruppen. Die Europamüdigkeit und -skepsis in politischen Salons, bei Unternehmern, bei Gewerkschaftern, bei Medienvertretern und Sportvertretern kann so nicht bleiben. Die gleichen Leute, die sich in Talkshows gegen Europa aussprechen, entwickeln längst europaweite Strategien des Verkaufs.
({5})
Die gleichen Medienvertreter machen längst Eurovisionssendungen. Die gleichen Sportvertreter, meine Damen und Herren, fiebern jeden Abend Europacupspielen entgegen.
Zweitens. Wir Liberale wissen nur zu gut - Herr Kinkel hat es bereits erklärt -: Wir Deutschen haben keine Alternative zur weiteren europäischen Integration. Alles, was ökologisch, aber auch ökonomisch an Aufgaben vor uns steht, ist in den alten Formen des nationalen Staates nicht mehr zu bewältigen.
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Drittens, meine Damen und Herren: Wir Liberale sind nicht nur für die Wirtschafts- und Währungsunion, sondern auch für die Europäische Währungsbank in Frankfurt/Main. Beides gehört für die F.D.P. untrennbar zusammen, meine Damen und Herren. Ich wiederhole mich: Die D-Mark wird nicht auf dem europäischen Altar geopfert, sondern es ist in der Tat umgekehrt. Wir schaffen derzeit die Bedingungen für die europäische Mark. Die Bürger müssen wissen: Entweder wir schaffen in den nächsten sechs Jahren eine wirklich stabile europäische Währung unter Führung der D-Mark oder es wird keine europäische Währung geben.
Zum Schluß wiederhole ich: In Frankfurt/Main, meine Damen und Herren, ist der Geist der Geldwertstabilität zu Hause. Dies muß auch für die künftige europäische Zentralbank gelten. Daher muß die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen dieser entscheidenden Standortfrage andere Fragen unterordnen.
Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, wer jetzt eine andere deutsche Stadt ins Spiel bringt, wie Sie mit Bonn, wird am Schluß leer dastehen.
({7})
Nun hat der Kollege Dr. Norbert Wieczorek das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute morgen hier festgestellt, was die EG uns alles gebracht hat: Frieden, Freizügigkeit in Europa und Wohlstand. Trotzdem stellen wir in der Bevölkerung fest, daß das so gar nicht mehr richtig angenommen wird. Es gibt Unbehagen. Dieses Unbehagen verknüpft sich zunehmend mit den Maastrichter Verträgen. Das dänische Volk hat eine klare Absage gemacht. Das muß man ernst nehmen. Aber das Unbehagen ist nicht auf Dänemark beschränkt. Wie sieht es in Großbritannien aus? Wie sieht es in Frankreich aus? Wie sieht es in Spanien aus, wenn man sich die heutige Zeitung ansieht? Wie sieht es bei uns aus?
Da halte ich es für eher kontraproduktiv, wenn so getan wird: Dänemark ist ein kleines Land, und wir machen „business as usual" . Fakt ist: Mit der fehlenden dänischen Zustimmung wird es den Vertrag nicht geben. Der Vertrag ist dann obsolet. Das muß man sich endlich klarmachen. Wer darum herum redet, macht einen Fehler.
Deswegen sollten wir uns fragen: Was ist mit Maastricht falsch gelaufen? Was ist möglicherweise an Maastricht falsch? Falsch gelaufen ist sicherlich, daß nicht aufgeklärt wurde, um was es dabei überhaupt geht und wo die positiven Elemente sind. Falsch gelaufen ist ebenso in der ganzen Zeit auch vor Maastricht, daß Europa immer mehr als ein Brüsseler Labyrinth, als eine nicht kontrollierbare Bürokratie erschienen ist.
Auch in der nationalen Politik haben wir es uns allzu leicht gemacht, indem wir immer nur gesagt haben: Daran ist Brüssel schuld. Zuletzt hat dies der Herr Bundesfinanzminister getan, als er hier seine Mehrwertsteuererhöhung mit dem Hinweis auf Brüssel durchgesetzt hat; Brüssel hat bis heute noch keinen Beschluß dazu gefaßt. - Das nur einmal zur Erinnerung an die Debatte, die wir dazu geführt haben.
Es ist auch so, daß der Ministerrat das eigentliche Entscheidungsgremium ist, nicht die Kommission. Insofern sollten wir uns selber prüfen, inwieweit wir da die Kommission der EG in eine Richtung gedrängt haben, die sie überhaupt nicht einschlägt. Es gibt genügend Kritik an der Kommission, die gerechtfertigt ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?
Ja, wenn es nicht angerechnet wird.
Nein, das wird nicht angerechnet.
Herr Kollege Wieczorek, könnten Sie bitte einmal erläutern, aus welcher Bestimmung des Maastrichter Vertragswerkes hervorgeht, daß bei Nichtzustimmung eines der Mitgliedstaaten das Vertragswerk im ganzen gescheitert sei bzw. nicht zustande komme?
Bei den Maastrichter Verträgen handelt es sich doch ohne Zweifel um eine
Änderung der Römischen Verträge. Eine Änderung der Römischen Verträge ist nur bei Zustimmung aller Vertragsparteien möglich. Das sollten Sie eigentlich wissen. Es wundert mich, daß Sie danach noch fragen. Das führt nur zu Irritationen.
Dieses Maastricht schlägt also jetzt zurück. Das Junktim zwischen Politischer Union und Währungsunion, das der Bundeskanzler und die Bundesregierung bis wenige Tage vor Maastricht hier im Plenum vertreten haben, ist in Maastricht weitgehend fallengelassen worden.
Unsere gemeinsame Resolution über den inneren Parlamentsvorbehalt - das zu Herrn Schäuble, der jetzt nicht hier ist - galt noch unter dem Satz, den der Bundeskanzler so ähnlich formuliert hat: Kein Land, das die Voraussetzungen erfüllt, darf gehindert werden, der Wirtschafts- und Währungsunion beizutreten; aber auch keines darf zum Beitritt gezwungen werden. - Das war vor Maastricht. Erst in Maastricht, nach unserer Beschlußfassung, ist der Automatismus für die Jahre 1998 und 1999 hineingekommen.
Ich bitte, das in Erinnerung zu haben, wenn wir im Laufe des Jahres noch mehr darüber reden.
Es schlägt auch zurück, daß Maastricht ein sehr verwirrendes Projekt geworden ist, das die gemeinsame und vertiefte Zusammenarbeit eher verwischt als klärt.
Gerade wer wie ich ein überzeugter Anhänger der europäische Integration ist, der wie ich noch davon träumt, daß wir den europäischen Bundesstaat erhalten - ich hoffe, daß das kein Traum bleibt -, fragt sich jetzt manchmal: Ist denn Maastricht der einzige Weg? Wir sollten ein bißchen mehr darüber nachdenken und nicht sagen: Wer Maastricht kritisiert, ist bereits ein Gegner der europäischen Einigung. Wenn Maastricht im weiteren Verfahren noch ins Leere läuft, werden wir froh sein, Alternativen entwickelt zu haben. Ich möchte das einmal ganz leise in diesem Raum sagen.
Lassen Sie mich noch die Mängel nennen, die ich besonders sehe. Das sind erstens die fehlende demokratische Kontrolle und zweitens die Nichtinangriffnahme der längst überfälligen institutionellen Reformen für das Parlament, für den Rat und für die Kommission.
Wenn ich jetzt vernehme, daß, obwohl auch in Maastricht schon gesagt wurde, die Kommission solle Änderungen zumindest für Teilbereiche vorlegen, die Ankündigungen von Präsident Delors nicht wahrgemacht werden sollen, weil der Ministerrat den Präsidenten gebeten hat, seine Reformvorstellungen jetzt nicht vorzutragen, weil es zu Irritationen führen könnte, dann sage ich Ihnen: Das ist der falsche Weg. Ich hoffe - ich glaube, Herr Schäfer war es, der gefordert hat, sie sollten vorgelegt werden -, daß die Bundesregierung dazu steht und es einklagt. Sonst verstärkt sich nämlich der Verdacht, es solle wieder etwas übergestülpt und Europa im stillen Kämmerlein ausgehandelt werden. Ich hielte dies für sehr gefährlich. Es liegt an Ihnen, das gemeinsam mit der Regierung einzuklagen. Europa kann nicht geheime Kommandosache sein.
Es gibt in den Maastrichter Verträgen einen weiteren Punkt: die Unverbindlichkeit, wer später zu dem gemeinsamen Gebiet gehört. Es ist exakt die Währungsunion, die hier die Möglichkeit öffnet, verschiedene Bereiche von Gebieten zu haben.
Wer macht mit oder nicht? Wer darf mitmachen oder nicht? Hier genau ist der Punkt, wo es sehr kritisch wird. Der Automatismus gibt währungs- und wirtschaftspolitisch keinen Sinn; darüber ist sich eigentlich jeder Fachmann einig. Er gibt nur dann einen Sinn, wenn man ein Kerneuropa mit den wirtschaftlich stärkeren Ländern schaffen will und die wirtschaftlich schwächeren Länder ein bißchen vor der Tür läßt. Wenn man dies politisch will, dann kann man darüber reden. Man soll es aber offen tun und nicht eine neue Struktur Europas durch die Hintertür der Währungspolitik einführen. Das halte ich für falsch.
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Lassen Sie mich hier als Währungspolitiker auf die Währungsunion besonders eingehen. Es gibt nicht nur die „Bild"-Zeitung und Herrn Schönhuber; es gibt auch sehr ernst zu nehmende Kritik, zuletzt die der Bank für internationalen Zahlungsausgleich. Wenn dieser Kritik nicht Rechnung getragen wird, dann ist das genau das Futter für die Rechten und die ganz Rechten in diesem Lande, die mit ihrer Kritik etwas ganz anderes wollen. Deswegen müssen wir die seriöse Kritik ernst nehmen.
Die dort enthaltenen Unklarheiten - das habe ich schon gesagt - sind die immer noch interpretationsfähigen, nämlich politisch bewertbaren Kriterien der Konvergenz. Wenn diese aufgeweicht werden, gibt es Zweifel an der Stabilität der künftigen Währung; werden sie nicht aufgeweicht, sondern starr gehandhabt, kriegen wir ein anderes Europa, als wir es uns in der Politischen Union vorstellen. Die Konsequenz muß endlich einmal ausgesprochen werden.
Von noch größerer Bedeutung ist für mich aber, daß eine stabilitätskonforme Währungspolitik nicht allein von einer Zentralbank betrieben werden kann. Die Regelungen für die Zentralbank sind im großen und ganzen in Ordnung; das soll gar nicht bestritten werden. Sie bedarf aber der Unterstützung der Fiskal- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer. Das ist genau die Nahtstelle zur Politischen Union. Wenn wir die Politische Union nicht bekommen, dann wird diese Währungspolitik scheitern müssen. Dies ist das Schlimme daran. Deswegen ist es auch um so wichtiger, daß wir uns nicht in ein währungspolitisches Abenteuer stürzen. Deshalb ist das, was wir vor Maastricht unter anderen Bedingungen - ich habe sie hier genannt - als Parlamentsvorbehalt beschlossen haben, jetzt rechtsverbindlich einzuklagen. Denn sonst kämen wir in eine Situation, in der möglicherweise 1998 der Rat mit Mehrheit beschließt. Die Bundesrepublik hat die Voraussetzungen für den Eintritt erfüllt und soll die Währungsunion mitbeginnen.
Wir sagen - aus anderen Gründen, weil wir das anders bewerten -: Wir wollen das nicht. Diesen Konflikt halte ich für viel schädlicher für Europa, als hier und heute - wenn wegen Dänemark irgendwo etwas am Vertrag geändert werden muß; darüber, daß das geschehen muß, besteht inzwischen eigentlich
Klarheit, nämlich genau aus den Gründen, die ich auf Ihre Frage hin, Herr Lammert, genannt habe - zu sagen: Jetzt laßt uns dies vernünftig machen. Klare Regelungen heute sind sehr viel besser als Auseinandersetzungen im Jahr 1998 und Schludrigkeit bei der Währungspolitik, wenn der Rest nicht stimmt. Herr Kollege Haussmann, denken Sie einmal in Ruhe darüber nach; dann werden Sie feststellen, daß darin viel mehr Logik enthalten ist. Das ist besser, als einfach zu sagen: Augen zu und durch. Dann kommen wir nämlich in der Währungspolitik in den Bereich hinein, den wir nicht wollen.
Ich will Ihnen etwas zitieren, was mich schon sehr stutzig gemacht hat. Ich zitiere ein Mitglied dieser Bundesregierung, den Finanzstaatssekretär Köhler, der die Verträge wirklich gut kennt, weil er dabei war, als sie geschrieben wurden und der auch bei aller parteipolitischen Differenz ein Mensch ist, der sehr rational ist und den ich in seiner Arbeit sehr schätze. Das will ich hier deutlich sagen. Wenn aber Herr Köhler in seiner Rede in Karlsruhe am 5. März 1992 folgendes formuliert hat:
Sollten von anderen europäischen Partnern die Konvergenzkriterien nicht entsprechend Buchstabe und Geist des Vertrages interpretiert werden, braucht die Bundesrepublik Deutschland nach meinem Verständnis dem Verbund nicht beizutreten. Niemand kann uns zwingen, eine Währungsunion mit Ländern einzugehen, die sich dafür nicht qualifiziert haben.
heißt das doch nichts anderes, als wenn wir sagen: Wir halten uns nicht an den Buchstaben des Vertrages. Wollen Sie dies wirklich? Nach meiner Auffassung kann es nicht unsere deutsche Perspektive sein, Europapolitik mit der Drohung zu betreiben, daß wir dann Vertragsbruch begehen würden. Es ist besser, den Vertrag vorher in Ordnung zu bringen.
Danke sehr.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Werner Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz einer einzigartigen wirtschaftlichen Strukturkrise im Osten Deutschlands ist die Wirtschaftspolitik offensichtlich - weil sie der der 80er Jahre entspricht - personell kaum zu unterscheiden; insofern ist die Verwechslung nicht sonderlich verwunderlich.
Lassen Sie mich in einer Konjunkturphase der Phrasen über das Wort „teilen" vielleicht darauf setzen, daß Sie zumindest meine Auffassung teilen, daß wir heute eine außerordentlich enttäuschende und schwache Regierungserklärung gehört haben; daran ändert auch der pflichtgemäße und etwas verkrampfte Beifall aus der Union wenig. Die Kolleginnen und Kollegen hatten bereits auf dem kleinen Parteitag etwas Übung darin, wie man enttäuschende Reden verkraftet.
Für mich war diese Rede typisch für eine Politik, bei der sich seit langem in fataler Weise Täuschung und
Werner Schulz ({0})
Selbsttäuschung die Hand reichen und die zu dieser Kettenreaktion von Enttäuschung in unserer Bevölkerung führt. Epidemisch haben sich Mißtrauen und Politikverdrossenheit ausgebreitet.
Die Annalen des Bundestages belegen: Der Bundeskanzler Helmut Kohl bzw. der Abgeordnete Helmut Kohl hat noch nie eine Rede zum 17. Juni gehalten. Er hätte heute die große Chance gehabt. Er hat sie nicht genutzt.
({1})
- Wissen Sie das besser?
({2})
- Ich habe mich belesen; es ist jedenfalls nicht ausgewiesen, daß er eine Rede zum 17. Juni gehalten hat. Vielleicht können Sie das auf Grund der vielen Sonntagsreden, die dazu gehalten worden sind, nicht mehr unterscheiden.
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Ich will bloß folgendes sagen, Herr Kittelmann - vielleicht interessiert es Sie nebenbei -: Für mich ist dieser Gedenktag zu Unrecht abgeschafft worden, denn er hat immer noch große Bedeutung.
({4})
Die innere Einheit, die humane, die zivile, die demokratische Gesellschaft, ja, die Hoffnung der Akteure von damals sind noch längst nicht vollendet und erfüllt. Für mich ist der 3. Oktober kein Ersatz dafür. Er ist fiktiv in die Landschaft hineingesetzt worden. Er wird weniger von den Leuten getragen. Er erinnert allenfalls an den Todestag von Franz Josef Strauß.
Wir hatten heute eine Rede zur Lage der Nation erwartet. Die ist der Bundeskanzler aber schuldig geblieben.
({5})
- Ich habe zumindest von den bestehenden Problemen in seiner Rede wenig gehört. Drei Viertel unserer Bürger sind derzeit mit ihrer Lage unzufrieden. Er hat zwar über die Bürger in Bitterfeld und Leuna gesprochen und ihre Bedrängnis im Jahr 1953 erwähnt. Im übrigen sind diese Menschen heute schon wieder in einer anderen, auch außerordentlich besorgniserregenden Bedrängnis.
Gestern waren z. B. Arbeiter aus Finsterwalde hier. Ich glaube, daß die hier wenig Zufriedenheit empfunden und kaum das Gefühl mitgenommen haben, daß ihre Sorgen gehört worden sind und daß ihnen vor allen Dingen Hilfe zukommt.
Ich habe lediglich empfunden, daß der Bundeskanzler die Probleme aus der Adlerperspektive betrachtet, die großen Politikfelder nämlich, bei denen die kleinen Alltagssorgen, die Alltagsprobleme der Menschen zu Kleinkram geraten. Doch nicht im
Staate Dänemark ist etwas faul, sondern in der Bundesrepublik Deutschland.
Ich weiß nicht, woher der Bundeskanzler die Selbstsicherheit nimmt, sich mit Kraft für das Projekt Europa einzusetzen, obwohl seine Kraft doch noch nicht einmal ausreicht, um die Ordnung im eigenen Land herzustellen, um den Laden einer Koalition zusammenzuhalten, deren Vorrat an Gemeinsamkeiten für meine Begriffe längst verbraucht ist.
({6})
„Meine Oma sagt: Das Beste an der Einheit sind die Marmelade und der Kaffee." Das schreibt eine Preisträgerin des Wettbewerbes „Wie empfinde ich die deutsche Einheit?". Das sollte uns nachdenklich stimmen. Das dürfte nicht das Fazit dieser deutschen Einheit bleiben.
({7})
Ich wehre mich gegen ein Bild und eine leere Formel, die der Bundeskanzler immer wieder beliebig benutzt: 40 Jahre DDR. Man muß dazu sagen: Dieses Bild kann man auf diese Art und Weise nicht beschreiben, wenn man selber dafür gesorgt hat, den Rahmen zu sprengen. Es war ein Schock ohne Therapie, der ausgelöst worden ist.
Ich zitiere Ihnen Hans Mundorf, der im „Handelsblatt" schrieb:
Wäre die Bundesrepublik Deutschland 1948 in eine Wirtschafts- und Währungsunion mit den USA eingebracht worden, und zwar zum Kurs von 1 : 1 zwischen DM und Dollar - ein Geschick, das der DDR im Verhältnis zur D-Mark widerfuhr -, dann wäre der Morgenthau-Plan, der die Verödung Deutschlands vorsah, tatsächlich in Erfüllung gegangen.
Ich höre viel von Fehlern, die man begangen hat - dieses pauschale Fehlereingeständnis des Bundeskanzlers, auch auf dem kleinen Parteitag geäußert -, höre jedoch nichts Konkretes. Ich höre, daß man dem DM-Schock keinen Lohnschock nachsetzen soll. Das mag richtig sein. Aber hier werden offensichtlich Ursache und Wirkung verwechselt.
Die Themen des Tages hat der Bundeskanzler heute jedenfalls nicht getroffen. Der Bundespräsident hat sie angesprochen: Machtversessenheit und Konzeptionslosigkeit. Ich glaube, wir sollten dem Bundespräsidenten dankbar sein, daß er als erster Mann im Staate und als erster nach der Vereinigung die Wahrheit ausgesprochen und den Mut zur Wahrheit gehabt hat, einen neuen Lastenausgleich zu fordern. Nur das wird uns voranbringen, die innere Einheit und all die Aufgaben zu finanzieren, die vor uns liegen.
Der Bundeskanzler hat viele Negativparameter genannt, z. B. hohe Ausfallzeiten. Ich glaube, er hat einen vergessen: die lange politische Aussitzzeit in Deutschland.
({8})
Nun hat Herr Bundesminister Töpfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Weltgipfel „Umwelt und Entwicklung" in Rio war die erste weltweite Konferenz auf dieser Ebene nach der Überwindung einer Konfrontation, der Konfrontation zwischen Ost und West.
Herr Kollege Schulz, wenn ich die Botschaft der Menschen des 17. Juni richtig verstehe, dann war es ihre Botschaft, daß wir Konfrontationen überwinden müssen, weil Konfrontationen Unfreiheit schaffen. Deswegen ist die beste Erinnerung an die Menschen des 17. Juni, wenn wir uns heute fragen, wie wir auch eine neue Konfrontation zwischen Nord und Süd, zwischen arm und reich gemeinsam überwinden können.
({0})
Das ist für mich ein großes Stück der Botschaft. Ich glaube, wir müßten gelernt haben, daß sich diese Überwindung von Konfrontation eigentlich nur aus einer Kette von vertrauensbildenden Maßnahmen ableiten läßt, daß sie eben nicht durch die Wand gerannt erreicht werden kann, sondern indem man auf den anderen hört und die Überwindung der Konfrontation durch das Verstehen der Position des anderen sieht.
Nichts anderes ist in Rio de Janeiro zu bewältigen gewesen, nicht die Frage, ob wir jetzt schon alle den CO2-Ausstoß auf der Basis von 1990 stabilisieren, so wichtig das ist, sondern die Frage, ob wir hinhören können in einer Gemeinschaft von über 180 Staaten mit völlig unterschiedlichen Schwierigkeiten, mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft und ob wir die Spannkraft aufbringen, tatsächlich aufeinander zuzugehen und schrittweise unser Verhalten auch mit einzubringen.
Das ist wiederum nicht mit Abbrüchen und Umbrüchen möglich. Ist denn das nicht ein Stück der Erfahrung, die wir in den letzten Jahren gesammelt haben, daß diejenigen, die glaubten, man könne alles nur umbrechen, daran zerbrochen sind und daß wir darangehen müssen, in den vielleicht kleinen Schritten das zu erreichen, was uns dann wirklich die Einheit bringt?
Wir sprechen heute über die Kosten der Einheit. Warum sprechen wir so wenig über die Fortschritte im Verständnis der Menschen und in der Bewältigung der Probleme, die uns die Einheit eingetragen hat?
({1})
Das gilt wiederum weltweit. Auch weltweit gilt, daß wir über Kosten der Einheit sprechen. Heiner Geißler hat einmal gesagt: „Die Menschen in Leipzig und in vielen anderen Städten der damaligen DDR haben gerufen: ,Wir sind ein Volk' und ,Wir sind das Volk'. Die Fortsetzung findet sich darin, daß wir sagen müssen: ,Wir sind eine Menschheit'" . Wir werden dann genauso nach den Kosten dieser Einheit fragen und genauso sagen müssen, daß diese Kosten um so größer werden, je weniger wir bereit sind, wirklich in unseren Köpfen und Herzen umzudenken und auch
klarzumachen, daß ein Stück der Probleme, die wir heute im südlichen Teil dieser Welt vorfinden, Konsequenzen unseres früheren Handelns sind, daß wir unseren Wohlstand subventioniert haben und vielleicht noch subventionieren, weil wir Teile der Kosten dieses Wohlstands auf die Umwelt, auf kommende Generationen, auf Menschen im südlichen Teil abgewälzt haben.
Wenn wir dieses Verständnis aufbringen, ist das nicht, wie der eine oder andere Kommentator in den USA gemeint hat, so etwas wie in Schutt und Asche gehen, sondern das ist die richtige Analyse, damit hinterher auch die Therapie stimmen kann.
Ich muß ganz ehrlich sagen, ich habe mich sehr darüber gefreut, daß wir aus dieser unserer nationalen und europäischen Erinnerung und Erfahrung heraus einen Beitrag leisten konnten, indem wir dieses Verständnis mit eingebracht haben. Darum ging es, und das wird auch weiterzuführen sein.
Rio ist nicht ein Erfolg mit dem, was es bisher gebracht hat, sondern nur dann, wenn genauso ein Prozeß vertrauensbildender Maßnahmen folgt. Rio selbst war eine vertrauensbildende Maßnahme, nebenbei: auch in vielem, was wir über die Regierungsverantwortung hinaus dort mit vorfinden konnten. Es war großartig, zu sehen, wieviel Umweltverbände dort sehr, sehr nachdenklich mitgewirkt haben. Ich habe mich zu bedanken bei vielen in der deutschen Delegation, die sicherlich nicht zu groß war, sondern die richtig war, weil viele einen Einblick in diese Qualität der weltweiten Probleme gewonnen haben, die vor uns stehen und über die wir eben nicht die Probleme der deutschen Einheit vergessen, sondern über die wir gerade gelernt haben, weil wir die deutsche Einheit zu bewältigen haben. Als Bewältigung ist nicht zu verstehen, daß wir es als Last empfinden.
Denn bei all den Problemen und gerade heute, am 17. Juni, meine Damen und Herren, sollten wir uns bei aller Darstellung verbliebener Probleme - und ich respektiere Ihre Aussagen unter dem Ernst des Betroffenen mit - doch nicht sagen lassen können, daß deutsche Einheit nur Problem ist, sondern daß deutsche Einheit Freude ist und daß wir diese in die europäische Einheit einbringen können.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({2})
Nun hat der Kollege Rolf Schwanitz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat heute morgen in seiner Regierungserklärung zwei Sätze zu den neuen Bundesländern formuliert, die ich nicht unkommentiert lassen möchte.
Er hat zum einen gesagt - darüber ist im Dialog dann sehr heftig gestritten worden -, daß alle Fachleute 1990 davon ausgegangen seien, daß das DDR-Vermögen ausreichen würde, den Aufbau in den neuen Bundesländern zu bewerkstelligen. Das betrifft mich als einen, der aus der Volkskammer kommt, natürlich ganz besonders. Ich will dazu nur sagen:
Man mußte nur die große Koalition der Regierung de Maizière zum Scheitern bringen, insbesondere den sozialdemokratischen Finanzminister aus der Regierung entlassen, dann hatte man tatsächlich nur noch diese Experten am Tisch, die diese Auffassung vertreten haben.
({0})
Das zweite, das ich gerne kommentieren würde, ist das Problem der Lohnentwicklung. Der Kanzler hat ausgeführt, die Lohnentwicklung sei ein Investitionshemmnis. Sicherlich müssen wir erst einmal fragen: Was ist das Hauptinvestitionshemmnis? Das ist hier lang und breit besprochen worden.
({1})
Ich möchte aber in einem zweiten Satz hören, daß man dafür Sorge tragen muß, daß die sozialen Bedingungen, einschließlich die Lebenshaltungskosten und die Mieten, in ihrer Dynamik gebremst werden, bevor man einen solchen Satz hier ausspricht.
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Meine Damen und Herren, es ist heute viel über Europa geredet worden. Das ist gut und richtig. Für die neuen Länder heißt das aber vor allem, den Europagedanken vermitteln. Der Schritt zur europäischen Einigung kann nicht ohne die Menschen gemacht werden, auch nicht ohne die Ostdeutschen. Ich glaube, da gibt es viel zu tun.
Die Ostdeutschen haben gegenwärtig ganz andere Probleme. Nach einer Presseinformation der Bundesanstalt für Arbeit aus dem April dieses Jahres haben wir in den Altbundesländern 1,7 Millionen Arbeitslose. Das ist eine Quote von 5,6 %. In den neuen Bundesländern waren es 1,15 Millionen Arbeitslose; das sind 14,1 %. Hinzu kommen aber 478 000 Menschen mit Altersübergangsgeld, 436 000 Menschen in Kurzarbeit und über 404 000 Menschen, die sich in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme befinden, also über 2,4 Millionen Menschen, die entweder arbeitslos sind oder die eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme unmittelbar benötigen. Ich rede jetzt gar nicht mehr von der halben Million Pendlern, die als wichtiges Fachpersonal mittlerweile in der Altbundesrepublik arbeiten und den neuen Bundesländern damit verlorengehen.
Am meisten haben die Frauen unter der Arbeitslosigkeit zu leiden, nicht nur, weil sie davon am stärksten betroffen sind - in meiner Heimatstadt Plauen im Vogtland beträgt der Anteil der Frauen an der Arbeitslosigkeit mittlerweile 70 % -, sondern auch weil sie die familiären Belastungen der Arbeitslosigkeit, noch dazu, wenn sie schnell kommt, am stärksten zu tragen haben. Die Aussicht einer arbeitslos gewordenen Frau, einen neuen Arbeitsplatz zu bekommen, ist auch bei guter Qualifikation sehr gering. Frauen, die heute über 45 Jahre sind, müssen sich darauf einstellen, daß sie von ihrem aktiven Arbeitsleben Abstand nehmen müssen. Wie groß der Schub an Arbeitslosigkeit ist, den wir zum 30. Juni dieses Jahres haben werden, kann zur Zeit nur erahnt werden.
Meine Damen und Herren, wer in dieser Situation arbeitsmarktpolitische Instrumente weiter abbauen möchte, beispielsweise die Vorruhestandsregelung nicht um ein halbes Jahr verlängern will, der versündigt sich an den Menschen im Osten Deutschlands.
({3})
Dies wäre ein Betätigungsfeld für die Abgeordneten aus dem Osten, gerade in der Regierungskoalition, von der in der letzten Zeit viel die Rede ist.
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- Sehr richtig.
Der wirtschaftliche Aufschwung ist ausgeblieben. Sicher, Handel und Bauwirtschaft haben Wachstumsraten zu verzeichnen. Aber die industrielle Produktion ist in zwölf Monaten nach der Vereinigung halbiert worden. Ganze Branchen brechen weg. Im Maschinenbau haben wir nur noch 38 % des Produktionsvolumens vom Tag der deutschen Einheit, in der Textilindustrie 33 %, bei der chemischen Industrie und der Nahrungsmittelwirtschaft 14 % des damaligen Wertes.
Der Privatisierungsprozeß der Treuhandanstalt hat sich stark verlangsamt; die Filetstücke sind weg. Es gehen Gerüchte von Verschenkungsaktionen ganzer Massen von Betrieben um. In Sachsen, woher ich komme und wo die Presse über das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung noch am 9. Juni d. J., also vor wenigen Tagen, stolz die meisten Verkäufe der Treuhandanstalt verkündete, hinterläßt die bisherige Treuhandstrategie ein verheerendes Bild.
Von Anfang 1991 von der Treuhandanstalt übernommenen 1,2 Millionen Arbeitsplätzen in Sachsen befanden sich nach einem Jahr noch 400 000 Arbeitsplätze bei der Treuhandanstalt. Von den restlichen 800 000 waren 300 000 privatisiert und 500 000 Arbeitsplätze innerhalb eines Jahres verschwunden, und dies still und leise.
Mehrere Betriebe meines Heimatortes schrumpften von einer Größe von 3 000 bis 5 000 Arbeitsplätzen auf eine Größe von 600 bis 800, und dies, ohne daß das jemand merkte.
Meine Damen und Herren gerade aus den alten Bundesländern, ich bitte Sie, sich einmal vorzustellen, was passieren würde, wenn sich Derartiges in Ihrem Heimatkreis abspielen würde, was das für einen Aufschrei der Menschen in Ihren Heimatorten geben würde. Niemand soll mir etwas von einer mangelhaften Leidensfähigkeit oder von einer Ungeduld der Ostdeutschen an dieser Stelle erzählen.
Der Prozeß der Entindustrialisierung schreitet weiter voran; mancherorts scheint er nicht mehr beeinflußbar zu sein. Eine wachsende Zahl sächsischer Landkreise, selbst Chemnitz, was eigentlich einmal Industrieherzstück in Sachsen war, zählt weniger Beschäftigte im ersten als im zweiten Arbeitsmarkt.
Wenn die Treuhandanstalt nicht schnellstens einen wirklichen Sanierungsauftrag erhält, der die Modernisierung der Treuhandbetriebe ermöglicht, wenn das größte Investitionshemmnis, die offenen Vermögens7988
fragen, nicht endlich im Grundsatz angegangen werden, wenn nicht endlich ein überschaubares und längerfristiges Förderinstrumentarium geschaffen wird, dann sind auch industrielle Kernbereiche nicht mehr zu retten.
Den Landes- und Kommunalverwaltungen kommt bei dem infrastrukturellen Aufbau der neuen Bundesländer große Bedeutung zu. Die Länder und Kommunen werden über viele Jahre am finanziellen Tropf des Westens hängen. Allein der infrastrukturelle Fehlbedarf wird von Experten in einer Größenordnung von 250 bis 330 Milliarden DM geschätzt. Dies geht nicht von heute auf morgen; das ist uns klar. Wir werden uns bei manchen Fragen auf Jahrzehnte einstellen müssen.
Aber die Menschen haben ein Recht auf Offenheit. Dies betrifft sowohl die Perspektive des Ostens als auch die Frage der Lasten. Wer hier Realitäten aus tagespolitischer Nützlichkeit verschweigt, wer vor existentiellen Fragen, wie der sozial gerechten Lastenverteilung oder der Neugestaltung der gesamtdeutschen Finanzverfassung, den Kopf in den Sand steckt, braucht sich über Politikverdrossenheit und über die Wut der Menschen im Osten wie im Westen nicht zu wundern.
Danke.
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Nun hat das Wort der Kollege Peter Kittelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ganz wenige Worte zum letzten Beitrag: Ich glaube, wir sind uns darin einig, daß wir die Ungeduld der Menschen in den neuen Bundesländern verstehen und daß wir schneller als bisher politisch handeln müssen, damit es wirtschaftlich schneller vorwärts geht.
Ich stimme mit Ihnen auch darin überein - Sie sind selber zu der Erkenntnis gekommen -, daß nichts von heute auf morgen geht. Ich bitte nur, daß wir nicht durch Dramatisierung und durch überzogene Erwartungen auch noch Polemik in die neuen Bundesländer hineintragen. Der deutsche Steuerzahler gibt Hunderte von Milliarden für die schnelle Heranführung der neuen Bundesländer an das westliche Niveau aus. Wir haben nichts davon, wenn wir in dieser Frage durch zuviel Ungeduld die Chancen versäumen; denn die Menschen in den neuen Bundesländern müssen mitmachen, müssen mitgestalten.
Meine Damen und Herren, ich darf für die CDU/ CSU zum europapolitischen Teil der Debatte abschließend sagen: Wir, die CDU/CSU, stehen ebenfalls ohne Wenn und Aber für die Ratifizierung der Maastrichter Verträge ohne Neuverhandlungen. Ich freue mich, daß in der Koalition in dieser Frage Übereinstimmung besteht. Wenn ich den Sozialdemokraten richtig zugehört habe, dann stelle ich fest, daß zwischen Klose, Verheugen und Wieczorek doch ein Stückchen „wenn, ja - nein, aber" zum Vorschein kommt. Ich bitte die Sozialdemokraten, sich in den nächsten Wochen und Monaten darüber klar zu werden, daß es nicht darum geht, daß man miteinander
diskutiert, wie es weitergehen soll, sondern daß man wissen muß, daß wir das, was in Maastricht durchgesetzt wurde, vorher gemeinsam erarbeitet haben.
Ich habe mit Freude, Respekt und voller Zustimmung die Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Kenntnis genommen. Ich möchte ihm für die CDU/CSU für sein persönliches Engagement und für die Klarheit der Zielvorgaben herzlich danken.
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Meine Damen und Herren, zwischen der Entscheidung von Dänemark und der Ratifizierung des Vertrages zur Europäischen Union durch unser Parlament muß unser Verhalten von zwei Polen bestimmt sein: durch Problembewußtsein und aufmerksames Bedenken der Kritik auf der einen Seite und durch Gradlinigkeit und entschiedenes Bewußtsein für Europa auf der anderen Seite. Im Sinne und im Interesse unseres Landes und einer wirksamen Lösung der anstehenden Probleme hält die CDU/CSU an der Schaffung eines friedlichen und starken Europas fest.
Zum ersten Punkt: „Problembewußtsein und aufmerksames Bedenken der Kritik". Wir brauchen uns nichts vorzumachen. Der Schock über die dänische Abstimmung ist auch bei mir persönlich noch spürbar, vor allen Dingen deshalb, weil keiner damit rechnen konnte.
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- Sie sagen: haha! Es ist einfach so. Wenn Sie es vorher wußten, Herr Wieczorek, dann haben Sie es zumindest nicht gesagt.
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Europa, noch vor kurzem Synonym für den erstrebenswerten Binnenmarkt und eine grenzenlose Gemeinschaft, ist für viele leider negativ besetzt. Das ist ein Tatbestand. Wie kann vor dem Hintergrund der zunehmenden Verunsicherung der deutschen Bevölkerung eine zukunftsweisende Perspektive aussehen? Wie läßt sich Europapolitik vielen Menschen überhaupt noch vermitteln? Zunächst kann die Lösung mit Sicherheit nicht darin liegen, Strömungen nachzugeben, die mit sehr vereinfachenden Darstellungen auf aktuelle Probleme reagieren. Würden wir dieser Versuchung erliegen, dann machten wir uns am Ende zu Wortführern von Demagogen, die einfache Parolen verkünden, aber keine Lösungen präsentieren.
Eine Volksabstimmung z. B. entbehrt nicht nur sachlich jeder Grundlage; ihr fehlt allein schon die verfassungsrechtliche Legitimation. Die Forderung einiger Sozialdemokraten nach einem Referendum, die darauf abzielt, den Eindruck zu vermitteln, daß die SPD für und die CDU gegen eine Volksabstimmung sei, ist darum unredlich.
Ängste und Befürchtungen müssen ernst genommen werden. Daran kann kein Zweifel bestehen. Dies gilt vor allen Dingen für die Sorgen vieler Menschen um eine stabile Währung. Natürlich muß Kritik aufmerksam gehört werden; nur, es müßten sich all diejenigen Wissenschaftler, die in Stellungnahmen
und Gutachten plötzlich vehement Bedenken äußern, fragen lassen, warum sie nicht im Vorfeld von Maastricht mitgeholfen haben, die richtige Entscheidung zu finden. Viele Politiker und Wissenschaftler setzen sich dem Verdacht aus, falsche Propheten zu sein, die sich dem Hang zum Populismus hingeben.
Zum zweiten Punkt: „Geradlinigkeit und entschiedenes Europabewußtsein" . Die Aufgabe von uns Europapolitikern, an der Verwirklichung der Europäischen Union nachdrücklich festzuhalten, ist das eine. Wohl aber - das ist entscheidend - müssen wir die Vorteile der Gemeinschaft viel unmittelbarer als bisher jedem einzelnen Bürger deutlich machen. Ich gebe zu, daß wir Politiker dieser Verantwortung nicht immer entsprochen haben; einer Verantwortung übrigens, der sich auch die Medien stellen müssen. Warum, so frage ich mich, werden heute ausschließlich nicht zu bestreitende Negativereignisse - ich erinnere mich z. B. an die Importbeschränkung für Bananen aus den Karibik-Staaten - in die Überschriften der Zeitungen gerückt? Solche Negativdaten gibt es ohne Zweifel. Warum aber wird nicht die Verhältnismäßigkeit gewahrt, indem die auf der Hand liegenden Vorteile dargestellt werden? Sie werden teilweise konsequent ignoriert.
Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen: Unsere Wirtschaft wickelt über 70 % ihres Exports mit den Ländern der Gemeinschaft ab. Auch das muß den Menschen in den neuen Bundesländern gesagt werden: Fünf Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen vom Bestehen der Gemeinschaft ab. Mehr und mehr werden auch die Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern gesichert, indem wir die Gemeinschaft wirtschaftlich vervollkommnen. Das ist nicht gegen die neuen Bundesländern gerichtet, sondern für sie.
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Meine Damen und Herren, wer jetzt in den Urlaub fährt, wird sicher im Radio hören, daß, wer nach Polen einreist, 12 bis 14 Stunden warten muß. Die Älteren werden sich daran erinnern, daß das früher an den Grenzen zu Dänemark, Frankreich oder Spanien ebenfalls der Fall war. Sie fahren heute mit der größten Selbstverständlichkeit über die Grenzen, teilweise ohne kontrolliert zu werden. Das ist Europa. Wir Politiker müssen den Menschen klarmachen, daß nicht negatives Geschrei von Bedeutung ist, sondern daß es die positiven Daten sind.
Warum wird nicht darauf hingewiesen, daß Millionenbeträge aus der Kasse der Europäischen Gemeinschaft zur Unterstützung des Kohlebergbaus, des Stahlbereichs und des Textilsektors in unser Land fließen, daß wir eine zukünftige gemeinsame Währung mit strengsten Stabilitätskriterien ausgestaltet haben? Meine Damen und Herren, die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Deshalb wird sich die CDU/CSU sehr bemühen, die Öffentlichkeitsarbeit in Sachen Europa zu verstärken. Wir brauchen jede Unterstützung. Ich bitte das Wirtschaftsministerium, daß wir für eine größere Akzeptanz eine Übersicht der Zahlen bekommen, damit jeder einzelne Bürger nachvollziehen kann, was er persönlich von Europa hat. Ich habe mehrfach nachgefragt. Diese einfache Rechnung gibt es zum Teil gar nicht, obwohl man sie aufmachen kann.
Zur Öffentlichkeitsarbeit gehört natürlich auch, daß die Entscheidungen und die Entscheidungsprozesse in Europa durchschaubarer werden. In dieser Angelegenheit sind auch wir Parlamentarier angesprochen. Es ist billig und einfach und geschieht auch immer wieder, auf den Moloch Brüssel hinzuweisen und zu sagen: „Dort sitzen die Eurokraten" . Nein, erstens sind viele Entscheidungen Entscheidungen des Ministerrats. Dort sitzen unsere Minister und nicht die Eurokraten.
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- Uns allen ist bekannt, daß der Ministerrat aus den Ministern der 12 EG-Länder besteht. Wenn Sie mir recht geben wollen, brauchen Sie mir nicht meine Redezeit zu nehmen.
Zunächst müssen wir also in unserem Haus dafür sorgen, daß wir eine stärkere Einbeziehung des Deutschen Bundestages durch eine rechtzeitige und umfassende Information und Unterrichtung der Bundesregierung einfordern.
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Durch eine solche Befassung würde gleichzeitig die Öffentlichkeit rechtzeitig auf europäische Entwicklungen hingewiesen werden. Im Sinne dieser größeren Transparenz und einer besseren Koordinierung sollte die Bundesregierung deshalb auch darüber nachdenken, ob nicht jetzt der Moment für die Einrichtung eines Europaministeriums gekommen ist. Solche Entscheidungen dienen nicht zuletzt dazu, Europa in das Tagesgeschehen zu bringen, weg vom Mauerblümchendasein der Wirtschaftsseiten und des Spezialistentums.
Meine Damen und Herren, Europa muß täglich viel mehr in das politische Bewußtsein aller hineintreten. Die Europafrage muß offen und kontrovers thematisiert werden, so wie in der heutigen Debatte. Ich verspreche Ihnen für die CDU/CSU, daß wir in Zukunft häufiger europapolitische Debatten hier im Deutschen Bundestag haben werden. Der Beschluß des Europäischen Parlaments zur Neuaufteilung der Mandate und der damit verbundenen Aufstockung der Zahl deutscher Abgeordneter ist von großer Bedeutung. Die CDU/CSU bittet die Bundesregierung darum, sich dafür einzusetzen, daß dieser Beschluß bereits auf dem Gipfel von Lissabon auf der Tagesordnung steht, um der Verwirklichung bis zur Direktwahl 1994 alle Tore zu öffnen.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Sachgründe sind das eine. Aber wir brauchen auch Emotion und Vision. Wir Älteren können uns daran erinnern, daß wir in den 50er Jahren - ich in der Europajugend - von Europa begeistert waren. Jetzt müssen wir Älteren aufpassen, daß wir den Jungen die Chance zu dieser Vision eröffnen und nicht durch kleinkariertes Gerede, durch Negativdarstellung den Spaß und die
Freude an der Gestaltung des zukünftigen Europa nehmen.
Danke schön.
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Nun hat Frau Kollegin Professor Monika Ganseforth das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Lassen Sie mich zur Debatte heute zwei Bemerkungen machen. Man könnte mehr sagen, aber zwei Sachen sind mir besonders aufgefallen. Das eine ist der Debattenstil von Herrn Schäuble. Der fiel mit der Polemik wirklich aus dem Rahmen. Das war wie eine miese Wahlkampfrede. Das tut dem Ansehen des Parlaments nicht gut.
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Das zweite, was mir aufgefallen ist, war - einige haben sich hier zur Bewertung von Rio geäußert, was auch ich machen möchte -, daß dazu keine Bewertung vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gekommen ist. Haben Sie die Umweltthemen in eine hintere Reihe verschoben, oder was ist der Grund dafür?
Wenn man die Umweltkonferenz in Rio bewerten will, muß man sicher noch etwas warten. Die einen sagen: Es ist ein Flop, die anderen sagen: Es ist der Durchbruch zu einer zukunftsverträglichen Entwicklung. Die Wahrheit wird irgendwo dazwischen liegen, je nach den Erwartungen, die man gehabt hat. Wenn man die Größe der Aufgabe, die es zu meistern gilt, betrachtet, dann ist es natürlich nicht ausreichend. Wir müssen uns also auch nach Rio weiter um die Lösung der Menschheitsprobleme kümmern und darum ringen. Die Vernichtung der Wälder, der tropischen Wälder und der borealen Wälder, der drastische Artenschwund, die drohenden Klimaänderungen, die Verschuldung und Verelendung der Entwicklungsländer und die zerstörerische Lebensweise in den Industrieländern, aber auch das Ringen um Änderungen gehen weiter. Ob die UNCED die notwendige Wende zu einer energie- und ressourcenschonenden, sozial gerechten Lebensweise eingeleitet hat, wird sich erst viel später beurteilen lassen, wenn in jedem Land, auch bei uns in der Bundesrepublik, konkret umgesetzt wird, was besprochen worden ist.
Es gibt einige Punkte, die man bewerten muß:
Erstens lagen die Probleme unserer Wirtschaftsweise in Rio deutlich auf dem Tisch. Daß über die Bedrohung unseres Planeten nicht nur in kleinen wissenschaftlichen Zirkeln wie in der Vergangenheit oder in Expertenrunden oder in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" diskutiert wurde, sondern vor der Weltöffentlichkeit, vor fast 200 Regierungsvertretern, das hat schon ein besonderes Gewicht. Für uns aus der Enquete-Kommission, die wir an diesen Themen lange arbeiten, war es schon bewegend, zu hören, wie Maurice Strong oder Butros Ghali, der UN-Generalsekretär, diese Themen in der Öffentlichkeit ansprachen. Allerdings blieben die Vereinbarungen weit hinter den Notwendigkeiten zurück.
Bereits im Vorfeld war zu merken, daß auf Grund des Verhaltens der USA - da hat übrigens auch Europa keine sonderlich rühmliche Rolle gespielt -, die notwendigen Vereinbarungen immer weiter verwässert wurden und daß nicht zu erwarten sein würde, daß der große Durchbruch passieren würde. Es war auch zu erwarten, daß zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd eine Konfrontationslinie verlaufen würde; denn die armen Länder haben den Verdacht gehabt, daß es, obwohl wir uns plötzlich um ihre Tropenwälder kümmern, nicht um ihre Entwicklung und ihre Menschen geht, daß wir uns um sie kümmern, weil wir selber betroffen sind, weil wir alle in einem Boot sitzen. Das hat natürlich einen großen Verdacht und große Ängste hervorgerufen.
In Rio kam es aber ganz anders. Die Frontlinie verlief nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen den USA und den übrigen Ländern. Das Land, das der größte Umweltverschmutzer ist, das Land, das mit seinem American Way of Life die größten Änderungen einleiten muß, hat sich verweigert, hat die Diskussion nicht mitgeführt und hat sich damit als Buhmann von Rio hervorgetan und ins Abseits manövriert. Das hat merkwürdigerweise zu einer Solidarisierung der übrigen Länder geführt und der Konferenz eine neue und andere Dynamik gegeben, die durchaus auch eine Chance war.
Die Bundesrepublik hatte durch diese Veränderung, durch diese besondere Situation, die Möglichkeit, eine hervorragende Rolle zu spielen. Und, das muß man wirklich sagen, Umweltminister Töpfer und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben diese Chance genutzt.
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Allerdings hatten sie in Rio auch den Rücken frei und nicht wie hier in Bonn den Wirtschaftsminister Möllemann, den Finanzminister Waigel, den Verkehrsminister im Rücken, die sie behindert haben. Sie hatten da freie Bahn. Das merkte man den Verhandlungen durchaus an.
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Der Auftritt von Bundeskanzler Kohl wurde diesen Erwartungen dann nicht gerecht, weil er, ähnlich wie hier heute in der Regierungserklärung, einfach nicht genügend Engagement aufgebracht hat. Während andere Regierungschefs brillant aufgetreten sind und dabei weit über das hinaus gegangen sind, was sie mitgebracht hatten, war der Auftritt von Kohl bieder und entsprach nicht dem vorherigen Verhandlungsverlauf.
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- Ich war dabei. Es tut mir leid, das war die einhellige Auffassung. Was wahr ist, muß man schon sagen. Ich tue es auch, wenn es gut ist; Sie haben es eben gemerkt. Aber der Auftritt war glanzlos.
Positiv war das Einbeziehen der Nichtregierungsorganisation, der NGOs, sowohl in die Vorbereitungen als auch in den Konferenzverlauf selber. Das ist sicher ein Weg, der weitergegangen werden muß. Wir dürfen nicht nur die offiziellen Institutionen nutzen, sondern müssen gerade die Nichtregierungsorganisationen wirklich mit Aufgaben betrauen und sie einsetzen.
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Die Ergebnisse selber, die Klimakonvention und die Artenvielfaltkonvention, bleiben hinter dem zurück, was wir eigentlich brauchten und was notwendig wäre. Aber so schlecht wie ihr Ruf ist die Klimakonvention nicht. Es sind zwar keine Zeitabläufe festgelegt worden, bis wann die Emissionen reduziert werden sollen; aber im Art. 2 steht, daß die Konzentration von Treibhausgasen konstant gehalten werden muß. Die Konzentration konstant halten heißt: Die Emissionen müssen über 50 % reduziert werden. Das ist ein gewaltiger Schritt.
Es steht ferner in der Konvention, daß dies in Zeiträumen erfolgen muß, die ökologisch verträglich sind. Eine Temperaturänderung um 0,1 °C in zehn Jahren ist die Grenze der Verträglichkeit. Wenn das, was dort jetzt unterschrieben worden ist, eingehalten wird, entspricht das voll den Vorstellungen der Enquete-Kommission.
Wir müssen sehen, daß das, was in Rio unterzeichnet worden ist, nun auch schnell ratifiziert wird und bei Folgeveranstaltungen und in Folgeprotokollen konkret festgelegt wird. Dann ist Rio. ein Erfolg, und dann ist der Anfang gemacht, um zu einer Wende zu kommen. Die Chance ist noch da.
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Während also in Rio gehandelt und verhandelt und gekämpft wurde und während man sich bemüht hat, etwas zu ändern, ging hier in Bonn das alte Geschäft weiter. Ich habe z. B. festgestellt, daß der Umwelthaushalt 1992 um 82,7 Millionen DM oder 6 % gekürzt worden ist; er beträgt nur noch 1,339 Milliarden DM und macht selber ja nur 0,34 % des Haushaltsansatzes aus.
Also, während sich Töpfer in Rio um Fortschritte auf internationalem Parkett bemühte, wurde hier der Umwelthaushalt reduziert. Dabei gibt es in den neuen und in den alten Ländern genug zu tun. Das gilt auch für Verkehrsminister Krause, für Finanzminister Waigel usw. Es geht hier also im alten Stil weiter. Wenn das so weitergeht, setzen wir die Ergebnisse von Rio nicht um.
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Ich will zusammenfassen: Ob Rio ein Erfolg ist oder nicht, hat sich nicht in Rio gezeigt, sondern wird sich in jedem Land zeigen. Es wird sich daran zeigen, was in Bonn im Kabinett und in der Regierung passiert und was von den in Rio gefaßten Beschlüssen umgesetzt wird. Ich habe da noch große Fragezeichen.
Schönen Dank.
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Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Briefs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Bundeskanzlers haben mir einen Spruch aus der Spontiszene wieder in Erinnerung gebracht. Er lautet: Lohnverzicht schafft Arbeitsplätze, und die Erde ist eine Scheibe. Herr Bundeskanzler, mit dem, was Sie zur Lohnpolitik gesagt haben, haben Sie im Grunde nur gezeigt, daß Sie nicht Bestandteil der Lösung, sondern Bestandteil des Problems sind.
Doch zur Europadebatte. Ich ergreife in dieser Debatte das Wort, um als erstes zu sagen, daß Europa und der Prozeß der europäischen Einigung eine großartige, wirkliche Errungenschaft unserer Zeit sind. Sie sind eine der wenigen wirklichen realpolitischen Lehren, die aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen worden sind.
Ich sage das als jemand, der dieses Europa seit vielen Jahren lebt und praktiziert, dessen Familie in einem anderen europäischen Land lebt, dessen Kinder inzwischen besser niederländisch als deutsch sprechen, der insbesondere aus der Begegnung mit anderen Völkern und deren Menschen unendlich viel gelernt hat. Und wahrhaftig: Wir Deutschen haben nach wie vor noch viel zu lernen, viel zu lernen auch von anderen Menschen in Europa.
Eine ganze Reihe von Zwischenrufen, die im Laufe der Zeit hier in diesem Hause an meine Adresse gerichtet wurden, nach dem Motto „Gehen Sie doch nach Holland! ", zeigen jedoch, daß der europäische Geist in diesem Hause gelegentlich gar nicht so besonders deutlich und tief vorhanden ist. Da gibt es irgendwo wahrscheinlich eine nur sehr dünne europäische Tünche über sehr viel dunklem - ich möchte nicht sagen: bräunlichem - deutschem Muff und Mief.
Europa kann für uns alle eine Bereicherung sein. Aber es ist und bleibt weiterhin eine große und vorrangige politische Aufgabe. Es bleibt eine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß l'Europe forte nicht zu einem Europe forteresse wird: das die schmale Grenzlinie zwischen einem starken Europa und der Festung Europa nicht überschritten wird. Europa muß für die Menschen aus aller Welt ein offener Kontinent bleiben. Europa darf nicht zur waffenstarrenden Bastion gegen den Süden werden.
Die europäischen Länder des Europas der Zwölf sind - vielleicht mit einer Ausnahme - inzwischen alle längst Einwanderungsländer geworden. Das wird hier auf der Rechten so oft vergessen.
Europa muß seine wirtschaftliche Potenz und Dynamik in den Dienst des Ausgleichs zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden stellen. In diesem Zusammenhang ist beschämend, daß in Europa nur die Niederlande die UN-Norm von 0,7 % des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe erreicht haben. Deutschland dagegen, das sich auf
seinen Neureichtum so viel zugute hält, hat nur etwas mehr als die Hälfte der UN-Norm erreicht.
Europa darf sich nicht vorrangig auf die Sicherung seiner Weltmarktposition konzentrieren. Die industriepolitische Inzucht Europas, die Konzentration auf High-Tech- und High-Speed-Produktion - ein Beispiel dafür ist der Jäger 90 -, oft weitab von den Bedürfnissen der Bevölkerung, tragen zur weiteren Ausplünderung der Dritten Welt bei.
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Europa muß sich den dringenden ökologischen und sozialen Problemen in der Welt und in Europa zuwenden. Ein Sieg im Konkurrenzwettlauf der Triade - Europas, der USA und Japans - wäre zwangsläufig zugleich ein Sieg über die Natur und über die armen zwei Drittel der Weltbevölkerung. Die Natur und die Armen dieser Welt - zunehmend auch in Europa selbst - zahlen den Preis für unseren Sieg.
Übrigens: Zahlen werden auch die Menschen im Osten Deutschlands. Die marktwirtschaftliche Wirtschaftspolitik der EG befördert die Herausbildung der Euromegalopolis, die Herausbildung einer hochmodernen Technologielandschaft mit allen Schikanen entsprechender Infrastrukturen zwischen London und Mailand. Berlin und die frühere DDR liegen da völlig abseits.
Es bleiben für die innere Ausgestaltung Europas, für eine ökologisch und sozial bewußte Linke in Deutschland zahlreiche Aufgaben bestehen. Ich zitiere einfach nur die „Berliner Zeitung": „soziale Dimension - Fehlanzeige"; „Asylrecht ist nicht vorrangig"; „Umweltpolitik bleibt Wunschtraum" und schließlich „Keiner will die Zeche zahlen"
Die große europäische Idee, das real existierende Europa sind noch nicht über die Runden. Um erneut die „Berliner Zeitung" zu zitieren: „Die Europäische Union kann auch daran scheitern, daß sie nicht umsonst zu haben ist. "
Was wir brauchen, ist daher ein soziales Europa, nicht ein Europa des Kapitals, ist ein Europa von unten statt des heutigen Europas der Exekutive und der Bürokratie. Was wir brauchen, ist insbesondere ein Europa, das mit der Natur seinen Frieden macht.
Ich danke für die inzwischen doch zahlreiche Anwesenheit und auch die nicht unbeträchtliche Aufmerksamkeit.
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Nun hat der Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat einmal gesagt, es gelte zu verhindern, daß Deutschland ein unverdaulicher Klotz in Europa werde; das ist bei Teltschik nachzulesen. Ich gehe davon aus, daß sich der Kanzler nicht auf eine Diskussion mit Teltschik einlassen würde; der weiß zuviel und leidet vielleicht auch noch darunter.
Ich halte den Ausgangspunkt des Kanzlers für unglaublich überheblich und falsch. Er ist beleidigend für Millionen tüchtiger Menschen in Deutschland, die mit ihren Leistungen den guten Ruf Deutschlands in der Welt begründet haben und die sich diese Eskapaden nun gefallen lassen müssen. Wir brauchen doch nicht Überlegungen dazu, daß verhindert werden müsse, Deutschland zu einem unverdaulichen Klotz zu machen, sondern wir brauchen vielmehr eine Standortbestimmung, eine grundsätzliche Entscheidung über die Rolle Deutschlands in Europa und über die Rolle Deutschlands in der Welt.
Meine Damen und Herren, wir können doch nicht an Europa herumbasteln wollen, Kompetenzen an nicht mehr kontrollierbare Institutionen übertragen und riesige Kostenlawinen auf uns zurollen lassen, ohne zuvor die innere Einheit Deutschlands zur Diskussion gebracht und wenigstens in Ansätzen herbeigeführt zu haben.
Die Sünden der Vergangenheit, die HopplahoppVereinbarungen zur Erreichung eines günstigen Wahlausgangs 1990 wirken sich teuer aus. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es ging damals doch gar nicht so sehr um die Einheit Deutschlands - die war ja schon lange gar nicht mehr zu umgehen -, sondern es ging darum, daß man in der Politik mit Erschrecken auf das reagierte, was die Menschen draußen offenbar vollzogen haben.
Ich darf noch einmal daran erinnern, daß noch Anfang 1989 der Kanzler, der heute als Kanzler der Einheit in die Geschichte eingehen will, sich mit Honecker auf einer Basis arrangiert hat, die 8,6 Milliarden DM Zahlungen bedeutete.
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Einen kleinen Moment mal. - Darf ich Sie jetzt wirklich ernsthaft bitten, entweder Platz zu nehmen oder den Raum zu verlassen und auf jeden Fall einen Geräuschpegel einzuhalten, der es möglich macht, daß wenigstens diejenigen, die dem Redner zuhören wollen, dies auch tun können.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen doch kein Europa der verkrusteten Strukturen. Wir brauchen ein Europa der Prinzipien. Europa muß sich in den Köpfen der Menschen abspielen. Wir investieren viel zuwenig in die Ausbildung, in die Vorbildung für Europa und viel zu sehr in die Institutionen. Hätte es dieses Europa der Ideen und Visionen gegeben, wäre das ungeheure Drama in Kroatien und Bosnien vermieden worden, das ein Schandmal in Europa und vor allen Dingen für seine Idee ist, auf die die Menschen bei ihrer Befreiung von einer kommunistischen Herrschaft gesetzt hatten.
Europa kann doch nicht so funktionieren, wie Maastricht das vorsieht. Alles ist völlig unausgegoren. Das demokratische Defizit der Gemeinschaft wird verfestigt. Die Politik der Kommission wird noch geheimnisvoller und noch unkontrollierbarer. Der Glaube, daß hier in Zukunft eine Konferenz der Parlamente Abhilfe bringen könnte, ist an Lächerlichkeit nicht mehr zu überbieten. Diese Mammutversammlung wird überhaupt nichts bringen; sie streut
nur Sand in die Augen. Und was ist mit der Anhebung des Haushalts der Europäischen Gemeinschaft um über 30 % auf 170 Milliarden DM innerhalb weniger Jahre, die in erster Linie wir als Nettozahler zu tragen haben? Was ist mit dem Adhäsionsfonds, der vor allen Dingen die deutschen Steuerzahler belastet? Was ist mit der bedingungslosen Unterwerfung unter eine europäische Währung, die gerade den Stabilitätswettbewerb in Europa verhindert?
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Welche Garantien gibt es denn dafür, daß die Europäische Zentralbank zu nichts anderem als zu einer weiteren europäischen Kommission wird, wie sich das Frankreich vorstellt. Wo ist denn eigentlich das Subsidiaritätsprinzip in Maastricht verankert? Es ist doch gerade nicht verankert. Maastricht ist ein typisches Produkt der Überheblichkeit der Politik, der Hybris gegenüber den Menschen in unserem Land und ihrer Leistungbereitschaft.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es hat doch keinen Sinn, wenn wir in Deutschland das Leistungsprinzip von unseren Menschen verlangen und gleichzeitig das Leistungsprinzip mit Maastricht in Frage stellen. Wenn Hallstein einmal die Wiederentdeckung Europas gefordert hat, müssen wir heute zugleich die Wiederentdeckung Deutschlands verlangen, für das wir Verantwortung tragen. Wir müssen erst einmal die Probleme im eigenen Land lösen, die durch die Zerstörung des Rechtsbewußtseins bedingt sind. Die Menschen in Deutschland haben diese Politik, wie sie hier betrieben wird, nicht verdient; sie werden sich wehren. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen: Sie erwarten Mut und Leidenschaft von uns und unseren Einsatz für ihre Interessen, die Interessen unseres Landes.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, damit Sie einmal einen Überblick über die Geschäftslage bekommen: Wir haben jetzt noch eine ganze Reihe von nicht namentlichen Abstimmungen. Vor der namentlichen Abstimmung kommt noch eine „Erklärungsrunde". Sie dahinten im Hintergrund stehen also schätzungsweise noch 15 bis 20 Minuten. Außerdem ist die Geschäftslage nicht ganz übersichtlich. Es empfiehlt sich daher, an den nicht namentlichen Abstimmungen entweder im Sitzen teilzunehmen - ich werde mit ihnen erst beginnen, wenn Sie Platz genommen haben - oder diesen Raum zu verlassen. Es wäre wirklich gut, wenn Sie so verfahren würden.
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- Das stimmt nicht. Für die Kollegen, die dahinten im Raum stehen, sind ausreichend Plätze vorhanden. - Ich sehe, es beginnt eine gewisse Bewegung. Ich bedanke mich dafür.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/2814. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2832. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist ebenfalls mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Überweisungsvorschlägen, die zunächst den Punkt 8 a - Drucksache 12/2218 -, den Punkt 8 b - Drucksache 12/1788 - und den Punkt 8 e - Drucksache 12/2535 - betreffen. Für alle diese Punkte ist vorgesehen, daß die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung beim EG-Ausschuß liegen. Der Ausschuß für Wirtschaft soll erster mitberatender Ausschuß sein. Gibt es zu diesen Überweisungsvorschlägen anderweitige Vorstellungen? - Das ist nicht der Fall.
Bezüglich des Tagesordnungspunktes 8 c wird Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? - Das ist nicht der Fall.
Bei der Vorlage unter Punkt 8 d - Drucksache 12/2481- soll der EG-Ausschuß federführender Ausschuß und der Auswärtige Ausschuß erster mitberatender Ausschuß werden. - Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Auch zu dem Tagesordnungspunkt 8 f ist Überweisung an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 2. Hier wird interfraktionell Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/2813 - es handelt sich um den Antrag der Fraktion der SPD zu den Perspektiven der europäischen Integration - an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates gegen das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank ({1})
- Drucksachen 12/2785, 12/2799
Wird dazu das Wort zur Abgabe einer Erklärung gewünscht? - Das ist der Fall.
Herr Kollege Gunnar Uldall, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Beratungen im Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuß haben zwar lange gedauert, aber jetzt kann man festhalten: Herausgekommen ist ein gutes Gesetz. Gegenüber dem ursprünglichen Regierungsentwurf ist eine wesentliche Änderung eingetreten.
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Es wird nicht mehr eine Zusammenlegung der Landeszentralbanken von Thüringen und Hessen und eine selbständige LZB in Sachsen geben. Vielmehr werden die Landeszentralbanken in Thüringen und Sachsen zusammengelegt, und die hessische Landeszentralbank bleibt in ihrem bisherigen Umfang erhalten. Damit wird es bei den neun Landeszentralbanken bleiben, wie es der ursprüngliche Regierungsentwurf vorgesehen hatte.
Das Ziel dieses Gesetzes, eine Straffung der Bundesbankorganisation und gleichzeitig eine Reduzierung der Verwaltungskosten, wird auch durch den Vorschlag des Vermittlungsausschusses erreicht.
Eine eigenständige Landeszentralbank in Hessen - so könnte man jetzt einwenden - ist zwar von der Einwohnerzahl des Landes her gesehen nicht gerechtfertigt; aber von dem Geschäftsanteil, der in diesem Bundesland auftritt, ist es durchaus gerechtfertigt, hierfür eine eigene Landeszentralbank vorzusehen. Die Konzentration des Finanzwesens im Rhein-MainGebiet wird den Mengenanteil bei der hessischen Landeszentralbank so hoch bringen, daß eine eigenständige Landeszentralbank gerechtfertigt ist.
Auch wenn das Ergebnis dieser Beratungen letztlich als gut zu bezeichnen ist und dieses Ergebnis letztlich auch deswegen gut ist, weil unser Parlamentarischer Staatssekretär Grünewald einen unschätzbar guten Einfluß auf den Verlauf dieser Gesetzesberatungen genommen hat, wofür wir ihm danken sollten,
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möchte ich doch ausdrücklich festhalten: Angesichts der vielen Probleme, die wir im wiedervereinigten Deutschland zu lösen haben, können wir es uns nicht erlauben, bei jeder organisatorischen Frage - denn um nichts anderes handelt es sich bei dem Bundesbankgesetz: nur um eine organisatorische Frage -, jedesmal mit einem so hohen Aufwand Beratungen durchzuführen: in den Bundestagsausschüssen, im Bundesrat und im Vermittlungsausschuß.
Herr Kollege Uldall, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt noch den Kollegen Uldall anzuhören. Danach gibt es zwei weitere Wortmeldungen. Dann kommen wir zur Abstimmung. Wenn Sie im Saal bleiben, dann senken Sie doch wenigstens bei den kollegialen Unterhaltungen ein wenig die Stimme. Es ist hier fast unmöglich, den Redner zu hören. - Sie hätten aber auch noch zehn Minuten Zeit, vor den Saal zu gehen.
Herr Kollege, bitten fahren Sie fort.
Herr Präsident, die Vorstellung des Bundesrates, für jedes der 16 Bundesländer eine eigene Landeszentralbank einzurichten, wäre nur dann gerechtfertigt gewesen, wenn es eine landesbezogene Geld- oder Währungspolitik gäbe. Diese Funktionen liegen aber nicht bei den Ländern, sondern beim Zentralstaat. Deswegen müssen diese Aufgaben von der Zentralbank des Bundes wahrgenommen werden.
Die Entwicklung der kommenden Jahre wird sogar zeigen, daß man eine Geld- und Währungspolitik nicht einmal mehr im nationalen, sondern nur in einem europäischen Rahmen ausfüllen kann. Deswegen wäre es falsch, die untere Ebene der Bankgliederung zu stärken.
Mit einer Änderung der föderativen Struktur in Deutschland hat dieser Gesetzentwurf überhaupt nichts zu tun. Ich füge ausdrücklich hinzu: Es bleibt bei den heutigen Länderstrukturen, und es bleibt auch bei dem Land Bremen.
Im Bundesrat wurden zwar Stimmen laut: Schützt den Föderalismus! Aber in Wirklichkeit meinten diese Stimmen: Schützt unsere schönen Jobs bei den LZBen.
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Das Gerangel in Saarbrücken und in Bremen um die kurzfristige Besetzung von Präsidentenstellen, deren Abschaffung längst vorgesehen war, war geradezu ein Trauerspiel.
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Das Bundesbankgesetz vollzieht auf einem wichtigen Gebiet die Auflagen des Einigungsvertrags. Unsere Fraktion weist den Einspruch des Bundesrats zurück.
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Als nächstem erteile ich dem Abgeordneten Dr. Peter Struck das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD ist eine Partei des Föderalismus, wie jedermann in diesem Hause weiß.
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Die SPD nimmt den Bundesrat außerordentlich ernst. Wir sind leider im Vermittlungsausschuß in gewohnt brutaler Weise von der Mehrheit des Vermittlungsausschusses niedergestimmt worden.
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Deshalb erkläre ich hier, daß wir natürlich im Interesse des Bundesrates handeln wollen und dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion die rote Karte zeigen und mit Nein stimmen.
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Frau Kollegin Dr. Barbara Höll, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste hat dieses Gesetz aus inhaltlichen Gründen abgelehnt. Sie hat auch seiner modifizierten Fassung nicht zugestimmt, da wir von dem von uns vertretenen Grundsatz „Ein Bundesland, eine Landeszentralbank" nicht
abgerückt sind. Wir treten auch weiterhin für eine föderative Bankstruktur ein und lehnen das NeunBanken-Modell ab.
Hiermit werden Länder erster, zweiter und dritter Klasse geschaffen. Niemand, nicht wir und auch nicht die Bundesländer, die ja einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht hatten, bestreitet, daß die Geldpolitik eine zentralstaatliche Aufgabe ist. Niemand verlangte z. B. regional unterschiedliche Diskontsätze oder träumte gar von einer Wiederbelebung eigener Landeswährungen. Aber die Geldpolitik der Bundesbank berührt die regional-wirtschaftlichen Interessen der Bundesländer unmittelbar.
Deshalb müssen die Bundesländer, und zwar alle, sofern sie nicht freiwillig mit einem anderen Bundesland kooperieren, sich und ihre Interessen unmittelbar in die Entscheidungsprozesse der Bundesbank einbringen können.
Die Bundesländer hatten mit ihrem Vorschlag übrigens sehr klar deutlich gemacht, daß sie zu Kompromissen bereit sind. Abgesehen vom Inhalt des Gesetzes ist natürlich sehr interessant, inwieweit dem Bundesrat ein Mitentscheidungsrecht überhaupt zugesprochen wird.
Der Bundesrat hatte am 5. Juni nicht nur den Gesetzentwurf der Bundesregierung abgelehnt, sondern auch seine Auffassung wiederholt, daß dieses Gesetz sehr wohl seiner Zustimmung bedarf. In einer uns vorliegenden Unterrichtung durch den Bundesrat wurde die Zustimmungsbedürftigkeit damit begründet, daß die nach Landesrecht zur Unterbreitung eines Vorschlags für die Berufung eines Landeszentralbankpräsidenten zuständigen Stellen in den Fällen, in denen dieser Präsident einer Behörde vorstehen soll, die für das Gebiet mehrerer Länder zuständig ist, verpflichtet - ich wiederhole: verpflichtet - sind, zu einem gemeinsamen Vorschlag zu kommen. Sie haben sich also auf einen Vorschlag zu einigen.
Darin sieht der Bundesrat wohl zu Recht eine Bestimmung über das Verwaltungsverfahren, da nunmehr durch Bundesgesetz bestimmt werden soll, daß und wie einige Länder zu einem Vorschlag an den Bundesrat kommen.
Die PDS/Linke Liste folgt dieser Argumentation des Bundesrats. Ich vermag nicht einzusehen, warum die Bundesregierung diese Einwände schlicht und ergreifend ignoriert. Diese Änderung des Bundesbankgesetzes führt natürlich zu einer Neuregelung eines Verwaltungsverfahrens.
Die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses ist nun nichts anderes als eine weitere Variante der Politik der dröhnenden Stärke. Die Bundesregierung setzte gegenüber dem Bundesrat voll auf Konfrontationskurs, und die CDU/CSU und die F.D.P. schließen sich dem heute an.
Vorbei sind damit wohl die Zeiten, in denen der Bundesfinanzminister mit einer Mischung aus Drohungen und Leimruten die Phalanx der Bundesländer aufbrach, um sein Steueränderungsgesetz 1992, versehen mit bundesratlichen Weihen, über die Bühne zu bringen. Das Tauwetter, das so manchem Bundesratsmitglied die idealen klimatischen Bedingungen
bescherte, um zu staatsmännischer Größe heranzureifen, hat nicht gehalten, was es versprach. Man könnte z. B. fragen: Wo ist Herr Minister Kühbacher jetzt?
Die PDS/Linke Liste ist wie der Bundesrat der Überzeugung, daß diese Änderung des Bundesbankgesetzes zustimmungsbedürftig ist.
Wir werden den Einspruch des Bundesrats gegen diese Änderung des Bundesbankgesetzes nicht zurückweisen, sondern diesem Antrag -
Einen Moment, Frau Kollegin. - Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, doch wenigstens die letzte Minute vor der Abstimmung dem zuzuhören, was die Kollegin Höll zu sagen hat.
Es ist mir eine besondere Freude.
Wir werden also diesen Vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. ablehnen. Wir erwarten von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen, die diesen Antrag heute beschließen werden, allerdings, daß sie sich ein Argument aus der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrats zu Herzen nehmen und sich gegenüber dem Bundesrat ebenfalls kompromißbereit zeigen.
Wie wäre es, wenn die Bundesregierung ihrem hehren Anspruch auf schnelle und flexible Entscheidungsfindung entsprechen und ihren Regierungsapparat - ich meine es wörtlich - nicht nur am Wolfgangsee abspecken würde?
Der rumänische Geheimdienst, der angeblich die Namen sämtlicher Staatssekretäre und Staatssekretärinnen gekannt haben will - das kann man nicht überprüfen -, hat sich aufgelöst. In dieser Hinsicht könnte man diesem Beispiel folgen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrats gegen das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank - Drucksache 12/2799 -.
Nach Art. 77 Abs. 4 des Grundgesetzes ist für die Zurückweisung des Einspruchs die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages erforderlich; das sind 332 Stimmen.
Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung.
Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Es scheinen die Stimmen aller anwesenden Kolleginnen und Kollegen abgegeben zu sein. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgegeben.*) Wir setzen die Beratungen fort.
