Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von den Plätzen zu erheben.
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Am Samstag der vergangenen Woche ist der Altbundespräsident und ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Karl Carstens im Alter von 77 Jahren verstorben. Von 1973 an führte Karl Carstens drei Jahre lang die CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Die Mitglieder des Deutschen Bundestages haben ihn im Jahre 1976 zu ihrem Präsidenten bestimmt. Aus diesem Amt heraus wurde Karl Carstens am 23. Mai 1979 von der Bundesversammlung zum fünften Bundespräsidenten gewählt.
Seine Fähigkeit zu Ausgleich und Führung, sein sicherer demokratischer Stil und seine Bereitschaft zur Objektivität haben ihn in besonderer Weise zur Ausübung unserer beiden höchsten Staatsämter prädestiniert. Beide Ämter hat er mit hohem Verantwortungsbewußtsein geprägt. In beiden Ämtern hat er unser Land nach innen und außen vorbildlich repräsentiert.
Karl Carstens wurde am 14. Dezember 1914 in Bremen geboren. Seine politische Laufbahn hat er, der 1949 nach juristischen Studien in den USA nach Deutschland zurückkehrte und sich zunächst als Rechtsanwalt niederließ, als Bevollmächtigter der Hansestadt Bremen beim Bund begonnen. 1954 trat er in den Auswärtigen Dienst ein, in dem er dann von 1960 an sechs Jahre lang als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes wirkte.
1966 trat Karl Carstens als Staatssekretär in das Verteidigungsministerium über; 1968 wurde er Chef des Bundeskanzleramtes unter Bundeskanzler Kiesinger.
Bereits während seiner Laufbahn als Beamter hatte er sich an der Universität Köln habilitiert und war dort 1960 Ordinarius im Staats- und Europarecht geworden.
Dem Deutschen Bundestag gehörte er als Abgeordneter von 1972 bis 1979 an.
Wir verlieren in Karl Carstens eine der Persönlichkeiten, die unser Land und das politische Leben der
Bundesrepublik Deutschland geprägt haben. Leidenschaftlich und bis in sein hohes Alter hinein hat er das europäische Einigungswerk vorangetrieben. Stets war er auch ein Anwalt der deutsch-amerikanischen Freundschaft, in deren Dienst er sich bereits zu seiner Studienzeit gestellt hatte.
Die fruchtbare Verbindung von Wissenschaft und Praxis hat Karl Carstens wie nur wenige andere ein ganzes Berufsleben lang beispielhaft und für beide Teile fruchtbar vorgelebt.
In seinen Anstrengungen für die deutsche Einheit hat er nie nachgelassen, und daß es ihm vergönnt war, die Vereinigung 1990 mitzuerleben, hat ihm tiefe persönliche Befriedigung gegeben. Als Bundestagspräsident hat er vorbildlich das verbindende Ganze unserer Volksvertretung verkörpert. Seine vornehmlich auf Ausgleich bedachte Amtsführung war unbestechlich, fair und in die Zukunft weisend. Auch in der Verwaltung des Deutschen Bundestages hat sich der administrativ erfahrene Jurist Carstens großen Respekt erworben.
In allen seinen Ämtern hat Karl Carstens aus der Zuversicht gelebt, daß es gelingen könne, in den Menschen ein Bewußtsein für ihre eigenen gestalterischen Kräfte und die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung zu wecken, ja, auch die Bereitschaft zum persönlichen Opfer im Interesse des Gemeinwohls.
Karl Carstens hat unserer parlamentarischen Demokratie vorbildlich gedient. Vor seiner Persönlichkeit und vor der Leistung seines Lebens neigen wir uns mit Respekt. Seinen Tod betrauern wir. Karl Carstens wird uns unvergessen bleiben.
In der Nacht zum Montag verstarb im Alter von 52 Jahren der frühere Staatsminister Lutz Stavenhagen, körperlich zusammengebrochen.
Lutz Stavenhagen wurde am 6. Mai 1940 in Jena geboren. Er besuchte Schulen in Kolumbien, Indien und Deutschland. Nach Abitur und Wehrdienst begann er mit dem Studium der Betriebs- und Volkswirtschaft, legte 1964 sein Examen als Diplomkaufmann ab, promovierte 1968 zum Dr. rer. pol. und arbeitete in der Wirtschaft.
Im Jahre 1964 trat er der CDU bei und engagierte sich für seine Partei in der Kommunalpolitik.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Seit 1972 vertrat Lutz Stavenhagen als direkt gewählter Abgeordneter den Wahlkreis Pforzheim im Deutschen Bundestag. Im Parlament befaßte er sich vor allem mit den Bereichen Haushalts- und Forschungspolitik.
Im September 1985 wurde er als Staatsminister in das Auswärtige Amt berufen. 1987 wechselte er in das Bundeskanzleramt, wo er im Mai 1989 auch die Koordinierung der Nachrichtendienste und damit die Aufsicht über den Bundesnachrichtendienst übernahm. Als Staatsminister erwarb er sich insbesondere Verdienste um die europäische Einigung.
Wir trauern um einen Kollegen, der sich mit all seinen Begabungen, mit seiner ganzen Kraft in die Politik eingebracht hat: fachkundig, intensiv arbeitend, ein Streiter für Europa, ein eher stiller, geschätzter und liebenswerter Kollege und Kamerad. Er ist an der Politik zerbrochen.
Wir alle sind erschüttert von seinem frühen Tod. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen, vor allem seiner Frau und seinen beiden Töchtern.
Sie haben sich zu Ehren der Toten erhoben. Ich danke Ihnen.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß sich das Kabinett u. a. mit wirtschaftlichen Perspektiven der deutschen Wiedervereinigung und mit dem Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 befaßt hat.
Das Wort für den einleitenden Bericht hat der Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns heute vormittag etwa vier Stunden lang mit der wirtschaftlichen Situation in den neuen Bundesländern befaßt. Gegenstand der Beratungen waren ein Bericht über die wirtschaftspolitischen Perspektiven der deutschen Wiedervereinigung, ein Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu den wichtigsten wirtschaftlichen Fördermaßnahmen der Bundesressorts für die neuen Bundesländer und ein Zwischenbericht des Bundesministers der Finanzen über den weiteren Ablauf des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. Frau Präsidentin, diese Berichte gehen den zuständigen Bundestagsausschüssen zu. Natürlich sind wir - wie üblich - auch gerne bereit, über die Details dieser Berichte mit den Kolleginnen und Kollegen in den zuständigen Ausschüssen zu sprechen; deswegen an dieser Stelle nur einige knappe Bemerkungen dazu.
Wir haben festgestellt, daß sich die wirtschaftliche Situation in den neuen Bundesländern differenziert darstellt, daß es eine ganze Reihe von positiven Entwicklungen gibt, etwa im Bereich Dienstleistungen, bei der Bauwirtschaft, bei den Existenzgründungen und den industriellen Neuinvestitionen. Es ist unverändert realistisch davon auszugehen, daß in diesem Jahr ein Wachstum des Bruttosozialprodukts von real 8 bis 10 % in den neuen Bundesländern erreicht werden kann. Allerdings gehört dazu die
Bemerkung, daß das Wachstum ohne die Pendlereinkommen, d. h. das Bruttoinlandsprodukt, bei 5 bis 7 liegen wird.
Auf der anderen Seite gehört genauso klar dazu die Feststellung, daß es einen sich selbst tragenden Aufschwung noch nicht gibt. Die von mir gerade erwähnten Dokumente, die jetzt auch den Ausschüssen zugehen, analysieren die Ursachen. Eine der Ursachen, die wir feststellen müssen, ist die folgende Tatsache: Zwar gibt es massive Investitionen des Staates. Die Quote der öffentlichen Investitionen beträgt für die neuen Bundesländer pro Kopf der Einwohner 130 % der öffentlichen Investitionen, die in den alten Bundesländern getätigt werden. Das ist positiv. Damit ist mit beträchtlichen Aufwendungen, beispielsweise im Verkehrsbereich und im Kommunikationsbereich, eine ganz spürbare Verbesserung der Infrastruktur auf den Weg gebracht worden. Was aber nicht zufriedenstellend ist, ist das Volumen der privaten Investitionen, die bislang in Gang gekommen sind. Hier liegt die entsprechende Relation bei 60 zu 100. Das heißt, wenn die Gesamtinvestitionen im Bereich der alten Bundesländer 100 sind, dann sind es in den neuen Bundesländern nur 60 % pro Kopf.
Wir haben uns verständlicherweise gefragt: Wo liegen die Hauptursachen für die vorhandenen Defizite? Über die Ursachen und Verdienste für die positiven Entwicklungen sind sich immer sofort alle einig. Aber eine nüchterne Analyse muß auch die Frage stellen: Was läuft nicht richtig? Da ist es schon wichtig, daß man sich darüber klar wird, daß eine Bewältigung der noch vorhandenen Defizite ein gemeinsames Handeln aller betroffenen Ebenen verlangt.
Ich möchte, ohne von der Verantwortung der Bundesregierung ablenken zu wollen, kurz erwähnen, was ich damit meine. Wir finden, daß die neuen Bundesländer eine andere Praxis bei der Freistellung von ökologischen Altlasten an den Tag legen sollten. Hier haben wir eine Vereinbarung mit den Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer getroffen, daß die Aufwendungen, die hierfür zu tätigen sind, im Verhältnis 45 zu 45 zu 10 zwischen Ländern, Bund und Treuhand verteilt werden sollten. Hier hapert es am Vollzug bei den neuen Ländern.
Bei den alten Bundesländern kann man zwar einerseits sagen, daß sie schon eine Menge Beiträge geleistet haben, um ihrer finanziellen Mitverantwortung gerecht zu werden, daß das aber bislang nicht reicht. Es ist jetzt vor allem wichtig, daß sie sich konstruktiv an der Lastenverteilung der Einigungsfinanzierung beteiligen. Darüber wird heute der Bundesminister der Finanzen im Finanzplanungsrat auch mit den Ländern sprechen müssen.
Bei den Kommunen in den neuen Bundesländern konstatieren wir einen zu hohen Personalbestand bei gleichzeitigem Mangel an Fachkräften. Wir konstatieren auch, daß sie zu zögerlich sind -({0})
Herr Bundesminister, es wird gewünscht, daß Sie zum Ende Ihres Berichtes kommen.
Frau Präsidentin, wer eine komplexe Betrachtung anstellen will, muß mindestens die einzelnen Faktoren kurz erwähnen können.
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- Ich erwähnte die Kommunen, und ich erwähne das Verhalten der Tarifparteien. Die Lohn-Produktivitäts-Lücke von über 50 % ist eine der Ursachen dafür, daß Investitionen im privaten Sektor ausgeblieben sind.
Wir haben uns darauf verständigt, daß wir die Maßnahmen zur Förderung privater Investitionen verstärken, verstetigen und auch zeitlich ausweiten wollen. Bis zur Beratung des Bundeshaushalts 1993 und der mittelfristigen Finanzplanung am 1. Juli im Bundeskabinett sollen die notwendigen Einzelbeschlüsse so vorbereitet werden, daß dann das Instrumentarium festgelegt werden kann.
Wir haben zweitens gesagt, daß nach dem Beispiel der Ruhrgebietskonferenz in Hauptproblemregionen der neuen Bundesländer unter der Federführung und Schirmherrschaft des Bundeskanzlers fünf bis acht Regionalkonferenzen durchgeführt werden sollen, die die Bemühungen der verschiedenen beteiligten Ebenen zusammenführen sollen, um die Krisensituation in besonders belasteten Regionen zu überwinden.
Wir haben schließlich heute erfreulicherweise zur Kenntnis nehmen können, daß gestern die Regierung Rußlands den letzten Stolperstein aus dem Weg geräumt und nunmehr den Weg für die Abwicklung von Lieferungen aus den Unternehmen der neuen Bundesländer mit Hermes-Konditionen freigemacht hat. Das ist erfreulich. Wir haben dabei gleichzeitig festgelegt, daß wir am Ende des Monats, also am Ende des zweiten Quartals, eine Bestandsaufnahme vornehmen werden, um den Plafond, der zunächst auf 5 Milliarden begrenzt war, gegebenenfalls zu verändern.
Als erste Fragestellerin hat Frau Matthäus-Maier das Wort.
Herr Möllemann, Sie wollen bitte zur Kenntnis nehmen, daß Unmut hier darüber bestand, daß einerseits der Herr Bundeskanzler einen Bericht zur Lage der Nation, wo er das alles im einzelnen hätte darlegen können, ablehnt, und Sie andererseits dann die Regierungsbefragung dazu nutzen, statt konkrete Entscheidungen bekanntzugeben, so Sie denn welche getroffen haben, allgemeine Ausführungen zu machen.
Sie sagen, im Kabinett war klar: Die Lage der privaten Investitionen ist unbefriedigend. Ich frage Sie ganz konkret: Haben Sie heute bereits entschieden, ob es eine Verlängerung der Investitionszulage gibt? Wenn das nicht der Fall ist - es klang so aus Ihrem Vortrag -: Trägt es nicht zur weiteren Verunsicherung bei, daß es darüber noch immer keine Klarheit gibt?
Zweitens. Haben Sie darüber gesprochen und entschieden, ob das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost und die auslaufende Vorruhestandsregelung - eine dringende Forderung von uns - verlängert werden?
Haben Sie endlich darüber gesprochen, wie das Entschädigungsgesetz aussieht, das im Hause Waigel erarbeitet wird? Nur dieses Paket kann ja dazu beitragen, auch die Fragen derer, die auf Rückgabe verzichten und mit Entschädigung zufrieden sind, endlich zu klären.
Verunsicherung kann man vor allen Dingen immer dann herbeiführen, wenn man den Eindruck erweckt, als würden die notwendigen Entscheidungen nicht getroffen. Auf der anderen Seite aber, Frau Kollegin, halte ich es schon für angemessen, daß man, wenn es nach einer vierstündigen Diskussion über die Gesamtpalette der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern durchaus auch Verabredungen in Vereinbarung zwischen den beteiligten Ressorts geben kann, zu dem Zeitpunkt, der dafür geeignet ist, diese auch in Zahlen und Daten umsetzt, nämlich am 1. Juli, wenn über den Haushaltsplan für das kommende Jahr und über die mittelfristige Finanzplanung von seiten des Kabinetts beschlossen wird.
Wir haben festgelegt, daß die Maßnahmen zur Förderung privater Investitionen verstärkt werden sollen. Es wird jetzt bis zum 1. Juli geklärt, ob dies - wie von mir angeregt durch eine Verlängerung der 12 %igen Investitionszulage geschehen soll oder durch die Verlängerung der Sonderabschreibungsmöglichkeiten und die Verlängerung der Ausnahmen von Gewerbekapital- und betrieblichen Vermögenssteuern. Hier soll ein Paket geschnürt werden, das am 1. Juli im Kabinett beraten und beschlossen werden wird.
Zweitens. Wir haben festgelegt, daß im Zusammenhang mit der Novelle zum Vermögensgesetz - das Eigentumsproblem ist unverändert ein Problem für den wirtschaftlichen Aufschwung - noch in dieser Woche ein Gespräch geführt werden soll - im übrigen unter Einschluß der Sozialdemokraten -, um eine Formulierung beim Vermögensgesetz zu finden, die tatsächlich den Investitionsvorrang sicherstellt.
Wir haben drittens gesagt, daß wir das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost fortsetzen wollen. Es hat sich bewährt. Wir wollen bis zum 1. Juli, bis zum Termin der Beratung über den Haushalt und die mittelfristige Finanzplanung, die Instrumente und ihre Finanzierung im Detail festlegen. Es ist offenkundig, daß bestimmte Maßnahmen, die bewußt zeitlich befristet waren, auslaufen und daß andere zusätzlich erforderlich werden. Die Grundsatzentscheidung heute: Es wird fortgesetzt. Wir werden am 1. Juli über die konkrete Ausgestaltung beraten.
Es ist wahr: Die Usance, daß man hier in einem sehr knappen Bericht vortragen soll, kann einen gelegentlich daran hindern, alles in einem Beitrag zu sagen. Sie
haben aber recht: Das sollte ich schon angesprochen haben. - Heute ist nicht über das Entschädigungsgesetz gesprochen worden; die Arbeiten daran laufen. Hierüber wird der zuständige Ressortminister alsbald berichten.
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Eine Zusatzfrage: Habe ich Sie also richtig verstanden, daß die Verlängerung des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost heute als einziger Punkt konkret entschieden worden ist? Können Sie bitte die Zahl nennen? Ist es schlicht die gleiche Größenordnung, 12 Milliarden DM für 1993, oder was haben Sie dazu beschlossen?
Frau Kollegin, ich sagte Ihnen gerade, daß sowohl über die Instrumente wie auch über die finanzielle Dimensionierung die Entscheidung vernünftigerweise mit dem Bundeshaushalt 1993 und der mittelfristigen Finanzplanung getroffen wird; denn da gehört es hinein.
Heute galt es zu entscheiden, ob wir dieses bewährte Projekt Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost fortsetzen. Das ist entschieden worden, und das wird so geschehen.
Herr Wolfgang Roth.
Würden Sie mir nach diesen Ausführungen nicht zustimmen, daß es dringend geboten wäre, daß über diese Fragen in einer auf wirtschaftliche und soziale Fragen orientierten Debatte über die Lage der Nation hier einmal extensiv diskutiert wird?
Zweitens. Würden Sie mir nicht zustimmen, daß es mehr als mißlich ist, wenn Investitionszulagen auslaufen und die Wirtschaft in dieser Phase über Wochen und Monate im unklaren gelassen wird? Ist das nicht ein Investitionshemmnis auf politischer Seite?
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Herr Kollege, zum einen ist es, glaube ich, nicht ungewöhnlich, daß man, wenn man ein Maßnahmenpaket zeitlich befristet - auch im Hinblick auf die Investitionszulage; das war ja der Grund, warum wir sie so befristet hatten, und darüber gab es seinerzeit eigentlich keinen großen Dissens -,
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um eine möglichst schnelle Entscheidung der Investoren zu bewerkstelligen, also Attentismus zu vermeiden, bei der Bestandsaufnahme feststellt, daß die Gründe wahrscheinlich zu erheblichen Teilen gar nicht bei den Investoren liegen, sondern in Verwaltungsproblemen.
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- Es gibt auch die Probleme bei der Debatte um das
Vermögensgesetz, natürlich, und es ist wohl klar, daß
die sich da auswirken. Wenn also aus Gründen, die
nicht allein bei den Investoren liegen, private Investitionen - die zwar beträchtlich sind, aber noch nicht ausreichen - ausgeblieben sind, fragt man sich: Was kann zusätzlich getan werden?
Das war heute Gegenstand der Beratung, und ich halte den Zeitabstand vom 3. Juni bis zum 1. Juli nun nicht für so gravierend, daß man bei der Grundsatzentscheidung, die heute getroffen wurde, das Instrumentarium zu verstärken, diesen knappen Zeitraum nicht abwarten könnte. Ich glaube, das meinen Sie selbst nicht so ganz ernst.
Zusatzfrage, Herr Roth.
Würden Sie die Behauptung, die Verzögerung sei nicht schlimm, denn es gehe ja praktisch nur um vier Wochen, auch aufrechterhalten, wenn ich Sie darauf hinweise, daß wir diese Debatte über die Verlängerung der Investitionszulage schon seit einem Jahr führen und daß seit dieser Zeit die Investoren eigentlich wissen wollen, wie es weitergeht, was die Förderung in Ostdeutschland anbetrifft?
Nein, Herr Kollege Roth - und ich nehme fast an, das meinen Sie nicht wirklich so -, wenn Sie das schon vor einem Jahr gesagt hätten, müßte ich Sie deswegen leider kritisieren. Dann hätten Sie nämlich Investoren geradezu dazu ermuntert, von einer politisch absichtsvoll befristeten Zulage, die degressiv angelegt ist, nicht Gebrauch zu machen. Das ist nicht der Fall. Vor einem Jahr hat kein Mensch gesagt: Und was macht ihr nach diesem Jahr?
Die Frage stellt sich jetzt, da in bestimmten Bereichen Investitionen aus Gründen, die nicht allein bei den Investoren liegen, nicht in der gesetzten Frist in Gang gekommen sind. Insofern halte ich das Vorgehen, wie wir es jetzt praktizieren, durchaus für angemessen.
Ich habe keine weiteren Fragen zu diesem Tagesordnungspunkt. - Herzlichen Dank, Herr Wirtschaftsminister.
Es gibt aber eine Reihe von Fragestellern zu dem zweiten Tagesordnungspunkt, und zwar zu Berlin. Ich gehe davon aus, daß nicht erst berichtet wird, sondern daß ich unmittelbar aufrufe. Einverstanden? - Dann spricht als erster Herr Lowack.
Ich wüßte gerne von der Bundesregierung erstens, wie sie, wenn sie denn ein Gesetz in Aussicht stellt, daran vorbeikommen möchte, daß dann auch ein finanzieller Deckungsvorschlag vorgelegt werden muß, und zweitens, ob die Bundesregierung in bezug auf die Entscheidung vom Dezember 1991 unverändert der Auffassung ist, daß eine Festlegung des Sitzes der Ministerien im Gesetz nicht erfolgen soll.
Zur ersten Frage, die Finanzierung der Umsetzung des Bundestagsbeschlusses betreffend, gehe ich davon aus, daß die Kosten - wie auch bei anderen gesetzlichen Regelungen - im
Gesetz angegeben werden. Das wird sich sicher dann übersehen lassen, wenn der Entwurf in das Gesetzgebungsverfahren kommt.
Vielleicht können Sie die zweite Frage noch etwas präzisieren, Herr Abgeordneter.
Ja, dazu bin ich gern bereit.
Bisher ging die Bundesregierung davon aus, daß in einem entsprechenden Gesetz eine Festlegung des Sitzes der Ministerien nicht erfolgen soll. Ich wollte gerne wissen, ob diese bisherige Auffassung der Bundesregierung irgendeine Änderung erfahren hat.
Sie hat keine Änderung erfahren. Wir gehen davon aus, daß im Gesetz festgelegt wird, daß der Sitz der Bundesregierung - wie auch der Sitz des Bundestages - Berlin, daß in Bonn einzelne Ministerien vorhanden sein werden, daß der größte Teil der Arbeitsplätze in Bonn verbleibt und daß in Bonn Politikbereiche geschaffen werden. Die Festlegung einzelner Ministerien mit Sitz in Bonn würde aber der Organisationsgewalt des Bundeskanzlers widersprechen, die hier gewahrt werden muß.
Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Staatssekretär, wenn Sie heute von einem Gesetzentwurf sprechen, ist er dann als Entwurf fertig, oder haben Sie nur Eckdaten dazu festgelegt, und welche sind diese?
Es gibt in der Tat nur Eckdaten. Ich habe schon einiges von dem vorgelesen, was in dem Gesetz geregelt werden müßte. Hinzu kommen noch die Verlagerung von Bundesbehörden von Berlin nach Bonn, der Grundsatz der Unterstützung und der Herstellung der Funktionsfähigkeit in Berlin, die Förderung der Entwicklung Bonns als Bundesstadt und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes. Dazu gehören Maßnahmen, die getroffen werden müssen, damit den Mitarbeitern durch den Umzug keine unvertretbaren Kosten entstehen.
Welche Zeitvorstellungen hat die Bundesregierung sowohl hinsichtlich der Einbringung eines Gesetzes in den Deutschen Bundestag als auch hinsichtlich des Zeitpunktes, zu dem das, was im Gesetz offenbar vorgesehen ist, realisiert werden soll?
Ich glaube, daß die Beratungen des Deutschen Bundestages und der eingesetzten Kommissionen über den Bericht weitere Hinweise auch über die Vorstellungen des Deutschen Bundestages geben. Sobald wir die haben, kann man mit der Vorbereitung des Gesetzentwurfes beginnen.
Herr Abgeordneter Conradi.
Herr Staatssekretär, die Frau Bundestagspräsidentin hat in Übereinstimmung mit dem Ältestenrat in Berlin und andernorts öffentlich erklärt, wir würden, wenn wir nach Berlin kommen, unsere Wohnungen mitbringen. Die Bundesbediensteten, die nach Berlin kommen, bringen also Wohnungen mit; dort werden Wohnungen für diese gebaut. Ich frage Sie: Trifft es zu, daß die Bundesregierung, abweichend von dieser verbindlichen Erklärung, prüfen läßt, ob nicht an Stelle von Wohnungen, die in Berlin gebaut werden sollen, Wohnkostenzuschüsse an Bundesbeamte gegeben werden sollen, die sich dann auf dem Berliner Wohnungsmarkt an den Berliner Wohnungssuchenden vorbei einkaufen könnten? Hat die Bundesregierung das in klarer Abweichung von dem vor, was die Bundestagspräsidentin und wir gesagt haben?
Herr Abgeordneter Conradi, der Grundsatz, den Sie erwähnt haben, daß die Bundesregierung die notwendigen Wohnungen mitbringt, ist ein unverrückbarer Grundsatz der Entscheidung der Bundesregierung. Die andere Frage ist: Wie wird das für die Angehörigen des öffentlichen Dienstes finanzierbar gemacht? - Da gibt es natürlich verschiedene Modelle, wie man das machen kann. Aber daß die Bundesregierung veranlassen wird, die erforderliche Zahl von Wohnungen zu errichten, ist ein fester Grundsatz, der zu keinem Zeitpunkt in Frage gestanden hat.
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Frau Abgeordnete Limbach.
Ich möchte von der Bundesregierung noch einmal eine Bestätigung und eine nähere Ausführung dazu haben, wie der Beschluß vom 20. Juni vergangenen Jahres in ein Gesetz umgesetzt werden soll. Ich habe ja wohl richtig verstanden, daß die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag Eckpunkte für ein solches Gesetz vorschlagen will. Welche wären das? Ist darüber hinaus vorgesehen, mit Gebietskörperschaften oder Bundesländern Verträge, Staatsverträge und, wenn ja, in welchem Umfang zu treffen?
Frau Abgeordnete, ich habe ja schon einige Punkte erwähnt, die Sie als Bonner Abgeordnete wahrscheinlich besonders interessieren: Das ist der Grundsatz der Aufteilung von Ministerien auf Berlin und Bonn; das ist der Grundsatz, daß der größte Teil der Arbeitsplätze der Bundesministerien in Bonn verbleibt; daß in Bonn bestimmte Politikbereiche errichtet werden: - das ist der Grundsatz der Ausgleichsmaßnahmen. Das sind die wesentlichen Elemente in diesem Zusammenhang.
Sie müssen dann durch Vereinbarungen konkretisiert werden, und zwar mit der Region Bonn und unter Beteiligung der Länder; man muß sehen, wer die Vertragspartner dieser Vereinbarungen im einzelnen sind. Auf der Berliner Seite wird es dann Vereinba7696
rungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland, Berlin und dem Land Brandenburg geben.
Eine Zusatzfrage.
Gehört zu dem, was heute beschlossen worden ist, auch der Teil der Vorschläge, die die Föderalismus-Kommission vorgelegt hat, und was gedenkt die Bundesregierung, darüber hinaus zu tun, oder sieht sie die Notwendigkeit nicht?
Die Bundesregierung hat von den Vorschlägen der Föderalismus-Kommission hinsichtlich der Verteilung auf die neuen Länder Kenntnis genommen und hat den Grundsatz bekräftigt, daß sie alles tun will, dem föderativen Gedanken in der Bundesrepublik Wirkung zu verleihen.
Frau Abgeordnete Klemmer.
Herr Staatssekretär, ich wüßte gerne von Ihnen, warum der Bericht keine Aussagen darüber enthält, wann welche Arbeitseinheiten der Bundesregierung nach Berlin verlagert werden. Können Sie vielleicht auch Aussagen darüber machen, wieviel Bürofläche in Berlin bereits jetzt zur Verfügung steht oder wieviel durch Renovierungsmaßnahmen kurzfristig verfügbar gemacht werden könnte, um schon vor dem endgültigen Umzugstermin Bundesdienststellen in Berlin unterzubringen, und sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß ein allmählicher, schrittweiser Umzug nach Berlin praktikabler wäre als ein Umzug in einem Schritt?
Die Bundesregierung hat stets betont, daß der Umzug der Regierung nach Berlin in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Umzug des Deutschen Bundestages stattfinden muß. Diejenigen Einrichtungen der Bundesregierung, die besonders eng mit dem Parlament zusammenarbeiten, also insgesamt die Bereiche der Gesetzgebung, sollen ja nach Berlin umziehen. Andere Bereiche, bei denen die Verbindung nicht so ausgeprägt ist, werden in Bonn verbleiben. Wenn man das bedenkt, sieht man natürlich deutlich, daß, bevor der Bundestag nach Berlin geht, nicht die Teile der Regierung umziehen können, die hier in Bonn noch dringend gebraucht werden. Das schließt nicht aus, daß man in kleinen Bereichen im Einzelfall auch einmal Verlagerungen vornimmt. Aber eine große, schrittweise Verlagerung vor dem Umzug des Deutschen Bundestages ist nicht zweckmäßig.
Eine Zusatzfrage? - Nein.
Als nächster Herr Abgeordneter Möller.
Herr Staatssekretär, nach den Beschlüssen der Föderalismuskommission und nach den Beschlüssen der Bundesregierung von heute sollen Arbeitsplätze in einer Größenordnung von etwa 7 000 von Berlin und aus dem Raum Frankfurt nach Bonn verlagert werden. Nach dem Beschluß
des Bundestages vom 20. Juni 1991 fallen aber in der Region Bonn/Rhein-Sieg etwa 23 000 hauptstadtbedingte Arbeitsplätze und mittelbar betroffene ungefähr in der gleichen Größenordnung weg. Ist der Bundesregierung bewußt, daß durch die Verlagerung von 7 000 Stellen nach Bonn nur ein Viertel bis ein Drittel der wegfallenden Stellen in Bonn kompensiert wird? Was wird die Bundesregierung tun, um den darüber hinausgehenden Anteil durch Unterstützung der Kommunen und der Städte in dieser Region auszugleichen?
Herr Staatssekretär.
Im Bericht der Bundesregierung ist deutlich gemacht, daß die Verlagerung anderer Bundesdienststellen nach Bonn ja nur ein Teil des Ausgleichs sein kann und daß andere Ausgleichsmaßnahmen hinzutreten müssen. Es sind vier Säulen, die hier besondere Bedeutung haben. Ich nenne sie vielleicht in der Rangfolge ihrer Bedeutung: Das ist Bonn als Standort für neue Funktionen im Bereich Wissenschaft, Forschung, Technologie und Bildung. Das ist die Region Bonn als Standort zukunftsorientierter Wirtschaftsstruktur. Dann kommen noch die Region Bonn als kulturpolitisches Entscheidungszentrum und Bonn als Sitz von internationalen Organisationen hinzu. Aber ich glaube, die beiden ersten Punkte werden am ehesten und am weitestgehenden dazu beitragen, den Ausgleich zu gewährleisten.
Eine Zusatzfrage.
Nach dem BonnBerlin-Beschluß vom 20. Juni 1991 sollen 22 000 bis 23 000 hauptstadtbedingte Arbeitsplätze von Bonn nach Berlin verlagert werden, und mit den Beschlüssen der Bundesregierung und der Föderalismuskommission sollen 7 000 Arbeitsplätze nach Bonn verlagert werden. Das bedeutet, daß 7 000 Arbeitsplätze von Berlin und aus dem Raum Frankfurt nach Bonn verlagert und daß 25 000 hauptstadtbedingt hier Tätige nach Berlin verlagert werden sollen.
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Oder gibt es da eine andere Regelung, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen kann?
Das Konzept der Bundesregierung, vor allem Dienststellen von Berlin nach Bonn und dann Teile der Regierung von Bonn nach Berlin zu verlagern, sieht vor, daß ein großer Teil der Mitarbeiter weiter an seinen Dienstorten tätig sein kann. Die Mitarbeiter sind dann nur in einer anderen Dienststelle tätig. Das wird die Kosten reduzieren; es wird aber auch die sozialen Probleme der Mitarbeiter verringern.