*) Seite 8002D
Vizepräsident Hans Klein
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 und 7 auf:
6. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht ({0})
- Drucksache 12/1608 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 12/2820 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin
Hans-Joachim Hacker
Dr. Bertold Reinartz
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/2821 - Berichterstattung:
Abgeordnete Hinrich Kuessner
Michael von Schmude
Dr. Wolfgang Weng ({3})
({4})
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({5})
zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsstaates
zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rehabilitierung und Entschädigung der Verfolgten des Stalinismus und des DDR-Regimes ({6}) - Gesetzliche Regelungen für die Opfer strafrechtlicher Verfolgung und Internierung
- Drucksachen 12/570, 12/1439, 12/2820 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Herta Däubler-Gmelin Jörg van Essen
Dr. Michael Luther
7. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen
- Drucksache 12/2169 - Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7})
- Drucksache 12/2670 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther Dr. Hans de With
({8})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache gegen 15.30 Uhr über einen Änderungsantrag der Fraktion der SPD namentlich abstimmen werden.
Ich eröffnet die Aussprache und erteile Dr. Bertold Reinartz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Gefühl der Genugtuung - auch im Sinne des Wortes - wird niemand haben, obwohl wir am Abschluß eines langwierigen Gesetzesvorhabens stehen. Zu sehr sind alle diejenigen, die mit diesem Gesetz zur Aufarbeitung kommunistischen Unrechts befaßt waren, befangen durch das Ausmaß von Unrecht und Willkür, die nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges durch die sowjetische Besatzungsmacht und die nachfolgende kommunistische SED-Diktatur begangen wurden.
Ein Jahr hat die Beratung dieses ersten SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes in Anspruch genommen. Das zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz wird in Kürze eingebracht und wird Regelungen zum Ausgleich von Verwaltungsunrecht einschließlich der menschenverachtenden und menschenvernichtenden Zwangsaussiedlungen und des großen Bereichs des beruflichen Unrechts vorsehen.
Daneben gilt es, im Zuge der Regelung der Kriegsfolgen zu einem abschließenden Gesetzesvorschlag zur Würdigung und zu finanziellen Hilfen für in den ehemaligen Reichsgebieten verschleppte Deutsche zu kommen, die unter entsetzlichsten Bedingungen ihrer Heimat beraubt, gefoltert, in Lagern und Haftanstalten umgebracht wurden oder umgekommen sind.
Deshalb wird das heute zu verabschiedende Gesetz auch erstes SED-Unrechtsbereinigungsgesetz heißen. In vielen Gesprächen mit Opfern, Angehörigen, Verbänden, Sachverständigen und Wissenschaftlern hat dieser Gesetzentwurf vielfältige Kritik erfahren, beginnend mit dem Titel des Gesetzes, der von „ SED-Unrechtsbereinigung " spricht. Es ist uns bewußt, daß niemand Unrecht bereinigen kann, so wenig, wie man Vergangenheit bewältigen kann. Aber bei aller Kritik: Es gibt keine andere Bezeichnung dieses Gesetzes, die nicht ebenfalls zu Recht Kritik hervorgerufen hätte.
So wenig wir also Genugtuung über das heute zu verabschiedende Gesetz empfinden können, so sehr besteht jedoch Übereinstimmung in dem Bewußtsein, daß wir mit diesem ersten Unrechtsbereinigungsgesetz ein wichtiges Stück auf dem gemeinsam in alten und neuen Bundesländern zu gehenden Weg der Aufarbeitung des staatlichen Unrechts in der DDR gegangen sind, und zwar in der Verantwortung vor dem gesamten deutschen Volk.
Für ein Viertel aller Deutschen folgte auf die nationalsozialistische die kommunistische Diktatur mit der für die betroffenen Menschen katastrophalen Folge, daß sie ein nur in Freiheit mögliches Lebensglück auf der Grundlage einer selbstverantworteten LebensplaDr. Bertold Reinartz
nung über mehr als 50 Jahre und damit über fast zwei Generationen hinweg nicht erleben konnten. Das Ausmaß des Unrechtsstaates und seine Durchdringung in persönliche und individuelle Lebensbereiche hinein ist in seiner Perfektion und Brutalität kaum nachvollziehbar.
Der Rechtsausschuß hat versucht, das Lebensschicksal von Opfern nachzuempfinden, um schließlich in der realen Einschätzung des ungeheuerlichen verbrecherischen Wirkens richtige gesetzgeberische Folgerungen treffen zu können.
Heute wissen wir: Wir haben uns nicht nur hinsichtlich des Ausmaßes der Verwüstungen getäuscht, Verwüstungen, die 40 Jahre SED-Sozialismus hinterlassen haben. Wir haben nicht für möglich gehalten, daß dieser Teil Deutschlands so in seinen Lebensgrundlagen ausgebeutet und zerstört worden war. Wir haben aber vor allem nicht das Ausmaß der Skrupellosigkeit des SED-Regimes gekannt, mit der die Seelen der Menschen durch Mord und Terror, durch Unrechtsjustiz, durch Folter, durch mörderischen Freiheitsentzug und durch millionenfache Bespitzelung vergiftet werden sollten.
Das Ausmaß des Unrechts, die verheerenden Folgen für den einzelnen, für Familie, für Freunde und Gleichgesinnte, dies wird sich weder durch das heute zu beschließende erste SED -Unrechtsbereinigungsgesetz noch durch Folgegesetze beseitigen lassen. Dieses Unrecht hat sich in die Seelen der Menschen eingegraben; wir können allenfalls Folgen erträglicher machen. Die größte heilende Wirkung für alle, die von diesem mehr als 40jährigen staatlichen Unrecht betroffen waren, geht vom Untergang dieses Unrechtssystems aus.
({0})
Dies ist der wahre Triumph, den nicht alle erleben konnten. Jeder aber, der dies erlebt hat, kann dies als ein Stück eigenen Erfolges, seines persönlichen Widerstandes und seines mutigen Handelns empfinden.
Herr Kollege Reinartz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Gern.
Herr Kollege, Sie sprechen von den unmenschlichen Foltern usw., was in der ehemaligen DDR alles stattgefunden haben soll. Können Sie mir vielleicht eine Auskunft darüber geben, wie viele Prozesse bereits stattgefunden haben bzw. wie viele Anklagen wegen Folter erhoben worden sind?
Sie können dies am besten erkennen, indem Sie die Haftanstalten der ehemaligen DDR aufsuchen und sich dort mit den Leuten, die da ihren Dienst versehen haben und heute in dem Gebiet der ehemaligen DDR leben, unterhalten. Unterhalten Sie sich mit Opfern, unterhalten Sie
sich mit den Betroffenen. Dann werden Sie darüber am besten Aufschluß bekommen.
({0})
Erlauben Sie eine weitere Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Seifert?
Nein, vielen Dank, ich möchte jetzt weiterkommen.
({0})
Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens hat der Gesetzentwurf eine Vielzahl von Änderungen erfahren. Der Rechtsausschuß hat sich lange und intensiv mit dem Phänomen auseinandergesetzt, daß eine Vielzahl von Unrechtsurteilen nicht ohne weiteres als solche zu erkennen ist. Deshalb können die in § 1 des Rehabilitierungsgesetzes aufgenommenen Straftatbestände lediglich Regelstraftatbestände sein. Verurteilungen sind nunmehr im Rahmen eines einheitlichen rechtsstaatlichen Verfahrens auf den tatsächlichen Unrechtsgehalt des Strafjustizaktes zu überprüfen und gegebenenfalls für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben.
Im Einzelfall ist denkbar, daß eine Verurteilung nach einem der in den Regelkatalog aufgenommenen Straftatbestände auch mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar ist, während sich eine Verurteilung nach einer anderen, nicht in den Regelkatalog aufgenommenen Strafnorm als Akt der Unrechtsstrafjustiz herausstellen kann. Aus diesem Grund ist für die Aufhebung einer rechtsstaatswidrigen Entscheidung wesentliches Tatbestandsmerkmal, daß sie mit wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar ist.
Der Rechtsausschuß hat sich für die Aufnahme von Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung und gegen die Aufnahme der Fahnenflucht als Regeltatbestand entschieden, obgleich gerade hier nicht jede Verurteilung wegen Wehrdienstentziehung oder -verweigerung als rechtsstaatswidrige Entscheidung zu qualifizieren sein wird, während eine Verurteilung wegen Fahnenflucht durchaus die Beurteilung als grob rechtsstaatswidrige Entscheidung finden kann. Dies muß dem Einzelverfahren und der richterlichen Beurteilung überlassen sein, wobei der richterlichen Bewertung der erforderliche, aber auch genügende Beurteilungsspielraum eingeräumt ist.
Gegenstand der Diskussion war auch die Aufnahme der Tatbestände Hochverrat, Spionage und anderer vergleichbarer Tatbestände, soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland oder einen mit ihr verbündeten Staat oder für eine Organisation begangen worden sind, die der freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung verpflichtet ist. Hier war abzuwägen zwischen Maßnahmen der Organe der DDR, soweit sie mit rechtsstaatlich noch vertretbaren Mitteln erfolgten, und einem Handeln von Menschen, die sich verpflichtet fühlten, das unmenschliche Unrechtssystem der DDR, das Millionen Menschen in Unfreiheit hielt, in seiner Unrechtsentfaltung zu beeinträchtigen. Durch Aufnahme dieser Straftatbestände in den
Regelkatalog haben wir dem Ringen für Rechtsstaat und Freiheit den Vorrang eingeräumt.
Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich bei der Entschädigung und ihrer Ausgestaltung in Einzelbestimmungen sowie bei der Hinterbliebenenversorgung. Die Höhe der Kapitalentschädigung ist mit 450 DM monatlich für diejenigen, die bis zum 9. November 1989 ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten, und mit 300 DM für diejenigen, die das Beitrittsgebiet vorher verlassen konnten, und zwar je angefangenen Haftmonat, hinter den Vorstellungen insbesondere der Opferverbände zurückgeblieben.
Die Höhe der Kapitalentschädigung orientiert sich am Bundesentschädigungsgesetz, das in § 45 die Kapitalentschädigung mit dem Inkrafttreten im Jahre 1953 auf 150 DM je Monat der Freiheitsentziehung festgelegt hatte. Der zwischenzeitlich eingetretenen Geldentwertung ist durch die Erhöhung von 150 DM auf 300 DM als Grundbetrag Rechnung getragen worden.
Ich will nicht verschweigen, daß mir die unterschiedliche Entschädigungshöhe, anknüpfend an den Wohnsitz zum 9. November 1989, Schwierigkeiten bereitet. Sie berücksichtigt nicht in angemessener Weise, daß die Haftzeiten gerade derjenigen, die in den 50er und 60er Jahren in den Haftanstalten der DDR um ihr Überleben kämpften, häufig sehr viel länger waren und unter noch unmenschlicheren Bedingungen als zu einem späteren Zeitpunkt stattfanden.
Denjenigen, denen es nach langen Haftzeiten gelungen war, lebend wenn auch an Körper und Seele häufig gebrochen - diese Haftanstalten zu verlassen, war vielfach der Weg zu einem neuen, unbelasteten Lebensabschnitt verschlossen. Zu schwer und zu tief wirkten die Grausamkeit der Haft und ihre zerstörerischen Folgen für den unmittelbar Betroffenen, aber auch für seine Angehörigen fort. Es gelang eben häufig nicht mit der Übersiedlung in die Bundesrepublik, sei es durch Freikauf, Flucht oder Ausweisung, ein neues Leben in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand aufzubauen. Zu stark wirkten nach die Erlebnisse der unmenschlichen Haft.
Die große Lebensleistung der Opfer besteht in der Überwindung dieser grausamen Haftbedingungen. Anstrengungen und Mühen um günstige Bedingungen und Chancen, die eine Wohlstandsgesellschaft auf der Grundlage des Leistungsprinzips eröffnet, waren für viele dieser leidvoll geprüften Menschen nicht von Erfolg gekrönt. Sie werden jetzt, um eine Gleichstellung auch mit den am 9. November 1989 im Beitrittsgebiet wohnenden Menschen zu erreichen, auf die Härteregelung des § 19 verwiesen. Eine Verbesserung gegenüber dem ursprünglichen Entwurf sieht hier allerdings die ergänzende Regelung des § 18 vor, die, anknüpfend an die Beeinträchtigung der eigenen wirtschaftlichen Lage, einen Anspruch auf Unterstützungsleistungen gegenüber der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge begründet. Diese Regelung knüpft nicht an die Verweildauer in den Haftanstalten an und läßt insofern der Stiftung genügend Raum für die Beurteilung nach individuellen Maßstäben der persönlichen Beeinträchtigung.
Im Rahmen der aufzustellenden Richtlinien finden auch die persönlichen Auswirkungen und Folgen der erlittenen Haft auf das Opfer selbst und auf Angehörige Berücksichtigung. Hier gilt es, die Stiftung mit ausreichender Finanzkraft auszustatten, wobei ich es als richtiges Ziel bewerte, wenn hierfür das Vermögen der ehemaligen Blockparteien eingesetzt werden kann.
({1})
Die Entschädigung von 450 DM bzw. 300 DM je Kalendermonat zuzüglich der in § 19 vorgesehenen Härteregelung, die eine Anhebung auch für diese Betroffenen auf 450 DM je Haftmonat ermöglicht, steht zwangsläufig im Vergleich zu der seit 1987 geltenden Entschädigung von 600 DM je Monat für in der Bundesrepublik zu Unrecht verbüßte Haftzeiten. Die Stiftungsregelung ermöglicht bei wirtschaftlicher Bedürftigkeit neben der monatlichen Entschädigung von 450 DM eine weitere Unterstützungsleistung von bis zu 8000 DM jährlich.
Die Unterstützungsleistung knüpft nicht an die Dauer der Haftzeit an. Für ein Jahr berechnet, bedeutet eine Gegenüberstellung der Haftentschädigung für zu Unrecht verbüßte Freiheitsstrafe in der Bundesrepublik einen Entschädigungsanspruch von 7 200 DM und für in der DDR zu Unrecht verbüßte Haft einen Anspruch von bis zu 13 400 DM jährlich mit der weiteren Möglichkeit, die Unterstützungsleistung von bis zu 8 000 DM auch für Folgejahre beanspruchen zu können.
Uns erschien die Anknüpfung an die jeweilige wirtschaftliche Lage des Betroffenen in dieser Weise angemessen und richtig, weil sie im Ergebnis dazu führt, daß derjenige, der sich in wirtschaftlich schwieriger Lage befindet, eine nicht unerhebliche Besserstellung erfährt. Demgegenüber erschien uns eine geringere Entschädigung für diejenigen, die sich nicht in wirtschaftlicher Notlage befinden, vertretbar.
Wir wissen, daß eine angemessene Entschädigung und damit ein Ausgleich in Geld für das erlittene Unrecht - in welcher Höhe auch immer - nicht zu finden ist. Kein Geldausgleich kann erlittenen Freiheitsentzug unter DDR-Bedingungen unmenschlichster Art ausgleichen. Das geeinte Deutschland wird für Entschädigungsleistungen nach diesem Unrechtsbereinigungsgesetz ca. 1,6 Milliarden DM aufwenden. Jede Entschädigungshöhe in einer solchen Dimension löst zweifellos auch die Frage der Haushaltsgerechtigkeit aus. Es ist nicht zu verantworten, meine Damen und Herren, die Verschuldung unseres Staates zu Lasten künftiger Generationen zu erhöhen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident.
Noch ein Satz, bitte. Dr. Bertold Reinartz ({0}): Jawohl!
Diese Generation wird nicht mehr in der Lage sein, die Schuldenlast zu tilgen. Ich darf vielleicht darauf hinweisen, daß die Höhe der Entschädigung unter dem Blickwinkel vielfach - aber nicht ausreichend - gerügter Selbstbedienungsmentalität von Politikern von Hamburg bis Saarbrücken nur schwer zu vertreten sein wird. Die Versorgungsmentalität mancher Politiker steht zweifellos in krassem Widerspruch zu jeglicher Entschädigungshöhe.
Bitte, Herr Kollege, einen Satz. Sie sind jetzt schon eine Dreiviertelminute drüber.
Herr Präsident, diese Schieflage werden wir mit diesem Gesetz nicht beseitigen können.
Ich danke Ihnen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich gebe noch immer ein bißchen zu, bevor ich darauf hinweise, daß die Redezeit abgelaufen ist. Ist sie aber abgelaufen, dann erwarte ich von jedem, daß er in der Lage ist, einen zusammenfassenden Satz zu sprechen, und nicht noch einen Absatz aus seinem Manuskript vorträgt. Ich bitte also sehr herzlich, sich an die Redezeiten zu halten.
Jetzt nutze ich die Gelegenheit - damit sich die betroffenen Kollegen vorbereiten können -, auf folgendes hinzuweisen: Die beiden Gruppen haben je einen Redner mit zehn Minuten angemeldet. Das widerspricht dem, was wir bislang besprochen haben. Die großen Fraktionen sind nicht bereit, sozusagen eine optische Proporzverschiebung hinzunehmen, indem die Gruppen die Ihnen zustehende Redezeit in eine Runde legen. Deshalb teile ich Ihnen mit - wir wollen das nicht diskutieren -: Sie haben in einer Runde fünf Minuten Redezeit. Sie können einen weiteren Redner stellen oder ein zweites Mal an das Rednerpult gehen.
({0})
- Wir sind noch nicht so weit. Ich habe das nur vorsorglich gesagt, damit Sie sich darauf einstellen können, das eventuell mit den Kollegen zu besprechen. Ich möchte das nicht diskutieren, Herr Kollege.
Als nächstem erteile ich dem Kollegen HansJoachim Hacker das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag steht heute vor der Aufgabe, eine geschichtliche Verpflichtung einzulösen, die alle bisherigen Bundesregierungen und auch die letzte DDR-Volkskammer gegenüber den Opfern der kommunistischen Willkürherrschaft in der SBZ bzw. DDR eingegangen sind. Das Ergebnis der heutigen Abstimmung wird zeigen, ob sich dieser Bundestag - zumindest in seiner Mehrheit - dieser Herausforderung stellt und ihr gerecht wird.
Noch die letzte und in der Geschichte der ehemaligen DDR einzige legitimierte Volkskammer hatte mit
ihrem Rehabilitierungsgesetz vom 6. September 1990 beabsichtigt, die Opfer von Diktatur und Unterdrükkung zu rehabilitieren und ihnen eine gerechte materielle Entschädigung als Ausgleich für die Haft und die jahrelangen wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen zu gewähren. Der Einigungsvertrag hat dieses Gesetz nur zum Teil übernommen. Es blieb die Verpflichtung aus Art. 17 des Einigungsvertrages, daß der Gesetzgeber unverzüglich eine gesetzliche Grundlage für die Rehabilitierung und Entschädigung schafft.
Dieser Pflicht und entsprechenden parlamentarischen Initiativen der SPD-Bundestagsfraktion folgte die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf zu einem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Offen bleibt die durch die Bundesregierung noch nicht eingelöste Verpflichtung, Opfer des Verwaltungsunrechts - hier denke ich insbesondere an die Zwangsausgesiedelten - und Opfer der beruflichen Benachteiligung zu rehabilitieren. Daran erinnere ich heute ausdrücklich. Ich denke, daß die Worte von Herrn Reinartz im Bundesjustizministerium richtig ankommen werden.
Bis zur letzten Beratung im Rechtsausschuß ist darum gerungen worden, den Regierungsentwurf zum Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz zu verbessern. Dabei haben uns die Mitarbeiter aus den zuständigen Ministerien und dem Bundeskanzleramt sowie das Sekretariat des Rechtsausschusses tatkräftig unterstützt. An dieser Stelle unser herzlicher Dank.
({0})
Die Notwendigkeit umfassender Korrekturen am Gesetzentwurf hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfes im Deutschen Bundestag hervorgehoben. In der Anhörung des Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf am 19. März 1992 in Halle an der Saale sind Nachbesserungen von den Opferverbänden und von einzelnen Betroffenen eingefordert worden. Der Rechtsausschuß hat noch in Halle deutlich zu erkennen gegeben, daß er dazu bereit ist und nicht die Bundesregierung, sondern der Deutsche Bundestag über den Inhalt des Gesetzes entscheiden wird. Bei den Abstimmungen über die Ihnen vorliegenden Änderungsanträge der SPD-Fraktion wird sich zeigen, ob der Bundestag diesen Grundsatz sichert.
Wir alle sind uns darin einig, daß das in über vier Jahrzehnten entstandene Unrecht unter den politischen Verhältnissen in der SBZ und späteren DDR nicht mehr rückgängig zu machen ist. Es kann jetzt nur darum gehen, die Opfer moralisch zu rehabilitieren und ihnen einen Ausgleich für die schwerwiegenden materiellen Nachteile infolge der Inhaftierung zukommen zu lassen. Das bedeutet: Jetzt muß ein Stück Gerechtigkeit geschaffen werden.
Dem Anliegen der politisch-moralischen Rehabilitierung dient die Ehrenerklärung, die das Hohe Haus heute morgen verabschiedet hat. Es ist gut, daß diese Erklärung von allen Fraktionen und Gruppen getragen wird.
In den Berichterstattergesprächen und Ausschußberatungen sind die Ergebnisse der Anhörung in Halle umfassend erörtert worden. Im gegenseitigen Einvernehmen hat es nicht nur eine Reihe redaktioneller Änderungen gegeben, sondern es wurden auch maßgebliche inhaltliche Veränderungen erreicht, die den Interessen der Opfer dienen.
Ich erinnere insbesondere an die den Opferinteressen besser gerecht werdenden Regelungen der Unterstützungsleistungen in § 18 und an die Erleichterungen in der Nachweisführung über Gesundheitsschäden infolge der Haftbedingungen nach § 21 Abs. 5 des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes.
In meiner Eigenschaft als Berichterstatter im Rechtsausschuß möchte ich nachfolgend auf einige Regelungen und die ihnen zugrunde liegenden Zielsetzungen verweisen, die für die künftige Anwendung des Gesetzes von Bedeutung sind.
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte im Rechtsausschuß beantragt, in § 1 Abs. 1 des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes das Wort „insbesondere" zu streichen, weil wir der Auffassung sind, daß mit den genannten Rehabilitierungstatbeständen - a) weil „die Entscheidung politischer Verfolgung gedient hat" und b) weil „die angeordneten Rechtsfolgen in grobem Mißverhältnis zu der zugrunde liegenden Tat stehen" - der gewollte Anwendungsbereich des Gesetzes exakt erfaßt ist.
Da unserem Änderungsantrag sowohl seitens der Koalitionsfraktionen wie auch der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht gefolgt wurde, müssen wir darauf vertrauen, daß sich die Rehabilitierungssenate von der Zielsetzung des Gesetzgebers in ihren Entscheidungen leiten lassen und Fällen „gewöhnlicher" Kriminalität die Rehabilitierung versagen.
Ein Zweites: Mit dem Gesetz werden exemplarische Fälle rechtsstaatswidriger Strafverfahren, wie sie sich in den Waldheimer Prozessen darstellen, rehabilitiert. Ich verweise auf § 1 Abs. 2 des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes.
Ein Drittes: Bei weiter differierenden Auffassungen zur Frage der Vererblichkeit von Kapitalentschädigungen ist § 6 Abs. 1 Satz 3 des Entwurfes des strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes gestrichen worden. Damit sind Geldstrafen, Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen eines DDR-Strafverfahrens im Falle der Rehabilitierung generell erstattungsfähig.
Ein weiterer Punkt: Eine entsprechende Anregung der SPD-Fraktion hat auch dazu geführt, daß die Vererblichkeitsregelung - bei aller Problematik, die bleibt - in § 17 Abs. 3 des Gesetzes unter Bezugnahme auf das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer im Sinne der Angehörigen der Opfer geändert wurde.
Enttäuscht werden diejenigen Opfer sein, die im Zuge der Kriegshandlungen bzw. danach in den ehemaligen deutschen Ostgebieten interniert und deportiert worden sind. Sie wurden unmenschlichen Demütigungen unterworfen und waren bis zur politischen Wende in der DDR zur Sprachlosigkeit, zum Schweigen verurteilt. Ich weiß, sie werden es nicht verstehen, wenn der Deutsche Bundestag unter Hinweis auf rechtssystematische Erwägungen ihre Einbeziehung in das Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz verneint. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Berichterstatter verständigen konnten, war und ist, daß die Ansprüche dieser Opfer im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz geregelt werden sollen. Das darf keine leere Versprechung bleiben.
Die Bundesregierung ist gefordert, dem unbestrittenen Anspruch dieser Opfer mit einem entsprechenden Vorschlag für eine gesetzliche Regelung zu folgen. Ich appelliere in diesem Zusammenhang an Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, eine derartige Regelung mit den Sozialdemokraten gemeinsam einzufordern.
Ich fordere die Bundesregierung auch auf, der vom Rechtsausschuß einstimmig gefaßten Empfehlung zu folgen und in die Richtlinien für die Stiftung ehemaliger politischer Häftlinge Leistungen für Hinterbliebene von Hingerichteten und im Gewahrsam eines unnatürlichen Todes Gestorbener aufzunehmen.
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt in der zweiten Lesung drei Änderungsanträge zur Abstimmung, mit denen unerträgliche Defizite des nach Abschluß der Ausschußberatungen im Plenum zugeleiteten Gesetzes korrigiert werden sollen. Sie betreffen zum ersten die angesprochene Vererblichkeitsregelung, zum zweiten die Kostenteilung zwischen dem Bund und den Ländern und zum dritten - das ist nach unserer Auffassung das Wichtigste - die Höhe der monatlichen Haftentschädigung.
Wegen der gravierenden Bedeutung der Höhe der Entschädigungsleistung fordert meine Fraktion die namentliche Abstimmung.
In den Berichterstattergesprächen und Ausschußberatungen haben wir um Verbesserungen des Gesetzentwurfes in diesen Punkten gerungen. Das Bemühen, zu Verbesserungen zu kommen, spreche ich den Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der CDU/CSU nicht ab. Am Ende zählt jedoch das Ergebnis. Und das Ergebnis ist blamabel.
Ich erspare mir detaillierte Ausführungen zu dem Berechnungsmodus und zu vergleichenden Betrachtungen, weil sich mein Kollege Rolf Schwanitz ausführlich mit dieser Thematik befassen wird. Nur soviel sei gesagt: Wie kann es angehen, daß der Wille des Deutschen Bundestages, also des Gesetzgebers, in diesen so wichtigen Fragen nicht durch die mehrheitlichen Auffassungen in den Fraktionen, sondern vom Votum des Bundeskanzlers und des Bundesfinanzministers bestimmt wird?
({1})
Beide, der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister, haben Verbesserungen bei der Kapitalentschädigung abgelehnt. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich unterworfen, und bei der F.D.P.-Fraktion - Herr van Essen, es tut mir leid, das so sagen zu müssen - waren in den Berichterstattergesprächen in diesem Punkt selbst Bemühungen kaum erkennbar.
Sehr geehrte Damen und Herren, im Namen der SPD-Fraktion bitte ich Sie im Interesse der Opfer, aber
auch im Interesse Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, den Änderungsanträgen meiner Fraktion zuzustimmen. Ich richte diesen Appell insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen, die aus den Ländern Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern kommen.
Ich bin sicher, daß nicht wenige Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion, aber auch aus der F.D.P.-Fraktion mit den Sozialdemokraten in dieser Auffassung übereinstimmen. Wie sonst ist die Erklärung der Leipziger Bundestagsabgeordneten zu verstehen - es haben ja auch CDU-Abgeordnete mit unterschrieben -, in der bezüglich der Frage der Haftentschädigung ein Mindestbetrag von 20 DM pro Hafttag gefordert wird?
Sichern Sie durch Ihre Zustimmung zu den Änderungsanträgen meiner Fraktion, daß auch wir Sozialdemokraten dem Gesetz zustimmen können. Ein Gesetz ohne Berücksichtigung unserer Änderungsanträge würde dem geschichtlichen Auftrag, den das Hohe Haus heute zu erfüllen hat, nicht gerecht,
({2})
so daß die SPD-Bundestagsfraktion ihre Zustimmung zu dem Gesetz versagen müßte.
Vielen Dank.
({3})
Als nächstem erteile ich dem Abgeordneten Jörg van Essen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute zu verabschiedende Gesetz berührt mich besonders. Meine Familie hatte keine Verwandten oder Bekannten in der ehemaligen DDR. So waren für mich alle Berichte über die Zustände dort theoretisch, ohne persönlichen Erfahrungshintergrund. Das änderte sich schlagartig, als ich als Staatsanwalt Anfang der 80er Jahre mehrfach freigekaufte Häftlinge zu vernehmen hatte, die von völlig unmenschlichen Haftbedingungen etwa in Bautzen und den Schikanen von linientreuem Personal berichteten.
Seitdem kenne ich das, was Haft, was politische Verfolgung in der ehemaligen DDR bedeutete, besser und habe hohen Respekt vor allen Menschen, die darunter gelitten haben.
({0})
Ich habe deshalb bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzes namens der F.D.P.-Bundestagsfraktion den Opfern meinen Dank und meine Anerkennung ausgesprochen.
Es freut mich sehr, daß wir gerade heute, am 17. Juni, eine Ehrenerklärung des ganzen Hauses verabschieden können. Die Opfer haben diese demonstrative Geste in besonderer Weise verdient. Es ist nämlich unendlich leichter, sich in einer Diktatur anzupassen, sich dort einzurichten, mitzuschwimmen, als Widerstand zu leisten, mit all seinen persönlichen und beruflichen Konsequenzen.
Mit diesem Gesetz will der Deutsche Bundestag seinen besonderen Respekt gegenüber denjenigen zum Ausdruck bringen, die über die Wahrnehmung eigener Interessen hinaus aus einer festgefügten politischen Überzeugung das SED-Unrechtsregime aktiv bekämpft haben. Sie wollten eine Humanisierung der Verhältnisse in ihrer Heimat, und sie wollten die Menschenrechte für sich und andere. Ihr Kampf mit friedlichen Mitteln war gegen solche Kräfte in ihrer Heimat gerichtet, die gegen die Menschlichkeit verstoßen haben oder solchen Verstößen Vorschub leisteten. Dabei weisen Motive und Ziele des antikommunistischen Widerstands in Mitteldeutschland enge Parallelen zum antinazistischen Widerstand in den Jahren bis 1945 auf.
({1})
Diejenigen, die diesen Kampf gegen die brutale SED-Diktatur aufnahmen, waren sich des hohen Risikos und der damit verbundenen großen Opfer bewußt. Trotzdem handelten sie unter Einsatz ihres Lebens, ihrer Freiheit und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Existenz. Die rechtsstaatswidrigen Urteile gegen sie sahen die Todesstrafe, Zuchthaus oder Gefängnis auf Lebenszeit oder für die Dauer von 5 bis 15 Jahren, Einziehung des Vermögens, Berufsverbote, Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen und andere Schikanen vor.
Wer sich dem SED-Regime entgegenstellte, wurde zum Verbrecher gestempelt und lange Zeit geächtet. Diese Ächtung mußte auch die Familie - die Frau im Beruf, die Kinder in Schule und Ausbildung - erfahren. Meistens wurden die Kinder am Besuch weiterführender Schulen oder an einer qualifizierten Berufsausbildung gehindert. So mußten auch sie für ihre Väter und Mütter büßen.
Wir haben uns in sorgfältigen Beratungen um Verbesserungen bemüht. Ich danke allen, die durch sachliche Argumente, z. B. bei der Anhörung in Halle, unser Problembewußtsein geschärft haben. Einige Änderungen, die mir besonders wichtig sind, möchte ich hervorheben.
Wir haben in den Regelkatalog der Verurteilungen, die aufzuheben sind, die Vorschriften der Wehrdienstentziehung und der Wehrdienstverweigerung aufgenommen. Gerade für mich als jemand, der sich aktiv zu den Streitkräften dieses demokratischen Staates, der Bundeswehr, bekennt, gehört das Grundrecht auf Verweigerung des Kriegsdienstes zu den existentiellen Rechten in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Die Möglichkeit, als Bausoldat in der NVA zu dienen, war dafür keine zu respektierende Ersatzlösung.
({2})
Die Fraktion der F.D.P. hat sich besonders dafür eingesetzt - die anderen Fraktionen haben das dankenswerterweise mitgetragen -, auch die Personen voll in die Bestimmungen des Gesetzes einzubeziehen und zu rehabilitieren, die ihren politischen Widerstand gegen das SED-Regime durch die Zusammenarbeit mit Dienststellen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bündnispartner oder mit einer ihren
demokratischen Zielen verpflichteten Organisation zum Ausdruck gebracht haben. Wir konnten hier die zeitgeschichtlichen Erkenntnisse nicht unbeachtet lassen. Diese Menschen handelten ganz überwiegend aus ideellen Motiven. Sie wandten sich an die Ostbüros von CDU, von SPD und von F.D.P., an den Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen, an die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit und an das Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen.
Sie waren zu Handlungen bereit, mit denen sie verfassungsmäßige politische Grundrechte wahrnahmen. Sie waren auch bereit, Nachrichten zu übermitteln, die für jedermann zugänglich waren oder, wenn sie nur auf besondere Weise zu erlangen waren, deren Weitergabe in einem demokratischen Rechtsstaat nicht verfolgt wurde. Zum Teil waren sie auch bereit, aus ihrer festgefügten Gegnerschaft zum SED-Regime Handlungen zu begehen, die gegen die Strafgesetze der DDR verstießen und bei denen sie mit Strafe rechnen mußten.
Sie handelten dabei aber auch in der festen Überzeugung, daß ihnen der Verstoß gegen Strafgesetze des Unrechtsstaates später niemals einen Strafmakel durch den von ihnen herbeigesehnten Rechtsstaat einbringen könnte. Sie hatten sich ganz überwiegend denselben Zielen verschrieben, die nach den Vorschriften dieses Gesetzes zur Rehabilitierung führen sollen.
So erfreulich die Änderungen in diesem Bereich sind, so wenig werden die Betroffenen mit den finanziellen Regelungen einverstanden sein. Hier stimme ich dem Kollegen Hacker zu. Sie haben gute Argumente, auf die ich bereits in der ersten Lesung hingewiesen habe. Eines möchte ich jedoch erneut hervorheben: die unglaublichen Haftbedingungen, die sie zu erleiden hatten.
({3})
Aber der, der in der Regierung steht, hat es schwerer als die Opposition, als SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Da hilft die Anwendung des Sankt-Florians-Prinzips, der Hinweis auf die Bundesrepublik als besonders reiches Land, nicht. Ich habe von niemandem, der weit höhere Entschädigungsbeträge gefordert hat - ich hätte sie auch begrüßt, Herr Hacker -, seriöse Sparvorschläge für andere Bereiche gehört.
Die Bundesrepublik hat immense Leistungen für die neuen Länder erbracht - wir haben es gerade in der Debatte heute morgen wieder gehört - und wird dies fortsetzen, um eine bessere Zukunft in den neuen Bundesländern zu gestalten. Dies ist bereits jetzt mit der Aufnahme hoher Schulden verbunden.
Nach den politisch Verfolgten erwartet eine Fülle von anderen Interessengruppen - ich nenne beispielhaft die beruflich Benachteiligten und die in die Sowjetunion Verschleppten - hohe finanzielle Leistungen. Wir müssen uns der Verantwortung für die zukünftigen Generationen bewußt sein, die unsere Schulden ja einmal bezahlen müssen. In dieser geschichtlich einmaligen Situation der deutschen Wiedervereinigung können eben nicht alle Wünsche finanziell so befriedigt werden, wie es sicher gerecht wäre.
Trotzdem waren einige Verbesserungen möglich. Insbesondere die Stiftungslösung scheint mir ein guter Ansatz zu sein. Durch die Übertragung auf die bereits bestehende Stiftung für ehemalige politische Häftlinge werden keine neuen bürokratischen Strukturen geschaffen. Aber durch die von der Haftzeit unabhängige Unterstützungsleistung ist mehr soziale Gerechtigkeit möglich, zumal sie auch nicht unerheblich betroffenen nächsten Angehörigen gewährt werden kann.
({4})
Eine verbesserte Hinterbliebenenversorgung auch nach der Vollstreckung einer Todesstrafe haben wir in § 22 des Entwurfs vorgesehen. Auf meine Anregung hin machen wir in einer Entschließung zusätzlich deutlich, daß wir auch Unterstützungsleistungen für diese Hinterbliebenen begrüßen würden. Nun ist die Justiz gefordert, dieses Gesetz in schnelle Entscheidungen umzusetzen.
In nicht nur mittelbarem Zusammenhang mit dem Thema steht der zweite Aspekt dieser Debatte. Viele der Täter, Richter und Staatsanwälte, sind vor der deutschen Wiedervereinigung als Anwälte zugelassen oder als Notare bestellt worden. Das Beispiel eines besonders linientreuen Berliner DDR-Richters, der sich zum Rechtsanwalt wandelte und mit Millionenbeträgen flüchtete, wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf das Rechtsbewußtsein derer, die sich als Schild und Schwert eines Unrechtsstaates fühlten und entsprechend handelten. Dieser Gesetzentwurf zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen ist deshalb eine notwendige Grundlage, in den neuen Bundesländern das Vertrauen in die freien rechtsberatenden Berufe wiederherzustellen. Auch er findet die Unterstützung der F.D.P.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Heuer?
Herr Präsident, ich bin damit am Ende meiner Rede.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates gegen das Vierte Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank - Drucksachen 12/2785 und 12/2799 - bekanntgeben. Abgegebene Stimmen: 561, davon ungültig: keine; mit Ja haben 365 gestimmt, mit Nein haben 187 gestimmt. Bei 9 Enthaltungen ist der Antrag damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen und der Einspruch des Bundesrates zurückgewiesen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 564; davon
ja: 365
nein: 190
enthalten: 9
Ja
CDU/CSU
Adam, Ulrich
Dr. Ackermann, Else Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Austermann, Dietrich Bargfrede, Heinz-Günther
Vizepräsident Hans Klein
Dr. Bauer, Wolf Baumeister, Brigitte
Bayha, Richard Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert
Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert
Böhm ({0}), Wilfried Dr. Böhmer, Maria
Dr. Bötsch, Wolfgang
Bohl, Friedrich Bohlsen, Wilfried Borchert, Jochen Breuer, Paul Brudlewsky, Monika
Büttner ({1}), Hartmut
Buwitt, Dankward
Carstens ({2}), Manfred Carstensen ({3}),
Peter Harry
Clemens, Joachim
Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud
Deres, Karl
Deß, Albert
Diemers, Renate Dörflinger, Werner Echternach, Jürgen
Ehlers, Wolfgang Ehrbar, Udo Eichhorn, Maria Engelmann, Wolfgang Eppelmann, Rainer
Eylmann, Horst Eymer, Anke Falk, Ilse
Dr. Faltlhauser, Kurt
Dr. Fell, Karl
Fischer ({4}), Dirk Erik Fockenberg, Winfried Francke ({5}), Klaus Dr. Friedrich, Gerhard
Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim
Ganz ({6}), Johannes Geiger, Michaela
Geis, Norbert
Dr. von Geldern, Wolfgang Gerster ({7}), Johannes Gibtner, Horst
Glos, Michael
Dr. Göhner, Reinhard Göttsching, Martin
Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang
Gres, Joachim Grochtmann, Elisabeth Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Günther ({8}), Horst Frhr. von Hammerstein,
Carl-Detlev Harries, Klaus Haschke ({9}),
Gottfried
Haschke ({10}), Udo Hasselfeldt, Gerda
Haungs, Rainer
Hauser ({11}), Otto Hauser ({12}),
Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen (leise, Manfred
Dr. Hellwig, Renate
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, Ernst
Hintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf Hörster, Joachim
Dr. Hoffacker, Paul
Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried
Hüppe, Hubert Jäger, Claus
Jaffke, Susanne Jagoda, Bernhard Dr. Jahn ({13}),
Friedrich-Adolf Janovsky, Georg Jeltsch, Karin Dr.-Ing. Jork, Reiner
Dr. Jüttner, Egon
Jung ({14}), Michael Junghanns, Ulrich
Dr. Kahl, Harald Kalb, Bartholomäus Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar
Dr. Kappes, Franz-Hermann Karwatzki, Irmgard
Kauder, Volker Keller, Peter
Kiechle, Ignaz Kittelmann, Peter
Klein ({15}), Günter
Klein ({16}), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler ({17}),
Hans-Ulrich
Dr. Köhler ({18}),
Volkmar
Dr. Kohl, Helmut Kolbe, Manfred Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut Kossendey, Thomas
Kraus, Rudolf
Dr. Krause ({19}),
Rudolf Karl
Krause ({20}), Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kriedner, Arnulf
Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Eberhard Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert
Lamp, Helmut Johannes Lattmann, Herbert
Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl Josef
Lehne, Klaus-Heiner
Dr. Lehr, Ursula-Maria Lenzer, Christian
Dr. Lieberoth, Immo Limbach, Editha
Link ({21}), Walter Lintner, Eduard
Dr. Lippold ({22}),
Klaus W.
Dr. sc. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun
Lohmann ({23}),
Wolfgang
Louven, Julius Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael
Maaß ({24}), Erich Männle, Ursula
Magin, Theo
Dr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin
Dr. Mayer ({25}), Martin
Meckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf Horst
Dr. Merkel, Angela Dorothea Dr. Meseke, Hedda
Dr. Meyer zu Bentrup,
Reinhard
Michalk, Maria
Michels, Meinolf
Dr. Mildner, Klaus Gerhard Dr. Möller, Franz
Molnar, Thomas Dr. Müller, Günther
Müller ({26}), Elmar Müller ({27}),
Hans-Werner
Müller ({28}), Alfons Nelle, Engelbert
Dr. Neuling, Christian Nitsch, Johannes Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm
Oswald, Eduard Otto ({29}), Norbert Dr. Päselt, Gerhard
Dr. Paziorek, Peter Paul Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich
Pfeffermann, Gerhard O. Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika Dr. Pfennig, Gero
Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd Pützhofen, Dieter
Rahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, Hans
Rau, Rolf
Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm
Reddemann, Gerhard Regenspurger, Otto Dr. Reinartz, Berthold Reinhardt, Erika Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert
Dr. Riedl ({30}), Erich Riegert, Klaus
Dr. Riesenhuber, Heinz Ringkamp, Werner Rode ({31}), Helmut Rönsch ({32}),
Hannelore
Roitzsch ({33}), Ingrid Romer, Franz-Xaver
Dr. Rose, Klaus
Rossmanith, Kurt J. Roth ({34}), Adolf Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Rühe, Volker
Dr. Rüttgers, Jürgen Sauer ({35}), Helmut Sauer ({36}), Roland Scharrenbroich, Heribert Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schemken, Heinz Scheu, Gerhard
Schmalz, Ulrich
Schmidt ({37}), Christian Dr. Schmidt ({38}), Joachim
Schmidt ({39}), Andreas
Schmidt ({40}), Trudi Schmitz ({41}), Hans Peter
von Schmude, Michael
Dr. Schneider ({42}), Oscar
Dr. Schockenhoff, Andreas Graf von SchönburgGlauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,
Reinhard
Dr. Schreiber, Harald Schulhoff, Wolfgang Dr. Schulte ({43}), Dieter
Schulz ({44}), Gerhard Schwalbe, Clemens Schwarz, Stefan
Dr. Schwarz-Schilling, Christian
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst
Seesing, Heinrich
Seibel, Winfried
Seiters, Rudolf
Sikora, Jürgen
Skowron, Werner
Dr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, Bärbel Spilker, Karl-Heinz Spranger, Carl-Dieter
Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, Hans
Dr. Frhr. von Stetten,
Wolfgang
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Strube, Hans-Gerd Stübgen, Michael
Dr. Süssmuth, Rita Susset, Egon
Dr. Töpfer, Klaus
Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Uldall, Gunnar
Verhülsdonk, Roswitha Vogt ({45}), Wolfgang Dr. Voigt ({46}),
Hans-Peter
Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Waigel, Theodor
Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warnke, Jürgen
Dr. Warrikoff, Alexander Werner ({47}), Herbert Wetzel, Kersten
Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek ({48}), Bertram
Dr. Wilms, Dorothee Wilz, Bernd
Wimmer ({49}), Willy Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz Wittmann ({50}),
Simon
Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zöller, Wolfgang
F.D.P.
Albowitz, Ina
Dr. Babel, Gisela
Baum, Gerhart Rudolf Beckmann, Klaus
Bredehorn, Günther Cronenberg ({51}), Dieter-Julius
Eimer ({52}), Norbert Engelhard, Hans A.
Vizepräsident Hans Klein
van Essen, Jörg Dr. Feldmann, Olaf Friedhoff, Paul Friedrich, Horst Funke, Rainer
Dr. Funke-Schmitt-Rink,
Margret
Gallus, Georg Ganschow, Jörg Grünbeck, Josef Grüner, Martin
Günther ({53}), Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hackel, Heinz-Dieter
Hansen, Dirk
Dr. Haussmann, Helmut Heinrich, Ulrich
Dr. Hirsch, Burkhard
Dr. Hitschler, Walter
Dr. Hoth, Sigrid Dr. Hoyer, Werner Irmer, Ulrich
Kleinert ({54}), Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich Leonhard Koppelin, Jürgen
Kubicki, Wolfgang
Dr. Graf Lambsdorff, Otto Leutheusser-Schnarrenberger,
Sabine
Lüder, Wolfgang Lühr, Uwe
Dr. Menzel, Bruno Mischnick, Wolfgang
Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer
Otto ({55}),
Hans-Joachim Paintner, Johann Peters, Lisa
Richter ({56}), Manfred
Rind, Hermann Dr. Röhl, Klaus
Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt ({57}), Arno
Dr. Schmieder, Jürgen
Dr. Schnittler, Christoph Schüßler, Gerhard Schuster, Hans
Dr. Schwaetzer, Irmgard Sehn, Marita
Seiler-Albring, Ursula
Dr. Semper, Sigrid
Dr. Solms, Hermann Otto
Dr. Starnick, Jürgen
Dr. von Teichman, Cornelia Thiele, Carl-Ludwig
Dr. Thomae, Dieter Timm, Jürgen Türk, Jürgen
Walz, Ingrid
Dr. Weng ({58}), Wolfgang
Wolfgramm ({59}), Torsten
Würfel, Uta
Zurheide, Burkhard Zywietz, Werner
Nein
SPD
Adler, Brigitte
Andres, Gerd
Bachmaier, Hermann
Bartsch, Holger
Becker ({60}), Helmuth Becker-Inglau, Ingrid
Berger, Hans
Bernrath, Hans Gottfried Bindig, Rudolf
Blunck, Lieselott
Dr. Böhme ({61}), Ulrich Brandt-Elsweier, Anni Dr. Brecht, Eberhard
Dr. von Bülow, Andreas Büttner ({62}), Hans Bulmahn, Edelgard Burchardt, Ursula
Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion Catenhusen, Wolf-Michael Daubertshäuser, Klaus
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, Rudolf
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke ({63}), Horst Dr. Elmer, Konrad
Erler, Gernot
Ferner, Elke
Fischer ({64}), Lothar Formanski, Norbert
Fuchs ({65}), Anke Fuchs ({66}), Katrin Fuhrmann, Arne
Ganseforth, Monika Gansel, Norbert
Gilges, Konrad
Gleicke, Iris
Dr. Glotz, Peter
Großmann, Achim Haack ({67}), Karl-Hermann
Habermann, Frank-Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel
Dr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, Klaus Heyenn, Günther
Hiller ({68}), Reinhold Hilsberg, Stephan
Horn, Erwin
Ibrügger, Lothar
Iwersen, Gabriele Jäger, Renate
Janz, Ilse
Dr. Janzen, Ulrich Jaunich, Horst
Dr. Jens, Uwe
Jung ({69}), Volker Kastner, Susanne Klappert, Marianne Klemmer, Siegrun
Klose, Hans-Ulrich
Dr. sc. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf
Kolbe, Regina
Kolbow, Walter
Koltzsch, Rolf
Kubatschka, Horst Dr. Kübler, Klaus Dr. Küster, Uwe
Kuhlwein, Eckart Lambinus, Uwe
Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev
Dr. Leonhard-Schmid, Elke Dr. Lucyga, Christine Maaß ({70}), Dieter Marx, Dorle
Mascher, Ulrike
Matschie, Christoph Dr. Matterne, Dietmar Mattischeck, Heide Meißner, Herbert
Dr. Mertens ({71}),
Franz-Josef
Dr. Meyer ({72}), Jürgen
Mosdorf, Siegmar
Müller ({73}), Albrecht Müller ({74}), Christian Müntefering, Franz Neumann ({75}), Volker Neumann ({76}), Gerhard Dr. Niehuis, Edith
Dr. Niese, Rolf
Niggemeier, Horst Odendahl, Doris
Oostergetelo, Jan
Opel, Manfred
Ostertag, Adolf
Dr. Otto, Helga
Dr. Penner, Willfried Peter ({77}), Horst Pfuhl, Albert
Dr. Pick, Eckhart
Reimann, Manfred von Renesse, Margot Rennebach, Renate Reuter, Bernd
Rixe, Günter
Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter
Scheffler, Siegfried Willy Schily, Otto
Schloten, Dieter
Schluckebier, Günter Schmidt ({78}), Ursula Schmidt ({79}), Renate Schmidt ({80}), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen Schröter, Gisela
Schröter, Karl-Heinz Dr. Schuster, Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf
Seidenthal, Bodo
Seuster, Lisa
Sielaff, Horst
Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Soell, Hartmut
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Dr. Sperling, Dietrich Steiner, Heinz-Alfred Stiegler, Ludwig
Dr. Struck, Peter
Tappe, Joachim
Terborg, Margitta Dr. Thalheim, Gerald
Toetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried
Verheugen, Günter
Dr. Vogel, Hans-Jochen Voigt ({81}), Karsten D. Vosen, Josef
Wagner, Hans Georg Wallow, Hans
Waltemathe, Ernst Wartenberg ({82}), Gerd Weiermann, Wolfgang Weiler, Barbara
Weis ({83}), Reinhard Welt, Hans-Joachim
Dr. Wernitz, Axel
Wester, Hildegard
Westrich, Lydia
Dr. Wetzel, Margrit Weyel, Gudrun
Dr. Wieczorek, Norbert Wiefelspütz, Dieter Wimmer ({84}),
Hermann
Dr. de With, Hans Wohlleben, Verena Ingeburg Wolf, Hanna
Zapf, Uta
Dr. Zöpel, Christoph
PDS/LL
Bläss, Petra
Dr. Enkelmann, Dagmar
Dr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth
Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla
Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Philipp, Ingeborg
Dr. Schumann ({85}),
Fritz
Dr. Seifert, Ilja
Stachowa, Angela
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Poppe, Gerd
Schenk, Christina
Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß ({86}), Konrad Wollenberger, Vera
Fraktionslos
Dr. Briefs, Ulrich Henn, Bernd
Enthalten
SPD
Eich, Ludwig
Kirschner, Klaus
Leidinger, Robert Schmidbauer ({87}), Bernd
Weißgerber, Gunter Weisskirchen ({88}), Gert Wettig-Danielmeier, Inge
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schulz ({89}), Werner Fraktionslos
Lowack, Ortwin
Wir fahren jetzt in der Aussprache fort. Ich erteile dem Abgeordneten Professor Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundestag soll heute das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz verDr. Uwe-Jens Heuer
abschieden. Strafurteile der DDR-Justiz können nach dem noch geltenden DDR-Rehabilitierungsgesetz vom 6. September 1990 aufgehoben werden, wenn der Verurteilte verfolgt worden ist, weil er verfassungsmäßige politische Grundrechte wahrgenommen hat.
Ich habe dieses Gesetz in der Volkskammer der DDR unterstützt und seiner Verabschiedung zugestimmt, weil ich viele Strafurteile und andere staatliche Entscheidungen als verfassungswidrig ansah. In vielen Fällen sind Menschen auf verfassungswidrige Weise Rechte vorenthalten worden. Es ist notwendig, daß diese Menschen rehabilitiert werden und ihnen zugefügter Schaden wiedergutgemacht wird, soweit dies überhaupt möglich ist.
Ich halte es für sinnvoll, daß nunmehr das Verfahren der Rehabilitierung vereinfacht und beschleunigt wird, und für notwendig, die für die neuen Lebensverhältnisse unangemessen niedrigen Entschädigungsleistungen wesentlich zu erhöhen. Insofern unterstütze ich das Anliegen des Gesetzes.
Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung werde ich aber meine Zustimmung verweigern. Mit der Rehabilitierung der Opfer von ungerechten staatlichen Entscheidungen der DDR werden Intentionen verbunden, die einen ganz anderen Sinn haben.
An die Stelle der Verfassung der DDR treten als Maßstab für die Rehabilitierung wesentliche Grundsätze einer „freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung". Von der Verfassungsordnung der DDR ist überhaupt nicht mehr die Rede. Schon in der ersten Lesung habe ich mich dagegen gewandt.
Man scheute zwar davor zurück, offen und direkt das Grundgesetz als Maßstab für staatliches Handeln in der DDR zu benennen; aber genau darauf läuft im Ergebnis das Konstrukt der „freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung" hinaus. Indem aber die DDR an einem ihr fremden Maßstab gemessen wird, verliert sie nachträglich immer mehr ihren eigenen Staatscharakter und wird zum Nichtstaat, der sich erdreistet hat, als Staat gehandelt zu haben.
Wohlgemerkt: Es geht zum einen um das Handeln einzelner, das auch aus meiner heutigen Sicht legitim war und in verfassungswidriger Weise zu Unrecht verfolgt wurde. Insofern stehe ich hinter dem Anliegen des Gesetzes. Zum anderen aber wird der Staat DDR als solcher an einer nachträglich von den Siegern angelegten Meßlatte gemessen, um über ihn ein vernichtendes Urteil zu fällen, und dagegen wende ich mich ganz entschieden.
({0})
- Das wissen Sie doch.
({1})
Es geht nicht etwa darum zu bestreiten, daß das Grundgesetz wesentlich besser rechtsstaatliche Prinzipien verbürgt, als dies bei der DDR-Verfassung von 1968 und 1974 der Fall war. Das, worum es mir geht, ist die nachträgliche Verurteilung des Staates DDR im Namen von Rechts- und Verfassungsprinzipien, die in diesem Staat keine Geltung hatten.
Wenn man einen solchen Weg erst einmal beschreitet, dann hat dies eine innere Logik, die Schritt um Schritt immer neue Bereiche des legitimen staatlichen Handelns der DDR als Unrecht erscheinen läßt, und genau dieser inneren Logik ist die Diskussion im Rechtsausschuß gefolgt.
Änderungen des ursprünglichen Gesetzentwurfes haben dazu geführt, daß nunmehr die Rehabilitierung der Opfer um die Rehabilitierung von Feinden der DDR-Verfassung erweitert werden soll. Herr van Essen sprach von festgefügter Gegnerschaft.
Hochverrat, Spionage, landesverräterische Agententätigkeit und anderes mehr sind Straftaten, die in jedem Staat der Welt bestraft werden. Im Verständnis der jetzt vorliegenden Fassung des Rehabilitierungsgesetzes waren dies jedoch legitime Handlungen. Sie durften begangen werden, wenn sie denn nur für die BRD, für einen mit ihr verbündeten Staat oder für eine Organisation begangen wurden, die den Grundsätzen einer „freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung " verpflichtet ist.
Ich frage mich immer wieder, warum die juristische Abrechnung mit der DDR von Monat zu Monat mehr eskaliert. Ursache ist augenscheinlich das Scheitern des neoliberalen Konzepts von den selbstheilenden Kräften des Marktes. Ich bin fest überzeugt: Wäre Ostdeutschland heute der blühende Garten, den man uns 1989 und 1990 verheißen hat, so hätten die Kräfte längst die Oberhand gewonnen, die den Weg der Integration und Versöhnung gehen wollten und noch gehen wollen.
So aber folgt man willig der inneren Logik der Dämonisierung der DDR als Unrechtsstaat. Die Funktion dieses Kampfbegriffes liegt vor allem darin, die DDR mit dem nazifaschistischen Staat gleichzusetzen. Daraus wird jetzt eben der Schluß gezogen: In einem Staat wie der DDR durfte man, wenn man dies nur im Interesse der BRD tat, Hochverrat, Landesverrat oder Spionage begehen.
Aus dem Pathos der Bürgerbewegung der Jahre 1989 und 1990, das auch im Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer seinen Niederschlag fand, ist die Selbstbestätigung der Macht der Sieger geworden.
Schon vor mehr als 25 Jahren hat der Politikwissenschaftler Otto Kirchheimer in seinem Buch „Politische Justiz", Neuwied und Berlin 1965, die Mechanismen dieser Form der politischen Auseinandersetzung mit dem besiegten Gegner beschrieben:
Ist der Gegner aus dem politischen Konkurrenzkampf bereits ausgeschaltet, so bemühen sich die Ankläger, seine Niederlage im Lichte einer weitergespannten geschichtlichen oder moralischen Rechtfertigungsargumentation als unumgänglich und gerecht hinzustellen. Gegebenenfalls kann man das damit erreichen, daß man den Beweisstoff auf einen dramatisch aufgebauschten Teilausschnitt reduziert, so daß dem Publikum das entsprechend verzerrte und entstellte Bild des unterlegenen Gegners auf dem Hintergrund eines spannenden Kriminalromans vorgeführt werden kann.
Der Bundesrepublik Deutschland ist es sicherlich unbenommen, ihre eigenen Spione von Strafe freizusprechen und zu entschädigen. Sie dagegen in dem Sinne zu rehabilitieren, daß die Strafurteile in der
Regel für rechtswidrig erklärt werden, ist, gemessen am internationalen Recht und am Recht der BRD, dem die DDR-Regelungen weitgehend entsprachen, geradezu absurd. Ich warne vor einem derartigen Grundgesetzimperialismus und seinen innenpolitischen, aber gerade auch seinen außenpolitischen Folgen.
Danke schön.
({2})
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Michael Luther das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der SED-Staat war ein Unrechtsstaat.
({0})
Die Folgen dieses Unrechtsstaates sind vielfältig. Es wird uns bei genauerer Betrachtung im nachhinein kaum etwas Positives zu diesem System einfallen.
({1})
Viel leichter fällt uns Negatives ein. Ich denke hier an die wirtschaftliche Situation, an die Umwelt, an die Infrastruktur. Das haben wir diesem System zu verdanken, und wir müssen diese Schäden beseitigen.
Aber das schlimmste Ergebnis dieser Diktatur sind die zahlreichen Opfer. Diese Menschen wurden politisch verfolgt, inhaftiert, gefoltert, gequält, getötet, schikaniert und diskriminiert. Der Deutsche Bundestag sieht es als seine moralische Pflicht an - und wir haben uns dazu im Einigungsvertrag verpflichtet , den Opfern dieses unmenschlichen Systems zu helfen.
Das Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz befaßt sich mit einer wichtigen, wenn nicht sogar der wichtigsten Opfergruppe: mit den mit strafrechtlichen Mitteln politisch Verfolgten. Entstanden ist ein Gesetz mit 28 Paragraphen. Die Betroffenenverbände haben zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens einen sehr einfach aussehenden eigenen Gesetzentwurf zur Kenntnis gebracht. Dieser ist jedoch nicht ausreichend, weil wir strafrechtliche Urteile aufheben müssen, damit die Rehabilitierung festgestellt werden kann, aber auch, weil diese Bürger nicht weiter als vorbestraft gelten dürfen, weil Vermögenseinzug, Prozeßkosten und vieles andere ausgeglichen werden müssen.
Allein die Mittel, die von der SED zur politischen Verfolgung genutzt wurden, sind nicht mit einem plakativen Satz zu benennen, da es den Tatbestand der politischen Verfolgung nicht gab. Diese Menschen wurden schlicht kriminalisiert.
Es gab jedoch Strafrechtsparagraphen, die vorrangig der politischen Verfolgung dienten. Aber es gab eben auch anderes. Deshalb muß im Einzelfall geprüft werden. Dabei teile ich nicht die Befürchtungen der Opferverbände, daß dieses Gesetz in erwähnenswerten Größenordnungen willkürlich Kriminelle einbezieht. Aufgehoben werden solche Urteile, die mit
wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar sind.
Anerkannter Rechtsstaatlichkeit entspricht es jedoch, wenn verschiedene Länder, die als rechtsstaatlich gelten, Straftaten unterschiedliche Strafmaße zuordnen. Ist in der DDR also ein Krimineller allein wegen seiner Straftat verurteilt worden, widerspricht das nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen. Wurden jedoch kriminelle Straftaten zum Zwecke der politischen Verfolgung konstruiert, dann müssen wir sehr wohl rehabilitieren. Die Aufhebung politisch motivierter Verurteilungen und damit die Anerkennung des Einzelschicksals sind aus meiner Sicht das wichtigste Ziel dieses Gesetzes.
Fast noch emotionaler diskutiert wurde über die Höhe einer Entschädigung. Grundsätzlich muß ich sagen, daß das geschehene Leid nicht so zu entschädigen geht, als machte man damit das Geschehene ungeschehen. Wir können nur eine Anerkennung leisten. Dafür sind insgesamt über 1,5 Milliarden DM eingeplant. Das ist angesichts der extremen Haushaltslage und vor dem Hintergrund der eingangs schon erwähnten Probleme in den neuen Ländern, die Folgeschäden einer kommunistischen Diktatur beseitigen zu müssen, viel Geld.
Man kann mehr Geld dafür einsetzen. Dann benötigt man eben auch mehr Geld dafür. Für mich stellt sich jedoch die Frage anders: Was wollen wir denn? Was müssen wir leisten? Wir haben besonders die heutige Situation zu reflektieren. Da gibt es Menschen, die das an ihnen verübte Unrecht besser verkraftet haben. Hier haben wir in der Person des jetzigen Justizministers von Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Helmrich, der bis vor kurzem hier in diesem Hause tätig war, ein Beispiel. Er bedarf nicht der besonderen sozialen Fürsorge des Staates.
Wir wollen etwas ganz anderes. Viele haben noch heute an den Folgen der unmenschlichen Haft und an den danach andauernden Diskriminierungen schwer zu tragen. Die Bedürftigkeit dieses Personenkreises läßt sich jedoch - das ergab auch die Anhörung in Halle - nicht haftzeitabhängig beschreiben. Diesen Personen kann nur durch die Betrachtung ihres heutigen Einzelschicksals geholfen werden.
Das geht durch eine Stiftung. Wir haben eine Stiftung mit Erfahrung. Deshalb bin ich froh, daß wir im Rechtsausschuß einvernehmlich mit § 18 dieses Gesetzes der Stiftung für ehemalige politische Häftlinge diese Aufgabe übertragen konnten. Der Stiftungsrat der Stiftung muß nun Richtlinien aufstellen, wie und unter welchen Umständen den Betroffenen geholfen werden kann. Dazu muß und wird - das möchte ich nochmals deutlich betonen - die Stiftung ausreichend mit finanziellen Mitteln ausgestattet werden.
Im Ausschuß wurde auch über die Frage der Vererblichkeit diskutiert. Hier trifft für mich dieselbe Argumentation zu. Das Betroffensein, die heutige Bedürftigkeit ist nicht haftzeitabhängig. Auch hier liefert die Stiftungslösung die von uns gewollte Einzelfallgerechtigkeit.
Mich ärgert, daß der Wert dieses Gesetzes am Kapitaleinsatz im Gegenwert zu den Monaten der
erlittenen Haft gemessen wird. Mir ist es wichtig, festzustellen, daß die heutige Situation der Opfer bzw. ihrer Hinterbliebenen eine wesentliche Aufgabe dieses Gesetzes ist, daß eingezogene Vermögen auch von vor 1949 - und hier muß eine Änderung im Zweiten Vermögensänderungsgesetz greifen - zurückgegeben werden können, daß Geldstrafen, Verfahrenskosten und andere Auslagen im Zusammenhang mit diesen politischen Prozessen rückerstattet werden können, daß bei erlittener gesundheitlicher Schädigung infolge der Freiheitsentziehung eine Beschädigtenversorgung bezogen werden kann und daß Hinterbliebene in bestimmten Fällen Hinterbliebenenversorgung erhalten können.
Wir haben ein gut durchdachtes und in seiner Wirkung umfangreiches und vielfältiges Gesetz, das leider nicht bis ins letzte alle befriedigt, das aber in der Gesamtheit gesehen werden sollte. Das Gesetz bezieht sich klar auf das, was nach Kriegsende auf dem Gebiet der SBZ bzw. der DDR passierte. Es konnte nicht die Themen aufgreifen, die ein Kriegsfolgenbereinigungsgesetz behandeln muß. Da jedoch vieles nicht so scharf zu trennen ist, fordere ich zum besseren Verständnis für die davon Betroffenen von dieser Stelle nochmals dringend auf, hier schnell ein Gesetz folgen zu lassen.
({2})
Einen mir persönlich wichtigen Punkt möchte ich noch ansprechen. Als oberste Instanz bei strittigen Entscheidungen im Rahmen des Beschwerdeweges wird im Gesetz der Bundesgerichtshof genannt. An verschiedenen Stellen wies ich auf den historischen Bezug von Bundesgerichtshof und Leipzig hin. An diesem Beispiel wird geradezu augenfällig, daß eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes zu diesem Themenkreis woanders kaum besser als in Leipzig gefällt werden kann.
({3})
Meine Damen und Herren, wir haben in dieser Debatte noch ein zweites Gesetz zu behandeln. Es steht damit die Frage im Raum: Ist heute, nach gut anderthalb Jahren deutscher Einheit, noch an den Zulassungen von Rechtsanwälten und an Notarbestellungen aus der DDR-Zeit zu zweifeln? Herr Heuer, Sie haben es für mich in der Ausschußsitzung in Potsdam auf den Punkt gebracht. Ich darf Sie zitieren. Sie sagten damals: „Schließlich hat die DDR die Menschenrechtskonvention ratifiziert und umgesetzt."
({4})
Sie verbinden damit - auch heute wieder - die Meinung, daß das freiheitliche demokratische Deutschland 16 Millionen ehemalige DDR-Bürger kriminalisiere. Herr Heuer, das ist ungeheuerlich. Wenn das stimmte, was ich soeben von Ihnen zitierte:
Zu was bräuchten wir dann heute ein SED-Unrechtsbereinigungsgesetz!
({5})
Nein, die DDR nannte sich menschlich, war jedoch eine Diktatur, nur wenige sind die Verantwortlichen, und die müssen zur Verantwortung gezogen werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heuer?
Nein. - Mir tut es weh, wenn sich in dem freien, ehrbaren Berufsstand der Rechtsanwälte und der Notare Leute verstecken, die aktiv an dem mitgewirkt haben, was wir heute bewältigen müssen. Dabei geraten wir in eine Situation, wo wir dann noch die eigentlich Bösen sein sollen, weil wir das Unrecht und das Leid, das diese Leute mitverantwortet haben, nur nach unseren Möglichkeiten lindern können. Warum leisten Sie denn dazu keinen besonderen persönlichen Beitrag, Herr Heuer? Wenn Sie immer so gern Ihren SED-Parteibeitrag geleistet haben, wie Sie es auch in der Ausschußsitzung mehrfach sagten, dann zahlen doch Sie und Ihre ehemaligen Genossen von mir aus zwei Jahre lang freiwillig in Höhe Ihres ehemaligen SED-Parteibeitrags in einen Fonds für diese Opfer als persönliche Wiedergutmachung ein.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, entschuldigen Sie, wenn mein Herz bei diesem Thema überläuft. Aber es sollte schon klar bleiben, wer hier was zu verantworten hat. Mitverantwortliche sollten deshalb nicht Rechtsanwälte oder Notare bleiben. Sie haben, wie sie in der Vergangenheit gezeigt haben, dafür nicht die Voraussetzung, und zwar nicht nur dann, wenn sie „erheblich" oder „in erheblicher Weise" gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben, nein, schon wenn sie es überhaupt getan haben. Deshalb konnten sich die Fraktionen dieses Hauses dankenswerterweise darauf einigen, die im Regierungsentwurf noch vorhandenen eben genannten unbestimmten Rechtsbegriffe zu streichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns nie vergessen, was eine Diktatur ist, lassen Sie uns nie vergessen, wie eine Diktatur ist, lassen Sie uns nie vergessen, wie eine Diktatur entsteht! Am 17. Juni 1953 sind Menschen in der damaligen DDR für Freiheit und Demokratie aufgestanden; heute haben wir Freiheit und Demokratie. Lassen Sie uns nie vergessen, daß Freiheit und Demokratie von uns täglich errungen werden müssen!
Danke.
({1})
Zu einer kurzen persönlichen Erklärung der Kollege Heuer, vom Saalmikrophon aus.
Ich habe nur darum gebeten, etwas richtigstellen zu dürfen. - Da
Herr Luther kein Jurist ist, hat er mich nach meiner Ansicht falsch interpretiert oder falsch verstanden. Ich habe in der Diskussion in Halle seinerzeit gesagt, daß die DDR die Menschenrechtskonvention ratifiziert hat und daß die Umsetzung völkerrechtlich eine souveräne Entscheidung der DDR war. Ich bin mir dessen bewußt - wie jeder hier im Saal -, daß es in der DDR kein Auswanderungsrecht gegeben hat. Ich bin mir auch dessen bewußt, daß aber genau das in diesen Regelungen steht. Ich habe nur auf den Umstand hingewiesen, daß die Umsetzung der ratifizierten Konvention souveräne Angelegenheit der einzelnen Staaten war. Das war meine dortige Darstellung.
({0})
Ich erteile dem Abgeordneten Rolf Schwanitz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 14. Mai 1991, als der Bundestag zum Problem der Rehabilitierung erstmalig eine Debatte führte, erklärte der damalige Justizminister Kinkel, die Bundesregierung werde alles in ihrer Kraft Stehende tun, um die Opfer der sozialistischen Diktatur und Verfolgung zu rehabilitieren und ihnen angemessene Entschädigung zuteil werden zu lassen. Als dann dieses Unrechtsbereinigungsgesetz eingebracht worden ist, formulierte er in seinem Redebeitrag: Die Rehabilitierung der Opfer des SED-Untrechtssystems ist eine der wichtigsten Aufgaben dieser Legislaturperiode.
Meine Damen und Herren, gerade heute, am 17. Juni, an diesem so denkwürdigen Tag, sollten diese Worte eigentlich in Erfüllung gehen, sollten die Wünsche für die Opfer der kommunistischen Diktatur endlich umgesetzt werden. Aber es ist ein bitterer Tag: Hoffnungen und Wünsche, die im Rahmen der zwischenzeitlich von der Bundesregierung gegebenen Zusagen, Versprechungen und Ermutigungen formuliert worden sind, gehen kaputt, werden heute nicht umgesetzt werden können.
Was heute auf dem Tisch liegt, ist aus meiner Sicht ein Skandal. Die Opfer hatten im Kern realistische, nicht überzogene Erwartungen an dieses Gesetz. Allen war klar, daß sie würden zurückstecken müssen. So wird beispielsweise die Leistungsstruktur des Strafentschädigungsgesetzes nicht erreicht werden können, nach dem heute jeder, der als Bürger in der Bundesrepublik unrechtmäßig inhaftiert wird, entschädigt wird. Das gilt etwa auch für den Herrn mit dem Decknamen „Karate", der wegen des Tatverdachts einer Tötungshandlung für die Staatssicherheit inhaftiert worden ist und mangels Beweisen, aus Beweisnot wieder entlassen wurde. Dieser Herr hat nach dem Strafentschädigungsgesetz einen Anspruch auf eine Entschädigung von 20 DM pro Hafttag als Ausgleich für den immateriellen Schaden - allein für den Freiheitsentzug - und zusätzlich einen Anspruch auf Ersatz des materiellen Schadens. Das dürfte bei
dem durchschnittlichen Arbeitseinkommen um die 160 DM pro Tag liegen. Das ist die Situation.
Den Opfern war klar, daß dieses Luxus-Entschädigungsgesetz für sie nicht möglich sein wird. Ihnen ging es gar nicht mehr ausschließlich und schon gar nicht vorrangig um den Ausgleich jenes materiellen Schadens - diese 160 DM -; ihnen ging es wenigstens um die Gleichstellung im Sinne der Berücksichtigung des Freiheitsentzuges, wenigstens um jene Grenze, jene 20 DM pro Hafttag; dies hätten sie erwarten können. Statt dessen soll nach diesem Gesetzentwurf ein Opfer, soweit es im Westen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt lebte, 10 DM pro Hafttag erhalten und ein Opfer mit einem entsprechenden Verbleib in der damaligen DDR 15 DM.
Es gibt keine Wiedergutmachung des materiellen Schadens. Es werden die Eingliederungshilfen des Häftlingshilfegesetzes, welche wirklich nichts mit Schadenersatz und Wiedergutmachung zu tun haben, auf diese Leistungen angerechnet. Dies soll heute den Opfern angeboten werden, obwohl ihnen Besseres versprochen wurde. Ich erinnere mich noch sehr genau, als Kollege Helmrich von der CDU/CSU, der damals als Vorsitzender des Rechtsausschusses nicht irgendwer war, bei der Anhörung in Halle den Opfern sagte: Dieses Gesetz wird den Bundestag nicht so verlassen, wie es hineingekommen ist. In wichtigen Passagen, in den wichtigsten Aussagen ist dieses Gesetz aber nach der Beratung unverändert geblieben. Dies ist unzumutbar!
({0})
Die Sozialdemokraten haben eine einheitliche Opferentschädigung in Höhe von 20 DM pro Hafttag gefordert, und sie tun dies heute noch einmal. Sie, die Koalition, haben geantwortet: Das kostet zu viel Geld.
({1})
Lassen Sie mich eine kurze Rückschau auf die Leistungsbereitschaft der Bundesrepublik gegenüber anderen Opfergruppen machen. Ich glaube, dieser Vergleich ist legitim, denn vergleichen heißt nicht gleichsetzen; und die Bundesregierung erhebt in der Gesetzesbegründung selbst den Anspruch, daß sich das Unrechtsbereinigungsgesetz am Bundesentschädigungsgesetz messen lassen und orientieren soll.
Das Bundesentschädigungsgesetz wurde 1956 verabschiedet - mit einer Leistungsfülle, mit Rentenansprüchen, mit Schadenersatzleistungen im Sinne von materiellen Folgen, mit entsprechenden Ansprüchen im Sinne von immateriellen Größen und anderem mehr.
Nach einem Bericht der Bundesregierung von 1986 - nachzulesen in Drucksache 10/6287 - wurden von 1956 bis 1986 dafür 60 Milliarden DM verausgabt. Das sind durchschnittlich 2 Milliarden DM pro Jahr nur für das Bundesentschädigungsgesetz. Da ist keine andere Entschädigungsregelung mit drin, die es zusätzlich dazu für die gleiche Opfergruppe gegeben hat. 2 Milliarden DM pro Jahr, 30 Jahre lang, und dies geht weiter. 2 Milliarden DM pro Jahr auch 1956, als
es ein Ausgabenvolumen der öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik gab, das 60 Milliarden groß war! Heute, wo wir seit 1988 ein Ausgabenvolumen der öffentlichen Haushalte haben, das 1 000 Milliarden pro Jahr überstiegen hat, sind wir nicht einmal in der Lage, einen Bruchteil von dieser Größenordnung diesen Opfern zur Verfügung zu stellen.