Danke. Frau Matthäus-Maier.
Sie sagten, Sie hätten die Vorschläge der Föderalismuskommission zur
Kenntnis genommen. Wann will die Bundesregierung denn darüber entscheiden? Denn dann würde ja für alle Beteiligten in den neuen Ländern wie auch in der Bonner Region Gewißheit bestehen?
Zweitens. Gehört es nicht zu einem fairen Ausgleich für die Bonner Region, wie Sie ihn dargestellt haben, daß die Bundesregierung nicht, wie bisher, darauf beharrt, bei der Finanzierung von Investitionsmaßnahmen in der Bonner Region Quoten zwischen 25, 50 und 75 % festzulegen, obwohl die Bonner Region und das Land Nordrhein-Westfalen für diesen Arbeitsplatzverlust nun wirklich nicht verantwortlich sind?
Herr Staatssekretär.
Das sind zwei Fragen, zunächst zur Finanzierungsfrage. Wissen Sie Frau Abgeordnete, Sie sind ja in diesen Finanzdingen besonders versiert ,
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die Finanzierung muß man aushandeln.
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- Die Bundesregierung hat ihre Auffassung dargelegt. Die Auffassung der Region Bonn und der Länder hierzu ist etwas anders. Jetzt werden erst einmal die objektiven Grundlagen des Ausgleichs festgelegt. In welcher Weise das im einzelnen finanziert wird, muß dann ausgehandelt werden, wie es bei Finanzfragen üblich ist.
Bei dem anderen Punkt, was die Verlagerung von Bundesdienststellen nach Bonn betrifft, muß man auch differenzieren; das hat die Bundesregierung beschlossen, das wird sie dem Deutschen Bundestag als ihren Vorschlag vorlegen. Dazu war sie nach dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni aufgefordert.
Was die Verlagerung von Dienststellen in die neuen Länder angeht, liegt der Vorrang bei der Föderalismuskommission. Sie hat ihren Vorschlag gemacht, den sie dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung vorlegt. Die endgültige Entscheidung wird die Bundesregierung im Lichte der Diskussion des Vorschlags der Föderalismuskommission im Deutschen Bundestag treffen.
Vielleicht habe ich es dann doch mißverstanden. Die Bundesregierung hat heute z. B. über die Verlagerung von Bundeskartellamt oder Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen von Berlin nach Bonn noch nicht entschieden?
Das ist der Beschluß der Bundesregierung, den sie als ihre Meinung dem Deutschen Bundestag zuleitet.
Und das ist von der Föderalismuskommission bestätigt?
Das hat die Föderalismuskommission genauso beschlossen.
Somit ist das also sicher?
Ja.
Der zweite Punkt sind die Vorschläge der Föderalismuskommission, die an den Bundestag und an die Bundesregierung gehen. Hierzu wird eine Entscheidung der Bundesregierung erst noch erfolgen.
Zum zweiten Teil der Frage, zur Finanzierung, noch eine Nachfrage. Wir haben jetzt schon Juni. Sie haben eben eröffnet, man könnte in Verhandlungen eintreten. Es geht aber um Gelder, die im laufenden Jahr abfließen. Sind Sie nicht doch der Ansicht, daß die Schlüssel, die generell für Strukturpolitik vorgesehen sind, in diesem Fall nicht ziehen, weil es keine Strukturprobleme sind, wie sie etwa durch Kohle und Stahl entstanden sind, sondern sie sind durch einen Bundestagsbeschluß bewußt herbeigeführt? Müssen da nicht andere Kriterien gelten?
Frau Abgeordnete, ich bin der Meinung, daß das sehr schnell entschieden werden muß, weil es die Soforthilfemittel betrifft. Aber Sie werden verstehen, daß ich, zumal der Finanz- und der Wirtschaftsminister die Verhandlungen führen, hier nicht präjudizierend meine Meinung verkünden will.
Ich habe noch fünf Wortmeldungen. Vielleicht könnten sich alle Redner auf eine einzige Frage beschränken, weil sonst nicht mehr alle zum Zuge kommen.
Herr Feilcke.
Herr Staatssekretär, wie verträgt es sich mit dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991- in dem es heißt, daß Kernbereiche der Regierungsfunktion nach Berlin gehen -, daß so wichtige Ministerien wie Gesundheit, wirtschaftliche Zusammenarbeit, Umwelt und Verteidigung nicht nach Berlin gehen sollen, sondern mit ihren Leistungsebenen nur zeitweilig dort hingehen? Ist in jedem Fall sichergestellt, daß die Kabinettssitzungen ständig in Berlin stattfinden?
Die Kabinettssitzungen werden ständig in Berlin stattfinden. Davon gehe ich aus.
Wie ist eine Antwort zu verstehen, in der es heißt, Sie gehen davon aus? Sind Sie ermächtigt, das auszusagen, oder wissen Sie es nicht?
Sie wissen, über den Ort der Kabinettssitzung entscheidet der Bundeskanzler von Fall zu Fall. Wenn ich mir vorstelle, daß der Bundeskanzler mit dem Bundeskanzleramt seinen Sitz in
Berlin hat, gehe ich nach der natürlichen Entwicklung der Verhältnisse davon aus, daß die Kabinettssitzungen in Berlin sein werden. Ich habe von niemandem etwas anderes gehört.
Sie haben den ersten Teil meines Satzes nicht aufgenommen. Zumindest haben Sie dazu nicht Stellung genommen. Wie verträgt es sich, daß Bereiche wie Umwelt, Entwicklungshilfe oder Verteidigung in Bonn bleiben? Sind das keine wichtigen Regierungsbereiche?
Es war gerade ein Anliegen der fairen Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin, daß man nicht sagt: In Bonn bleiben nur solche Ministerien, die nicht so bedeutsam sind. Es ist insofern gut, daß auch wichtige Ministerien in Bonn sind. Um diese Ministerien sollen andere Behörden, halbstaatliche und private Einrichtungen gruppiert werden, damit hier wichtige Politikbereiche bleiben. Das steht dem Grundsatz nicht entgegen, daß der Kernbereich der Regierungsfunktion in Berlin ist. Denken Sie daran, daß der Bundeskanzler, der Außenminister, der Innenminister, der Justizminister, der Wirtschaftsminister und der Finanzminister nach Berlin gehen. Damit kann man schon sagen, daß ein Kernbereich in Berlin ist.
Herr Abgeordneter Ehmke.
Herr Staatssekretär, haben Sie die Frage der Finanzierung nicht doch etwas bagatellisiert, wenn man folgendes überlegt: Bisher bestand überhaupt kein Streit darüber, daß nach dem Veranlasserprinzip der Bund zu zahlen hat. Es gibt nur einen Grund für die Kosten des Umzugs nach Berlin und für die Kosten des Ausgleichs für Bonn, nämlich daß der Bundestag am 20. Juni 1991 entschieden hat, umzuziehen, und die Bundesregierung sich dem angeschlossen hat. Fürchten Sie nicht, daß eine Änderung der Haltung der Bundesregierung, die ja den Protest nicht nur der Länder NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz hervorrufen muß und schon hervorgerufen hat, sondern auch den Protest der Region hervorruft, die ganze Geschichte scheitern lassen kann, daß man sich hier völlig verheddert? Ich bin erstaunt, daß trotz dieser Gefahr die Regierung diese Frage nicht durchentscheidet.
Herr Abgeordneter, die Haltung der Bundesregierung beruht auf dem Art. 104 a GG, der j a den Veranlassergrundsatz verändert hat. Da die Entwicklung so weit gediehen und über viele Punkte eigentlich ein sehr guter Konsens erreicht worden ist, glaube ich nicht, daß über der Finanzierungsfrage hinterher die Dinge völlig auseinanderlaufen.
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Herr Abgeordneter Diederich.
Herr Staatssekretär, Sie haben festgestellt, daß der Umzug nach Berlin nicht schrittweise, sondern zu dem Zeitpunkt erfolgen soll, an dem auch der Bundestag nach Berlin umzieht. Haben Sie schon eine Konkretisierung der Zeitplanung; und können Sie Aussagen vor allem darüber machen, was mit den Institutionen sein wird, die aus Berlin verlagert werden? Berlin ist dann ja Geberland nicht nur für Bonn, sondern, wie ich denke, auch überwiegend für den föderalen Ausgleich, also für die neuen Bundesländer. Es wäre für Berlin sicher wichtig, zu wissen, ob die Arbeitskräftebilanz in dieser Umzugszeit nicht sozusagen verzerrt wird. Ich frage also: Findet der Umzug nach Bonn zum selben Zeitpunkt wie der Umzug der Institutionen nach Berlin statt; und welchen Zeitplan sehen Sie für den Umzug in die neuen Länder vor?
Herr Abgeordneter, der Umzug von Berlin nach Bonn und der Umzug von Bonn nach Berlin werden natürlich zeitgleich erfolgen müssen, weil Bonner Behördengebäude frei werden, wenn die Ministerien geräumt werden. Dabei kann man sich natürlich nicht vorstellen, daß das ein fixer Zeitpunkt wie beim Umzug des Flughafens in München ist.
({0})
Es wird eine Bandbreite sein, die zu einem gewissen Zeitpunkt sehr dicht ist. In diesem Zeitraum wird sich der Umzug vollziehen.
Die Verlagerung in die neuen Länder wird hier noch diskutiert werden. Ich persönlich bin der Meinung, daß man Einrichtungen, die neu im Entstehen sind und deren Personal noch gar nicht tätig ist - ich denke an gewisse Teile der Bundesanstalt für Arbeit - zweckmäßigerweise gleich in den neuen Ländern aufbaut und daß man bei anderen Einrichtungen in Absprache zwischen dem Bund, den neuen Ländern und Berlin die Zeitpunkte festlegt. Ich denke, bei einigen wesentlichen Einrichtungen wird das zu dem Zeitpunkt sein, zu dem der Umzug insgesamt stattfindet. Es wird also bei der Verlagerung in die neuen Länder differenzierter vorgegangen als bei der Verlagerung nach Bonn.
Herr Müntefering.
Herr Staatssekretär, sehe ich es richtig, daß die Bundesregierung die Frage ihrer Arbeitsteilung gar nicht mehr im Grundsatz diskutiert hat? Sie haben ja eine Entscheidung vorgelegt, die davon ausgeht, daß ein Teil der Ministerien hier bleibt, ein Teil in Berlin ist und Ministerien in unterschiedlichen Größenordnungen in den beiden Städten sind. Sie wissen, daß es aus der Mitte des Parlaments Fragen gegeben hat, ob es als Grundsatzentscheidung okay, praktikabel und vernünftig ist, daß sich eine Bundesregierung in dieser Weise auf die eine und die andere Stadt verteilt. Gibt es darüber noch eine Grundsatzdiskussion? Oder müssen wir als Parlament davon ausgehen, daß die Bundesregierung dies mit dieser Entscheidung definitiv festlegt? Wenn dies so ist, wie hat man es dann zu verstehen, daß
einzelne Ministerien, etwa das Verteidigungsministerium, ankündigen, daß sie nach Berlin gehen, womit sie zumindest teilweise offensichtlich im Gegensatz zu dem stehen, was die Bundesregierung offiziell festgelegt hat?
({0})
Herr Staatssekretär.
Dem Beschluß der Bundesregierung vom 11. Dezember 1991 hat das Kabinett geschlossen zugestimmt.
({0})
Auch dem heutigen Beschluß der Bundesregierung hat das Kabinett geschlossen zugestimmt. Die Modelle anderer Teilungen - das Kopfstellenmodell, andere vertikale oder horizontale Teilungen - hat die Bundesregierung schon vor ihrer Beschlußfassung geprüft. Auf jeden Fall haben die Anregungen, die hinterher von außen gekommen sind und die wohl geprüft und noch einmal überdacht worden sind, keinen Anlaß gegeben, von dem bisherigen Beschluß der Bundesregierung abzuweichen. Deswegen hat sie diese Entscheidung in dem Bericht noch einmal bekräftigt.
Die eine oder andere Äußerung, die gemacht wird, ist vielleicht manchmal etwas mißverständlich, Auch zu diesem Punkt hat es im Kabinett heute keine abweichenden Meinungsbildungen oder Stellungnahmen gegeben.
Letzte Frage zu Berlin, Herr Scheffler.
Herr Staatssekretär, wann gedenkt der Bund die ersten Wohnungsbaumaßnahmen in Berlin in die Wege zu leiten und insbesondere die Realisierung der baureifen Projekte MoabiterWerder in Angriff zu nehmen?
Die Bundesregierung wird die Baumaßnahmen treffen, wenn die Vorfragen geklärt sind, die in Berlin zu klären sind. Das sind die Eigentumsrechte hinsichtlich der Flächen. Aber es muß natürlich auch ein Zusammenhang mit dem Umzugszeitpunkt bestehen. Denn wenn die Wohnungen weit vorher gebaut würden und leer stünden, wäre das natürlich ein großes Problem. Aber ich glaube, diese Dinge werden in jedem Punkt in enger Abstimmung mit Berlin durchgeführt.
Ich bitte um Verständnis, weil wir gleich die Befragung beenden müssen. Ich habe noch eine allerletzte Frage des Abgeordneten Dr. Mayer.
Hat sich die Bundesregierung mit dem ablehnenden Votum des dänischen Volkes zum Maastrichter Vertrag befaßt und - wenn ja - mit welchem Ergebnis?
Insbesondere: Wird das Ratifizierungsverfahren von der Bundesregierung weiter betrieben?
Frau Staatsministerin Seiler-Albring.
Frau Präsidentin! Herr Kollege, der Herr Bundeskanzler hat dieses Thema zu Beginn der Kabinettssitzung angesprochen. In einer gemeinsamen Erklärung des Bundeskanzlers und des Präsidenten der Französischen Republik ist der Inhalt dieser Diskussion sehr prägnant zusammengefaßt. Diesen trage ich Ihnen der Einfachheit halber gerne vor:
Deutschland und Frankreich bedauern, daß die dänische Bevölkerung sich mit knapper Mehrheit gegen den Maastrichter Vertrag über die Europäische Union ausgesprochen hat.
Deutschland und Frankreich bekräftigen zugleich ihre Entschlossenheit, die Europäische Union konsequent und unbeirrt zu verwirklichen. Sie werden daher an dem vorgesehenen Zeitplan für die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages festhalten und erwarten, daß auch die anderen Mitgliedsstaaten der EG den Vertrag von Maastricht bis Ende 1992 ratifizieren werden.
Dänemark sollte die Tür zur Europäischen Union weiter offenbleiben.
- Wir hoffen, daß es sich doch noch zur Mitarbeit an der Verwirklichung der Europäischen Union entschließt. Dies darf aber den Fortgang des Europäischen Einigungsprozesses nicht verlangsamen. Deutschland und Frankreich treten nachdrücklich dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit den EFTA-Ländern, die dies wünschen, bald aufzunehmen und beschleunigt abzuschließen.
({0})
Damit ist die Regierungsbefragung abgeschlossen.
Wir kommen jetzt zu Punkt 2 der Tagesordnung: Fragestunde
- Drucksache 12/2707 Als ersten Geschäftsbereich rufe ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr auf. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Dieter Schulte zur Verfügung.
Die erste Frage ist die Frage Nr. 1 der Frau Kollegin Dr. Margrit Wetzel:
Aus welchen Gründen werden für die Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplanes die folgenden Ortsumgehungen der B 73 Cuxhaven-West Otterndorf, West Otterndorf-West Cadenberge ({0}), Ortsumgehung Cadenberge und Hemmoor-Himmelpforten, nicht aber die Ortsumgehung Nord Himmelpforten-Stade/Kaisereichen einem neuen Bewertungsverfahren unterzogen?
Für die ersten vier Maßnahmen fand wie bei allen vergleichbaren Fällen wegen des bisherigen Nutzen-Kostenverhältnisses eine neue Bewertung zunächst nicht statt. Die fünfte Maßnahme
hat das Land Niedersachsen von vornherein als neue Maßnahme für die Bewertung angemeldet.
Niedersachsen hat später die Nutzen-Kosten-Verhältnisse für die ersten vier Maßnahmen für korrekturbedürftig erklärt und eine Nachbewertung erbeten. Deren Ergebnis liegt noch nicht vor. Das Bewertungsverfahren für alle nach Maßgabe der Fragestellerin angesprochenen Abschnitte der B 73 ist indessen einheitlich.
Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, was Sie geantwortet haben, ist mir bekannt. Genau deshalb habe ich nach den Sachgründen gefragt, die zu dieser Neubewertung geführt haben; denn es müßten eigentlich gravierende verkehrliche Änderungen sein, um einen Sachgrund für eine solche Neubewertung abzugeben.
Frau Kollegin, bei den ersten vier Maßnahmen war es so, daß der Bund von sich aus eine Neubewertung nicht vorgenommen hat, weil wie bei allen anderen vergleichbaren Fällen das Nutzen-Kosten-Verhältnis über 1, aber unter 3 lag. Niedersachsen meinte allerdings, eine Nachbewertung sei erforderlich. Sie wird im Augenblick durchgeführt. Bei der fünften Maßnahme hat das Land von vornherein gesagt, es lägen solche Fakten vor, daß man neubewerten müsse.
Im übrigen darf ich Ihnen anbieten, daß wir das ganze Rechenwerk zusammen mit dem Gebietsreferenten Niedersachsen aus dem Bundesverkehrsministerium anschauen.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Für das Angebot bedanke ich mich. Das nehme ich sehr gern an.
Ich möchte hier trotzdem noch eine Frage anschließen: Soll ich Ihren dezidierten Hinweis hier auf das einheitliche Bewertungsverfahren so verstehen, daß die Bewertungsverfahren sonst nicht einheitlich vorgenommen werden, oder aber läßt diese Formulierung einen Rückschluß darauf zu, daß diese vier Ortsumgehungen durch eine einheitliche Bewertung im Endeffekt dann doch eine Neutrassierung der B 73 als Anschluß an die geplante A 26 darstellen sollen?
Frau Kollegin, wir werden jetzt sicherlich nicht in die Diskussion über die Parzellierung der neuen Straße einsteigen. Aber ich kann folgendes sagen: Die Bewertungselemente sind überall gleich. Die Bewertung nimmt nicht die Bundesregierung vor, sondern ein Gutachter in Aachen, den Sie im übrigen, falls Sie es wünschen, kennenlernen können.
Die Frage 2 des Kollegen Steffen Kampeter wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Damit sind wir schon am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Joachim Günther zur Verfügung.
Die Frage 3 des Kollegen Dr. Ulrich Briefs wird entsprechend unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet.
Herr Staatssekretär, damit bedanke ich mich ganz herzlich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes.
Die Frage 4 des Abgeordneten Hans Wallow wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 der Kollegin Dr. Helga Otto auf:
Trifft ein Bericht in der Zeitschrift „DER SPIEGEL" zu ({0}), wonach der Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht denjenigen Personenkreis von einer Entschädigung ausnimmt, der durch Maßnahmen der sowjetischen Besatzungsmacht jenseits der Oder deportiert wurde, was zur Folge hat, daß die Zufälligkeit des Ortes zu einer rechtlichen Schlechterstellung führt?
Frau Präsidentin, wenn Sie gestatten, würden ich die Fragen 5 und 6 gern zusammen beantworten.
Wenn die Frau Kollegin einverstanden ist, dann gestattet auch die Frau Präsidentin.
Ja, ich gestatte.
Dann rufe ich auch die Frage 6 der Frau Abgeordneten Dr. Helga Otto auf:
Ist sich die Bundesregierung darüber bewußt, daß mit einer solchen Regelung - vor allem für die vielen deportierten Frauen, die zahlloses Unrecht erleiden mußten - der damalige Unrechtzustand manifestiert wird, weil andere, die diesseits der Oder deportiert wurden, Entschädigungen erhalten?
Ich bedanke mich. - Frau Kollegin, es trifft zu, daß Personen, die außerhalb der DDR im ehemals kommunistischen Machtbereich Ost- und Südosteuropas Opfer von Unrechtsmaßnahmen geworden sind, nicht vom Entwurf eines ersten SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes erfaßt werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat jedoch auch bisher Deutschen, die von solchen Unrechtsmaßnahmen betroffen waren, im Rahmen des Sozialstaatsprinzips Hilfen zur Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Leben gewährt. Bei dieser Praxis soll es auch in den angesprochenen Fällen bleiben. Entsprechende Regelungen sind im übrigen im Entwurf eines KriegsfolgenbereinigungsParl. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner
gesetzes vorgesehen, für das der Bundesminister des Innern federführend zuständig ist.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Otto.
Ich begrüße Ihre Antwort. Ich habe aber trotzdem noch zwei zusätzliche Fragen:
Halten Sie es nicht für einen Widerspruch, daß man, wenn deutschstämmige Zuwanderer nach dem Grundgesetzartikel 116 ganz selbstverständlich als Deutsche behandelt werden, wobei das in Frage kommende Gebiet ausdrücklich nach dem Stande vom 31. September 1937 bemessen wird, Ausnahmen gerade dann macht, wenn es sich um Wiedergutmachungsansprüche handelt?
Zweitens. Stimmen Sie mir zu, daß es einer politischen Bankrotterklärung gleichkommt, wenn man gleiche Schicksale, die von Deutschen erlitten wurden, im Rechtssystem ungleich behandelt, und sehen nicht auch Sie noch eine andere Lösung als die mittels territorialer Kriterien?
Frau Kollegin, ich sehe keinen Wertungswiderspruch zum Art. 116. Im Gegenteil, die Regelung, wie sie jetzt auch im Entwurf eines Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes vorgesehen ist, stellt gerade darauf ab, alle Deutschen gleichzustellen, die Unrechtsmaßnahmen auch außerhalb der Bundesrepublik Deutschland im Machtbereich anderer Staaten - kommunistischer Staaten - erlitten haben.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Es gibt auch keine weiteren Fragen aus diesem Geschäftsbereich. Daher danke ich Ihnen herzlich, Herr Staatssekretär Göhner.
Die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren. Zur Beantwortung der einzigen Frage steht Frau Bundesministerin Hannelore Rönsch zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 des Abgeordneten Claus Jäger auf:
Wie viele ungeborene Kinder sind nach den Erkenntnissen der Bundesregierung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1983 und seit 1991 im wiedervereinigten Deutschland insgesamt getötet worden, und wie bewertet die Bundesregierung diese Zahl von Ungeborenentötungen?
Herr Kollege Jäger, vom Statistischen Bundesamt liegen folgende Zahlen für Schwangerschaftsabbrüche in den alten Bundesländern seit 1983 vor: 1983 86 529, 1984 86 298, 1985 83 538, 1986 84 274, 1987 88 540, 1988 83 784, 1989 75 297, 1990 78 808, 1991 74 571.
Ich habe hier noch eine Aufstellung - ich kann sie Ihnen gern zur Verfügung stellen -, in der die Zahlen getrennt nach den einzelnen Bundesländern angegeben sind.
Sie wollten die Gesamtzahl für die Bundesrepublik im Jahr 1992 wissen. Diese Zahl kann ich Ihnen leider noch nicht geben, weil die statistischen Angaben noch nicht vorliegen. Vom Statistischen Bundesamt sind für 1991 für die neuen Bundesländer 49 277 Schwangerschaftsabbrüche gemeldet worden.
Bei der Betrachtung der Zahlen, die vom Statistischen Bundesamt gemeldet wurden, ist stets zu berücksichtigen, daß diese immer nur relative Aussagen machen. Zum Beispiel ist der Rückgang der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in den alten Bundesländern zwischen 1983 und 1991 auch im Zusammenhang mit dem Sinken der Zahl der Geburten zu sehen.
Darüber hinaus ist festzustellen, daß die statistisch erfaßten Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche kein Spiegelbild der Anzahl der tatsächlich vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche sind.
Ich bin mir sicher, Herr Kollege Jäger, daß wir in diesem Hause einig sind, daß jeder Schwangerschaftsabbruch einer zuviel ist. Bei ungeborenem Leben handelt es sich um Leben von Anfang an, das als solches schützenswert ist.
Zu einer Zusatzfrage Herr Kollege Jäger.
Frau Bundesminister, gehe ich nach Ihren Darlegungen über den Charakter der von Ihnen vorgetragenen Zahlen richtig in der Annahme, daß die Gesamtzahl der getöteten ungeborenen Kinder seit 1983 danach bereits über einer Million liegen dürfte, wenn nicht weit höher?
({0})
- Frau Präsidentin, dürfte ich Sie darum bitten, die Herren Kollegen auf die Gepflogenheiten der Fragestunde aufmerksam zu machen?
({1})
Herr Kollege Jäger, mir ist im Moment leider Gottes entgangen, welche Wortwahl Sie geführt haben. Offensichtlich haben Sie zu der Erregung Anlaß gegeben. Ich werde klären, was Sie gesagt haben, und prüfen, ob ein Anlaß zum Eingreifen vorliegt.
Jetzt hat zur Beantwortung die Frau Ministerin das Wort.
Herr Kollege Jäger, Sie waren mit Ihrer Frage wohl noch nicht zu Ende.
Ich war mit meiner Frage zu Ende. Ich will sie aber wiederholen, weil sie durch die Zwischenrufe der Kollegen akustisch etwas untergegangen ist.
Ich habe gefragt, ob man nach dem, was Sie dargelegt haben, davon ausgehen muß, daß die wirkliche Zahl der getöteten ungeborenen Kinder in diesem Zeitraum bei über einer Million liegen dürfte.
Herr Kollege Jäger, ich sagte Ihnen gerade, daß die Zahlen vom Statistischen Bundesamt, die jährlich angegeben werden, keine Aussage über den tatsächlichen Stand machen. Ich würde aber nicht so weit gehen wollen, eine feste Zahl zu nennen, weil diese Zahl nicht bekannt ist.
Zu einer zweiten Zusatzfrage Herr Kollege Jäger.
Frau Bundesministerin, zu Ihren Ausführungen zur Bewertung noch eine Zusatzfrage: Teilen Sie die Auffassung, daß die Größenordnung der Zahl der Kinder, die in Deutschland vor der Geburt sterben müssen, eine fürchterliche Hypothek für die menschenrechtliche Bilanz Deutschlands im Rahmen der Staaten Europas und der Welt darstellt und daß diese fürchterliche Bilanz der Bundesregierung Anlaß zum Nachdenken und zu Überlegungen geben muß, wie das geändert werden kann?
({0})
Herr Kollege Jäger, ich teile Ihre Auffassung - ({0})
- Herr Kollege Duve, darf ich an dieser Stelle vielleicht fertigreden? Wenn Sie mich hätten reden lassen, hätten Sie diese Frage nicht stellen müssen.
Ich teile Ihre Auffassung insoweit, als ich mir sicher bin, daß wir in diesem Hause alle - alle Kolleginnen und Kollegen -- einer Meinung sind, daß jeder Schwangerschaftsabbruch einer zuviel ist. Wir werden in den nächsten Wochen sicher noch ausführlich Gelegenheit haben, über diesen Punkt zu diskutieren. Ich bin mir auch ganz sicher - jetzt nehme ich eine Bewertung vor , daß die Diskussion in den letzten Wochen und Monaten auch zu einer Bewußtseinsveränderung in der Bevölkerung geführt hat und daß Schwangerschaftsabbrüche in der Zukunft dadurch vielleicht reduziert werden können.
Eine Zusatzfrage vom Kollegen Conradi.
Frau Ministerin, würden Sie zur Sachlichkeit der Diskussion in Zukunft dadurch beitragen, daß Sie bei den Statistiken darauf hinweisen, daß die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche über mehrere Jahre hinweg immer auch davon abhängt, wie groß demographisch der Anteil von Frauen im gebärfähigen Alter ist? Wenn also geburtenstarke Jahrgänge in das Alter kommen, in denen sie Kinder bekommen können, steigt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche, und umgekehrt sinkt sie, wenn diese Jahrgänge schwach sind, d. h. daß die Steigerung oder Senkung der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche vor allem von der demographischen Entwicklung abhängig ist.
Herr Kollege Conradi, ich stimme Ihnen zu, daß das von der demographischen Entwicklung abhängig ist. Ich hatte gerade ausgeführt, daß die Zahl der Kinder abgenommen hat, daß offensichtlich auch der Wunsch nach Kindern abgenommen hat und daß dadurch die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zurückgeht. Zu der demographischen Bewertung der Geburtsjahrgänge und der Stärke der Geburtsjahrgänge kann ich Ihnen momentan keine Auskünfte geben, weil ich dies in der Relation noch nicht überprüft habe.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage vom Kollegen Freimut Duve.
In der Frage des Kollegen Jäger und in seinen Zusatzfragen ist immer wieder der Begriff der Ungeborenentötung und der Tötung ungeborener Kinder mit einer Nachfrage zur Statistik verknüpft worden. Teilt die Bundesregierung dann, wenn sie Auskünfte über diese Statistiken gibt, den dabei verwendeten Begriff?
({0})
Meine Herren Kollegen! Herr Kollege Duve, ich glaube, wir haben in den nächsten Wochen noch ausführlich Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Ich glaube - jetzt muß ich wieder eine Bewertung vornehmen -, daß es jedem Kollegen unbenommen sein muß, wie er nach seinem Gewissen den Schwangerschaftsabbruch oder die Tötung ungeborenen Lebens formuliert, wie er das also selbst empfindet.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Antje-Marie Steen.
Frau Ministerin, können Sie die Zahlen, die Sie eben genannt haben, bestätigen bzw. mir die Anzahl der Abbrüche nennen, die aus medizinischen Gründen und die auf Grund mangelhafter Gesundheitsvorsorgemöglichkeiten der Mütter vorgenommen worden sind?
Ich kann Ihnen diese Zahlen aktuell nicht nennen. Ich weiß auch nicht, ob darüber genau Statistik geführt wird. Wir werden das aber im Ministerium überprüfen. Falls diese statistischen Daten vorliegen, werden wir sie Ihnen zusenden.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Gudrun Weyel.
Frau Ministerin, Sie haben eben vermutet, daß der Rückgang der Geburtenzahlen die Unwilligkeit deutscher Eltern demonstriert, Kinder zu bekommen. Halten Sie es für möglich oder sogar eher wahrscheinlich, daß manche Familien
ihren Kinderwunsch zurückstellen, weil sie keine Wohnungen mehr finden?
Frau Kolle - gin Weyel, es würde statistisch nachzuweisen sein, daß in den Jahren, in denen wir noch Wohnungsüberhänge hatten, nämlich 1987/88, als wir im Bundestag diskutiert haben, was wir, Herr Kollege Conradi, mit leerstehenden Wohnungen machen, wie wir sie subventionieren, daß auch damals der Geburtenrückgang und die Zahl der Abtreibungen relativ hoch war. Wir haben vom Ministerium aus eine Untersuchung in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse bereits vorliegen. Sie lauten ganz eindeutig, daß junge Familien zwar den Wunsch haben, zwei oder sogar drei Kinder zu haben, dann allerdings, wenn ein Kind realisiert ist, der Wunsch nach einem zweiten Kind zurückgestellt wird.
Ich bin auch der Meinung, daß wir durch die verschiedensten familienpolitischen Maßnahmen den Familien geholfen haben. Es ist meine Aufgabe, darauf hinzuwirken, daß man den Wunsch nach einem zweiten Kind ohne große wirtschaftliche Einbußen realisieren kann.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Uta Würfel.
Frau Ministerin, als Sie sich mit dieser Frage beschäftigt und sie gelesen haben, sind Ihnen da irgendwelche Bedenken gegen die Formulierungen „Tötung ungeborener Kinder" und „ Ungeborenentötungen " gekommen? Als Sie die Frage im Zusammenhang mit dieser hohen Zahl beantwortet haben, haben Sie sich da nicht innerlich gegen diese Art der Formulierung gewehrt und vielleicht doch erwogen, Einspruch dagegen zu erheben, daß diese Frage so gestellt worden ist, wie sie gestellt worden ist, und in dieser Form überhaupt an Sie gelangt ist?