({2})
Meine Damen und Herren, wo ist die Wiedergutmachungsbereitschaft der Bundesrepublik geblieben im Verhältnis zu den 50er Jahren, wo die Aufbauprobleme sicherlich nicht geringer waren als in unseren Tagen? Mir will doch wohl keiner erzählen, die öffentliche Hand sei damals geringer belastet gewesen!
Mit diesem Gesetz wird eine Opfergruppe erneut, wie in den letzten 30 Jahren, entschädigungsmäßig ins Abseits gestellt. Diese Regelungen sind ein historisches Versagen. Es ist beschämend für die Bundesregierung und auch beschämend für uns als Bundestag.
Die Sozialdemokraten haben ein anderes Gesetz gewollt. Sie haben auch gefordert, daß die Kapitalentschädigung, die jetzt 10 bzw. 15 DM pro Tag beträgt, vererbbar sein soll, und zwar an die mitbetroffenen nahen Angehörigen, nicht generell.
Wir wissen doch, daß bei den Sowjets zum Teil die Beschlagnahme des Hausrats Bestandteil der Strafe war. Wir wissen doch, daß Eigentum von Inhaftierten beschlagnahmt wurde und die zurückgebliebenen Familienangehörigen - wie großzügig - dies dann kaufen konnten.
Solche Eltern, Frauen und Kinder haben doch die Auswirkungen mitgetragen. Dennoch konnten sich die Koalitionsfraktionen auch hierzu - zu der erweiterten Vererbbarkeit - nicht entschließen.
Wie Sie diesen Menschen heute gegenübertreten wollen - auch angesichts dieser feierlichen Ehrenerklärung von heute vormittag -, ist mir ein Rätsel.
Meine Damen und Herren, letztlich unzumutbar ist die Regelung zur Kostentragung im Gesetz. Bund und Länder sollen je zur Hälfte die Kosten übernehmen, und zwar jene Länder, bei denen die Zahlungen anfallen. Das werden natürlich die neuen Bundesländer sein. Die Bundesregierung läßt nicht nur die Opfer mit kümmerlichen Entschädigungsregelungen allein; nein, sie drückt auch noch wesentliche Finanzierungsteile in den Osten ab. Dies widerspricht der einstimmigen Beschlußlage des Bundesrates, was Sie, meine Kollegen von der Regierungskoalition, offensichtlich kaum berührt hat.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist so nicht hinnehmbar. In einer Zeit, wo nach Zeitungsmeldungen aus dem Dezember 1991 ein Amtsgericht in Mülheim die Entschädigung für den Nutzungsausfall eines beschädigten Fahrrads mit 10 DM pro Tag für angemessen hält, wollen Sie einen politisch Verfolgten mit der gleichen Summe oder - berücksichtigt man dabei die Anrechnung hinsichtlich der Regelung in bezug auf das Häftlingshilfegesetz - sogar mit einer geringeren Summe abspeisen. Das ist ein Skandal.
({3})
Finanzminister Waigel hat sich allen Vorschlägen zu einer gerechteren Finanzierung der deutschen Einheit - beispielsweise der Einführung einer Ergänzungsabgabe für Spitzenverdiener, denen es in unserem Land nun wirklich nicht schlechtgeht - bis heute verschlossen. Dieser unsoziale Finanzdogmatismus soll nicht - um keinen Preis - aufgegeben werden, auch nicht um den Preis der Opfer der kommunistischen Diktatur. Es ist schäbig, für diese verfehlte Finanzpolitik nun auch noch die politisch Verfolgten zahlen zu lassen.
Die SPD wird über die Erhöhung der Kapitalentschädigung von 10 DM auf 20 DM pro Tag heute eine namentliche Abstimmung durchführen. Ich habe die Nase voll von Abgeordneten, die zu Hause, gegenüber den Opfern, Schönwetterreden halten und im Parlament entschlossen gegen deren Interessen stimmen.
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Meine Damen und Herren, Kollegen von der CDU/ CSU und der F.D.P., vor allem die Kollegen aus den neuen Bundesländern, zeigen Sie, daß hinter der Absicht, die in der Presse mehrfach zu lesen ist, Ostinteressen stärker zu vertreten, etwas steckt. Zeigen Sie Rückgrat. Stimmen Sie bei der namentlichen Abstimmung unseren Vorschlägen zu.
({5})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der 17. Juni ist der Tag der Deutschen Einheit. Er wird es bleiben, ob wir ihn feiern oder nicht. Er ist es, und er wird es bleiben, weil am 17. Juni 1953 in Berlin und anderswo offenbar geworden ist: Das Volk der DDR hatte schon nach nicht einmal vier Jahren der SED-Regierung das Vertrauen entzogen. Ihre Herrschaft unter dem Schutz sowjetischer Panzer fortzusetzen - das hieß, einer ganzen Bevölkerung das Selbstbestimmungsrecht abzusprechen, sie zur Unmündigkeit für die Dauer dieser Herrschaft zu verdammen.
Der 17. Juni erinnert für immer daran, daß die Bevölkerung der DDR nicht willens war, diese Entrechtung widerspruchslos hinzunehmen. Ein Beteiligter schildert, wie dieser Widerspruch aussah.
Es wurde ein Streikführer gewählt, und die Wahl fiel auf mich, den späteren Angeklagten P. Wir beschlossen, von der Baustelle aus in den Ort Niemegk zu marschieren. Am dortigen Verwaltungsgebäude wollten wir uns mit den weiteren Arbeitsgruppen unseres Betriebes vereinen. Als
alle auf dem Verwaltungsgelände versammelt waren, stellten wir ein Forderungsprogramm auf und stimmten darüber ab. Die Hauptforderungen waren: Öffnen der Zonengrenzen, freie Wahlen für ganz Deutschland, Entlassung aller politischen Gefangenen.
Es sind die Forderungen des Herbstes 1989. Der Bauarbeiter P. aus der Nähe von Niemegk wurde am 25. Juni 1953 von Mitarbeitern der Stasi festgenommen und nach Potsdam verbracht.
Zehn Jahre Zuchthaus sollten mich zu einem ordentlichen und bewußten Bürger der DDR umerziehen. Von diesen zehn Jahren verbüßte ich sieben Jahre und sechs Monate im Zuchthaus Brandenburg; der Rest wurde mir durch eine Amnestie erlassen.
Das Gesetz, meine Damen und Herren, das heute verabschiedet werden soll, ist wegen dieses Bauarbeiters und all der anderen Männer und Frauen erlassen worden, die wie er Opfer politischer Unmenschlichkeit geworden sind, weil es keinen Staat und keine gesellschaftliche Instanz gab, die für ihre Menschenwürde eingetreten wäre und sich schützend vor sie gestellt hätte.
Sie alle werden heute vor dem Fernseh- oder Rundfunkempfänger sitzen und darauf warten, was ihnen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu sagen haben.
Erste Aufgabe dieses Bundestages war es, das Unrecht der politischen Unmenschlichkeit als Unrecht zu verurteilen, und zwar so, wie es in der von der Frau Bundestagspräsidentin heute verlesenen Erklärung getan wurde. An diesem Punkt darf das Parlament aber nicht stehenbleiben. Nachdem das Unrecht öffentlich als solches verurteilt und kenntlich gemacht ist, gilt es, den Opfern unseren Respekt zu bezeugen, ihnen gesellschaftlich den Rang zuzuerkennen, der ihrer Bedeutung für unser aller Geschichte zukommt.
An uns aber ist es, das Unrecht, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann, so weit zu bereinigen, daß die Betroffenen und die ganze Gesellschaft zu erkennen vermögen: Wir sind entschieden, die geschehenen Verletzungen der Menschenwürde, der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts zum Maßstab für die Prioritäten unseres politischen Handelns und unserer gesamtgesellschaftlichen Zukunft zu nehmen.
Wir stehen abermals vor der Aufgabe, die das Bundesentschädigungsgesetz in den 50er Jahren zu lösen hatte, als es die gesetzlichen Regeln dafür aufstellte, wie Opfern der NS-Gewaltherrschaft die ihnen zustehenden Entschädigungen zukommen sollten.
Ich unterbreche hier, Herr Präsident, unter Protest - der sich nicht gegen Sie, Herr Präsident, persönlicht richtet - und fahre in der nächsten Runde fort.
({0})
Dann erteile ich dem Minister für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Thüringen, Herrn Dr. Hans-Joachim Jentsch, das Wort.
Minister Dr. Hans-Joachim Jentsch ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Abgeordneter Ullmann, dann darf ich die Pause in Ihrer Rede wahrnehmen und hier meinerseits einige Ausführungen machen.
Ich möchte gerade im Nachgang zu dem, was Sie, Herr Abgeordneter Schwanitz, hier gesagt haben, anführen: Ich finde dennoch, daß das ein großer Tag für den Deutschen Bundestag ist. Auch ich bin wie Sie der Meinung, daß man an diesem Gestez sicherlich das eine oder andere aus der Sicht der Länder, aus der Sicht der Opfer besser haben möchte. Ich denke, heute sollte aber eine andere Botschaft aus diesem Hause hinausgehen. Es ist die Botschaft, die mit der Ehrenerklärung, mit dem Anwaltsgesetz und nicht zuletzt mit diesem Unrechtsbereinigungsgesetz umschrieben ist. Ich denke, daß gerade dieses zuletzt genannte Gesetz ein wichtiger Beitrag zum Zusammenwachsen der Menschen in unserem Land und zum inneren Frieden ist, denn zum inneren Frieden gehört einerseits, die Täter für geschehenes Unrecht nachhaltig und entschlossen zu bestrafen, andererseits aber auch den Opfern Genugtuung zukommen zu lassen.
Dem Deutschen Bundestag ist für diesen ersten Schritt zu danken, wenn ich auch nicht verhehlen will, daß Dauer und Verlauf dieses Gesetzgebungsverfahrens bei den Betroffenen natürlich nicht alle Zweifel zerstreuen konnten, ob deren Schicksal wirklich so im Mittelpunkt der deutschen Politik steht, wie das meines Erachtens erforderlich ist.
Wir dürfen nicht verkennen, meine Damen und Herren, daß die Wiedergutmachung an den Opfern die moralische Meßlatte für die Qualität deutscher Politik ist. Ich denke, das ist um so wichtiger, da die Diffamierungen unserer Rechts-, Wirtschafts- und Sozialordnung in der 40jährigen SED-Herrschaft zu tief sitzen, als daß sie nicht durch Zögern oder durch Versagen bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit leicht wieder Wirkungen zeigen könnten.
Meine Damen und Herren, wenn dies der erste Schritt ist, so denke ich, daß der zweite Schritt - ich möchte das als Mitglied der Thüringer Landesregierung hier aus ganz speziellem Interesse heraus sagen - schnellstmöglich folgen muß.
Ich wende mich auch hier an Sie, Frau Bundesjustizministerin: Das Gesetz zur verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung ist dringend erforderlich. Ich erinnere meinerseits daran, daß durch die frei gewählte Volkskammer bei den Menschen Erwartungen geweckt worden sind, auf die wir eine Antwort geben müssen. Die Antwort muß nicht immer sein, alles so zu beschließen, wie es maximal und optimal gewünscht wird. Die Antwort muß eine entschlossene und überzeugende Regelung dieser Sachverhalte sein.
Ich will nicht das wiederholen, was hier schon angesprochen ist, die große Zahl an Zwangsausgesiedelten in Thüringen. Vor wenigen Tagen, am
Minister Dr. Hans-Joachim Jentsch ({1})
6./7. Juni, war es 40 Jahre her, als die Menschen in Nacht- und Nebelaktionen in das Innere der DDR versetzt wurden und teilweise ein Leben lang den Makel als Spione, Diversanten und Schieber nicht losgeworden sind. Heute sind es alte Menschen und teilweise gebrochene Menschen.
Ich bedauere, daß es so lange gedauert hat, bis wir diesen Weg begonnen haben, an einem Gesetz zu arbeiten, das hoffentlich demnächst vorgelegt werden kann. Auch hier muß die Rehabilitierung im Interesse des inneren Friedens in unserem Land so schnell wie möglich Platz greifen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich habe mich in erster Linie gemeldet, um hier zwei Anmerkungen aus Anlaß dieses für mich bedeutenden Tages im Deutschen Bundestag zu machen.
Ich möchte uns gemeinsam bitten, noch einmal darüber nachzudenken, ob wir mit unserer Gesetzgebungspraxis - ich meine nicht nur den Deutschen Bundestag, sondern auch den Bundesrat - den Erwartungen, den Notwendigkeiten des Zusammenwachsens der Menschen in unserem Land und dem, was man Vergangenheitsbewältigung nennt, gerecht werden.
Ich möchte heute darum bitten, daß wir den Gesetzesvorhaben, den Fragen des Verwaltungsunrechts, den Fragen der Klarstellung der Nichtverjährung von SED-Unrecht, aber auch dem Rechtspflegeentlastungsgesetz, das uns in den neuen Ländern stärker instand setzen soll, die Justiz aufzubauen, Priorität geben. Ich denke, daß das eine oder andere, wie auch ein Justizmitteilungsgesetz, nicht unbedingt so beschleunigt behandelt werden muß, sondern daß diese zentralen Aufgaben mit noch mehr Priorität versehen, mit mehr Engagement betrieben werden müssen.
Die zweite Anmerkung. Wir haben die Folgen von 40 Jahren SED-Unrecht zu regeln, und wir erleben heute mit, wie in der gemeinsamen Überzeugung Einigkeit herrscht, daß man einen richtigen Schritt getan hat. Dann aber dividieren wir uns an der Frage der Höhe der Entschädigung auseinander!
Meine Damen und Herren, wir haben zwei Schritte zu tun. Zunächst einmal haben wir anzuerkennen, daß die Menschen, die Opfer geworden sind, die Nachteile erlitten haben, die enteignet worden sind, moralischen Anspruch auf volle Entschädigung haben. Insofern ist es natürlich richtig, vorab erst einmal festzustellen: Gibt es einen Grund, eine Rechtfertigung für Differenzierung, hier soviel und dort soviel zu zahlen? Das gilt aber auch bei der Rückgabe von enteignetem Vermögen. Dann dürfen wir auch nicht sagen, daß diejenigen, die Vermögen zurückbekommen haben, Wiedervereinigungsgewinnler sind.
({3})
Dann dürfen wir auch nicht versuchen, diejenigen, die entschädigt werden müssen, mit niedrigen Quoten abzuspeisen. Oder es darf nicht sein, daß diejenigen, die 1945, aus dem Osten kommend, in der DDR
hängengeblieben sind, keinen Lastenausgleich bekommen,
({4})
während diejenigen, die im Westen gelandet sind, ihn bekommen haben. Diese Ansprüche müssen wir als moralisch in voller Höhe begründet akzeptieren.
Aber dann kommt der zweite Schritt. Wenn alle diese Ansprüche befriedigt werden müßten, könnte es zum Konkurs des Unternehmens Bundesrepublik Deutschland kommen. Dies will niemand in diesem Hause. Deshalb müssen wir über Quoten reden. Aber über Quoten können wir nur reden, wenn wir das Gesamttableau haben, und dann nimmt sich ein Entschädigungsbetrag von 300 oder 450 DM vielleicht anders aus, als wenn man immer nur diesen Anteil sieht.
Mein Appell an Sie: Machen wir uns so schnell wie möglich auf, das Gesamttableau zu berechnen, damit jeder in diesem Lande weiß, welche Quote möglich ist. Hundert Prozent wird es nicht geben können, auch nicht für die Häftlinge, so gerne ich sie ihnen zukommen lassen würde. Machen wir uns auf, diese Quote zu berechnen, und denken wir auch darüber nach, ob in diesen Topf, der zur Bezahlung der Quote bereitgestellt werden muß, nicht von denjenigen, die im Westen leben und keinen Schaden genommen haben, noch einiges eingezahlt werden könnte, damit die Quote größer wird.
({5})
Wenn dies die Politik dieses Hauses ist, geht von dieser Debatte, wie ich denke, heute auch in die neuen Bundesländer eine gute Botschaft aus.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Professor Heuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie sagten, daß die Rechts- und Wirtschaftsordnung der BRD in der DDR diffamiert worden sei und daß das tief sitzt. Ich glaube, daß das, was heute an Diffamierung der Wirtschafts- und Rechtsordnung der BRD vor sich geht, vor allem auf Rechnung der Treuhand und der Dinge geht, die gegenwärtig im Osten Deutschlands geschehen. Daran messen die Menschen.
({0})
Dazu gehört auch das Gesetz, das hier vorgelegt ist. Ich hatte in der ersten Runde gesagt, daß die Ausdehnung der Zahl der Opfer, die Erweiterung des Kreises der zu Rehabilitierenden zu neuen Verfolgungen von Tätern führen wird. Je mehr Opfer, desto mehr Täter - das schien mir zwangsläufig. Ich muß aber offen sagen: Ich hatte nicht vermutet, daß diese Logik so weit führen würde, das Rehabilitierungsgesetz mit dem Rechtsanwaltsüberprüfungsgesetz zu verbinden und damit den politischen Zusammenhang unzweideutig offenzulegen.
Bei der Ablehnung dieses Gesetzes sehen wir uns in Übereinstimmung mit zahlreichen Anwaltsverbänden. Unseres Erachtens gibt es fünf gewichtige Gründe, dieses Gesetz abzulehnen. Erstens ist es nicht erforderlich, weil wirklich belastete Rechtsanwälte - etwa Herr Wetzenstein-Ollenschläger, wenn denn die Voraussetzungen vorliegen - auf der Grundlage der bestehenden gesetzlichen Regelungen der Bundesrechtsanwaltsordnung und des noch geltenden DDR-Rechtsanwaltsgesetzes auf Unwürdigkeit hin überprüft werden können.
Zweitens ist das Gesetz verfassungswidrig, da es in massiver Weise gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit, gegen das Recht der freien Advokatur und gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 des Grundgesetzes verstößt.
({1})
- Sie hören es von mir. Es ist traurig, daß Sie es nur von mir hören.
Drittens ist das Gesetz höchst problematisch, weil es eine eindeutige Regelung des zweiten Staatsvertrages, nach dem sich Rücknahme- und Widerrufsmöglichkeiten an der Bundesrechtsanwaltsordnung orientieren, beseitigen will.
Viertens bedeutet das Gesetz eine krasse Abweichung von der Normalität in den Staaten der EG. Selbst in den osteuropäischen Staaten gibt es weder ein derartiges Gesetz noch Pläne für derartige Gesetze.
Fünftens hat der Entwurf erhebliche materiellrechtliche Mängel. Als Kriterien zur Überprüfung werden „Grundsätze der Menschlichkeit" und „Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit" genannt.
Dazu schreibt der Republikanische Anwältinnen- und Anwaltsverein in seiner Stellungnahme:
Ein Jurist, der behauptet, er könne mit Mitteln des juristischen Handwerkszeugs aus „Grundsätzen der Menschlichkeit" oder aus „Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit" normative Rechtsfolgen ableiten, hat sich weder der Menschlichkeit noch dem Rechtsstaat, sondern der Zauberei verschrieben.
Für mich ist gerade mit diesem Gesetz eine Grenze erreicht, wo die Siegermentalität westdeutscher Politiker ins schier Unerträgliche umschlägt.
({2})
Deshalb habe ich mich in den letzten Monaten in besonderem Maße für die Abwendung gerade dieses Gesetzes eingesetzt in Artikeln, Beratungen mit Anwälten, in Schreiben an meine Kollegen. Dabei gab es auch im Rechtsausschuß positive Reaktionen, die mich zunächst ermutigt haben.
Daß jedoch letztlich kein Abgeordneter des Bundestages außerhalb der PDS/Linke Liste gegen diesen Gesetzentwurf aufgetreten ist, hat mich tief enttäuscht. Als im Rechtsausschuß die uns nunmehr vorliegende verschärfte Fassung entstand, in der die
Worte „in erheblicher Weise" bzw. „erheblich" allesamt gestrichen wurden, hat niemand außer mir dagegen gestimmt.
({3})
Dies scheint mir ein weiteres Indiz für ein zutiefst beunruhigendes Phänomen zu sein. Es gibt hierzulande zur Zeit ganz augenscheinlich eine Lähmung des liberalen Geistes, ähnlich wie zur Zeit von McCarthy in den USA.
({4})
Man fühlt sich durchweg als Sieger so sehr im Recht, daß man neues, eigenes Unrecht gar nicht mehr wahrzunehmen vermag.
({5})
Einige wenige, so auch die Vertretung der Landesregierung von Hessen im Bundesrat, die von liberalen Positionen aus zur Umkehr mahnen, gleichen Rufern in der Wüste.
Wir haben den Antrag gestellt, die Worte „erheblich" bzw. „in erheblicher Weise" erneut in den Gesetzestext einzufügen. Wenn dies keine Mehrheit findet, tritt die Situation ein, daß die Kriterien für die Überprüfung von Rechtsanwälten nahezu die gleichen sind wie die für die Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten, also von Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes.
Die PDS/Linke Liste hat weiterhin den Antrag gestellt, die Frist für Überprüfungen von sechs Jahren auf ein Jahr zu begrenzen. Wenn man tatsächlich, wie Sie behaupten, nur einige wenige Rechtsanwälte im Auge hat, dann reicht die Zeit von einem Jahr für die Überprüfung allemal. Wenn man aber eine flächendeckende Überprüfung will, soll man sich für diese sechs Jahre entscheiden, damit alle Ostdeutschen sehen können, was dieser Bundestag unter Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit versteht.
({6})
In der Diskussion wird mir immer wieder entgegengehalten, man habe eingesehen, daß nach 1945 bei der Auseinandersetzung mit NS-Richtern, -Staatsanwälten und -Rechtsanwälten schwere Fehler begangen wurden, daß man diese Fehler gerade dadurch wiedergutmache, daß DDR-Richter, -Staatsanwälte und -Rechtsanwälte den verdienten Lohn erhielten, den man NS-Tätern vorenthalten hätte.
Eine ehrliche Antwort darauf habe ich bei Arnulf Baring in seinem Buch „Deutschland - Was nun?" ({7}) gefunden. Sein Verleger Siedler zieht dort ebenfalls diesen Vergleich und formuliert, „daß man nach 1945 im Westen nur Hitler und sein Herrschaftsinstrumentarium, die Spitzen der Partei und der SS beiseite räumen mußte, und hinter all den Zerstörungen des Krieges kam eine wesentlich intakte Gesellschaft zum Vorschein". - Baring sagt weiter: Fast alle Millionen Mitglieder der NSDAP und
der SS empfanden den neuen Staat schon als ihren Staat ({8}). - So wie Baring und Siedler denken laut „Die Zeit" vom 20. Dezember 1991 führende Eliten in diesem Land. Hier haben wir die Antwort auf die Frage, warum nach 1945 und nach 1989 so unterschiedlich verfahren wurde.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat nunmehr die Bundesjustizministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rehabilitierung der Opfer von 40 Jahren DDR ist eine der wichtigsten Aufgaben, die uns die deutsche Wiedervereinigung stellt. 40 Jahre lang haben zahlreiche Mitbürger in der früheren DDR unter vielfältigen Formen der Gewalt und des Terrors leiden müssen. Offen oder auch versteckt wurden sie drangsaliert. Es ist wichtig, daß der Gesetzgeber das Seinige zur Aufarbeitung und Bewältigung des DDR-Unrechts leistet. Ich glaube, daß die hier vorliegenden Gesetzentwürfe ein Beitrag dazu sind.
Lassen Sie mich beginnen mit dem Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltzulassungen und Notarbestellungen. Ich muß sagen, es ist ungeheuer, Herr Heuer, was Sie zu diesem Gesetzentwurf hier gesagt haben.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf sollen Mißstände angegangen werden, die bei den Menschen in den neuen Bundesländern, vor allem aber bei vielen Opfern von Justizunrecht in der DDR Befremden, zum Teil auch Resignation ausgelöst haben. Manche Juristen, die an den Schalthebeln der Macht in der früheren DDR saßen, haben es rechtzeitig verstanden, in der Anwaltschaft unterzutauchen; andere haben sich bei der Ausübung des Anwaltsberufs als Handlanger des Systems hervorgetan. Hier steht das Vertrauen der Menschen in die Rechtsanwaltschaft auf dem Spiel. Und da soll der Entwurf Abhilfe schaffen. Er gewährleistet, daß bei jedem Rechtsanwalt in rechtsstaatlicher Weise geprüft wird - und dazu brauchen wir die vorgesehene Frist -, daß er würdig ist, seinen Beruf auszuüben. Für Anwälte und ebenso Notare, die vor der deutschen Einheit zugelassen worden sind, kann diese Feststellung jetzt auch noch nachträglich getroffen werden. Der auf Vorschlag des Bundesrates in das Gesetz eingefügte neue Abschnitt -
Frau Ministerin, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Der Abgeordnete Dr. Seifert und der Abgeordnete Professor Heuer möchten gerne eine Zwischenfrage stellen. Wenn Sie bereit sind, dieselbe zu beantworten, dann lasse ich sie selbstverständlich zu.
Da ich nicht erwarten kann, daß andere Fragen kommen als das, was Sie in Ihrer Rede
eben gesagt haben, Herr Heuer, kann ich nur auf meinen Eingangssatz zurückkommen, und deshalb lasse ich diese Zwischenfrage nicht zu.
({0})
Der auf Vorschlag des Bundesrates in das Gesetz eingefügte neue Abschnitt, der die Überprüfung ehrenamtlicher Richter betrifft, wird von der Bundesregierung begrüßt und voll mitgetragen. Personen, die sich insbesondere als Mitarbeiter der Stasi betätigt und andere denunziert haben, gehören eben nicht auf die Richterbank. Diese Regelungen sind notwendig, um das Vertrauen in die Unabhängigkeit und Integrität der Anwaltschaft und Justiz zu erhalten und zu fördern.
({1})
Die Kritik an dein Entwurf, die gern von Hexenjagd spricht - wir haben das hier heute erleben dürfen im Rahmen der Debatte -, ist nicht gerechtfertigt. Vielmehr soll sichergestellt werden, daß Bürger sich vertrauensvoll an Rechtsanwälte wenden können.
({2})
Daß nicht irgendwelche Bagatellen zum Verlust des Berufs führen, ist durch die im Entwurf vorgesehenen Abwägungen und die gerichtliche Nachprüfbarkeit bis hin zum Bundesgerichtshof gewährleistet. Das sichert ein rechtsstaatliches, faires Verfahren, während aber gerne auch in anderem Zusammenhang bestritten wird, daß so etwas in der Bundesrepublik überhaupt möglich sei. Dem muß man entgegnen.
Von ganz grundsätzlicher Bedeutung für die Bewältigung erlittenen Unrechts ist das hier zur Beratung und zur Verabschiedung anstehende Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das heute im wesentlichen mit einem weitgehend parteiübergreifenden Konsens verabschiedet werden kann. Die Beratung zu diesem Gesetz haben alle als eine besonders wichtige Aufgabe angesehen. Die Gespräche waren sachlich und ernsthaft. Ich danke allen Beteiligten in Bundesrat und Bundestag, aber auch den Betroffenen und den Verbänden für ihre Beiträge und auch ihre Kritik. Allein Sachlichkeit und nicht das Kalkül mit Emotionen kann der Sache der Opfer gerecht werden.
Der Gesetzentwurf hat im Laufe der Beratungen eine Reihe von Änderungen erfahren, die aus meiner Sicht Verbesserungen darstellen. Das zu sagen bereitet mir keine Schwierigkeiten.
Für uns alle stellt die Auseinandersetzung mit dem Justizunrecht der DDR Neuland dar. Wir haben einen Lernprozeß durchlaufen, dessen Ergebnisse in den Entwurf eingeflossen sind. Die Betroffenen und ihre Verbände sowie die Kollegen aus den neuen Ländern haben dazu ganz Wesentliches beigetragen, und dafür danke ich ihnen.
({3})
Über die Höhe der Entschädigung haben wir keine Einigung erreicht. Es hat nicht, Herr Kollege Schwanitz, am Wollen gelegen, sondern am Können. Herr Jentsch, Sie haben in Ihren Ausführungen den Gesamtzusammenhang zutreffend dargestellt.
({4})
Es ist zweierlei, höhere Leistungen zu fordern oder sie neben den anderen enormen finanziellen Ausgaben für die deutsche Einheit im Haushalt verantworten zu müssen. Ich weiß, daß das für die Opfer nur ein ganz schwacher Trost ist und keine ausreichende Erklärung sein kann.
Die materiellen Regelungen konnten wenigstens in einem Teilbereich in den Beratungen verbessert werden, indem wir für die Haftopfer und für ihre mitbetroffenen nahen Angehörigen ein Stiftungsmodell geschaffen haben, das uns in die Lage versetzt, bei einer wirtschaftlichen Notlage ganz individuell zu helfen. Die Einbeziehung weiterer Opfergruppen würde den Rahmen dieses Gesetzes sprengen und zu großen zeitlichen Verzögerungen führen. Für die von der sowjetischen Besatzungsmacht verschleppten Menschen ich denke dabei gerade auch an die schweren Leiden der mißhandelten und vergewaltigten Frauen - muß eine Regelung im Rahmen der Kriegsfolgengesetzgebung gefunden werden.
({5})
Kurz noch zu einer Frage, die bislang sowohl mit der Opposition als auch mit den Ländern streitig geblieben ist, nämlich die Übernahme der Kosten. Der Entwurf sieht vor, daß die Kosten zwischen Bund und Ländern geteilt werden. Mit der hier vorgesehenen Kostenteilung kommt der Bund den Ländern entgegen; denn nach unserer Finanzverfassung läge die Kostenlast allein bei den Ländern.
({6})
Ich halte es nicht für gerechtfertigt, wenn die Länder diesen Punkt jetzt zum Anlaß nähmen, das Gesetzgebungsvorhaben im Bundesrat zu blockieren; denn die Zeit läuft und für die Opfer zählt jeder Tag. In einem sind wir uns mit den Ländern einig. Die Länderjustizminister haben das auf der letzten Justizministerkonferenz in einem Appell an den Deutschen Bundestag beschlossen, in dem es heißt: Stimmen Sie der Bundestag dem Ersten Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht schnell zu! Diese Aufforderung gebe ich jetzt an die Länder zurück und bitte sie im Bundesrat um ein schnelles positives Votum.
Ich glaube, wir sind uns einig, daß die in dem Gesetz vorgesehenen Maßnahmen nur ein Symbol sein können. Es ist richtig, daß Unrecht dieser Art mit Geld nicht aufzuwiegen ist. Doch soll auch nicht verschwiegen werden, daß der Beitrag, den wir zum Ausgleich des Unrechts, der Leiden und der verlorenen Lebenschancen derzeit zu leisten in der Lage sind, bescheiden ist. Wir können die Opfer nicht voll entschädigen.
Wir können ihnen aber ihre Ehre zurückgeben, und wir können dafür sorgen, daß den entrechteten und um ihre Würde gebrachten Menschen ein Denkmal
gesetzt wird, ein Denkmal in unseren Köpfen, in den Köpfen besonders der Jugend, ein Denkmal, das an unsere permanente Pflicht gemahnen soll, Widerstand zu leisten, wann immer die Obrigkeit die Rechte des einzelnen in seiner Substanz anzutasten sucht.
({7})
Dieses Denkmal muß von unseren Schulen, Universitäten und Forschungsinstitutionen errichtet werden. Die Erinnerung sowohl an die perfide Repression als auch an die Männer und Frauen, die an ihr körperlich und seelisch zugrunde gingen, an die, die sich aktiv und passiv zur Wehr gesetzt haben, muß wachgehalten werden.
Es gibt - worauf immer wieder der gerade verstorbene Professor Thomas Nipperdey verwiesen hat auch positive Traditionen in der deutschen Geschichte. Die Opfer der 40 Jahre Zwangsherrschaft in der DDR stehen in einer solchen positiven Tradition der Gegenwehr gegen totalitäre Ansprüche der Obrigkeit.
Das Bewußtsein um die alles entscheidende Bedeutung liberaler Grundwerte und freiheitserhaltender Institutionen muß auch zu Ehren der Opfer des ostdeutschen Unrechtsstaates wachgehalten werden; denn es war die Negation liberaler Werte, es war die Verleumdung pluralistischer Gesellschaftskonzepte, die ein zuerst uneffektives System in ein totalitäres, ja barbarisches Unrechtssystem umkippen ließ.
Wir sind es den Opfern aller totalitären Systeme in Deutschland schuldig, diesen Zusammenhang deutlich und zum festen Bestand unserer Grundüberzeugung zu machen.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz trägt den Titel „Erstes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht". Es wird in Kürze ein zweites ergänzendes Gesetz folgen; denn nach umfassenden Vorarbeiten, die unter Hochdruck durchgeführt worden sind, ist inzwischen der Referentenentwurf des Zweiten Unrechtsbereinigungsgesetzes erstellt. Die verwaltungsrechtliche und die berufliche Rehabilitierung sollen damit abschließend geregelt werden.
Wir werden allerdings auch dort bei weitem nicht alle Unrechtsmaßnahmen wiedergutmachen können. Wir können nur ganz gravierende Verstöße gegen tragende Prinzipien des Rechtsstaates aufgreifen, die bis heute spürbar fortwirken. Wiedergutmachung kann in aller Regel nicht Schadensersatz bedeuten. Wir können nur Ausgleichsleistungen vorsehen, die unter sozialen Gesichtspunkten gewährt werden. Aber wir wollen auch mit diesem zweiten, folgenden SED-Unrechtsbereinigungsgesetz einen Beitrag zur inneren deutschen Einheit leisten.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort erteile ich nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Christine Lucyga.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Versuch, vier Jahrzehnte
DDR-Vergangenheit mit rechtsstaatlichen Mitteln zu bewältigen, ist schon vom Ansatz her problematisch; denn für ein Unrechtssystem gelten die Regeln des Rechtsstaates nicht. Es bedarf besonderer Instrumentarien. Daher sind die bisherigen Versuche, das unter der SED-Herrschaft alltäglich praktizierte Unrecht mit herkömmlichen Mitteln wiedergutzumachen, mehr oder weniger gescheitert.
Aber auch die Diskussion über eine mögliche Wiedergutmachung hat viel zu lange gedauert. Die Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung sind bis jetzt unerfüllt geblieben. Nicht ohne Grund kursiert gegenwärtig der Sarkasmus, die Menschen in der ehemaligen DDR hätten Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen.
Der heute auf der Tagesordnung stehende Entwurf eines Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes könnte, wäre er nicht so halbherzig angelegt, in diesem Sinne weitaus mehr sein als eine beliebige Gesetzesvorlage. Für die Menschen in der ehemaligen DDR bedeutet er so etwas wie ein sichtbares Zeichen der Solidarisierung mit denjenigen, die sich von dem alle Lebensbereiche durchdringenden Unrechtssystem des untergegangenen SED-Staates nicht korrumpieren ließen, die sich dem Unrechtsstaat verweigert haben oder ohne eigenes Dazutun in die Mühlen dieses Staates gerieten und dafür einen hohen Preis zahlen mußten: Verlust an Freiheit, beruflichen Chancen, an Besitz bis hin zum Verlust an Leib und Leben.
Viele von ihnen wurden bestraft, weil sie sich für selbstverständliche menschliche Grundrechte eingesetzt haben, für Freiheiten, die in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständlicher Allgemeinbesitz sind und im anderen Teil Deutschlands zum politischen Verbrechen erklärt wurden.
Symbol des Widerstandes der Menschen in der damaligen DDR gegen Willkür und kollektive Freiheitsberaubung war jahrzehntelang der 17. Juni. Ich hoffe, daß es mehr als nur Symbolik bedeutet, wenn dieses Datum auch für die jetzt anstehende Debatte zum Unrechtsbereinigungsgesetz gewählt wurde.
({0})
Ich hoffe, daß der uns vorliegende Entwurf doch noch in Änderungen verbessert werden kann. Jahrzehntelang war das Datum 17. Juni im westlichen Teil Deutschlands Gedenktag und Anlaß, die Opfer von Menschen, die im anderen Teil Deutschlands staatlicher Willkür unterworfen waren, zu würdigen. Seit nunmehr fast zwei Jahren warten diese Menschen darauf, daß den Worten nun auch Taten folgen.
({1})
Nur, das uns hier präsentierte Ergebnis ist zunächst einmal mehr als blamabel zu nennen. Es drängt sich geradezu der Eindruck auf, daß Bundesregierung und Koalitionsfraktionen schnell mit wohlfeilen Worten bei der Hand sind, sich mit dem Handeln aber schwertun.
Ich möchte daran erinnern, daß der Einigungsvertrag dem gesamtdeutschen Gesetzgeber aufträgt, eine unverzüglich zu schaffende gesetzliche Grundlage für die Rehabilitierung der Opfer von DDRUnrecht und eine angemessene Entschädigung zu verabschieden, nachdem das von der Volkskammer am 6. September 1990 verabschiedete Rehabilitierungsgesetz durch den Einigungsvertrag in wesentlichen Teilen amputiert worden war. Seitdem sind, wie gesagt, fast zwei Jahre vergangen, und die Zeit für eine lang erwartete Klärung der Entschädigungs- und Rehabilitierungsansprüche für die Opfer von SED-Unrecht drängt.
Eine schnelle und gründliche - ich betone: gründliche - Wiedergutmachung von Unrecht, das aus politischen Gründen aller Art den Menschen in der damaligen DDR zugefügt wurde, ist eine Aufgabe, die wohl dringenden Vorrang vor der Wiederherstellung von oft nur noch formalen Besitzansprüchen in der damaligen DDR haben muß. Für viele Betroffene ist es höchste Zeit, denn ihnen bleibt nicht mehr viel Zeit. In Anhörungen von Opfern und Opferverbänden wird immer wieder betont, daß sie Gerechtigkeit, und zwar noch zu Lebzeiten, wollen.
({2})
Dies ist ein Grund für die Eilbedürftigkeit einer verbindlichen rechtlichen Regelung für die Opfer. Aber dies gilt auch für einen großen Kreis von Angehörigen: von Ehefrauen, Ehemännern, Kindern, die die Zwangsmaßnahmen mit ertragen und auf ihre Weise mit verbüßt haben. Dieser Personenkreis muß in rechtlich angemessener Form auch durch Erbansprüche in zu verabschiedende Entschädigungsregelungen mit einbezogen werden. Denn was sonst soll man denn der hochbetagten Witwe und den auch schon nicht mehr jungen Söhnen und Töchtern z. B. jenes Landarbeiters sagen, der nach dem 17. Juni 1953 als sogenanntes „politisch unzuverlässiges Element" verschleppt wurde und in der Haft verstarb? Die Familie erfuhr es nach Wochen. Die Witwe sah nicht einmal den Totenschein, und sie hatte für sich und die Kinder in den folgenden Jahren schwere Not zu tragen. Darüber hinaus war den Kindern für immer ein negatives Vorzeichen in ihre Lebensläufe gedruckt, das ihre Chancen auf dem späteren Bildungsweg und auf eine berufliche Entwicklung drastisch verminderte.
Selbstverständlich haben diese Menschen einen Anspruch darauf, an einer künftigen Entschädigungsregelung zumindest über Erbansprüche beteiligt zu werden, wobei fraglich ist, ob denn Willkür und Ungerechtigkeit jemals - auch durch materielle Entschädigungen - wiedergutgemacht werden können. Um so unverständlicher ist daher, daß in so unwürdiger Form um die Höhe der Entschädigung gefeilscht wird.
({3})
Der damalige Justizminister Kinkel hat in seinem Debattenbeitrag vom 5. Dezember 1991 die minimale Forderung einer Entschädigung für politisch bedingte Haftstrafen, die der Entschädigung nach dem Strafverfolgungsentschädigungsgesetz entsprechen würden, als falsch bezeichnet und dafür plädiert, es gehe nicht „um eine volle, sondern um eine angemessene Entschädigung". Nur, ich sehe da keinen Wider8016
spruch. Es gibt kein Entweder-Oder, denn dies ist - mit Verlaub gesagt - nicht mehr als ein unbrauchbares Wortspiel, daß das Versprechen einer Wiedergutmachung - man versprach sogar, man wolle tun, was in den Kräften stehe - nur zur Floskel verkommen läßt.
Auch Sie, Frau Justizministerin, beeilen sich zwar, die Rehabilitierung politisch Verfolgter zu einem Politikum ersten Ranges zu erheben, aber Sie plädieren gleichzeitig dafür, daß es nur eine symbolische Entschädigung geben kann. Das ist für mich ein Widerspruch. Eine angemessene Entschädigung kann zumindest die volle Entschädigung nach dem Strafverfolgungsentschädigungsgesetz und nicht eine Summe sein, die, um beim umgekehrten Vergleich zu bleiben, für läßliche Verkehrssünden kassiert wird.
Das Argument der Bundesregierung, daß die zu erwartende finanzielle Belastung den Staat überfordern würde, klammert bewußt die Möglichkeit aus, für solche Entschädigungsleistungen das Vermögen der SED und der mit ihr liierten Blockparteien mit in die Finanzierung einzubringen.
({4})
Für mich hat darüber hinaus besonderes Gewicht, daß auch die ehemaligen Parteifirmen innerhalb des KoKo-Bereichs zu dieser Verfügungsmasse gehören müssen und nicht klammheimlich mit Schalcks Hilfe zu Staatsfirmen umdeklariert werden dürfen.
Es liegt nahe, daß Unmut und Kritik von Opferverbänden und von rechtserfahrenen Gutachtern an der von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen vorgesehenen Entschädigungsregelung geäußert wurden. Gespräche mit Betroffenen und Verbänden zeigen immer wieder, daß die ehemals Verfolgten erwarten, das geeinte Deutschland werde seiner moralischen Pflicht, die eine materielle Wiedergutmachung von Unrecht einschließt, ernst nehmen. Es geht nicht allein um eine materielle Entschädigung, denn Leid läßt sich nicht einfach so in Geld umrechnen. Für viele ist die Wiederherstellung ihres guten Rufes, ihrer Unbescholtenheit ein wesentliches Moment. Dazu bedarf es des ganzen Komplexes der Maßnahmen.
Ich erinnere mich sehr gut der Kindergärtnerin, die weinend zu mir kam und sich erstmals nach langen Jahren von der Schande, die sie empfand, freisprechen konnte, eine Vorbestrafte zu sein. Sie mußte über lange Jahre die Demütigung und Diskriminierung als Vorbestrafte mitmachen, weil nicht darüber geredet wurde, daß sie als Zwanzigjährige verurteilt wurde, weil sie einen politischen Witz erzählt hatte. Das war ein Tabuthema. Es war wichtig für diese Frau, sich rehabilitiert zu wissen, über das „Delikt" sprechen zu können und die Nichtigkeit ihres Verfahrens bescheinigt zu bekommen. Diese Frau hat mit dem Verlust jeglicher beruflicher Chance zahlen müssen. Sie wurde nicht mehr zum Studium zugelassen und ist jetzt eine der ersten, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Der Grund: nicht qualifiziert.
Auch daher bedarf der ganze Komplex der beruflichen Rehabilitierung und der Wiedergutmachung der
jahrelangen Benachteiligung aus politischen Gründen einer weitergehenden Erörterung. Denn es kann nicht Rechtens sein, daß diejenigen, die aus politischen Gründen an ihrer beruflichen Entwicklung gehindert wurden, nun die ersten sind, die ihre Kündigung erhalten, während frühere ideologische Großinquisitoren gesuchte Führungskräfte westlicher Unternehmen sind.
({5})
Es wäre angemessen und richtig, in diesem Kontext auch über einen besonderen Kündigungsschutz für ehemals politisch Verfolgte in jetzigen Treuhandbetrieben oder im öffentlichen Dienst nachzudenken. Solche Zeichen erwarten die Menschen in Ostdeutschland, die der immerwährenden Appelle an Geduld und Hoffnung herzlich überdrüssig sind.
({6})
Rehabilitierung vor dem Gesetz und Entschädigung nach dem Gesetz sind die eine Seite. Die andere Seite aber muß sein - das ist die wichtigere Seite , den Opfern, die schuldlos gelitten haben, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn das vor allem fordern sie. Diese Gerechtigkeit ist für das geistige und das moralische Selbstverständnis im geeinten Deutschland wichtig, in dem das Schicksal eines Teiles der Bevölkerung nicht stillschweigend zu den Akten gelegt werden darf.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Professor Heuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frau Ministerin hat meine Ausführungen zum Rechtsanwaltsüberprüfungsgesetz als ungeheuerlich bezeichnet, aber auf jegliche juristische Argumentationen verzichtet. Ich möchte noch einmal ausdrücklich sagen: Es handelt sich bei den Anwälten um einen freien Beruf. Ein freier Beruf unterliegt nicht den Überprüfungsregelungen des öffentlichen Dienstes. Karl Liebknecht war anderthalb Jahre wegen Hochverrats verurteilt worden und durfte trotzdem Anwalt sein. Das Bundesverfassungsgericht hat zugelassen, daß jemand, der vom Kommunistischen Bund Westdeutschlands war, der als verfassungsfeindlich angesehen wurde, trotzdem Anwalt sein darf. Mit diesem Gesetzentwurf werden Maßstäbe angelegt, die die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik angreifen. Das ist mein Problem. Darauf hätte ich gern eine Antwort der Frau Ministerin gehabt.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Ullmann das Wort, damit er seine unterbrochene Rede fortsetzen kann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fange beim Bundesentschädigungsgesetz wieder an, weil das Geld eben doch etwas mit Moral zu tun hat,
und zwar im Blick auf die Opfer, um die es hier geht, sehr viel. Schon zur Zeit der Entstehung des Bundesentschädigungsgesetzes stieß der außerordentlich niedrige Entschädigungsbetrag von 5 DM pro Hafttag auf lebhafte Kritik. Man mochte ihn für erträglich halten, weil das Bundesentschädigungsgesetz einen ganzen Katalog von weiteren Hilfsmaßnahmen vorsah. Damit aber gerät die Arbeit an der Unrechtsbereinigung in den Bereich jener Gesetze, die sich zwar inhaltlich mit dieser Aufgabe berühren, der Sache nach aber ganz andere Ziele verfolgen, wie das Häftlingshilfegesetz oder das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, die entweder soziale Eingliederung durch Hilfsmaßnahmen erreichen oder für schuldlos erlittene Haft entschädigen wollen. Daß die Opfer des Stalinismus oder der poststalinistischen SED-Repression, die Haftstrafen erlitten haben, ihre Entschädigungen mit den Sätzen des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vergleichen und nicht verstehen können, wieso ihre Haftentschädigung nur die Hälfte oder ein Drittel der in vergleichbaren Fällen gewährten beträgt, daran wird sie niemand hindern können. Daß die freiheitliche Demokratie in einem der reichsten Länder der Erde die Betroffenen nach allen erlittenen Härten in dieses bittere Gefühl erneuter Ungerechtigkeit entläßt, gibt es dafür eine Rechtfertigung, wenn es nicht einmal eine Erklärung gibt?
Das wird noch dadurch verschärft, daß das Entschädigungsrentengesetz für NS-Opfer eine Monatsrente von 1 400 DM vorsieht, mehr als das Vierfache des Monatssatzes für die Haftentschädigung des Unrechtsbereinigungsgesetzes.
In all diesen Ungerechtigkeiten wirkt sich aus, daß dieses Gesetz ein rechtliches Grundproblem nicht löst, das ihm doch aufgegeben war, das geschehene Unrecht durch Gesetz zu verurteilen und damit alle in seinem Rahmen vollzogenen Verfahren für rechtswidrig und darum null und nichtig zu erklären, wie es das entsprechende tschechische Gesetz und der erste Änderungsantrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorsieht.
Der Regierungsentwurf mit seiner Per-Antrag-Aufhebung-Klausel und seiner Insoweit-Klausel läßt ein mögliches Weiterwirken dieses Unrechts mindestens offen und bleibt damit gerade im Entscheidenden hinter der Forderung der grundsätzlichen Unrechtsbereinigung zurück. Aber gerade darum geht es. Im Stalinismus und Poststalinismus handelte es sich nicht um Vorgänge, auf die mit Sozialhilfe oder Korrektur einzelner Justizirrtümer zu antworten wäre. Nein, das Unrecht, das bereinigt werden muß, war politische Unmenschlichkeit, war ein Angriff auf die Menschenwürde, das Fundament und die Voraussetzung unserer gemeinsamen gesellschaftlichen, politischen Existenz.
Können wir unter solchen Umständen so verfahren, daß die Betroffenen den Eindruck haben, der Finanzminister hat in seiner Kasse nachgesehen, was gerade noch übrig war und sagt ihnen nun: Es war halt nicht mehr, und nun findet euch ab?
Demgegenüber ist klarzustellen: Der Staat ist der Schuldner aller derer, die von Staats wegen so gröblich mißhandelt worden sind. Den Opferverbänden geht es zuallererst darum, daß diese ihre Forderung anerkannt wird. Wie sie zu begleichen ist, in welchen Zeiträumen das geschieht, darüber sind viele Kompromisse möglich und von ihnen auch angeboten worden.
Haftbar für das begangene Unrecht ist zuallererst die Partei und die mit ihr Verbündeten, in deren Auftrag und Namen die politischen Unmenschlichkeiten begangen worden sind.
({0})
Meine Damen und Herren, wir sollten uns im klaren sein, daß, wenn wir denen, die jetzt in diesem Gesetz noch nicht berücksichtigt worden sind, eine Aussicht in dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz versprechen, damit die größte Aufgabe des Lastenausgleiches nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf uns zukommt.
Danke.
({1})
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß Sie möglichst schnell ihrem Wunsch nach namentlicher Abstimmung nachkommen wollen. Deswegen möchte ich Sie über die Geschäftslage informieren:
Zunächst einmal teile ich dem Hause mit, daß mir zu Protokoll gegebene Erklärungen der Abgeordneten Jörg Ganschow *) und Claus Jäger **) nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen.
Ich habe weiterhin bis jetzt drei Wünsche nach persönlichen Erklärungen nach § 31.
Nun rufe ich den Abgeordneten Hartmut Büttner zu einer persönlichen Erklärung nach § 31 auf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Respekt vor dem großen Leid der Haftopfer des Kommunismus unterstützen wir die Inhalte des Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes. Wir begrüßen besonders, daß dieses Gesetz die Aufhebung ungerechtfertigter Urteile in der SBZ und der späteren DDR ermöglicht. Ebenso positiv sind die Einbeziehung der Opfer rechtstaatswidriger Einweisungen in psychiatrische Anstalten, der Entschädigungsanspruch für durch die sowjetische Besatzungsmacht Verurteilte und die rentenerhöhende Berücksichtigung der Haftzeiten.
Meine Damen und Herren, niemand wird allein durch die Zahlung von Geld erlittenes Unrecht ausgleichen können. Aber wir können durch die Aufhebung ungerechtfertigter Urteile und durch eine angemessene Entschädigung die Folgen mildern. Wir halten deshalb auch eine monatliche Kapitalentschädigung in Höhe von 600 DM für die Opfer rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen für angemessen.
*) Anlage 2 **) Anlage 3
Hartmut Büttner ({0})
Lieber Rolf Schwanitz und liebe Fraktion der SPD, mit Blick auf die angespannte Lage der Staatsfinanzen und die finanziellen Leistungen des Bundes für die neuen Länder wissen wir, daß wir nicht alle notwendigen Aufgaben gleichzeitig finanzieren können.
Wir stimmen dem Gesetz trotz großer Bedenken hinsichtlich der unzureichenden Höhe der Kapitalentschädigung zu, weil der Bundesfinanzminister zugesagt hat, eine deutlich verbesserte Härteregelung für die heute noch unter den Folgen der Haft leidenden Opfer zu ermöglichen, weil wir die Zustimmung auch an die Erwartung knüpfen, daß die Opfer von Flucht und Vertreibung eine Einmalleistung im Rahmen des Kriegsfolgengesetzes erhalten werden, und weil eine Verlängerung des Altersübergangsgeldes für Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern bis zum 31. Dezember 1992 nötig ist.
Meine Damen und Herren, das war nicht nur meine persönliche Erklärung, sondern das war die Erklärung von 47 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, vor allen Dingen aus den Ländern Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. *)
({1})
Herr Abgeordneter, ich müßte dann die 47 Namen haben.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Graf Schönburg-Glauchau zu einer persönlichen Erklärung nach § 31 das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich fühle mich recht elend, wenn ich heute, am 17. Juni, dieser Entschädigung zustimmen muß.
({0})
- Ich werde gleich sagen, warum.
Ich bin dabei nicht allein, sondern den Kollegen meiner Fraktion aus den östlichen Ländern geht es genauso. Ich kann meine Bedenken eigentlich nur dadurch überwinden, daß eine Stiftung vorgesehen ist, die versuchen wird, Not zu lindern. Vor die Wahl gestellt, ob jeder einen höheren Entschädigungsbetrag bekommen soll oder ob eine Stiftung Not lindern soll, bin ich tatsächlich mehr für die Stiftung. Denn ich kenne genug alte Freunde und Schulkameraden, die ein paar Jahre gesessen und Schweres mitgemacht haben, die sich aber inzwischen gefangen haben. Einer ist erfolgreicher Rechtsanwalt in Düsseldorf. Die Haftjahre, die Jahre seines Lebens, die man ihm geklaut hat, kann man weder mit 300 DM noch mit 600 DM noch mit 1 000 DM Entschädigung pro Monat Haft wiedergutmachen.
Wenn die Stiftung gut ausgestattet wird, können wir das vorhandene Leid lindern. Ich kann meine Bedenken also wegen der Errichtung der Stiftung zurückstellen, dies aber auch nur in der Erwartung, daß diese Stiftung ganz groß und stark wird. Die Stiftung ist offen, und ich hoffe, daß der Bund, die Länder, die Gemeinden und die gesellschaftlichen Gruppen in
*) Anlage 4
diese Stiftung einzahlen. Ich hoffe, daß wir sehr viel des KoKo-Vermögens, des Vermögens der SED, des FDGB in diese Stiftung einbringen können.
Ich möchte gern, daß zum Beispiel mein Elternhaus, das ich nicht wieder erwerben darf und für das ich keine Entschädigung bekomme, wenigstens in diese Stiftung eingebracht wird. Deswegen werde ich trotz aller Bedenken unserem Antrag zustimmen.
Danke schön.
({1})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Lüder das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe im Innenausschuß dieses Hauses für meine Fraktion erklärt, daß unser politischer Wille dahin geht, 600 DM Entschädigung pro Monat zu gewähren. Aber ich habe ergänzt - deswegen stimme ich heute für den Entwurf der Regierung -, daß wir vor der Frage stehen, ob wir hier und heute in Anbetracht der finanziellen Situation und auch der finanziellen Härten diesen Gesetzentwurf mit 300 DM annehmen oder nicht. Insofern entscheide ich mich für die heutige Regelung, damit wir an die Lösung der Problematik jetzt herangehen können.
Ich möchte die Ausführungen des Kollegen Büttner folgendermaßen ergänzen - ich glaube, ich kann das sogar mit seinem Einverständnis tun -: Es geht nicht nur darum, daß weitere finanzielle Probleme auftreten werden, z. B. durch das Kriegsfolgenschlußgesetz, durch die finanziellen Regelungen für Heimkehrer und Kriegsgefangene, durch die Wiedergutmachung für Verwaltungsunrecht in der DDR, wie die Frau Ministerin heute angefügt hat; das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz steht an. Diese Liste ist nicht einmal erschöpfend.
Wenn ich heute zustimme - das ist die Ergänzung -, dann auch in der Erwartung - das sage ich an das Finanzministerium gerichtet -, daß wir nicht wie im letzten Jahr bei diesen Bereichen teilweise mit Nullouvert abschließen werden. Wir müssen die vorhandene Finanzmasse gerecht verteilen. Wir wollen alle Opfergruppen berücksichtigen. Vor die Frage gestellt, ob man für einen Teil eine zu geringe Entschädigung oder gar nichts für einen anderen Teil zahlt, entscheide ich mich dafür, hier zum Regierungsentwurf ja zu sagen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes auf den Drucksachen 12/1608 und 12/2820. Die Fraktion der SPD hat zu einigen Vorschriften getrennte Abstimmung verlangt. Wir werden selbstverständlich so verfahren.
Außerdem hat die Fraktion der SPD zu einem Änderungsantrag zu Art. 1 § 17 Abs. 1 namentliche Abstimmung verlangt. Aus abstimmungsökonomiVizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
schen Gründen werde ich das soweit wie möglich vorziehen. Während der Auszählung können wir die übrigen Abstimmungen vornehmen. Nach der Auszählung kann dann endgültig über § 17 und das Gesetz insgesamt abgestimmt werden.
Zu Art. 1 § 17 Abs. 1 liegt ein weitergehender Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2828 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer für diesen Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalition und bei Enthaltung der SPD-Fraktion sowie der Gruppe PDS/Linke Liste ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zu dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2822. Zu diesem Antrag hat die SPD-Fraktion namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die Abstimmung. Darf ich die Geschäftsführer der Fraktionen fragen, ob wir die Abstimmung schließen können.
({0})
- Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.*)
Meine Damen und Herren, wir stimmen nunmehr weiter ab. Ich rufe Art. 1 § 1 Abs. 1 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2826 vor. Wer für den Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD bei Enthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über Art. 1 § 1 Abs. 1 in der Ausschußfassung. Wer der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist Art. 1 § 1 Abs. 1 mit den Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD bei Enthaltung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei unterschiedlichem Stimmverhalten der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen.
Mit Änderungsantrag auf Drucksache 12/2827 verlangt die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Art. 1 § 1 nach Abs. 1 die Einfügung eines Abs. 1 a. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses - mit Ausnahme der Stimme des Abgeordneten Weiß - abgelehnt.
Ich rufe nunmehr Art. 1 § 1 Abs. 2 bis 6 sowie die §§ 2 bis 16 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
Ich rufe nunmehr Art. 1 § 17 Abs. 2 in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage-
*) Ergebnis Seite 8020A
gen? - Art. 1 § 17 Abs. 2 ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. gegen die Stimmen der Gruppe PDS/Linke Liste bei Enthaltung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe nunmehr Art. 1 § 17 Abs. 3 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2829 vor. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltungen der SPD und von Teilen der Gruppe PDS/Linke Liste abgelehnt.
Nunmehr lasse ich über Art. 1 § 17 Abs. 3 in der Ausschußfassung abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die aufgerufene Vorschrift ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. angenommen.
Mit dem Änderungsantrag aus Drucksache 12/2823 verlangt die Fraktion der SPD in Art. 1 § 17 die Einfügung eines Abs. 4. Die SPD beantragt also für den Art. 1 § 17 einen zusätzlichen Abs. 4. Wer dafür zu stimmen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. -- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste ist dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt worden.
Meine Damen und Herren, ich kann jetzt über § 17 nicht abstimmen lassen, weil wir noch das Ergebnis der namentlichen Abstimmung abwarten müssen.
Ich fahre fort: Art. 1 §§ 18 bis 19 in der Ausschußfassung. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann sind diese §§ 18 bis 19 im Art. 1 mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. angenommen worden.
Ich rufe den Art. 1 § 20 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2824 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag der SPD? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Art. 1 § 20 in der Ausschußfassung? - Enthaltungen? - Dagegen? - Dann ist dieser Art. 1 § 20 mit der gleichen Mehrheit wie eben bei der Ablehnung des Änderungsantrages angenommen worden.
Ich rufe den Art. 1 §§ 21 bis 24 sowie § 25 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 in der Ausschußfassung auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Art. 1 §§ 21 bis 24, § 25 Abs. 1, Abs. 2 Satz i Nr. 1 in der Ausschußfassung mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. angenommen worden.
Ich rufe Art. 1 § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 auf. Dazu liegt ein Änderungsantrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2830 vor. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. bei Enthaltung der Gruppe PDS/Linke Liste abgelehnt worden.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Wer stimmt für Art. 1 § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 in der Ausschußfassung? - Dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Vorschrift mit den Stimmen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. angenommen worden.
Ich rufe Art. 1 § 25 Abs. 2 die Sätze 2 bis 3, Abs. 3 bis 5, §§ 26 bis 28 und Art. 2 bis 8, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer stimmt den aufgerufenen Vorschriften zu? - Dagegen? - Dann sind diese Vorschriften mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD, F.D.P. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste angenommen worden.
Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen nunmehr erfreulicherweise das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekanntgeben. Abgegebene Stimmen 498, ungültig keine. Mit Ja haben 193 gestimmt, mit Nein haben 304 gestimmt, und eine Enthaltung ist zu verzeichnen.
Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 497
ja: 194
nein: 302
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Dr. Kappes, Franz-Hermann Molnar, Thomas
Schulz ({1}), Gerhard Spilker, Karl-Heinz
Stübgen, Michael
SPD
Adler, Brigitte
Andres, Gerd
Bachmaier, Hermann Bartsch, Holger
Becker ({2}), Helmuth Becker-Inglau, Ingrid
Berger, Hans
Bernrath, Hans Gottfried Beucher, Friedhelm Julius Bindig, Rudolf
Dr. Böhme ({3}), Ulrich Brandt-Elsweier, Anni Dr. Brecht, Eberhard
Dr. von Bülow, Andreas Büttner ({4}), Hans Bury, Hans Martin Caspers-Merk, Marion
Dr. Däubler-Gmelin, Herta Daubertshäuser, Klaus
Dr. Dobberthien, Marliese Dreßler, Rudolf
Dr. Eckardt, Peter
Dr. Ehmke ({5}), Horst Eich, Ludwig
Dr. Elmer, Konrad
Erler, Gernot
Ferner, Elke
Fischer ({6}), Lothar Fuchs ({7}), Anke
Fuchs ({8}), Katrin Fuhrmann, Arne
Ganseforth, Monika
Gansel, Norbert Gilges, Konrad Gleicke, Iris
Dr. Glotz, Peter Großmann, Achim Haack ({9}),
Karl-Hermann Habermann, Frank-Michael Hacker, Hans-Joachim Hämmerle, Gerlinde Hampel, Manfred Eugen Hanewinckel, Christel
Dr. Hartenstein, Liesel Hasenfratz, Klaus Hilsberg, Stephan Horn, Erwin
Iwersen, Gabriele Jäger, Renate Janz, Ilse
Jaunich, Horst Dr. Jens, Uwe
Jung ({10}), Volker Kastner, Susanne Kirschner, Klaus Klemmer, Siegrun
Dr. sc. Knaape, Hans-Hinrich Körper, Fritz Rudolf
Kolbe, Regina Kolbow, Walter Koltzsch, Rolf Kubatschka, Horst Dr. Kübler, Klaus Kuessner, Hinrich Lambinus, Uwe Lange, Brigitte
von Larcher, Detlev Leidinger, Robert
Dr. Leonhard-Schmid, Elke Dr. Lucyga, Christine
Maaß ({11}), Dieter
Marx, Dorle
Mascher, Ulrike Matschie, Christoph
Dr. Matterne, Dietmar Matthäus-Maier, Ingrid Mattischeck, Heide Meißner, Herbert
Dr. Mertens ({12}),
Franz-Josef
Dr. Meyer ({13}), Jürgen Mosdorf, Siegmar
Müller ({14}), Albrecht Müller ({15}), Christian Neumann ({16}), Volker
Neumann ({17}), Gerhard Dr. Niehuis, Edith
Dr. Niese, Rolf Niggemeier, Horst Odendahl, Doris Oesinghaus, Günter Oostergetelo, Jan Opel, Manfred Ostertag, Adolf
Dr. Otto, Helga
Dr. Penner, Willfried
Peter ({18}), Horst
Pfuhl, Albert
Dr. Pick, Eckhart Reimann, Manfred von Renesse, Margot Rennebach, Renate
Reuter, Bernd Rixe, Günter Roth, Wolfgang
Schaich-Walch, Gudrun Schanz, Dieter
Scheffler, Siegfried Willy Schily, Otto
Schloten, Dieter Schluckebier, Günter Schmidbauer ({19}),
Bernd
Schmidt ({20}), Ursula Schmidt ({21}), Renate Schmidt ({22}), Wilhelm Schmidt-Zadel, Regina
Dr. Schmude, Jürgen Schreiner, Ottmar Schröter, Gisela Schröter, Karl-Heinz
Dr. Schuster, Werner Schwanhold, Ernst Schwanitz, Rolf Seidenthal, Bodo Seuster, Lisa
Sielaff, Horst Simm, Erika
Singer, Johannes
Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid
Dr. Soell, Hartmut
Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Sorge, Wieland
Dr. Sperling, Dietrich
Stiegler, Ludwig Dr. Struck, Peter Tappe, Joachim Terborg, Margitta
Dr. Thalheim, Gerald Toetemeyer, Hans-Günther Urbaniak, Hans-Eberhard Vergin, Siegfried Verheugen, Günter
Dr. Vogel, Hans-Jochen
Voigt ({23}), Karsten D. Wartenberg ({24}), Gerd Weiermann, Wolfgang
Weiler, Barbara
Weis ({25}), Reinhard Weißgerber, Gunter Weisskirchen ({26}), Gert Welt, Hans-Joachim
Dr. Wernitz, Axel Wester, Hildegard Westrich, Lydia Wettig-Danielmeier, Inge
Dr. Wetzel, Margrit
Weyel, Gudrun
Dr. Wieczorek, Norbert Wiefelspütz, Dieter
Wimmer ({27}), Hermann
Dr. de With, Hans Wohlleben, Verena Ingeburg Wolf, Hanna
Zapf, Uta
Dr. Zöpel, Christoph
F.D.P.
Ganschow, Jörg
Dr. Schnittler, Christoph
PDS/LL
Bläss, Petra
Dr. Enkelmann, Dagmar
Dr. Fischer, Ursula Dr. Fuchs, Ruth
Dr. Heuer, Uwe-Jens Dr. Höll, Barbara Jelpke, Ulla
Dr. Keller, Dietmar Lederer, Andrea Dr. Modrow, Hans Dr. Schumann ({28}),
Fritz
Dr. Seifert, Ilja
Stachowa, Angela
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Köppe, Ingrid
Poppe, Gerd
Schenk, Christina
Schulz ({29}), Werner Dr. Ullmann, Wolfgang Weiß ({30}), Konrad Wollenberger, Vera
Fraktionslos
Dr. Briefs, Ulrich Henn, Bernd
Lowack, Ortwin
Nein
CDU/CSU
Dr. Ackermann, Else Adam, Ulrich
Augustin, Anneliese Augustinowitz, Jürgen Bargfrede, Heinz-Günther
Dr. Bauer, Wolf
Baumeister, Brigitte Bayha, Richard
Belle, Meinrad
Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Bierling, Hans-Dirk
Dr. Blank, Joseph-Theodor Blank, Renate
Dr. Blens, Heribert Bleser, Peter
Dr. Blüm, Norbert Dr. Böhmer, Maria Dr. Bötsch, Wolfgang Breuer, Paul
Brudlewsky, Monika Büttner ({31}), Hartmut
Buwitt, Dankward Carstensen ({32}), Peter Harry
Clemens, Joachim Dehnel, Wolfgang Dempwolf, Gertrud Deß, Albert
Diemers, Renate Dörflinger, Werner Ehlers, Wolfgang Ehrbar, Udo
Eichhorn, Maria Engelmann, Wolfgang Eylmann, Horst
Eymer, Anke
Falk, Ilse
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Dr. Faltlhauser, Kurt
Dr. Fell, Karl Fockenberg, Winfried
Francke ({33}), Klaus
Dr. Friedrich, Gerhard
Fritz, Erich G.
Fuchtel, Hans-Joachim
Ganz ({34}), Johannes Geiger, Michaela
Geis, Norbert
Dr. von Geldern, Wolfgang Gerster ({35}), Johannes Gibtner, Horst
Glos, Michael
Dr. Göhner, Reinhard
Götz, Peter
Dr. Götzer, Wolfgang
Gres, Joachim Grochtmann, Elisabeth
Gröbl, Wolfgang Grotz, Claus-Peter
Dr. Grünewald, Joachim Günther ({36}), Horst Haschke ({37}),
Gottfried
Haschke ({38}), Udo Hasselfeldt, Gerda
Haungs, Rainer
Hauser ({39}), Otto Hauser ({40}),
Hansgeorg
Hedrich, Klaus-Jürgen
Heise, Manfred
Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Hinsken, Ernst
Hintze, Peter Hörsken, Heinz-Adolf
Dr. Hoffacker, Paul
Hollerith, Josef
Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried
Hüppe, Hubert Jäger, Claus Jagoda, Bernhard
Dr. Jahn ({41}),
Friedrich-Adolf
Janovsky, Georg
Jeltsch, Karin Dr.-Ing. Jork, Rainer
Dr. Jüttner, Egon
Junghanns, Ulrich
Dr. Kahl, Harald Kampeter, Steffen
Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Karwatzki, Irmgard
Kauder, Volker Keller, Peter Kittelmann, Peter
Klein ({42}), Günter
Klein ({43}), Hans Klinkert, Ulrich
Köhler ({44}),
Hans-Ulrich
Dr. Köhler ({45}),
Volkmar
Kors, Eva-Maria Koschyk, Hartmut
Kossendey, Thomas
Kraus, Rudolf
Dr. Krause ({46}),
Rudolf Karl
Krause ({47}), Wolfgang Krey, Franz Heinrich Kronberg, Heinz-Jürgen Dr.-Ing. Krüger, Paul Krziskewitz, Reiner Eberhard Lamers, Karl
Dr. Lammert, Norbert
Lamp, Helmut Johannes Lattmann, Herbert
Dr. Laufs, Paul Laumann, Karl Josef
Lehne, Klaus-Heiner Dr. Lehr, Ursula-Maria Lenzer, Christian
Dr. Lieberoth, Immo Limbach, Editha
Link ({48}), Walter Lintner, Eduard
Dr. sc. Lischewski, Manfred Löwisch, Sigrun
Lohmann ({49}), Wolfgang
Louven, Julius
Lummer, Heinrich Dr. Luther, Michael
Maaß ({50}), Erich Männle, Ursula
Magin, Theo
Dr. Mahlo, Dietrich Marienfeld, Claire Marschewski, Erwin Dr. Mayer ({51}),
Martin
Meckelburg, Wolfgang Meinl, Rudolf Horst
Dr. Merkel, Angela Dorothea Dr. Meseke, Hedda
Dr. Meyer zu Bentrup,
Reinhard
Michalk, Maria
Michels, Meinolf
Dr. Mildner, Klaus Gerhard Dr. Möller, Franz
Dr. Müller, Günther Müller ({52}), Elmar Müller ({53}), Alfons Nelle, Engelbert
Neumann ({54}), Bernd Nitsch, Johannes
Nolte, Claudia
Dr. Olderog, Rolf Ost, Friedhelm
Oswald, Eduard
Otto ({55}), Norbert Dr. Päselt, Gerhard
Dr. Paziorek, Peter Paul Pesch, Hans-Wilhelm Petzold, Ulrich
Pfeffermann, Gerhard O. Pfeifer, Anton
Pfeiffer, Angelika
Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Pinger, Winfried Pofalla, Ronald
Dr. Pohler, Hermann Priebus, Rosemarie Dr. Probst, Albert Dr. Protzner, Bernd
Rahardt-Vahldieck, Susanne Raidel, Hans
Rau, Rolf
Rauen, Peter Harald Rawe, Wilhelm
Reddemann, Gerhard Dr. Reinartz, Berthold Reinhardt, Erika
Repnik, Hans-Peter Dr. Rieder, Norbert
Dr. Riedl ({56}), Erich Riegert, Klaus
Ringkamp, Werner Rode ({57}), Helmut Rönsch ({58}),
Hannelore
Roitzsch ({59}), Ingrid Romer, Franz-Xaver
Rother, Heinz
Dr. Ruck, Christian Dr. Rüttgers, Jürgen
Sauer ({60}), Helmut Sauer ({61}), Roland Scharrenbroich, Heribert Schätzle, Ortrun
Dr. Schäuble, Wolfgang Schemken, Heinz
Scheu, Gerhard
Schmidt ({62}), Christian Dr. Schmidt ({63}), Joachim
Schmidt ({64}), Andreas Schmidt ({65}), Trudi Schmitz ({66}),
Hans Peter
Dr. Schockenhoff, Andreas Graf von SchönburgGlauchau, Joachim Dr. Scholz, Rupert Frhr. von Schorlemer,
Reinhard
Dr. Schreiber, Harald Schulhoff, Wolfgang Dr. Schulte ({67}), Dieter
Schwalbe, Clemens Schwarz, Stefan
Dr. Schwarz-Schilling, Christian
Dr. Schwörer, Hermann Seehofer, Horst
Seesing, Heinrich Sikora, Jürgen
Skowron, Werner
Dr. Sopart, Hans-Joachim Sothmann, Bärbel Spranger, Carl-Dieter
Dr. Sprung, Rudolf Steinbach-Hermann, Erika Dr. Stercken, Hans
Dr. Frhr. von Stetten,
Wolfgang
Stockhausen, Karl
Dr. Stoltenberg, Gerhard Susset, Egon
Verhülsdonk, Roswitha Vogt ({68}), Wolfgang Dr. Voigt ({69}),
Hans-Peter
Dr. Waffenschmidt, Horst Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Warrikoff, Alexander Werner ({70}), Herbert Wetzel, Kersten
Wiechatzek, Gabriele
Dr. Wieczorek ({71}), Bertram
Dr. Wilms, Dorothee Wilz, Bernd
Dr. Wisniewski, Roswitha Wissmann, Matthias
Dr. Wittmann, Fritz Wittmann ({72}),
Simon
Wülfing, Elke
Würzbach, Peter Kurt Yzer, Cornelia
Zeitlmann, Wolfgang Zöller, Wolfgang
F.D.P.
Baum, Gerhart Rudolf Beckmann, Klaus
Bredehorn, Günther Cronenberg ({73}), Dieter-Julius
Eimer ({74}), Norbert Engelhard, Hans A. van Essen, Jörg
Dr. Feldmann, Olaf Friedhoff, Paul
Friedrich, Horst Funke, Rainer
Dr. Funke-Schmitt-Rink, Margret
Gallus, Georg
Grüner, Martin
Günther ({75}), Joachim Dr. Guttmacher, Karlheinz Hackel, Heinz-Dieter Hansen, Dirk
Dr. Haussmann, Helmut
Dr. Hirsch, Burkhard Dr. Hitschler, Walter Dr. Hoyer, Werner Irmer, Ulrich
Kleinert ({76}), Detlef Kohn, Roland
Dr. Kolb, Heinrich Leonhard Koppelin, Jürgen
Kubicki, Wolfgang Leutheusser-Schnarrenberger,
Sabine
Lüder, Wolfgang Lühr, Uwe
Dr. Menzel, Bruno Mischnick, Wolfgang Nolting, Günther Friedrich Dr. Ortleb, Rainer
Otto ({77}),
Hans-Joachim Paintner, Johann Peters, Lisa
Richter ({78}), Manfred
Rind, Hermann
Dr. Röhl, Klaus Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt ({79}), Arno
Dr. Schmieder, Jürgen Schüßler, Gerhard Schuster, Hans
Sehn, Marita
Seiler-Albring, Ursula Dr. Semper, Sigrid Dr. Starnick, Jürgen
Dr. von Teichman, Cornelia Dr. Thomae, Dieter
Timm, Jürgen
Türk, Jürgen
Walz, Ingrid
Wolfgramm ({80}), Torsten
Würfel, Uta
Zurheide, Burkhard
Enthalten
CDU/CSU Göttsching, Martin
Damit ist der Antrag abgelehnt worden.