Nein, Frau Kollegin Würfel, an gar keiner Stelle; denn ich meine, daß gerade bei dieser Frage die Befindlichkeit eines jeden Kollegen und einer jeden Kollegin unterschiedlich ist.
({0})
Die Wertung, wie es bei dem einzelnen Kollegen persönlich ankommt, steht mir nicht zu.
Nun noch eine letzte Zusatzfrage der Kollegin Susanne Kastner.
Frau Ministerin, können Sie an Hand Ihrer Statistik belegen, aus welchem gesellschaftlichen Umfeld die Frauen, von denen Sie gesprochen haben, kommen? Können Sie daraus ersehen, ob diese Frauen in der Lage waren, die sehr teuren Wohnungen zu bezahlen?
Ich will noch einmal darauf hinweisen, daß es sich um Statistiken des Statistischen Bundesamtes und nicht unseres Ministeriums handelt. Ich werde beim Statistischen Bundesamt nachfragen, ob solche Erhebungen überhaupt durchgeführt werden. Falls dies der Fall sein sollte, sende ich Ihnen die Ergebnisse zu.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit. Die Fragen 10 und 11 des Abgeordneten Klaus Kirschner werden schriftlich beantwortet. Die Anworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Paul Laufs zur Verfügung.
Die Frage 12 des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 13 der Kollegin Susanne Kastner:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß im Mai diesen Jahres Fässer mit giftigem Müll aus der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt ({0}) gefunden wurden, und wie stellt sich die Bundesregierung zu einer Rückführung und Entsorgung dieser Giftmüllfässer angesichts der Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland die Baseler Konvention nicht unterschrieben hat?
Frau Kollegin Kastner, der Bundesregierung ist der Sachverhalt im Grundsatz bekannt. Zur weiteren Klärung und zur Beratung der rumänischen Regierung ist am 1. Juni 1992 eine Expertenkommission aus Vertretern des Bundes, der zuständigen Länder und der ermittelnden Staatsanwaltschaften in Rumänien eingetroffen. Bevor weitere Schritte in Erwägung gezogen und gegebenenfalls eingeleitet werden, müssen die Berichte der Expertenkommission abgewartet werden.
Aus heutiger Sicht erscheint es dabei vordringlich, zuerst die Frage der Sicherung der offenbar höchst unzureichend gelagerten Stoffe einer Lösung zuzuführen. Erst danach kann die Frage einer möglichen Rückführung geklärt werden.
Dabei ist darauf hinzuweisen, daß eine Rechtspflicht zur Rückführung der Abfälle nach Deutschland gegenwärtig noch nicht besteht, da die Baseler Konvention zwar gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert ist. Die Ratifizierung ist, wie bekannt ist, von Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft abhängig und konnte daher bisher noch nicht eingeleitet werden.
Ungeachtet dieser Tatsache wird die Bundesregierung im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Möglichkeiten alles tun, um eine alle Seiten befriedigende Lösung zu erreichen.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.
Herr Staatssekretär, können Sie mir die betroffenen Länder nennen, von denen Sie gerade gesprochen haben, die in dieser Expertenkommission in Rumänien vertreten sind?
Der Expertengruppe gehören Vertreter der zuständigen Staatsanwaltschaften des Saarlandes und des Freistaats Sachsen, des Umweltministeriums Sachsen, des Bundeslandwirtschaftsministeriums und des Umweltbundesamtes an.
Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist aus der Erwähnung der genannten Länder zu schließen, daß dieser Giftmüll aus diesen Ländern kommt?
Die Vermutung besteht. Die bisher vorliegenden und teilweise auch öffentlich diskutierten Informationen über Herkunft, Menge, Art und Ablagerungsort in Rumänien sind widersprüchlich. Ein Bericht der Expertenkommission liegt noch nicht vor. Sobald wir ihn haben, wird er Ihnen zugeleitet werden.
Zusatzfragen liegen nicht vor.
Dann kommen wir zur Frage Nummer 14 der Kollegin Susanne Kastner.
Denkt die Bundesregierung nun daran, in der Frage des Exports von gefährlichen Stoffen tätig zu werden, und wie stellt sie sich z. B. die Ermittlung der Verursacher in dieser Frage vor?
Frau Kollegin Kastner, die Bundesregierung hat bereits alles getan, um die Frage des Exports von gefährlichen Stoffen so streng wie möglich zu regeln. Dazu gehören die innerstaatlichen Regeln über die Verbringung von Abfällen in das Ausland, die Unterzeichnung der Baseler Konvention, die Verhandlungen in der OECD und das nachhaltige Bemühen der Bundesregierung, eine Abfallverbringungsverordnung der Europäischen Gemeinschaft voranzubringen. Leider ist es im letzten Umweltministerrat am 26. Mai 1992 in Brüssel nicht gelungen, zum Entwurf der Abfallverbringungsverordnung der Europäischen Gemeinschaft, die das Baseler Übereinkommen europaweit einheitlich umsetzen soll, Einmütigkeit herzustellen.
Die Bundesregierung geht aber davon aus, daß spätestens unter britischer Präsidentschaft die Verordnung verabschiedet werden kann. Mit der Verabschiedung der Verordnung wird der Weg für eine Ratifizierung der Baseler Konvention durch die Europäische Gemeinschaft mit Wirkung für die Mitgliedstaaten frei.
Was die Ermittlung der Verursacher betrifft, so ist das nicht Aufgabe der Bundesregierung, sondern der zuständigen Strafverfolgungsbehörden und der Landesbehörden.
Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß das Stichwort „alles" doch noch nicht genügend ist? Weil es immer wieder zu Transporten von Giftmüll in andere Länder kommt: Wie stellt sich die Bundesregierung die Kontrolle in dieser Frage vor?
Das zentrale Problem bei illegalen Abfallexporten besteht in der Abgrenzung von Abfall und Wirtschaftsgut. Legal genehmigte Abfallexporte haben bisher in keinem Fall zu Problemen mit den aufnehmenden Staaten geführt. Für den Vollzug sind die Landesbehörden zuständig, so daß Sie Ihre Frage bitte auch an eine andere Adresse richten sollten.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin Kastner.
Herr Staatssekretär, nachdem die Verursacherfrage wohl auch vom Ergebnis dieser Expertenkommission abhängig ist: In welchem Zcitraum rechnet die Bundesregierung mit einem abschließenden Ergebnis dieser Expertenkommission?
Das läßt sich im Augenblick, Frau Kollegin, schwer abschätzen. Aber wegen der Dringlichkeit der Aufklärung der Zusammenhänge - es mußte ja in Exportvorgänge eingegriffen werden - wird man alles tun, um den Bericht so schnell wie möglich vorlegen zu können. Ich vermute, daß ein erster Bericht in Wochenfrist vorliegen wird.
Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum nächsten Geschäftsbereich, nämlich dem des Bundesministers für Post und Telekommunikation. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Wilhelm Rawe zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage Nummer 15 von Frau Margrit Wetzel:
Wie viele zeittaktbefreite Rufnummern für Kinder- und Jugendtelefone gibt es in der Bundesrepublik Deutschland, und welchen Einzugsbereich umfassen diese jeweils?
Frau Kollegin Dr. Wetzel, die Telefonnummer 1 1103 steht nach Angabe der Deutschen Bundespost Telekom als zeittaktbefreite Rufnummer für soziale Beratungsdienste der freien Wohlfahrtspflege in allen ca. 3 800 Ortsnetzbereichen der alten Bundesländer zur Verfügung. Dabei spricht die zuständige Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege eine Ermächtigung aus, welcher soziale Beratungsdienst diese Rufnummer erhalten soll. Aus Informationsunterlagen des Deutschen Kinderschutzbundes geht hervor, daß in 31 Ortsnetzbereichen die Rufnummer 1 11 03 vom Deutschen Kinderschutzbund e. V. benutzt wird.
Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Ja, ich möchte gern eine Zusatzfrage anschließen. Sie hatten das Wort „ Ortsnetzbereich " verwendet. Das führt zu erheblichen Schwierigkeiten im ländlichen Raum, weil die Ortsnetzbereiche häufig nicht den Landkreisen oder den Umgebungen von Landgemeinden entsprechen. Deshalb sind Kinder und Jugendliche im ländlichen Raum in der schwierigen Situation, daß sie Ferngespräche führen müssen, weil die Zeittaktbefreiung nur für den
Ortsnetzbereich gilt. Deshalb meine Frage, ob die Bundesregierung eine Möglichkeit sieht, hier den Kindern im ländlichen Raum zu helfen durch die Ausweitung der entsprechenden Ortsnetzbereiche, z. B. entsprechend den Landkreisgrenzen. Dies kann naturgemäß nicht die Aufgabe der Telekom sein, aber ich denke, wir haben hier eine Aufgabe, einfach die Lebensqualität der Kinder im ländlichen Raum zu verbessern.
Frau Kollegin, es ist am Ende auch eine Aufgabe der Telekom, denn das erfordert eine entsprechende kostenaufwendige technische Schaltung. Sie wissen, daß die Deutsche Bundespost Telekom als Unternehmen in diesen Fragen selbständig ist. Aber ich will gerne noch einmal mit Ihrer Frage an die Generaldirektion herantreten, um prüfen zu lassen, ob das möglich ist.
Zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin?
Ich nehme das Angebot gerne an. Nur, das ist im Grunde genommen schon erfolgt, weil die Bundesregierung auf eine entsprechende Frage genauso geantwortet hat. Aber die Telekom lehnt es ab, hier tätig zu werden, weil sie sagt, sie muß betriebswirtschaftlich arbeiten und diese Aufgaben seien nicht ihre Aufgaben. Insofern wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir hier zusagen könnten, daß Sie das bei dem geplanten Gespräch mit der Telekom berücksichtigen.
Frau Kollegin, ich kann aber nur das berücksichtigen, was das Gesetz, das wir alle miteinander beschlossen haben, uns aufgibt. Dieses Gesetz - nehmen Sie die Strukturreform für die Unternehmen der Deutschen Bundespost legt nun ausdrücklich diesen Unternehmen auf, nach wirtschaftlichen Grundsätzen zu verfahren. Dann müßten wir uns in der Tat überlegen, wer der andere Kostenträger sein soll. Das ist der Punkt. Das kann sicherlich nicht die Telekom sein, sondern das müßten dann die entsprechenden Träger der Sozialleistungen sein. Darüber wird man sicherlich verhandeln können.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen damit zur Frage 16 des Kollegen Martin Göttsching:
Warum vergibt TELEKOM einen Großauftrag über 140 Typengebäude für Fernmeldevermittlungsanlagen an ein Großunternehmen der alten Bundesländer, das diese auch in einem Werk der alten Bundesländer produzieren will, obwohl bislang elf solcher Typengebäude in der Umgebung Dresdens als konventioneller Bau von örtlichen Baufirmen erfolgreich errichtet worden sind, und warum werden alle Lüftungsarbeiten an Firmen in den alten Bundesländern vergeben?
Die Frau Präsidentin wäre einverstanden, wenn Sie auch die Frage 17 mitbeantworten, wenn der Herr Kollege damit einverstanden ist. - Er ist es auch.
Warum berücksichtigte die TELEKOM bei der weiteren Bauausführung nicht die Erfahrung der örtlichen Bauunternehmen, obwohl sich deren Bauqualität zusehends verbesserte, und stimmt es, daß zur Umgehung der Pflicht, Betriebe der neuen
Bundesländer zu berücksichtigen, die Verträge nachträglich verändert und an Turnekey-Unternehmen übergeben wurden?
Dann können wir die Antworten zu diesen beiden Fragen hören.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Dann will ich gerne so verfahren.
Von der Vergabe eines Großauftrages über 140 Typengebäude für Fernmeldevermittlungsstellen an einen einzigen Großunternehmer der alten Bundesländer ist bei den Dienststellen der Deutschen Bundespost Telekom nichts bekannt.
Die standardisierten Gebäude werden zur schlüsselfertigen Erstellung an mehrere Generalunternehmer vergeben. Dabei ist die Vergabe der lüftungstechnischen Anlagen ausschließlich Sache der Generalunternehmer, welche die Arbeiten selbst planen und durchführen oder damit die Subunternehmer beauftragen, die das wirtschaftlichste Angebot eingereicht haben. Hierbei werden entsprechend der vertraglichen Verpflichtung der Generalunternehmer in großem Umfang Unternehmen aus den neuen Bundesländern berücksichtigt. Von der Deutschen Bundespost Telekom werden lediglich Qualitätsanforderungen vorgegeben.
Bei den sogenannten „Turn-Key"-Projekten wird auch im Jahre 1992 nur ein Teil des Ausbauprogramms der Vermittlungs- und Linientechnik der Deutschen Bundespost Telekom in den neuen Bundesländern durch Unternehmen der deutschen Fernmeldeindustrie aus den alten Bundesländern ausgeführt. Diese Generalunternehmer haben aber inzwischen auch Niederlassungen in den neuen Bundesländern gegründet, die bei den Auftragsabwicklungen eingesetzt werden.
Als derzeitige Systemlieferanten der Deutschen Bundespost Telekom verfügen nur diese Generalunternehmer über die für einen schnellstmöglichen Netzausbau erforderlichen detaillierten Netzkenntnisse und bei der gegebenen Schutzrechtslage - ich weise hier auf die Datenschutzbestimmungen hin über den ungehinderten Zugriff auf die bei der Deutschen Bundespost Telekom eingeführte Systemtechnik. Über die angeprochenen angeblich nachträglichen Vertragsänderungen - auch danach habe ich bei der Generaldirektion der Telekom gefragt - ist bei der Telekom nichts bekannt.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, könnten Sie Ihre stichwortartige Bemerkung „in großem Maße an Betriebe Ostdeutschlands vergeben" ein bißchen spezifizieren?
Mir liegen keine detaillierten Unterlagen vor; aber in der Regel sind es etwa 50 % der Aufträge, die vornehmlich an kleine und mittelständische Unternehmen vergeben werden.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen. Die Fragen 18 und 19 des Kollegen Lowack werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Die Frage 20 wird entsprechend unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet.
Die Frage 21 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt zur Verfügung.
Wir kommen zur Frage 22 des Kollegen Peter Conradi:
Wie rechtfertigt die Bundesregierung Berufsverbotsverfahren gegen westdeutsche Beamte, die der DKP angehört oder für sie kandidiert haben angesichts der Tatsache, daß aktive Mitglieder der SED und heutigen PDS im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland tätig sind, unter anderem auch solche, die für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR tätig waren?
Frau Präsidentin! Lieber Herr Kollege, zunächst möchte ich die von Ihnen verwendete Bezeichnung „Berufsverbotsverfahren" entschieden zurückweisen. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es nämlich keine Berufsverbote. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner grundlegenden Entscheidung vom 22. Mai 1.975 zur Verfassungstreuepflicht ausdrücklich festgestellt.
Die Pflicht der Beamten zur Verfassungstreue gehört zum verfassungsrechtlichen Kernbestand des Berufsbeamtentums. Das ergibt sich aus Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes. Sie ist in den Beamtengesetzen konkretisiert und bindet gemäß Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes als Verfassungsgebot Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung.
Nach den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes hält die DKP, unbeeindruckt von der politischen Entwicklung in Deutschland und Europa, an ihrem orthodox-kommunistischen Programm fest. Das heißt, sie verfolgt weiterhin verfassungsfeindliche Ziele. Ein Beamter, der diese Ziele durch eine aktive Betätigung für die DKP unterstützt, begeht deshalb ein schwerwiegendes Dienstvergehen. Gegen ihn müssen folglich disziplinarische Maßnahmen eingeleitet werden. Dies gilt übrigens in gleicher Weise bei Beamten, die rechtsextremistische Parteien und Organisationen mit verfassungsfeindlichen Zielen unterstützen.