Meine Damen und Herren, wir müssen nunmehr noch über den Art. 1 § 17 Abs. 1 in der Ausschußfassung abstimmen, nachdem ich das Ergebnis bekanntgegeben habe. Wer stimmt für den Art. 1 § 17 Abs. 1 in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist dies mit den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P., also den Koalitionsfraktionen, gegen die Stimmen der SPD angenommen worden.
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann kann ich feststellen, meine Damen und Herren, daß der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen des Restes des Hauses angenommen worden ist.
Der Rechtsausschuß empfiehlt nun unter Nr. 3 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/2820, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/570 und den Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1439 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden.
Wir kommen zu Punkt 7:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und Notarbestellungen
- Drucksache 12/2169 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({81})
- Drucksache 12/2670 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Dr. Hans de With
({82})
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/2811 vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. bei Enthaltung des Abgeordneten Weiß abgelehnt worden.
Wer stimmt nunmehr für den Gesetzentwurf in der Ausschußfassung? - Gegenprobe! - Dieser Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen worden.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zum nächsten Tagesordnungspunkt. Die Fraktion der SPD hat nach § 106 in Verbindung mit Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde verlangt, und zwar zu dem Thema „Haltung der Bundesregierung zum Projekt Jäger 90". Über den Zeitpunkt des Aufrufs konnte bedauerlicherweise trotz aller Bemühungen kein Einvernehmen erzielt werden.
Deswegen hat sich der Abgeordnete Kolbow zur Geschäftsordnung gemeldet.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es kommt selten vor, daß gerade für eine Aktuelle Stunde auf einer amtlichen Mitteilung des Deutschen Bundestages - durch die Präsidentin unterzeichnet - der Klammerzusatz „der Zeitpunkt konnte zwischen den Fraktionen noch nicht festgelegt werden" zu lesen ist.
({0})
Ich meine, daß seitens der Regierungskoalition fast nichts anderes zu erwarten war, denn zu diesem Thema traut sie sich nicht, eine aktuelle Debatte zu führen.
({1})
Deswegen wollen Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Dunkelheit der Nacht,
({2})
fern von den Mikrofonen und Kameras, die Sie sonst suchen, diese Debatte führen, damit nichts von Ihren Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in dieser unsere Bürgerinnen und Bürger sehr berührenden Frage bekannt wird.
({3})
Wenn man die heutige Presselage betrachtet - und Sie haben das sicher auch noch einmal getan, bevor Sie sich endgültig darauf festgelegt haben, in die Nacht ausweichen zu wollen, meine Damen und Herren ,
({4})
dann stellt man fest, daß das Chefgespräch des Verteidigungsministers - der im übrigen laut Finanzminister Waigel der Möllemann der CDU ist,
({5})
zwar eine Reduzierung des Verteidigungsetats gebracht hat, aber eine solche, die den Jäger 90 bereits jetzt abstürzen läßt, obwohl der Herr Finanzminister als CSU-Landesvorsitzender den Jäger will und damit nicht spart, sondern Geld ausgibt, das wir an anderer Stelle viel nötiger brauchen.
({6})
Deswegen halten wir Ihnen vor, daß Sie Ihre Mehrheit gegen die Interessen des deutschen Volkes hier ausnützen
({7})
und sich nicht mit dieser Debatte in das Zentrum der
Auseinandersetzung, nämlich das Parlament, begeWalter Kolbow
ben wollen. Dort hätten wir diese Debatte führen sollen und müssen.
({8})
Wir hätten gerne gewußt - und deswegen stellen wir jetzt den Antrag, das jetzt „hier und in dieser Stunde", wie ein anderer deutscher Politiker zu sagen pflegt, zu diskutieren -, wer denn nun recht hat. Wer hat das Sagen? Herr Rühe, der die Auffassung der SPD übernommen hat und den Jäger 90 abstürzen lassen will?
({9})
Herr Möllemann, der möglicherweise wegen dieser Auffassung zum Vizekanzler befördert worden ist?
({10})
Wer weiß das? Oder der Bundesfinanzminister, der die Kasse hat, aber sinnwidrigerweise zu mehr Geldausgaben rät, obwohl er im Interesse anderer Prioritäten der Sparkommissar der Nation sein sollte?
({11})
Herr Abgeordneter Kolbow, ich unterstelle einmal, daß Sie mit dem guten Willen an das Rednerpult gegangen sind, einen Geschäftsordnungsbeitrag zu leisten, keinen Redebeitrag für die von Ihnen gewünschte Aktuelle Stunde.
({0})
Ich möchte Sie bitten, das, was Sie sich selbst vorgenommen haben, auch zu realisieren.
Herr Präsident, ich realisiere dies immer im Zusammenhang mit den Notwendigkeiten der Geschäftsordnung. Allerdings erlaube ich mir zu bemerken: Den Sinn und den Gesamtzusammenhang der Begründung eines Geschäftsordnungsantrages kann man immer erst am Ende der Rede begreifen.
({0})
Uns geht es darum, Sie hier aufzufordern, mit uns jetzt zu debattieren. Ich habe Ihnen gesagt, warum wir das von Ihnen erwarten. Kneifen Sie nicht! Seien Sie keine Dunkelmänner, seien Sie anständige, glaubwürdige Parlamentarierinnen und Parlamentarier! Stimmen Sie unserem Geschäftsordnungsantrag zu! Außern Sie sich zur Sache, um mit uns den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen - auch wenn sie streitig hier entscheiden müßten -: der Jäger 90 muß abstürzen!
({1})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Jürgen Rüttgers.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Uns stehen schlimme Zeiten bevor. Jedem ist bekannt, daß die Koalition in Sachen Jäger 90 bis Anfang Juli entscheiden will. Ich frage mich nach diesem Beitrag: Was macht eigentlich die SPD ab diesem Zeitpunkt? Welches Thema bläst sie dann noch auf? Wir haben gerade ein beredtes Beispiel dafür gehört.
({0})
Es ist ja gut, daß wir auch einmal über eine solch zentrale Frage wie die diskutieren können, wann diese Aktuelle Stunde stattfindet.
Jetzt einmal ganz ernst. Wir haben auf dieser Tagesordnung sehr wichtige Fragen: den Jahresbericht des Petitionsausschusses, das Thema zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik.
({1})
Es war von Anfang an klar, daß wir in den letzten Tagen vor der Sommerpause unter großem Zeitdruck werden beraten müssen. Ich habe erklärt, daß es keinerlei Bedenken gibt - und dazu stehen wir -, auch das von der SPD beantragte Thema hier zu debattieren, dann aber an der richtigen Stelle, nämlich am Ende der Tagesordnung.
({2})
- Wenn Ihre Argumente, verehrter Kollege Peter Struck, dann auch noch tragen, was ich bezweifle, dann werden sie das Licht der Öffentlichkeit schon erblicken. Deshalb beantragen wir, diese Aktuelle Stunde am Ende der Tagesordnung durchzuführen.
({3})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Hermann Rind.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir haben alle die WalterKolbow-Show von ihrem humoristischen Wert her sehr genossen.
({0})
Der humoristische Wert aber, Herr Kollege Kolbow, ist die eine Seite.
Wir benutzen beide denselben Zug in Richtung Würzburg.
({1})
Ich versichere Ihnen: Sie werden den letzten Zug heute nicht erreichen und, falls Sie das wollten, möglicherweise auch an der Fronleichnamsprozession morgen nicht teilnehmen können. Ich würde Ihnen empfehlen, dies in Bonn zu tun, wenn Sie es denn tun wollen.
Die entscheidende Frage aber ist, ob wir in einer Woche, in der wir nur einen Plenumstag haben, an dem wir eine Reihe wichtiger Themen - der Kollege
hat gerade darauf hingewiesen - vor der Sommerpause zu behandeln haben, zu diesem Zeitpunkt eine Aktuelle Stunde zu einem Thema brauchen, von dem bekannt ist, daß Entscheidungen in der Koalition bevorstehen.
Erst vor kurzer Zeit haben die SPD-Abgeordneten im Verteidigungsausschuß die Einsetzung einer Arbeitsgruppe „Luftverteidigung" beantragt; wir haben dieses Anliegen unterstützt.
({2})
Kurz nach dem Antrag auf Einsetzung beschäftigen Sie sich hier mit einem Thema der Luftverteidigung, Herr Kollege Kolbow. Das paßt alles nicht recht zusammen.
({3})
Wir werden uns deshalb ebenfalls der Haltung der CDU/CSU-Fraktion anschließen und diesen Jäger an dem heutigen Tag zu einem Nachtjäger machen.
Vielen Dank.
({4})
Zur Geschäftsordnung erteile ich nunmehr der Abgeordneten Ruth Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich habe ich mir meine Jungfernrede in diesem Hohen Hause ein bißchen anders vorgestellt, aber was soll's.
({0})
- Man kann es sich nicht aussuchen. Ich danke trotzdem, zu Wort kommen zu dürfen.
Das Ansinnen der Regierungskoalition, das Thema Jäger 90 entweder nicht oder heute nacht zu diskutieren, überrascht mich zwar nicht, wir halten es aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt doch ein wenig für einen Skandal.
({1}) - Ruhe, bitte!
({2})
- Ich habe eine Begründung dafür. Wenn Sie die Begründung nicht akzeptieren, dann können Sie schimpfen und, wie das hier so üblich ist, mich beschimpfen; das ist mir egal. Seien Sie aber bitte so lieb, und hören Sie mir zu.
({3})
- Ich danke Ihnen, Herr Weiß. Von Ihnen habe ich früher einmal sehr viel gehalten; ich hätte von Ihnen heute etwas mehr erwartet. Ich hatte Hochachtung vor Ihnen, denn ich war nicht so mutig wie Sie; das gebe
ich ehrlich zu. Bestimmte Schuhe aber ziehe auch ich mir nicht an.
({4})
- Darf ich weitermachen? Erlauben Sie mir das? - Danke.
Begründen möchte ich diese Bemerkung wie folgt: Zum ersten haben Pressemitteilungen von Äußerungen des Verteidigungsministers zum Für und Wider des Projekts „Jäger 90" sowie darauf bezugnehmend öffentliche Äußerungen anderer Politiker und Experten der Rüstungsindustrie dieses Thema wieder neu zum Öffentlichkeitsinteresse gemacht.
Zum zweiten haben bestimmte politische Umstände oder Bewegungen, die sich im Zusammenhang mit der Ausstellung des Modells dieses Militärflugzeuges auf der Internationalen Luftfahrtausstellung in BerlinSchönefeld ereignet haben, diesen Öffentlichkeitswert weiter erhöht bzw. aktualisiert.
({5})
Für viele Menschen in den alten und vor allen Dingen in den neuen Bundesländern, die in der jetzigen Zeit nicht mehr richtig verstehen und bewerten können, gegen welchen Feind dieses Flugzeug in Zukunft überhaupt einsetzbar sein soll oder vor wem es uns schützen soll, wäre es notwendig gewesen, von diesem Parlament verbindliche Aussagen zu erhalten, wie nun wirklich zukünftig mit dem Projekt „Jäger 90" verfahren werden soll. Dies wäre um so notwendiger, als man dem größten Teil der Bevölkerung - hier meine ich Ost und West - nur noch schwer erklären kann, warum auf der einen Seite Milliarden DM für ein neues Waffensystem ausgegeben werden sollen, andererseits -
Frau Abgeordnete Fuchs, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Sie vergessen nicht, daß Sie begründen wollen, warum diese Debatte zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden soll?
Es war der letzte Satz, Herr Präsident. Danke für den Hinweis.
Andererseits aber, z. B. bei Sozialleistungen, müssen Einsparungen erfolgen. Wir unterstützen deshalb den Antrag der SPD.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der SPD? - Wer stimmt dagegen? - Meine Damen und Herren, dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Meine Damen und Herren, für einige Gremien sind Nachwahlen erforderlich, die ich jetzt durchführen lassen möchte. Bevor wir mit diesen nach der
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Geschäftsordnung erforderlichen Nachwahlen beginnen, erteile ich der Abgeordneten Frau Hämmerle zur Geschäftsordnung das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Präsident! Nachdem die Zahl der Dunkelmänner - ich habe nicht „Dunkelfrauen" gehört, und das hat mich erfreut - hier so groß war, daß wir überstimmt worden sind, ziehe ich offiziell den Antrag auf eine Aktuelle Stunde zurück.
({0})
Nachdem der Antrag auf die Aktuelle Stunde zurückgezogen ist, kommen wir nun zu den angekündigten Nachwahlen.
Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes scheiden mit der Übernahme anderer Ämter die Kollegen Rudolf Kraus und Volker Rühe als ordentliche Mitglieder aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger die Kollegen Eduard Oswald und Klaus Francke ({0}), die bisher stellvertretende Mitglieder waren, vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen als ordentliche Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses gemäß Art. 53 des Grundgesetzes bestimmt.
Aus dem Wahlprüfungsausschuß scheiden die Kollegen Rudolf Kraus und Dr. Jürgen Rüttgers als stellvertretende Mitglieder aus. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der CDU/CSU die Kollegen Eduard Oswald und Alfons Müller ({1}) vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit sind die genannten Kollegen für die Dauer der Wahlperiode als stellvertretende Mitglieder in den Wahlprüfungsausschuß gemäß § 3 Abs. 2 des Wahlprüfungsgesetzes gewählt.
Als Nachfolger für den Kollegen Dr. Lutz Stavenhagen in der Gemeinsamen Verfassungskommission wird von der Fraktion der CDU/CSU der Kollege Klaus Reichenbach als ordentliches Mitglied und für die Kollegin Ingrid Roitzsch ({2}) der Kollege Meinrad Belle als stellvertretendes Mitglied vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die beiden genannten Kollegen als ordentliches bzw. stellvertretendes Mitglied der Gemeinsamen Verfassungskommission bestimmt.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 und den Zusatzpunkt 4 auf:
4. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Verwaltungshilfe
- Drucksache 12/2779 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes betreffend das Zusatzprotokoll vom
6. September 1989 zu dem Übereinkommen vom 4. September 1958 über den internationalen Austausch von Auskünften in Personenstandsangelegenheiten
- Drucksache 12/2657 -
Überweisungsvorschlag: Innenausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gewährleistung der Geheimhaltung der dem Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften übermittelten vertraulichen Daten - SAEG-Übermittlungsschutzgesetz -- Drucksache 12/2685 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({3}) Rechtsausschuß
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes
- Drucksache 12/2686 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({4})
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes
- Drucksache 12/2658 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({5})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Bahrain über den Luftverkehr
- Drucksache 12/2661 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({6}) Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 9. Dezember 1991 zu der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe
- Drucksache 12/2660 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7})
Ausschuß für Verkehr
h) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
in der öffentlichen Verwaltung nach dem Einigungsvertrag
- Drucksache 12/2794 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({8})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Lennartz, Dietmar Schütz, Harald B. Schäfer ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbot des kommerziellen Walfangs aufrechterhalten
- Drucksache 12/2831 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({10})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Verlängerung der Kündigungsmöglichkeiten in der öffentlichen Verwaltung liegt Ihnen auf Drucksache 12/2794 vor; er soll zusätzlich an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft überwiesen werden.
Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Abschließende Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Inverkehrbringen von und den freien Warenverkehr mit Bauprodukten zur Umsetzung der Richtlinie 89/106/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Bauprodukte ({11})
({12})
- Drucksache 12/1462 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({13})
- Drucksache 12/2639 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Schloten Thomas Molnar
({14})
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({15}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung ({16}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({17}) Nr. 426/86 über die gemeinsame Marktorganisation für Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse und zur Änderung der Verordnung ({18}) Nr. 2658/87 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif
- Drucksachen 12/1838 Nr. 3.5, 12/2714 Berichterstattung:
Abgeordneter Rudi Müller ({19})
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 62 zu Petitionen
- Drucksache 12/2756 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 63 zu Petitionen Schuldrecht ({22})
- Drucksache 12/2757 Zu Punkt 5 a wird eine Berichtigung gemeldet. Der Abgeordnete Schloten hat das Wort.
Ich möchte als Berichterstatter eine kleine Korrektur anbringen.
Auf Seite 4 der Vorlage ist in der rechten Spalte in der Überschrift, sechste Zeile, eine Klammerangabe: „ABI. EG Nr. L 40 S. 12". Ich bitte, diese Klammer zu streichen, denn in § 1 ist diese Klammer enthalten.
Diese Korrektur entspricht dem Beschluß des Ausschusses in seiner 19. Sitzung. Ich bin beauftragt, das so zu Protokoll zu geben.
Nachdem Sie diese Berichtigung gehört haben, können wir nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Bauproduktengesetzes, Drucksache 12/1462 und 12/2639, kommen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung mit der soeben vorgetragenen Berichtigung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltungen der Gruppe PDS/Linke Liste von den übrigen Abgeordneten in zweiter Beratung angenommen worden.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich darf feststellen, daß das Gesetz bei Enthaltungen der PDS/Linke Liste mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden ist.
Wir kommen zur Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichtes des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung, Drucksache 12/2714. - Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Das ganze Haus hat die Beschlußempfehlung gegen die Stimme des Abgeordneten Weiß ({0}) angenommen.
Wer den Beschlußempfehlungen unter den Tagesordnungspunkten 5 c bis d - Drucksachen 12/2756 und 2757 - zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - EnthaltunVizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
gen? - Diese Beschlußempfehlungen sind bei Enthaltungen der beiden Gruppen angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Berichts des Petitionsausschusses ({1})
Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag
({2}) - Drucksache 12/2566 Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von eineinhalb Stunden vor. - Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit kann ich das als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Debatte und erteile zunächst dem Abgeordneten Dr. Pfennig das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Arbeit des Petitionsausschusses im Jahre 1991 war durch die Folgen der Wiedervereinigung gekennzeichnet. Sowohl die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit als auch die Konfrontation mit gegenwärtigen Problemen der Angleichung an das vorhandene Rechts- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland standen thematisch im Mittelpunkt vieler Eingaben. Jede dritte Eingabe kam aus den neuen Bundesländern. Aber auch die Zuschriften aus den alten Bundesländern beschäftigten sich vielfach mit vereinigungsbedingten Problemen. Der Ausschuß ist einmal mehr Seismograph der Sorgen und Nöte der Bürgerinnen und Bürger in ganz Deutschland gewesen. Ich freue mich, daß auch heute so viele Regierungsmitglieder diesen Seismographen etwas näher kennenlernen wollen.
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Weil der Jahresbericht 1991 erstmalig einen Überblick über die Ausschußarbeit für ganz Deutschland gibt und nunmehr auch Petitionen von Rügen bis zum Erzgebirge enthält, möchte ich in diesem Jahr zunächst einige grundsätzliche Probleme im Zusammenhang mit den neuen Bundesländern ansprechen, auf deren zügige Lösung der Petitionsausschuß drängt.
Wir unterstützen die vielen Petenten, die aus dem Grenzgebiet der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland vor allem in zwei Großaktionen Anfang der 50er und 60er Jahre zwangsweise ausgesiedelt wurden. Die Aktionen hatten die Decknamen „Aktion Ungeziefer" und „Aktion Kornblume". Die betroffenen Menschen verlangen nunmehr die Rückgabe ihres Grundbesitzes und finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht. Vor allem aber - ich glaube, wir sollten da alle zuhören - wünschen sie die eindeutige Feststellung, daß ihnen Unrecht geschehen ist.
In ihren Eingaben schildern sie die dramatischen Umstände dieser Zwangsaussiedlung. In vielen Fällen wurden die Betroffenen ohne Vorankündigung auf Lastwagen in den frühen Morgenstunden aus ihren Häusern und Wohnungen geholt. Einen Großteil ihrer
beweglichen Habe mußten sie zurücklassen. Sie wurden an grenzferne Orte gebracht. In der Öffentlichkeit wurden sie als Verbrecher hingestellt, was noch viele, viele Jahre nachwirkte. Und nicht zuletzt: Ihre Häuser und Wohnungen wurden, soweit sie nicht zerstört wurden, meist zuverlässigen SED-Parteigenossen übergeben, die noch heute darin wohnen.
Nach der derzeitigen Rechtslage können diese Menschen keine Ansprüche geltend machen. Deshalb ist eine gesetzliche Regelung zum Ausgleich der erlittenen Nachteile dringend erforderlich. Der Bundestag hat dies schon in einer Empfehlung der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen. Inzwischen liegen erste Vorüberlegungen des Justizministeriums in konkreter Form vor. Danach sollen Verwaltungsentscheidungen aufgehoben, die damit verbundenen Enteignungen rückgängig gemacht und die enteigneten Grundstücke grundsätzlich zurückgegeben werden. Für erlittene Schäden an Gesundheit und beruflichem Fortkommen soll Entschädigung geleistet werden.
Ich hoffe, daß die Bundesregierung möglichst bald einen Gesetzentwurf zu diesem Thema einbringt; denn das ist ein wichtiger Punkt, der erledigt werden muß und von dem 50 000 Menschen betroffen sind.
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Der Gesamtkomplex der Regelung offener Vermögensfragen war im Jahre 1991 eines der zentralen Themen. Häufig gingen Beschwerden über die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen ein. Schleppende oder gar unrichtige Behandlung entsprechender Anträge wurde diesen Ämtern vorgeworfen. Der Ausschuß konnte hier in Einzelfällen nicht helfen. Da die Aufsicht über die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen den einzelnen Bundesländern obliegt, mußten die Einzelfälle an die Petitionsausschüsse der Landesparlamente abgegeben werden. Der Ausschuß hier konnte sich aber mit den Wünschen zur Änderung der Gesetzgebung befassen.
Während ein Teil der Petitionen die Abkehr vom Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" fordert, setzen sich andere Petenten für die Beibehaltung dieses Grundsatzes ein. Sicherlich darf die Entscheidung im Einigungsvertrag nicht von vornherein ein unantastbares Dogma sein, aber durch das Postulat „Rückgabe vor Entschädigung" wird die Problematik meiner Ansicht nach nur unvollständig wiedergegeben und übrigens auch nur durch die Umkehrung dieses Satzes. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Bürgerwünsche zeigt gerade, daß differenzierte Lösungen nötig sind und die bloße Umkehr des Prinzips wenig hilfreich ist.
Die Petitionen zeigen, daß keine noch so gute gesetzliche Regelung abstoßendes Verhalten einzelner Bürger und sogar Gemeinden verhindern kann. Ich nenne einmal beispielhaft die Beschwerde einer 83jährigen Frau aus einem östlichen Bundesland, die seit 1937 in ihrem Elternhaus wohnt, das in DDR-Zeiten enteignet wurde. Statt das Haus an die Frau zurückzugeben, verkaufte die Gemeinde dieses als Volkseigentum der Gemeinde übertragene Grundstück an einen westdeutschen Interessenten. Dieser
ließ durch seinen Anwalt mitteilen, die Frau möge das Haus räumen. Ein unglaublicher Vorgang, bei dem sowohl die Gemeinde wie auch der Interessent und dessen Rechtsanwalt sich in beschämender Weise verhalten haben. Ich glaube nur, das ist kein Einzelfall und wird immer wieder vorkommen.
Der Bundesgesetzgeber kann nur versuchen, durch noch eindeutigere Regelungen als bisher solche Fälle zu verhindern. Die Erfahrungen des Petitionsausschusses haben deshalb auch in die bevorstehende Neuregelung in diesem Bereich, die wir in der nächsten Woche beraten werden, Eingang gefunden.
Einen Teilbereich der Eigentumsproblematik hat der Ausschuß 1991 abschließend behandelt, und zwar die Rückgabe bzw. Entschädigung für 1945 bis 1949 enteignete Vermögen. Wir haben hier zum Ausdruck gebracht, daß es dabei bleiben muß, daß die Enteignungen bestandskräftig sind, aber ebenso mit Nachdruck verlangt, daß angemessene Ausgleichs- und Entschädigungsleistungen möglichst bald vorgesehen werden.
Im Rahmen der allgemeinen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hat sich der Ausschuß auch mit zahlreichen Zuschriften befaßt, in denen die Problematik der Verjährung von Straftaten im Zusammenhang mit Unrechtsurteilen in der ehemaligen DDR angesprochen wurde. Wir haben die Problematik erörtert. Im Kern geht es um die Frage, wie bei Straftaten zu verfahren ist, bei denen Verjährung droht, wenn die Entscheidung über eine Hemmung der Verjährung den Gerichten oder einzelnen Staatsanwälten ohne gesetzliche Vorgabe überlassen wird. Abweichend vom Bundesministerium der Justiz in der Anhörung hat der Petitionsausschuß klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, daß ein Bundesgesetz klarstellen muß, daß Straftaten im Zusammenhang mit Unrechtsurteilen nicht verjährt sind.
Wir meinen, daß Betroffene in ganz Deutschland einen Anspruch darauf haben, daß das von Richtern und Staatsanwälten an ihnen begangene Justizunrecht vorbehaltlos und uneingeschränkt strafrechtlich verfolgt werden kann. Dazu muß eine gesetzliche Regelung eine Klarstellung schaffen. Ich bin froh darüber, daß inzwischen im zuständigen Ausschuß des Bundestages über eine derartige Regelung beraten wird.
Im Rahmen der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit spielten auch Fragen der Rehabilitierung eine wichtige Rolle, u. a. diejenigen Dinge, die wir heute im Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz zum Teil angegangen sind. Aber es bleibt noch eine Reihe von Problemfällen übrig, insbesondere im Bereich der beruflichen Rehabilitierung. Wir werden als Ausschuß darauf achten, daß auch hier im Jahre 1992 eine entsprechende gesetzliche Regelung mindestens in Angriff genommen wird.
Nicht nur die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit spielte im Jahre 1991 eine wichtige Rolle. Hunderte von Eingaben waren vor allem ein Spiegelbild der gegenwärtigen Sorgen und Nöte, die die Angleichung an ein völlig neuartiges Rechts- und Gesellschaftssystem mit sich brachte. Ich verweise hier nur auf zahlreiche Eingaben zum Rentenrecht. Allein zur
Überleitung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme durch das Renten-Überleitungsgesetz gingen 1991 500 Petitionen ein, darunter zahlreiche mit anhängenden Unterschriftensammlungen.
Insgesamt hatte der Ausschuß 20 430 Eingaben zu bewältigen. Das sind fast 4 000 Eingaben mehr als im Jahre 1990. Gegenüber dem Jahr 1989 ist das eine Steigerungsrate von 50 %. Ich erwarte, daß 1992 diese Rate noch einmal steigen wird. Die Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern wandten sich 1991, bezogen auf die Gesamtzahl, fast zweimal so häufig an den Petitionsausschuß wie diejenigen aus den alten Bundesländern.
Im Verhalten der Bundesregierung kann ich für das Berichtsjahr feststellen, daß es tendenziell besser geworden ist als in den Jahren zuvor, wo wir einmal eine Rüge ausgesprochen hatten. Bei den Berücksichtigungsfällen ist die Bundesregierung lediglich viermal den Aufforderungen des Ausschusses und Bundestages nicht gefolgt, für Abhilfe zu sorgen. Immerhin stehen dem 75 Fälle gegenüber, wo die Regierung dem Berücksichtigungsvotum des Ausschusses gefolgt ist.
Bei den Erwägungsfällen sieht es nicht ganz so gut aus. In 94 Fällen wurde den Anliegen entsprochen. In 57 Fällen war das nicht der Fall. Vielleicht hätte man dort noch stärker die Möglichkeiten ausnutzen können, dem Ausschußvotum zu folgen und ihm Geltung zu verschaffen. Dazu ist in Zukunft etwas mehr Phantasie gefragt als in der Vergangenheit.
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Der Ausschuß verfügt über ausreichende Ermittlungsbefugnisse. Wir haben dreizehnmal Regierungsvertreter angehört, und zwar nicht nur in konkreten Einzelfällen, sondern auch bei ganzen Themenkomplexen. Ich verweise beispielhaft auf eine Anhörung bei der Bundesanstalt für Arbeit. Konkreter Anlaß hierzu waren nervenärztliche Untersuchungen eines Petenten gegen seinen Willen durch den ärztlichen Dienst des Arbeitsamtes. Wir sind dort inzwischen zu einer Revision in den Verfahrensweisen der Bundesanstalt für Arbeit gekommen, übrigens auch in anderen Tätigkeitsbereichen wie beim persönlichen Umgang der Mitarbeiter mit Arbeitslosen, bei unzureichender Aufklärung und Beratung von ihnen, langen Wartezeiten und langer Bearbeitungsdauer bei Leistungsanträgen.
Gelegentlich haben sich Bundesministerien oder deren Aufsicht unterstellte Institutionen zunächst einmal geweigert, die einschlägigen Akten vorzulegen. Das Befugnisgesetz enthält demgegenüber eindeutige Regelungen. Deshalb hat sich der Ausschuß im Ergebnis jedesmal durchgesetzt und die gewünschten Akten erhalten. Der Ausschuß wird auch hier in Zukunft keinen Zentimeter zurückstecken.
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Die sprunghafte Steigerung der Eingabenzahl habe ich bereits erwähnt, und ich kann feststellen: Im vereinten Deutschland hat das Petitionsrecht eine noch wichtigere Rolle bekommen. Der Petitionsausschuß ist sich bewußt, daß die Bürgerinnen und Bürger von ihm neben allem anderen eine besondere HilfeDr. Gero Pfennig
stellung zur Vollendung der inneren Einheit erwarten.
Ich möchte in diesem Zusammenhang allen Kolleginnen und Kollegen danken, daß sie den gestiegenen Arbeitsumfang im Ausschuß bewältigt haben. Ich möchte auch den Mitarbeitern sehr herzlich dafür danken, daß sie ihren Teil dazu beigetragen haben, und versichere allen Bürgerinnen und Bürgern, daß sich der Petitionsausschuß um ihre Anliegen trotz seiner gestiegenen Arbeitsbelastung auch in Zukunft mit großer Sorgfalt kümmern wird.
Schönen Dank.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans Büttner ({0}) das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Immer dann, wenn Gesetze über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entschieden werden, kommen sie in Form von Petitionen wieder auf den Gesetzgeber zurück.
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Das ist kein Zitat von mir; das sagte mir ein altgedienter Parlamentarier, den ich, als ich für dieses Gremium nominiert worden bin, gefragt habe, was auf mich zukommt.
Wenn diese Charakteristik auch nur ein Körnchen Wahrheit beinhaltet, so müssen wir Parlamentarier uns schon die Frage gefallen lassen, ob wir in den letzten Jahren nicht ab und zu doch über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entschieden haben. Die enorme Zunahme der Petitionen, die sicherlich auch, aber nicht nur einigungsbedingt ist, sollte uns zumindest Grund zum Nachdenken geben.
Die in dem zur Diskussion stehenden Jahresbericht zugrunde liegenden Petitionen geben aber auch Grund, darüber nachzudenken - Kollege Pfennig hat das in anderer Form, allerdings ähnlich schon ausgeführt -, ob Exekutive und auch Judikative Entscheidungen der Legislative immer im Sinne des Gesetzgebers anwenden, ob wir als vom Volk gewählte Abgeordnete unsere Kontrollfunktionen gegenüber der Exekutive wahrnehmen oder uns gelegentlich mehr als Verteidigungspolitiker der Verwaltung betrachten und ob wir unsere Aufgaben als das Gewissen des Parlaments in all den Fällen mit dem erforderlichen Nachdruck verfolgen, bei denen wir feststellen, daß Gesetze über die Köpfe der Bevölkerung hinweg gemacht worden sind.
Ich möchte dies an zwei Fragestellungen exemplarisch untermauern. Es gibt seit Jahren die Kraftfahrzeughilfe-Verordnung des Bundes, die bewirken soll, daß ein Behinderter im Falle nicht vorhandener öffentlicher Verkehrsmittel einen Zuschuß für ein Kraftfahrzeug erhalten soll, um an seinen Arbeitsplatz gelangen zu können.
Die Auslegung dieser Verordnung, die eigentlich relativ klar und einfach festgelegt ist, führte zu folgendem bemerkenswerten Fall: Ein zu 100 % Behinderter, der außerhalb einer größeren Stadt wohnt, hat
etwa 3 km bis zur nächsten Bushaltestelle zurückzulegen. Er kann laut Gutachter aber nicht mehr als 1 km pro Tag und diesen nur mit Unterbrechungen zurücklegen. Eigentlich sollte man meinen: Das ist ein klarer Fall für die Inanspruchnahme der Kraftfahrzeughilfe-Verordnung.
Zu diesem Ergebnis kam nach sorgfältiger Prüfung und mit Unterstützung bzw. nach Zuarbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Petitionsbüros - denen ich an dieser Stelle auch im Namen meiner Fraktion für ihre Arbeit ausdrücklich danken will ({1})
auch der Petitionsausschuß. Die Sache schien geklärt.
Es war aber nicht so. Die Antwort des zuständigen Bundesarbeitsministeriums lautete nämlich wie folgt - ich darf zitieren -:
Leider sehe ich keine Möglichkeit, den Beschluß des Deutschen Bundestages auszuführen. Denn nach der Verordnung über Kraftfahrzeughilfe
- soweit hat er noch Recht zur beruflichen Rehabilitation kann nur derjenige Behinderte eine Kraftfahrzeughilfe beanspruchen, wenn er wegen der Art oder Schwere seiner Behinderung zum Erreichen seines Arbeitsplatzes auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist.
Soweit alles klar. Aber dann heißt es weiter - das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen -:
Diese Voraussetzung erfüllt der Petent nicht. Er ist vielmehr auf sein Kraftfahrzeug angewiesen, weil die Entfernung zwischen seiner Wohnung und der nächstgelegenen Bushaltestelle 3 km beträgt. Er befindet sich somit in einer Situation, in der auch ein Nichtbehinderter auf ein Kraftfahrzeug zurückgreifen müßte, so daß die unter der Verordnung erforderlichen behinderungsspezifischen Gründe für das Förderbegehren ausscheiden.
Welch ein Irrsinn, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn unser Rechtsstaat solche Kapriolen schlägt! Diese Petition hätte eigentlich gar nicht zum Petitionsausschuß gelangen dürfen, wenn die Exekutive ihren Ermessensspielraum nur einigermaßen im Sinne des Gesetzes genutzt hätte, wenn die Exekutive ihre Zentralaufgabe darin gesehen hätte, Ansprüche des Bürgers aus dem Gesetz gegenüber dem Staat durchzusetzen und nicht den Staat gegenüber Ansprüchen des Bürgers zu verteidigen und zu schützen.
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Wenn ich hier von Exekutive spreche, darin meine ich in erster Linie das Bundesarbeitsministerium; denn inzwischen ist es gelungen, dieses Problem auf dem kleinen Dienstweg rechtlich einwandfrei zu lösen. Hierfür möchte ich den dafür zuständigen Mitarbeitern der Bundesanstalt für Arbeit herzlich danken, daß sie das ermöglicht haben.
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Allerdings ist es auch bei der Bundesanstalt für Arbeit nicht immer so wie in dem Fall, den der Herr
Hans Büttner ({4})
Vorsitzende vorhin schon kurz angesprochen hat, belegt. Es ist der Fall dieses älteren Arbeitslosen, eines von vielen Langzeitarbeitslosen, der sich auf Grund der Überlastung der Arbeitsämter und auf Grund des Gutachterwesens bei der Bundesanstalt über lange Jahre hinweg durchkämpfen mußte. Die Folge: Dieser Petent war und ist über zehn Jahre vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Er ist auch aus der Arbeitsvermittlung und aus dem Leistungsbezug herausgefallen. Viele Arbeitslose, die in diese Mühle kommen, verzweifeln. Der Betroffene hat aber bemerkenswertes Durchstehvermögen gezeigt und hat über den Petitionsausschuß erreicht, daß er wieder voll rehabilitiert werden konnte.
Doch auch hier stellt sich das Problem, daß der Amtsschimmel weiter wiehert. Sachgerechte Lösungen sind bis heute nicht erreicht. Wir werden darüber noch ausführlich diskutieren, wenn wir in der nächsten Woche über einen entsprechenden Antrag dazu beraten werden.
Erschreckend dabei ist aber, daß man bei dieser Petition und im Rahmen ihrer Verfolgung feststellen mußte, wie leichtfertig die Regierung manchmal - ich sage das bewußt und mit Nachdruck - mit Menschenschicksalen umgeht. Wenn die Regierung weiß, daß der Medizinische Dienst der Bundesanstalt unterbesetzt ist, wenn sie weiß, daß die Qualität der arbeitsmedizinischen und psychiatrischen Leistungen
und Fachgutachten bei der Arbeitsvermittlung, den
Berufsgenossenschaften und der Rentenversicherung, gelinde gesagt, sehr zu wünschen übrig lassen, wenn sie weiß, daß die Überlastung der Arbeitsvermittler dazu führt, daß Menschen vom Arbeitsleben ferngehalten und durch den Verschiebebahnhof der Gutachter psychisch und physisch verletzt werden können, und wenn sie dennoch Neuregelungen nicht durchführt oder verschleppt, wenn sie den zuständigen Einrichtungen die nötigen Stellen verweigert, wie bei den Fachgutachtern und beim Arbeitsmedizinischen Dienst geschehen, dann handelt sie grob fahrlässig und trägt dazu bei, daß Menschen psychisch und physisch verletzt werden und fördert damit auch Staats- und Politikverdrossenheit.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Entscheidungen über den Weg der Exekutive durch Verwaltungs- und Rechtsinterpretation beim Bürger verstümmelt oder gar nicht ankommen, dann müssen wir uns fragen, was wir dagegen tun können, dann müssen wir unsere Rechte als Abgeordnete stärker wahrnehmen. In unserer Demokratie ist das Staatswesen so angeordnet, daß die klassische Trennung zwischen Legislative und Exekutive gelegentlich dadurch vermengt wird, das sich die jeweilige Regierungskoalition auch immer in die Rolle des Verteidigers der Exekutive gedrängt sieht. Ob hier eine Änderung erforderlich erscheint, steht heute nicht zur Debatte. Wir werden aber alle gut daran tun, im Rahmen der allgemeinen Politikdiskussion darüber nachzudenken.
In einer solchen Konstellation jedoch sollte sich der Petitionsausschuß als der wirkliche Anwalt des Bürgers, als das Gewissen des Parlaments darstellen und
verstehen. Meine bisherigen Erfahrungen mit dem Gremium machen mir zumindest Hoffnung, daß wir den Weg dorthin finden können.
Ein wichtiger Schritt hat z. B. heute stattgefunden, indem auf Betreiben des Petitionsausschusses erstmals Petenten ihre Vorschläge, die in großer Zahl zur Verfassungsänderung gemacht wurden, vor der Gemeinsamen Verfassungskommission vortragen konnten. Ich finde, das ist eine hervorragende Möglichkeit, Bürgerbeteiligung auch Schritt für Schritt sachgerecht zu verbessern.
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Ich möchte uns alle, aber insbesondere Sie aus den Reihen der Koalition auffordern, diesen Weg geradlinig mit uns zu gehen. Es wäre ein guter Beitrag, dem Parlament, der Politik insgesamt wieder mehr Vertrauen in der Bevölkerung zu verschaffen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Günther Nolting das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Jahresbericht 1991 des Petitionsausschusses erreichen wir wiederum einen Rekord an Eingaben; der Herr Vorsitzende hat schon darauf hingewiesen. Wir haben in diesem Jahr über 20 000 Petitionen im Ausschuß behandelt. Ich denke, daß wir von daher den Petitionsausschuß auch als Kummerkasten der Nation bezeichnen können.
Die Zahlen zeigen, daß der Petitionsausschuß für die Bürger auch während des schwierigen Prozesses der inneren Vereinigung eine wichtige Funktion besitzt. Die Eingaben können dabei getrost als Spiegelbild - so will ich es einmal nennen - der Sorgen und Nöte in unserer Gesellschaft gewertet werden.
Wir haben für das Jahr 1991 einen sehr hohen Anteil an Petitionen aus den neuen Bundesländern, nämlich fast ein Drittel. Das zeigt, daß gerade dort die Menschen von den sozialen, den wirtschaftlichen, den rechtlichen und sonstigen Problemen, die sich im Zusammenhang mit der Verwirklichung der deutschen Einheit ergeben, besonders betroffen sind. Viele Fragen und Nöte ergaben sich sowohl aus der Angleichung der Rechts- und Lebensverhältnisse zwischen alten und neuen Bundesländern, aber eben auch aus der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit.
Ich will hier einige wenige Beispiele nennen. Das sind zum einen die Überleitungen der Versorgungssysteme der DDR in das Rentenversicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Das ist die Forderung nach Rehabilitierung von zu Unrecht in der ehemaligen DDR inhaftierten und verurteilten Personen. Gerade dazu ist heute nachmittag hier im Hohen Hause schon debattiert worden. Schließlich kamen zur Problematik des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR viele Eingaben. In vielen Petitionen
wurde die Einsichtnahme in die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes gefordert, was mit dem am 1. Januar 1992 in Kraft getretenen Stasi-UnterlagenGesetz verwirklicht werden konnte. Ich kann das für die F.D.P. nur begrüßen.
Meine Damen und Herren, zu den vereinigungsbedingten Problemen gehören ebenso die Regelung offener Vermögensfragen und die Rückführung oder Entschädigung von unrechtmäßig enteigneten Immobilien oder Grundstücken. Der Vorsitzende hat vorhin schon auf einige Beispiele hingewiesen. Zu diesem Punkt haben sich aber auch viele Bürger aus den alten Bundesländern an den Petitionsausschuß gewandt. Auf Grund der außerordentlich schwierigen rechtlichen Situation und noch nicht abgeschlossener gesetzgeberischer Maßnahmen konnten viele dieser Eingaben noch nicht abschließend behandelt werden. Aber ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie stimmen mit mir darin überein, daß hier Eile vonnöten ist.
Kennzeichnend für die schwierige soziale Situation vor allem in den neuen Bundesländern ist die Tatsache, daß die meisten Petitionen in den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung fielen. Der Schwerpunkt lag hierbei eindeutig auf dem Teilbereich Sozialordnung, wo Fragen des Rentenrechts, der Unfallversicherung, der Behinderten- und Kriegsopferversorgung, aber auch die Einführung einer Pflegeversicherung angesprochen wurden. Ich denke, auch diesen Problembereich werden wir noch in diesem Jahr lösen. Im Teilbereich Arbeitsverwaltung zeigten die eingegangenen Petitionen, daß die Situation auf dem Arbeitsmarkt weiterhin sehr kompliziert ist und die volle Funktionsfähigkeit der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern teilweise noch nicht gewährleistet war.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz eingehen. Hier hat es eine Vielzahl von Petitionen gegeben, die auch in andere Bereiche gefallen sind. Aber gerade im Bereich des Bundesministers der Justiz war eines der wichtigsten Themen, das angesprochen wurde, der § 218. Allein zu diesem Punkt haben sich mehr als 47 000 Bürgerinnen und Bürger an den Petitionsausschuß gewandt, in Einzeleingaben oder aber in Unterschriftenaktionen. Sie haben - das will ich an dieser Stelle auch sagen die unterschiedlichsten Standpunkte und Forderungen vorgetragen. Aber allein diese massive Reaktion der Bevölkerung macht deutlich, wie wichtig es ist, daß jetzt vom Gesetzgeber die Reform des § 218 in Angriff genommen wird.
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Ich denke, daß der jetzt vorliegende Gruppenantrag von Abgeordneten der F.D.P., der CDU, der SPD und auch vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Linken Liste eine gute Grundlage ist, das Problem der Neuregelung des Abtreibungsrechts zu lösen. Aus unserer Sicht kommt es jetzt darauf an, diesen Antrag möglichst schnell im Plenum zu behandeln und noch
vor der Sommerpause ein neues Gesetz zu verabschieden.
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Meine Damen und Herren, aus den weiteren vielfältigen Eingaben, die in den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz fielen, möchte ich kurz noch die Problematik der Zwangsaussiedlung aus dem Grenzgebiet der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland erwähnen. Obwohl es sich hier um eine relativ kleine Gruppe handelt, halte ich es für die F.D.P. für unabdingbar, daß wir auch diesen Menschen eine Wiedergutmachung zuteil werden lassen. Ich begrüße es daher ausdrücklich, daß die Bundesregierung auf Empfehlung des Petitionsausschusses einen Gesetzentwurf erarbeitet, der im Herbst im Kabinett verabschiedet werden soll.
Meine Damen und Herren, es hat im letzten Jahr eine Vielzahl von Massenpetitionen gegeben, die sich mit den Sorgen und Ängsten beschäftigten, die in unserer Bevölkerung durch den Golf-Krieg hervorgerufen wurden. Allen Petitionen war dabei die Forderung nach einer friedlichen Lösung des Golf-Konfliktes und der sofortigen Einstellung aller Kampfhandlungen gemeinsam. Vielfach gingen die Eingaben auch über diese Forderungen hinaus.
Ich will sie kurz aufzeigen: Sie reichten von sofortigem Rückzug der in der Türkei und im Mittelmeer stationierten deutschen Truppen über die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht und die Verhinderung der Strafverfolgung für Totalverweigerer und Deserteure bis zum Verbot einer Änderung des Grundgesetzes für Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes.
Grundlage für die Bewertung dieser Eingaben durch den Petitionsausschuß war das positive Votum des Deutschen Bundestages für die militärischen Aktionen zur Befreiung Kuwaits unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen.
Ich denke, meine Damen und Herren, der Beschluß des Deutschen Bundestages in dieser Frage war richtig und wichtig. In vielen Fällen konnte deshalb der Petitionsausschuß die Meinungen der Petenten nicht unterstützen. Aber wir haben in ihnen ein wichtiges Stimmungsbild gesehen, und wir haben deshalb als Ausschuß beschlossen, diese Petitionen den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis zu geben.
Meine Damen und Herren, rund 50 % der Eingaben konnten bereits durch Rat oder Auskunft an die Petenten erledigt werden; einem Viertel konnte dabei nicht entsprochen werden. Dies lag nicht zuletzt auch daran, daß viele Eingaben nicht in den Kompetenzbereich des Petitionsausschusses fielen.
Ich möchte gern noch einmal ein Wort der Kritik des Herrn Vorsitzenden aufgreifen, der ja vorhin darauf hingewiesen hat, daß in insgesamt vier Berücksichtigungs- und 57 Erwägungsfällen dem Anliegen des Ausschusses seitens der Regierung nicht entsprochen wurde. Ich denke, hier sollte die Bundesregierung
nach Möglichkeiten suchen, dem Votum des Ausschusses verstärkt nachzukommen.
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Meine Damen und Herren, die ständig steigende Zahl von Eingaben an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages ist ein Indiz dafür, daß der Petitionsausschuß auch weiterhin ein hohes Ansehen in der Bevölkerung genießt. Viele Bürger sehen in dem Ausschuß einen Anwalt des Volkes. Dies sollte uns als Gesamtparlament ehren, uns allerdings gleichzeitig Verpflichtung und Ansporn sein, weiterhin wichtige Schaltstelle zwischen der Bevölkerung, dem Parlament und der Regierung zu sein.
Uns obliegt die Verpflichtung, auch bei der ständig steigenden Zahl von Petitionen mit der genügenden Sachlichkeit und Gründlichkeit zu arbeiten und eine Lösung im Sinne des Petenten anzustreben. In diesem Zusammenhang möchte ich mich für die F.D.P.-Fraktion beim Ausschußdienst bedanken, der seine Aufgabe, den der Petition zugrunde liegenden Sachverhalt zu ermitteln und den Politikern einen Entscheidungsvorschlag zu machen, nach wie vor zu unserer vollsten Zufriedenheit bewältigt und, ich denke, auch weiterhin bewältigen wird.
Herzlichen Dank.
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Selbst wenn die steigende Zahl der Petitionen eine wachsende Mehrarbeit für den Ausschußdienst und natürlich auch für uns Abgeordnete bedeutet, sollten wir dies auch als ein gutes Zeichen für die Bereitschaft unserer Bürger sehen, sich mit den gesellschaftlichen Problemen aktiv auseinanderzusetzen. Herr Kollege Büttner, ich bewerte also die steigende Zahl der Eingaben positiver, als Sie es hier vorhin getan haben.
Die Beanspruchung des Petitionsausschusses durch die Bevölkerung sollte als Einflußnahme auf politische Entscheidungsprozesse gewertet werden. Herr Kollege Büttner, vielleicht können Sie mit mir darin übereinstimmen: Für mich ist damit ein Zeichen lebendiger Demokratie gesetzt; darauf sollten wir, glaube ich, stolz sein, und wir sollten immer wieder darauf hinweisen.
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- Das eine schließt zwar das andere nicht aus; aber ich denke, die Bewertung, die ich hier vorgenommen habe, trägt dem ebenso Rechnung. Herr Kollege, vielleicht können wir uns darauf einigen.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, daß der Umgang im Petitionsausschuß über die Fraktionsgrenzen hinweg sehr erfreulich ist. Ich kann dies nach, ich glaube, fünf Jahren in diesem Ausschuß so bewerten. Für mich ist es immer wieder erfreulich, in jeder Sitzung zu erkennen, daß nach fraktionsübergreifenden Lösungen gesucht wird und daß meistens auch gemeinsame Lösungen gefunden werden. Für diese Arbeit möchte ich mich dann einmal auch bei den Kolleginnen und Kollegen bedanken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Nunmehr erteile ich der Abgeordneten Frau Dr. Dagmar Enkelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Jahre wieder steht ein Bericht über die Arbeit des Petitionsausschusses zur Debatte. Ich begrüße sehr, daß man sich dieses Mal darüber verständigt hat, der Debatte dieses Berichtes im Plenum etwas mehr Zeit einzuräumen als im vergangenen Jahr, geht es doch nicht allein darum, mit welchen Anliegen sich Bürgerinnen und Bürger an den Ausschuß wandten, wie vielen entsprochen werden konnte und wie vielen Berücksichtigungsempfehlungen die Bundesregierung gefolgt ist oder auch nicht.
Wir müssen uns heute mit Entwicklungen auf dem Gebiet der Petitionen befassen, die ein deutlicher Anzeiger gesellschaftlicher Stimmungen oder besser gesagt: Mißstimmungen sind. Fast zweimal so häufig - im Vergleich zu den alten Bundesländern - richteten im vergangenen Jahr Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern ihre Beschwerden an den Bundestagsausschuß. Nun könnte mancher meinen, das sei Ausdruck eines gewachsenen Demokratieverständnisses und eines selbstbewußt in Anspruch genommenen Rechts.
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- Ich darf noch zu Ende sprechen, nicht wahr?
Da ist sicher etwas dran. Ich habe allerdings auch noch eine andere Sicht dazu.
Vergleichen wir einmal die Inhalte von Petitionen, so fällt auf, daß aus den alten Bundesländern überwiegend Beschwerden zu beraten waren, deren Ursachen oftmals in einem bürokratischen Umgang mit den Gesetzen lagen oder die als Sonderfälle oder Härtefälle gesetzlich nicht erfaßt werden. Das waren Vorgänge, in denen z. B. ärztliche Gutachten angezweifelt wurden, in denen die komplizierte Gestaltung von Formularen beklagt wurde, denen jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen vorangingen oder in denen einfach auch nur eine Frau nicht mehr Anna sondern Erna heißen wollte.
Die Inhalte der Beschwerden aus den neuen Bundesländern dagegen betrafen wesentliche Probleme einer Vielzahl von Menschen, die gesetzlich nicht oder nur unzureichend gelöst waren. „Unzureichend gelöst" bedeutet hier für mich vor allem, daß in der Gesetzgebung des Bundes die tatsächliche Lebenslage der Menschen in den neuen Bundesländern, ihre Erfahrungen und Befindlichkeiten oftmals ignoriert werden. Was kümmert es die Bundesregierung, wenn Menschen im Osten durch die Ankündigung immer neuer Mieterhöhungen verunsichert werden? Welcher Minister oder welche Ministerin ist tatsächlich bereit, sich in die Lage derer zu versetzen, denen die Alteigentümer mit Räumung drohen? Wer sorgt sich denn wirklich um die Rentnerin oder den Rentner, deren Lebenshaltungskosten zwar schnell das westliche Niveau erreicht haben, nicht aber deren Renten?
Wer kann den entwürdigenden Gang zum Sozialamt nachempfinden? Ist nicht für die meisten Politikerinnen und Politiker dieser Regierung Arbeitslosigkeit nur aus der Sicht der Finanzierung von Arbeitslosenunterstützung ein Thema, also kein Problem von Menschenwürde und selbstbestimmtem Leben?
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All diese Sorgen werden uns Mitgliedern des Petitionsausschusses sehr persönlich, sozusagen hautnah, vermittelt. Die Tatsache, daß sich viele Bürgerinnen und Bürger aus dem Osten an den Petitionsausschuß wenden, ist einerseits vor allem Ausdruck ihrer Hoffnung auf Hilfe; andererseits aber ist sie Ausdruck einer verfehlten Politik der Bundesregierung, die Bürgerinnen und Bürger außen vor gelassen hat.
Im übrigen sind einige Fälle nicht selten Folge der schlechten Vereinigungsverhandlungen. Hier ist das Problem der Rehabilitierung, vor allem der beruflichen Rehabilitierung, genannt worden. Es gab in der Volkskammer ein Gesetz, das nicht in den Einigungsvertrag übernommen wurde. Hier hätte man sich zwei Jahre Arbeit ersparen können.
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Welche Erfahrungen sammeln Menschen, wenn sie sich an den Ausschuß wenden? Viele machen sicher die Erfahrung, daß ihnen in Einzelfällen unbürokratisch und schnell geholfen werden kann - und das oftmals parteiübergreifend; das möchte ich auch an dieser Stelle hervorheben.
Einige aber lernen lange Bearbeitungszeiten kennen, die unterschiedliche Ursachen haben. Beschwerden gegen das Renten-Überleitungsgesetz zum Beispiel liegen seit Monaten in irgendwelchen Schubladen der Ministerien. „Belanglose Zwischenbescheide" - so eine Petentin - „treffen in größeren Abständen ein. Die tatsächliche Klärung steht nach wie vor aus. "
Offenkundig absichtliche Verzögerungen in der Bearbeitung von Petitionen in einigen Ministerien führten schon dazu, daß sich Petitionen quasi von selbst erledigten. So geschehen u. a. mit einer Eingabe von Kreisbauernverbänden aus dem Land Brandenburg. In vielen Fällen begnügen sich Ministerien mit dem Hinweis auf die gesetzliche Lage, die nun einmal so ist; eine Änderung sei nicht vorgesehen.
So lernen die Bürgerinnen und Bürger auch, daß Petitionen allein nicht ausreichen, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Sie beginnen, sich für ihre eigenen Interessen zu engagieren, indem sie den Betrieb besetzen, in Demonstrationen ihre Forderungen artikulieren, indem sie mit einer Mahnwache vor dem Bundeskanzleramt - wie zur Zeit der Deutsche Mieterbund des Landes Brandenburg - auf ihre Probleme hinweisen.
Das Petitionsrecht ist zweifelsohne ein unverzichtbares demokratisches Element. Es sollte genutzt werden. Vor übertriebenen Hoffnungen aber sollten wir die Bürgerinnen und Bürger bewahren. Letzten Endes
entscheiden im Ausschuß wie hier im Parlament die bekannten Mehrheiten.
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- Wir haben viele Fälle gehabt, in denen wir abgestimmt haben, bei denen klar war, wo die Koalition und wo die Opposition sitzt.
Trotz dieser Tatsache möchte ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses für die kooperative Zusammenarbeit bedanken, auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes für die oft engagierte und doch sehr harte Arbeit, die sie leisten müssen.
Eine Bemerkung noch am Rande. Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen, die nicht im Petitionsausschuß sind, bitten, Petitionen, die ihnen von Bürgerinnen und Bürgern übergeben worden sind, an den Ausschuß weiterzuleiten. Es ist inzwischen bekannt, daß das nicht in jedem Fall geschieht. Hier wird viel an Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger verspielt.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau Hämmerle das Wort.
Die Rede der Frau Kollegin I)r. Enkelmann veranlaßt mich zu dieser Kurzintervention. Sie haben gesagt, Frau Dr. Enkelmann, daß viele Anliegen in cien Schubladen liegenbleiben. Ich möchte Ihnen einerseits recht geben, andererseits aber feststellen, (laß dieses nicht die Schubladen des Petitionsausschusses sind.
({0})
- Ich greife Sie doch gar nicht an, Frau Dr. Enkelmann, sondern Sie gaben mir die Gelegenheit, diesem
Haus noch einmal etwas ins Bewußtsein zu bringen.
Vor sechs Jahren, im ersten Jahr meiner Mitgliedschaft im Petitionsausschuß, hat dieser Ausschuß einstimmig die Petition eines Petenten in Sachen Wohnungseigentumsgesetz der Regierung zur Berücksichtigung, also mit dem stärksten Votum, überwiesen. Dieser Petent, der zufällig aus meiner Heimatstadt Karlsruhe stammt, hat bis heute, nach sechs Jahren, noch keinen positiven Bescheid über die Behandlung dieser Petition.
Ich möchte die Gelegenheit benutzen, dies hier vorzutragen, weil auch dadurch, meine Damen und Herren von der Regierungsbank - ich spreche niemanden persönlich an -, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Behandlung der Anliegen, die sie an uns als ihre gewählten Vertreter herantragen, verspielt wird.
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8034 Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode
Das Wort hat der Abgeordnete Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Petitionsausschuß! Ich will die Reihenfolge ein wenig variieren und meinen Dank zu Beginn aussprechen; alle anderen haben es in ihre Rede sehr schön eingeflochten. Ich will danken für die gute Zusammenarbeit im Petitionsausschuß. Ich will aber auch dem Vorsitzenden Dr. Pfennig für seine übersichtliche und umsichtige Führung des Petitionsausschusses ausdrücklich danken.
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Ich möchte auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes ganz ausdrücklich für ihre Sorgfalt und ihren Fleiß danken.
Zum Ergebnis dieser fraktionsübergreifenden Arbeit, die wir im Petitionsausschuß leisten, gehört, daß es uns in einigen Fällen gelungen ist, durch unkonventionelle Lösungen hilfreich zu sein. Ich denke dabei z. B. an den Fall des lebensgefährlich verletzten kurdischen Kindes, das durch den Einsatz des Petitionsausschusses in Deutschland behandelt werden konnte, oder an die Bildung eines Hilfsfonds, durch den die Behandlungskosten für eine Augenoperation übernommen wurden.
In vielen anderen Fällen aber hätte ich mir vom Petitionsausschuß mehr Mut und Innovationskraft gewünscht. Dazu gehörten der Vorschlag zur Einführung eines Halbpreispasses bei der Bahn sowie die Bürgerinitiativen zur Abschaffung des Nötigungsparagraphen oder zur Einführung von Volksentscheiden. Bei aller Anerkennung für manche Erfolge in Einzelfällen überwiegt daher meine Skepsis. Als brandenburgischen Abgeordneten, der die Situation in seiner Heimat sehr genau kennt, hat mich die enorm hohe Zahl der Bitten und Beschwerden nicht überrascht, die aus Ostdeutschland gekommen sind. Die Anzahl dieser Petitionen und die Darstellung der immer gleichen Probleme signalisieren überdeutlich die Schwierigkeiten, Mängel und Fehler im Einigungsprozeß. Das sich so viele ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger überhaupt an den Deutschen Bundestag wenden, ist zwar erfreulich, aber es sollte uns nicht beruhigen. Auch in Ostdeutschland verlieren die politischen Institutionen einschließlich des Deutschen Bundestages an Vertrauen. Das bestehende Instrumentarium reicht zur Lösung der Probleme einfach nicht aus.
Der Petitionsausschuß muß mehr sein als der Briefkastenonkel der Nation, wo sich die Deutschen einmal das Herz ausschütten können. Besonders in Ostdeutschland geht es um die Beseitigung extremer und existentieller Ungerechtigkeiten. Die erhebliche Anzahl der Eingaben zu Eigentums- und Vermögensansprüchen, zur übereilten Einführung und schwer durchschaubaren Anwendung des Rentenrechts, zur Wohnungssituation und zu den belastenden Erhöhungen der Mieten, zur Rehabilitierung von politischen Gefangenen oder beruflich Benachteiligten, all das signalisiert doch die unmittelbare Not von Menschen. Wir sollten diese Petitionen als eindringliche Aufforderung und Verpflichtung verstehen, unverzüglich und wirksam zu handeln.
Hierbei ist das Parlament in seiner Gesamtheit gefordert, insbesondere aber auch die Bundesregierung. Wenn uns die Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen sollen, dann müssen wir deutlicher und entschiedener als bisher von der Bundesregierung verlangen, den Aufträgen des Deutschen Bundestages auch nachzukommen. Dies kann nicht nur die Aufgabe der Opposition sein; dies sollte auch und besonders der Auftrag der Parteien sein, die die Regierung stellen. Sie und wir dürfen es einfach nicht hinnehmen, daß die Bundesregierung von 345 Petitionen, die ihr der Deutsche Bundestag 1991 zur Berücksichtigung überwiesen hat, bislang erst 62 ausgeführt hat. Dies ist eine gröbliche Mißachtung des Parlaments, vor allem aber eine unerhöhte Ignoranz im Umgang mit den Sorgen und den Nöten der Bürger. Das fällt letztlich auch auf uns zurück; vor allem aber beschädigt es das Vertrauen in die Demokratie.
Viele Bürgerinnen und Bürger haben zunehmend den Eindruck, daß sich die Politiker und Parlamentarier für ihre Probleme taub stellen. Dabei gibt es genügend kluge, wohldurchdachte Vorschläge, wie die Wahrnehmung des Petitionsausschusses und damit des Parlaments für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger geschärft werden könnte.
Es wäre sicher richtig, die Petenten stärker als bisher in die Verfahren des Petitionsausschusses einzubeziehen, so wie es jetzt vor dem Verfassungsausschuß auch geschehen ist. Eine stärkere Beteiligung und Anhörung der Petenten, wie sie u. a. unsere ehemalige Kollegin Frau Dr. Hildegard Hamm-Brücher fordert, könnte wesentlich zur Demokratisierung und Konkretisierung des Petitionsrechtes beitragen.
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Es sollte ferner die Möglichkeit zur Einbringung von Gesetzesinitiativen geschaffen werden, die im Parlament unter Beteiligung der Petenten öffentlich beraten werden müssen. Der Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder formuliert eine solche Pflicht des Petitionsausschusses, bei Eingaben, die von mehr als 30 000 Stimmberechtigten unterzeichnet sind, die Petenten oder ihre Vertreterinnen und Vertreter anzuhören.
Eine wesentliche Kritik, die immer wieder von enttäuschten Petenten an uns herangetragen wird, ist die dogmatische Berufung auf die bestehende Rechtslage. Versetzen wir uns doch bitte einmal in die Lage eines Menschen, der jahrelang verzweifelt gegen eine von ihm als Unrecht empfundene Regel kämpft und dann vom Ausschuß die lapidare Auskunft erhält, so sei nun mal die Rechtslage, und eine Änderung könne bei allem Bedauern und Verständnis etc. pp. nicht in Aussicht gestellt werden. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie ermuntern, die zunächst übertrieben oder absurd klingenden Eingaben mancher Bürger und Bürgerinnen auch weiterhin gebührend ernst zu nehmen, auch wenn ich weiß, daß das nicht immer ganz leicht fällt.
Im ersten mündlichen Bericht des Petitionsausschusses vor dem Deutschen Bundestag am 20. März 1951 sprach die Berichterstatterin, Frau Albertz von der SPD, von jenen Petenten - ich zitiere -, „die etwas merkwürdige Wünsche an den Bundestag
Deutscher Bendestag - 12. Wahlperiode
Konrad Weiß ({2})
haben, wie z. B. die Junggesellin, die auch für die Gasthäuser Raucher- und Nichtraucherabteile vorgesehen wissen möchte, weil sie sich durch die qualmenden Männer belästigt fühlt". Der Stenographische Bericht verzeichnet an dieser Stelle „Hört! Hört!" und „Heiterkeit" . Gerade die kleinen und oftmals noch merkwürdig klingenden Forderungen aus dem Volke können sich doch als weitsichtiger und vernünftiger erweisen, als wir es wahrhaben wollen.
Ich bin überzeugt, daß sich unsere künftigen Kolleginnen und Kollegen in der 24. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages darüber wundern werden, daß wir solche Selbstverständlichkeiten wie das Werbeverbots für PKW oder das kommunale Wahlrecht für Ausländer abgelehnt haben.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Martin Göttsching.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ein paar Sätze zu meinen Vorrednern.
Herr Kollege Büttner, ich gehe davon aus, daß auch Sie sich zur Bevölkerung rechnen. Wenn Sie sagen, daß Gesetze über die Köpfe der Bevölkerung hinweg gemacht werden, bedeutet das: auch über Ihren Kopf und den Kopf meiner Kollegen hinweg; denn auch ich bin Bevölkerung, genauso wie meine Kollegen.
({0}) - „Ein Teil davon"; das ist klar.
Zum Kollegen Weiß: Nach meinem Kenntnisstand debattieren wir den Tätigkeitsbericht 1991, nicht aber das, was hier Anfang Mai nach § 112 der Geschäftsordnung diskutiert worden ist: den Nötigungsparagraphen. Der wäre, wenn ich es recht sehe, im nächsten Jahr an der Reihe.
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- Dann sagt er es noch einmal; dann braucht er sich im nächsten Jahr weniger Gedanken zu machen.
Der Anstieg der Zahl der Petitionen ist ein Gradmesser für die Erwartungshaltung, die unsere Mitmenschen - und auch wir - an das oberste Haus in unserem Lande haben, weil sie sich mit ihren Nöten und Sorgen an uns wenden können. Wohl in keinem anderen Gremium spiegeln sich die aktuellen Probleme der jeweiligen politischen und sozialen Wirklichkeit in Deutschland so konzentriert wider wie bei uns. Vielfach sind es persönliche Probleme, die hier zum Ausdruck kommen und die sich für den einzelnen aus der Umgestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den neuen Ländern ergeben: Verlust oder Gefährdung des Arbeitsplatzes, Höhe von Lohn und Rente, aber auch Mietentwicklung.
Ein sehr großer Teil der Fragen befaßt sich auch mit der Vergangenheitsbewältigung, der Rehabilitierung und der Entschädigung der Opfer des SED-Regimes. Ebenso macht die Anzahl der Petitionen mit Hilferufen der Vertriebenen einen ganz großen Teil der
Gesamtpetitionen aus, sind sie in der DDR in der Vergangenheit doch totgeschwiegen worden. Es ist das Anliegen derer, die an uns schreiben, daß hier eine Gleichbehandlung mit den Heimatvertriebenen in den alten Bundesländern erfolgt.
Daneben stehen aber auch Petitionen von Spätheimkehrern wie von Witwen ehemaliger Kriegsgefangener, die durch die Überführung der Heimkehrerstiftung auf das Beitrittsgebiet Hilfe in sozialer Notlage erhoffen.
Es gibt - meine Vorredner haben das gesagt -nicht nur Einzelfälle, sondern auch Sammeleingaben und Massenpetitionen, die zwar immer nur exemplarische Fälle aufzeigen, die aber für eine große Zahl vergleichbarer Sachverhalte stehen. Deshalb möchte ich einige Schwerpunkte beleuchten; ich tue dies als jemand, der aus Thüringen kommt und dem diese besonders wichtig erscheinen.
Ich habe es miterlebt, natürlich damals als sehr junger Mensch, wie zwangsausgesiedelt wurde. Ich habe das Gedröhne der Lkw gehört, die damals aus dem noch näheren Grenzgebiet der innerdeutschen Grenze Leute, Bekannte meiner Geschwister und von mir, genau in die Gegenden, die innerhalb und weiter in der DDR waren, transportiert haben.
Der Ausschuß hat das Anliegen der Betroffenen, die die Rückgabe ihres Grundbesitzes oder eine entsprechende finanzielle Entschädigung fordern, unterstützt und diese Eingaben zur Berücksichtigung an die Bundesregierung überwiesen.
Auf Unverständnis stieß bei vielen Bürgern die Regelung des Einigungsvertrags für die Zeit zwischen 1945 und 1949.
Gewiß ist der wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Bundesländern ungeheuer wichtig, um all denen, die dort wohnen, eine Zukunftsperspektive zu vermitteln. Mindestens von gleichem Gewicht sind aber die rechtsstaatlichen Probleme. Denn Recht sichert Freiheit, und nur Recht führt zum Vertrauen der Menschen untereinander.
Die Justiz muß daher nicht nur von Richtern und Staatsanwälten frei sein, die dem SED-Regime als Steigbügelhalter gedient haben und sich als Instrument der Unterdrückung mißbrauchen ließen. Es muß auch eine vorbehaltlose und uneingeschränkte strafrechtliche Verfolgung des an den Opfern begangenen Unrechts möglich sein und möglich bleiben.
Diese Auffassung vertrat der Ausschuß bei der Behandlung von zahlreichen Petitionen, in denen sich Bürger, ehemalige Opfer der SED-Justiz, mit Nachdruck gegen die Annahme wandten, daß ehemalige Richter und Staatsanwälte, die an Unrechtsurteilen zu DDR-Zeiten mitgewirkt haben, heute strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden könnten, weil die Verjährungsfristen für die begangenen Straftaten bereits abgelaufen seien.
Der Ausschuß fordert deshalb die Bundesregierung auf, im Rahmen einer bundesgesetzlichen Regelung klarzustellen, daß die Verjährung von Verbrechen in der DDR ausgesetzt wird. Nur durch ein entsprechendes Gesetz könne sowohl für die Opfer als auch für die Täter Rechtssicherheit geschaffen werden.
Mit der Herstellung der deutschen Einheit ist eine ganze Menge Probleme verbunden gewesen, auch im Zusammenhang mit der Währungsumstellung. Ich möchte ein Beispiel bringen, wo der Ausschuß für ein kleines Unternehmen in Thüringen votiert hat.
Dieser Betrieb hatte besondere Probleme mit dem tatsächlichen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft. Nach dem Wegfall der früheren Außenhandelsstrukturen und der eigenverantwortlichen Obernahme der Außenhandelsaufgaben durch den Betrieb hatte dieser Betrieb ohne Verschulden eine Exportgenehmigung der zuständigen Behörden nicht eingeholt und frühere Lieferverträge mit der CSFR und der UdSSR erfüllt. Die Genehmigungsbehörde versagte daraufhin die Konvertierung der TransferrubelBeträge in einer Höhe von nahezu 2,5 Millionen DM. Das hatte Liquiditätsprobleme der Firma zur Folge.
Der Petitionsausschuß verlangte die Überprüfung des Falles und erreichte im Ergebnis die volle Auszahlung des Gegenwerts der Lieferung und damit die Stabilisierung der Arbeitsplätze des Betriebs.
In der täglichen Auseinandersetzung mit dieser Vielzahl von Lebenstatbeständen, die sich aus den politischen Veränderungen in Deutschland vor allem für die Menschen in den neuen Bundesländern ergeben - wenn ich meinen Kollegen Heise und mich sehe, muß ich sagen: für die Thüringer im besonderen -, hat der Petitionsausschuß, meine ich, in dieser Zeit seine Bewährungsprobe bestanden, mit der großen Zahl von Eingaben fertig zu werden.
Ich danke aus innerer Überzeugung meinen Kollegen, die ebenso tätig gewesen sind - ({2})
- Wir müssen doch in der Formulierung eine kleine Differenzierung haben. - Ich danke auch denjenigen im Ausschußdienst, die hier große Hilfe geleistet haben.
Lassen Sie mich feststellen - und dies tue ich, ebenso wie bei der vorherigen Einlassung, mit Freude -, daß im Petitionsausschuß im Normalfall ein Rollenverständnis besteht, das generell nicht von der sonst üblichen Kontroverse zwischen Regierungsparteien und Oppositionsparteien, sondern weitgehend von einer sachlichen und kooperativen Arbeit der Mitglieder des Ausschusses geprägt ist.
Der Ausschuß sieht sich nach meinem Dafürhalten in erster Linie als Anwalt der Bürger und ist bestrebt, deren Interessen engagiert zu vertreten. Ich glaube, daß die Debatte heute einen Teil dazu beiträgt.
Vielen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Siegrun Klemmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da allen gedankt wurde, bleibt mir zu Beginn noch die Aufgabe, dem netten Mann zu danken, der uns morgens mit Kaffee und Brötchen versorgte. Er ist wohl der einzige, dem heute noch nicht gedankt wurde.
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Ansonsten fürchte ich, ich muß ein bißchen Wasser in den Wein gießen. Ich hoffe, daß Sie das in meinem Redebeitrag akzeptieren können und daß er nicht zu einer gewissen Unruhe hier führen wird.
Unser Bundespräsident hat mit seiner gestrigen Kritik am Parteienstaat zur richtigen Zeit, denke ich, auf Mängel im Vollzug der deutschen Einheit hingewiesen, die auch für die Arbeit des Petitionsausschusses von großer Bedeutung sind. Denn wie kein anderer Ausschuß steht der Petitionsausschuß mit den Menschen in unmittelbarem Kontakt. Die Chance, die sich daraus ergibt, um der mittlerweile von allen beschworenen Politikverdrossenheit im Lande entgegenzuwirken, muß genutzt werden. Gerade die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR, von denen heute hier schon so viel die Rede gewesen ist, müssen vom Petitionsausschuß des Deutschen Bundestags erheblich mehr erwarten und verlangen dürfen als von den seinerzeit in der DDR dafür vorgesehenen Instanzen.
Es ist daher unbefriedigend, mit welcher Achtlosigkeit über bestimmte Erkenntnisse des Ausschusses seit der Vereinigung hinweggegangen wird. Ein Umstand, der als angeblich unvermeidbares Übergangsübel allzuoft behandelt, verharmlost und vergessen wird, ist, daß ein Hauptanlaß für die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands, sich an den Petitionsausschuß zu wenden, in der Unsicherheit im Umgang mit dem neuen Rechtssystem besteht. Viele Eingaben laufen daher auf dem Petenten zu leistende Rechtsbelehrungen hinaus, was nicht die originäre Aufgabe dieses Ausschusses sein kann.
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Trotzdem müssen wir uns vor Augen führen, was die Unkenntnis ihrer Rechte für die Menschen in Ostdeutschland bedeutet, nämlich eine Beschneidung ihrer Möglichkeiten, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Dabei ist es nicht etwa so, daß lediglich das Wissen um die richtige Stelle in der richtigen Behörde fehlt; der Petitionsausschuß muß bei seiner Arbeit ein ums andere Mal feststellen, daß die Unsicherheiten gerade bei den Behördenvertretern zu suchen sind, bei denen noch allzuoft Unkenntnis, eiangelnde Erfahrung und Unsicherheit mit dem auch für sie neuen Rechtssystem vorherrschen.
Wir müssen nach Mitteln und Wegen suchen, um dieser Lage gerecht zu werden. Ein Weg, das in die Öffentlichkeit zu tragen, könnte eine Art Petition des Monats sein, die in Zusammenarbeit zwischen den Medien und den jeweiligen für die Petition zuständigen Berichterstattern hervorgehoben werden müßte. Eine solche Darstellung kann den Nutzen, aber auch die richtige Nutzung des Petitionswesens verdeutlichen.