Die Prüfung, ob die SED-Nachfolgepartei PDS verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, ist noch nicht abgeschlossen. Insofern besteht ein Unterschied zwischen aktiven Mitgliedern der DKP einerseits und aktiven Mitgliedern der früheren SED und jetzigen PDS andererseits. Aber soweit ehemalige SED-Mitglieder, die Sie hier ansprechen, gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben oder aber für das frühere Ministerium für Staatssicherheit tätig waren, gelten die besonderen Kündigungsgründe, die im Einigungsvertrag festgelegt sind.
Zusatzfrage, Herr Kollege Conradi.
Sind Sie nicht der Auffassung, daß die Bundesregierung hier mit zweierlei Maß mißt? Auf der einen Seite werden ehemalige Kommunisten in der DDR, die dort in der SED Karriere gemacht, die andere Leute verfolgt und unterdrückt und in der Stasi mitgearbeitet haben, heute als Beamte der Bundesrepublik Deutschland eingestellt und übernommen. Ihnen wird unterstellt, daß sie für die freiheitlichdemokratische Grundordnung einstehen, während idealistische, in vielen Fällen irregeleitete westdeutsche Kommunisten, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, nur weil sie für ihre Überzeugung kandidiert haben, von Ihnen unbarmherzig weiter verfolgt werden.
Herr Kollege Conradi, ich durfte eben schon darauf hinweisen, daß ehemalige Mitglieder der SED oder ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, die gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit, der rechtsstaatlichen Demokratie verstoßen haben, den besonderen Kündigungsgründen des Einigungsvertrages unterliegen. Mir ist nicht bekannt, daß Menschen, die solche Schuld auf sich geladen haben, wie Sie es eben qualifiziert haben, in das Beamtenverhältnis übernommen worden wären. Sie unterstellen hier etwas, von dem ich sagen muß: In jedem Einzelfall wird gerade auch heute geprüft, ob Mitbürgerinnen und Mitbürger, die aus diesem Bereich in das Beamtenverhältnis übernommen werden sollen, die Gewähr dafür bieten, daß sie sich für alle Zeit - wie das von einem Beamten verlangt werden muß - in Wort und Tat zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen. Darum werden auch die Auskünfte bei der Gauck-Behörde eingeholt. Es wird also jeder Einzelfall sehr sorgfältig untersucht.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Conradi.
In Ihrer Antwort, Herr Staatssekretär, heben Sie bei ehemaligen SED-Mitgliedern oder Stasi-Mitarbeitern auf Menschenrechtsverletzungen ab - davon ist im Urteil des Bundesverfassungsgerichts überhaupt nicht die Rede -, d. h. auf einen schwerwiegenden Verstoß, und ansonsten unterstellen Sie, daß die Gewähr der Verfassungstreue gegeben ist, während Sie bei westdeutschen Kommunisten, denen Sie nichts dergleichen nachweisen können, nur auf Grund ihrer Kandidatur bei öffentlichen Wahlen verneinen, daß Sie den Grundsätzen der Verfassung entsprechend die Treuepflicht erfüllen können?
Ich bin dankbar, daß ich darauf noch einmal antworten kann; denn es ist Ihnen wohl entgangen, daß ich auch gesagt habe: wenn Verstöße gegen die freiheitlichParl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt
demokratische Rechtsstaatlichkeit - so wie wir sie nach dem Grundgesetz begreifen - vorliegen, also nicht nur Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit.
Was die DKP angeht, habe ich Ihnen gesagt, daß unsere Ermittlungen und die fortlaufende Beobachtung durch den Verfassungsschutz leider ergeben, daß sie, obwohl sich in Deutschland und Europa vieles verändert hat, nach wie vor verfassungsfeindliche Ziele verfolgt. Wer sich für verfassungsfeindliche Ziele also gegen die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland einsetzt, kann bei uns nicht Beamter werden. Das haben die Gerichte mehrfach entschieden. Wer auch immer dies sei - rechtsextrem oder linksextrem -: Wir brauchen die Treue zur Verfassung.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Duve.
Herr Staatssekretär, in beiden Antworten auf die Fragen meines Kollegen Conradi haben Sie eine strenge Unterscheidung zwischen Verhalten von Menschen, das anderen Menschen möglicherweise hat Schaden zukommen lassen, und Überzeugungen von Menschen erkennen lassen. Sehen Sie es nicht als eine dramatische Problematik für die Bundesrepublik Deutschland an, wenn sie sich in bezug auf das Verhalten gegenüber Tausenden von ehemaligen Mitgliedern der SED so verhält, wie Sie es eben geschildert haben, und gegenüber Überzeugungen ganz anders verhält?
Ich kann diesen Unterschied, den Sie gerade versucht haben darzustellen, Herr Kollege Duve, nicht erkennen.
({0})
- Herr Kollege, diese Qualifizierung überlasse ich Ihnen.
Ich habe eben vorgetragen, daß Mitglieder der DKP dann nicht als geeignet angesehen werden, Beamte zu werden, wenn sie sich aktiv, z. B. bei Kandidaturen, bei Wahlwerbungen, für die verfassungsfeindlichen Ziele der DKP einsetzen. Das ist keine Gesinnung, sondern geht weit darüber hinaus, indem politisch aktiv für verfassungsfeindliche Ziele gekämpft wird.
Eine weitere Zusatzfrage. Frau Kollegin Weyel.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Zugehörigkeit zu den Blockparteien zu DDR-Zeiten, als manche Leute offensichtlich mit der kommunistischen Partei SED enge Verbindungen eingegangen sind? Warum fragt Ihr Haus bei der Übernahme in den öffentlichen Dienst der Bundesrepublik nach der Zugehörigkeit zur SED und zu den Massenorganisationen, nicht aber zu den Blockparteien? Ist etwa die Mitgliedschaft eines jungen Mannes in der Freien Deutschen Jugend gravierender als die Mitgliedschaft eines Mannes in einer Blockpartei, der in der damaligen Regierung saß?
Frau Kollegin, ich durfte schon darauf hinweisen, daß bei jeder Entscheidung, ob jemand die besonderen Treuepflichten eines Beamten erfüllt, der Einzelfall maßgeblich ist. Man wird in jedem einzelnen Fall prüfen - ich weiß das aus der Praxis des Innenministeriums und der nachgeordneten Dienststellen -, ob Gewähr für die Verfassungstreue gegeben ist.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollegin Jäger.
Wann wird die Bundesregierung dem Bundestag berichten, inwieweit auch leitende Mitarbeiter der Treuhandanstalt und der Ministerien auf ihre Mitarbeit im MfS und in hohen SED-Funktionen überprüft worden sind?
Ich kann berichten - das ist auch in der Öffentlichkeit deutlich geworden -, daß auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhand laufend überprüft werden, ob sie sich insoweit den Zielen unserer Verfassung entsprechend in geeigneter Weise verhalten. Ich habe gerade bei dem Kollegen Grünewald des Bundesfinanzministeriums, das dafür zuständig ist, nachgefragt: Schon 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Treuhand sind aus den Diensten der Treuhand entlassen worden, weil sie nicht den Anforderungen entsprachen.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Gysi.
Ist der Bundesregierung bekannt und billigt sie, daß in Bayern im öffentlichen Dienst hinsichtlich der Einstellung u. a. eine Rolle spielt, ob der Bewerber oder die Bewerberin Mitglied des Verbandes der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter der DDR war? Es wird ausdrücklich danach gefragt. Ist das für Sie ein wichtiges Kriterium?
Herr Kollege Gysi, es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine gute Tradition, die darin besteht, daß die zuständigen parlamentarischen und anderen Kontrollorgane eines Bundeslandes die staatliche Tätigkeit in diesem Bundesland überprüfen. Es ist nicht üblich, daß sich ein Bundesland über ein anderes Bundesland oder die Organe des Bundes über die Tätigkeit eines Bundeslandes in der Öffentlichkeit ein Urteil erlauben.
({0})
Bevor wir zur Frage 23 des Kollegen Conradi kommen, möchte ich Sie, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, darauf hinweisen, daß auf der Ehrentribüne der Präsident des Repräsentantenhauses der Republik Zypern, Herr Alexis Galanos, mit einer parlamentarischen Delegation Platz genommen hat.
({0})
Im Namen des Deutschen Bundestages darf ich Sie, Herr Präsident, und Ihre Delegation von dieser Stelle aus herzlich begrüßen. Wir freuen uns über Ihren
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Besuch und hoffen, daß Ihre Gespräche hier zur Vertiefung der Beziehungen zwischen unseren Ländern und Parlamenten beitragen.
Wir danken Ihnen, daß Sie durch Ihre Teilnahme am morgigen Staatsakt für den früheren Bundespräsidenten Professor Dr. Carstens die Anteilnahme Ihres Landes zum Ausdruck bringen.
Im täglichen Rückblick auf die lange Teilung Deutschlands fühlen wir uns Ihrem Land, durch dessen Hauptstadt eine besondere Demarkationslinie verläuft, besonders verbunden. Wir wünschen Ihnen bei uns fruchtbare Begegnungen, eine gute Heimreise und alles Gute für die Bürger und Bürgerinnen und für die Zukunft Ihres Landes.
Nun kommen wir zu Frage 23 des Kollegen Peter Conradi:
Wie viele Berufsverbotsverfahren sind zur Zeit noch anhängig, und ist die Bundesregierung bereit, den Bundesdisziplinaranwalt anzuweisen, die noch laufenden Berufsverbotsverfahren wegen Mitgliedschaft in oder Kandidatur für die DKP einzustellen?
Herr Kollege Conradi, zur Zeit werden noch zwei Disziplinarverfahren gegen Bundesbeamte wegen aktiver Betätigung für die DKP durchgeführt, und zwar ein Verfahren beim erstinstanzlichen Bundesdisziplinargericht in Frankfurt, das andere Verfahren in der Berufung beim Bundesverwaltungsgericht. Die Disziplinarverfahren könnten nach den Bestimmungen der Bundesdisziplinarordnung nur von den Bundesdisziplinargerichten selbst, nicht vom Bun.desdisziplinaranwalt eingestellt werden. Eine Beendigung des beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahrens könnte zwar auch durch Rücknahme der Berufung erreicht werden. Für eine entsprechende Anweisung der Bundesregierung an den Bundesdisziplinaranwalt besteht indessen kein Grund, da das Verfahren zu Recht eingeleitet worden ist und die zwischenzeitliche politische Entwicklung die damalige Entscheidung nicht in einem anderen Licht erscheinen läßt, wie z. B. aus der Antwort auf Ihre vorangegangene Frage ersichtlich ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Nachdem die Bundesregierung mit ihren Klagen durch den Bundesdisziplinaranwalt vor dem Bundesdisziplinargericht ja in aller Regel unterlegen ist und erst das Bundesverwaltungsgericht die Bundesregierung dann bestätigt hat - was mich zu der Bemerkung veranlaßt, daß ich mich über den Vorschlag der Föderalismuskommission besonders freue, dieses Gericht zu verlagern -, frage ich Sie, ob Sie weitere jahrelange Prozesse wegen dieser zwei Fälle hinnehmen wollen oder nicht der Meinung sind, es diene dem Rechtsfrieden in diesem Land nach der Einheit, wenn diese Fälle, da es nur noch zwei sind, zu einem raschen Ende gebracht werden.
Ich konnte schon darauf hinweisen, daß Voraussetzungen nicht vorliegen, die Berufung zurückzunehmen; denn nach wie vor ist nicht Gesinnung, sondern aktive Tätigkeit gegen die freiheitlich-demokratische Ordnung hier der Grund, weshalb diese Verfahren laufen.
Ich glaube, die zuständigen Organe unseres Rechtsstaates sollten schon darüber wachen, daß solche aktive Tätigkeit gegen die freiheitlich demokratische Ordnung auch durch die rechtsstaatlichen Organe entsprechend verfolgt wird.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Conradi.
Dann muß ich aus Ihrer Antwort, Herr Staatssekretär, entnehmen, daß die Wahrnehmung des passiven Wahlrechts für eine nicht verbotene Partei für Sie nach wie vor eine Tätigkeit darstellt, die die Gewährleistung der Verfassungstreue in Frage stellt? Sie sind nach wie vor nicht bereit, es den Wählern zu überlassen, wen sie wählen wollen, sondern Sie bezeichnen die Kandidatur für eine Partei allein, und zwar im Gegensatz zum Urteil des Verfassungsgerichts, bereits als eine die Gewähr in Frage stellende Handlung?
Herr Kollege Conradi, wir müssen unterscheiden: Solange eine Partei nicht verboten ist, kann sich ein Bürger als Kandidat aufstellen lassen. Aber es ist etwas ganz anderes, ob dieser Kandidat auch die Voraussetzung erfüllt, um die besonderen Treuepflichten in einem Beamtenverhältnis zu erfüllen. Insofern stellt das Beamtenverhältnis an die Treue zum Rechtsstaat und an die Treue zur verfassungsmäßigen Ordnung erhöhte Anforderungen. Ich glaube, das ist Ihnen bekannt. Das gilt sowohl für Links- wie für Rechtsextremisten.
({0})
- Doch, das gilt auch für Stasi-Leute.
Nun kommt mit einer weiteren Zusatzfrage der Kollege Hirsch.
Herr Staatssekretär, nachdem wir vorhin soviel berechtigte Sensibilität in der Formulierung einer Frage erfahren durften, darf ich Ihrer Antwort etwa entnehmen, daß Sie das Wort Berufsverbot in diesem Zusammenhang entgegen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts akzeptieren?
({0})
Nein, ich akzeptiere das Wort Berufsverbot nicht.
({0})
- Ich kann das nicht akzeptieren. - Die trefflichen Gründe dafür ergeben sich aus der auch Ihnen, Herr Kollege Hirsch, bekannten Entscheidung unseres obersten Gerichtes.
Ich rufe Frage 24 des Abgeordneten Freimut Duve, auf:
Weiß die Bundesregierung von Vorwürfen des Bundesrechnungshofes ({0}), der Verein für das Deutschtum im Ausland e. V. ({1}) habe Ausschreibungen und Belege gefälscht, öffentliche Gelder veruntreut und die Vergaberichtlinien für öffentliche Gelder mißachtet, und wie bewertet die Bundesregierung diese Ergebnisse von Recherchen des BRH?
Vizepräsident Hans Klein
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Duve, der Bundesrechnungshof hat mit Schreiben vom 23. August 1991 an den Bundesinnenminister die Prüfung der Verwendung der Zuwendungen nach § 44 Bundeshaushaltsordnung aus Einzelplan 06 Kap. 40 - Unterstützung der Deutschen in den Aussiedlungsgebieten - an den Verein für das Deutschtum im Ausland e. V. ({0}) angekündigt. Nach Mitteilung des Bundesrechnungshofes vom 1. Juni 1992, also vor zwei Tagen, ist diese Prüfung noch nicht abgeschlossen. Im übrigen hätten sich weder der Bundesrechnungshof noch einzelne seiner Mitarbeiter gegenüber Dritten zu den bisherigen Prüfungsfeststellungen geäußert; so wurde uns mitgeteilt.
Angesichts dieser Sachlage sieht sich die Bundesregierung außerstande, angeblich vorliegende Ergebnisse von Recherchen des Bundesrechnungshofes zu bewerten, da der Bundesrechnungshof selber mitteilt, seine Prüfungen seien nicht abgeschlossen.
Ich darf ferner darauf hinweisen, daß der VDA im Auftrage des Auswärtigen Amtes und des Bundesinnenministeriums als Mittlerorganisation u. a. wichtige Hilfen für die Deutschen in der ehemaligen UdSSR leistet. Hilfen für die deutsche Minderheit in einem Staatswesen, das staatlich, rechtlich, wirtschaftlich und gesellschaftlich voll im Umbruch begriffen ist, sind nur mit einem hohen Maß an Kenntnis der örtlichen Verhältnisse, der handelnden Behörden und der Hilfeempfänger sowie mit hoher Improvisations-kunst durchführbar. Herr Kollege Duve, das werden Sie mir sicher zugestehen, und das müssen wir sicherlich auch der Tätigkeit des VDA zugestehen.