Nicht nur in der Bevölkerung Westdeutschlands sollten diese Probleme unserer ostdeutschen Landsleute mehr bekanntgemacht werden, sondern - so denke ich - auch in der Bundesregierung herrscht offensichtlich noch Aufklärungsbedarf.
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Wissenschaft und Medien haben bereits gebührend zur Kenntnis genommen, daß die Verwaltung in
Ostdeutschland mit der Doppelaufgabe, sich auf völlig neue Prinzipien umzustellen und gleichzeitig einen beispiellosen Massenansturm zu bearbeiten, unter den gegebenen Umständen gar nicht fertigwerden kann. Es stauen sich unbearbeitete Bauleitpläne, Restitutionsansprüche und alle möglichen antragspflichtigen Initiativen, die, wenn sie nicht auf dem Behördenweg gehemmt würden, den Osten Deutschlands schon erheblich weitergebracht hätten, als er bis jetzt gekommen ist. Nicht nur die unerfahrene Verwaltung, auch schwer handhabbare Regelungen, etwa die sogenannte Vorfahrtsregel für Investoren in § 3 a des Vermögensgesetzes, stehen einem wirklichen Aufschwung im Weg. Hier sollten die Kommunen von der Haftung vom jeweiligen Bundesland befreit werden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, mangelhafte Regelungen auszubessern und die Unterstützung der ostdeutschen Behörden zu forcieren. Mittlerweile sollte klar sein, daß jede darin investierte Mark ihr Vielfaches wert ist.
Meine Damen und natürlich auch Herren - in dieser Angelegenheit wende ich mich an die Herren ganz besonders -, es war eine Petition, die uns die Gelegenheit gab, über den Jäger 90 zu debattieren. Die Bundesregierung sprach damals noch von der Notwendigkeit dieses Projekts. Heute hat sie leider die Möglichkeit versäumt, etwas dazu zu sagen.
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Damals hätte die Bundesregierung wohl besser daran getan, frühzeitig und sensibler auf die Empfindlichkeiten der Menschen zu reagieren, die sehr wohl merken, auf wessen Schultern, und vor allem zu welchen Anteilen die Lasten der Einheit verteilt sind.
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Doch statt der endgültigen Streichung dieses unbezahlbaren Projekts wird das genervte Publikum Zeuge eines schauerlichen Hin und Her, so daß man nicht umhinkommt, einzugestehen, daß der Politikverdrossenheit, von der hier auch schon die Rede war, in der Bevölkerung durchaus eine Politikunfähigkeit auf seiten der Regierenden entgegensteht.
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Eine andere Petition zu einem Thema, das uns ebenfalls weiterhin beschäftigen wird, befaßte sich mit der Abfallbeseitigung. Leider wurde das Ansinnen der SPD im Ausschuß, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, genauso abgewiesen wie ein Antrag der SPD-Fraktion zu dem Thema. Inzwischen, denke ich, hat sich erwiesen, daß die diesbezügliche Regierungspolitik gescheitert ist. Das sogenannte duale System und der grüne Punkt verdienen in ihrer bisherigen Form die rote Karte.
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Für dieses Vorzeigeprojekt von Umweltminister Töpfer bei diesem Thema, dem er Priorität einräumen wollte, diese Verordnung, die mit ungeheurem Trara in die Republik hinausposaunt wurde, ist das bisher zu verzeichnende Ergebnis mehr als beschämend.
Bei einem weiteren Thema erwarten die Menschen in Ostdeutschland - sie haben die Erwartung in vielen Petitionen ausgedrückt -, daß eine im Zusammenhang mit der deutschen Einheit getroffene Regelung korrigiert wird. Es handelt sich hier um die Stichtagsregelung in § 4 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen, wonach Erwerber von Grundeigentum betroffen sind, die nach dem 18. Oktober 1989 Eigentum bzw. dingliche Nutzungsrechte an Grundstücken und Gebäuden erworben haben. Dahinter steht die Vermutung, bei den Erwerbern handle es sich vorwiegend um Funktionäre des SED-Staates, die nicht begünstigt werden dürften. Wir wissen: Diese Vermutung hat sich nicht bestätigt. Die Mitglieder des Petitionsausschusses wissen es aus der Reihe der Petenten in ganz besonderem Maß.
Redliche Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands haben sich empört an uns gewandt. Darunter sind Mieter, die seit 1958 in einem Mietshaus gewohnt und dieses dann in einem, wie ich meine, schätzwürdigen Vertrauen erworben haben. Die Petenten machen den Vorschlag, den Stichtag auf den 2. Oktober 1990 zu verlegen. Das ist ein durchaus vernünftiger Vorschlag. Auch eine schlichte Streichung dieser Regelung wäre denkbar. Bei den Erwerbsgeschäften käme es dann ausschließlich auf die Frage der Redlichkeit oder Unredlichkeit an.
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Der eigentliche Skandal aber, den es an dieser Stelle aufzuzeigen gilt, liegt nicht nur in dieser Regelung, die sich verbessern oder streichen ließe. Er liegt darin, daß die berechtigten Petitionen der verunsicherten Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands zu diesem Thema auf Eis liegen, his der entsprechende Fachausschuß entscheidet. Bei ihrem ersten, über den Wahlakt hinausgehenden ersten Kontakt mit unserem politischen System erfahren auf diese Weise viele Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands, daß eines der Anliegen, die ihnen am meisten am Herzen liegen, vom Bundestag nicht annähernd die ihm angemessene Beachtung und Behandlung findet oder finden kann.
Hier wird die wichtige Tätigkeit des Petitionsausschusses zur Farce degradiert, wenn er, statt die Anliegen der Menschen in einer angemessenen eigenen Beurteilung an die Fachausschüsse heranzutragen, damit diese die Petition in ihrer Entscheidungsfindung einbeziehen können, diese Entscheidungen abwarten muß und so gegenüber den Petenten zum reinen Mitteilungsorgan bereits an anderer Stelle getroffene Entscheidungen verkommt.
Hier muß § 109 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geändert werden. Der Petitionsausschuß muß die Möglichkeit erhalten, trotz laufender Verhandlungen der Fachausschüsse selbst bereits über eine Petition zu beschließen und diesen Beschluß dann dem Fachausschuß mitzuteilen. Nur so erfüllt der Ausschuß seine Funktion, den Bürgern auf dem Weg der Petition Einfluß einzuräumen.
Gerade die Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands sollen den Unterschied zu früher merken, als sie noch als Bittsteller die Instanzen der ehemaligen DDR um die Erfüllung eines Gnadenaktes angehen
mußten. Ich denke, sie sollen sehen, daß sie nunmehr ein originäres Recht und den Anspruch haben, von den von ihnen gewählten Politikerinnen und Politikern gehört, beachtet und ernstgenommen zu werden.
Ich danke Ihnen.
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Als nächster spricht der Kollege Albert Deß.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht über die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages ist das Dokument einer umfangreichen Arbeit.
Obwohl ich als neugewählter Abgeordneter eigentlich nicht Mitglied des Petitionsausschusses werden wollte, kann ich heute sagen, daß es sich als eine sehr interessante Aufgabe herausgestellt hat. Über die gute Zusammenarbeit auch über Parteigrenzen hinweg freue ich mich und dafür bedanke ich mich.
Das deutsche Petitionsrecht, das in seinen Grundzügen bereits 1848 bei der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche festgelegt wurde, hat sich bewährt. 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurde das Eingaberecht sofort abgeschafft. Warum wohl? Bürgerrechte passen eben nicht zu einer Diktatur.
Beim dritten internationalen Kolloquium des lateinamerikanischen Instituts des Ombudsmannes in Argentinien im vergangenen Jahr durfte auch ich die Bundesrepublik Deutschland vertreten.
Das deutsche Petitionsrecht unterscheidet sich wesentlich vom Eingabesystem des Bürgeranwalts. Die Darstellung des deutschen Petitionsrechts auf dieser Veranstaltung hat große Beachtung gefunden. Die Zuständigkeit von gewählten Mitgliedern eines Parlaments für die Beschwerden der Bürger bewirkt, daß Abgeordnete mit den Sorgen der Bürger in ihrer ganzen Bandbreite konfrontiert werden.
Was mir in Buenos Aires aufgefallen ist, ist die unterschiedliche Art der Beschwerden. Der Bericht des Ombudsmannes von Guatemala darüber, wie er Indianer unter eigener Lebensgefahr im letzten Moment vor einem Erschießungskommando retten konnte, hat mich tief erschüttert.
Habe ich dann eine Petition zu bearbeiten, in der sich ein ehemaliger Bundesbahnbeamter darüber beschwert, daß ihm die irrtümlich gewährte Freifahrtkarte erster Klasse entzogen wurde und er nun lediglich eine Freifahrtkarte zweiter Klasse benutzen darf, dann ist das für mich ein krasser Fall des Mißbrauchs des Petitionsrechts.
Wenn der pensionierte Bundesbahnbeamte in seiner Petition überdies schreibt, daß die Wegnahme der Freifahrtkarte erster Klasse bei ihm und seiner Frau zu schweren Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken führt, so kann man dazu nur sagen: Diese Sorgen möchten Bürger in anderen Ländern haben, vielleicht auch in den neuen Bundesländern. Wer nur solche Sorgen hat, hat keine Sorgen.
Das aber paßt genau zu der derzeitigen Stimmungslage in unserem Land. Jammern und Schimpfen ist zu einer Volkskrankheit geworden.
Trotzdem ist eine solche Petition ein extremes Beispiel. Bei vielen Petitionen handelt es sich um berechtigte Sorgen unserer Bürger. Es schmerzt mich, wenn einem berechtigten Anliegen wegen bestimmter Zwänge gesetzlicher Vorschriften nicht Rechnung getragen werden kann.
Wiederholt hatte ich z. B. Eingaben, in denen sich Rentner darüber beschwerten, daß ihnen die Kriegszeiten aus bestimmten Gründen nicht bei der Berechnung der Renten anerkannt werden können. Dahinter verbergen sich menschliche Schicksale. Diesen Anliegen und Sorgen würde ich gern großzügig abhelfen; doch manchmal ist das leider nicht möglich.
Ich finde es erfreulich, daß durch den Petitionausschuß immer wieder Kulanzregelungen zugunsten von Petenten erreicht werden können.
Interessant gerade auch im Hinblick auf die Lafontaine-Affäre war der Fall eines 52jährigen saarländischen Bürgermeisters. Da er vor seiner Wahl am 1. Oktober 1984 zum Bürgermeister nicht im öffentlichen Dienst war, erhält er monatlich über 1 000 DM weniger, weil seine Tätigkeit. im Bankgewerbe hei der Festsetzung des Besoldungsdienstalters nicht angerechnet wurde.
Während in den meisten anderen Bundesländern eine solche Ungleichbehandlung nicht stattfindet, hat das Saarland für Bürgermeister anscheinend besondere Gesetze. Obwohl der saarländische Eingabenausschuß sich einmütig dafür ausgesprochen hat, der saarländischen Regierung zu empfehlen, dem Anliegen des Bürgermeisters Rechnung zu tragen, wurde dies vom saarländischen Innenminister abgelehnt. Unter anderem hat der Innenminister die Ablehnung damit begründet, daß es im Hinblick auf die ernste finanzielle Lage vieler saarländischer Kommunen zur Zeit nicht angebracht erscheine, wegen eines Einzelfalls die saarländische Kommunalbesoldungsverordnung zu ändern.
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Interessant ist es, wenn man heute erfährt, welcher nicht ganz unbekannte saarländische Oberbürgermeister bereits in jungen Jahren Pension bezieht.
Die weitere Begründung für die Ablehnung lautete: I)a bei der Festsetzung des Besoldungsdienstalters für andere Bewerber auch in allen übrigen Bereichen nach den Vorschriften des Bundesbesoldungsgesetzes verfahren werde, sei die geltende saarländische Regelung auch beamtenpolitisch schlüssig. Im übrigen habe der Minister wiederholt darauf verwiesen, daß jeder Bewerber vor seiner Wahl die Möglichkeit hat, sich über seine Besoldung eingehend zu informieren.
Ich werde mir erlauben, die Bemerkungen des saarländischen Innenministers dem saarländischen Ministerpräsidenten zuzusenden.
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 97. Sitzung. Bonn, Mittwoch, cien 17. Juni 1992 8039
Albert Dell
Ob der sich wohl vorher über seine Besoldung informiert hat? Die große Unschuld vom Lande kaufe ich dem Herrn Lafontaine nicht ab. Doch zurück zum Thema. Inzwischen konnte die Behandlung der Petition abgeschlossen werden, da die saarländische Regierung bereit war, dem Anliegen Rechnung zu tragen.
In Bayern hätte es eine solche Petition nicht gegeben, da alle hauptamtlichen Bürgermeister in diesem Punkt gleichbehandelt werden.
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Bei uns erhielte ein 42jähriger Oberbürgermeister, würde er bei uns Ministerpräsident, keine vorzeitige Pension.
({3}) - Heute nicht mehr!
Daß in Bayern offenbar eine bürgerfreundliche Politik gestaltet wird, zeigt sich auch daran, daß Bayern mit 143 Petitionen auf eine Million Einwohner an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages die niedrigste Eingabenrate aller Bundesländer hat.
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Zusammenfassend kann gesagt werden: Das Petitionsrecht macht unseren Staat menschlich. Auch im Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages sitzen Menschen, die mit den Sorgen und Nöten der Menschen in diesem Land bestens vertraut sind, manchmal mehr, als ihnen lieb ist. Denn wer seine Arbeit im Petitionsausschuß ernst nimmt, kann abends nicht einfach abschalten, weil er sich die Sorgen und Nöte anderer Menschen zu eigen macht.
Ich arbeite gern im Petitionsausschuß; aber solche Petitionen wie die des pensionierten Bundesbahnbeamten, der an Selbstmord denkt, weil er in der zweiten Klasse fahren soll, ärgern mich natürlich sehr. Ich hoffe, daß der offensichtliche Mißbrauch des Petitionsrechts wieder abnimmt; denn solche Petenten schaden den Menschen in Not mit ernsthaften Anliegen allein schon dadurch, daß es Zeit kostet, ihre Wehwehchen zu bearbeiten.
Übrigens: Falls sich ein saarländischer Oberbürgermeister a. D. in nächster Zeit an den Petitionsausschuß wenden sollte, wäre auch das für mich ein Mißbrauch des Petitionsrechts.
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Ich hoffe, daß wir viele berechtigte Petitionen positiv erledigt können.
Vielen Dank.
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Als nächster spricht der Kollege Dr. Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege, wir wollen unseren Blick im Moment vom Saarland abwenden
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und, Herr Göttsching, auf die thüringische Hauptstadt richten.
Ich hatte im Gegensatz zu einigen Angehörigen der Koalitionsfraktionen das große Glück, bei herrlichem Thüringer Sonnenschein den Pfingstsonntag mit dem Deutschen Bundestag zusammen zu verbringen.
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Ja, deshalb habe ich ja den Unterschied genannt. Mit mir als geborenem Thüringer hat es der liebe Gott gut gemeint. Ich habe an diesem Sonntag wie selten zuvor eine große Dichte der Probleme, aber auch eine große Befriedigung, mit Bürgern über ihre Anliegen sprechen zu können, erlebt.
Weil heute schon einige Vorschläge gemacht wurden, Herr Dr. Pfennig, ergänze ich: Es wäre eine gute Idee, daß der Bundestag, wenn er sich in den Landeshauptstädten reihum präsentiert, dies jeweils mit dem Petitionsausschuß macht. Ich denke, das wäre eine der Möglichkeiten, um die Arbeit dieses Parlaments nicht nur populärer, sondern auch menschlicher und bürgernäher zu gestalten.
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Seit 18 Monaten bin ich Mitglied des Petitionsausschusses; wie einige wissen, zu Anfang auch nicht freiwillig. Die Vorwürfe, die in den Medien oft zu hören und zu lesen sind, die Abgeordneten der Parlamente seien von den Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger weit entfernt, sie schwebten über den Wolken, treffen auf die Arbeit aller Kolleginnen und Kollegen zumindest dieses Ausschusses des Bundestages nicht zu.
Besonders die Verlierer des sozialen Systems, ihre Eingaben und Beschwerden zeigen, wo den Bürgerinnen und Bürger der Schuh drückt, wo soziale und psychische Not herrscht.
Die Armen der Armen, deren Unwissen, deren Nichtdurchsetzungsfähigkeit, deren Unbesorgtheit um ihre eigenen Dinge sie oft in existentielle Nöte bringen, sind die eine Seite der Petitionsarbeit. Die andere Seite sind Gesetze und Verordnungen, die, von der Regierungsmehrheit gewollt, soziale Ungerechtigkeiten und soziale Nöte zwar nicht hervorrufen, aber doch bedingen.
Von zwei dieser Bereiche, zu denen ich Petitionen bearbeitet habe, will ich heute kurz berichten. Der eine Bereich ist das sogenannte Gesundheitsreformgesetz von 1989 - die Reform der Reformen wird ja jetzt von der Regierung versucht -, während sich der Petitionsausschuß noch immer mit den Ungerechtigkeiten des ersten Gesetzes beschäftigen muß.
Der zweite Bereich ist die soziale Gestaltung der deutschen Einheit, die hei vielen Bürgerinnen und Bürgern als unausgewogen und mißlungen angesehen wird. Auch hier kann man als Berichterstatter im Petitionsausschuß reiche Erfahrungen in die öffentliche Debatte einbringen.
Ein 33jähriger Kaufmann ist seit 1984 nach einem Verkehrsunfall querschnittgelähmt, mit Bruch des fünften und sechsten Brustwirbels, einer Lähmung beider Beine, der Blase und des Mastdarms. Wegen
dieser Behinderung benötigt der Patient monatlich 600 Stück Einmalhandschuhe zur Entleerung des Darms. Bedingt durch die Mastdarmlähmung sitzt er täglich bis zu zwei Stunden auf der Toilette und holt sich stückchenweise den Kot mit der Hand selbst aus dem Darm.
Bis zum 31. Dezember 1989 übernahm die AOK die Kosten für diese Gummihandschuhe. Die Verordnung über Hilfsmittel von geringem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis in der gesetzlichen Krankenversicherung schließt in § 2 Nr. 10 Einmalhandschuhe außer zur regelmäßigen Katheterisierung von der Leistungspflicht aus. Ein Ermessensspielraum ist nicht vorgesehen.
Alle Versuche des Vaters des Patienten, bei der AOK, beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung und beim Bürgerbeauftragten des Landtages Rheinland-Pfalz eine Änderung dieser Verordnung zu erreichen, blieben erfolglos.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung antwortete dem Vater des Petenten im April 1990 fast zynisch:
Die Rechtsverordnung trägt dazu bei, die Beitragszahler zu entlasten und gleichzeitig den notwendigen finanziellen Spielraum für neue dringende Aufgaben der Krankenversicherung
etwa im Bereich der Gesundheitsvorsorge und der häuslichen Pflege - bereitzustellen.
Im August 1990 schlägt derselbe Sozialminister vor:
Durch die zusätzliche Verwendung eines Fingerlings besteht auch bei preiswerten Einmalhandschuhen keine Gefahr einer Verschmutzung der Hand. Sollte in seltenen Fällen der Fingerling im Darm zurückbleiben, so ist dies für den Patienten harmlos. Alle Plastikteile werden mit dem nächsten Stuhl ohne krankhafte Folgen ausgeschieden.
Die behandelnden Ärzte bestätigen demgegenüber einstimmig die medizinische Notwendigkeit von Einmalhandschuhen.
Den Gipfel leistete sich der Sozialminister im September 1990:
Da bei ihrem Sohn ... die ganze Hand benutzt wird, können zwei Einmalhandschuhe - gemeint sind billige Plastikhandschuhe - übereinander getragen werden, wobei bei einer Stuhlentleerung regelmäßig nur der äußere Handschuh mehrfach gewechselt werden muß. Die Gefahr einer Verschmutzung der Hand ist äußerst gering.
Im Dezember 1990 liegt der Sozialminister dem Patienten kommerzielles Werbematerial für „TÜV-geprüfte Latexhandschuhe" bei, deren Preis für 100 Stück zwischen 8,70 DM und 13,70 DM schwankt, und teilt im übrigen mit, die Aussagen des Ministeriums „beruhten auf fundierten medizinischen Kenntnissen".
Alle Versuche des Vaters, eine Änderung der Verordnung von 1989 oder eine Ermessensentscheidung zu seinen Gunsten zu erreichen, schlugen bisher fehl.
Der Antrag des Berichterstatters, die Bundesregierung zur einer Änderung der Verordnung zu bewegen, fand heute morgen die Zustimmung aller Mitglieder des Ausschusses. Wir hoffen, daß dem Querschnittgelähmten damit bald geholfen ist. Ich bedanke mich ganz herzlich bei all denjenigen, die die Hand zur Zustimmung gehoben haben.
(Beifall bei der SPD sowie des Abgeordneten
Dr. Gero Pfennig ({3})
Zweiter Bereich: Alle Bürgerinnen und Bürger wissen, daß die deutsche Einheit und ihre soziale Gestaltung Geld kosten, viel Geld sogar. Petenten aus den alten und neuen Bundesländern, die dem Ausschuß Eingaben zusenden, machen sich Gedanken, wie diese Einheit sozial gerecht, verträglich und von allen Schultern, je nach Leistungsvermögen, bewältigt werden kann.
Nun sind seit Bestehen dieser Republik gerade bei wirtschaftlichen Krisen die Argumente für die Beteiligung auch von z. B. Beamten und Selbständigen zur Genüge ausgetauscht worden. Sie sollten an den Kosten der deutschen Einheit durch eine Abgabe beteiligt werden. Meine Fraktion hat dazu immer wieder Initiativen ergriffen, die von der Koalition regelmäßig abgelehnt wurden. Eine Arbeitsmarktabgabe paßte und paßt offensichtlich nicht in die Ideologie dieser Regierung.
Die Bedenken hinsichtlich der Verfassung und der politischen Systematik können meiner Ansicht nach nicht überzeugen. Sie überzeugten übrigens auch die Petentinnen nicht, die aus den neuen Bundesländern schrieben. Ja, in den neuen Bundesländern ist man vielerorts der Meinung, daß es sehr unsozial sei, nur die Kolleginnen und Kollegen, die im Osten und im Westen Arbeit haben, an den Kosten der Arbeitslosigkeit zu beteiligen. Nicht nur die Sozialpartner sind zur Solidarität gefordert.
Der befristete Solidarbeitrag zur Einkommen- und Körperschaftsteuer, der in diesem Monat ausläuft, war kein Ersatz für diesen grundsätzlichen Mangel der Verteilung der Solidarlasten. Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben in den letzten Jahren Leistungen in Milliardenhöhe aufgebracht. Die Verzögerung der Beamtenbesoldung von Monaten etwa war dafür kein Ausgleich und die grundsätzliche Frage nach der Solidarität in Deutschland damit nicht beantwortet. Die Gruppe der Selbständigen und Beamten an der Finanzierung der deutschen Einheit zu beteiligen, war der Wunsch vieler Petitionen, die ich gelesen habe. Sie ist, denke ich, auch eine sozialpolitische Pflicht.
({4})
Die Petentinnen aus den neuen Ländern haben mit diesen ihren Eingaben - das muß ich selbstkritisch bemerken - einen bemerkenswerten politischen Realitätssinn gezeigt - er ist übrigens vielen Petitionen anzumerken -, der dokumentiert, daß z. B. hier eine Arbeitsmarktabgabe eine sinnvolle sozialpolitische Forderung ist, die den Grundprinzipien unseres Grundgesetzes nach Solidarität entspricht.
Ich muß Ihnen nicht sagen, was aus diesen Petitionen geworden ist, in denen das Begehren nach einer Arbeitsmarktabgabe laut wurde. Sie wurden - wie Sie sicher schon geahnt haben, weil das vorher,
glaube ich, bestritten wurde - mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen - unter ihnen regelmäßig auch gestandene Arbeitnehmervertreter - abgelehnt. So sehen Sie also, daß die Arbeit mit dem Petitionsrecht immer ihre zwei Seiten hat. Ich denke aber, daß Einfühlsamkeit und Durchstehvermögen die Mitglieder des Petitionsausschusses auszeichnen. Es gilt, mit diesen Qualitäten weiterzuarbeiten, und ich mache das auch ganz gerne.
- Danke schön.
({5})
Als letzte zu diesem Tagesordnungspunkt spricht Sigrun Löwisch.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Zahl und der Inhalt der eingereichten Petitionen geben oft mehr Auskunft über unsere gesellschaftlichen Verhältnisse als großartig angelegte wissenschaftliche Untersuchungen. Deswegen ist der vorgelegte Jahresbericht es wert, daß er durchforscht wird. Wenn auch jetzt schon so viele Kolleginnen und Kollegen vor mir gesprochen haben, gibt es noch immer Dinge in diesem Bericht, zu denen man Fragen stellen kann.
Nehmen wir uns z. B. doch einmal die Frage vor: Wie hoch ist eigentlich der Anteil der Frauen bei den eingebrachten Petitionen? Wußten Sie etwa, daß es nur ungefähr ein Drittel sind? Das ist keine Ausnahme, das war übrigens schon 1989 und 1990 so. Männer dagegen reichen zu 58 % Petitionen ein, also über die Hälfte. Der Rest entfällt auf Sammelpetitionen.
({0})
- Ja, woran liegt das? - Ist es also so, daß Männer offensichtlich mehr um ihre Rechte kämpfen als Frauen?
Es gibt da natürlich noch andere Fragen. Wenn wir uns vor Augen halten, daß auch in der Politik - und jetzt kommt es - die Männer der Zahl nach noch weit überwiegen
({1})
- Sie dürfen das so verstehen, ja; ganz diskret , gibt es in diesem Hause eine Parallele. So wirken in diesem Hause bekanntlich 79 % Männer, aber nur 21 % Frauen als Abgeordnete. Anders ist es im Petitionsausschuß - vielleicht fühlen sich deswegen die Männer dort so wohl -; denn im Petitionsausschuß beträgt der Anteil der Kolleginnen stolze 42
({2})
Ich denke - das ist jetzt nur ein kleiner Wunsch, den ich einmal äußern möchte , es täte der Arbeit des Parlaments auch sonst gut, wenn der Anteil der Kolleginnen insgesamt den beachtlichen Prozentsatz des Petitionsausschusses erreichte.
({3})
Nach meinen Recherchen werden von den 30 % Frauen, die Petitionen einreichten, relativ selten Beschwerden über Ungleichbehandlung oder Diskriminierung vorgebracht, was eigentlich verwunderlich ist. Dabei ist es gar nicht so aussichtslos, wenn sich die Frauen in soweit wehren. Im Bericht gibt es nur einen einzigen Fall, der diese Frage behandelt.
Eine Zollassistentin trug vor, daß ihre Kollegen sie spüren ließen, sie würden lieber einen Mann auf der von ihr eingenommenen Stelle sehen. So steht es jedenfalls im Bericht; das ist keine Idee von mir. Außerdem sei sie falsch beurteilt und ihr Dienstalter zu ihrem Nachteil festgesetzt worden.
Der Ausschuß erkannte an, daß die vorherige Beurteilung wirklich ungerecht war und aufgehoben werden mußte. Das führte dazu, daß die Beamtin befördert wurde - was uns freute - und ein für sie günstigeres Dienstalter angesetzt wurde. Allerdings nicht nachgewiesen werden konnte die den Kollegen vorgeworfene Diskriminierung, was mich aber nicht wundert, weil sich diese Dinge oft der Nachforschung entziehen.
In der Zahl der Petitionen, die eine solche Ungleichbehandlung von Frauen zum Thema haben, schlägt sich also offensichtlich der wirkliche Alltag nicht nieder. Das bedauere ich eigentlich. Vielleicht tritt in den nächsten Jahren mit dem zunehmenden Selbstbewußtsein der Frauen eine Änderung ein. Jedenfalls sollten Frauen keine Hemmungen haben, mit ihren berechtigten Anliegen an den Petitionsausschuß heranzutreten.
({4})
Als Frau möchte ich, obwohl Herr Kollege Nolting das schon getan hat, natürlich die Diskussion um § 218 ansprechen, allerdings nicht mit einer Wertung, wie Sie es gemacht haben.
({5})
Ich möchte nur sagen, daß dieses Thema uns Frauen im Bundestag und die Frauen in der Bundesrepublik in ganz besonderer Weise beschäftigt hat und daß deswegen die Sammelpetitionen dazu in diesem Berichtsjahr eine ganz große Rolle gespielt haben. Kein anderes Thema erreichte diese Zahl der Unterschriften.
Interessant ist noch außer den ungefähr 40 000
Unterschriften, die Sie genannt haben -, daß es 11 382 Bitten waren, die den strafrechtlichen Schutz des ungeborenen Lebens betrafen. Die Forderung nach ersatzloser Abschaffung des § 218 unterstützten 1 991 Frauen und Männer.
({6})
Diese Diskussion, die uns alle wie auch unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger ganz stark umtreibt, geht ja nun ihrem Höhepunkt entgegen. Die Frage wird in der nächsten Woche in diesem Haus entschieden. Das ist keine Frage, die der Petitionsausschuß entscheiden kann. Da ist wirklich die Politik, da sind wir alle gefordert.
Aber noch einmal zurück zu Einzelpetitionen. Ein beträchtlicher Anteil landet auf unserem Tisch, obwohl
dies gar nicht notwendig wäre, wenn manche Behörde nicht so dickfellig wäre
({7})
und wenn die Behörden oder auch die dort Tätigen manchmal mehr Mut aufbrächten, die Gesetze bürgerfreundlich auszulegen und ihren Spielraum offensiver zu nutzen.
({8})
Wenn z. B. eine 81jährige Petentin - Sie hören richtig: 81 Jahre -, die vier Kinder großgezogen hat, jahrelang um Erziehungs- und Altersruhegeld kämpfen muß, ist das auch angesichts des hohen Alters der Petentin unverständlich. Man kann sich das ausmalen. Daß diese nach Einschaltung des Ausschusses Nachzahlungen in Höhe von über 21 000 DM erhielt, zeigt, wie berechtigt das Anliegen war. Ein Trauerspiel wie dieses erleben wir öfter.
Es gibt zahlreiche solcher Fälle, wo es dringend notwendig erscheint, unbürokratischer zu entscheiden. Zum Glück gibt es auch Behörden und Institutionen, die auf Einzelschicksale eingehen und flexibel handeln. Diese sollten ermutigt werden, und ihnen gehört unser besonderer Dank.
({9})
Ich sehe, das rote Licht leuchtet auf. Frau Präsidentin, es war heute meine erste Rede in diesem Hause. Das nächste Mal werde ich bestimmt das rote Licht beachten.
Vielen Dank.
({10})
Das war eine gute Jungfernrede.
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Andres, Dr. Ulrich Böhme ({0}), Hans Büttner ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik: - Arbeit statt Arbeitslosigkeit -- Drucksache 12/2666 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Renate Jäger, die heute Geburtstag hat und 41 Jahre alt geworden ist. Herzlichen Glückwunsch.
({3})
Vielen Dank für die Glückwünsche.
Frau Präsidentin! Verehrte Anwesende! Dem vorliegenden Antrag der SPD liegt die Feststellung zugrunde, daß die Beschäftigungskatastrophe in den östlichen Bundesländern nicht mit den hergebrachten Instrumenten des Arbeitsförderungsgesetzes überwunden werden kann. Das Wort Katastrophe ist in diesem Zusammenhang kein Auswuchs der Phantasie. Ich möchte das an einigen Standpunkten verschiedener Gremien deutlich machen.
Erstens. Die von allen Ländern getragene Entschließung der Arbeits- und Sozialministerkonferenz vom 4. Mai 1992 stellt fest:
In den neuen Ländern setzt sich der Zusammenbruch nicht wettbewerbsfähiger Strukturen fort, ohne daß im gleichen Tempo neue Strukturen aufgebaut werden können.
Zweitens. In den Treuhandunternehmen werden allein bis Ende 1992 300 000 Arbeitsplätze abgebaut. Das betrifft allein in Sachsen ca. 87 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Drittens. Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit erfuhr in einer Umfrage bei über 60 % der Treuhandbetriebe, daß es möglicherweise noch schlimmer wird, da auch im Jahre 1993 mit weiteren 100 000 Entlassungen zu rechnen ist. Zusätzlich haben die bereits privatisierten Unternehmen - 2 039 an der Zahl - hohe Entlassungsquoten.
Viertens. Der Grundtenor des ersten Frühjahrsgutachtens des Instituts für Wirtschaftsforschung lautet: „Die Talsohle ist erreicht, jedoch nicht durchschritten." Dabei wird durch die „erreichte Talsohle" die Situation noch beschönigend beschrieben.
Die Unterbeschäftigung für dieses Jahr wird vom Institut mit 39 % angegeben. Dabei sind ca. 1,4 Millionen Menschen ohne Job und ca. 1,7 Millionen in arbeitsmarktentlastenden Programmen. Das bedeutet, daß von den 5,9 Millionen Arbeitsplätzen im vergangenen Jahr rund 2,4 Millionen weggefallen sind, wenn man die 350 000 Pendler hinzuzählt. Das heißt, daß jeder dritte bis zweite Erwerbsfähige keinen Arbeitsplatz hat. Selbst der sächsische Ministerpräsident - ich betone noch einmal: er ist CDU-Mitglied - sprach von 45 % Unterbeschäftigung in Sachsen. In manchen Regionen sind es mehr als 55%.
Fünftens und letztens. Die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in den Westen macht den Arbeitsmarkt West prekärer, der bald keine Arbeitssuchenden mehr aufnehmen kann. Immerhin gibt es monatlich ca. 2 600 Umzüge nur von Sachsen aus in den Westen.
Mögen diese Beispiele zur Charakterisierung der Situation genügen.
Der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion ist zu entnehmen, daß die Bundesregierung noch nicht bereit ist, den Tatsachen wirklich ins Auge zu sehen.
({0})
Renate Jäger Ich zitiere:
Die AFG-Instrumente haben sich grundsätzlich bewahrt. Sie sind innerhalb des gesetzlichen Rahmens flexibel und weitgehend situationsgerecht einsetzbar. Notwendige gesetzliche Anpassungen der Instrumente sind zum Teil bereits erfolgt und können im Bedarfsfall vorgenommen werden.
Ich will die Bemühungen des Ministeriums nicht in Abrede stellen; ich will sie würdigen und mich auch dafür bedanken. Doch ist der „Bedarfsfall" , urn den es hier letztendlich geht, noch nicht eingetreten?
Heute morgen wurde auch von seiten des Bundeskanzlers kein Handlungsbedarf signalisiert, der Gefahr einer Deindustrialisierung Ostdeutschlands entgegenzuwirken. Die Vernichtung der Wirtschaft wurde allein dein SED-Regime zugeschrieben. Sie können aber sicher sein: Einen Teil der derzeitigen Vernichtung wird die Geschichte dieser Bundesregierung zuschreiben.
({1})
Dies geht nicht nur auf Kosten der Bevölkerung in den östlichen Ländern, sondern dies geht auch auf Kosten der gesamten Bundesrepublik.
Man kann sich nicht - wie die Bundesregierung -auf das geltende AFG zurückziehen. Dieses Gesetz stammt aus dem Jahre 1969 und war naturgemäß auf eine andere Arbeitsmarktsituation zugeschnitten.
Frau Jäger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Hitschler?
Ja, bitte schön.
Auf welche Maßnahmen oder Unterlassungen der Bundesregierung führen Sie die von Ihnen beklagte Tatsache zurück - Sie bezeichnen sie als Tatsache -, die Bundesregierung habe aktiv an der Vernichtung von Arbeitsplätzen in den ostdeutschen Ländern mitgewirkt? Ich halte diese Beschuldigung für eine Ungeheuerlichkeit ersten Ranges.
Ich habe einen Stoß von Papieren dazu. Ich verfolge von daher die Privatisierungen von Treuhandbetrieben. Lassen Sie mich ein ganz aktuelles Beispiel dieser Art vortragen: Ein echtes Privatisierungskonzept mit bereits getätigten Investitionen in höhe von 1 Million DM wird zugunsten einer Immobilienfirma zurückgestellt. Ich kann Ihnen mehrere Beispiele aus meinem Wahlkreis aufzeigen. Wenn Sie daran interessiert sind, lege ich sie Ihnen vor.
({0})
Der SPD-Fraktion geht es im Kern ihres Antrages darum, die zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit ohnehin benötigten Finanzmittel in die Förderung zusätzlicher produktiver Arbeitsplätze umzuleiten. Mit einem Strukturförderprogramm und einem Initiativprogramm für Frauen sollen in einem Zeitraum von
drei Jahren 550 000 zusätzliche Arbeitsplätze in den östlichen Bundesländern gefördert werden. Das besonders deshalb, uni der paradoxen Situation entgegenzuwirken, die darin besteht, daß trotz hoher Arbeitslosigkeit eine große Zahl öffentlich sinnvoller und auch dringend notwendiger Arbeiten unerledigt bleiben.
In diese Richtung zielen auch die Vorschläge der Bundesanstalt für Arbeit. In ihrer Resolution vom 20. Mai 1992 haben Vorstand und Verwaltungsrat der Bundesanstalt noch einmal die Notwendigkeit zusätzlicher beschäftigungspolitischer Aktivitäten bekräftigt. Sie fordern eine gemeinsame Initiative von Bund und Ländern, die darauf abzielt, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Dabei müssen Wirtschafts- und Finanzpolitik günstige Rahmenbedingungen für eine positive Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt schaffen. Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente müssen dies flankieren.
Weiterhin soll eine gerechte Finanzierung von der gesamten Gesellschaft und nicht nur von der Gemeinschaft der Beitragszahler getragen werden. Daher ist ein ausreichender Bundeszuschuß zur Bundesanstalt weiterhin erforderlich.
({1})
Zu weitgehend deckungsgleichen Positionen kommt übrigens auch die Konferenz der Arbeits- und Sozialminister am 4. Mai dieses Jahres.
Die Politik der Bundesregierung läuft diesen Vorschlägen jedoch diametral entgegen. So sieht sie in der Regionalisierung eine Verstärkung der regionalen strukturellen Unterschiede. Dabei verkennt sie, daß Regionalisierung im arbeitsmarktpolitischen Sinne darauf abzielt, die regionalen Unterschiede im Interesse des sozialen Friedens abzubauen.
Nach ihrer Auffassung ist die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen eine Aufgabe des sich selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwungs im Osten. Die Bundeszuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit sollen noch dazu drastisch gekürzt werden.
An den Herrn Bundeskanzler und an die Regierung sei zu richten, daß heute Hunderte von Menschen aus westlichen Bundesländern mit Sonderzügen nach Bonn gekommen sind, um für die Rücknahme der ABM-Kürzungen und gegen cien Sozialabbau unter dieser Regierung zu protestieren. Ich hoffe sehr, daß Sie sich von dieser demokratischen Willensbekundung beeindrucken lassen und Ihre Arbeitsmarktpolitik dahin gehend ändern.
({2})
Es geht nunmehr nicht nur darum, die Menschen im Osten zu verstehen - wie das Herr Kanzler heute morgen gesagt hat - oder mit einer stabilen Wachstumslage im Westen glauben machen zu wollen, die Probleme im Osten zu lösen, es geht um Ihre und auch urn unsere handelnde und tätige Verantwortung. Die SPD hat mit ihrem Antrag einen Schritt dazu getan. Ich hoffe, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen werden bereit sein, ihrer Verantwortung zum Handeln ebenfalls gerecht zu werden.
Renate Jäger Danke schön.
({3})
Als nächster spricht der Abgeordnete Heinz Rother.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns heute mit dem Antrag der SPD-Fraktion zu beschäftigen, der da lautet „Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik: - Arbeit statt Arbeitslosigkeit -" . Leider sind die Konzepte, die die SPD dazu anbietet, nicht zukunftsorientiert.
({0})
Vielmehr sind es die Rezepte von gestern, die schon in der Vergangenheit, nämlich in den 70er und Anfang der 80er Jahre, als die SPD mit die Regierung stellte, nichts gebracht haben. Vor allem der Beginn der 80er Jahre war von Rezession und Arbeitslosigkeit geprägt. Hier verstand man es unter normalen Bedingungen nicht, der Arbeitslosigkeit Einhalt zu gebieten. Und meine Damen und Herren von der SPD, damals hatten Sie nicht einmal die Probleme und Aufgaben der deutschen Einheit zu bewältigen.
({1})
Keiner konnte wissen und vorhersagen, welche Probleme sich insgesamt mit der deutschen Einheit verbinden. Jeder weiß, daß dieser Einigungsprozeß einmalig in der Geschichte ist. Aber wir haben es trotzdem gewagt, und wir werden diesen Prozeß der deutschen Einheit mit aller Konsequenz zu einem guten Ende führen.
Es ist richtig, daß niemals mit einer so hohen Arbeitslosigkeit in den jungen Bundesländern zu rechnen war. Für mich, der ich aus dem Mansfelder Land komme, wo es 18 % Arbeitslosigkeit gibt, ist es bedrückend, daß gerade diejenigen arbeitslos sind, die mit mir auf der Straße für Besseres gekämpft haben, und andere nach wie vor fest in ihrem Sattel sitzen. Es tut mir weh und ich kann die bitteren Gefühle jedes einzelnen Menschen gut verstehen, wenn er nach langjähriger Tätigkeit in einem Betrieb nicht mehr gebraucht wird oder wenn in Familien plötzlich beide Ehepartner ohne Arbeit sind und womöglich auch noch der Sohn oder die Tochter. Gerade dann macht sich das Gefühl der Resignation breit.
Deshalb möchte ich mich mit den alten und unbrauchbaren Konzepten, die in unserem Fall auch gar nicht anwendbar sind, nicht weiter beschäftigen, sondern mich der Frage zuwenden, wie wir wirklich zukunftsorientiert die Probleme des Arbeitsmarktes lösen können.
({2})
Zugegebenermaßen befinden wir uns arbeitsmarktpolitisch momentan in einer schwierigen Situation.
Besonders die Arbeitsmarktlage in den neuen Bundesländern ist nach wie vor unbefriedigend.
({3})
Dennoch vermag ich gerade hier einen hellen Streifen am Horizont zu erkennen.
({4})
Zum Beispiel ging trotz der Kündigung zum Quartalsende die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern im April um 24 200 auf 1 196 000 zurück. Im Monat Mai erfolgte ein weiterer Rückgang um 46 800. Die Arbeitslosenquote verminderte sich dadurch im Vergleich zum Vormonat von 14,7 % auf 14,1 %. Nicht zuletzt sind die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesregierung mit ursächlich dafür, daß die Arbeitsmarktsituation im Osten nicht noch schlimmer ist, wie das vielfach prognostiziert wurde. Deshalb versuchen wir weiter, durch solche Maßnahmen die Situation zu stabilisieren. Der Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen ist weiterhin beträchtlich. In Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen standen im Mai 404 900 Personen, fast 800 000 bezogen Altersübergangs- und Vorruhestandsgeld, und 507 300 nahmen an Weiterbildungsmaßnahmen teil. Damit hat die Arbeitsmarktpolitik bislang entscheidend dazu beigetragen, den tiefgreifenden Strukturwandel im Osten sozialverträglich zu flankieren. Oder anders formuliert: Mit den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen haben wir der Wirtschaftspolitik eine Brücke gebaut. Nun muß das Gelände am Ende der Brücke aufbereitet werden; denn es ist ein erheblicher Zeitverzug entstanden.
Die Investitionstätigkeit in den jungen Bundesländern ist unzureichend. Es wird, wenn wir auf Dauer bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Erfolg haben wollen, entscheidend darauf ankommen, daß wir durch verstärkte Investitionen der Wirtschaft dauerhaft konkurrenzfähige Arbeitsplätze schaffen.
({5})
Dies erreichen wir nicht - und damit sind wir wieder beim Thema, meine Damen und Herren - durch Dauersubventionierung von Arbeitsplätzen;
({6})
denn dies gefährdet nur gesunde Arbeitsplätze, da diese letztlich die Mittel für die Subventionierung aufbringen müssen und dadurch z. B. die Lohnnebenkosten oder auch die Produktionskosten weiter erhöht werden.
({7})
Der Weg, durch Belastung von gesunden Wirtschaftszweigen kranke Wirtschaftszweige durch Subventionierung künstlich am Leben zu erhalten, führt ins Leere,
({8})
da dadurch die Kosten weiter erhöht werden, was letztlich wieder zum Arbeitsplatzabbau führt.
({9})
Staatliche Arbeitsmarktmaßnahmen können wirklich nur das letzte Mittel, also die Ultima ratio, sein, um die schlimmsten sozialen Folgen zu mildern.
Momentan besteht nun eine solche Situation, in der wir zu derlei Mitteln greifen müssen. Ich möchte aber davor warnen, dies ausufern zu lassen, vor allem was die zeitliche Komponente angeht. Wir müssen vielmehr - und jetzt komme ich zu der zukunftsorientierten Arbeitsmarktpolitik - die Standortfaktoren in ganz Deutschland und besonders in den neuen Bundesländern entscheidend verbessern. Jeder weiß, daß neben guten Standortbedingungen und Investitionszulagen auch wichtige Faktoren wie Arbeitskosten, Arbeitszeit und Produktivität die Investitionsentscheidungen beeinflussen.
({10})
Bezüglich der Faktoren Arbeitskosten und Arbeitszeit hat Westdeutschland schon jetzt eine sehr ungünstige Lage; die neuen Länder sind auf dem besten Weg dorthin, wenn diese Faktoren der Produktivität weiterhin davonlaufen.
({11})
Westdeutschlands Arbeitskosten sind die höchsten aller Industriestaaten. 1991 lagen sie um fast 43 % über dem OECD-Durchschnitt. Deshalb wäre hier häufig weniger mehr. Man sollte sich schon Gedanken machen, ob man jede noch so überzogene Forderung der Gewerkschaften unterstützen kann.
({12})
Zudem arbeitet der westdeutsche Industriearbeiter mit nur 1 499 Stunden pro Jahr so kurz wie sonst kein anderer in der Welt.
({13})
Der Abstand zu den anderen Industriestaaten hat sich weiter vergrößert.
({14})
Auch die Unternehmensbesteuerung ist ein ganz wichtiger Faktor; denn sie entscheidet darüber, wieviel wirtschaftlicher Gewinn einem Unternehmen verbleibt.
({15})
Deshalb ist es ja auch sehr nachteilig, daß hierzulande die Unternehmensgewinne deutlich stärker besteuert werden als in allen anderen Industriestaaten. Gerade im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt ist es von äußerster Wichtigkeit, daß durch eine Steuernovellierung die größten Nachteile deutscher Unternehmen abgebaut werden.
Auch hier könnten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, einiges zu einer zukunftsorientierten Arbeitsmarktpolitik beitragen, wenn Sie dies alles nicht gleich unter dem Stichwort „Umverteilung von unten nach oben" verteufelten.
Herr Rother, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Rother, ist Ihnen bekannt, daß die Anteile deutscher Großunternehmen deswegen nicht zum Handel an amerikanischen Börsen zugelassen sind, weil die auszuweisenden Gewinne nach amerikanischen Richtlinien doppelt so hoch wären wie nach der deutschen Steuergesetzgebung, und halten Sie angesichts dessen Unternehmensteuersenkungen dennoch für notwendig?
({0})
- Das gilt auch für England.
({1}): Er hat von
Europa gesprochen, nicht von Amerika!)
- Dies geht aus einer Untersuchung des amerikanischen Börseninstituts hervor,
({2})
nach der z. B. Volkswagen in England 1990 1,4 Milliarden Gewinn zu versteuern gehabt hätte, in den USA 1,9 Milliarden DM. Halten Sie wirklich die Steuersätze in der Bundesrepublik für überhöht,
({3})
obwohl die Unternehmen hier effektiv weniger Steuern zahlen müssen?
Herr Kollege Büttner, Sie müßten eigentlich gemerkt haben, daß es mir um Investitionen in Deutschland geht. Hier haben wir sie bitter nötig.
({0})
Das sollten meine Ausführungen zum Ausdruck bringen.
({1})
Trotz der Wichtigkeit, die Rahmendaten hier neu und zukunftsorientiert zu setzen, werden wir weiter auch einzelne arbeitsmarktpolitische Maßnahmen an besonders neuralgischen Punkten ergreifen müssen. Als Stichwort sei hier die Situation der Frauen genannt, die unter der momentanen Lage am meisten zu leiden haben. So beläuft sich der Anteil der Frauen an der Gesamtarbeitslosigkeit in den neuen Ländern auf derzeit etwa 63 %. Dies ist entschieden zuviel.
Wir sollten gerade in diesem Bereich prüfen, ob man Arbeitsplätze nicht verstärkt in Teilzeitarbeitsplätze umwandeln und somit aus einem vollen Arbeitsplatz eventuell zwei Teilzeitarbeitsplätze machen könnte. Ich bin sicher: Damit wäre auch der Situation vieler Frauen Rechnung getragen. In diesem Bereich kann ich allerdings nur an die Unternehmen und Verwaltungen appellieren, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Zusammenfassend möchte ich sagen, daß die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesre8046
gierung den Zusammenbruch der Wirtschaft in den neuen Bundesländern, der auch durch den Wegfall der Märkte im Osten entstanden ist, sozial abfedern. Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen können zusammengebrochene Strukturen aber nicht erhalten oder gar ersetzen. Darum müssen wir unser Augenmerk insbesondere auf den wirtschaftlichen Aufbau, auf Investitionen in den jungen Ländern richten. Schnellere Entscheidungen hei Investitionen, auch durch die Treuhandanstalt, sind notwendig. Gute Voraussetzungen für Investitionen sind vielerorts geschaffen. Taten müssen folgen, und es werden viele Arbeitsplätze entstehen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Als nächste spricht die Kollegin Dr. Gisela Babel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit einem wohlklingenden, aber auch wohlfeilen Titel - Arbeit statt Arbeitslosigkeit - stellt die SPD ihre Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland zur Diskussion.
Zum wiederholten Male reden wir im Deutschen Bundestag über dieses Thema. Dies ist nicht zu kritisieren.
({0})
Die Lage zwingt uns - Regierung und Opposition , zu überprüfen, inwieweit wir insgesamt auf dem richtigen Weg sind und die knappen Mittel richtig einsetzen. Auch der neue Vorstoß der SPI) mit blankgeputzten Programmen bestärkt mich aber in der Ansicht, daß die Opposition außer Lagebeschreibung und Lagebejammerung keine brauchbaren Alternativen aufzeigt.
Meine Damen und Herren, es geht doch in erster Linie um Schaffung von Arbeitsplätzen - Arbeitsplätze, die bei der Umwandlung einer ehemals dahinrottenden sozialistischen Arbeitswelt in eine moderne soziale marktwirtschaftliche Ordnung entstehen sollen. Das ist die Hauptaufgabe.
({1})
Wie entstehen neue Arbeitsplätze? - Sie entstehen durch Privatisierung der staatlichen Betriebe. Sie entstehen durch Gründung neuer Firmen. Bei der Privatisierung kommt die Treuhand gut voran; sie privatisiert täglich 25 Betriebe. Ich will die Pannen, Fehler und Schwierigkeiten hier nicht schönreden, aber insgesamt verdient die Treuhand unsere Anerkennung und Unterstützung.
Vielerorts wird beklagt, daß die westdeutschen Firmen zu wenig in den neuen Bundesländern investieren. Auch heute morgen machte der Bundesarbeitsminister über Rundfunk darauf aufmerksam, daß sich die Unternehmer über die möglichen Folgen im klaren sein müssen, die ihre Zurückhaltung auslöst, nämlich steigende Beitragslasten in der Arbeitslosenversicherung. Sicher sind solche Appelle auch ganz schön. Wichtig ist aber, sich über die Gründe für eine solche Zurückhaltung klarzuwerden und etwas an den Ursachen zu verändern.
Die Soziale Marktwirtschaft kennt keinen Zwang zur Investition und keine Strafe für unterlassene Investitionen.
({2})
Soziale Marktwirtschaft muß bei ungünstigen Strukturbedingungen - die sind im Osten ja nun wahrhaftig vorhanden Anreize anderer Art zu schaffen suchen, uni Investoren zu gewinnen. Ich erinnere an die alte F.D.P.-Forcierung, daß Investitionen im Osten durch niedrige Steuern attraktiv gemacht werden sollten.
({3})
Leider haben wir uns mit dieser meiner Ansicht nach immer noch richtigen Idee nicht durchsetzen können. Hoffentlich setzt sich der Bundeswirtschaftsminister mit der Forderung durch, Investitionen im Programm des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost weiter zu fördein.
Jetzt komme ich zur Anmeldung von Gewerbe. Hier haben wir eine steigende Tendenz festzustellen: 257 000 Anmeldungen in 1990, 268 000 in 1991. Aber auch die Zahl der Abmeldungen steigt, d. h. man gibt Gewerbe auch wieder auf. Das ist die Folge von Hemmnissen, die wir auch einmal nennen müßten.
Da ist zunächst einmal die Tatsache zu nennen, daß man in diesem Bereich in diesem Jahr um 10 % höhere Löhne verkraften mußte. Man hat Schwierigkeiten, überhaupt Gewerbeflächen zu finden. Wenn man welche findet, werden steigende Mietpreise verlangt. Sie sind in den letzten Monaten um 30 bis 50 % gestiegen.
Es ist das Phänomen zu verzeichnen, daß Gemeinden, die eigentlich ein vitales Interesse an der Ansiedlung von Gewerbe haben müßten, ganz unverblümt Höchstpreise für eigene Grundstücke verlangen. Man verlangt auch hier ähnlich wie bei den Grundstücken in Privathand überhöhte Mieten.
Erlauben Sie mir auch ein offenes Wort zu den Tarifabschlüssen. Was im satten Baden-Württemberg ausgehandelt wird, wirkt sich in cien neuen Bundesländern als mittlere Katastrophe aus.
({4})
Allein die Treuhand muß hier etwa 3 Milliarden DM zusätzlich zahlen.
Der Weg in die Existenzgründung läßt sich auch erleichtern, wenn wir z. B. darauf verzichten könnten - jedenfalls für eine Übergangszeit , daß die Umschulungskosten von denjenigen Arbeitnehmern, die sich selbständig machen, zurückgezahlt werden müssen. Ich hatte gerade Besuch von einer Gruppe von Frauen, die zum Beruf des Koches umgeschult wurden. Sie sagten: Eine Gastwirtschaft können wir nicht eröffnen, weil wir zwei Jahre lang dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen müssen. - Ich weiß, daß
das nicht so gehandhabt wird, aber bei diesen Frauen existierte die Kenntnis darüber nicht.
Ich komme zum zweiten Arbeitsmarkt und zu den Instrumenten der Bundesanstalt. Die wiederholte Behandlung dieses Themas zwingt zur Wiederholung auch richtiger Sätze. Meine Damen und Herren, alle Maßnahmen der Bundesanstalt müssen geeignet sein, den Übergang_ in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern.
({5})
Eine ABM darf für den Begünstigten nicht besser, nicht sicherer, nicht vorteilhafter sein als ein regulärer Arbeitsplatz. Deshalb habe ich schon in der Vergangenheit gefordert, ABM in einem vernünftigen, etwas reduzierten Zeitmaß vorzusehen, z. B. in 30 Stunden.
Jetzt reifen im Bundesministerium für Arbeit die Pläne, im Umweltbereich Projekte zu starten, bei denen Arbeitsplätze mit geringerer Stundenzahl, aber über einen längeren Zeitraum gesichert und unter marktwirtschaftlichem Management entstehen sollen.
({6})
Dies, meine Damen und Herren, begrüße ich für die F.D.P.
({7})
Wenn ich Zweifel an der Richtigkeit dieser Planung gehabt hätte - spätestens bei dem vereinten Protest des Sozialgespanns Dreßler/Fink wäre ich überzeugt gewesen, daß es wohl in Ordnung ist.
({8})
Er hat auch protestiert. Beide Herren haben gemeinsam gegen die Teilzeit-ABM protestiert.
({9})
Es ist nicht einsehbar, daß wir diesen Weg nicht beschreiten sollen; denn hier reichen die Mittel für eine größere Anzahl von Personen aus. Schon deswegen ist es sinnvoll. So bleibt auch der Anreiz erhalten, in einen Vollzeitarbeitsplatz umzusteigen.
({10})
Als ein weiteres Beispiel für den sinnvollen Einsatz von Weiterbildung erscheint mir die Qualifikation von Wirtschaftsreferenten, die ein wirtschaftspolitisches Know-how erwerben und damit z. B. zur regionalen Wirtschaftsförderung und zur Gewerbeansiedlung die richtige Mischung von Unternehmen und die richtige Weichenstellung mit ermöglichen.
Wichtig wäre es beispielsweise auch, den Engpaß in den Grundbuchämtern zu beseitigen. Eine Unterstützung dieser Ämter wäre unbedingt angezeigt. Wir wissen, daß viele Restriktionen im Hinblick auf Investitionen durch ungeklärte Grundstücksverhältnisse bedingt sind.
({11})
Nun zu den Vorschlägen der SPD. Wir lesen, daß durch ein Strukturförderprogramm 500 000 Arbeitsplätze geschaffen werden könnten.
({12})
Wir hören etwas von einem Initiativprogramm für Frauen, das 50 000 Arbeitsplätze schaffen soll. Meine Damen und Herren, das sind veraltete Konzepte aus den 70er Jahren, staatliche Beschäftigungsprogramme der Vergangenheit. Dadurch entsteht kein einziger neuer Arbeitsplatz.
({13})
Aber es wird ein gewisser Anschein erweckt, und Hoffnungen werden genährt. Die Vorschläge deuten insgesamt in die falsche Richtung. Auch die Instrumente der Bundesanstalt müssen bei der Entstehung von Arbeitsplätzen hilfreich sein.
Wenn die SPD diese Debatte benutzen will, um Einsparmaßnahmen im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit massiv anzuprangern, so kann ich sagen, daß die Entscheidungen in den Einzelheiten noch nicht gefallen sind. Ich verkenne auch nicht die immensen Probleme, die der Bundesarbeitsminister in diesem Zusammenhang zu lösen hat.
Ich wiederhole aber: Ziel ist ein gesunder Arbeitsmarkt mit sicheren Arbeitsplätzen. Der konsolidierte Bundeshaushalt ist eine der wichtigen Bedingungen dafür, daß die deutsche Wirtschaft die Gesamtbelastung tragen kann und daß wir den Zeitraum, den die Gesundung im Osten braucht, den wir alle sicher insgesamt unterschätzt haben, gut überstehen. Wenn wir Anstrengungen verstärken, dann eher im Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost mit Maßnahmen der Wirtschaftsförderung. Dies, meine Damen und Herren, wäre eine wirksame Arbeitsmarktpolitik.
Den Antrag der SPD lehnen wir ab.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich teile das dem vorliegenden SPD-Antrag zugrunde liegende Prinzip „Arbeit statt Arbeitslosigkeit", weil ich aus meiner Kenntnis der ostdeutschen Verhältnisse weiß, daß die eingetretene und die noch weit bedrohlichere Ausmaße annehmende Arbeitslosigkeit eines der größten Probleme ist, das die Menschen in den neuen Bundesländern - und ich füge hinzu: auch in den alten Bundesländern haben.
Die brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt stellte auf dem Fachkongreß „Arbeitsförderung in Berlin und Brandenburg" vergangene Woche In Berlin fest, daß es ja wohl nicht angehen könne, daß
8048 Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode - 97. Sitzung. Bonn, Mittwoch, cien 17. Juni 1992
allein in diesem Jahr 22 Milliarden DM zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern aufgebracht werden müßten, nicht gerechnet das Geld, das nötig ist, um Auffangeinrichtungen zu organisieren, damit die von Arbeitslosigkeit Betroffenen - ich halte das folgende harte Wort für durchaus angebracht - nicht durchdrehen. Ich denke, Frau Hildebrandt hat recht.
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- Wissen Sie, ich hätte mich sehr gefreut, wenn ich als Bundestagsabgeordnete bei diesem Kongreß nicht zusammen mit einigen wenigen Kolleginnen aus der SPD-Fraktion allein gewesen wäre. Ich hätte mir gewünscht, daß alle Bundestagsfraktionen bei diesem wichtigen Kongreß vertreten gewesen wären.
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Mit 22 Milliarden DM könnte wirklich über den Tag hinaus gedacht werden - ({2})
- Vielleicht lassen Sie mich wenigstens zu Ende reden. Ich habe ja nur ein paar Minuten Redezeit.
Langfristig ist die Finanzierung von Arbeit nicht nur billiger, sondern kann vor allem verhindern helfen, daß massenhaft Menschen infolge von Arbeitslosigkeit krank werden, sich ausgegrenzt, stigmatisiert oder aufs Altenteil abgeschoben fühlen bzw. die sozialen und familiären Belastungen nicht aushalten.
Eine aktive Arbeitsmarktpolitik für die neuen Bundesländer ist überlebenswichtig, aber auch äußerst zukunftsweisend, wie auf dem von mir bereits erwähnten Arbeitsförderungskongreß eindrucksvoll und überzeugend ins Bild gesetzt wurde. Über 50 Projekte aus Berlin und Brandenburg dokumentierten in einer Ausstellung, mit welchem Engagement und welcher Risikobereitschaft die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik in lokale und regionale Initiativen umgesetzt werden und dabei eben nicht nur kurzfristige Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden, sondern zum Erhalt bzw. Wiederaufbau langfristig notwendiger Infrastruktur wertvolle Beiträge geleistet werden. Aber das ist wirklich der großen Leistungsbereitschaft der Betroffenen geschuldet, und zwar nicht wegen einer hilfreichen Regierungspolitik, sondern trotz der Politik aus dem Hause Möllemann und Blüm.
Gegen die drohenden Kürzungen der Zuschüsse für die Bundesanstalt, gegen die zähen bürokratischen Strukturen, gegen ständige Verunsicherung über Zeitdauer und Zuschußhöhen versuchen die Projektbetreiberinnen und -betreiber, die Vertreterinnen und Vertreter von Initiativen, die Initiatoren und Initiatorinnen von Beschäftigungs- und Arbeitsförderungsgesellschaften, die von ihnen geschaffenen Strukturen aufrechtzuerhalten und persönlich durchzuhalten.
Diskussionen um eine Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes, die Kürzungen im ABM-Bereich von 20 % vorsieht, sind hier ebenso kontraproduktiv wie die um Streichung von Zuschüssen für die Bundesanstalt. Und geradezu demoralisierend wirken Kabinettsbeschlüsse, die in einem Atemzug mit einer Kürzung von 6 Milliarden DM für Maßnahmen im Interesse der von Arbeitslosigkeit und materieller Not Betroffenen den Großverdienern in diesem Land über Steuersenkungen 8 Milliarden DM in die Taschen schaufeln.
Ein Weiteres ist mir auf diesem Kongreß einmal mehr bewußt geworden, und ich halte das für symptomatisch für die Regierungspolitik in den neuen Bundesländern. Arbeitsmarktpolitik darf nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Wenn Arbeitsmarktpolitik wirklich greifen soll, muß sie transparent und für diejenigen, die ihr zum Leben verhelfen sollen, berechenbar und kalkulierbar sein. Nur so kann Arbeitsmarktpolitik eine Brückenfunktion haben, die mehr ist als eine andere Art von Beschäftigungstherapie.
Ein solches Herangehen schließt eine beliebige Flexibilisierungs- und Deregulierungspolitik ebenso aus wie das Verhalten, die Verantwortlichen bis zum letzten Moment über Mittelzuweisungen u. ä. im unklaren zu lassen, und ist an der Grenze zum Inhumanen, wenn - wie jetzt wieder - die Entscheidung über die Verlängerung des Altersübergangsgeldes praktisch bis zur letzten Minute hinausgezögert wird und etwa 50 000 Menschen, die von dieser Regelung betroffen sein können, völlig im ungewissen sind.
Damit will ich nicht sagen, daß ich die Altersübergangsregelung für eine grandiose arbeitsmarktpolitische Maßnahme halte, im Gegenteil: Ich habe eher Bauchschmerzen damit, daß ganze Generationen aufs Altenteil verwiesen werden.
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Mich empören aber einfach der Umgang mit den Menschen und die unwürdige Hinhaltetaktik dieser Bundesregierung. Auf der anderen Seite halte ich das aber im gegenwärtigen Augenblick nach wie vor für ein notwendiges Instrument.
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Nach wie vor bin ich der Auffassung, daß auch eine zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik keine Regional- und Strukturpolitik der Wirtschaft ersetzt. Denn immer noch besteht ein Hauptproblem von Innovationen über Arbeitsmarktpolitik darin, daß die Wirtschafts- und Beschäftigtenstruktur für ganze Regionen zerschlagen ist, neue Umstrukturierungskonzepte aber weder von der Bundesregierung noch von der Treuhand vorliegen. Das führt dazu, daß die notwendige Verzahnung von Arbeitsmarktpolitik und Wirtschaftspolitik nicht stattfindet und daß die Zukunftschance neuer Unternehmungen, z. B. durch Ausgründungen, sträflich gefährdet wird, weil die Regeln des AFG nicht ausreichen, um ihnen Sonderkonditionen für eine längere Einarbeitungsphase zu gewähren.
In diesem Sinne unterstütze ich natürlich die im SPD-Antrag geforderten Strukturförderungsprogramme. Wenn mit diesen Programmen z. B. Projekte zur Umweltsanierung, etwa in den Braunkohle- oder Chemieregionen gefördert werden, hilft das den dort lebenden Menschen aktuell in mehrfacher Hinsicht: Arbeitsplätze werden geschaffen, die Lebensumwelt wird ökologisch verbessert, private Investitionen werden angeregt. Allerdings, diese Programme müssen auch realisiert werden. Nur so gelingt über direkt geförderte Beschäftigung der Brückenschlag zu Normalarbeitsplätzen.
Bewußt spreche ich hier nicht von der Brückenfunktion der Arbeitsmarktpolitik zwischen dem 1. und dem 2. Arbeitsmarkt. Ich finde es richtig, diese Trennung aufzuheben, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, daß wichtige gesellschaftspolitische Aufgaben gerade auch in den neuen Bundesländern, etwa im Sozial-, Wohnungs- und Umweltbereich, über längere Zeiträume nur in Form von gemeinnütziger Arbeit erfüllt werden können, und das bedeutet nichts anderes als langfristig subventionierte Beschäftigung. Dies entspricht auch meinem Verständnis von Umverteilung und Erschließung vorhandener Arbeit. Arbeit gibt es in der Tat genug, und es ist allemal besser, sie zu finanzieren. Das hilft den Beschäftigten und denjenigen, die auf gemeinnützige Arbeit angewiesen sind.
Notwendig dafür ist eine Aufstockung der Mittel für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, nicht aber Kürzungen, wie sie beschlossen worden sind. Geld ist dafür vorhanden. Man muß nur diejenigen zur Kasse bitten, die durch die Anschlußpolitik absahnen können.
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Die PDS/Linke Liste fordert deshalb in ihrem Programm „Umsteuern '92 - Kurswechsel Ost" den konsequenten Abbau von Privilegien und schlägt Einsparungen vor, die über 100 Milliarden DM für sozial- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen erbringen könnten.
Wir sind der Auffassung, daß der Verteidigungshaushalt ohne weiteres um 30 % zu kürzen ist, daß Investitionshilfeabgaben von Industrieunternehmen und Handelsketten und ein 10 %iger Solidaritätszuschlag für Besserverdienende - ich füge hinzu: einschließlich Abgeordnete - zu erheben sind und daß eine Arbeitsmarktabgabe, wie die SPD sie einfordert, einzuführen ist. Das alles sind Maßnahmen, die für einen längeren Zeitraum - nicht nur für zwei bis drei Jahre - notwendig sind.
Lassen Sie mich noch anfügen, daß ich es begrüße, daß im Antrag der SPD ein Initiativprogramm „50 000 neue Arbeitsplätze für Frauen" eingefordert wird. Denn die Frauen sind diejenigen, die vom gegenwärtigen Prozeß am meisten betroffen sind. Sie werden aus dem Arbeitsmarkt nicht nur massiv ausgegrenzt, sondern auch mit befristeten Stellen vertröstet und zum Teil in ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse gedrängt.
Zum Schluß möchte ich auf die Demonstration zu sprechen kommen, auf die die Kollegin Jäger verwiesen hat. Ich hätte mich gefreut, wenn sich nicht nur der
Kollege Schreiner und ich als Abgeordnete des Bundestages den Demonstrierenden gestellt hätten.
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Ich würde mich freuen, bei der nächsten Demonstration Betroffener Abgeordnete aller Fraktionen begrüßen zu können.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara Weiler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute nicht zum erstenmal über die katastrophale Arbeitsmarktlage in den neuen Bundesländern und über die nicht zu vergessende Arbeitslosigkeit in Westdeutschland. Wir werden das so lange tun, bis Sie den Ernst der Lage begreifen.
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Wie Sie wissen, fand heute mittag eine Demonstration gegen den Sozialabbau vor dem Bundeskanzleramt statt.
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Ich möchte von dieser Stelle aus den Teilnehmern danken und ihnen dazu gratulieren, daß sie ihrem Ärger Luft gemacht haben.
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Ich freue mich besonders, daß sich die evangelische Kirche dazu entschlossen hat, diese Demonstration zu unterstützen, und damit ihre Solidarität mit den Teilnehmern beweist. Denn in Zeiten wie diesen reicht es nicht, von den Kanzeln zu predigen; gefragt ist auch der demonstrative Gang auf die Straße.
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Wir appellieren noch einmal eindringlich an Sie, Herr Blüm, den Ernst der Lage zu erkennen. Sonst - da sind wir ganz sicher - wird es nicht bei dieser einen Demonstration bleiben.
In einer Zeit, in der eben noch kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist, wollen Sie die Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit streichen. Zahlreiche Arbeitsbeschaffungs-, Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen, Beschäftigungsgesellschaften, Qualifizierungs- und Eingliederungshilfen werden nicht mehr finanziert werden können. Dies ist einfach skandalös.
Anstatt Ihre Anstrengungen zu verstärken - denn schließlich haben wir in der Vergangenheit mit solchen Maßnahmen über zwei Millionen Mitbürger vor der Arbeitslosigkeit bewahrt -, folgen Sie devot Ihrem Finanzminister Waigel und streichen in diesem
Jahr 5 Milliarden und im nächsten wahrscheinlich 8 Milliarden DM.
Wir haben in den letzten Monaten viele schöne, beschwichtigende Worte über die Ursachen der Katastrophe auf dem Arbeitsmarkt gehört. Aber Sie verkennen völlig, daß die Situation immer schwieriger wird. Sie verkennen, daß Ihre Instrumente zur Lösung eben nicht ausreichen. Darum ist es auch unverständlich - und ich glaube, die Bevölkerung sieht das inzwischen auch so -, daß Sie die Hilfe, die wir Ihnen mit unseren Konzepten, mit unseren Anträgen und Vorschlägen angeboten haben, einfach ausschlagen.
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- Doch, in unserem Antrag steht auch die Finanzierung drin.
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Vor zwei Wochen hat der Staatssekretär des Bundesministeriums für Arbeit anläßlich der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf folgendes gesagt ich zitiere sinngemäß -: Die gleichberechtigte Einbeziehung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ist ein Stück täglich gelebte Demokratie. Durch diese Einbeziehung ist die Möglichkeit gegeben, neben den Regierungen die gesellschaftlichen Gruppen von Anfang an in den wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozeß einzubinden.
Aber, meine Herren, wo ist denn diese Einbindung? Sie hören ja nicht einmal auf den Arbeitgeberverband. Es müßte Ihnen doch bekannt sein, daß die Selbstverwaltung der Bundesanstalt, d. h. Vorstand und Verwaltungsrat, eine gemeinsame Initiative von Bund und Ländern fordern, die darauf abzielt, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Die Selbstverwaltung hat auch die Versuche entschieden zurückgewiesen, den Bundeszuschuß zur Bundesanstalt für Arbeit zukünftig ganz zu streichen.
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Wenn Sie Schwierigkeiten haben, die Vorschläge der Sozialdemokraten objektiv abzuwägen, dann sollten Sie wenigstens die Tarifpartner und andere gesellschaftliche Gruppierungen ernst nehmen, die Sie seit Monaten vor der sich anbahnenden Katastrophe warnen.
Dabei handelt es sich ja nicht allein um die neuen Länder; auch im Westen erleben wir durch die in den letzten Jahren reduzierten Förderbedingungen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, für Fortbildung und Umschulung einen Kahlschlag bei den westdeutschen Trägern.
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Neben der Aufhebung dieser Kürzungen ist es dringend notwendig, neue Instrumente zu entwikkeln, auch Instrumente, die über den Tag hinausgehen, die die Erfahrungen der Vergangenheit einbeziehen und die die an sich positiven Ansätze des Arbeitsförderungsgesetzes weiter entwickeln: eben
eine Verzahnung, liebe Kollegin Babel, von Arbeitsmarkt-, Industrie- und Regionalpolitik.
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Genau dies haben wir in unserem Antrag als ein Instrument der weitergehenden Arbeitsmarktpolitik aufgezeigt.
Zum 1. Mai und auch zum Muttertag haben wir viele schöne Worte von der Frauenministerin gehört. Sie appellierte an Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politiker, die Frauen nicht auszugrenzen, und warnte vor einem Anwachsen des Anteils der Frauenarbeitslosigkeit im Osten von derzeit 62,3 % auf zwei Drittel. Appelle und Warnungen reichen aber nicht mehr aus. Jetzt muß gehandelt werden. Ich nehme den Kolleginnen im Osten persönlich gern ab, daß sie den Stellenwert der Erwerbstätigkeit für Frauen erkannt haben. Aber verkennen Sie bitte nicht, daß in Ihrer Regierung und in Ihrer Partei Männer sind, die das Herausdrängen der Frauen vom Arbeitsplatz nicht nur akzeptieren und dulden, sondern die Beschäftigung mit Haus und Kind für die gottgegebene Bestimmung halten.
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- Nein, nicht nur dort. In Ihrer Partei gibt es auch noch welche.
Es gibt inzwischen viele Verlierer der deutschen Einheit. Es gibt viele, denen es heute schlechter geht als vorher. Aber zur eindeutig größten Gruppe der Verliererinnen gehören die Frauen in Ostdeutschland.
Frau Weiler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
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Ja.
Frau Weiler, könnten Sie uns ein paar Namen von CDU-Mitgliedern nennen, die Frauen aus dem Arbeitsmarkt drängen wollen, wie Sie das soeben beschrieben haben? Ein paar Namen genügen mir. Vielleicht können Sie mit einem anfangen.
Einer reicht mir. Ich bin der Auffassung, daß durch die Interviews, durch die Ansichten, durch die Meinungen und durch das Handeln des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung klar wird, daß er einer dieser Männer ist.
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Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Nein.