Herr Kollege Duve, eine Zusatzfrage.
Dieses Zugeständnis mache ich sehr gerne. Ich nehme an, daß die Reaktion des Bundesrechnungshofes etwas mit meiner Frage und auch mit Ihrer Nachfrage dort zu tun hat.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung sagen, wie viele Trägerorganisationen im Auftrag von zwei Ministerien zur Zeit in der von Ihnen eben geschilderten Weise in ganz Osteuropa für die deutschen Minderheiten tätig sind und welcher sachlichen und fachlichen Kontrolle bei ihrer Tätigkeit, auch bei ihrer finanziellen Tätigkeit, sie derzeit unterworfen sind?
Herr Kollege Duve, das Auswärtige Amt und auch das Bundesinnenministerium - ich nehme an, diese beiden Häuser haben Sie mit Ihrer Frage ansprechen wollen ({0})
bedienen sich der Mittlerorganisationen. Ich nenne außer dem VDA z. B. das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland, den Caritasverband, das Deutsche Rote Kreuz und auch andere Institutionen. Wir arbeiten in mehreren Ländern z. B.
auch mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau zusammen. Es gibt also eine ganze Reihe von Institutionen, die hier tätig sind, um Hilfen für die deutsche Minderheit vor Ort umzusetzen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Angesichts der von Ihnen eben genannten Fülle von Organisationen wiederhole ich meine Frage: Wie sichern zur Zeit die Bundesregierung und ihre vielen dort direkt und indirekt tätigen Ressorts die Kontrolle dieser Organisationen, die namens und im Auftrage der Bundesregierung in sehr vielen verschiedenen Staaten, welche zum Teil ja gerade erst im Entstehen sind, auftreten und arbeiten?
Herr Kollege Duve, es ist sowohl dem Auswärtigen Amt wie auch dem Bundesinnenministerium ein wichtiges Anliegen, daß diese Mittel sehr effektiv, zielgerichtet und nach den Vorschriften, die wir gemeinsam verabschiedet haben, eingesetzt werden.
Die Kontrolle wird auf folgende Weise sichergestellt. Erstens bemühen sich die bewilligenden Stellen um den Einsatz der Mittel und stellen vor Ort, soweit es möglich ist, Nachforschungen an, ob die Mittel zweckdienlich eingesetzt worden sind.
Zweitens unterliegen alle von mir genannten Organisationen einer ständigen Überprüfung des Bundesrechnungshofes; denn sie führen ja auch noch für andere Bewilligungsstellen und für andere Geldgeber der öffentlichen Hand Aufträge durch.
Drittens haben die meisten dieser Stellen, die ich nannte, auch noch eigene Kontrollorgane, die wiederum in ihrem verbandseigenen Rechtswesen eine Kontrolle durchführen.
Eine weitere Zusatzfrage, Kollege Peter Conradi.
Hat die Bundesregierung die Förderung von Projekten des VDA eingestellt, nachdem die Vorwürfe bekanntgeworden sind, oder wird dieser Verein weiter gefördert?
Die Bundesregierung fördert über den VDA die Projekte, die ich eben angesprochen habe. Es sind etliche Projekte, vornehmlich in den Republiken der ehemaligen UdSSR.
Herr Kollege Conradi, ich konnte schon auf die Frage des Kollegen Duve sagen, daß die Ermittlungen bzw. die Überprüfung oder die Kontrolle des Bundesrechnungshofes noch gar nicht abgeschlossen sind. Insofern steht weder Ihnen noch mir zur Zeit die Voraussetzung für ein Werturteil zur Verfügung.
Ich darf darauf verweisen, daß sich mehrere dieser Projekte über einen längeren Zeitraum hinziehen, z. B. die Förderung kultureller Einrichtungen oder der Aufbau mittelständischer Betriebe. Bisher liegen keine Tatbestände vor, die die Bundesregierung veranlassen sollten, begonnene Maßnahmen mit dieser einen Mittlerorganisation abrupt abzubrechen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, die Ergebnisse der Überprüfung des Bundesrechnungshofs dem Parlament schnellstmöglich mitzuteilen, sobald sie vorliegen?
Dazu bin ich gerne bereit; denn ich bin immer der Meinung, daß das Parlament einen Anspruch darauf hat, über solche Dinge informiert zu werden.
Ich rufe Frage 25 auf, die ebenfalls der Kollege Freimut Duve gestellt hat:
Kann die Bundesregierung ein solches Handeln des VDA ausschließen, und wo sind öffentliche Mittel geblieben, die zur Einrichtung von VDA-Büros in Bischkek und Barnaul vorgesehen waren, die aber nachweislich nie eingerichtet worden sind?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Das Bundesinnenministerium hat mit Bescheid vom 22. August 1991 dem VDA für die Ausstattung und den Betrieb von fünf Büros in der damaligen UdSSR Haushaltsmittel zugewendet, darunter für ein Büro in Bischkek und in Barnaul.
Das Büro in Bischkek ist seit dem 1. September 1991 funktionsfähig. Es arbeitet aus Kostengründen in Bürogemeinschaft mit dem Zentrum deutscher Kultur in Kirgistan. Es ist mit Telefon, Telex und sonstiger Bürotechnik ausgestattet. Die gelieferten Büromöbel konnten noch nicht sämtlich in Gebrauch genommen werden, da die Frage eines Umzugs in einen Neubau noch offensteht. Wir hoffen, daß das in Kürze entschieden werden kann.
Das VDA-Büro in Barnaul arbeitet seit August 1991. Es wurde zunächst von einer rußlanddeutschen Journalistin nebenamtlich geleitet. Es verfügt ebenfalls über Telefon, Telex und andere Bürotechnik und hat seit dem 1. Januar 1992 eine hauptamtliche Leitung. Die gelieferten Möbel sind noch nicht sämtlich in Gebrauch, da eine Zweigstelle im 450 Kilometer entfernten Halbstadt, dem Hauptort des Gebietes der deutschen Siedlungen, eingerichtet und die Möbel dorthin überstellt werden sollen. Das hat sich dadurch ergeben, weil in Halbstadt - Regierungsbezirk Barnaul, wenn Sie so wollen - mit Genehmigung der russischen Regierung der erste deutsche Landkreis entstanden ist und dort eine Zweigstelle des VDABüros eingerichtet werden soll.
Der Verwendungsnachweis des VDA liegt noch nicht vor. Er ist nach der Bundeshaushaltsordnung grundsätzlich erst am 30. Juni des Folgejahres einzureichen. Das wäre mit Ablauf dieses Monats.
Herr Kollege Duve, eine Zusatzfrage.
Ich bin dankbar für diese Klarstellung, die einen Teil meiner Frage zu Recht korrigiert.
Wie viele entsandte Mitarbeiter sind in den beiden Büros derzeit tätig?
Ich konnte schon auf die personelle Ausstattung hinweisen. Ich möchte Ihnen vorschlagen, Herr Kollege Duve, daß ich Ihnen die genaue personelle Ausstattung der beiden Büros nach der heutigen Fragestunde umgehend schriftlich mitteile, damit ich Ihnen nichts Falsches sage. Ich will das noch genau feststellen.
Ich sage das deshalb, weil in dem einen Fall - ich habe in meiner Antwort schon darauf hingewiesen - eine Bürogemeinschaft mit einer anderen Einrichtung vorhanden war und im zweiten Fall eine rußlanddeutsche Journalistin die Leitung zunächst kommissarisch übernommen hatte. Ich will noch einmal feststellen, wie der Stand heute, Anfang Juni, ist. Ich teile Ihnen das umgehend mit.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie war bei all diesen Einrichtungen und der enormen Tätigkeit, die Sie zum großen Teil mitorganisiert haben, die direkte Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und den Vertretungen des Auswärtigen Amtes? Sind die Einrichtungen von beiden Häusern in der Regel reibungslos getragen worden?
Herr Kollege Duve, es ist unser Bemühen im Bundesinnenministerium und auch mein persönliches Bemühen, daß wir bei der schwierigen Arbeit, die ja in Ost- und Südosteuropa ansteht, reibungslos zusammenarbeiten. Ich nenne vor allem die Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, die ja hierfür in erster Linie zuständig ist. Unsere Zusammenarbeit ist reibungslos und gut. Ich habe gerade mit dem neuen Außenminister Kinkel verabredet, daß wir die weiteren Initiativen gemeinsam festlegen. Die Zusammenarbeit kann nur als gut bezeichnet werden. Ich bedanke mich vor dem Hohen Hause ausdrücklich für die gute Qualität dieser Zusammenarbeit.
Meine Kolleginnen und Kollegen, die Sie schon für die Aktuelle Stunde anwesend sind: An sich ist die Zeit für die Fragestunde abgelaufen. Aber ich schlage vor, als letzte Zusatzfrage die des Kollegen Horst Sielaff zuzulassen, damit wir diesen Komplex abschließen.
Herr Kollege Sielaff, Sie haben das Wort.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß Abgeordnete des Hauses, auch Mitglieder von Ausschüssen, die vorhin genannten Büros - ich nenne vor allem das Büro des VDA in Bischkek - bereits genutzt haben, und ist es möglich, daß alle Abgeordnete bei Reisen in Staaten der ehemaligen Sowjetunion diese Büros ebenfalls besuchen und dort - ich möchte sagen - Amtshilfe erhalten?
Herr Kollege Sielaff, ich kann ganz deutlich feststellen, daß die Büros des VDA, die Sie erwähnt haben, wie übrigens auch Außenstellen anderer Mittlerorganisationen - ich habe vorhin mehrere genannt - den Mitgliedern des Deutschen Bundestages offenstehen, damit sie ihnen an Ort und Stelle bei den wichtigen Kontakten behilflich sind, die wir als Mitglieder des
Deutschen Bundestages in diesen Staaten in Kontakt zu den Menschen, die dort leben, besonders zu den deutschen Minderheiten, wahrnehmen sollten.
Sie haben ein spezielles Büro genannt. Ich gehe nach den mir vorliegenden Informationen davon aus, daß es an der Arbeit ist. Ich sehe kein Hindernis, daß die Kollegen, die dorthin kommen - Sie fahren ja, wie ich weiß, gerade nach Kirgistan etwas öfter -, dieses Büro in Anspruch nehmen.
Danke, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Damit ist die Fragestunde geschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Neuerliche Kostenexplosion im Gesundheitswesen
Die Gruppe PDS/Linke Liste hat eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach tagelangen Pressemeldungen und Verunsicherungen der Bevölkerung über weitere zu erwartende Kostenbelastungen legte der Gesundheitsminister gestern die Karten auf den Tisch: die Darlegung der Eckpunkte zur Sicherung und Strukturverbesserung in der Krankenversicherung, den Entwurf des Gesundheitsstrukturgesetzes 1993.
Daß das Gesundheitssystem der Bundesrepublik zu verbessern und Kosten wenigstens einzufrieren sind, darüber herrscht in der Bevölkerung und in der Politik sicher Einigkeit. Allerdings ist mir unverständlich, warum sowohl in der Begründung der Eckpunkte als auch in den aufgeschlüsselten angestrebten Änderungen ständig nur die Kosten bzw. deren Senkung im Mittelpunkt stehen. Die einfache Variante zur Kostendeckung wäre ja, die Beitragssätze zu erhöhen. Aber nein, das kann ja kein Ziel dieser Regierung sein. Denn dann ständen die Arbeitgeberverbände wegen der Lohnnebenkostensteigerung in der Tür. Das scheue Reh Kapital muß ja mit besonderer Vorsicht behandelt werden. Also bleibt die Regierung bei der Forderung: Beitragsstabilität zugunsten der Arbeitgeber.
Arbeitnehmer allerdings genießen nicht die Fürsorge dieser Regierung. Darum werden sie mit den bekannten Zuzahlungen zur Kasse gebeten. Wie immer trifft dies ganz besonders die chronisch Kranken und die Alten, eben die, die ohne dickes Portemonnaie die Hilfe der Medizin brauchen. Diese Politik ist nicht nur unsozial, das ist massiver Sozialabbau.
({0})
Für die PDS/Linke Liste ist Gesundheit immer noch ein Grundrecht eines jeden Menschen. Gesundheitsbeeinträchtigung und Kranksein sind Belastung genug für die Betroffenen in einer Gesellschaft, in der nur der Tatkräftige, Gesunde, rund um die Uhr
Einsetzbare - möglichst Mann - als Maßstab und Ideal gilt. Die Kranken werden dafür noch bestraft und finanziell belastet. Nur wer mehr Geld hat, kann sich einen größeren Teil der Ware Gesundheit leisten.
Interessant ist hierbei, woher das für dieses Jahr zu erwartende Defizit der gesetzlichen Krankenkassen von etwa 10 Milliarden DM kommt. Nicht, meine Damen und Herren, wie einige von Ihnen vielleicht erhofft hatten, aus 40 Jahren angeblicher sozialistischer Mißwirtschaft, sondern aus den alten Bundesländern. Im Osten wurde 1991 noch Gewinn erwirtschaftet, und für 1992 wird eine ausgeglichene Bilanz erwartet. 10 Milliarden DM Defizit, die nun alle zu tragen haben und die beredtes Zeugnis struktureller Probleme des Gesundheitswesens sind.
Wäre es nicht wenigstens jetzt an der Zeit, unvoreingenommen und differenziert zu analysieren, welche Vorzüge in der Organisation des Gesundheitswesens in der ehemaligen DDR gewirkt haben könnten, anstatt das multimorbide bundesdeutsche Gesundheitssystem auch noch den neuen Ländern überzustülpen?
Betrachten wir nur das System der gesetzlichen Krankenkassen. Ihre Verwaltungsausgaben, die in der Bundesrepublik 5 % der jährlichen Einnahmen von 150 Milliarden DM der Krankenkassen betragen, sollen im Zeitraum bis 1995 nicht stärker steigen als die beitragspflichtigen Einnahmen. Das heißt, es wird hier nur auf eine zusätzliche Ausdehnung verzichtet, aber nicht eine tatsächliche Kürzung der Verwaltungsausgaben vorgenommen. Demgegenüber verbrauchte das einheitliche System der Sozialversicherung der DDR nur 0,5 % seiner Einnahmen für die Verwaltung.
Ein System von rund 1 200 autonomen Krankenkassen in acht Kassenarten hat gegenüber den Leistungserbringern wie der Pharmaindustrie wohl kaum eine ausreichend machtvolle Verhandlungsposition und ist in sich sozial ungerecht.
Wie werden die Kosten nun verteilt? 8,2 Milliarden DM sollen die Leistungserbringer und 3,2 Milliarden DM die Versicherten aufbringen. Das klingt zunächst einmal halbwegs gerecht. Aber z. B. die Pharmaindustrie soll ein freiwilliges Moratorium eingehen. Es ist noch abzuwarten, ob sie sich darauf einläßt. Dies ist nur ein Verzicht auf zusätzlichen Gewinn.
Demgegenüber zahlen jedoch diejenigen, die die Leistungen der medizinischen Versorgung in Anspruch nehmen, zusätzlich zu ihrer individuellen Belastung der Versicherung noch direkt für jede von ihnen genutzte Leistung. Es ist klar, daß wieder nur bestimmte Gruppen der Bevölkerung besonders hart betroffen sind, Gruppen, die auf Grund ihrer individuellen Lebenslage, unabhängig von ihrer wahrgenommenen oder nicht wahrgenommenen Eigenverantwortung, stärker als andere betroffen sind. Kleine Kinder werden nun einmal häufiger krank als Erwachsene, und chronisch Kranke sind auf ihre Medikamente angewiesen.
Gesundheit ist tatsächlich ein Luxus, den sich nicht jeder leisten kann. Wenn betont wird, daß die Eigenverantwortung, soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen,
die den Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung und dem medizinischen Fortschritt Rechnung trägt - dies ist ein Zitat aus der gestrigen Presseerklärung -, so fragt sich doch, wie dies zu verstehen ist. Für mich ist das Zynismus. Wenn der einzelne durch inhumane, gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen der Industrie
({1})
und dem Individualverkehr verursachte Luftverschmutzungen und Umweltbelastungen ausgesetzt ist, so sind seine Möglichkeiten, darauf Einfluß zu nehmen, innerhalb dieser Gesellschaft sehr gering.