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- Ich habe Ihnen einen Namen genannt. Ich kann Ihnen auch noch mehr nennen, auch von Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Aber der entscheidende Name ist - leider, muß ich sagen -, Ihrer, weil Sie dafür mitverantwortlich sind.
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Der Wunsch der Frauen in Ostdeutschland nach Erwerbstätigkeit wird rigoros unterlaufen und die Biographie dem konservativen Weltbild - auch des Herrn Blüm - angepaßt. Männer sind erwerbstätig, und Frauen sind für Kinder, Hausarbeit, Ehrenämter und sogenannte geringfügige Beschäftigungen zuständig.
Auch im Westen stellen wir bei genauerer Betrachtung fest, daß die Qualifizierungsmaßnahmen für Frauen in den meisten Fällen wesentlich kürzer sind und demzufolge auch zu weniger qualifizierten Abschlüssen führen.
Insgesamt ist das Bild sehr deprimierend. Ein Abbau der aktiven Arbeitsmarktinstrumente kann zumindest so lange nicht vorgenommen werden, bis der eigentlich zuständige Minister, Herr Möllemann, seine Hausaufgaben gemacht hat.
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Auch die Qualität - Frau Babel, da stimme ich Ihnen zu - der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und anderer Maßnahmen muß weiterhin kritisch auf ihren Nutzen überdacht werden. Unbestritten ist sicherlich der große Anteil im Bereich sozialer Dienste und zum Aufbau administrativer Strukturen.
Ich bezweifle allerdings, ob eine Umschulung für Frauen aus dem gewerblich-technischen Bereich in bestimmte Dienstleistungsberufe wie Verkäuferin oder Friseuse oder ähnliche wirklich eine stabile Dauerbeschäftigung sichern kann.
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Ich halte auch Ihre Hypothese für absurd, daß es Menschen gibt - Frauen oder Männer im Osten , die eine unsichere, befristete Maßnahme durch das AFG oder die Bundesanstalt für Arbeit einer sicheren Beschäftigung vorziehen.
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Voraussetzung und Begleitung einer vernünftigen und erfolgversprechenden Arbeitsmarktpolitik ist eine zukunftsorientierte Wirtschafts- und Strukturpolitik. Genau dies haben wir in unserem Antrag verknüpft.
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Noch vor einem Monat hat die F.D.P. verlangt, Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen sollten größeres Gewicht erhalten, und ABM-Stellen sollten überwiegend in sozialen und sozialpädagogischen Bereichen genehmigt werden. Alles schöne Worte. In Berlin haben wir es noch gehört. Inzwischen haben sich Herr Waigel und Herr Möllemann zusammengesetzt und über die Köpfe der Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten hinweg für die Streichung entschieden.
Auch im Westen - ich möchte noch einmal darauf zurückkommen - gibt es die Tendenz, die Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht so zu integrieren, wie wir das für richtig halten. Auch im Westen waren es die Frauen, die als erste bei wirtschaftlichen Krisen entlassen wurden. Auch hier ist es für Frauen am schwierigsten, trotz gleicher Qualifikation in leitende Positionen zu kommen. Vor allem im Westen wissen wir, welche großen Schwierigkeiten es macht, Frauen Wiedereingliederungschancen zu bieten und ihnen entsprechende Möglichkeiten zu eröffnen. Warum können wir nicht einmal aus diesen Erfahrungen lernen und im Osten nicht die gleichen Fehler machen? Die weiblichen Abgeordneten des Bundestages sind sich eigentlich einig, was den Anspruch auf Kindergartenbetreuung angeht. In den neuen Ländern wird ein Kindergarten nach dem anderen geschlossen, oder die Öffnungszeiten werden reduziert.
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- Daß die Kindergärten geschlossen werden, selbstverständlich.
Frau Weiler, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Babel?
Ja, aber einen Moment noch.
Wir ringen zur Zeit hier im Bundestag ganz ernsthaft um eine menschenwürdige Regelung des Schwangerschaftsabbruches. Ist Ihnen eigentlich bekannt, liebe Kollegen, wie drastisch die Geburtenrate im Osten zurückgegangen ist und warum sie zurückgegangen ist, daß die Frauen die Schwangerschaft aus Angst und Verzweiflung vor ihrer Zukunft abgebrochen haben, daß die Frauen und das ist noch ein ganz empörender Fakt, den wir erfahren haben - in Personalgesprächen beim Arbeitgeber aufgefordert worden sind, eine Bescheinigung über Sterilisation vorzulegen? Auch im Westen ist das schon in einzelnen Fällen passiert, aber nicht in dieser Masse.
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- Es wird nicht unterstellt.
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Nun erkläre ich, daß die Redezeit zu Ende ist.
Dann möchte ich nur noch einen Satz sagen. Verhindern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß die Menschen im Osten weiter in Resignation verfallen. Lassen Sie die alten Schuldzuweisungen beiseite. Uns ist auch bewußt, daß sie nicht
für alles verantwortlich sind, was im SED-Regime passiert ist.
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Aber für das, was jetzt passiert, sind Sie verantwortlich.
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Frau Babel zu einer Kurzintervention.
Nachdem ich die Zwischenfrage an Sie nicht mehr stellen konnte, Frau Weiler, möchte ich folgendes anmerken. Sie haben zu Recht ausgeführt, daß wir Bundestagsabgeordneten - ich glaube, es sind nicht nur die Frauen; es sind sicher auch viele Männer - uns einig sind, daß wir den Anspruch auf einen Kindergartenplatz brauchen. Ich möchte nur daran erinnern, daß im Lande Hessen dieser Anspruch auf den Kindergartenplatz unter der Verantwortung der Sozialdemokraten nicht verwirklicht worden ist, obwohl die Verwirklichung immer angekündigt worden ist, und daß die Situation dort mehr als jämmerlich ist. Ich finde, das sollte man dann auch ehrlicherweise so zugeben.
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Als nächster spricht der Abgeordnete Lohmann ({0}).
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Katastrophe, Drama, Ausgrenzung, Kahlschlag, Plattmachen - das ist ein Teil des Vokabulars, mit dem die SPD und die PDS die Wirklichkeit in den neuen Bundesländern beschreiben. Frau Bläss, Sie garnieren das Ganze auch noch mit Kronzeugen wie Frau Hildebrandt. Gibt es überhaupt irgend jemanden hier im Saal, der jemals von Frau Hildebrandt irgendeine Maßnahme, die im Interesse der Menschen in Ostdeutschland zur Erhaltung ihrer Arbeitsplätze, zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, zur Weiterentwicklung getroffen worden ist, ich will noch nicht einmal sagen: gelobt, aber wenigstens anerkannt oder bestätigt hätte? Nein, sie ist doch die Kassandra Deutschlands geworden, seit Jahren schon. Insofern muß man eigentlich mit den Kronzeugen etwas vorsichtig sein, denn das Thema, das heute zur Debatte steht, ist zu ernst, als daß man es allein mit Platitüten behandeln könnte.
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In der Tat müssen wir damit rechnen, daß auch in diesem Jahr noch ein weiterer Beschäftigungsrückgang unvermeidlich ist. Das ist - das ist auch schon gesagt worden, Herr Büttner - die Wirkung eines weiter anhaltenden Strukturwandels von der Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft. Die industrielle Produktion ist gegenüber 1989 um ein Drittel geschrumpft, die Zahl der Erwerbstätigen von 1989 bis Ende 1991 um 2,7 Millionen auf 7,2 Millionen heruntergegangen. Von den Treuhandbetrieben wird ein weiterer Personalabbau zum 30. Juni um etwa 150 000 erwartet. Dies macht weitere Anstrengungen für Investitionsmaßnahmen westdeutscher Firmen und ausländischer Unternehmen in Ostdeutschland erforderlich.
Ich meine aber, ein Tag wie heute wäre dazu angetan, doch auch einmal das Positive, was sich entwickelt hat und was geleistet worden ist, zu nennen. Dabei meine ich nicht das, was von uns, den Politikern und der Regierung, geleistet worden ist. Vielmehr sind von der gesamten Bevölkerung, vor allen Dingen der westdeutschen Bevölkerung, die Mittel dafür zum größten Teil aufgebracht worden.
Insgesamt, wenn ich also die ausländischen Investitionen in Ostdeutschland und die Existenzgründer - Treuhandanstalt eingerechnet - hinzunehme, wird 1992 mit 77 Milliarden DM an privaten Investitionen gerechnet. Bei den öffentlichen Investitionen werden es ca. 21 Milliarden DM sein.
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Die privaten und öffentlichen Investitionen zusammengenommen werden in diesem Jahr somit 98 Milliarden DM betragen. Das - es ist gerade gesagt worden, das sei zuwenig - bedeutet allein eine Steigerung um ein Viertel, um 25 %.
Hier ist also offensichtlich ein weiterer Aufholprozeß im Gange. Eine Fortführung der Investitionsförderung ist aber in den neuen Bundesländern nach wie vor notwendig. Es ist keine Frage: Das private Kapital muß weiter ermutigt werden, dort Anlageinvestitionen zu tätigen, um so die Zahl der Erwerbstätigen zu steigern. Das kann man sicherlich nicht, indem man Tag für Tag behauptet, daß dort alles am Boden läge. Es muß vielmehr schließlich auch bei den Menschen ein positives Klima geschaffen werden.
Der Mittelstand jedenfalls entwickelt sich in Ostdeutschland eindeutig positiv. Seit Anfang 1990 - das wurde eben schon einmal erwähnt - sind über 500 000 Gewerbeanmeldungen hinzugekommen. Die Betroffenen nehmen alle angebotenen Förderinstrumente in Anspruch. So gibt es beim Eigenhilfeprogramm etwa 66 000 Zusagen mit einem Volumen von 4,5 Milliarden DM.
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- Deswegen sage ich es.
Insgesamt sind 143 000 ERP-Kredite mit 17 Milliarden DM zugesagt. Das Kommunalprogramm beläuft sich in den neuen Bundesländern auf 13,2 Milliarden DM. Schließlich hat sich die Zahl der Selbständigen von 100 000 in der früheren DDR auf jetzt zwischen 350 000 und 400 000 fast vervierfacht.
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Wolfgang Lohmann ({4})
Das muß gesagt werden und sollte den Menschen zumindest Mut geben, nicht den Kassandrarufen zu folgen. Sie sollten den Mut nicht verlieren, wie Sie es offensichtlich beabsichtigen. Ich kann es nicht anders verstehen.
Sie haben vorhin den sogenannten Arbeitsförderungskongreß geschildert und haben Frau Hildebrandt zitiert. Ich finde es einigermaßen erstaunlich, daß SPD- und PDS-Abgeordnete dort eingeladen werden, CDU-Abgeordnete und offensichtlich auch F.D.P.-Abgeordnete aber nicht.
Herr Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Bitte schön.
Herr Lohmann, Sie haben vorhin Frau Hildebrandt als Kassandra aus Brandenburg beschrieben.
„Deutschlands" habe ich sogar gesagt.
Oder Deutschlands. Ich wollte Sie fragen, ob Ihnen eigentlich klar ist, daß Kassandra in der Sage verrückt geworden ist, weil eben sie immer recht hatte?
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Ich wünsche Frau Hildebrandt nicht das gleiche Schicksal, Frau Rennebach.
Trotz dieses von mir genannten positiven Trends bedarf es natürlich auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt und in dem besonderen Umfeld einer Umstrukturierung der Wirtschaft und deswegen einer Prioritätensetzung, zumal für besondere Gruppen des Arbeitsmarktes auch besondere Programme zur Verfügung stehen. Ich erwähne nur das Sonderprogramm für Langzeitarbeitslose.
Die Gestaltung der ABM muß durch die Bundesanstalt für Arbeit und die Träger auf den Prüfstand gestellt werden, um sie effizienter gestalten zu können; denn so, wie es zur Zeit läuft, kann es im Grunde nicht bleiben. Die Programme müssen optimiert werden, eventuell durch Finanzierungen der Länder ergänzt werden, um die Minderungen zu vermeiden.
Das Mittel der ABM ist sehr hoch. Eine jahresdurchschnittliche Zahl aus dem Jahre 1992 von 400 000 entspricht einer Verdoppelung gegenüber dem Jahre 1991. Wir sollten uns alle bewußt sein, daß auch quantitativ für dieses Mittel irgendwo Grenzen gesetzt sind, zumal wir bedenken müssen, daß alles das vermieden werden muß, was nur scheinbar Arbeitsplätze schafft und subventioniert. Ich denke dabei an Arbeitsplätze, die keine Chance haben, im Wettbewerb auf dem Markt wirklich zu Dauerarbeitsplätzen zu werden. Darum geht es doch bei der
Förderung insgesamt. Die ABM-Situation stellt sich in Ostdeutschland insgesamt besser dar, als Sie von der SPD mit Ihrem Antrag es zu suggerieren versuchen. Die Vorschläge sind im Ergebnis darauf angelegt, den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit und den Haushalt des Bundes überdimensional defizitär zu überhöhen. Die SPD zeigt jedenfalls keine konkreten Finanzierungsmodelle zu ihren arbeitsmarktpolitischen Forderungen auf, wenn man davon absieht, daß gelegentlich immer wieder auf den Verteidigungshaushalt zurückgegriffen wird, wie das viele tun. Wenn man einmal zusammenzählt, wie oft diese Teile des Verteidigungshaushalts schon für andere Zwecke verplant worden sind, dann wäre nichts mehr übriggeblieben.
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Es gibt aber, um bei den positiven, von Ihnen ungeliebten Beispielen zu bleiben, noch weitere positive Signale. Die zur Zeit laufende Qualifizierungsoffensive Bauwirtschaft bedeutet eine Qualifizierung von 100 000 Arbeitnehmern für den erwarteten Fachkräftebedarf im Bauhaupt- und -ausbaugewerbe in den neuen Bundesländern innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre.
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Unter Nutzung bereits vorhandener und bei kurzfristiger Schaffung weiterer Berufsbildungsplätze einschließlich der erforderlichen Ausstattung können 50 000 Arbeitnehmer im Bereich der Bauindustrie und 50 000 Arbeitnehmer im Bereich des Bauhandwerks qualifiziert werden. Dies sollte man begrüßen und als zukunftsgerichtete Maßnahmen anerkennen.
Um diese Ausbildungsleistung zu erreichen, sind insgesamt bis zu 10 000 zusätzliche Berufsbildungsplätze in überbetrieblichen Einrichtungen erforderlich. Der Aufbau der zusätzlichen überbetrieblichen Berufsbildungsplätze erfolgt bedarfsgerecht in zwei Stufen. So ist es vorgesehen. Die Investitionskosten betragen für jede Stufe rund 37 Millionen DM. Die Bundesanstalt finanziert die notwendigen Kosten im Rahmen ihrer Haushaltsmittel. Die Treuhandanstalt wird durch Übertragung von Ausbildungs- und Umschulungsobjekten an die Bauwirtschaft zum Erfolg des Konzepts beitragen. Gespräche mit der Bauwirtschaft über konkrete Objekte haben mit Aussicht auf Erfolg bereits begonnen.
Die Treuhandanstalt, die vielfach gescholten wird, hat bis Ende April 7 052 gewerbliche Unternehmen ganz oder teilweise an neue Eigentümer übertragen, die zugesagt, die sich schriftlich verpflichtet haben, in den nächsten Jahren 133 Milliarden DM zu investieren. Auch im Ausland nimmt das Investitionsinteresse zu. Inzwischen sind 366 Unternehmen an ausländische Investoren verkauft worden.
Ein Letztes: Bis Ende 1992 stellt die Treuhandanstalt insgesamt allein 50 Milliarden DM für die Sanierung von Unternehmen zur Verfügung. Auch bei unvermeidlichen Stillegungen bleibt fast jeder dritte Arbeitsplatz durch Teilprivatisierung und Neugründung erhalten.
Wolfgang Lohmann ({2})
Warum habe ich dies einmal gesagt?
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Es muß gesagt werden, denn Sie werden es natürlich nicht tun. Das Verschweigen würde man Ihnen ja vielleicht nicht übelnehmen,
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aber das Gegenteil zu behaupten ist nicht in Ordnung. Wenn es sogar so weit geht wie eben - es wurde nur ein Name genannt, aber Sie waren bereit, möglicherweise noch andere zu nennen -, daß unterstellt wird, Kollegen würden absichtlich und bewußt Maßnahmen ergreifen oder unterlassen, um Frauen in Ostdeutschland aus dem Arbeitsmarkt zu drängen, dann ist das eine unverschämte Äußerung, die man zurückweisen muß.
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, was ich geschildert habe, ist zukunfts- und problemorientierte Arbeitsmarktpolitik, allerdings nicht kurzatmig, nicht mit kurzfristiger Perspektive,
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sondern mittelfristig, weil alles, was wirklich solide geschaffen werden soll, auch mittelfristig gesehen und durchgesetzt werden muß. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten.
Schönen Dank.
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Als nächster spricht der Kollege Dieter-Julius Cronenberg.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die paar Minuten, die mir zur Verfügung stehen, will ich nutzen, um auf ein paar Argumente einzugehen.
Zunächst einmal, Frau Kollegin Weiler, wir alle leiden darunter, daß es eine Vertrauenskrise im Verhältnis zwischen der Politik, den Abgeordneten, und dem Wähler gibt. Ein Beitrag dazu ist, mit unbewiesenen Behauptungen, mit bösartigen Unterstellungen der politischen Konkurrenz entgegenzutreten.
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Sie haben das eben getan, und, wie ich meine, in unverantwortlicher Weise.
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Ich fordere Sie öffentlich auf, mir den Unternehmer in den neuen Bundesländern zu nennen, der jemanden veranlaßt hat, um des Arbeitsplatzes willen abzutreiben. Ich möchte seinen Namen wissen, damit ich mich mit ihm in entsprechender Form auseinandersetzen kann.
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Ich tue das nicht zum erstenmal. Ich fordere Sie laufend auf und bekomme null Antwort.
Man kann dem Bundesarbeitsminister Norbert Blüm in vieler Hinsicht kritisieren. Ich könnte eine Latte von Punkten herunterbeten, in denen ich mich mit ihm auseinandersetzen müßte.
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Aber ihm zu unterstellen, er wolle mit Gewalt die Frauen
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- Gut, „Gewalt" wird gestrichen - an Herd und Küche zurückhaben und aus den Arbeitsverhältnissen herausdrängen,
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ist eine bösartige Unterstellung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das zurücknähmen.
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Arbeit statt Arbeitslosigkeit, das ist Ihre These. Ich sage: Das ist unser aller Ziel, unser aller Absicht. Aber die beste Arbeitsmarktpolitik ist doch wohl ({7})
Herr Büttner, zu Ihnen komme ich auch noch, wenn ich die Zeit habe -, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß ordentliche Betriebe in den neuen Bundesländern ordentliche Arbeit anbieten. Das ist doch das Kernproblem.
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Was Sie uns vorlegen, ist ein Programm mit mehr Abgaben und mit vielen, vielen Einzelprogrammen, die aber in keine ordentliche - damit meine ich: in selbständigen Betrieben angebotene - Arbeit münden.
Nun kommen Sie, Herr Büttner, mit einer absurden These, daß die Bonität deutscher Großunternehmen und ihre zugegebenermaßen gute Liquidität ein Hinderungsgrund sei, sie an den amerikanischen Börsen zuzulassen. Ich habe schon viel Unsinn gehört. Ich kenne die amerikanische Börsengesetzgebung nicht, aber eines ist sicher: Ein gutes Unternehmen wird mit Sicherheit zugelassen.
Ebenso ist sicher, Herr Büttner: Die von Ihnen gelegentlich kritisierte Überliquidität deutscher Großunternehmen geht doch haarscharf an der wirklichen Problematik vorbei: 70 bis 80 % unserer Beschäftigten sind in kleinen und mittleren Unternehmen tätig, für die Sie nicht bereit sind, etwas zu tun.
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Diese kleinen und mittleren Unternehmen haben Eigenkapitalquoten, bei denen sie nicht wissen, wie sie hinten und vorne hochkommen sollen. In diesem Zusammenhang die Überliquidität von einigen Großen anzuführen, ist eine völlige Verfälschung der Problematik. Ich empfehle Ihnen, diesen Unsinn in Zukunft sein zu lassen.
Herr Cronenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner?
Ja, selbstverständlich lasse ich das zu.
Herr Kollege Cronenberg, halten Sie es denn für eine sinnvolle Unternehmenssteuerpolitik, wenn man gerade die liquiden Großunternehmen durch Gießkannen-Gesetze noch mehr stärkt, anstatt für eine gerechte, aufkommensneutrale Förderung des Mittelstandes zu sorgen?
Lieber Herr Kollege Büttner, wenn Sie sich irgendwann überhaupt dazu bereit erklären könnten - in welchen Bereichen auch immer , ein paar Steuern zu senken, und nicht nur mit Abgabenerhöhungen ankämen, würde ich mich mit Ihnen über diesen Punkt auseinandersetzen. Aber genau das Gegenteil ist auch in den Vorlagen, die Sie uns präsentieren, der Fall.
Ich sage Ihnen, ob es Ihnen paßt oder nicht: Sie werden die Sache nur in Ordnung bekommen, wenn Sie effektive, wettbewerbsfähige kleinere und mittlere Unternehmen bekommen. Dazu sind nicht mehr Abgaben erforderlich, auch nicht, Norbert Blüm, im Bereich der Lohnnebenkosten etwa durch zusätzliche Sozialleistungen, sondern es ist erforderlich, die Wettbewerbsfähigkeit dieser Betriebe herzustellen.
Wir machen uns zuwenig bewußt, daß Korea inzwischen sozusagen vor der Haustür liegt: Mit der Tschechoslowakei haben wir ein Niedriglohnland, das uns mit Angeboten überschwemmt; ich sage das aus eigener Erfahrung. Uns gehen ständig Arbeitsplätze verloren. Die Großen konnten nach Korea fahren. Von Nürnberg nach Prag ist es nur ein Katzensprung. Sie werden sich wundern, was da an Problemen auf uns zukommt.
Ihre einzige Antwort ist, in den Betrieben des Ostens, die höhere Lohnausgaben als Umsätze haben, möglichst schnell die gleichen Löhne zu zahlen und sich dann darüber zu beschweren, daß dort Arbeitsplätze verschwinden. Das ist, mit Verlaub, an Dummheit nicht zu überbieten.
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Lassen Sie mich zum Abschluß mit aller Deutlichkeit sagen: Die Arbeitslosigkeit im Osten, die wir genauso bedauern wie Sie, für deren Abbau wir bereit sind, höchste Anstrengungen zu unternehmen, ist doch nicht einigungsbedingt, wie hier immer gesagt wird. Wenn die ehemalige DDR heute noch existierte und wenn das Comecon genauso kaputtgegangen wäre, wie es tatsächlich kaputtgegangen ist, dann würde die DDR heute genausogut ohne Aufträge dastehen. Das hat mit der Einigung überhaupt nichts zu tun. Das ist ein Problem, das auch sonst auf sie zugekommen wäre.
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- Es ist doch in der Debatte immer wieder betont worden, als Folge der Einigung sei auch die Arbeitslosigkeit in den Betrieben im Osten gestiegen. Das ist in den verschiedensten Beiträgen immer wieder zum Ausdruck gekommen.
Was wir brauchen - das ist meine ernstgemeinte Bitte an alle -, ist ein Stück Solidarität aller Beteiligten, sich darum zu bemühen, daß der Aufbau in den
Betrieben dort drüben, vor allen Dingen in den kleineren und mittleren Betrieben, in zukunftsträchtigen Bereichen geschieht und nicht der Versuch unternommen wird, nicht wettbewerbsfähige Strukturen zu erhalten. Wir haben im Westen mit dieser Politik dort, wo wir solche Strukturen erhalten haben, schlechte Erfahrungen gemacht. Ich würde mich freuen, wenn sie uns in den neuen Bundesländern erspart blieben.
Herzlichen Dank.
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Als nächster spricht der Kollege Ottmar Schreiner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will erstens die reichlich pöbelhaften Angriffe gegen Frau Ministerin Hildebrandt zurückweisen.
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Es gibt in Ostdeutschland nur wenige Menschen, die sich für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger in den letzten Jahren so abgerackert haben wie Frau Hildebrandt,
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von morgens bis in die Nacht. Ich kann Ihnen das versichern. Sagen Sie das einmal den Brandenburgern, was Sie hier im Plenum zu Frau Ministerin Hildebrandt vorgetragen haben. Die werden Ihnen etwas anderes erzählen.
({2})
- Frau Hildebrandt hat sich bei ihrer Rede hier vor einigen Wochen ausdrücklich beim Deutschen Bundestag und bei der ganzen westdeutschen Bevölkerung bedankt.
({3})
- Dann lesen Sie das Protokoll nach.
({4})
Sie hat sich hier ausdrücklich für die auch materielle Solidarität bedankt, die die westdeutsche Bevölkerung bislang den Menschen in Ostdeutschland entgegengebracht hat.
Das zweite. Es ist gesagt worden, wir sollten Mut machen. Aber zum Mutmachen gehört eben auch der Mut, die Wahrheit auszusprechen, das auszusprechen, was ist. Dann sind Sie von den Regierungsfraktionen allerdings die ganz falsche Adresse. Sie hätten im Jahre 1990 die große Chance gehabt, den Menschen im Westen zu sagen: Solidarität ist nötig, und wir müssen auf etwas verzichten. Sie haben das Gegenteil gesagt. Die Enttäuschungen spüren Sie bis heute. Sie hätten den Menschen im Osten sagen können: Das geht nicht von heute auf morgen; wir brauchen eine gewisse Zeit. Sie haben das Gegenteil gesagt. Enttäuschungen, Resignation, Frustration sind
die Konsequenz. Also reden Sie nicht vom Mutmacken. Worum es geht, ist auszusprechen, was ist.
Die Treuhand hat für dieses Jahr einen weiteren Arbeitslosenschub im Bereich der bei der Treuhand verbliebenen Betriebe von insgesamt 300 000 Menschen in Ostdeutschland signalisiert. Wir wissen von vielen Besuchen - auch ich bin fast alle 14 Tage in Ostdeutschland -, daß wir inzwischen Regionen mit einer Arbeitslosenquote bis zu 60 % haben, wo mehr als jeder zweite Mann und jede zweite Frau arbeitslos sind. Das gehört auch zur Wahrheit. Das ist nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern so, sondern auch in vielen anderen Regionen der ehemaligen DDR.
Lesen Sie die Stellungnahmen der Bundesanstalt für Arbeit, wo angekündigt wird, daß, wenn keine wirksamen Gegenmaßnahmen erfolgen, die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland in absehbarer Zeit weiterhin dramatisch steigen wird. Lesen Sie, was der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Franke, dazu schreibt. Ich will ihn aus einem Artikel zitieren. Vor wenigen Tagen hat er darauf hingewiesen, daß inzwischen bereits mehr als 700 000 Menschen in Ostdeutschland ihre Heimat verlassen haben. Er weist darauf hin, daß nach wie vor jeden Monat zwischen 15 000 und 20 000 Menschen aus Ostdeutschland ihre Heimat verlassen.
Ich sage nochmals: Wenn das keine alarmierenden Zahlen sind, wenn das keine Signale sind, daß wir einfach immer noch nicht genug tun - die Arbeitslosenquote steigt, die Verzweifelung bei vielen Menschen steigt -, wenn uns das als Signal nicht ausreicht, wie dick muß es denn dann noch kommen?
({5})
Das Erstaunliche ist, Herr Bundesarbeitsminister, daß in einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit steigt, die Arbeitsmarktinstrumente geschleift werden. Das Gegenteil wäre eigentlich richtig. Wenn man Menschen helfen will, muß man diese Instrumente weiter ausbauen, aber das Gegenteil geschieht.
({6})
Das Zweite, das uns bei diesem Antrag treibt, ist die groteske Situation, daß wir weitaus mehr öffentliche und beitragsfinanzierte Gelder zur Finanzierung von schlichtem Nichtstun, zur Finanzierung von gesellschaftlich erzwungenem Nichtstun, nämlich Arbeitslosigkeit, bereitstellen als Gelder zur Förderung von Arbeit. Das ist der eigentliche Skandal.
({7})
Jetzt nenne ich Ihnen die Zahlen für 1992 aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit. 1992 werden wir 24 Milliarden DM zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit ausgeben. Wir werden im gleichen Jahr, 1992, über die Bundesanstalt für Arbeit knapp 18 Milliarden DM zur Förderung von Arbeit ausgeben. Ich frage, ob es irgendeinen Kollegen oder eine Kollegin aus der F.D.P. oder der CDU/CSU gibt, der oder die mir sagen kann: Dieser Zustand ist befriedigend. Dieser Zustand kann nicht befriedigend sein, daß wir öffentliche, beitragsfinanzierte Gelder gewissermaßen in einem gigantischen Maße zur Finanzierung
von Nichtstun verschwenden. Zumindest in Ostdeutschland - nicht nur da, aber da ganz besonders liegen die Arbeit und die gesellschaftlichen Bedarfe buchstäblich auf der Straße.
Die eigentliche Herausforderung ist: Wie bekomme ich Bedarf und Arbeit zusammen? Wie kann ich eine außerordentlich schwierige Zwischenphase, in der Investitionen noch nicht ausreichend greifen, wenn sie jemals ausreichend greifen, möglichst intelligent und im Interesse der Menschen zumindest überbrükken? Das ist die eigentliche Frage. Ich sage nochmals: Die dümmste, die phantasieloseste und die brutalste Möglichkeit ist, die Menschen in die Arbeitslosigkeit zu schieben und sie zu alimentieren.
({8})
Jeder andere Weg ist im Interesse der gesellschaftlichen Wertschöpfung und im Interesse der Menschen besser.
({9})
- Lassen Sie mich noch einen Satz zu Ende bringen, Herr Präsident.
Ich ziehe Bilanz: Wir hatten im Jahre 1931 im damaligen Deutschen Reich sechs Millionen Arbeitslose. Wir haben jetzt im vereinigten Deutschland weit über drei Millionen Arbeitslose mit deutlich steigender Tendenz. Ich sage Ihnen - das ist nichts Neues -: Die sechs Millionen Arbeitslose im damaligen Deutschen Reich waren der soziale Nährboden für den Verfall der ersten deutschen Demokratie. Ich habe Angst, ich habe wirkliche Sorge, daß auch die zweite deutsche Demokratie, wenn es nicht gelingt, diese Entwicklung umzukehren, und wenn wir es nicht schaffen, mehr gegen Massenarbeitslosigkeit zu tun, in schwere Wasser geraten könnte.
({10})
Das ist nicht nur ein Problem der Hilfe für den einzelnen betroffenen Menschen, was wichtig genug wäre. Es muß in unser aller gemeinsamen gesellschaftlichen Gesamtinteresse liegen, hier stärker, phantasievoller und intelligenter heranzugehen, als dies bislang der Fall ist.
Herr Kollege Schreiner gestattet eine Zwischenfrage des Kollegen Grüner. Bitte, Kollege Grüner.
Herr Kollege, darf ich Sie bei Ihrem für mich ganz verständlichen leidenschaftlichen Engagement fragen, warum bei dieser Analyse die Verantwortung der Tarifvertragsparteien für die Beschäftigung eigentlich keine Rolle spielt. Der Bundespräsident hat 1987 darauf hingewiesen, daß die Tarifvertragsparteien ihrer Verantwortung gegenüber den Arbeitslosen nicht gerecht werden, und er hat gesagt: Sie denken nur an die, die in den Betrieben sind, und nicht an die, die draußen vor der Tür stehen.
Ich meine, bei einem von Ihnen richtig geschilderten Dilemma auf dem Arbeitsmarkt müßte sich ein sozial Engagierter eigentlich mit dieser Frage auseinMartin Grüner
andersetzen; denn die Schlüsselfunktion, die Monopolstellung am Arbeitsmarkt haben doch die Tarifvertragsparteien. Ich frage Sie, warum spiegelt sich das in dieser Diskussion nicht wider?
Herr Kollege, wir können das in diese Diskussion gerne einführen. Aber der zentrale Punkt ist doch, daß wir uns die Frage beantworten: Was machen wir bisher nicht ausreichend? Was können wir in der parlamentarischen Verantwortung tun? Was können die Kolleginnen und Kollegen der Regierung in ihrer Regierungsverantwortung tun? Ich will überhaupt nicht abstreiten, daß es auch denkbare Möglichkeiten der Tarifparteien geben könnte, auf diesem Feld mehr beizutragen, als es bislang der Fall ist. Aber ich bin keine Ersatztarifpartei. Unsere zentrale Verantwortung ist: Was können wir in unseren Funktionen tun? Das können wir nicht auf die Tarifparteien abwälzen. Das kann sich ergänzen.
({0})
Ich will einen zweiten Bereich ansprechen, weil zumindest die Herrschaften von der F.D.P. immer wieder gesagt haben: Entscheidend sei - Zitat Herr Cronenberg , ordentliche Betriebe mit ordentlicher Arbeit und - Zitat Frau Dr. Babel - Anreize für Investitionen zu schaffen. Das wird überhaupt nicht in Abrede gestellt. Das widerspricht aber auch in keinem einzigen Detail diesem Antrag. Der Antrag sagt sogar ganz dezidiert - das ist einer seiner Kernpunkte : Wir wollen die Tätigkeitsfelder, in die die Arbeit von 550 000 Menschen hineinzulenken ist, ganz vorrangig im Bereich der Umweltverbesserung, der Standortverbesserung , der infrastrukturellen Verbesserung ansiedeln.
Alle Untersuchungen, die wir zumindest haben, sagen aus, daß bis zu 60 % der standortrelevanten Ansiedlungsfaktoren mit der Infrastruktur zusammenhängen.
Einer der Kerne dieses Antrags ist es gerade, die Umwelt im Interesse aller Menschen und die infrastrukturellen Voraussetzungen insbesondere zur Erleichterung von Investitionen zu verbessern. Also, da treffen Sie unseren Antrag nicht. - Aber Sie haben weitere Sorgen, Herr Kollege.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Cronenberg?
Wenn ich ihm eine Sorge abnehmen kann, gerne.
Zunächst einmal, niemand hat etwas gegen Infrastrukturinvestitionen. Aber unterstellt, Kollege Schreiner, daß Sie Ihren Antrag kennen, und unterstellt, daß Sie wissen, daß die meisten Beschäftigten in kleinen und mittleren Unternehmen sind, frage ich Sie, warum in Ihrem Antrag 12/266 - das ist der Antrag, über den wir reden - die Selbständigen eigentlich nur unter der Ziffer 3 im Zusammenhang mit einer Abgabenerhöhung vorkommen und sonst nirgendwo erscheinen.
Es heißt überall, Herr Kollege Cronenberg, daß die Arbeiten von privaten Unternehmungen möglichst aus der jeweiligen Region durchgeführt werden sollen. Wir haben zudem mehrfach hineingeschrieben: Eines der zentralen Anliegen ist die Verbesserung standortbezogener Investitionsvoraussetzungen, die Verbesserung der Infrastruktur. Am Schluß machen wir uns ein paar Gedanken über die Frage der sozial gerechten Finanzierung der deutschen Einheit.
Herr Kollege Cronenberg, Sie können mir bis zur Stunde nicht die Frage beantworten, wieso die westdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Jahr mit ihren Beiträgen an die Bundesanstalt für Arbeit über 35 Milliarden DM aufbringen müssen, die in Ostdeutschland mit eingesetzt werden, während einer meiner Freunde in meiner Heimatstadt, ein Rechtsanwalt, oder einer meiner Bekannten, Arzt oder Zahnarzt, die das Zehn- und Fünfzehnfache der Arbeitnehmer verdienen, nicht in einem einzigen Punkt auf dieser Ebene herangezogen werden. Diese Frage können Sie mir nicht beantworten.
({0})
Sie können mir schon gar nicht beantworten, was es noch mit sozialer Gerechtigkeit, was es noch mit Solidarität zu tun hat, wenn denjenigen, die viel haben, draufgepackt wird und wenn diejenigen, die wenig haben, sogar noch ihren Arbeitsplatz verlieren.
Die Gesichtspflege des Herrn Vizekanzlers, die Streichung von 560 Millionen DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen West, führt dazu, daß Zehntausende von Langzeitarbeitslosen in Westdeutschland ins Gras beißen, daß diese Leute politikverdrossen sind, daß diese Leute sagen: Das hat mit Solidarität nichts mehr zu tun; das ist nur noch blanker politischer Zynismus, was diese Bundesregierung betreibt.
({1})
Der Herr Präsident wird es mir nicht erlauben, Ihre Fragen zu beantworten, aber die Feststellung, Herr Präsident, sei mir gestattet, daß Ihre Freunde, die Anwälte und Zahnärzte, von denen Sie sprechen, wenn sie erfolgreich sind, mindestens ihre Solidaritätsabgabe bezahlen.
Das tun die anderen auch, Herr Kollege. Sehr geehrter Herr Vizepräsident,
({0})
ich habe von der Ebene der Beiträge zur Finanzierung von Arbeit oder zur Alimentierung von Arbeitslosigkeit gesprochen.
({1})
Die steuerliche Belastung ist bei den Arbeitnehmern ebenfalls da. Es gibt hier einen exklusiven Klub der Reichen der Bundesrepublik Deutschland West, der eben nicht beiträgt. Das ist der entscheidende Punkt, warum es so schwierig wird, in Westdeutschland für Solidarität zu werben; denn Ihre asoziale Finanzierungsstrategie hinterläßt bei den Menschen den Ein8058
druck: Die Kleinen werden geschröpft, die Kleinen sind die Lastesel der deutschen Einheit, und die Großen holen sich goldene Nasen.
({2})
Herr Präsident, ich will ein persönliches Schlußwort bringen.
({3}) - Ich kann es auch anders machen.
({4})
- Wir sollten den Feiertag so lange genießen, bis die Schwarzen ihn abgeschafft haben. Inzwischen wird ja alles bei Ihnen diskutiert.
Ich will ein versöhnliches Schlußwort machen: Ich kann verstehen, daß dieser Antrag im ersten Anlauf auf Kritik gestoßen ist. Wir werden auch sehr sorgfältig nachprüfen, was an Substanz übrigbleibt; ich vermute einmal, nicht sehr viel. Aber ich bitte sehr darum, im Herbst - wir werden das übrigens im Rahmen einer Anhörung im Parlament machen - den gesammelten Sachverstand der Republik zu befragen und dann zu entscheiden. Wenn Sie zumindest Teile unserer Überlegungen übernehmen würden, was vom IAB, der Bundesanstalt für Arbeit, ja selbst, Herr Blüm, vom Bund der Katholischen Jugend unterstützt wird, täten Sie nicht der SPD einen Gefallen. Sie würden dazu beitragen, den Menschen in Ostdeutschland zu helfen, und darauf kommt es an.
({5})
Zu einer Kurzintervention nach § 27 der Geschäftsordnung hat unser Kollege Julius Cronenberg das Wort.
Herr Präsident! Verehrter Kollege Schreiner, Sie haben ein paar Fragen gestellt, die ich in zwei Minuten nicht beantworten kann, aber ein paar Bemerkungen möchte ich gerne dazu machen.
Erstens. Die Forderung nach einer Arbeitsmarktabgabe - eine uralte Forderung, die ja nicht nur von Ihnen, sondern auch von Teilen des Koalitionspartners unterstützt wird - verkennt völlig, daß dem auch Leistungen gegenüberstehen müssen.
({0})
- Ich komme darauf zurück. Lassen Sie mir wenigstens die Chance, in den mir zur Verfügung stehenden zwei Minuten kurz etwas zu sagen, ohne von Ihnen unterbrochen zu werden.
Ohne Leistungen, die dem gegenüberstehen, wird das nicht einführbar sein. Dann wird daraus bestenfalls ein Nullsummenspiel. Mehr Abgaben, wenn sie überhaupt in der Diskussion sind - das ist ja die Position, die wir immer vertreten haben -, dürfen die Investitionstätigkeit, die Sie jeden Tag mit Recht einfordern, doch nicht behindern. Sie wissen ja, daß
z. B. mittlere Betriebe Belastungen zu tragen haben, die im Verhältnis zum Gewinn über 70 % betragen. Das ist doch der große Trugschluß, dem Sie unterliegen: Auf der einen Seite wollen Sie kassieren - in diesem Zusammenhang sprechen Sie dann sogar von denen, die sich goldene Nasen verdienen -, und auf der anderen Seite verlangen Sie von den gleichen Leuten, daß sie drüben auch noch Investitionen tätigen sollen. Das ist, um es mit Verlaub zu sagen, ein Widerspruch in sich, über den nachzudenken sich morgen an dem Feiertag sicher lohnt.
({1})
Zum Schluß der Debatte erteile ich dem Herrn Bundesarbeitsminister Norbert Blüm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will meine wohlvorbereitete Rede zur Seite legen und ganz im Sinne dessen, was eine Parlamentsdebatte ja sein soll, in den Dialog, der hier stattfindet, eintreten.
Ich beginne mit einem Preisausschreiben. Das schließt sich an einen Vorwurf von Frau Weiler an.
({0})
- Als Trostpreis einen Tag im Arbeitsministerium.
({1})
Die Frage heißt: Welches Bundesland hat die beste Ausstattung an Kindergartenplätzen, und welches Bundesland gehört zu den am schlechtesten ausgestatteten Bundesländern?
({2})
- Das ist schon ein halber Tag im Bundesarbeitsministerium: Nordrhein-Westfalen ist das am schlechtesten ausgestattete Land. Bayern und Baden-Württemberg sind die beiden am besten ausgestatteten Länder. Jetzt kommt noch eine Zusatzfrage: Wer regiert in Bayern, und wer regiert in Nordrhein-Westfalen?
({3})
- Lohmann sagt: CSU in Bayern. - Sie kommen auch einen halben Tag.
Jetzt machen wir keinen Spaß. Sie sollten mit Ihren Vorwürfen, mit solchen Rundumschlägen weniger ideologische Schaumschlägerei betreiben, sondern mehr an den praktischen Verhältnissen Maß nehmen. Nicht jeder, der „Herr, Herr" sagt, kommt in den Himmel, und nicht jeder, der sozial redet, handelt auch sozial. In Sachen Kindergarten haben Sie überhaupt keinen Grund, CDU, CSU und F.D.P. Vorwürfe zu machen. Die sozialdemokratisch regierten Länder
sind die Kellerländer in Sachen Kindergartenausstattung.
({4})
Ich möchte aber noch ein zweites sagen. Der Herr Kollege Schreiner hat ja in seiner mich immer wieder beeindruckenden rhetorischen Art gesagt: Sie hätten die Chance gehabt, den Bürgern in der Bundesrepublik Opfer abzuverlangen, ihnen Mut zu machen. Sie haben die Chance vertan. - Herr Kollege Schreiner, man kann viel über die Regierung sagen, was sie gut oder schlecht gemacht hat, wo sie Chancen genutzt hat. Aber das steht fest: Sie hätten diese Chance nicht gehabt. Denn wenn Ihr Kanzlerkandidat Lafontaine nicht nur Kandidat gewesen wäre, sondern sogar Kanzler, hätte die deutsche Einheit nicht stattgefunden, weil er die Chance hätte vorbeigehen lassen.
({5})
Hier in diesem Saal ging die Diskussion darum - ich habe sie miterlebt -: schneller Weg oder Konföderation. Heute kann man im nachhinein leichter beurteilen, welcher Weg richtig war. Ich will ja gar nicht besserwisserisch vorgehen. Nur: Hätten wir uns auf den langsamen Weg begeben, wäre die Chance für das 4+2-Abkommen nie mehr so gekommen, wie sie auf dem schnellen Weg vorhanden war.
({6})
- Gut. Ich sage es gar nicht rechthaberisch. Ich sage nur: Die Chance ist genutzt worden. Jetzt geht es in der Tat darum, das Geschenk der deutschen Einheit zu nutzen. Das ist ja nicht vom Himmel gefallen. Es ist dem Mut der Bürger der DDR zu verdanken, allerdings auch einer Bundesregierung, die die ausgestreckte Hand nicht zögerlich angenommen hat, sondern sie ergriffen hat. Laßt uns jetzt darüber diskutieren, wie wir mit dieser großen Herausforderung fertig werden. Dann machen wir einen Wettbewerb, wer es am besten macht.
Arbeitsmarktpolitik ist unser Thema. Wir stimmen darin überein, daß Arbeitsmarktpolitik immer nur Brückenfunktion hat. Das ist nicht die Hauptaufgabe, jedenfalls nicht in einer sozialen Marktwirtschaft. Dort, wo der Staat die Wirtschaft übernommen hat, haben wir festgestellt, zu welchen Ergebnissen das führt. Brückenfunktion, das bedeutet zweierlei. Eine Brücke ist kein Parkplatz. Man kann sich dort nicht häuslich einrichten. Allerdings braucht jede Brücke Ufer. Insofern dürfen wir über den Bau von Brücken die Uferbefestigung nicht vergessen, also die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dazu sind in erster Linie - dabei bleibe ich - Investitionen notwendig. Ich teile auch die Auffassung meiner verehrten Kollegin Babel, daß Investitionen nicht befohlen werden können, sondern in einer sozialen Marktwirtschaft freie Entscheidungen der Unternehmer sind. Jedoch haben Soziale Marktwirtschaft und Freiheit auch etwas mit Verantwortung zu tun. Deshalb finde ich schon, daß die moralische Dimension, die für uns alle gilt, in Freiheit gestaltet werden muß und nicht durch Reglementierungen wie im planwirtschaftlichen System. Mein Appell ist, daß auch die Unternehmer in ihr Kalkül einbeziehen: Solange sie die neuen Bundesländer bevorzugt als Absatzmärkte ansehen, aber nicht als Produktionsstätten, so lange werden wir alle gemeinsam - auch Sie - die nicht vorhandenen Arbeitsplätze über hohen Sozialtransfer bezahlen müssen.
({7})
Also entspricht es auch einem wohlverstandenen Kalkül, Arbeitsplätze zu schaffen, damit wir uns von sozialem Transfer entlasten können. Auch hier hat mein Kollege Schreiner große Worte gesprochen: Die dümmste Form ist, Arbeitslosigkeit zu alimentieren. Herr Kollege Schreiner, wenn das die Maxime ist, war die unter Ihrer Verantwortung stehende Regierung ({8})
- Dumm oder gescheit, dazu will ich Ihnen sagen: 1982
({9})
wurden 30,8 Milliarden DM konsumtiv für Arbeitslosengeld ausgegeben und 9,1 Milliarden DM produktiv für die Arbeitsmarktpolitik. Jetzt will ich Ihnen die Zahlen für 1992 nennen.
({10})
- Ich habe großen Respekt vor Lassalle, aber Lassalle ist tot.
({11})
- Es geht jetzt darum, daß wir in diesem Jahr Arbeitsmarktpolitik machen.
({12})
- Ich bin bei der Gegenwart.
({13})
- Lassen Sie mich doch ausreden, damit ich Ihnen die Zahlen nennen kann. - Herr Präsident, können Sie mir zu Hilfe kommen? Um 20 nach 7 habe ich ein schwaches Nervenkostüm.
({14})
Herr Minister, bisher haben wir festgestellt, daß Sie das sehr gut überstehen. Aber ich bitte daran zu denken, daß der Redner zu Wort kommen muß. Die Zwischenrufe und Bemerkungen müssen so beschränkt sein,
({0})
daß man auch verstehen kann, was der Redner sagen will.
Herr Präsident, die Zwischenrufe sind schon beschränkt genug. Wenn sie etwas leiser wären, wäre mir das lieber. Aber das sollte keine Kritik an Ihnen sein.
({0})
Jetzt zu den Zahlen für 1992. Für den Osten sind 12 Milliarden DM für Arbeitslosengeld und 36 Milliarden DM für produktive Arbeitsmarktpolitik vorgesehen. Um es noch einmal zu sagen: 12 Milliarden DM Arbeitslosengeld, also konsumtiv, und 36 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik, produktiv. Wovon reden Sie eigentlich? Noch einmal: 1982 30 Milliarden DM für Arbeitslosengeld und 9 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik.
({1})
- Das Verhältnis war trotzdem verkehrt. Es geht ja nicht um Zahlen, sondern es geht darum, daß zu Ihrer Regierungszeit der höhere Anteil für Arbeitslosengeld und der geringere Anteil für Arbeitsmarktpolitik ausgegeben wurde. Eine solche Politik hat Herr Schreiner als die dümmste aller möglichen bezeichnet. Das ist doch nicht meine Formulierung.
({2})
- Damals war Herr Dreßler Staatssekretär, das ist richtig.
1991 insgesamt 30,8 Milliarden DM konsumtiv, 47,1 Milliarden DM investiv.
({3})
- Bitte, Herr Schreiner.
Herr Kollege Schreiner, bitte zu einer Zwischenfrage.
Herr Minister, ich wollte nur noch einmal fragen, ob Sie die Zahlen, die ich genannt habe, bestätigen. Die stammen aus den jüngsten Berichten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Diese Zahlen besagen: Für 1992 stehen im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit für Ostdeutschland 24 Milliarden DM zur Finanzierung von schlichtem Nichtstun und knapp 18 Milliarden DM zur Förderung von Arbeit.
Meine Frage ist ganz einfach, ob auch Sie der Meinung sind, daß wir Mittel und Wege finden müssen, dieses Verhältnis rasch umzudrehen, daß es allemal sinnvoller, im Interesse der Menschen wie im Interesse der Gesamtgesellschaft ist, wenn die verfügbaren öffentlichen Gelder zur Förderung von Arbeit eingesetzt werden, anstatt zur Finanzierung von Nichtstun verschwendet zu werden.
Eine letzte Frage noch: Können Sie die Zahlen der OECD bestätigen, die für 1990 gesagt hat: Für die Bundesrepublik ({0}) damals wurden auf 1 DM zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit 0,88 DM zur Förderung von Arbeit ausgegeben? In Schweden beträgt diese Zahl 2,36 DM. Das heißt, es wird 2,36mal mehr zur Förderung von Arbeit als für die zweite Variante ausgegeben. Wäre es nicht ein erstrebenswertes Ziel,
mit unseren Möglichkeiten, entlang unserer Situation diese schwedischen Größenordnungen im Interesse der Menschen und auch im Sinne eines wirklich vernünftigen Umgangs mit Steuergeldern und beitragsin anzierten Mitteln anzustreben?
Herr Schreiner, Ihre Zahlen kann ich ausdrücklich nicht bestätigen. 1991: 30,8 Milliarden DM konsumtiv
({0})
- aber bitte; Sie können dann auch die entsprechenden Zahlen aus dem Arbeitsministerium erhalten; wir können das durch Aktenaustausch machen -,
({1})
47,1 Milliarden DM investiv. Wenn ich es überschlage, kann ich sagen: für 1 DM konsumtiv 1,50 DM produktiv. Aber ich weiß nicht, ob uns diese Statistikschlacht jetzt weiterführt. Ich wollte nur dem entgegentreten, wir würden Arbeitslosigkeit passiv hinnehmen.
Wann gab es schon einmal eine so intensive expansive Arbeitsmarktpolitik? 400 000 Menschen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, derzeit 400 000 in Fortbildung und Umschulung, in Kurzarbeit 400 000. Daneben sind zu nennen die im Vorruhestand und diejenigen, die Altersübergangsgeld erhalten, was in den konsumtiven Bereich hinüberreicht, aber immerhin Arbeitslosigkeit vermeidet. Ohne diese Instrumente das bestreitet doch niemand, und auch die Opposition sollte das nicht bestreiten - hätten wir in den neuen Bundesländern 2 Millionen Arbeitslose mehr.
Frau Weiler, ich bitte Sie, sich hier nicht einfach an das Rednerpult zu stellen und zu sagen, wir würden nichts machen. 36 Milliarden DM sind mehr als nichts.
({2})
Sie können sagen, wir würden es falsch machen, aber Sie können die Regierung doch nicht so darstellen, als würde sie einfach passiv Arbeitslosigkeit hinnehmen. Wir fahren das ganze Instrumentarium mit hohem finanziellen Aufwand als Brückenfunktion zur Arbeitsmarktpolitik.
Ich will auch etwas zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sagen. Ich weiß ja, daß sie in Kritik sind. Ich würde bei einem solchen Mammutprogramm, das wirklich eine Art Lebensrettung im Sinne des Arbeitsmarktes war, auch nicht sagen, daß jede dieser Maßnahmen sitzt. Das liegt fast in der Natur der Sache. Aber alles in allem verteidige ich die Arbeitsmarktpolitik. Ich muß sagen: Wir haben alles getan, was ein Gesetzgeber tun kann, um gegen Mißbrauch zu schützen. Wenn Arbeitsmarktmaßnahmen vergeben werden, muß die Handwerkskammer Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausstellen.
50 % der Vermittlungen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen - auch eine erstaunliche Zahl - sind
Ersatzbesetzungen. Jeder zweite Arbeitsplatz wird also durch einen aus Arbeitsmarktmaßnahmen ausgeschiedenen Arbeitnehmer besetzt. Das zeigt, daß das kein fester Block ist, sondern daß Mobilität durchaus vorhanden ist, und dies bei 50 000 offenen Stellen
- von denen zwei Drittel der Vermittlungen auch noch öffentlich gefördert waren - und mehr als einer Million Arbeitslose. Selbst wenn alle einen ungebremsten Mobilitätshunger hätten, könnten nicht alle untergebracht werden. Insofern heißt das Problem
- darin stimmen wir sicherlich alle überein - nicht ABM, sondern Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Das ist das A und O aller Maßnahmen.
Bei Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen gab es 900 000 Eintritte. Wenn wir in diesem Steigerungsrhythmus fortfahren würden, wäre fast niemand mehr da, der nicht irgendwann Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen durchlaufen hätte. Auch ich finde, daß dieser Bereich unverzichtbar ist. Aber es muß verstärkt gefragt werden, ob zu Qualifikation umgeschult und fortgebildet wird, die auf dem Arbeitsmarkt anschließend auch gebraucht wird.
({3})
Deshalb werden wir in einer Novelle auch dieser Frage sehr viel stärker nachgehen, so daß die Träger nicht einfach ihre Kunden einladen können.
({4})
Vielmehr muß das Arbeitsamt fragen, ob in dem Bereich, in dem fortgebildet wird, anschließend auch eine Chance zur Umsetzung in den normalen Arbeitsmarkt besteht. Fortbildung und Umschulung müssen immer Brückenfunktion haben; sie dürfen kein Parkplatz sein.
Meine Damen und Herren, ich sehe wie Sie das Problem der Frauenarbeitslosigkeit. Frau Weiler, auch wenn Sie es immer wieder versuchen: Sie schaffen es nicht, mich zum Chauvi zu machen. Sie schaffen es einfach nicht. Die Frauen und Männer sollen entscheiden, wie sie ihr Leben einrichten wollen. Die Frau, die zu Hause arbeitet, bekommt den gleichen Respekt wie die Frau, die erwerbstätig ist.
({5})
Ich wehre mich dagegen, wenn so getan wird, als würde dort keine Arbeit verrichtet. Wir haben alles getan, um die Wahlmöglichkeiten zu erhöhen.
({6})
- Jedenfalls sehr viel mehr als zu Ihrer Zeit. Sie haben über die Behandlung von Erziehungszeiten im Rentenrecht gesprochen. Wir haben gehandelt. Das war ein praktischer Beitrag zur Schaffung von Wahlmöglichkeiten.
Herr Minister, gestatten Sie noch zwei Zwischenfragen?
Bitte schön. Wie könnte ich Ihnen das verwehren?
Frau Weyel.
Herr Minister, können Sie bitte verstehen, daß es eine Sache ist, wenn man einer Frau, die auf eigenen Wunsch - weil sie davon überzeugt ist - im Haus arbeitet, den Respekt gibt und ihre Arbeit als hochwertig anerkennt, und daß es eine andere Sache ist, wenn eine Frau, die eine Arbeitsstelle sucht, gegen ihren Willen arbeitslos ist? Das ist zweierlei. Und muß infolge dessen Ihre Aufgabe gerade in den neuen Ländern nicht darin bestehen, den Frauen, die immer berufstätig waren und das auch bleiben wollen - dies gilt insbesondere für technische Berufe, die es bei uns nicht gibt -, zu helfen, ihre Arbeitsplätze zu finden und zu erhalten?
Ich bedanke mich für die Frage; denn sie schließt möglicherweise Mißverständnisse aus. Ich kann die in Ihrer Frage enthaltene Intention nur uneingeschränkt unterstützen. Die Chancen müssen für Männer und Frauen gleich sein; es darf nicht eine Seite bevorzugt werden. Insofern muß das Arbeitsförderungsgesetz auch immer jenen Gruppen besonders helfen, die besonders benachteiligt sind. Das sind auch die Frauen - nicht nur die Frauen, aber auch die Frauen. Deshalb gibt es im Arbeitsförderungsgesetz diesbezüglich eine Reihe von Instrumenten.
Richtig ist, daß die Frauen an der Arbeitslosigkeit mit mehr als 60 % und an den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nur mit 41 % beteiligt sind. Hier besteht eine Lücke. Allerdings muß ich hinzufügen, daß das Verhältnis schon einmal noch schlechter war. Wir sind also dabei, diese Lücke zu schließen. Aber wir haben die Aufgabe - wie von Ihnen besprochen - erkannt.
Bei den Qualifizierungsmaßnahmen ist das Verhältnis ungefähr ausgewogen. Bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind die Frauen nicht in dem Maße beteiligt, in dem sie von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Ich denke, das liegt auch an der Schwierigkeit, Projekte für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu finden, die auf eine besondere Nachfrage der Frauen treffen.
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Barbara Weiler?
Bitte schön.
Herr Minister, ich denke, Ihnen ist bekannt, daß die Wahl bei Ehepartnern, ob eine Erwerbstätigkeit aufgenommen wird oder wer den Erziehungsurlaub nimmt, so frei nicht ist. Ich möchte Sie fragen, ob Sie die Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vom 7. Mai kennen, aus der ich zwei Sätze zitiere:
Als familienpolitisches Leitbild hat das Dreiphasenmodell in der jüngeren Vergangenheit an
Bedeutung gewonnen. Gefördert wird allerdings im wesentlichen die Hausfrauenzeit: durch die günstige Renten- und Krankenversicherung von Ehefrauen sowie das Ehegattensplitting bei der Einkommensteuer und das Erziehungsgeld. Weniger unterstützt werden Mütter darin, nach einer Familienpause wieder gleichberechtigt am Berufsleben teilzuhaben.
Deshalb haben wir im Unterschied zu Ihnen dafür gesorgt, daß die Rückführung in dieser Phase, die Sie beschreiben, durch das Arbeitsförderungsgesetz mit besonderen Maßnahmen unterstützt wird. Wir zahlen Teilunterhaltsgeld für diesen Personenkreis, um sozusagen schrittweise die Rückkehr durch Teilzeitarbeit, verbunden mit beruflicher Bildung, zu erleichtern.
({0})
- Die Antwort war nicht schwach, weil das alles besser war als das, was Sie bisher getan haben.
Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich habe die Welt nicht so dargestellt, als könnten wir mit dem heutigen Zustand der Wahlmöglichkeiten zufrieden sein. Ich habe nur gesagt: Mein Leitbild ist nicht, erst dann zufrieden zu sein, wenn auch die letzte Frau erwerbstätig ist.
({1})
Mein Leitbild ist, die faktischen Chancen für die Wahlmöglichkeiten zu erhöhen. Ich teile Ihre Ansicht, daß heute eine Chancengerechtigkeit zwischen Mann und Frau noch nicht vorhanden ist. Diese Ansicht teile ich ausdrücklich. Da wir keine perfekten Lösungen haben, bemühen wir uns, das Schritt für Schritt zu tun. Ich denke, wir kommen nicht weiter mit diesen Patentrezeptideologien, sondern nur Schritt für Schritt.
Herr Kollege Schreiner, im Zusammenhang mit Ihrem Problem, besonders Benachteiligten zu helfen, haben Sie uns blanken Zynismus vorgeworfen. Sie nehmen ja immer die letzten Steigerungsmöglichkeiten.
({2})
- Erstens bin ich kein Meister,
({3})
zweitens verstehe ich alles richtig. Sie haben von Zynismus geredet. Wir haben das Programm für Langzeitarbeitslose ausgedehnt. Wir haben auch Erfolge aufzuweisen, denn die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist mit Hilfe des auch von Ihnen unterstützten Programms zurückgegangen. Wir sind noch nicht am Ziel, aber wir setzen genau an den Stellen an, besonders schwer vermittelbaren Arbeitnehmern zu helfen.
Wir bemühen uns auch, neue Instrumente für die neuen Bundesländer zu finden. Wenn wir schon Geld ausgeben müssen, dann ist es besser - da bin ich
Ihrer Meinung -, Arbeit zu finanzieren als Arbeitslosigkeit. Deshalb müssen in dieser Übergangszeit Träger geschaffen werden, auch privatwirtschaftliche, die sich beispielsweise der Umweltsanierung widmen, und diesen ist ein Lohnkostenzuschuß zu geben. Ich halte es für sinnvoller, das Geld nicht dem Arbeitslosen zu geben, der zu Hause sitzt und nichts zu tun hat, sondern der Firma, damit sie den Arbeitslosen einstellt. Es ist sinnvoller, das Geld für aktive Arbeit als für passive Arbeitslosigkeit auszugeben.
Da können wir doch übereinstimmen. Es muß ja nicht alles kontrovers diskutiert werden. Es ist doch schön, wenn man einmal übereinstimmt; es geht hier schließlich um Menschen und nicht um die SPD, die F.D.P., noch nicht einmal um die CDU und schon gar nicht um Blüm, sondern es geht um die Arbeitslosen.
({4})
Meine Damen und Herren, wir sollten uns in Ost und West bemühen, daß in dieser Industriegesellschaft nicht nur bestimmte Begabungen ihre Chance finden. In den nächsten zehn Jahren fallen 3 Millionen Arbeitsplätze für Ungelernte weg. Wissen Sie, was das ist? Das ist ein beschäftigungspolitischer Dammbruch. Ich frage mich, ob unser Bildungskonzept dem gerecht wird, ob wir nicht kurzerhand diejenigen zu Unbegabten deklarieren, die nur nicht in dieses technologische Konzept passen. Ist derjenige, der einen Computer nicht bedienen kann, schon deshalb nicht geeignet oder unbegabt? Er hat möglicherweise Begabungen, die in der Technologie nicht gefragt werden, vielleicht im Bereich sozialer Dienste.
Ich bin ganz sicher, daß die Pflegeversicherung völlig neue Beschäftigungsfelder eröffnet und deshalb auch einen wichtigen beschäftigungspolitischen Effekt hat. Es kann eine besondere Begabung sein, sich Menschen zuzuwenden. Es gibt Begabungen, die möglicherweise auf dem herkömmlichen Arbeitsmarkt nicht ihre Chance finden.
Das ist natürlich nicht die einzige Motivation für die Pflege, sondern ich will nur sagen: Das Projekt, das wir ja gemeinsam verfolgen, hat mehr als nur einen sozialpolitischen Charakter.
({5})
- Ich will jetzt keine Debatte über die Pflegeversicherung führen.
({6})
- Nein, das machen wir jetzt, weil es ein Thema ist, das jetzt behandelt werden muß.
Ich möchte meinen Beitrag mit der Bemerkung abschließen, daß wir uns doch nicht in einen Wettbewerb begeben sollten, in dem wir uns wechselseitig vorhalten, wer die besseren Absichten hat, wer der bessere Mensch ist, wer den guten Willen hat und wer den schlechten Willen hat, sondern daß wir in einen Wettbewerb darüber eintreten sollten, wer die besseren Vorschläge hat. Wenn es Vorschläge gibt, bei
denen wir übereinstimmen - einen habe ich gerade gemacht -, dann um so besser, dann vertreten wir ihn auch gemeinsam. Insofern lade ich uns ein, an diesem großen Projekt Arbeit für alle in allen Teilen Deutschlands, im Westen wie im Osten, engagiert weiterzuarbeiten.
({7})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Drucksache 12/2666 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich wollte Sie noch auf etwas hinweisen. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß am Donnerstag, dem 25. Juni, keine Aktuelle Stunde stattfindet. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; dann ist auch das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({0})
a) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 1990
b) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 1991
- Drucksachen 11/7589, 12/1098, 12/2143 -Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ulrich Janzen
Norbert Otto ({1}) Hans-Wilhelm Pesch Dieter Schloten
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre und sehe dazu keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie noch, damit einverstanden zu sein, daß wir den Redebeitrag unseres Kollegen Dr. Ilja Seifert zu Protokoll nehmen können. Er war nämlich durch eine Fehlinformation verhindert, jetzt an dieser Debatte teilzunehmen; die bestand nämlich darin, daß gar keine Aussprache stattfinden sollte. Diesem Irrtum kann jeder unterliegen. Deswegen bitte ich, damit einverstanden zu sein, daß wir das zu Protokoll nehmen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen. *)
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner unserem Kollegen Dieter Schloten das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute abend über ein Thema, daß so gar nicht in die politische Landschaft unserer Tage zu passen scheint. Die gro-
*) Anlage 5
ßen Auseinandersetzungen über die Arbeitslosigkeit, über die Finanzierung der deutschen Einheit, die Europäische Union nach der Volksabstimmung in Dänemark, um das Asylbewerberproblem und um den § 218 gönnen dem Thema Raumordnung nur einen bescheidenen Platz auf der Tagesordnung.
Einigen Mitgliedern dieses Hohen Hauses sowie einigen Berichterstattern der Medien wird es ähnlich gehen wie mir vor anderthalb Jahren, als ich hier im Bundestag anfing und mich fragte: Was ist das eigentlich, Raumordnung? Ich will den Versuch machen, die grundsätzliche Bedeutung dieses ordnungspolitischen Instruments an einem Beispiel zu verdeutlichen.
Anfang April dieses Jahres besuchte eine Delegation des Bundestagsausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städebau einige Großstädte in den Vereinigten Staaten. Darunter befand sich das sogenannte Tor zum Westen St. Louis am Mississippi. Diese Stadt hatte zu Beginn der 50er Jahre etwa eineinhalb Millionen Einwohner. Heute sind es noch 390 000. Die anderen wohnen in einem Kranz von 90 - ich wiederhole: 90 - selbständigen Gemeinden außerhalb der Stadtgrenzen. Während Kinder und Jugendliche auf einigen breiten Boulevards in St. Louis Rollschuh und Skateboard fahren können, schieben sich die Autos auf den Highways zwischen Stadt und Umland. Ehemals dicht besiedelte Wohnquartiere in und am Rande der Innenstadt sind heute öde Brachflächen. Die Last der Unterhaltung und Erneuerung der für anderthalb Millionen Einwohner ausgebauten Infrastruktur trägt die geschrumpfte Stadt mit ihren größenteils verarmten Bürgern. Die Stadtflüchtigen, meist Wohlhabendere, zahlen in ihren Landreihenhäuschen nur einen Bruchteil der Steuern der Stadtbewohner.
Gewiß gibt es für diese extreme Situation, die allerdings für amerikanische Großstädte nicht untypisch ist, spezifische soziale, politische und geographische Gründe in den Vereinigten Staaten. Dennoch - deshalb habe ich dieses Beispiel gewählt - wurde in allen Gesprächen am Ort von baufachlichen und politischen Repräsentanten auf den Mangel an raumordnerischen Einwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hingewiesen. Ohne entsprechende Konzepte, Befugnisse und Kompetenzen der zuständigen Behörden kann der krassen Ungleichwertigkeit der Lebensbedingungen in den verschiedenen Räumen und Teilräumen nicht entgegengewirkt werden. Dies ist das Stichwort, das die politische Aufgabe der Raumordnung definiert: die Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in allen Räumen und Teilräumen eines Staates.
Wer einen Blick auf die räumliche Situation in der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung wirft, der wird feststellen, daß unsere Aufgabe, in absehbarer Zeit annähernd gleichwertige Lebensbedingungen in den neuen Bundesländern und dem Ostteil Berlins herzustellen, nicht geringer ist als die in so manchem Ballungsraum in den Vereinigten Staaten.
Doch bevor ich mich - mein Kollege Dr. Janzen wird dies später eingehender tun - dem Hauptproblem unserer Raumordnungsproblematik zuwende,
möchte ich auf den Raumordnungsbericht 1990 des Bundesbauministers eingehen. Dieser Bericht, der Ihnen vorliegt und dem die Entwicklung in den Jahren 1986 bis 1989 zugrunde liegt, stellt folgende Probleme als wesentliche Aufgabenschwerpunkte in der alten Bundesrepublik in den Vordergrund: erstens die stagnierende Bevölkerungszahl und die allmähliche Umkehrung der Alterspyramide; zweitens das StadtLand-Gefälle, das genau umgekehrt wie in den USA ist; drittens das Süd-Nord-Gefälle - das bedeutet: alte und moderne Industriestandorte -; viertens den drohenden Verkehrsinfarkt in Ballungsgebieten; fünftens die ökologischen Probleme, vor allem in altindustriellen Zonen; sechstens die Benachteiligung der Zonenrandgebiete.
Diese Probleme sind heute keineswegs gelöst, aber sie relativieren sich oder verschmelzen zum Teil mit den neuen, erheblich größeren, die seit der Vereinigung unserer beiden Teilstaaten entstanden sind:
Erstens. Aus dem leichten Süd-Nord-Gefälle der alten Bundesrepublik ist ein starkes West-Ost-Gefälle geworden.
Zweitens. Eine halbe Million sogenannter Binnenwanderer von Ost- nach Westdeutschland seit der Wiedervereingiung sind ein drastisches Signal für das ungleiche Niveau der Lebensverhältnisse in unserem Staat.
Drittens. Die veraltete und heruntergewirtschaf tete Infrastruktur in den neuen Ländern, vor allem auf dem Gebiete des Verkehrs, behindert eine rasche wirtschaftliche Entwicklung.
Viertens registrieren wir das Sterben großer, wettbewerbsunfähiger Industriezweige und die damit verbundene Arbeitslosigkeit.
Fünftens stellen wir eine im Vergleich zur alten Bundesrepublik ungleich schärfere Teilraumproblematik in Verbindung mit der jahrzehntelangen Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt fest.
Die Lösung dieser Probleme, die in dem ergänzenden Raumordnungsbericht 1991 dargestellt sind, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, daß Raumordnungspolitik keine rein innerdeutsche sein darf, sondern die europäische Dimension beachten muß. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, weise ich darauf hin, daß die Berichte der EG-Kommission sowie die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments von gravierenden Ungleichheiten zwischen den europäischen Regionen sprechen. Das Europäische Parlament spricht darüber hinaus von der Bildung besorgniserregender Ballungszentren mit sich verschärfenden sozialen Problemen. Es heißt in dem Bericht - ich zitiere -:
Freie Marktwirtschaft allein kann diese Probleme nicht lösen. Sie fördert die Eigeninteressen der Unternehmer, die aus diesen Disparitäten Nutzen ziehen.
Zurück zur Bundesrepublik Deutschland: Die Anhörung der Fachleute im Ausschuß am 15. Januar dieses Jahres ergab die Notwendigkeit, zum Teil neue - jedenfalls flexiblere -, den veränderten und vergrößerten Aufgaben angepaßte Instrumente der Raumordnungspolitik einzusetzen. Dieser Forderung kommt die gemeinsame Beschlußempfehlung aller Fraktionen nach, die Ihnen vorliegt. Sie markiert den Übergang von einer nachvollziehenden, Fehlentwicklungen korrigierenden Politik, die ihren Niederschlag in den vierjährigen Raumordnungsberichten fand, zu einer vorausschauenden Raumentwicklungspolitik auf der Grundlage durchdachter politischer Konzepte.
Die Berichterstattung als Grundlage der Erarbeitung der richtigen Instrumente und Konzepte soll bleiben. Wegen der verschärften Problemlage fordert der Ausschuß allerdings den Bericht schon 1993 und nicht erst 1994/95.
Er soll über die Inhalte bisheriger Berichte hinaus die räumlichen Auswirkungen der Verkehrsentwicklung und -planung, der Rüstungskonversion, der Binnenwanderung, insbesondere der Ost-West-Wanderung sowie der grenzüberschreitenden Wanderungen, des landwirtschaftlichen Strukturwandels, der Entwicklung des Fremdenverkehrs und der Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 für die Regionen Bonn und Berlin berücksichtigen.
Außerdem soll er eine differenziertere Raumtypisierung als bisher enthalten. Als Beispiel nenne ich einmal einen ländlichen Raum in Mecklenburg-Vorpommern, der einem ländlichen Raum in der Region Bonn keineswegs gleicht.
Der entscheidende neue Aspekt der vom Ausschuß geforderten Raumordnungspolitik ist jedoch der Orientierungsrahmen, den wir im Herbst 1993 von der Bundesregierung erwarten. Er soll die raumordnungspolitischen Zielvorstellungen bis zum Jahr 2000 enthalten.
Ausgehend von der insgesamt günstigen dezentralen Raum- und Siedlungsstruktur der alten Bundesrepublik erwarten wir von diesem Orientierungsrahmen ein räumliches Leitbild für die gesamte Bundesrepublik Deutschland. Dieses Leitbild soll so strukturiert sein, daß es zugleich Modellcharakter für eine europäische Raumordnungspolitik haben kann.
Sein inhaltlicher Schwerpunkt muß der Abbau des starken Gefälles zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil unserer Republik sein. Dazu gehören u. a. klare Vorstellungen zur Verbesserung der regionalen Standortqualitäten sowie die Darstellung eines funktionsfähigen Verkehrssystems mit einer Vernetzung der einzelnen Räume und der verschiedenen Verkehrsträger. Dabei sind die den ökonomischen gleichwertigen ökologischen Erfordernisse voll zu berücksichtigen.
Wenn wir bei dem raumordnungspolitischen Konsens bleiben, daß die traditionell dezentrale Struktur in der Bundesrepublik Deutschland mit mittleren und kleineren Zentren, die vielfältig auf den umliegenden ländlichen Raum ausstrahlen, weiter gefördert wird, dann wird der Orientierungsrahmen auch die zukünftige Rolle Berlins umreißen. Im Ausschuß sind wir uns einig, daß Berlin seiner Bedeutung entsprechend auszubauen ist, daß aber zugleich einer Metropolenbildung zu Lasten anderer Teilräume, vor allem in den
neuen Bundesländern, entschieden entgegenzuwirken ist.
Schließlich sollte der Orientierungsrahmen den Versuch wagen, die Aufgabe unseres Landes, als Brücke zwischen West- und Osteuropa zu dienen, zu skizzieren. Diese Aufgabe ist als Angebot an unsere Nachbarn darzustellen, sich über raumordnungspolitische Konzepte zu beiderseitigem Nutzen zu verständigen. Erste Ansätze dazu sind mit unseren östlichen Nachbarn bereits gemacht; mit den westlichen Nachbarn geht es um eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Rahmen der EG und um regionale grenznahe Konzepte.
Neben seiner inhaltlichen hat dieser Orientierungsrahmen auch eine wichtige formalpolitische Aufgabe. Er soll die Grundlage für den Bund sein, mit den Ländern die erforderlichen Abstimmungen zu treffen. Es ist kaum zu fassen, aber wahr und von den Experten in der Anhörung am 15. Januar heftig kritisiert worden: Die Bundesregierung ging bisher ohne raumordnungspolitisches Konzept in die Gespräche mit den Ländern. Und damit meine ich nicht nur diese Bundesregierung, sondern auch frühere Bundesregierungen. Das hat es vorher nicht gegeben.
Das muß sich sofort ändern - im Interesse des Bundes sowie der Länder und Gemeinden. Denn die Vertreter dieser beiden Organe haben in der oben erwähnten Anhörung die Konzeptionslosigkeit des Bundes beklagt. Ein raumordnungspolitisches Leitbild, dem die dezentrale Siedlungsstruktur unserer Republik zugrunde liegt und das die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in allen Teilräumen zum Ziel hat, schadet der Planungshoheit der Länder und Gemeinden nicht. Es fördert vielmehr den effektiven Einsatz ihrer Ressourcen.
Schließlich wird der raumordnungspolitische Orientierungsrahmen, falls er denn professionell gemacht ist, das Ansehen des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau aufpolieren helfen, das in den letzten Jahren durch seine konzeptionslose Wohnungsbaupolitik arg in Mißkredit geraten ist.
({0})
- Herr Dr. Kansy, eine Rede ohne Kritik - und ich glaube, an dieser Stelle ist sie angebracht - hat wenig Sinn, zumal wenn sie von der Opposition kommt.
({1})
Ein derartiger Orientierungsrahmen erfordert nämlich die vorherige Ab- und Übereinstimmung mit anderen Fachministerien, z. B. Wirtschaft, Verkehr und Umwelt. Wenn die Ministerin ihren zweifellos kompetenten Raumordnungsfachleuten hilft, indem sie diesen unabdingbaren Konsens zwischen den verschiedenen Fachpolitikbereichen herstellt - und das wird mit Herrn Möllemann und Herrn Krause Kraftanstrengungen erfordern -, dann wir die SPD sie unterstützen, den raumordnungspolitischen Beitrag zur Beschleunigung der Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu leisten.
Ich danke Ihnen für das geduldige Zuhören. Ich bin in der Zeit geblieben.
({2})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Hans-Wilhelm Pesch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sage es vorweg: Die Raumordnungspolitik hat in der politischen Auseinandersetzung sicher nicht den Stellenwert, der ihr eigentlich zukommen müßte. Wie anders ist es zu erklären, daß die parlamentarische Behandlung der anstehenden Raumordnungsprobleme immer wieder verschoben worden ist und der Eindruck entstand, daß gerade diese Debatte im Plenum als so etwas wie das fünfte Rad am Wagen behandelt wird, so als lästige Pflichtübung, als sei eine Debatte über Raumordnungspolitik weniger wichtig als - ich sage das jetzt etwas scherzhaft - manch andere Debatte z. B. über die TA Luft in Mikronesien, die hier geführt wird.
Im Ernst, meine Damen und Herren: Wer will denn eigentlich die Notwendigkeit einer funktionierenden Raumordnungspolitik in Frage stellen, wenn nicht wir selber, in allen parlamentarischen Gremien der Bundesrepublik? Wer verneint eigentlich die Notwendigkeit eines raumordungspolitischen Orientierungsrahmens? Wer bezweifelt eigentlich, daß ein gemeinsamer Anlauf von Bund und Ländern notwendig ist, um ein gemeinsames Raumordnungsprogramm zu erstellen.
Die besonderen Probleme in den neuen Bundesländern sind so offensichtlich, daß sie einer raumordnerischen Lösung unbedingt bedürfen; ohne dabei natürlich die Problemstellungen in den alten Bundesländern zu übersehen.
Bundesinteressen sind in ein europäisches Raumordnungskonzept einzubringen, weil wir sonst Gefahr laufen, von der Brüsseler Administration und deren Vorstellungen von europäischer Raumordnung überrollt zu werden. Wir in der Bundesrepublik bekennen uns zu unserer föderalen Struktur. Wir sind sicher mit großer Mehrheit der Meinung, daß diese föderale Struktur für den weiteren Auf- und Ausbau eines geeinten Europas modellhaft sein kann.
Meine Damen und Herren, diese föderale Struktur hat aber auch nicht zu übersehende Nachteile, wenn es darum geht, z. B. bundesdeutsche Interessen in gesamteuropäische raumordnungspolitische Entwicklungen einzubringen.
Wir haben 16 Bundesländer. Das heißt: Wir haben es mit 16 oft sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Raumordnungspolitik zu tun. Hier gilt es also unter Umständen, diese 16 verschiedenen Ansichten in vielen Teilbereichen der Raumordnungspolitik unter einen Hut zu bringen - unter den Hut einer gemeinsamen deutschen Raumordnungspolitik. Diese Raumordnungspolitik steht unter dem großen Anspruch, gleichwertige Lebensverhältnisse in oft höchst unterschiedlichen Lebensräumen zu schaffen.
Ich betone noch einmal, daß für die gesamte Bundesrepublik eine einheitliche Raumordnungspolitik
betrieben werden muß. Der Bund muß die Chance erhalten, den raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen in eigener Kompetenz zu erstellen. Es geht nicht an, daß die Länder parallel und nicht mit dem Bund abgestimmte eigene Raumordnungspolitik betreiben, die sich dann nur sehr schwer in ein bundesdeutsches Gesamtkonzept einfügen läßt. Ich stelle fest, daß bei einem solchen Verfahren Bundesraumordnungspolitik und deren Durchsetzung im europäischen Konzert wenig Chancen hat, ja vielleicht überhaupt keine Chancen hat.
Der Bund kann und muß seine Kompetenzen durch einen Orientierungsrahmen wahrnehmen. Das heißt, es muß ein klarer Vorrang vor den Länderinteressen bestehen, wobei sicherlich ein Zusammenwirken der einzelnen Verantwortungsträger unbedingt notwendig ist. Bei gegenseitiger Auskunftspflicht - da hapert es; das haben wir auch bei der Anhörung feststellen müssen - muß ein Gebot der Abstimmung mit Ländern und Gemeinden gegeben sein. Diese Vorgehensweise liegt im Interesse der Länder und Gemeinden.
All diese vorgenannten Schwierigkeiten, meine Damen und Herren, nehmen wir in Kauf, ja gerne in Kauf, weil uns allen daran gelegen ist, unsere dezentrale Struktur in der Bundesrepublik zu erhalten. Europäische Raumordnungspolitik kann diese dezentralen Strukturen beeinflussen, ja vielleicht gefährden. Deshalb ist es, um es noch einmal zu sagen, unbedingt notwendig, daß wir im europäischen Raumordnungskonzept unseren deutschen Part wohl abgestimmt mit einbringen.
({0})
Mit der europäischen Einigung, meine Damen und Herren, werden die Entwicklungschancen der Ballungsräume größer und die des ländlichen Raumes laufen Gefahr, kleiner zu werden.
Wir haben es in der Bundesrepublik Deutschland mit zwei Hauptproblemkreisen zu tun. Einmal ist es die Ost-West-Situation innerhalb der Bundesrepublik bzw. deren Erweiterung auf die osteuropäischen Länder mit all den strukturellen Anpassungsproblemen, und zweitens ist das der europäische Integrationsprozeß schlechthin. Das alles bedeutet eine Verschärfung struktureller Anpassungsprobleme. Diese Anpassungsprobleme werden besonders im ländlichen Raum auftreten.
Gleichwertige Entwicklung von Stadt und Land ist oberstes Gebot. Dieses Gebot braucht nicht unbedingt die Quadratur des Kreises zu sein. Ich glaube, es gibt eine Reihe von Ansätzen und Konzepten, die einer grundsätzlich neuen Raumordnungspolitik nicht bedürfen. Was aber dringend erforderlich ist, ist eine Neubestimmung der raumordnungspolitischen Zielsetzung des Bundes. Kernpunkt ist eine ökonomisch wie ökologisch aufeinander sinnvoll abgestimmte Raumordnungspolitik. Noch einmal hervorzuheben ist die dezentrale Raum- und Siedlungsstruktur der Bundesrepublik im Gegensatz zu den meisten Nachbarländern in der EG.
Ich nannte den Abbau des Ost-West-Gefälles innerhalb der Bundesrepublik als oberstes Gebot. Durch
Infrastrukturverbesserungen in den Regionen gilt es, den Standort Deutschland in seiner Qualität zu sichern und zu verbessern. Von großer Bedeutung ist dabei die Verbesserung und der Ausbau des Straßennetzes unter besonderer Berücksichtigung von Schienen und Wasserwegen.
Ich hebe noch einmal folgende Eckpunkte für einen raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen besonders hervor: Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse - nicht unbedingt gleichartige - in allen Teilen der Bundesrepublik, Erhaltung der dezentralen Siedlungs- und Raumstruktur, Ausbau der natürlichen Ressourcen, Ausbau der Brückenfunktion Deutschlands zwischen West- und Osteuropa. Auf das raumordnerische Konzept für die neuen Bundesländer wird sicherlich mein Kollege Otto noch ausführlich eingehen.
Ich fasse weitere Eckpunkte einer flexiblen Raumordnungspolitik zusammen, die eine große und neuartige Herausforderung für diese Politik darstellen: Es sind die deutsche Einheit, der europäische Binnenmarkt, die Erweiterung der EG zu einem europäischen Wirtschaftsraum inklusive osteuropäischer Staaten, die Umwälzungen in Osteuropa.
Meine Damen und Herren, mit den vorliegenden Berichten liegt zum erstenmal eine Analyse der Raumordnungssituation der neuen Bundesländer im Vergleich zur Situation der alten Bundesländer vor. Auf den meisten Gebieten zeigen sich große Ungleichgewichte zwischen den alten und neuen Bundesländern auf. Raumordnung kann hier die große politische Aufgabe der Integration der neuen Bundesländer in die föderative Gemeinschaft mit den alten Bundesländern übernehmen. Richtige Raumordnungspolitik bedeutet Beschleunigung dieses notwendigen Integrationsprozesses.
Raumordnungspolitik darf und kann keine Superplanung sein. Raumordnungspolitik darf keine Politik des Gleichmachens aller Räume sein. Raumordnungspolitik muß Entfaltungsmöglichkeiten auf dem Prinzip der gleichwertigen Entwicklung der Regionen und Teilräume aufzeigen und fördern. Hier muß die Vielfältigkeit, nicht die Uniformität im Vordergrund stehen. Raumordnungspolitik muß den Abbau des Wohlstandsgefälles innerhalb der Bundesrepublik unterstützen und gleichzeitig die Brückenfunktion zwischen Ost und West nutzen, um einen Abbau des europäischen Ost-West-Wohlstandsgefälles zu ermöglichen.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind sicherlich Dimensionen, die uns erst einmal kräftig Luft holen lassen. Nehmen wir uns da nicht zuviel vor!
Bei den eingangs erwähnten Schwierigkeiten im bisherigen, kleineren Deutschland - ohne die Problematik, die Raumordnungspolitik in europäischen Dimensionen zu sehen - sind Bundestag und Bundesrat gleichermaßen aufgefordert, sich diesen neuen raumordnungspolitischen Erfordernissen im Miteinander und nicht im Gegeneinander zu stellen. Abstimmung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden tut Not. Wir brauchen den raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen notwendiger denn je. Wir brauHans-Wilhelm Pesch
chen größere Beachtung der Raumordnungspolitik auf allen Ebenen.
Ich möchte zum Schluß noch einmal allen danken, die an der Erstellung der beiden vorliegenden Berichte mitgewirkt haben. Gleichzeitig erhebe ich an die Bundesregierung die Forderung - das möchte ich noch einmal unterstreichen -, den nächsten Raumordnungsbericht bereits 1993 vorzulegen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Frau Kollegin Lisa Peters, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident, ich danke für das Wort.
Herr Pesch, ich stimme Ihnen zu: Die Raumordnungsberichte müssen mehr Raum erhalten. Ich glaube, wir sind aber selbst ein bißchen verantwortlich - das geht an unsere parlamentarischen Geschäftsführer oder wer immer das aushandelt dafür zu sorgen, daß wir eine andere Zeit bekommen. Es sollte darauf geachtet werden. Ich denke, da müßten wir anfangen.
Meine Herren! Meine Damen! Die Ziele und Aufgaben der Raumordnung sind ganz klar definiert. Raumordnerisches Ziel ist es, über die bestmögliche Verteilung verschiedener Raumnutzungen zu einer optimalen Gestaltung und Entwicklung des Raumes zu gelangen. - So steht es irgendwo geschrieben. Da aber das Nebeneinander verschiedener Nutzungen in einem und demselben Raum zu erheblichen Konflikten führen kann, muß man zu Problemlösungen kommen.
Die Bundesregierung erstattet deshalb im Abstand von vier Jahren - wir wiederholen uns bestimmt ein bißchen; das läßt sich aber nicht ändern - dem Deutschen Bundestag einen Bericht über die räumliche Entwicklung des Bundesgebiets. Der letzte Raumordnungsbericht umfaßt den Berichtszeitraum von, glaube ich, 1987 bis 1989. Hier ging es um Schwerpunktthemen wie Gefälle der Regionen, ländlicher Raum, Wirtschaft, Umwelt und europäische Zusammenarbeit.
Am 18. Juli 1990 wurde dem 11. Deutschen Bundestag der fortgeschriebene Bericht zugeleitet. Im Zuge der Ereignisse um die Wiedervereinigung konnte der Bericht nicht mehr diskutiert werden. Der federführende Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat den Raumordnungsbericht sehr eingehend und ausführlich im 12. Deutschen Bundestag in sieben Sitzungen angesprochen und diskutiert. Weitere zehn Ausschüsse - ich denke, deshalb hat der Bericht eine ganz große Bedeutung - waren mitberatend tätig. Im wesentlichen wurde Zustimmung signalisiert. Eine Expertenanhörung fand statt. Darüber ist schon von meinen Vorrednern gesprochen worden. Sie war sehr aufschlußreich und brachte uns viele Erkenntnisse.
Durch den langen Berichtszeitraum von vier Jahren können die Angaben und Daten nicht mehr den letzten, den aktuellen Stand haben. In den Berichtszeitraum dieses Raumordnungsberichts fiel die deutsche Wiedervereinigung. Die Bundesregierung und das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau haben umgehend reagiert und die völlig neue Situation aufgenommen. Bereits ein Jahr später, mit Datum vom 30. August 1992, wurde der Raumordnungsbericht 1991 vorgelegt.
Hier ging es um eine neue, völlig veränderte Ausgangslage und um neue Aufgaben. Dafür - das wurde, glaube ich, von allen Mitgliedern des Ausschusses so gesehen und auch so gesagt - gebührt der Bundesregierung ausdrücklich Dank. Wir haben jedenfalls ein Handwerkszeug an die Hand bekommen, mit dem sich arbeiten läßt.
Raumordnungsberichte sind nach meiner Ansicht gute Nachschlagewerke. Sie treffen Aussagen über die vergangenen Zeiträume; sie informieren über die Gegenwart und wagen einen Blick in die Zukunft. Ich denke, dies ist die wesentliche Aufgabe, soll dieses Planungsinstrument positiv angewandt werden.
Diese Raumordnungsberichte sprechen eine ganz klare Sprache, zeigen Defizite auf. Viele Statistiken und Tabellen ergänzen den Textteil. Gutes Kartenmaterial trägt zur Verdeutlichung bei. Die Bestandsaufnahme ist perfekt. Jeder sollte diese Raumordnungsberichte einmal ab und zu in die Hand nehmen, ganz gleich, in welchen Ausschüssen er arbeitet.
Der Bericht 1990 befaßte sich mit den Schwerpunktthemen Nord-Süd-Gefälle und europäischer Binnenmarkt. Diese Themen spielten in der Diskussion der Jahre 1986 bis 1989 eine große Rolle.
Ein Nord-Süd-Gefälle war unbedingt auszumachen. Es gab überwiegend gute Beschäftigung und eine weitere Zunahme der Bevölkerung in den südlichen Bundesländern, ein Abwandern von Bürgern und Bürgerinnen aus den nördlichen Regionen der alten Länder. Als Beispiel: Die Hansestadt Hamburg verlor in diesem Berichtszeitraum 10 % ihrer Bevölkerung.
Inzwischen, das wissen wir, sind die Dinge umgekehrt. Heute, 1992, stellen sich die Probleme ganz anders dar. Nichts ist mehr so, wie es war. Durch die Wiedervereinigung und die offenen Grenzen in Europa hat sich einfach vieles verändert. Wir müssen wesentlich schneller reagieren, uns anpassen, uns mit den neuen Gegebenheiten auseinandersetzen. Wies die Volkszählung 1987 noch weniger Menschen aus, als man durch die Fortschreibung angenommen hatte, so müssen wir heute mit steigenden Bevölkerungszahlen rechnen. Nur schwer schaffen wir es, mit dem Zustrom an Übersiedlern, Aussiedlern und Asylbewerbern fertigzuwerden. Die Wohnraumbeschaffung ist schwierig. Die Integration befindet sich nach meiner Ansicht erst in den Anfängen.
Innerhalb der Familien verändert sich viel. Die Haushalte, besonders in den großen Städten, werden kleiner. Der Trend zum Ein-Personen-Haushalt wächst, jeder dritte wohnt allein. Hierdurch steigt der Wohnraumbedarf. Das berührt ja auch die Anliegen unseres Ausschusses; wir beschäftigen uns sehr viel damit. Die Infrastruktur muß dadurch verändert werden.
Für mich stellt sich wirklich die Frage - damit sollten wir uns einmal beschäftigen -, ob der Staat überhaupt noch in der Lage ist, diesen gewünschten veränderten Lebensverhältnissen Rechnung zu tragen.
Planungen werden immer schwieriger, nehmen Zeit in Anspruch. Auf der anderen Seite ist die Mobilität gesunken. Wanderungen in der Bundesrepublik finden nur noch in einem kleinen Umkreis von 50 km statt. Weitere 20 % der Bevölkerung ziehen in benachbarte Zentren im Umkreis von 50 bis 100 km. Daraus kann man schließen, daß wir doch sehr, sehr bodenständig sind.
Insgesamt, so sagt der Bericht aus, haben wir es noch mit einer ausgeglichenen Raum- und Siedlungsstruktur zu tun. Die Verteilung unserer Ober-, Mittel- und Unterzentren ist als fast ideal zu bezeichnen. Dadurch werden Wanderungsbewegungen aufgefangen, und die Versorgung ist gewährleistet. Herr Schloten, Sie haben das alles schon angemerkt. Allerdings gibt es Engpässe, bedrückende Situationen in der Kindergartenversorgung. Diese völlig unzureichende Versorgung mit Kindergartenplätzen wird zunehmen; so weist es der Bericht aus. Aber auch Frauen wollen vermehrt berufstätig sein. Wir müssen darauf reagieren. Ganz aktuell haben wir die passende Gelegenheit dazu in der nächsten Woche, wenn wir einige Dinge im Zusammenhang mit § 218 festschreiben. Gemeinden und Städte dürfen aber mit diesen Problemen nicht alleingelassen werden.
Auch über die Finanzstruktur, über das Gefälle beim Steueraufkommen, den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, Kreisen und Gemeinden sagt der Raumordnungsbericht viel aus. Dabei ist hevorzuheben, daß in dem Berichtszeitraum und davor eine starke Konsolidierung der Bundeshaushalte festgestellt werden konnte. Diese Konsolidierung konnte allerdings nicht fortgeführt werden. Es war die Aufgabe der Bundesregierung, sie hatte es sich zum Ziel gesetzt. Aber durch die Wiedervereinigung wuchsen die Finanzmittel enorm, die dafür in Anspruch genommen werden mußten.
Dieser neuen Aufgabe müssen wir uns nun stellen. Sie wird unsere ganze Kraft und Verständnis von allen Seiten erfordern. Wir müssen aufeinander zugehen, miteinander arbeiten, zuhören, planen und dann handeln. Das ist von uns gefordert. Diese Herausforderung hat meine Fraktion angenommen.
Wir müssen aber noch viel Arbeit leisten. Ideen sind gefragt; Miesmachen bringt uns nicht weiter. Ich beziehe mich da auch auf die Debatte, die ich heute teilweise miterlebt, teilweise am Fernsehgerät gesehen habe. Nur eine klare Analyse kann weiterhelfen.
In der ehemaligen DDR wurde im Herbst 1990 ein Bericht erstellt. Diese Daten unterlagen oft der Geheimhaltung, Herr Janzen, wie Sie sagten. Aber jetzt sind diese Dinge eingeflossen. Meine Vorredner haben es schon gesagt: Wir haben den zusätzlichen Bericht 1991 auf den Tisch bekommen.
Dazu kam die Anhörung durch die Experten und die Vertreter der drei kommunalen Spitzenverbände. Übereinstimmend wurden wir mit großer Deutlichkeit
auf die Situation der ländlichen Räume und der Ballungsgebiete hingewiesen. Hier muß die Politik umgehend reagieren. Die ländlichen Räume müssen gestärkt werden. Sie benötigen in Zukunft eine noch bessere und gut durchdachte Infrastruktur.
Die Lebensverhältnisse können nicht überall gleich sein. Für eine Angleichung müssen wir jedoch arbeiten. Es darf nicht dazu kommen, daß die Ballungsgebiete, die Großstädte, weiter an Bevölkerung zunehmen, die ländlichen Räume jedoch ausgedünnt werden. Anzeichen dafür sind - das wurde uns klargemacht; wir wissen es auch selbst - schon klar erkennbar. Doch noch können wir gegensteuern. Die Experten fordern uns intensiv dazu auf.
Die nächsten Jahre werden für den ländlichen Raum schwer werden. Der Strukturwandel in der Landwirtschaft trägt dazu bei. Er ist eingeläutet und leider nicht mehr aufzuhalten. Es wird Aufgabe des Bundes, der Länder, der Gebietskörperschaften und der Unternehmer sein, im ländlichen Raum vermehrt Arbeitsplätze zu schaffen. Hierbei sind Frauenarbeitsplätze besonders wichtig; sie müssen vor Ort vorhanden sein.
Die Verkehrsbelastung durch lange Wege zum Arbeitsplatz ist heute nicht mehr tragbar; sie nimmt sogar noch zu. Die Verkehrssysteme sind den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Eine bessere Abstimmung zwischen dem Individualverkehr und dem öffentlichen Personennahverkehr ist unabdingbar. Hier haben wir keine Zeit zu verlieren.
Große Aufgaben sind zu erledigen. Ich denke an die Auflösung der Nationalen Volksarmee, an die Reduzierung der Bundeswehr, an den weiteren Abzug der alliierten Streitkräfte, an dadurch freiwerdende Übungsplätze und Liegenschaften, an die Beplanung dieser Gebiete und an die Hinführung zu neuen Nutzungen. Diese Aufgaben erfordern unsere ganze Kraft, finanzielle Mittel und Zusammenarbeit. Konversion heißt das Zauberwort.
Die nächsten Jahre werden uns viel abverlangen. Die deutsche Einheit muß vollzogen werden. Hierzu zähle ich insbesondere die wohl auch schwierige Schaffung einer inneren Einheit. Die offenen Grenzen in der EG zum 1. Januar 1993 stellen uns vor eine neue Situation. Die Grenzen zu Osteuropa sind gefallen; man erwartet unsere Hilfe.
Wir können dankbar sein, wenn es uns gelingt, uns und den anderen Ländern den Frieden zu erhalten. Wir haben kein Verständnis für das Blutvergießen und die mutwillige Zerstörung der Städte und Dörfer in Jugoslawien.
Diese Herausforderungen der nächsten Jahre wollen wir aufnehmen. Im Bauausschuß gab es - es ist schon gesagt worden - eine große Übereinstimmung sowohl in der Analyse als auch beim Überdenken der sich stellenden Anforderungen an die kommenden Jahre. Übereinstimmend sind wir der Auffassung, daß uns der nächste Raumordnungsbericht schon im Jahre 1993 vorgelegt werden soll. Die Ministerin hat zugesagt. Dafür danke ich herzlich.
Es zeigt sich, daß wir unter den dargestellten Verhältnissen einen weiteren raumordnungspolitiLisa Peters
schen Orientierungsrahmen benötigen und daß dieser zwingend geboten ist. Das andere Europa, die Grenzen zu den Nachbarstaaten - Raumordnung kann an der Grenze nicht haltmachen -, die Binnenwanderung, die Ost-West-Wanderung, der landwirtschaftliche Strukturwandel, die zukünftige Entwicklung des Fremdenverkehrs, dem sicher eine größere Bedeutung beizumessen ist, sollen die Themen des nächsten Berichts sein. Aber auch unsere Entscheidung, die wir am 20. Juni 1991 zugunsten von Berlin getroffen haben, erfordert eine besondere Untersuchung der Räume Bonn und Berlin.
Raumordnung gewinnt an Aktualität. Berichte, die kurzfristig abgegeben und beraten werden, sind eine gute Arbeitsgrundlage. Diese aktuelle Arbeitsgrundlage benötigt der Deutsche Bundestag. Wir müssen unvermeidbare Entwicklungen rechtzeitig erkennen können, notfalls umplanen und verändern. Nichts ist mehr beständig und auf Dauer angelegt. In der Raumordnung bringen uns nur klare Konzepte weiter. Wir Menschen haben es in der Hand, die Zukunft zu gestalten, ein Gleichgewicht herzustellen, indem wir Arbeiten, Wohnen, Verkehr, Umwelt, Erholung, Kultur und viele andere Ereignisse aufeinander abstimmen und berücksichtigen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Norbert Otto das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Raumordnungsbericht 1991 und dem ergänzenden Teil liegen erstmalig umfassende Analysen über den wirtschaftspolitischen Zustand der ehemaligen DDR vor, ohne parteipolitische Wertung, also nachweisbare Fakten, Zahlen und Zusammenhänge.
Ein ernüchterndes, ja, ein erschreckendes Bild zeichnet sich uns nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft ab. Deprimierend ist diese Bilanz auch für mich und meine Generation. Wir haben 40 Jahre lang in dieser DDR gelebt. Wir waren nicht faul. Wir haben gearbeitet, aber wir haben uns gedreht wie die Mäuse im Rad. Die Gesellschaftsordnung hat es nicht zugelassen, daß wir effektiv arbeiten konnten. Einige Zahlen mögen das verdeutlichen.
Bei der Stromversorgung beträgt im westlichen Teil Deutschlands der Anteil der Verstromung von Braunkohle 19,5 %; im Osten Deutschlands sind es noch 78,8 % - mit allen damit verbundenen negativen Belastungen. Im Westen sind 93 % der Wohnungen und Häuser an öffentliche Kläranlagen angeschlossen, im Osten 58 %. Negative Folgen auf die Umwelt: Verseuchung unserer Grundwasserressourcen. Die Wohnungen im Westen Deutschlands sind um rd. 10 qm größer pro Einwohner. Im Westen stehen pro Einwohner rd. 37 qm zur Verfügung; im Osten sind es nur 27 qm. Makaber ist es bei der Lebenserwartung. Die Lebenserwartung im Osten Deutschlands ist um 2 Jahre niedriger als im Westen Deutschlands. Sehr
eindrucksvolle Zahlen, die sich sicherlich auch weiter ergänzen ließen.
Der Raumordnungsbericht, diese deprimierende Analyse, ist die eine Sache. Es gilt jetzt, die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Überwindung der Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern ist angesagt. Leicht gesagt, aber schwer umgesetzt. Aber unter dieser Zielstellung sind wir eben angetreten. Wir müssen diese Unterschiede in Deutschland beseitigen, nicht dadurch, daß wir eine neue Trennung mit neuen Parteien, die sich abzeichnen, vollziehen. Wir müssen aber die Unterschiede deutlich darstellen. Das haben wir in der CDU/ CSU-Fraktion gemacht. Wir haben uns zusammengeschlossen, Sie haben das gelesen, und wir ostdeutschen Abgeordneten wollen mit Nachdruck der Bundesregierung unsere Probleme auf den Tisch legen. Ich glaube, es hat auch schon in Ansätzen gefruchtet.
Der Bauausschuß hat sich mit dem Raumordnungsbericht sehr intensiv auseinandergesetzt. Wir haben festzustellen, daß die Raumordnung zwar ein ausgezeichnetes Instrument zur ausgewogenen Entwicklung der Bundesländer bietet, aber Ressortdenken hat eine komplexe Betrachtungsweise, ein untereinander abgestimmtes Handeln und Planen aus meiner Sicht doch noch ziemlich behindert.
In einer gemeinsamen Empfehlung des Bauausschusses fordern wir die Bundesregierung auf, durch raumordnerische Orientierung eine ausgewogene Entwicklung in den jungen Bundesländern zu gewähren. Es soll dabei nicht der Fehler der sozialistischen Planwirtschaft nachvollzogen werden. Das haben wir hinter uns. Aber es ist notwendig, daß mit ordnungspolitischen Maßnahmen auf eine ausgewogene Entwicklung Einfluß genommen wird. Das betrifft z. B. die strukturschwachen Räume; das sind zum großen Teil die ländlichen Räume oder mit Konversion belastete Gebiete. Das ist in hohem Maße in den neuen Bundesländern zu verzeichnen.
Von besonderer Bedeutung - das haben die Experten in der Anhörung dargestellt - ist die verkehrliche Erschließung der Räume. Alle guten Absichtserklärungen zur Entwicklung in den jungen Bundesländern sind unreal, wenn die Entwicklungsgebiete nicht erreichbar sind, wenn sie nicht an leistungsfähige Verkehrstrassen von Straße und Schiene angebunden sind. Hier hat sich trotz vieler Gemeinsamkeiten, die wir mit unseren SPD-Kolleginnen und -Kollegen haben, damals ein mir unerklärlicher Widerspruch aufgezeigt, als die SPD nicht mit uns für das Verkehrsbeschleunigungsgesetz gestimmt hat. Es ist notwendig, daß bestehende Verkehrsbedingungen schnell modernisiert und ausgebaut werden und daß an diesen Trassen Wirtschaftsgebiete angelagert werden, z. B. an dem Trassenkorridor Eisenach-ErfurtGera.
Im Bereich des Wohnungs- und Städtebaus ist es von vordringlicher Bedeutung, daß in den neuen Bundesländern für die Schaffung von Wohneigentum das richtige Klima geschaffen wird. Das ist bei uns noch nicht vorhanden. Schaffung von Wohneigentum ist bei uns noch der Ausnahmefall und nicht die Regel.
Norbert Otto ({0})
Die ländliche Siedlungsstruktur muß erhalten und gefördert werden. Insbesondere sind in unseren Städten mit ihren bauhistorischen Zentren Maßnahmen zur Erhaltung des Kulturerbes vorzunehmen. Wir haben davon in den neuen Bundesländern sehr viel zu bieten. Denken Sie nur an meine Heimatstadt Erfurt - 1 250 Jahre Erfurt - mit dem größten historischen Stadtkern deutscher Städte!
Raumordnung in den jungen Bundesländern bedeutet aber auch Steuerung der Wirtschaftsstrukturpolitik. Der Selbstlauf der Marktwirtschaft funktioniert eben nur dann, wenn die Marktwirtschaft vorhanden ist. Wir haben eine solche Wirtschaftsstruktur der Marktwirtschaft noch nicht. Wir sind noch weit davon entfernt.
Mit der gemeinsamen Entschließung des Bauausschusses haben wir die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in den jungen Bundesländern formuliert. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie mit dem Orientierungsrahmen, der 1993 vorzulegen ist, die Maßnahmen ableitet, die für die Beseitigung des im Moment noch vorhandenen hohen Niveauunterschiedes geeignet sind.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Ulrich Janzen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich bedaure, daß wir hier zu so später Abendstunde im kleinen Kreise sitzen. Aber ich glaube, das ist eine Entwicklungsfrage.
({0})
- Ein erlesener Kreis.
Die Geschwindigkeit der Veränderungen der räumlichen Entwicklung in Deutschland und Europa macht ... eine Neubestimmung der raumordnungspolitischen Zielsetzungen des Bundes erforderlich.
So heißt es in unserer gemeinsamen Beschlußempfehlung des Ausschusses an den Bundestag zu den beiden Raumordnungsberichten 1990 und 1991. Im gleichen Absatz dieser Drucksache wird die Bundesregierung ersucht, bis zum Herbst 1993, wie hier schon gesagt, einen raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen vorzulegen.
In diesen Empfehlungen stecken zwei bemerkenswerte Ansprüche, deren tiefere Bedeutung, so glaube ich, außerhalb des engen Kreises der Fachexperten bei weitem noch nicht erkannt wurde. Zunächst wird auf Tempo gedrängt. Das leuchtet jedem angesichts der großen Aufgaben sicher ein, die die Veränderungen im Herbst 1989 bewirkt haben und um deren Bewältigung sich alle bemühen, dabei mehr oder weniger gute Vorschläge unterbreiten, aber im großen und ganzen relativ hilflos dastehen. Das kann und darf nicht so bleiben, da es letztlich auch uni die Stabilisierung der Lage in Europa geht. Schnelles, aber auch richtiges Handeln wird also von allen verlangt.
Zum zweiten wird ein Orientierungsrahmen gefordert. Was ist damit gemeint? Zunächst einmal schlicht ein Sprung von der Quantität in die Qualität. Bislang stellten die Raumordnungsberichte stets - so auch die zur Beratung anstehenden - eine hervorragende Analyse des Ist-Standes bzw. der zurückliegenden Entwicklung dar. Sie waren aber quasi nur die spezifische Ergänzung oder Auslegung des Statistischen Jahrbuchs für die einzelnen Fachministerien. Es fehlten abrechnungsfähige Schlußfolgerungen für die weitere Arbeit. Es fehlte aber vor allem die Koordinierung der Fachbereiche.
Wenn z. B. für die jetzt vorliegenden Berichte 1990 und 1991 die Mitberatung des Verkehrsausschusses in den ausgedruckten Einladungen wiederholt über Wochen schlechthin vergessen worden war und dieser für die Raumordnung so eminent wichtige Ausschuß zu einer ganztätigen Anhörung von Fachexperten nicht hinzugezogen wurde, sondern im Nebenraum seine eigene Tagesordnung abarbeitete, so spricht das für mich Bände. Wir haben auf diesem Gebiet der interdisziplinären Zusammenarbeit noch viel zu tun.
Deshalb gibt es die Forderung an die Regierung, einen raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen als Programm zu erarbeiten, der ohne eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung der einzelnen Fachministerien nicht möglich ist.
Im Raumordnungsgesetz vom Juli 1991 sind die Grundsätze der Raumordnung sowie deren Geltungsbereich festgelegt. Sie haben nunmehr auch für das Gebiet der neuen Länder Gültigkeit bekommen.
Dieses Gesetz zielt auf die Einhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilräumen, einer Prämisse, die Ausgangs- und Endpunkt des auf zustellenden Orientierungsrahmens sein muß.
Der Begriff „gleichwertige Lebensverhältnisse" fixiert jedoch Wertmaßstäbe, die einer differenzierten Definition bedürfen. „Gleichwertige Lebensverhältnisse" kann weder heißen, in jedes Dorf gehört ein Schwimmbad oder ein Theater, noch kann das bedeuten, jeder Stadtkern braucht lärmfreie Bioreservate - um es einmal extrem auszudrücken. Gleiche Lebensverhältnisse, das ist die Erfüllung unterschiedlichster Bedürfnisse an hierfür geeigneten Orten als Angebot der Raumordnung an alle Bürger des Landes oder deren einzelnen Regionen.
Was den Raumordnungsberichten, aber auch dem Raumordnungsgesetz als Eindruck anhaftet, ist die scheinbare Aufgabe einer begleitenden und kontrollierenden Funktion des Bundes und der Landesbehörden statt einer eingreifenden Ordnungspolitik.
Nun werden mir einige entgegenhalten: Das hatten wir in der ehemaligen DDR, und dort hat es versagt: Es stimmt: Die Planwirtschaft hat - aus welchen Gründen auch immer - versagt. Das kann und darf aber heute nicht zum Alibi für die Vernachlässigung jeglicher Planvorgaben werden; denn Planlosigkeit bringt immer Fehlinvestitionen. Weil die derzeit größte Zahl der Investitionen im Osten Deutschlands durch Fördermittel gestützt wird, besteht gerade hier für die Organe der Raumordnung ein hoher Grad der Verantwortung.
Die wirtschaftliche Situation in den neuen Ländern ist, raumordnungspolitisch gesehen, in einem nicht geringen Umfang Folge von Planlosigkeit. Ob dies nur eine Übergangserscheinung darstellt, ist noch nicht erkennbar.
Ich möchte an einigen Beispielen verdeutlichen, wie notwendig gerade jetzt raumordnerische Orientierungen sind, und zwar nicht nur als Lippenbekenntnisse.
Die verheerenden Auswirkungen vieler Entscheidungen der Treuhand auf die Raumordnungspolitik möchte ich hier ausklammern. Sie sind ein Sonderthema und werden mit Sicherheit eines Tages als negative Schulbeispiele in die Geschichte der Raumordnung eingehen.
({1})
Nun die schlaglichtartigen Beispiele: Vor wenigen Tagen erhielt ich ein Flugblatt der F.D.P.-Fraktion des Landtages Mecklenburg-Vorpommern. Liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P., nehmen Sie mir diese Kritik an Ihrer Partei bitte nicht übel.
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- Das ist nicht persönlich gemeint. - Es handelt sich dabei um eine Darstellung der mangelhaften Raumordnungspolitik, deren Ergebnisse sicher im nächsten Raumordnungsbericht zu finden sind, statt jetzt bereits einzugreifen.
In diesem Flugblatt sind für Mecklenburg-Vorpommern in einer Übersichtskarte 117 neue Standorte für Gewerbegebiete ausgewiesen. Meine örtlichen Kenntnisse bestätigen mir, daß es noch weit mehr gibt. Für diese ist ein Flächenbedarf von mehr als 3 400 ha eingeplant.
Die Zielstellung als solche erscheint unter dem Sammelbegriff „Aufschwung Ost" zunächst richtig und deckt sich auch mit den Aufgaben und Zielvorstellungen der Raumordnung im Raumordnungsgesetz. Aber abgesehen davon, daß diese ausgewiesenen Gewerbegebiete im wesentlichen Handelsplätze oder Absatzplätze für Produkte aus den Altländern werden, sollten sie nach Gerüchten ein angemeldetes Arbeitsplatzangebot ausweisen, daß die Bevölkerungszahl des Landes bereits überschreitet. Welch herrliche Perspektiven!
Warum führe ich dieses Beispiel trotzdem an? Weil es mit Raumordnungspolitik nichts zu tun hat. Jeder Bürgermeister kann in seiner Gemeinde zur Zeit machen, was er will. Darum entstehen Gebietsstrukturen mit unabsehbaren negativen Folgen. In Dörfern mit wenigen Einwohnern werden große Handelseinrichtungen gebaut, für die es dort weder Käufer noch Personal gibt. Was man hat, ist zunächst der Erlös aus dem Bodenverkauf. Man zieht dann natürlich auch Fördermittel an und erhofft sich schließlich Steuereinnahmen zur Sanierung der Gemeinde. Diese Sanierung wird sich dann in Form von neuen Straßen für die Gemeinde vollziehen; zusätzliche Parkplätze usw. werden geschaffen, weil nämlich sofort sowohl Käufer als auch Personal aus den umliegenden Orten anreisen. Natürlich sind diese Parkplätze in der Regel nur
mit dem Privat-Pkw erreichbar. Eines Tages wird als Folge schließlich auch ein neues Wohngebiet in der Gemeinde erforderlich. Mein Urteil zu dieser Situation ist deshalb ganz schlicht: Hier muß endlich Raumordnungspolitik wirksam werden, die nichts mit Planwirtschaft, wohl aber etwas mit Planen zu tun hat.
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Wenn, um zum nächsten Beispiel zu kommen, der sogenannte Saale-Park im Dreieck Halle - Leipzig - Bitterfeld auf der grünen Wiese in Autobahnnähe mit 6 000 Kundenparkplätzen in der Presse als größtes Einkaufszentrum Deutschlands und großes Aufschwungobjekt Ost umjubelt wird, so sage ich hier sogar: Im Raumordnungsgesetz fehlt ein Paragraph mit Ordnungsstrafen für Fehlentscheidungen.
({4})
Mir scheint, als ob viele noch gar nicht erkannt haben, was hier gegenwärtig passiert, oder ist es Betriebsblindheit? Wann bitte geben wir es zu, daß 40 Jahre Aufbau in den alten Ländern auch 40 Jahre Zersiedelungspolitik waren, die zu einer der Ursachen der übermäßigen Steigerung des Individualverkehrs geworden ist, den es doch wirklich nicht noch weiter zu fördern gilt. Die mangelhafte interdisziplinäre Zusammenarbeit spielt dabei natürlich ebenfalls eine große Rolle. Das ist auch der Grund für unsere Forderung nach einem Orientierungsrahmen, der für alle gilt und der wirklich Schlußfolgerungen aus dem Raumordnungsbericht zieht.
Gestatten Sie mir, noch zwei weitere kleine Beispiele aus den Bereichen Verkehr und Wirtschaft vorzutragen.
Von meiner Heimatstadt Stralsund gab es bislang zur bekannten und beliebten Insel Hiddensee täglich bis zu sechs Fährverbindungen; ab 1. Juni sind es nur noch drei Fährverbindungen. Dafür wurde von dem kleinen Ort Schaprode auf der Insel Rügen die Zahl der Fährverbindungen nach Hiddensee mit nun täglich 14 Fahrten verdoppelt. Ursache der Veränderung ist die Wirtschaftlichkeitsberechnung des neuen Schiffsreeders der Weißen Flotte, weil die Strecken von Rügen kürzer sind. Daß aber damit der Autoverkehr über den Rügendamm, ein Nadelöhr erster Ordnung, weiter erhöht wird, statt ihn zu drosseln, merkt zur Zeit offenbar noch keiner der Verantwortlichen. Auch das ist Raumordnung.
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- Die sitzen ja in der Kreisverwaltung. Die müßten das ja eigentlich merken.
Oder: Wenn in Dresden die Grundtarife im S-Bahn-Verkehr ab 1. Juni von 2,50 DM auf 4 DM erhöht werden, dann ist auch hier von einer Abstimmung der Fachbereiche nichts erkennbar. Der Umfang des Individualverkehrs wird aus Kostenüberlegungen - niedrigere Autokosten - zunehmen, und der ÖPNV wird aus wachsendem Mangel an Fahrgästen bald weitere Preiserhöhungen vornehmen müssen. Hier berühren wir zwar schon Grundfesten der Politik der freien Marktwirtschaft, müssen aber trotz8072
dem erkennen, welche unübersehbaren Tendenzen von derart einseitigen Überlegungen ausgehen können.
Mit diesen wenigen Hinweisen wollte ich die Bedeutung der Raumordnungspolitik nochmals unterstreichen und auch zeigen, daß die Lektüre der einzelnen Kapitel der Raumordnungsberichte tatsächlich zu Schlußfolgerungen herausfordert. Deshalb ist auch die Anhörung der Fachexperten im Januar 1992 ein Markstein für die zukünftige Raumordnungspolitik geworden, bekräftigte sie doch in vielfältigster Weise die Notwendigkeit eines neuen Orientierungsrahmens mit konkreten Zielstellungen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch einmal die Arbeit der Institute und Akademien zu dieser Thematik ganz besonders würdigen, weil sie uns bei der Erreichung des von uns angestrebten Ziels durch fundierte Untersuchungen hervorragend begleiten.
Eine der wichtigsten Aufgaben, vor der wir alle zur Zeit stehen, ist der Bau von Wohnungen für zirka 2,5 Millionen Wohnungssuchende. Wie jeder weiß, werden Wohnungen überwiegend mit Fördermittelzuschüssen gebaut. Aber nur an diejenigen werden derartige Mittel ausgereicht, die schon selbst über genügend Kapital verfügen. Im Klartext heißt das: Dort, wo Armut herrscht - damit meine ich die Gemeinden, die zwar dringend Sozialwohnungen bauen müßten, aber eben nicht genügend Gegenmittel im Haushalt haben -, wird diese nicht abgebaut, sondern nur die kapitalkräftigen Gemeinden können in den Fördertopf greifen, weil sie den geforderten Anteil zahlen können. Die Ballungsräume werden sich dadurch weiter verdichten und stärken: dort, wo das Geld ist. Die bisher Zurückgebliebenen bleiben weiterhin zurück. Das kann nicht Sinn unserer Raumordnungspolitik sein. Ich sehe es deshalb als eine Aufgabe des geforderten Orientierungsrahmens an, die Fördermechanismen raumordnungspolitisch zu differenzieren und zu novellieren.
Wie Sie sehen, läßt die grundsätzlich positive gemeinsame Bewertung der Raumordnungsberichte in der vorliegenden Beschlußvorlage eine Vielzahl von Gedankenspielen offen.
Zum Abschluß möchte ich deshalb noch ein für einige von Ihnen sicherlich sensibles Thema aufgreifen, weil ich es als Politiker, besonders aber als Planer, als der ich mein Leben lang tätig war, für außerordentlich wichtig im Rahmen unserer Raumordnungsdebatte halte. Wir alle, besonders wir aus den neuen Ländern, quälen uns redlich mit dem sogenannten Aufschwung Ost. Wie wir wissen, hat diese Qual viele verschiedene Ursachen. Aber die größten Hemmnisse - das weiß inzwischen schon jedes Kind - liegen ohne Zweifel in den vielen ungeklärten Eigentumsverhältnissen an Grund und Boden.
({6})
Auch die große Runde im Kanzleramt vor drei Wochen mußte sich mit dieser Thematik befassen und hat offenbar erkannt, daß neue Regelungen dringend geboten sind. Wenn wir heute im Plenum über Raumordnungspolitik reden, dann gehört dieses Thema wegen der ursächlichen Auswirkung ebenfalls in den Punktekatalog.
Ich selbst sehe für diese zweifelsfrei immer bleibenden negativen Wirkungen auf vernünftige Planungen nur einen einzigen konsequenten Ausweg - das ist meine Zukunftsvision -: Grund und Boden müssen generell Gemeindeeigentum bleiben oder in solches überführt werden. Nur über Pachtverhältnisse und Erbbaurecht erreichen wir zukunftsträchtige Verhältnisse. Hiervon träumen Architekten und Planer übrigens seit Menschengedenken. Die Zahl der Bürgermeister, die dieser Vision nachhängen, wird nach der derzeitigen Leere-Kassen-Etappe sicherlich erheblich zunehmen. Erst wenn ein Zustand der flexiblen Bodenverfügung erreicht ist, wird es sinnvolle, demokratisch entschiedene und für Gemeinden optimale Planungs- und Strukturlösungen geben. Erst dann wäre Schluß mit den Bodenspekulationen, dem Gelderwerb ohne Leistung. Die Wohnungsmieten richteten sich nur noch nach dem Pachtzins und den Baupreisen, also nach tatsächlich erbrachten Leistungen. Auch der kleine Geschäftsmann könnte dann im Zentrum einer Stadt seine Fähigkeiten beweisen und würde nicht von vornherein einer Bank oder Versicherungsanstalt unterliegen, weil er den Bodenpreis nicht entrichten kann. In meiner Stadt liegt er im Zentrum inzwischen bei 2 300 DM pro Quadratmeter.
Für Raumordner und Planer ist das eine Zukunftsvision. Da wir aber heute der Regierung den Auftrag zur Aufstellung eines Orientierungsrahmens für die Raumplanung erteilen wollen, gehören dazu auch Zukunftsüberlegungen, die es uns ermöglichen, Qualitätssprünge zu erzielen, die wir dringend benötigen. Sonst steuern wir weiter in Richtung Sackgasse.
Meine Damen und Herren, ich sehe unsere gemeinsame Beschlußempfehlung als einen wichtigen Schritt in dieser Richtung und bin deshalb selbst auf der Oppositionsbank optimistisch, auch im Hinblick auf die von Frau Minister Schwaetzer ins Leben gerufene Kommission „Zukunftsstadt 2000", die sicher ebenfalls auf diesem Weg einen Fortschritt bietet.
({7})
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Franz Möller das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Janzen, ich glaube, daß Ihre Vision der Kommunalisierung von Grund und Boden wohl nicht der richtige Ansatz ist, um alle Probleme lösen zu können.
({0})
- Ich will die Kommunalisierung von Grund und Boden nicht in die Ecke der Sozialisierung stellen. Aber man muß dabei doch überlegen, daß sie auch - ({1})
- Nell-Breuning ist sicherlich ein sehr ehrenwerter Mann gewesen.
({2})
Er hat das gefordert. Aber darüber ist hier im Bundestag schon sehr häufig geredet und debattiert worden. Es hat sich erwiesen, daß es kein richtiger Weg war.
Meine Damen und Herren, wir haben heute sehr viel Richtiges gehört. Auch die raumordnerischen Folgen der deutschen Einigung, auch die Probleme der europäischen Einigung sind dabei angeklungen. Wir dürfen aber neben diesen beiden wirklich wichtigen Themen andere Themen nicht vergessen; auch das ist schon angesprochen worden. Es handelt sich um die Frage: Wie geht es in unserem ländlichen Raum weiter?
Der ländliche Raum wird häufig als strukturschwacher Raum bezeichnet. Aber auch hochverdichtete Räume wie etwa Berlin, Hamburg und München können strukturschwach sein, weil deren Wirtschaftsstruktur eben nicht mehr den Anforderungen entspricht.
In den beiden vorliegenden Berichten wird sehr deutlich, wie wenig sinnvoll und wenig hilfreich es ist, den Gegensatz positive Verdichtung und problematischer ländlicher Raum zu benutzen. Die Realität ist viel differenzierter, wie auch aus den täglichen Nachrichten über die Lage in den Ballungskernen hervorgeht.
Dieser Vielschichtigkeit versuchen die guten Raumordnungsberichte gerecht zu werden, was verständlicherweise aber kaum gelingen kann. Das zeigt sich insbesondere auch bei der Beschreibung des ländlichen Raumes. Der ländliche Raum in MecklenburgVorpommern, Herr Kollege Janzen, ist nun einmal völlig anders strukturiert als etwa das bayerische Alpenvorland oder das Umland großer Verdichtungsräume etwa hier im westlichen Bereich.
({3})
- Ja, in der Tat richtig. Man muß das schon konzentrieren. Deshalb will ich auch diesen Kernpunkt ansprechen, weil er nicht nur eine Ost-West-, sondern auch eine europäische Dimension hat, wie ich gleich noch darzulegen versuche.
Der ländliche Raum ist also keine abgeschlossene Kategorie. Ländliche Räume gibt es auch in unmittelbarer Nähe hochbesiedelter Räume.
All das hat natürlich Auswirkungen auf die Strukturschwäche und auf die Strukturstärke. Die unterschiedliche Strukturierung führt zu unterschiedlichen Entwicklungsfähigkeiten und damit zu unterschiedlichen Anforderungen an die Politik von Bund und Ländern. Auch wenn es also den ländlichen Raum nicht gibt, was zur Differenzierung zwingt, so möchte ich dennoch einige ganz generelle Aussagen zur Problematik des ländlichen Gebietes versuchen. Ich will es ganz kurz machen.
Der ländliche Raum ist in seiner Vielfalt unverzichtbar für die Sicherung der land- und forstwirtschaftlichen Produktion, für Freizeit und Erholung, für Landschaftspflege und ökologischen Ausgleich. Nicht zuletzt ist er wichtig für eine ausgeglichene Siedlungsstruktur generell. Dabei sollten die ländlich gebliebenen Gebiete nicht nur Freiräume mit Ausgleichsfunktionen für die Ballungszentren sein, sondern als eigenständige Regionen und Bereiche mit erkennbaren Entwicklungschancen behandelt werden.
Die Raumordnungspolitik muß darauf ausgerichtet sein und war darauf ausgerichtet, in einer Kombination von Maßnahmen zur Verbesserung der allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit speziellen Förderhilfen den Strukturwandel behutsam, aber auch nachhaltig zu unterstützen. Grundsätzlich müssen also die verschiedenen Politikbereiche von Bund und Ländern, aber auch von Gemeinden und Kreisen aufeinander abgestimmt und die einzelnen Maßnahmen gebündelt werden.
Nicht immer gelingt das, wie ein Beispiel aus unserer Region in Nordrhein-Westfalen zeigt, das Beispiel der Wasserversorgung und vor allen Dingen der Abwasserentsorgung. Durch richtige Forderungen des Bundesumweltministers an die Inhaltsstoffe und die Reinigung von Abwässern, die dann richtigerweise mit zusätzlichen Forderungen der Landesregierung kombiniert werden, erhöhen sich die Kosten für die Abwasserbeseitigung im ländlichen Raum in einem Ausmaß, das in keinem Verhältnis mehr zu den Kosten in den größeren Städten steht. Dadurch wird das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse konterkariert.
Die Gebühren und Beiträge für Abwasseranlagen in ländlichen Gemeinden liegen inzwischen bei uns in Nordrhein-Westfalen bei dem Drei- und Vierfachen dessen, was hierfür in den Großstädten zu zahlen ist. Dazu, Herr Kollege Schloten, ein paar Zahlen: Die durchschnittliche Gebühr für die Abwasserbeseitigung liegt in Nordrhein-Westfalen bei 2,50 DM/m3, in einigen Gemeinden mit Streusiedlungen und schwieriger topographischer Lage bei 8 bis 9 DM. Während z. B. in der Landeshauptstadt Düsseldorf die Bürger nur 2,40 DM, die in Köln, in Ihrer Heimatstadt, Herr Schloten, 3,20 DM zu zahlen haben
({4})
Mülheim an der Ruhr; dann habe ich das falsch gesehen und die Einwohner meiner Kreisstadt noch mit 4,10 DM auskommen, werden die Bürger 5 km weiter, in Hennef, mit 8,15 DM und in Windeck, wo Ihr früherer wissenschaftlicher Referent zu Hause ist, mit 9,26 DM zur Kasse gebeten.
({5})
- Der Forderung, den Finanzminister zu beteiligen,
stimme ich zu. Aber hier sind erst einmal die Landesminister gefragt. - Davon sind gerade die Bürger in
den ländlichen Bereichen mit niedrigerem Einkommen ganz besonders betroffen. Diese Situation widerspricht eklatant dem Grundsatz, daß alle Kommunen die gleichen Chancen haben müssen, wenn der Grundsatz gleichwertiger Entwicklung Bestand haben soll.
Entweder müssen die Anforderungen an den Umweltschutz und den Gewässerschutz verringert oder wenigstens zeitlich gestreckt werden - aber das wollen wir wahrscheinlich alle nicht , oder das Land muß seine Förderpraxis und seine Zuschüsse auf die Notwendigkeiten der ländlichen Zone anpassen und die Mittel für Abwasserentsorgung zugunsten dieser Gemeinden ändern. Sonst sind gleichwertige Lebensverhältnisse nicht zu erwarten. Die Gefahr der Abwanderung wird steigen, und damit bekommen wir weitergehende schwierige Probleme.
Neben der Lösung solcher regionaler Disparitäten und der Gestaltung der deutschen Einheit - die Kollegen haben das alles sehr richtig dargestellt müssen wir uns auch um den europäischen Einigungsprozeß ganz besonders bemühen. Ich will nicht vertiefen, was Herr Kollege Pesch und die anderen dazu gesagt haben. Es gibt von der Kommission eine sehr interessante Darstellung - „Europa 2000" -, in der es heißt, daß 80 % der Fläche der Europäischen Union auf den ländlichen Raum entfällt, dieser aber nur von 10 bis 20 % der Bevölkerung bewohnt wird. Das ist ganz besonders beachtenswert. Die meisten ländlichen Regionen in Europa sind relativ benachteiligt, was den materiellen Lebensstandard, das Arbeitsplatzangebot und die sozialen Einrichtungen betrifft. Wir werden bei künftigen Raumordnungsaktivitäten neben der innerdeutschen Entwicklung auch diesen europäischen Notwendigkeiten unsere herausgehobene Aufmerksamkeit widmen müssen. Die Probleme haben internationales Ausmaß angenommen.
National wird unser Augenmerk - das ist eben schon in einigen Beiträgen zum Ausdruck gekommen - in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren auch auf die Auswirkungen des Beschlusses vom 20. Juni 1991 gerichtet sein. Wir haben die Bundesregierung gebeten, in ihrem 1993 zu erwartenden Bericht zu den Fragen der Strukturanpassung und des Strukturwandels für Berlin und Bonn Stellung zu nehmen. Ich meine, daß sich die Bundesregierung dabei schon auf die heute verabschiedeten Berichte der Konzeptkommission und der Föderalismuskommission beziehen kann.
Der Bundestag wird sich in der nächsten Woche - nach genau einem Jahr - mit diesem Thema befassen. Inzwischen hat die Bundesregierung mit Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen in der Föderalismuskommission und mit Zustimmung der Konzeptkommission des Bundestages bekräftigt, daß in Bonn geschlossene Politikbereiche gebildet werden sollen und daß entsprechende Einrichtungen des Bundes diese Politikbereiche in Bonn anreichern sollen. Auf diese Weise sollen in Bonn Arbeitsplätze gesichert werden. Aber diese 7 400 Stellen, die dadurch gesichert werden sollen, sind im Verhältnis zu den 25 000 Arbeitsplätzen, die hauptstadtbedingt wegfallen, nur ein schwacher Trost.
Dieser Beschluß vom 20. Juni, den wir nächste Woche diskutieren werden, stößt wegen der damit verbundenen hohen Kosten sicherlich mehr und mehr auf Widerspruch in der Öffentlichkeit. Ich glaube, wir werden dazu noch einiges sagen können. Aber der heute im Ältestenrat gefundene Kompromiß - wenn man ihn denn so nennen kann - ist ein guter Versuch, zu einer Befriedung und zu einem Ausgleich zwischen den beiden Städten zu kommen und zu erreichen, daß Bonn und Berlin in der weiteren Entwicklung in Deutschland eine ganz besonders wichtige Rolle spielen werden. Im nächsten Raumordnungsbericht der Bundesregierung wird Gelegenheit sein, das näher zu quantifizieren und näher darzulegen. Ich meine, daß uns die Bundesregierung die nötigen Zahlen über die Strukturanpassung und die Entwicklung in unserem Raum geben wird.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Darf ich Sie kurz nach dem Inhalt dieses Ältestenratsbeschlusses fragen.
Herr Kollege Schloten, dann müßte ich jetzt 34 Seiten vortragen. Es ist eine Bestätigung dessen, was die Bundesregierung bereits in der vorletzten Woche gesagt hat: daß ein fairer und beständiger Ausgleich zwischen Bonn und Berlin gefunden werden soll, daß in Bonn Politikbereiche angesiedelt werden sollen, daß Berlin Hauptstadt und der Sitz der Bundesregierung ist, daß es aber auch in Bonn Standorte für Ministerien geben soll und daß entsprechend dem Beschluß der Föderalismuskommission zusätzlich zu den Politikbereichen Einrichtungen nach Bonn kommen sollen.
Das war eine Zwischenfrage und die Antwort darauf.
Damit kommen wir zum letzten Redebeitrag in dieser Debatte. Er kommt von dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, unserem Kollegen Joachim Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Raumordnerische Zielvorgaben sind Orientierung für Politik und Verwaltung und somit heute notwendiger denn je. Ich glaube, das hat die Mehrzahl der heutigen Beiträge verdeutlicht. Herr Dr. Janzen, Sie haben uns deutlich die Situation im Osten vor Augen geführt. Bis auf Ihre Vision der Zukunft möchte ich das voll akzeptieren. Das ist der Ist-Zustand; damit müssen wir leben.
Zu klären ist, welche Konsequenzen für die räumlichen Entwicklungen in unserem Land nach den großen Umwälzungen in Deutschland und ganz Europa zu ziehen sind und welche Leitvorstellungen das künftige raumwirksame Handeln bestimmen sollen. Die noch bestehende äußere Teilung und die zum Teil entstehende innere Teilung müssen für uns Anstoß sein, auch über die gewandelten Funktionen der Raumordnung als Mittel zur gleichgewichtigen
räumlichen Entwicklung nachzudenken. Wir müssen Antworten finden, wie wir mit raumordnerischen Mitteln zur inneren Einheit und zum Zusammenhalt unseres Landes beitragen können.
Für die Überprüfung der Leitbilder und ihrer Weiterentwicklung sind zwei zentrale raumordnerische Maximen des Raumordnungsgesetzes absolut unverzichtbar.
Die erste ist die Herstellung und Sicherung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den Teilräumen des Bundesgebiets. Dabei ist Gleichwertigkeit kein einmalig herzustellender Zustand. Sie ist eine Daueraufgabe und eine Art Richtschnur der Politik, die nach mittel- und langfristigen Orientierungsgrößen verlangt.
Hieran gemessen hat die Politik der Bundesregierung - trotz aller bestehenden Probleme - bereits einen beachtlichen Aus- und Angleichungsprozeß in Gang gesetzt. Das Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse wird auch weiterhin zentraler Maßstab der Raumordnungspolitik des Bundes sein. Dieser Maßstab verlangt nach Augenmaß und meint mit Sicherheit nicht jeweils örtliche und regionale Gleichheit. Ebenfalls darf er nicht dahingehend mißverstanden werden, es gebe überall einen Anspruch auf gleiche Förderung.
Die zweite maßgebende Maxime ist die Aufrechterhaltung einer dezentralen, ökonomisch starken und zugleich ökologisch tragfähigen Raum- und Siedlungsstruktur. Wer sie erhalten will, muß auch die Gefahren gegenläufiger Tendenzen ernst nehmen. Bereits heute sind unsere großen Verdichtungsräume in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt und überlastet. Dabei werden die positiven Wachstumseffekte des Binnenmarktes in besonderem Maße den wachstumsstarken Verdichtungsräumen zugute kommen und somit zu weiteren Überlastungserscheinungen führen können.
Hier bewegen wir uns an einer Schnittstelle von Raumordnungs- und Städtebaupolitik, so daß wir gut daran tun, sowohl die lokalen als auch die großräumigen Dimensionen dieser Entwicklung zu beachten.
Bei der gesamten Diskussion müssen wir aus teilweise eingefahrenen Gleisen herauskommen. Die starre Entgegensetzung von städtischen und ländlichen Räumen wird den Entwicklungen kaum noch gerecht. Beispielsweise gibt es den ländlichen Raum schon lange nicht mehr; die ländlichen Regionen übernehmen vielmehr sehr differenzierte ökonomisch-siedlungsstrukturelle und ökologische Funktionen. Hierauf wird der raumordnungspolitische Orientierungsrahmen weiterführende Antworten geben.
Hierzu einige Anmerkungen: Zuerst möchte ich mich bei Ihnen für den vorliegenden Entschließungsentwurf bedanken. Die Äußerungen zu dem Raumordnungsbericht 1990 sowie vor allem zu dem von 1991 sind eine Bestätigung für die wichtige Funktion der Raumordnungspolitik des Bundes. Sie kann man vielleicht mit dem Begriff „Koordination durch Information" treffend zusammenfassen.
Die Ausführungen zum raumordnungspolitischen Orientierungsrahmen werte ich als Aufforderung und Ermutigung für eine aktive Neugestaltung der Raumordnungspolitik.
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Für diese parteiübergreifende Unterstützung sage ich herzlichen Dank.
Die Ministerkonferenz für Raumordnung hat im Februar dieses Jahres einen Beschluß zur Erarbeitung dieses Rahmens gefaßt und den Bund um eine erste Vorlage gebeten. Der Verlauf der Gespräche war stark davon geprägt, was denn der Bund im Bereich der Raumordnung tun müsse oder zu lassen habe.
Für die Bundesregierung gelten dabei folgende Grundüberlegungen:
Erstens. Gemessen werden Bund, aber auch die Länder in der Öffentlichkeit nicht an Punktgewinnen bei Streitigkeiten über formale Kompetenzen, sondern an inhaltlich überzeugenden Problemlösungen.
Zweitens. Der Rat der Länder und die aktive Mitarbeit der Länder an dem Orientierungsrahmen ist selbstverständlich und willkommen. Für den Bund ist dabei sicherzustellen, daß gesamtstaatlich vertretbare Lösungen erreicht werden.
Drittens. Der raumordnungspolitische Orientierungsrahmen ist ein Raumordnungskonzept des Gesamtstaates und muß dementsprechend überregionale großräumige Aussagen treffen. Insofern ist die Bundesraumordnung mehr als die Summe von jetzt 16 Landesplanungen und muß dies aus der Natur der Sache heraus auch sein.
Viertens. Die Konturen des raumordnungspolitischen Orientierungsrahmens müssen deutlich sein; eine „Herunterkoordinierung" im Wege der Abstimmung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner darf es nicht geben. Das viel beschworene Bundesraumordnungsprogramm von 1975 - so hat man es mir zumindest gesagt - war wohl eher ein abschreckendes Beispiel für den Versuch einer gemeinsamen Planung von Bund und Ländern im Bereich der Raumordnung.
Und schließlich wird der Orientierungsrahmen nicht der Versuch einer Superplanung sein. Dies entspricht weder der Komeptenzverteilung auf horizontaler noch der auf vertikaler Ebene. Und mit umfassenden Planwerken sind in unserem Staat und besonders im Osten Deutschlands eher noch negative Erfahrungen verbunden!
Bei aller Konzentration auf die Weiterführung und Verbesserung der räumlichen Einheit Deutschlands gilt es auch, die europäischen Aspekte zu beachten und gleichzeitig einen aktiven Beitrag zur Vertiefung der räumlichen Verbindungen in Europa zu leisten. In diesem Sinne ist der Orientierungsrahmen auch ein nationaler Beitrag zu einer europäischen Raumordnung.
Wir haben eine klare deutsche Position zur Raumordnungspolitik in Europa. Der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit bei der Erarbeitung von Raumordnungskonzepten messen wir große Bedeutung bei.
Die Kommission benötigt klare Vorstellungen zur künftigen Raumentwicklung der Gemeinschaft. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, die Vielfalt der Gemeinschaftspolitiken besser zu beurteilen und aufeinander abzustimmen. Wir haben dabei auf den Raumordnungskonferenzen in Den Haag und kürzlich in Lissabon deutlich unsere deutsche Haltung zum Ausdruck gebracht: Zum ersten - gemeinschaftliche Raumordnungsvorstellungen, so notwendig sie sind, müssen von den Mitgliedstaaten und nicht von der Kommission entwickelt werden. Dabei leitet uns und andere europäische Länder der Gedanke, daß gemeinschaftliche Anstrengungen mit dezentralen, föderativen Strukturen durchaus vereinbar und produktiv sind.
({1})
Zum zweiten hat Deutschland in Europa eine ganz entscheidende Mittlerfunktion zwischen Ost und West eingenommen. Das geht weit über den rasant zunehmenden Transitverkehr hinaus. Wir nehmen diese Brückenfunktion aus einer festen Einbindung in die westliche Gemeinschaft heraus wahr. Wir wissen, daß gerade gegenüber dem Osten konstruktive Hilfen, jedoch nicht vordergründige Belehrungen angezeigt sind. Das Bundesbauministerium wird sich behutsam und pragmatisch mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen und Beratungen an den Hilfen für Osteuropa beteiligen. Nicht Patentrezepte und vollkommene Modelle wollen wir liefern, sondern den Partnerländern helfen, selbst geeignete Lösungen zu erarbeiten.
Drittens muß die Zusammenarbeit in unseren Grenzregionen weiterentwickelt werden. Der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auch an den Außengrenzen der Europäischen Gemeinschaft - besonders zu Polen und der CSFR - messen wir besondere Bedeutung zu. Für einen Teil unserer Bevölkerung wird dort täglich erfahrbar, was es mit Europa im Alltagsleben auf sich hat.
Trotz aller notwendigen Wandlungen müssen regionale Identitäten erhalten bleiben und Wege aufgezeigt werden, wie Deutschlands Gemeinden und Regionen in einem zusammenwachsenden Europa ihren Platz und ihre Chance der eigenen Entwicklung finden können. Dabei gehören Tradition und Wandel, Bewahren und Fortentwicklung untrennbar zusammen.
Die Bundesraumordnung wird hierzu ihren Beitrag leisten und einen wichtigen Baustein zur Zukunftsbewältigung in unserem Land liefern. Dies wird sich auch, wie gewünscht, im Raumordnungsbericht 1993 widerspiegeln.
Ich danke Ihnen.
({2})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 12/2143. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?
- Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einer Stimmer; naltung einstimmig angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Werner Schulz ({0}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Finanzierung der Einheit und die Verteilung der Lasten
- Drucksache 12/2235 Dazu liegt je ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe PDS/ Linke Liste vor.
Es ist eine Zehn-Minuten-Runde vereinbart worden. - Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erste Rednerin hat Frau Kollegin Dr. Höll das Wort.
({1})
- Der Antragsteller hat sich zu spät gemeldet. Aber wenn die Frau Kollegin Dr. Höll einverstanden ist, dann hat natürlich der Antragsteller zuerst das Wort. - Also, der Antragsteller bitte.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich danke Ihnen, daß ich als erster das Wort ergreifen kann. - George Bernard Shaw hat sicher nicht an Helmut Kohl gedacht, als er von den zwei Tragödien im Leben eines Menschen sprach: Die eine ist, nicht zu bekommen, was das Herz begehrt, die andere, es zu bekommen. Es ist unschwer zu sehen, daß wir nun den zweiten Teil der Tragödie erleben. Aber der Bundeskanzler freut sich sogar darüber, daß er diese Probleme hat; denn: Er hat ja die deutsche Einheit.
Aber, meine Damen und Herren, diese Geschichte hat einen kleinen Schönheitsfehler. Wir, die Menschen in Ostdeutschland, sind die Leidtragenden einer seit zwei Jahren völlig verfehlten Politik der sozialen und wirtschaftlichen Vereinigung. Wenn sich der Bundeskanzler darüber freut, zeigt dies nur, worum es ihm vor allem geht. Es geht ihm darum, was Bundespräsident von Weizsäcker als das größte Übel des Parteienstaates bezeichnet hat: Es geht ihm um die reine Macht.
Der Bundespräsident hat in einer überaus kritischen Beurteilung der Politik des Bundeskanzlers festgesellt: Sie zeigt sich als machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen Führungsaufgabe. Nirgendwo zeigt sich die Richtigkeit dieser Aussage besser als in den Ergebnissen der Politik dieser Regierung in Ostdeutschland.
Das Fatale ist, daß der ökonomische Erfolg dieser Politik bisher gänzlich ausgeblieben ist. Selbst den Kollegen und Kolleginnen der Regierungspartei dämWerner Schulz ({0})
mert dies inzwischen. Sie sollten wissen: Die Probleme lassen sich nicht mehr vertagen. Die Menschen in den neuen Bundesländern lassen sich nicht mehr mit hohlen Versprechungen vertrösten. Sie wollen, daß jetzt gehandelt wird.
Die vom Bundeskanzler kritisierten Experten haben vor zwei Jahren genau vor dem gewarnt, was nun eingetreten ist. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat schon im Februar 1990 in einem Brief vor den Folgen einer Wirtschafts- und Währungsunion für die östliche Wirtschaft gewarnt. HansKarl Schneider hat dabei auch auf die Folgen für die Finanzpolitik hingewiesen. Er schrieb damals:
Riesige Belastungen kämen auf die öffentlichen Haushalte zu. Es wären nicht nur erhebliche Steuererhöhungen unvermeidlich, es würden vielmehr auch öffentliche Mittel in Transfers für konsumptive Verwendungen gebunden, die bei der Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur fehlen müßten.
Der Bundeskanzler hat den Brief unter Verschluß gehalten und auch später die Warnungen nicht ernst genommen.
Die Folgen dieser Politik sind: Seit 1989 ist jeder zweite Arbeitsplatz in der verarbeitenden Industrie in Ostdeutschland abgebaut worden. Ein Entindustrialisierungsprozeß ohnegleichen hat stattgefunden, und er hält noch immer an. Vier Millionen Menschen sind heute arbeitslos, in Kurzarbeit oder in Frührente gegangen, arbeiten als Pendler im Westen oder sind gänzlich in den Westen übergesiedelt.
Meine Damen und Herren, Sie können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, mit welchen sozialen und psychologischen Folgen dies verbunden ist.
Die Kehrseite dieser Medaille ist der Zustand der öffentlichen Haushalte. 1991 und 1992 sind finanzielle Leistungen an die neuen Bundesländer notwendig geworden, die in der deutschen Geschichte beispiellos sind. Nach einer Auflistung der Deutschen Bundesbank waren es 1991 netto etwa 140 Milliarden DM, und 1992 werden es um die 189 Milliarden DM sein.
Darin eingeschlossen sind die Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit mit 25 bzw. 30 Milliarden DM und die Rentenversicherung mit 14 Milliarden DM für 1992. Auch hier suggeriert der Finanzminister, daß dies eine große Solidaritätsleistung der Bundesregierung sei. Zu einem beträchtlichen Teil sind es aber die Beitragszahlungen der westdeutschen Einkommensbezieher, die für den Ausgleich der Defizite der Bundesanstalt für Arbeit und der gesetzlichen Rentenversicherung in Ostdeutschland sorgen.
Bei der Finanzierung der Transfers für die neuen Bundesländer hat sich die Bundesregierung bisher an einer vernünftigen und gerechten Lösung vorbeigemogelt. Statt die notwendigen Mittel aus dem Einkommen, Gewinnen und Vermögenszuwächsen zu finanzieren, hat sie den leichten Weg über die Erhöhung der öffentlichen Verschuldung beschritten. Der Sachverständigenrat hat darauf aufmerksam gemacht.
Ausgesprochen grotesk ist allerdings der Vorschlag von Ex-Staatssekretär Würzbach, ein Pfennigopfer für den Osten zu bringen. Da zeigt sich eine völlig beschämende Geisteshaltung.
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Die Finanzpolitik der Bundesregierung beruht auf der Annahme, daß der durch die deutsche Vereinigung ausgelöste Wachstumsschub Steuermehreinnahmen ermöglichen werde, die zur Finanzierung des einigungsbedingten Mehraufwandes ausreichen würden. Diese Annahme hat sich als gänzlich unrealistisch erwiesen.
Statt einen Kurswechsel zu vollziehen, hat die Bundesregierung die Steuern erhöht und damit vor allem die unteren Einkommen belastet. Auf diese Weise ist die Finanzlage der öffentlichen Haushalte jedoch nur vorübergehend verbessert worden. Und: Der Optimismus des Finanzministers ist überhaupt nicht gerechtfertigt.
Soeben hat die Deutsche Bundesbank im neuen Monatsbericht festgestellt, daß sich die belastenden Faktoren in den kommenden Monaten wieder stärker durchsetzen werden. Das Defizit der öffentlichen Haushalte wird für 1992 dann wieder über 120 Milliarden DM liegen.
Aber die Schuldenentwicklung ist nur eines der Probleme; ein weiteres ist das Fehlen einer gerechten Verteilung der Lasten der deutschen Einheit. Sie werden zu einem beträchtlichen Teil auf zukünftige Generationen verlagert. Die heutigen Belastungen treffen vor allem die Bürgerinnen und Bürger mit niedrigen Einkommen. Dagegen haben die wirtschaftlichen Gewinner der deutschen Einheit bisher nur wenig zum Aufbau in den neuen Bundesländern beigetragen.
Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat deutlich auf diese Ungerechtigkeit hingewiesen. Ihm ist deshalb zuzustimmen, wenn er betont, daß sich nun die Aufgabe stellt, die Lasten in der gesamten Gesellschaft zu tragen und sie sozial gerecht auszugleichen.
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Und, um da keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht bei diesem neuen Lastenausgleich nicht um Wiedergutmachung, sondern um eine Investition in die Zukunft.
Auch die westlichen Länder und Gemeinden haben sich bisher zuwenig an der Finanzierung dieser Lasten beteiligt. Es ist nicht länger vertretbar, daß in Westdeutschland der Lebensstandard weiter ansteigt, während es im Osten am Nötigsten fehlt. Nicht nur der Bund, sondern auch die westlichen Bundesländer und Gemeinden müssen deshalb ihre Ausgabenpolitik neu festlegen.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie machen es sich zu einfach, wenn Sie an diesem Punkt die Hilfeleistung der alten Bundesländer nach oben rechnen. Die Bundesbank und ähnlich auch der Sachverständigenrat haben die Beiträge der westlichen Bun8078
Werner Schulz ({3})
desländer an den öffentlichen Finanztransfers für 1991 mit 8 Milliarden DM angegeben und für 1992 auf 12 Milliarden DM geschätzt. Sie sehen selbst: Diese Beiträge sind vergleichsweise bescheiden.
Was wir brauchen, ist eine grundsätzlich neue Prioritätenfestlegung, die dem Gebot der Gleichheit der Lebensverhältnisse gerecht wird. Nur eine solche Neuorientierung kann die erneute Spaltung Deutschlands verhindern. Dazu ist zunächst eine ehrliche und komplette Offenlegung der Finanzlage der Bundesrepublik notwendig.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, einen Bericht vorzulegen, der eine verläßliche Übersicht über die Kosten und Kostenrisiken liefert, die aus der deutschen Einheit resultieren. Ich schlage darüber hinaus vor, dazu ein Sondergutachten des Sachverständigenrats einzuholen.
Meine Damen und Herren, ein Kurswechsel in der Finanzpolitik muß vor allem folgende Prinzipien beachten.
Erstens. Die Finanzpolitik muß sich in Zukunft stärker am Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse orientieren. Ich fordere die Bundesregierung deshalb auf, die Initiative des Bundespräsidenten aufzugreifen. Ein neuer Lastenausgleich ist zur Herstellung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit notwendig. Hohe Einkommen und Vermögen und auch jene Einkommen und Vermögen, die durch die deutsche Einheit besonders begünstigt sind, müssen stärker als bisher an der Finanzierung der Lasten beteiligt werden.
Zweitens. Das Prinzip Aufbau Ost vor Ausbau West muß Vorrang erhalten. Dies bedeutet, daß zugunsten des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Bundesländern die Ausgaben in den alten Bundesländern eingeschränkt werden müssen.
Drittens. Zu einer gerechten Lastenteilung gehören auch die westlichen Länder und Gemeinden. Auch sie müssen jetzt ihren Anteil erbringen. Notwendig ist dazu eine Neuordnung des Finanzausgleichs und der föderalen Finanzbeziehungen insgesamt auf der Grundlage einer Solidargemeinschaft von Bund und Ländern.
Meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern wissen, daß die Angleichung der Lebensverhältnisse nicht über Nacht zu leisten ist. Sie erkennen aber auch, daß die Lasten bisher nicht gerecht verteilt wurden. Die Bundesregierung muß dies offenbar erst noch lernen.
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Nun hat als nächste Rednerin die Frau Kollegin Susanne Jaffke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir schwer, zu vorgerückter Stunde zu sprechen. Aber ich möchte dennoch wenige Worte sagen. Geld allein ist auch nicht alles.
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Es macht allein auch nicht glücklich.
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Ich habe mir als Mensch, der aus den neuen Bundesländern kommt, als Abgeordnete - nicht aus Ostdeutschland, sondern aus Mitteldeutschland - viele Dinge anders vorgestellt.
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- Nein, ich komme aus Mitteldeutschland. Ostdeutschland haben wir 1945 verloren. Dazu sollten wir uns endlich bekennen. Aber es ist nicht lohnend, darüber jetzt zu polemisieren.
Auch ich habe mir viele Dinge anders vorgestellt. Vor allem habe ich mir den Schaden, der ideologisch in uns gewachsen ist, nicht so schlimm vorgestellt. Ich hatte mir mehr gewünscht, daß zu den Geldtransfers auch Eigeninitiativen schneller erwachsen.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich nehme Rücksicht auf das anwesende Protokoll und gebe meine Rede zu selbigem.
({3})
Dies kann gern getan werden, Frau Kollegin, wenn das Haus mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung einverstanden ist. Sollte dies der Fall sein?
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Es gibt niemanden, der dagegen ist. Dann ist dies so
beschlossen. Die Rede wird zu Protokoll gegeben. *)
Als nächste hat die Frau Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Aussagen der Bundesregierung gipfeln in der frohen Botschaft, durch Einsparungen, Subventionskürzungen und Zuwachsbegrenzungen in den öffentlichen Haushalten über 80 % der sogenannten einigungsbedingten Kosten finanzieren zu können.
Der Bundesfinanzminister übt sich in der Kunst, Belastungen, die auf die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden zukommen werden, in die Zukunft zu verschieben, und zwar ganz zufällig auf die Zeit nach der nächsten Bundestagswahl. Der Kreditabwicklungsfonds soll nun erst 1994 aufgelöst und die Treuhand-Lasten sollen erst 1995 von den öffentlichen Haushalten übernommen werden.
Zeigt man sich jedoch von der Gesundbeterei Waigels und den Jubelarien seiner Gemeinde unbeeindruckt und wendet man sich den Fakten zu, wie sie z. B. in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage zur Staatsverschuldung enthalten sind, dann stellt man fest:
Die Bundesregierung hat die Dimensionen der ökonomischen, ökologischen und sozialen Vereinigung der beiden deutschen Staaten grob unterschätzt.
*) Anlage 6
Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode Dr. Barbara Höll
Ihre praktische Politik hat keine Achse und ist widersprüchlich. Der Erhalt des Produktionsstandorts Ostdeutschland falls er überhaupt Ziel der Politik der
Bundesregierung ist verlangt nach einer politischen Schwerpunktsetzung, nach längeren Planungs- und Handlungszeiträumen und vor allem nach einer dem Bedarf angepaßten und angemessenen ausreichenden Finanzierung.
Die Politik der Bundesregierung hat eine nur noch mit den Verwüstungen nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbare Zerstörung des ostdeutschen Industriepotentials herbeigeführt. Was dann die Deindustrialisierung noch übriggelassen hat, findet bestenfalls als verlängerte Werkbank westdeutscher Unternehmen Verwendung. Das ist die Realität.
Die Folgen dieser Politik könnten selbst bei einem jährlichen Wachstum der Industrieproduktion um 10 % erst im nächsten Jahrtausend beseitigt werden, allerdings dann auf dem Niveau von 1989.
Das Ifo-Institut hält ostdeutsche Wachstumsraten zwischen 8 und 10 % für relativ optimistisch. Unterstellt, das Bruttosozialprodukt würde in Ostdeutschland real um 8 % und in Westdeutschland real um 1,5 % wachsen, dann wäre Ostdeutschland auch weiterhin auf gigantische Transferleistungen angewiesen, denn es hätte im Jahr 2000 bestenfalls die Hälfte der Wirtschaftskraft der alten Bundesländer erreicht.
Den Rechenoperationen des Bundesfinanzministers liegen Prämissen zugrunde, die man nur noch als wahnhaft bezeichnen kann. Bis 1996 rechnet er mit einem jährlichen Wachstum des Bruttosozialprodukts um mindestens 6 %. Eine solche Wachstumsrate ist entweder nur als Ergebnis eines dauerhaften Aufschwungs denkbar - dieser ist allerdings weit und breit nicht zu sehen - oder aber als Niederschlag inflationärer Entwicklungen. Diese würden natürlich ebenfalls dazu führen, daß die Rechnung des Bundesfinanzministers auf der Ausgabenseite nicht aufgeht.
Es ist allerdings Mode geworden, im Zusammenhang mit der Frage nach den Kosten der Einheit laut nach einem „Kassensturz" zu rufen. Aus der Sicht der PDS/Linke Liste ist nicht etwa ein Kassensturz überfällig, sondern eine Diskussion über die weitere Ausgestaltung des Einigungsprozesses. Wenn es um die Integration der neuen Bundesländer in das wirtschaftliche und soziale System der Bundesrepublik geht - etwas anderes steht für uns nicht zur Debatte -, dann ist für die PDS/Linke Liste die Verständigung über ein diesem Anspruch genügendes Konzept sowie über dessen Finanzierung wichtiger als die markige Forderung nach einem Kassensturz.
Die Aktivitäten der Bundesregierung folgen jedoch keinem Programm. Sie sind vielmehr Ausdruck einer Programmitis à la Möllemann. Die Bundesregierung scheut staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. Sie hat scheinbar immer noch nicht begriffen, daß der Transformationskrise, in der sich die ostdeutsche Wirtschaft seit der Währungsunion befindet, nicht mit rein marktwirtschaftlichen Mitteln beizukommen ist.
Die Diskussion über die Beibehaltung einer 12%igen Investitionszulage über den 30. Juni 1992
hinaus beweist meines Erachtens doch die Widersprüchlichkeit und Kurzatmigkeit dieser Wirtschaftspolitik. Finanzierungshilfen für gewerbliche Investitionen in Form von Zinszuschüssen, zinsverbilligten Darlehen und Steuervergünstigungen summierten sich 1991 auf rund 25 Milliarden DM. Für 1992 erwartet die Bundesbank eine Zunahme auf 40 Milliarden DM.
Die Diskussion über die Verlängerung der Investitionszulage verdeckt, daß für den Aufbau in Ostdeutschland trotz gigantischer Mitnahmeeffekte immer noch zuwenig investiert wird. Westdeutsche Unternehmen wollen in Ostdeutschland in diesem Jahr zwar zwei Drittel mehr als 1991 investieren - das klingt gut -, das würde aber lediglich ein Investitionsvolumen von 45 Milliarden DM ausmachen.
Die Finanztransfers aller Haushaltsebenen zusammen finden überwiegend konsumtive Verwendung. Die Nachfrage nach Konsumgütern war im vergangenen Jahr stärker als der Bedarf an Investitionsgütern. Kapazitätsausweitungen westdeutscher Unternehmen betrafen vor allem den Bereich der Produktion der Güter des täglichen Bedarfs; die ständigen LkwKolonnen zeugen davon.
Die Versorgung der ostdeutschen Märkte mit Waren und Dienstleistungen kann problemlos von westdeutschen Unternehmen erfolgen. Staatliche Transferleistungen bescherten der gesamtdeutschen Wirtschaft damit einen kurzfristigen Boom, der die Auftragsbücher westdeutscher Unternehmen und die Gänge ostdeutscher Arbeitsämter füllte.
Durch Abgaben und Steuererhöhungen wurde und wird ein gigantisches Vermögensumverteilungsprogramm zugunsten westdeutscher Unternehmer finanziert. Ein sich selbst tragender Aufschwung in Ostdeutschland konnte und kann durch den auf Pump finanzierten, vorwiegend konsumtiven Nachfrageschub nicht in Gang gesetzt werden.
Das Sprüchlein konservativ-liberaler Wirtschaftspolitiker, das da lautete: „Konsumtive Ausgaben sind krank, investive Ausgaben sind gesund", kollidiert mit der wirtschaftspolitischen Praxis dieser Bundesregierung. In diesem Jahr werden ca. 40 % des privaten Verbrauchs in Ostdeutschland auf öffentliche Finanztransfers zurückgehen. Ferner werden drei Viertel der gesamten Ausgaben der ostdeutschen Länder und Gemeinden konsumtiv verwendet werden.
Die PDS/Linke Liste vertritt nun keineswegs die These, die Finanzierung überwiegend konsumtiver Ausgaben sei zurückzunehmen. Solange nämlich das ostdeutsche Bruttosozialprodukt die inländische Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen nicht befriedigen kann, wird deren Nettoimport aus dem früheren Bundesgebiet über öffentliche Finanztransfers aus Westdeutschland finanziert werden müssen.
Koalition und Bundesregierung verschließen sich dieser Einsicht, weil sie immer noch davon ausgehen, auf die Tranformationskrise der ostdeutschen Wirtschaft könne wie auf eine Konjunkturkrise reagiert werden. Die Zeitachse, über die wir uns verständigen müssen, sprengt jedoch den Rahmen einer systemimmanenten Konjunkturkrise.
Wir brauchen keine abstrakte Finanzierungsdebatte, sondern eine Verständigung über ein auf mindestens zehn Jahre angelegtes Programm zur Finanzierung der Integration Ostdeutschlands in die Bundesrepublik.
Die Bundesregierung tut jedoch genau das Gegenteil. Wie sollen in Ostdeutschland kommunale und länderspezifische Aufgaben erfüllt werden können, wenn der Bund das Programm Aufschwung Ost 1992 auslaufen läßt, das 1991 durch die den Städten und Gemeinden gewährte Investitionspauschale von 5,3 Milliarden DM immerhin noch eine kommunalpolitische Schwerpunktsetzung ermöglichte, und wenn die von den neuen Bundesländern gewünschte Verstetigung des Fonds Deutsche Einheit trotz der über die Mehrwertsteuererhöhung finanzierten Aufstockung doch ausbleibt?
Die Bundesregierung läßt auch die Finanzierung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur", gelinde gesagt, schleifen. Damit wird z. B. auch die in Sachsen, woher ich komme, zwischen der Staatsregierung und der Treuhand vereinbarte Zusammenarbeit bei der Modernisierung von regional bedeutsamen Treuhandunternehmen gefährdet, wenn nicht sogar bewußt unterlaufen. Beispiele lassen sich zahllos aufzählen.
Die Bundesregierung will nicht zur Kenntnis nehmen, daß der Aufbau der ostdeutschen Länder und eines funktionierenden Systems der sozialen Sicherheit nicht mit zwei- bis dreijährigen Programmen im Rahmen einer Anschubfinanzierung erreicht werden kann.
Die PDS teilt die Überzeugung der Memorandumgruppe, daß für diese Zwecke über zehn Jahre mindestens 150 Milliarden DM jährlich aufgebracht werden müssen, die sowohl über Einsparungen bei den Subventionen und Kürzungen im Verteidigungshaushalt als auch über sozial gerechte Steuererhöhungen und Sonderabgaben finanziert werden könnten. Was hindert übrigens die Bundesregierung daran, ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1976 umzusetzen und die Anpassung der Einheitswerte für Grundstücke an die gestiegenen Verkehrswerte gesetzlich zu regeln? Damit hätten wir eine Verbindung zur vorhergehenden Debatte.
Die Kosten der Einheit haben bisher die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Landes finanziert. Die Vorschläge der PDS, endlich diejenigen zur Kasse zu bitten, die sich an der Vereinigung Deutschlands dumm und dämlich verdient haben, sind nicht neu. Ich nenne hier nur die wichtigsten: Rücknahme der beschlossenen Senkung der Vermögens- und Gewerbesteuer, Investitionshilfeabgabe des westdeutschen warenproduzierenden Gewerbes, eine Ergänzungsabgabe auf Körperschaft- und Einkommensteuer unter Ausschluß der Geringerverdienenden
({0})
und eine Arbeitsmarktabgabe für Beamte, Selbständige und nicht sozialversicherungspflichtige Besserverdienende sowie eine Anleihe mit Zeichnungspflicht für Banken und vermögensstarke Privathaushalte.
Ich danke Ihnen und bitte, unserem Entschließungsantrag zuzustimmen.
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Nun hat der Kollege Manfred Hampel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema wäre eigentlich dazu angetan, nicht zu später Stunde, sondern in den Vormittagsstunden, vor vollem Haus und nicht vor einem Fragment des Bundestages debattiert zu werden.
Ich möchte trotzdem meine Rede halten und nicht zu Protokoll geben wie Sie, Frau Jaffke. Auch ich bin der Meinung, daß Geld nicht alles ist; aber wenn man Geld immer nur konzeptionslos über den Tisch schiebt, kann es auf die Dauer sehr viel teurer werden, als wenn man dieses Geld endlich so anwendet, daß der Aufschwung Ost, sich selbst tragend, in Gang kommt.
({0})
Wir haben heute den 17. Juni, bis zur Vereinigung in den alten Bundesländern ein Feiertag, der nicht Anlaß zum Feiern, sondern zur Besinnung, zum Gedenken an die Opfer gegeben hat, ein Tag zum Wachhalten des Traumes von der Einheit Deutschlands, ein Tag der Willensbekundung: Wir sind ein Volk! Der Traum wurde Wirklichkeit, der Feiertag abgeschafft, und die Realität hat uns eingeholt.
Die Realität ist, daß wir heute, an einem seit 39 Jahren denkwürdigen Tag, mehr als 21 Monate nach einem anderen für uns Deutsche sicher bedeutungsvolleren Tag über eine Große Anfrage des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN debattieren. Bisher hat es die Bundesregierung nicht für notwendig gehalten, auf die Große Anfrage des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Finanzierung der Einheit und zur Verteilung der Lasten zu antworten. Vielleicht ist es richtiger anzunehmen, daß die Bundesregierung gar nicht in der Lage ist, darauf zu antworten. Ich schätze das als ein Armutszeugnis und als einen Beleg dafür ein, daß die Bundesregierung handlungsunfähig ist.
Die Bundesregierung hat es in ihrer Ignoranz nicht für notwendig gehalten, die Aufbruchstimmung der Vereinigung für den Aufbau des Ostens zu nutzen und in eine große, von allen getragene Aufgabe einmünden zu lassen. Wahltaktische und parteipolitische Gesichtspunkte waren wichtiger. Haltlose Versprechungen wurden gemacht. Dem Wahlvolk in den alten Bundesländern wurde vorgegaukelt, daß es keinerlei Belastungen zu erwarten habe, dem neuen Wahlvolk im Osten, daß es in ein paar Jahren das Einkommensniveau des Westens erreichen werde. Zweifler, die von Anfang an auf die Kosten und die Risiken des deutschen Einigungsprozesses aufmerksam gemacht hatten, wurden als Feinde der deutschen Einheit diffamiert.
Auch wenn es für Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, abgedroschen klingen
sollte: An einem Datum wie dem heutigen ist es legitim und erforderlich, daran zu erinnern.
({1})
Nun sitzen wir heute hier und debattieren nach fast zwei Jahren deutscher Einheit über die Verteilung der Finanzlasten, über Staatsverschuldung, über Schattenhaushalte, über zusammengebrochene Industriestrukturen in cien neuen Bundesländern, über eine schwere Glaubwürdigkeitskrise der Bundesregierung, in die sie durch die Finanzpolitik der beiden vergangenen Jahre geraten ist. Wir debattieren darüber aber nicht etwa, weil ein Konzept der Bundesregierung zur Bewältigung dieser Aufgaben vorliegt, sondern weil das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fragen gestellt hat, Fragen, die, weil sie überhaupt gestellt werden mußten, Zeugnis für die Unfähigkeit der Bundesregierung sind, diese Aufgaben zu lösen.
Ini blinden Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte des Marktes hat sie es unterlassen, mit der Finanzpolitik den wirtschaftlichen Strukturwandel gestaltend und nachhaltig zu fördern. Die Instrumente, wie Investitionszulage oder Förderinstrumente der EG, des Bundes und der Länder, haben sich als nicht ausreichend oder viel zu kompliziert herausgestellt, um einen sich selbst tragenden Aufschwung in Gang zu bringen.
Die Aufgabe der Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit ist ungleich größer, als zunächst von der Bundesregierung eingeschätzt. Die Gefahr des Scheiterns mit all seinen katastrophalen Folgen für die politische Entwicklung in Europa und der ganzen Welt ist noch nicht gebannt. Wie sollen die Völker in Mittel- und Osteuropa Hoffnung schöpfen können, wenn sich der Übergang von einem staatlich administrierten planwirtschaftlichen System zu einem System der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland so quälend gestaltet?
Entschlossenes und schnelles Handeln der Bundesregierung ist erforderlich. Allein der Transfer von Finanzmitteln in gigantischem Umfang reicht nicht aus, solange diese Mittel überwiegend für das Abfedern des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs verwendet werden.
Heute hätte der Bundeskanzler Gelegenheit gehabt, dern deutschen Volk die Wahrheit zu sagen, eine ungeschminkte Bilanz der zu erwartenden Lasten vorzulegen und über die Verteilung dieser Lasten ein Konzept vorzustellen, den Gedanken an Solidarität neu zu beleben, die Tarifparteien und die politische klasse zum geeinten Handeln zu bewegen. Nichts von allem. Es war nicht die mehr als überfällige Schweiß-
und-Tränen-Rede. Im Gegenteil: Der Kanzler war bemüht, das Thema Deutschland klein zu halten.
Statt dessen die Konzeptionslosigkeit unter der Überschrift „Unsere Verantwortung in der Welt", die er in einen großen Rahmen von Rio his Europa gestellt hat, als ob Deutschland einer Verantwortung in der Welt gerecht werden könnte, wenn es zu Hause nicht einreal seine Hausaufgaben machen kann. Stabilität beginnt nun einmal zu Hause, um ein Wort von Professor Karl Schiller sinngemäß anzuwenden.
Der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Horst Köhler war anläßlich seiner Rede am 5. März 1992 vor Versicherungskaufleuten schon deutlich ehrlicher. Ich zitiere:
Wir stehen vor der Tatsache, daß wirtschafts- und finanzpolitische Warnsignale rot aufleuchten, ohne daß in wichtigen Kreisen von Politik und Gesellschaft die reale Bedrohung von wirtschaftlicher Prosperität und künftiger Stabilität ausreichend zur Kenntnis genommen wird.
Und weiter:
Wir müssen uns im klaren sein, daß der Aufbau Ostdeutschlands echte Einsparungen und damit auch reale Einkommensverzichte im Westen verlangt. Genauso wichtig ist es, daß überzogenen Forderungen aus Ostdeutschland energischer als bisher widersprochen werden muß.
Aber warum sagt das ein Staatssekretär vor einem illustren Kreis von Kaufleuten und nicht der Bundeskanzler vor laufenden Kameras?
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Statt dessen wird in einem unerträglichen Ausmaß mit den Worten „Der Aufschwung Ost hat begonnen, er muß nur noch an Breite gewinnen" Schönfärberei betrieben.
Der Kanzler scheint tatsächlich den Bezug zur Realität verloren zu haben. Wie soll ich es sonst verstehen, wenn er sagt wobei ich aus seiner heutigen Rede zitiere -:
Die Bundesregierung setzt deshalb klare Prioritäten bei der weiteren Verbesserung der Investitionsbedingungen in den neuen Bundesländern sowie in der Wirtschaftsförderung. Konkrete Beschlüsse werden wir am 1. Juli 1992 im Zusammenhang mit den Entscheidungen zum Haushalt 1993 im Bundeskabinett fassen.
Derartige Bekenntnisse vor dem Plenum abzugeben, im Finanzausschuß dagegen unseren Antrag auf Verlängerung der Investitionszulage in Höhe von 12 von der Koalition abschmettern zu lassen, obwohl sich dieses Instrument unter den zahlreichen Förderinstrumenten, mit denen private Investitionen in den neuen Bundesländern stimuliert werden, als besonders attraktiv erwiesen hat, beweisen meine Ansicht. Diese Auffassung der Wirtschaft hat die Bundesregierung zumindest bis zum 2. Juni 1992 auch geteilt, wie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Grünewald in einer Antwort auf eine Anfrage mitteilt. Ich zitiere diese Antwort:
Die Bundesregierung teilt die Auffassung des Instituts der Deutschen Wirtschaft, daß sich die für Investitionen in cien neuen Bundesländern gewährte Investitionszulage als besonders attraktiv erwiesen hat. Ihre Ausgestaltung als Basisförderung mit Rechtsanspruch, Unabhängigkeit von Gewinnerzielung und auf branchenmäßige Unternehmensgröße bezogene Beschränkungen macht die Investitionszulage für die Unternehmen besonders kalkulierbar und erhöht damit die Planungssicherheit für Investoren.
Zum 1. Juli 1992 verschlechtern sich aber erst einmal die Investitionsbedingungen von 12 auf 8 %. Was ab 1. Januar 1993 wird, weiß noch keiner. Von Planungssicherheit kann zumindest für ein paar Monate keine Rede sein.
Einerseits beschwert sich der Kanzler bei allen möglichen Gelegenheiten, daß die privaten Investitionen in den neuen Bundesländern noch deutlich unter Westniveau liegen wie gestern in Köln bei der Entgegennahme des Europäischen Handwerkspreises oder heute im Plenum -, andererseits werden attraktive Förderinstrumente verschlechtert bzw. laufen am Jahresende aus. Dies mag verstehen, wer will, ich nicht.
Das rote Licht blinkt, es tut mir leid.
({3})
Bald wird sie ungnädig.
Man kann in zehn Minuten nicht das Thema der Finanzierung der Einheit und der Verteilung der Lasten darstellen. Das ist viel zu kompliziert und viel zu komplex. Das kann man so nicht machen.
Ich möchte nur noch auf einige Probleme aufmerksam machen:
Schuldenproblematik, Treuhandanstalt, Kreditabwicklungsfonds, Wohnungswesen und Länderfinanzausgleich. Das sind Dinge, die zu lösen sind, und dazu muß sich die Bundesregierung nun endlich bekennen.
({0})
Nun hat der Kollege Werner Zywietz das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch mit Blick auf die Zeit hatte ich eigentlich vor, meine Rede auch zu Protokoll zu geben. Aber ich werde es jetzt nicht tun. Ich möchte in der Tat ein paar Anmerkungen zu der Großen Anfrage, aber auch zum Verlauf der Debatte sagen.
An diesem Tag, dem 17. Juni - da gebe ich Ihnen recht, Herr Kollege Hampel - hätte man dieses Thema nicht unbedingt erörtern müssen. Man hätte das auch zu anderer Zeit machen können. Das ist ein Punkt, bei dem ich Ihnen zustimme. Das wünschte ich mir auch.
({0})
Aber was den Duktus, den Inhalt anlangt - wir sprechen ja nicht das erste Mal über das Thema, wie wir die deutsche Einheit sozial, wirtschaftlich, ökologisch ausformen können -, der sich nach meiner Feststellung hier immer mehr einschleicht, so möchte ich dem wirklich ernsthaft widersprechen. Der Eindruck ist doch: Auf der einen Seite wird vom Osten gefordert, und auf der anderen Seite ist vom Westen zu liefern. Es darf immer ein bißchen mehr sein, es könnte immer ein bißchen schneller sein. Und das paart sich doch mit sehr auffälligen Vorwürfen. Wenn
man sich die Fakten und die Leistungen anschaut, dann ist diese Art der Bilanzierung nicht in Ordnung.
Wir alle erinnern uns an den Wahlkampf. Wir wären ja nicht hier, wenn wir nicht Wahlkämpfe gemacht hätten. Lafontaine als Spitzenkandidat der SPD strotzte in diesem Bundestagswahlkampf nicht gerade vor Aufbruchstimmung und einem positiven Votum zur deutschen Einheit.
({1})
- Die Erkenntnis, daß es ein ganz schwieriger Prozeß ist, Kollege Schmude, hatten wir auch.
({2})
Wir haben immer gesagt: Die deutsche Einheit ist die größte politische, ökonomische und soziale Aufgabe für uns in Deutschland in der Nachkriegszeit. Das ist unzweifelhaft. Nur, die Aufgabe wird nicht dadurch leichter, daß jetzt von einer Seite auffällig oft und auffällig intensiv anderen mit einer Anspruchsmentalität begegnet wird. So kann man Helfende und Gutwillige für diese große Aufgabe eigentlich nur vergraulen. Ich fürchte, wir nähern uns, wenn wir so weitermachen, einer kritischen Grenze, die dem ganzen Prozeß abträglich ist.
Der Kollege Struck hätte eine Zwischenfrage, Herr Kollege Zywietz.
Sehr gerne; der geschätzte frühere Haushaltskollege.
Sie wird Ihnen selbstverständlich nicht auf Ihre Redezeit angerechnet.
Herr Kollege Zywietz, darf ich aus Ihren Bemerkungen schließen, daß Sie der Auffassung sind, daß mit den Transferleistungen in die neuen Bundesländer nun Schluß sein soll?
Nein, überhaupt nicht. Wir können uns darüber unterhalten, wie sie sinnvoll strukturiert werden - dazu würde ich gern ein paar Worte sagen -; denn daß sie vom Volumen her mit 185 Milliarden DM groß genug sind, das hat auch der Kollege Schulz mit Blick auf das Jahr 1992 angemerkt. Die Zahl für 1991 liegt bei über 140 Milliarden DM und für 1990 bei 81 Milliarden DM. Das sind doch alles Riesensummen.
Das heißt, die grundsätzliche Bereitschaft der steuerzahlenden Bürger zur Hilfe - das sind fast alle Bürger in dieser Republik; hinter diesen Steuerzahlern steht verständlicherweise besonders viel ökonomische Leistungskraft der im Westen wohnenden Bürger - ist doch in außerordentlich großem Maße gegeben.
({0})
Die gemeinsame Aufgabe kann doch nur darin liegen, mit dieser Bereitschaft auch pfleglich umzugehen, damit die Wirtschaft in den neuen Bundesländern wirklich anspringt und damit wir nicht eines Tages sagen: viel guter Wille, viele Schulden gemacht und viele öffentliche Mittel in die Hand genommen, aber wenig Wirkung erzielt. Davon habe ich jetzt wenig gehört.
Aber dazu gehört auch eine Eigenleistung. Das können wir doch nicht nach der Methode machen: Ihr habt zu liefern, ihr seid dafür schuldig, und wir verlangen immer noch ein bißchen mehr.
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Ich habe beispielsweise von den regionalen Entwicklungskonzepten nichts gehört, von denen häufig so blumig die Rede ist: was in welcher Region gemacht werden muß, damit die Infrastruktur in Ordnung kommt, damit mehr Menschen eine Chance bekommen, einen Arbeitsplatz zu haben, und damit in der Anfangsphase auch das Soziale stimmt. Natürlich müssen Rentner erst einmal bezahlt werden, und Studenten wollen nach der Einigung ihr BAföG. So weit, so gut.
Aber wir müssen uns doch wohl darauf verständigen können, daß diese Ersthilfe, die Konsumhilfe, die Überlebenshilfe - wenn man es vielleicht sogar drastisch formuliert - mehr und mehr abgebaut wird und in eine sinnvolle Infrastrukturinvestitionsaktivität, auf der sich auch private Initiative entfalten kann, umgelenkt wird.
Dann muß in den Verwaltungen in den neuen Bundesländern eben mehr gemacht werden. Dann müßten wir doch dafür sein, daß wir möglichst viele Eigentümer und viele Privatinvestoren haben, die diesen Prozeß unterstützen. Ich vertraue keineswegs darauf, daß das alles gutgeht. Aber wie wollen Sie einen Todkranken mit einer Wunderdroge oder einer Wundermedizin gesund machen?
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- Nein, ich will ihn nicht sterben lassen, aber ich will mir auch nicht Vorwürfe, es sei zuwenig oder das Konzept stimme nicht, anhören.
Das Konzept ist die Soziale Marktwirtschaft. Es gibt kein besseres. Die alten Konzepte sind die Bankrottkonzepte. Sie eignen sich nicht für das Zusammenführen. Wir haben eine Verantwortung gegenüber allen Steuerzahlern. Es kann nicht so vorgegangen werden, daß wir Steuern und Abgaben erhöhen und die Konjunktur in den westlichen Bundesländern erschweren bzw. abdrosseln. Aufschwung Ost um den Preis Abschwung West ist keine sinnhafte Geschichte.
Wer zuviel fordert, erschwert eindeutig die ökonomische Leistungsfähigkeit: durch mehr Steuern, durch mehr Abgaben und auch, Herr Kollege Schulz, durch eine zu hohe Kreditfinanzierung. Das geht in die Zinsen und bremst den ökonomischen Prozeß bei der Fremdfinanzierung und bei dem, was alles nötig ist. All das sind keine guten Rezepturen, wenn sie überzogen gehändelt werden. Das ist der Punkt.
Kollege Zywietz, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel?
Gerne.
Herr Kollege, können Sie dem Ministerpräsidenten von Sachsen, Herrn Professor Biedenkopf Werner Zywietz ({0}): Sehr klugen Kerl, sagen wir dazu auf plattdeutsch.
- einem sehr klugen Kerl -, zustimmen, wenn er sagt: Das Konzept der Bundesregierung konnte nicht scheitern, weil sie gar kein Konzept hatte?
Das ist eine Dümmlichkeit, bei allem Respekt.
({0})
- Es ist wirklich eine Dümmlichkeit, wenn er das gesagt haben sollte. Ich kann das nicht überprüfen.
Das Konzept ist die Soziale Marktwirtschaft mit ökologischer Orientierung. Das ist Fakt. Wer so etwas erzählt, hilft uns nicht weiter.
({1})
- Ihr müßtet einmal Vorschläge machen - das ist der Punkt - und nicht nur sagen: Wir brauchen mehr Geld.
Da ich auch durch Mecklenburg-Vorpommern toure - ich mache das vielleicht nicht ganz so häufig, Herr Kollege Kuessner, wie Sie -, kenne ich die Region ebenfalls ein bißchen. Wenn ich mich frage: Was sagt man nun in dem Kreis? Haben die Städte bereits Gewerbegebiete? Was wird an Umschulungen gemacht? Sind marktfähige Produkte da? Wird kooperiert? Wird selbst angefaßt und in Ordnung gebracht?, dann sehe ich, daß die Bordmittel und die Bordmöglichkeiten nicht voll ausgeschöpft werden.
({2})
- Das tun wir auch. Ich sehe drüben, mit welchem Aufwand teilweise und mit welcher Chuzpe sozusagen die aufwendigsten Sanierungsaufgaben durchgeführt werden. Das ist so wie in Ahrensburg, in meiner Heimat, wo ich auch kritisiere, daß die Innenstadtpflasterung reichlich vornehm geworden ist. Ich bin durch einige Orte gefahren und habe gehört, daß man uns bewundert und sagt: Wir bestellen die Steine auch in Ostfriesland, wo sie besonders schön und teuer sind. So etwas muß nicht sein. Es gibt im Westen schlechte Beispiele, aber diese machen offensichtlich in den östlichen Gebieten Schule.
Kollege Zywietz, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? Diese ist dann die letzte.
Gern, wenn es die Debatte belebt. Jetzt fängt es an, mir Spaß zu machen.
Herr Kollege Zywietz, glauben Sie nicht, daß diejeigen, die sich vor Ort seit zwei Jahren mit den Problemen beschäftigen müssen
({0})
- beschäftigen dürfen -, etwas näher an den Problemen sind, und wollen Sie vor diesem Hintergrund die Behauptung „Dümmlichkeit" aufrechterhalten?
Ich habe gesagt, wenn dieser Ausspruch von Herrn Professor Biedenkopf, derzeit Ministerpräsident in Sachsen, so gemacht worden ist, wie er zitiert worden ist, dann halte ich das für eine Dümmlichkeit.
({0})
- Dann darf man so etwas nicht sagen, wenn man solche Antworten nicht hören will. Ich weiß nicht, warum alle an dieser Stelle so sensibel werden. Aber lassen wir das doch.
Ich denke, diesem harten, an diesem Thema interessierten anwesenden Teil muß es darum gehen, in der Sache voranzukommen. Ich habe eingangs gesagt, ich finde es als wirklich gefährlich und wenig hilfreich, mit dieser Art von immer wieder sich hochziehender Anspruchsmentalität aufzutreten.
({1}) Das ist nicht der Punkt, Herr Schulz.
Die andere Seite, die Sie dargestellt haben, stimmt auch. Wären Sie heute früh bei den Beratungen über den Nachtragshaushalt im Haushaltsausschuß dabeigewesen, dann hätten Sie Einzelhaushalt für Einzelhaushalt gesehen, wie viele Mittel für den Aufbau in den neuen Bundesländern aufgewendet werden - und nicht nur für die neuen Bundesländer, sondern auch zur Stützung in den GUS-Staaten.
Immer wieder wird bei dieser Gelegenheit zu Recht gesagt, daß die Märkte weggebrochen sind. Aber wir können den Käufern doch nicht öffentliche Steuergelder in die Hand drücken, damit sie bei uns einkaufen können. Aber daß wir mit Hermes-Versicherungen und mit einer umfassenden Unterstützung - das war heute vormittag ein intensives Thema - versuchen, hier im vernünftigen Sinne tätig zu werden, ist doch nicht abzustreiten. Was um Himmels willen soll noch mehr geschehen? Das Volumen ist ausreichend. Über die Effizienz können wir sprechen.
({2})
- Den wunden Punkt habe ich bei Ihnen sehr gut erkannt.
({3})
Sie haben nämlich gesagt: Es gibt kein Konzept. Erstens sage ich, die Soziale Marktwirtschaft ist das Konzept. Zweitens sage ich, das Volumen ist ausreichend. Drittens ist überhaupt nicht zu kritisieren, daß nicht genug Stimmung erzeugt wird; denn wir arbeiten ganz intensiv an der sinnhaften Umsetzung dieser Mittel. Genau das ist das richtige Konzept.
Ich brauche auch keinen Lastenausgleich neuer Art einführen, wenn ich pro Jahr einen Transfer von 180 Milliarden DM habe, und zwar zu einem großen Teil noch auf Kredit. Das heißt, das Problem der langfristigen Umfinanzierung und die Frage, wer das zu tragen hat, wird noch kommen. Aber daß der westliche Steuerzahler dabei mehr zu tragen hat, ist nach Lage der Dinge und nach einer realistischen Einschätzung überhaupt nicht zu bezweifeln.
Der Lastenausgleich findet bereits in großem Volumen und sozusagen täglich über die Steuerzahler statt. Das ist das Faktum.
({4})
- Das würde ich doch nie sagen. Ich sage nur: Ein Lastenausgleich findet täglich über die Steuerzahler und über die Haushaltspolitik statt.
ln der Tat wäre darüber zu reden - das haben wir auch in der Vergangenheit gemacht -, ob wir die Aktivitäten der Treuhand noch ein bißchen präzisieren, ein bißchen beschleunigen können. Eine andere Organisationsstruktur könnte da helfen. Ein Aufteilen der zu veräußernden Einheiten in mehr mittelständische Strukturen wäre ebenfalls sinnvoll.
Aber wenn das gemeinsame Werk gelingen soll, würde ich doch sehr darum bitten, nicht nur Ansprüche zu stellen. Vielmehr muß in solchen Debattenbeiträgen auch zum Ausdruck gebracht werden, was als Eigeninitiative aus den neuen Bundesländern selber erbracht werden kann, damit das Gesamtwerk gelingt.
Vielen Dank.
({5})
Nun hat Herr Staatssekretär Carstens das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben mit der Großen Anfrage nachhaltig nachgewiesen, daß sie imstande sind, Fragen zu stellen.
({0})
Sie haben durch den Redebeitrag des Kollegen Schulz aber auch nachgewiesen, daß sie nicht imstande sind, auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen, angemessene Antworten zu geben.
({1})
Im übrigen meine ich, daß die Rede des Kollegen Schulz nicht ungefährlich war - nicht für die Regierung, sondern für die deutsche Einheit. Sie hat nicht dazu beigetragen, die Teile Deutschlands zusammenzuführen, sondern sie war trennender Natur. Sie war destruktiv; sie war nicht auf Konstruktivität angelegt. Das sollte man bei dieser so wichtigen Frage, deren Lösung nicht scheitern darf, wohl bedenken. Das liegt in unser aller Interesse. Ich unterstelle auch nichts anderes, mache aber darauf aufmerksam, daß der Beitrag des Kollegen Schulz, objektiv betrachtet, so zu werten ist, wie ich es soeben getan habe.
({2})
Es ist in der Tat eine ungemein schwierige Aufgabe, mit der Herausforderung finanzpolitischer Art, vor die die deutsche Einheit uns stellt, zurechtzukommen; das ist ganz klar. Aber ich habe heute - bei allem Sand im Getriebe, wovon wir ja auch täglich hören, nicht zuletzt auch von Kolleginnen und Kollegen, die aus den neuen Ländern kommen; das ist ja gar keine Frage - nur einige Überschriften aus unserem Pressespiegel ausgewählt, die nicht wahllos aus den letzten Wochen und Monaten zusammengesucht sind, sondern die von heute stammen. Da heißt es z. B.: „Allein im Jahre 1992 36 Milliarden DM für die Arbeitsmarktpolitik in Ostdeutschland". Dann heißt es: „Telekom: Auftragsflut im Osten", „Robuste deutsche Wirtschaft", „Neue Länder: Produktionsanstieg", „Bundesbank sieht positive Konjunktursignale".
({3})
Die genannten Zitate stammen aus einer Presseübersicht.
Mit dem Zitieren dieser Zeitungsüberschriften will ich nicht zum Ausdruck bringen, als ob es keine Probleme gäbe. Aber es ist auch nicht so, als ob nur Anlaß bestünde, schwarzzumalen. Vieles hat sich getan. Es muß sich noch viel Zusätzliches tun; das ist ganz klar. Aber es ist doch unbestritten, daß zwischenzeitlich viele Hunderttausende selbständige mittelständische Betriebe gegründet worden sind und daß es von Monat zu Monat gelingt, weitere Treuhandbetriebe zu privatisieren, und zwar mit erheblichen Investitionszusagen, mit der Übernahme von Arbeitskräften und Zusagen, neue Arbeitskräfte einzustellen.
Ich mache darauf aufmerksam: Das alles ist doch in weniger als zwei Jahren gelungen. Man vergißt doch allzu leicht, daß der Stichtag 1. Juli 1990 für das Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einführung der D-Mark noch nicht einmal zwei Jahre zurückliegt. Insofern ist es schon richtig, daß vieles möglicherweise schwerfälliger läuft, als wir uns das vorgestellt haben. Ich will mich da auch gern mit einbeziehen, obwohl ich nie so optimistisch gewesen bin, wie man es jetzt von anderer Seite unterstellen möchte. Aber es ist doch eine Menge geschafft
worden, es ist doch eine Menge getan worden, und vieles ist auf dem Weg.
Es ist doch vor allen Dingen wichtig, festzustellen, daß insbesondere die westdeutsche Wirtschaft so robust ist, daß sie die Herausforderungen gut bewältigen konnte. Wir haben absolut stabile wirtschaftliche Verhältnisse. Sehen Sie sich den Kurs der D-Mark gegenüber dem Dollar an. Das ist doch der stabilste Kurs seit langer Zeit. Das ist das Votum der internationalen Finanzpolitik. Das ist doch eine klare Aussage, das ist doch eine klare Feststellung.
Nun ist die deutsche Einheit noch nicht bewältigt. Damit sind wir noch länger beschäftigt. Daran müssen wir jeden Tag arbeiten, und zwar überall dort, wo wir Verantwortung tragen. Das wollen wir ja auch tun, und das werden wir auch nachweisen. Aber das ist nicht nur die Aufgabe der Bundesregierung. Es ist vielmehr die Aufgabe aller, die daran beteiligt sind, d. h. aller Deutschen. Nur darf man nicht übertreiben und die psychologische Lage überhitzen. Man darf aber auch nicht nur schwarzmalen.
Man darf dann zumindest nicht noch hinzufügen, daß man für die deutsche Einheit und für die Zukunft des deutschen Volkes das Beste wolle. Denn mit solchen schwarzmalerischen Aussagen kann ich das nicht bewirken. Das muß man zur Kenntnis nehmen und darf es nicht als Kritik der Regierung gegenüber Abgeordneten auffassen, sondern als den Versuch, zu sagen, was in solch einem Zusammenhang gesagt werden muß.
Die Bundesregierung ist bereit, das notwendige Geld weiter zur Verfügung zu stellen. Wir bemühen uns, die Belastungen ausgewogen zu verteilen. Wenn gesagt wurde, mein Kollege, der Staatssekretär Köhler, habe davon gesprochen - und das sei ehrlich gewesen , die Deutschen hätten Einkommensverzichte zu üben, so will ich dem gern zustimmen. Aber das ist nichts Neues gewesen. Das ist die Beschreibung des Gegenwärtigen, die dort vollzogen wurde.
Wenn z. B. der Solidaritätszuschlag eingeführt wurde, wenn wir jetzt erhebliche Teile dessen, was ansonsten für die westdeutschen Räume zur Verfügung gestanden hätte, in die neuen Länder schicken - und das gerne tun, weil wir das als eine überragende Aufgabe ansehen, die geschafft werden muß
, dann ist das natürlich ein Einkommensverzicht für die westdeutschen Bürger; denn das Geld hätte an anderer Stelle im Westen ausgegeben werden können. Aber das ist doch nichts, was nicht auch andere Leute sagen. Als ob das etwas Neues gewesen wäre. Deshalb kann man dem Bundeskanzler oder wem auch immer keine Vorwürfe machen.
Ich meine, das ist nicht der richtige Weg. Die Aufgabe ist schwierig genug. Aber wir wollen sie bewältigen, wir müssen sie bewältigen. Ich glaube, wir haben bei aller Problematik und Schwere dieser Aufgabe
({4})
allen Anlaß, recht zuversichtlich zu sein. Herzlichen Dank.
({5})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/2825 ({0}). Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Der Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/2840 soll überwiesen werden: zur federführenden Beratung an den Haushaltsausschuß und zur Mitberatung an den Finanzausschuß und an den Ausschuß für Wirtschaft. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Behebung und Wiedergutmachung von politischen Ungerechtigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 12/2260 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Innenausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Möchte das jemand verlängern oder verkürzen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Professor Uwe-Jens Heuer.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist heute die dritte Debatte über Unrecht und seine Aufarbeitung. Der Bundestag hat heute das strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz beschlossen. Ich habe ausdrücklich erklärt, daß ich dem Anliegen des Rehabilitierungsgesetzes der DDR und einer gewissen Fortsetzung in diesem Gesetz zustimme, allerdings dem Gesetz aus anderen Gründen nicht zustimmen kann. Weiter ist heute über das Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen gesprochen worden.
Eine entsprechende Anerkennung von ebenfalls politisch motivierten Ungerechtigkeiten gegen politisch Andersdenkende in der Bundesrepublik wird verweigert. Diese Haltung findet schon darin Ausdruck, daß unser Gesetzentwurf so weit hinten auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Ich meine, es hätte nahegelegen, diesen Gesetzentwurf mit dem Unrechtsbereinigungsgesetz von heute früh zu verknüpfen, nicht aber mit dem Rechtsanwaltszulassungsgesetz.
({0})
- Der Umfang ist unbestritten weit geringer als das, was in der DDR geschehen ist. Ich bestreite es nicht. Ich bestreite nicht wesentliche Unterschiede zwischen dem politischen Strafrecht der DDR und dem politischen Strafrecht der BRD. Gerade deshalb sollte eine andere Entscheidung der Vergangenheitsaufarbeitung um so leichter fallen.
Bereits die Debatten um das Achte Strafrechtsänderungsgesetz vom Juni 1968 und das Gesetz über Straffreiheit vom Juli 1968 zeigten sehr deutlich, daß Menschen in der Bundesrepublik Deutschland damals aus politischen Gründen mit rechtsstaatlich höchst fragwürdigen Mitteln verfolgt und oft jahrelang in Haft gehalten wurden.
({1})
Bereits die gesetzlichen Vorschriften des Ersten Strafrechtsänderungsgesetzes veranlaßten die Gerichte dazu, menschliche Kontakte, Programme, Meinungsäußerungen, Überzeugungen und Absichten, also nicht erst konkrete und gefährdende Taten, als Kriterien für Strafbarkeit anzunehmen. Dies sind nach heutiger Rechtsauffassung Verstöße gegen das Persönlichkeitsrecht, gegen die Meinungsfreiheit und gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot. Diese Verstöße waren ausdrücklich politisch motiviert.
({2})
Ein Abgeordneter Ihrer Partei, meine Damen und Herren von der CDU, Haasler, hat damals ausdrücklich erklärt, dieses Strafrechtsänderungsgesetz sei eine Waffe, geschmiedet im Kalten Krieg. Er hat das so gesagt! Man möge vielleicht doch einmal darüber nachdenken, ob man da nicht Überlegungen anstellen sollte.
Damals ging die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Politik von der Identität von inneren und äußeren Feinden aus. Sie tat das in einem Maß, daß bereits jede politische Gegnerschaft gegen die damalige Deutschland-, Sozial- und Wehrpolitik als staatsgefährdend eingestuft wurde.
Ich bin nicht in der Lage, die Zehntausenden von Rechtsverletzungen deutlich zu machen. Ich will mich auf einige Fälle beschränken. Ich möchte Sie vor allem nicht so sehr wie eben der Staatssekretär auf Zeitungsüberschriften aufmerksam machen, sondern auf ein Buch - auch Bücher sollte man lesen -, und zwar das Buch von Diether Posser „Anwalt im Kalten Krieg", München 1991. Er war längere Zeit sozial-demokratischer Minister in Nordrhein-Westfalen und hat seine Erfahrungen jetzt - ich zitiere die „Berliner Zeitung" vom 18./19. Januar dieses Jahres - in den Worten zusammengefaßt, daß selbst ein Staat wie die Bundesrepublik bei der Behandlung politisch Andersdenkender Irrwege ging, die wirklich schlimm waren. So Diether Posser!
Kommunisten wurden damals teilweise als Hochverräter verurteilt, weil sie Kommunisten waren. Später wurden sie, auch andere, wegen Hochverrats
verurteilt, weil sie für das Programm der nationalen Wiedervereinigung der KPD eintraten.
({3})
- Sie müssen das alles lesen, meine Herren.
Der Bundesgerichtshof hatte diese Rechtsprechung eingeleitet und weitergeführt, obwohl er selbst keinen Fall angeben konnte, wo die Verurteilten über die bloß verbale Propagierung des Programms hinausgegangen wären. Der Politikwissenschaftler Abendroth hat dazu die Frage gestellt: „ Sind Träume strafbar?"
Damals wurden Programme, Meinungen und Gesinnungen bestraft, und zwar mit Zuchthausstrafen bis zu vier Jahren.
Posser schreibt, daß unterstellt wurde, daß bei Personen, die mit Menschen in der DDR zusammenarbeiteten, die auf Einladung der SED, der FDJ, des Verbandes der Konsumgenossenschaften oder anderer politischer Organisationen in die DDR gefahren waren, unterstellt wurde, daß die Aufnahme von Beziehungen stattgefunden hatte. Es wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, u. a. gegen Frau Klara Maria Fassbinder -
Herr Kollege Heuer, nachdem Sie nie aufschauen: Dürfte ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage gestatten? Es ist ganz schwierig, Sie zu unterbrechen.
Bitte schön, Herr Kolbe. Wenn jemand eine kluge Frage stellte, wäre mir das sehr sympathisch. Es ist zwar von dieser Seite, aber von Ihnen würde ich das erwarten.
({0})
Herr Professor Heuer, in meiner Bürgersprechstunde vor zwei Wochen war ein Bürger aus Grimma. Der wurde 1963 wegen eines Witzes über Ulbricht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, dann entlassen und hat in den folgenden Jahrzehnten nie wieder richtig Fuß gefaßt. Auch das paßt hier herein. Warum haben Sie sich da nie so wortreich engagiert?
({0})
Was hat das damit zu tun, daß ich diese Fragen aufwerfen darf? Ich gebe Ihnen durchaus zu, daß es in der Volkskammer der DDR nicht möglich gewesen wäre - außer in der letzten -, die Frage so zu stellen. Aber hier ist es möglich, und deshalb stelle ich diese Fragen.
({0})
- Ich moralisiere nicht.
({1})
- Ist das noch eine Beantwortung von Zwischenfragen, oder läuft die Zeit weiter?
Ich lasse Ihnen jetzt diese Zeit, auch weil es ganz interessant ist. Die Uhr läuft nicht, ich habe sie gestoppt. Sie können auf die Zwischenrufe noch antworten. Dann stelle ich die Uhr wieder an.
({0})
Würden Sie das bitte am Mikrofon sagen?
Ich würde der Anregung des Kollegen Heuer folgen: Wenn Sie eine Frage stellen wollen, dann tun Sie das so, daß er antworten kann; denn sonst ist das ein bißchen schwierig zu verstehen.
Wir haben uns eben untereinander gefragt - deshalb stelle ich diese Frage jetzt -: Haben Sie überhaupt kein Gefühl der Scham, erst diesen Unrechtsstaat als Rechtsprofessor vertreten zu haben und sich heute hier hinzustellen und über die Defizite unseres Staates in dieser Form zu sprechen? Geht Ihnen eigentlich jedes Gefühl dafür ab, wie unanständig das ist, was Sie hier tun?
({0})
Mit Ausdrücken wie „unanständig" u. ä. lösen Sie Probleme nicht. Ich habe mich in der Volkskammer der DDR für das Rehabilitierungsgesetz ausgesprochen. Das habe ich gesagt; das können Sie nachlesen. Daraus leite ich das Recht ab, diese Frage auch hier zu stellen. Sie dürfen doch nicht deshalb, weil dieses Unrecht in der DDR begangen worden ist - das ich verurteile; ich habe das gesagt -, die Dinge verschweigen, die hier geschehen sind. Ich kenne sehr viele Menschen, die heute die Frage aufwerfen, warum man nicht über die Opfer des Kalten Krieges spricht. Das ist meine Antwort. Lesen Sie dazu Posser; es ist schlimm, was dort dargestellt wird.
Ich räume Ihnen ohne weiteres ein, daß das politische Strafrecht der DDR zunächst zwar nicht so sehr in den Tatbeständen, wohl aber in der Handhabung schlecht war. Wenn ich die Korrektur von 1968 sehe, muß ich sagen, daß später auch die Tatbestände falsch waren. Die Tatbestände des Gesetzes von 1951 ähneln in vielem den Tatbeständen bei uns.
({0})
1968 ist es korrigiert worden. Aber auch hier ist Unrecht vorgekommen. Dazu müßten auch Sie etwas sagen.
({1})
- Die Leute sind hier für ein Jahr ins Gefängnis gekommen, weil sie die Aktion „Frohe Ferien für alle Kinder" organisiert haben, bei der Leute aus der Bundesrepublik Deutschland mit Zügen der Bundesbahn in die DDR geschickt worden sind. Dafür, daß sie
8088 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode
diese Züge organisiert haben, haben die Leute ein Jahr Gefängnis bekommen!
({2})
- Es war so! - Darf ich jetzt vielleicht zu Ende sprechen?
({3})
Der Kollege möchte zu Ende sprechen.
Das ist nicht die SED-Tradition, das ist bundesrepublikanische Tatsache. Lesen Sie das Buch von Diether Posser; dann reden wir weiter. Dort steht das drin. Der Kalte Krieg hat auch hier eine Rolle gespielt. Tun Sie doch nicht so, als ob das eine ungeheuer liebe und freundliche Bundesrepublik war, die keinen Kalten Krieg geführt hat.
({0})
Sie hat ihn geführt.
({1})
- Ich habe die Relationen nicht bestritten. Ich sage nur, daß Sie auch über das nachdenken sollen, was hier geschehen ist.
({2})
- Nein!
({3})
- Ich habe diese Frage nur so gestellt.
Ab jetzt läuft die Zeit wieder, und Sie haben davon nicht mehr sehr viel.
Ich kann das erkennen.
Die reale Bedeutung des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes faßte der Sozialdemokrat und Jurist Dr. Arndt auf dem SPD-Parteitag in Köln 1956 wie folgt zusammen:
Das 1. Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 hat sich als ein Schlangenei erwiesen. Das gilt namentlich von den im Abschnitt ,Staatsgefährdung' zusammengefaßten Bestimmungen, aber auch von den Hochverratsvorschriften. Diese Normen werden in Tausenden von Verfahren seitens der Strafverfolgungsbehörden, hinter denen zumeist die obskuren Verfassungsschutzämter stehen, und seitens mancher Gerichte, voran leider der Bundesgerichtshof, in einer Art und Weise ausgelegt, ausgedehnt und angewandt, die den gesetzgeberischen Willen nicht nur verkennen, sondern in bedauerlichem Maße pervertieren. Was als Schutz der Freiheit unserer Verfassung gedacht war, wächst sich zu einer Bedrohung der Freiheit aus.
So Adolf Arndt 1956!
Herr Kollege Heuer, jetzt müßten Sie bitte zum Schluß kommen.
Es ist an der Zeit, so meinen wir, den Opfern des Kalten Krieges jetzt noch volle Gerechtigkeit, insbesondere in bezug auf den Rentenausgleich, widerfahren zu lassen.
({0})
Als nächster hat der Kollege Norbert Geis das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht nur eine Ironie der Geschichte, es ist eigentlich schon tragisch, daß wir heute, am 17. Juni, diesen Antrag der PDS hier im Deutschen Bundestag zu behandeln haben.
({0})
Der 17. Juni ist das Symbol für das unbeschreibliche Unrecht, welches Millionen Deutsche in der ehemaligen DDR durch das SED-Regime haben hinnehmen müssen. Der 17. Juni ist gleichermaßen Symbol für die kollektive Knechtschaft und viel tausendfaches Leid einzelner Menschen.
({1})
Der 17. Juni ist aber auch Symbol für die überwältigende Freiheitsliebe aller Deutschen. Und er ist schließlich auch Symbol für die Einheit unserer Geschichte. Am 17. Juni haben wir hier im Westen den Aufschrei der Geknechteten im Osten gehört und mußten mit anschauen, wie es ihnen nicht gelang, ihre Peiniger abzuschütteln, um ein Leben in freier Selbstbestimmung führen zu können.
({2})
Der Deutsche Bundestag hat sich heute nachmittag mit dem Ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz und einer entsprechenden Ehrenerklärung vor den Opfern dieses SED-Regimes verneigt. Wir haben mit diesem SED-Unrechtsbereinigungsgesetz einen ersten entscheidenden Schritt zur juristischen, aber auch zur finanziellen Rehabilitierung der SED-Opfer getan, wobei ich zugebe, daß wir die Entschädigungsbeträge für die SED-Opfer, gemessen an dem unsäglichen Leid, das viele erfahren haben, nur bescheiden haben ausgestalten können.
Das Unrecht, das die verbrecherischen DDR-Staatsorgane zigtausenden ihrer Bürger zugefügt haben, war so groß, und die unrechtmäßige Inhaftierung von Menschen dauerte so lange, daß eine angemessene Entschädigung die Finanzkraft unseres Staates überfordern würde.
Aber noch viel schlimmer ist, daß wir uns heute mit einem Antrag beschäftigen müssen, der versucht, uns, die wir hier im freien Westen leben durften, nachzuweisen, wir hätten hier bei uns dieselben Verhältnisse gehabt wie drüben im Osten. Mit den gleichen Formulierungen, mit denen wir das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ausgestaltet haben, versucht die PDS,
der deutschen Öffentlichkeit klarzumachen, gleiches Unrecht habe sich auch hier bei uns abgespielt.
Herr Heuer, wir leben in einem der freiesten Länder der Welt. Wir haben mit Sicherheit die freieste Verfassung und die freieste Verfassungswirklichkeit unserer Geschichte. Die Menschen bei uns im Westen konnten sich frei entfalten. Die Sehnsucht Ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger im anderen Teil Deutschlands, im Osten, war so stark, daß Sie und Ihre Vorgänger sie nur mit Waffengewalt, mit Mauer, mit Stacheldraht, mit Maschinenpistolen davon abhalten konnten, hier zu uns in den Westen zu kommen, um sich gleichsam wiederzuvereinigen.
({3})
Und da wollen Sie uns heute von dieser Stelle aus klarmachen, wir hätten von unserer Seite aus Rehabilitierungen vorzunehmen!
({4})
Ich meine, daß dies nicht mehr Ironie ist, sondern das ist schon tragisch für Sie.
({5})
- Das will ich Ihnen gar nicht abstreiten. Wir müssen jeden Tag unsere Positionen neu überprüfen. Wir dürfen uns nie selbstgerecht in den Sessel zurücklehnen und sagen: Wir haben es geschafft, wir brauchen nichts mehr weiter zu tun. Niemand darf die Hände in den Schoß legen. Das bekommen wir in diesem Hause tagtäglich vor Augen geführt. Wir müssen die gewaltigen Aufgaben im Osten lösen. Es ist Ihre Hinterlassenschaft, daß wir vom Westen aus hohe Geldbeträge in den Osten transferieren müssen. Wir müssen uns heute in weiten Bereichen der Arbeit dieses Bundestages mit der Hinterlassenschaft des Regimes, das Sie, Herr Heuer, mit unterstützt haben und für das Sie eingetreten sind, beschäftigen. Wir müssen den Nachlaß, diese Reste, die Sie aufgehäuft haben, beseitigen.
Ich meine, Frau Würfel hat die richtige Frage gestellt: Entwickeln Sie überhaupt nicht das Gefühl von Scham, das Gefühl von Zurückhaltung? Beschleicht Sie nicht im geringsten die Fähigkeit von Bescheidenheit, zwar in den Ausschüssen und im Plenum des Bundestags mitzuwirken, aber doch nicht mit solchen Anträgen, wie Sie sie jetzt gestellt haben, an die Öffentlichkeit zu treten und den Eindruck zu erwecken, als wäre drüben nichts und hier alles geschehen, was überhaupt nur an Unrecht geschehen kann? Ich weise dies ausdrücklich zurück.
Danke schön.
({6})
Als nächstes nun der Kollege Dr. Jürgen Schmude.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei aller Zurückweisung, Herr Kollege Geis: Wir sollten den Themen, auf die wir heute abend gestoßen werden, nicht ausweichen
wollen, sondern uns mit ihnen sachlich auseinandersetzen.
({0})
Das geht nämlich.
Der vorliegende Antrag lenkt unseren Blick tatsächlich auf das Unrecht, das durch das politische Strafrecht und die Justiz in der Bundesrepublik zur Zeit des Kalten Krieges geschehen ist. Diese Erinnerung kann nützlich sein. Sie kann uns davor bewahren, aus der Überlegenheit des Westens den Fehlschluß zu ziehen, hier sei alles fehlerfrei gewesen und sei es vielleicht noch heute.
({1})
Ich sage, sie kann uns davor bewahren, und diesen Nutzen sollte man wahrnehmen.
({2})
Es hat in den 50er und 60er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland Praktiken der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte gegeben, die aus heutiger Sicht in der Tat unglaublich sind. Es ist ein Verdienst von Diether Posser, daß sein Buch „Anwalt im Kalten Krieg", das Sie, Herr Heuer, allerdings nur teilweise zitiert haben - auf andere Stellen komme ich noch -, uns diese Dinge sehr anschaulich und übrigens auch interessant vor Augen führt. Er erinnert an Verfolgung politischer Gegner der damaligen Regierung, bei der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verletzt, Meinungs- und Informationsfreiheit durch Strafdrohung verkürzt wurden.
Wenn wir uns daran erinnern lassen und dies bedenken, treffen wir auch Vorsorge dagegen, daß politische Streitigkeiten in der Zukunft bei uns dahin ausufern, daß man in intolerante Repression gerät, statt sich sachlich und tolerant auseinanderzusetzen. Das ist nützlich, nicht nur für unser Bild von der Vergangenheit.
Aber zu diesem Erinnern gehört die Erkenntnis des Wandels, der 1968 mit der Reform des politischen Strafrechts eingetreten ist. Nach langem Kampf und langjährigen Diskussionsprozessen hat damals der Rechtsstaat die Fehler aus eigener Kraft korrigiert. Das war das besondere Verdienst des Bundesjustizministers Gustav Heinemann, der einen entsprechenden Gesetzentwurf hier im Bundestag vorgelegt hat. Der Gesetzentwurf war begleitet von einem Straffreiheitsgesetz und von der Anregung von Gnadenverfahren, um auch die Konsequenzen aus dieser damaligen Änderung zu ziehen.
Eine solche Entkriminalisierung, eine Rücknahme der Strafdrohung, war keine Einzelerscheinung; sie gab es mehrfach in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das haben Rechtsstaaten so an sich, daß sie ihr Recht korrigieren und dann auch Konsequenzen ziehen. Niemand kommt aber in den anderen Fällen auf den Gedanken, heute, 20 oder 30 Jahre später, eine Wiederaufnahme des Geschehens zu fordern, Entschädigung und Rehabilitierung zur Sprache zu bringen. Sie von der PDS kommen ja darauf
durch das heute beschlossene Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Sie haben sich ja erklärtermaßen davon anregen lassen. Aber dann müssen Sie sich auch in aller Ruhe sagen lassen: Es gibt überhaupt keine vergleichbaren tatsächlichen Voraussetzungen für einen solchen Zusammenhang.
Die Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland sind rechtsstaatlich durchgeführt worden, auch damals.
({3})
Richter und Staatsanwälte wußten sich dem Rechtsstaat verpflichtet. Die Anwälte hatten große Chancen, und sie haben sie genutzt. Das steht alles bei Posser zu lesen.
Und in der DDR? Blicken Sie in die „Frankfurter Rundschau" von heute. Sie werden erkennen: Da gab es nicht nur das unfaire Verfahren, da war nicht nur die Verteidigung eine Farce, da waren die Richter die Büttel der Partei, der SED, die beflissen auf Winke von oben sogar Todesstrafen verhängt haben.
({4})
Die „Frankfurter Rundschau" berichtet es heute.
In der Bundesrepublik Deutschland gab es die Chance zum öffentlichen Kampf gegen dieses Strafrecht und gegen die politische Justiz. Heinemann, Posser und andere waren darin erfolgreich. Was gab es in der DDR?
Im Blick auf die DDR sehen wir eine Kette krasser Unrechtstaten, die reine politische Verfolgung und Unterdrückung sind - unter Mißbrauch der äußeren Gestalt der Justiz. In der heutigen Zeitung „Die Zeit" wird ein Zitat von Herrn Gysi wiedergegeben, er wolle dafür einstehen, daß die DDR und ihre Institutionen nicht global als Unrechtsregime und verbrecherisch abqualifiziert werden. Ich sage Ihnen: Nimmt man sämtliche Staatsfunktionen der DDR in den Blick, dann ist da etwas dran; aber Sie müssen Ausnahmen machen. Die politische Strafjustiz der DDR ist eine solche Ausnahme; sie war verbrecherisch und markantes Merkmal eines Unrechtsregimes.
({5})
In der Bundesrepublik Deutschland verdanken wir der von Ihnen zitierten Debatte aus dem Jahre 1968 und der vorausgegangenen Diskussion die gänzlich andersartige Bewertung des damals geänderten Strafrechts. Vom Unbehagen an der politischen Justiz hat Gustav Heinemann gesprochen. Es sei unklar, es sei unbefriedigend und unpraktikabel, dieses Strafrecht. Auch deutschlandpolitisch sei es in seinen Auswirkungen bedenklich. Das waren die Gründe, weshalb man 1968 die Änderung vorgenommen hat.
Auf das Strafmaß ist hier schon hingewiesen worden. 1968 gab es noch 30 Fälle, in denen Reststrafen als Folge der Gesetzesänderung vollständig getilgt wurden. Die Hauptstrafen lagen, sämtlich unter zwei Jahren. Da frage ich Sie: Wie stand es mit den Strafmaßen in der DDR? Wenn wir uns das ansehen,
erkennen wir doch schon so gravierende Unterschiede, daß sich ein Vergleich verbietet. Die Strafmaße in der DDR waren durch Brutalität, durch Vernichtungsstrafen - einschließlich des Vermögenseinzuges, bis hin zur Einweisung in psychiatrische Kliniken - gekennzeichnet.
Ich sehe über diesen Anlaß hinaus bei Ihnen, Herr Heuer, zum wiederholten Mal das Bemühen, das staatliche Handeln in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland auch da auf eine gleiche Ebene zu bringen, wo es krasseste Unterschiede gibt, ein Bemühen, auch absurden Unrechtsmaßnahmen der DDR den Anschein der Normalität und des Üblichen - auch in anderen Staaten Üblichen - zu gehen.
({6})
Aber so werden Unterschiede, die offenkundig und gravierend sind, eingeebnet, sie werden auch geleugnet.
Es mag ja sein, daß die Grundlage dieser Haltung bei Ihnen und Ihren Kollegen in der Gruppe der PDS die Unfähigkeit oder der Unwille zum Begreifen der grundlegenden Mängel der Unrechtmäßigkeiten der Staatspraxis der DDR ist. Vielleicht ist das als eine Art Selbstrechtfertigung oder Selbstentschuldigung erklärbar, sei es persönlich, sei es - vielleicht noch mehr in Ihrer Rolle als Nachfolgepartei der SED.
Erklärbar ist es schon, verständlich aber nicht, da alle Unzulänglichkeiten und Schandtaten, auch Systemfehler der DDR, doch nun offen zutage liegen. Wir lassen uns von Ihnen gern auf unsere Mängel im Westen aufmerksam machen und werden darüber im Ausschuß noch reden. Aber Ihre Weigerung, die grundlegenden Fehler im Wertesystem und in der Struktur der DDR, ihre Andersartigkeit als Diktatur im Vergleich zum demokratischen Staat zur Kenntnis zu nehmen, zeigt, Herr Heuer, daß Sie innerlich noch nicht bei uns im demokratischen Staat angekommen sind.
({7})
Das macht die Verständigung mit Ihnen - und erst recht die Zusammenarbeit - schwer.
({8})
Herr Kollege Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heuer?
Ich bin an sich am Ende, aber ich möchte Herrn Heuer durchaus die Gelegenheit geben.
Vielleicht eine Bemerkung dazu oder eine Frage.
Eine Bemerkung mit Fragezeichen, Herr Heuer.
Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 97. Sitzung. Bonn, Mittwoch, cien 17. Juni 1992 8091
Danke schön. - Ich beobachte mit Sorge, daß hier gegenüber Ostdeutschland jetzt manches läuft, von dem ich meine, daß es wieder Züge von damals trägt.
({0})
- Einen Augenblick, ich richte die Frage an Herrn Schmude, nicht an Sie. - Ich erinnere an das Rechtsanwaltszulassungsgesetz; wir haben darüber gesprochen. Darauf beruht meine Sorge.
Ich habe in meinen Ausführungen die prinzipiellen Unterschiede nicht bestritten. Ich glaube, daß ich das gesagt habe; wir können das miteinander nachlesen. Aber was mich beunruhigt, ist, daß der Standard an Rechtsstaatlichkeit, der in der Bundesrepublik Deutschland unzweifelhaft gewonnen ist - ich habe ausdrücklich gesagt, und zwar auch hier: nach meiner Ansicht war die DDR bis zum Schluß kein Rechtsstaat; die Bundesrepublik Deutschland ist nach meiner Ansicht einer -, jetzt in der Auseinandersetzung mit Ostdeutschland und mit den Problemen dort in vielen Fällen aus Gründen, über die ich jetzt nicht ausführlich sprechen möchte - verletzt wird. Das ist eine Sorge, die mich bewegt. Das war der Grund für diese Reminiszenz. Der Rest sind offensichtlich nur noch Rentenfragen - Sie sagten, das seien nicht die Hauptfragen -, die allerdings an uns gestellt werden.
Im übrigen haben Sie recht mit dem 68er Gesetz; das bestreite ich überhaupt nicht. Aber mein eigentliches politisches Problem ist, daß ich Sorge habe, daß der erreichte Standard an Rechtsstaatlichkeit gerade in der Auseinandersetzung mit den in Ostdeutschland unzweifelhaft vorhandenen Problemen verletzt wird. Ein Beispiel dafür ist für mich nur damit Sie meine Intentionen verstehen - der heutige Beschluß zur Rechtsanwaltsüberprüfung.
Ich werte dies jetzt als eine etwas längere Kurzintervention, auf die der Kollege Schmude noch einmal antworten kann.
Ich halte Ihre Sorge für unbegründet, Herr Heuer. Aber wir können uns ja gemeinsam bemühen, sie zu entkräften. Voraussetzung ist nur, daß wir uns über Tatsachen und die sich aufdrängenden Bewertungen dieser Tatsachen verständigen, und da müssen Sie sich in der Tat noch ein ganzes Stück bewegen. Durch jenes fast halbblinde Gleichstellen von bundesrepublikanischen und DDR-Erscheinungen gewinnen wir miteinander nichts, sondern kommen immer tiefer in Konflikte hinein. Das bringt nichts!
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Jetzt hat der Kollege Jörg van Essen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist nicht die vorgerückte Stunde, sondern der Debattengegenstand, und es ist auch nicht die Arroganz des Westens, immer alles richtig gemacht zu haben, wenn ich lediglich drei Sätze sage.
Der Gesetzentwurf der PDS ist eine Verhöhnung derer, die in Deutschland Opfer von Diktaturen geworden sind.
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Es ist der untaugliche Versuch, diejenigen, die einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat beseitigen und einen Unrechtsstaat nach DDR-Muster etablieren wollten, von Kollaborateuren zu Opfern zu mutieren.
Jedes weitere Wort wäre an diesem 17. Juni zuviel der Ehre für diesen unerträglichen Gesetzentwurf.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann schließe ich die Aussprache.
Der Altestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/2260 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung und der Tagesordnung dieser Woche angekommen.
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- Offensichtlich gibt es irgendwelche Absprachen. - Herr Kollege Struck.
Frau Präsidentin, zur Geschäftsordnung möchte ich hier erklären: Da die Präsenz der Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen so gering ist, ziehe ich meinen Antrag auf eine Aktuelle Stunde zurück.
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Im Moment, Herr Kollege Rüttgers, habe ich noch die Sitzungsleitung. Falls Sie der Sitzung noch weiter folgen wollen, bitte ich Sie, Platz zu nehmen.
Es hat sich der Kollege Rüttgers zur Geschäftsordnung gemeldet. Wenn, dann wollen wir das jetzt ordentlich bis zum Ende durchführen. Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, wenn ich richtig sehe, sind immer noch reichlich mehr Abgeordnete der Koalition als der SPD da. Ich lege Wert auf diese Feststellung, weil sich daraus ergibt, daß die SPD weder inhaltlich noch personell in der Lage ist, die Aktuelle Stunde zu bestreiten.
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Nun hat zur Geschäftsordnung die Kollegin Albowitz das Wort. - Herr Kollege Irmer, wollen Sie dann auch noch das Wort zur Geschäftsordnung?
Nein, Frau Albowitz sagt normalerweise alles das, was ich auch zu sagen hätte.
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Wunderbar, Herr Kollege Irmer. - Nun die Kollegin Albowitz.
Frau Präsidentin, ist der Kollege Struck bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir jederzeit in der Lage sind, die nötige Deckungsreserve für eine Mehrheit für die Aktuelle Stunde herbeizuschaffen?
Nachdem ich davon ausgehe, daß der Kollege Rüttgers richtig gesehen hat, wenn auch seine Bewertung sicherlich nicht von der Opposition geteilt wird, darf ich jetzt die heutige Sitzung schließen und die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. Juni 1992, 13 Uhr einberufen, Ihnen eine gute Nacht, einen schönen Feiertag, falls in Ihrem Bundesland vorhanden, und einen guten Nachhauseweg wünschen.
Die Sitzung ist jetzt geschlossen.
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