Notwendig ist endlich die Umsetzung der Gesundheitsphilosophie des auch von Herrn Seehofer .. .
Frau Kollegin, Sie sind ein gutes Stück über Ihre Redezeit hinaus.
... 1987 mit in Gang gebrachten Gesundheits-Reformgesetzes „Qualitativer Ausbau durch Umbau". Es wäre Zeit, über Strukturen nachzudenken, die sich bei uns bewährt haben - poliklinischer Charakter, Ärztehäuser und zahnärztliche Versorgung für Kinder -, und sie umzusetzen.
Ich danke Ihnen.
Ich muß das jetzt wieder sagen: In der Aktuellen Stunde gibt es fünf Minuten Redezeit. Eine Minute Überschreitung sind 20 % Überschreitung. Einer sollte auf den anderen Rücksicht nehmen. Wenn ich dazwischengehe, ist es meistens schon ein gutes Stückchen darüber, und dann, bitte, nur noch einen Satz. Lassen Sie uns das Ganze doch, ohne daß ich jedesmal dazwischengehen muß, abwickeln.
Als nächster hat der Kollege Dr. Hans-Joachim Sopart das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kostenexplosion im Gesundheitswesen - ein typisch deutsches Phänomen? Nein, dies ist kein deutscher Sonderfall. Diese Entwicklung problematisiert die Gesundheitssysteme aller hochentwickelten Industriestaaten dieser Welt. Im Gegenteil: Das gegliederte Kassensystem in Deutschland gehört bei höchstem medizinischen Versorgungsniveau zu den wenigen noch nahezu reinrassigen Solidarsystemen der Welt. Aber auch hier ist dieses System durch punktuelle Leistungsausgrenzung und Zuzahlung nicht mehr allumfassend.
Manch einer in den neuen Ländern, aber, wie ich feststelle, selbst in diesem Haus, unternimmt den geradezu lächerlichen Versuch, das Gesundheitswesen der ehemaligen DDR als Vorbild für eine kostenlose Gesundheitsbetreuung zu loben.
({0})
Tatsächlich wurde aus den Kassenbeiträgen und aus Mitteln der Steuerzahler ein indirektes Rationierungssystem betrieben. Dabei rede ich nicht einmal von der teilweise schlimmen Bausubstanz der Krankenhäuser in den neuen Ländern, die wir heute noch sehen,
({1})
sondern ich rede aus eigener ärztlicher Erfahrung. Wenn ich beispielsweise einen Patienten betreute, bei dem der Verdacht auf das Vorliegen eines Nierentumors bestand, und ich die Wahl hatte, ihn entweder drei Monate auf eine einfache Computertomographieuntersuchung warten zu lassen oder nach der längst überholten Methode der diagnostischen Probefreilegung sofort zu operieren, dies vielleicht unnötig, dann war das ein Teil dieser rationierten Medizin. Viele Medikamente bekam ich nur auf kompliziertem Verwaltungsweg. Manche Medikamente, gerade Krebsmedikamente, hatte ich überhaupt nicht zur Verfügung.
({2})
Die längst gängige Methode der Nierensteinzertrümmerung von außen konnte ich erst nach der Wende beim Patienten anwenden.
({3})
Manche in diesem Haus befürchten - Frau Höll, ich habe das auch aus Ihren Worten gehört - für die Zukunft eine Zweiklassenmedizin. Wir in der DDR hatten sie: eine Medizin für die sogenannte Parteind Staatsführung
({4})
- denn in den Regierungskrankenhäusern in Berlin waren alle Möglichkeiten vorhanden - und eine Medizin für den einfachen Bürger.
({5})
Und heute? Das Hauptproblem der gesundheitlichen Versorgung in den neuen Ländern ergibt sich genau aus den beschriebenen Mängeln. Dies ist in manchen Bereichen relativ schnell zu verändern. Ich denke da z. B. an die Versorgung mit allen notwendigen Arzneimitteln - realisiert -, an die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln, aber auch an die deutlich erweiterten Möglichkeiten der Zahnprothetik. Die Nutzung mobiler Großgeräte und die Anschaffung kleiner, aber sehr wichtiger medizintechnischer Geräte war möglich. Großinvestitionen laufen an.
Gleichwohl, die schon jetzt deutlich spürbare Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung in den neuen Ländern wird auch dort zu einem raschen Kostenanstieg führen, so daß das jetzt von den Koalitionsfraktionen entwickelte Maßnahmenpaket zur Sicherung und Strukturverbesserung der GKV auch in den neuen Ländern helfen wird, das sich rasch entwickelnde Gesundheitswesen zukünftig durch die Solidargemeinschaft zu finanzieren. Sonderklauseln, die die Besonderheiten des gegenwärtigen EntwickDr. Hans-Joachim Sopart
lungsstandes in den neuen Ländern berücksichtigen, sind in den vorliegenden Maßnahmen enthalten und müssen in der weiteren Gesetzgebung natürlich noch präzisiert werden. Nur so ist es möglich, auch Rentnern und Geringverdienenden in den neuen Ländern das gesamte Gesundheitssystem zugänglich zu machen.
({6})
Herr Kollege Rudolf Dreßler, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Deutsche Bundestag am 25. November 1988 gegen heftigen Widerstand der SPD das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz verabschiedete, behauptete der damals für die Krankenversicherung zuständige Bundesarbeitsminister unter dem Beifall der CDU/CSU, damit seien die Weichen für die Zukunft gestellt; die Kostenwelle im Gesundheitswesen könne erfolgreich bekämpft werden. „Auf diese Reform können wir stolz sein" schloß er seine Rede. Wieder anhaltender Beifall bei der CDU/CSU für die von ihm genannte „Jahrhundertreform". Ich stelle fest: Das Jahrhundert dauert bei der CDU/CSU maximal drei Jahre.
({0})
Gerade drei Jahre später steht unbestreitbar fest: Das sogenannte Reformgesetz ist gescheitert. Keines der Gesetzesziele wurde erreicht.
({1})
Die Tatsache, daß sich die Koalition gezwungen sieht, erneut ein Sparprogramm für das Gesundheitswesen vorzulegen, beweist dies eindrucksvoll. Das, was gestern das Licht der Öffentlichkeit erblickte, diesmal unter dem Titel Gesundheits-Strukturgesetz, zeigt, daß diese Koalition aus den Erfahrungen und Fehlern des Jahres 1988 nicht viel gelernt hat.
({2})
Es sind die gleichen Rezepte, die gleiche Machart, die gleiche soziale Unausgewogenheit. Abermals gilt: Kostendämpfung statt Strukturreform! Das Bonner CDU/CSU-F.D.P.-Bündnis hat sich auf dem Rücken der Krankenversicherten erneut verständigt.
({3})
Schon heute morgen läßt sich der Gesundheitsminister öffentlich wie folgt ein: Selbst wenn dieses sogenannte Gesundheits- Strukturgesetz verwirklicht würde, seien Beitragserhöhungen der Krankenkassen nicht auszuschließen.
({4})
Diese Koalition räumt also ihr abermaliges Scheitern in der Gesundheitspolitik vorsichtshalber schon im Vorwege ein, meine Damen und Herren.
Wenn das so ist - und nichts spricht dagegen -, dann ist das beabsichtigte Reparaturgesetz die offizielle Bankrotterklärung für die Gesundheitspolitik dieser Regierung.
({5})
Sie geben vor, mit Ihren Vorschlägen 11 Milliarden DM sparen zu wollen, 8 Milliarden DM bei den Anbietern und 3 Milliarden DM bei den Versicherten. Nichts daran stimmt wirklich. 8 Milliarden DM bei den Anbietern, - daß ich nicht lache!
({6})
Die Wahrheit sieht wie folgt aus: Mindestens 3,6 Milliarden DM dieser angeblich 8 Milliarden DM sind nämlich nicht gespart, sondern bedeuten eine Verringerung der Einkommenssteigerung bei den Anbietern. Wenn - um ein Beispiel zu nennen - die Anbieter statt 10 nur noch 6,4 Milliarden DM mehr haben, sind das zwar 3,6 Milliarden DM weniger als 10 Milliarden DM, aber immerhin noch 6,4 Milliarden DM mehr als derzeit.
Nennen Sie das eigentlich sparen? Sparen, das tun Sie wirklich, und zwar bei den Kranken und Versicherten. Da schneiden Sie in den Leistungsbestand ein, da kassieren Sie ab. Bei den Großen heißt für Sie sparen, das Mehr zu verringern, aber es bleibt immer noch ein Mehr. Und bei den Kleinen heißt das für Sie, ein Weniger herbeizuführen. Das ist nicht sozial ausgewogen. Preise bis zur Bundestagswahl einfrieren - die Planwirtschaft läßt grüßen! -, Honorarzuwächse bremsen, Krankenhauskosten den Kommunen vor die Rathaustüren legen, auf der Anbieterseite. Warum gestehen Sie diesen Status eigentlich nicht den Versicherten und den Patienten zu?
({7})
Haben Sie eigentlich vergessen, daß Sie seit 1989 den Patienten und Versicherten Jahr für Jahr 6 Milliarden DM abkassiert haben? Woher nehmen Sie eigentlich das Recht, ihnen nochmals mehrere Milliarden DM im Jahr abzunehmen? Seit 1989 Jahr für Jahr über 6 Milliarden DM Belastung und null für die Anbieter. Ab 1993 weitere Milliarden DM für die Patienten, angeblich 8 Milliarden für die Anbieter, von denen in Wahrheit etwa 4 Milliarden DM übrigbleiben - das ist Ihre Bilanz. Zirka 10 Milliarden DM bei Patienten gegen 4 Milliarden DM bei Ärzten, Zahnärzten und der Pharmaindustrie, wenn Ihre Rechnung aufgeht. Das hat mit sozialer Ausgewogenheit nichts zu tun, meine Damen und Herren.
({8})
Deshalb sage ich Ihnen: Besinnen Sie sich, lassen Sie ab von Ihrem Abkassierungspaket, konzentrieren Sie sich auf eine wirkliche Refom des Gesundheitswesens, machen Sie nicht den gleichen Fehler wie 1988! Unsere Vorschläge kennen Sie. Setzen Sie sich damit endlich auseinander! Stellen Sie von mir aus Ihre Strukturpolitik dagegen, und lassen Sie uns dann um die beste Lösung wetteifern!
Herr Seehofer, Sie können dem Bundeskanzler mitteilen, die SPD habe Ihnen heute im Bundestag erklärt, daß das Projekt Gesundheits-Strukturgesetz mit ihr nicht zu verwirklichen und gegen sie nicht durchzusetzen ist.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Tat haben wir immer gesagt, daß es in der Gesundheitspolitik keine Patentrezepte gibt. Wir haben fernerhin festgelegt, daß in diesem Bereich unbedingt im Krankenhaus etwas geschehen muß. Darum werden wir drei Schritte verfolgen: Die F.D.P. hat dem Bremsen zugestimmt, und ich bekenne, das ist der F.D.P. sehr schwergefallen, denn es gibt in diesem Bereich das Stichwort „Budgetierung". Ich bekenne, daß wir hier sehr tief geschluckt haben. Aber ich denke, Herr Dreßler, daß wir in diesem Bereich ehrlich mit uns umgehen und sehen müssen, daß wir speziell im Krankenhausbereich nicht von heute auf morgen einfach umschalten können.
({0})
Und ich bin eigentlich erstaunt, daß Sie hier im Krankenhausbereich jede Zusammenarbeit völlig ablehnen. Ich habe vor wenigen Tagen Ihre Presseerklärung und Podiumsdiskussion in Berlin verfolgt. Wir sind dabei.
({1})
- Moment! Wenn ich Ihre Gedanken und Vorstellungen im Krankenhausbereich analysiere, meine ich, daß sie und die Vorschläge der Koalition nicht so weit auseinanderliegen. Wir wollen am 1. Januar 1993 das Selbstkostendeckungsprinzip im Krankenhaus abschaffen. Dann können Sie diesen Weg mit uns gehen und dies schrittweise verwirklichen.
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Nicht zu Lasten der Kommunen! Darüber können wir reden. Aber es wäre schön, wenn Sie bei diesen Gedanken mitgehen würden.
Zweiter Punkt: Der Sachverständigenrat hat alle diese Vorstellungen sehr sorgfältig analysiert. Auch dieser Bereich wird vom Sachverständigenrat mit Vehemenz vorangetrieben.
Meine Damen und Herren, wir haben bei diesen Entscheidungen fernerhin darüber diskutiert, ob die Solidardefinition in Zukunft über das Jahr 2000 noch so wie heute gelten kann. Ich bin schon lange der Auffassung, daß wir eine neue Definition der Solidargemeinschaft brauchen; denn die Krankenversicherung kann auf Grund der Entwicklung der älteren Bevölkerung auf Dauer nicht mehr die Leistungen anbieten, die sie heute anbietet. Ich würde Sie bitten: Diskutieren Sie mit uns auch die Möglichkeit, zu entscheiden, welche Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung in Zukunft angeboten werden müssen.
Wir haben hier einen kleinen Einschnitt geschaffen. Wir haben beim Zahnersatz definiert, was Regel- und Wahlleistungen sein können. Die Regelleistungen gehen in die Wahlleistungen über. Diese Gedanken liegen vor, sie sind im Konzept vorhanden, und ich fordere Sie auf, zu definieren und mit uns zu diskutieren, was wir hier realisieren können.
({3})
Letzter Punkt: Meine Damen und Herren, es gibt - ich möchte dies wiederholen - kein Patentrezept. Wir haben Möglichkeiten geschaffen, daß die Leistungsanbieter diesmal in der Tat stärker in die Pflicht genommen werden. Wir werden es auf der anderen Seite nicht vermeiden können, daß die Versicherten in ihre Verantwortung und auch in ihre Eigenvorsorge mit einbezogen werden.
({4})
Wir müssen es einfach, damit dieses gesetzliche System überlebt. Darum wollen wir auch die Eigenvorsorge stärken und die Zuzahlung forcieren.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Abgeordnete Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist unstrittig, daß im Gesundheitswesen gespart werden muß. Genauso richtig ist es, daß alle daran beteiligt werden müssen: Pharmaindustrie, Ärzte und Patienten,
({0})
allerdings genau in dieser Reihenfolge. Die Preise, Kosten und Honorare der Pharmahersteller, Krankenhausbetreiber und Ärzte bieten die weitaus größten Einsparungsmöglichkeiten. Sie lediglich einzufrieren, während die Patienten aktiv zur Kasse gebeten werden, zeigt, daß von solider Ausgewogenheit bei diesem Reformpaket nicht die Rede sein kann.
Wenn Otto Graf Lambsdorff diesen Reformvorschlag als Beweis für die Entscheidungsfähigkeit der Koalition feiert, so zeigt er doch vor allen Dingen, in welche Richtung die Entscheidungen der Koalition gehen, nämlich das schwächste Glied in der Kette, die Patienten, zu schröpfen und vor der Lobby aus Ärzteschaft und Pharmaindustrie zurückzuschrecken.
({1})
Wie zögerlich und ängstlich die Koalition vorgeht, zeigt sich auch daran, daß sich die Reformvorschläge wieder in den alten, eingefahrenen Gleisen bewegen.
({2})
Neue Ideen gibt es überhaupt nicht. Ich vermisse eine Grundsatzentscheidung zur Stärkung der Präventivmedizin gegenüber der Reparaturmedizin. Durch gesunde Lebensweise und Prävention könnten z. B. 30 bis 40 % der Krebskrankheiten vermieden werden. Die Heilung eines Lungenkrebses, der vor hundert Jahren noch zu den seltenen Ausnahmen zählte und heute eine der häufigsten Krebsarten ist, kostet mehr als 100 000 Mark. Der Zusammenhang zwischen Rauchen und der steigenden Lungenkrebsrate ist ebenfalls unbestritten.
Es wäre deshalb richtig, wichtig und notwendig, vor allen Dingen jene Patienten an den Kosten zu beteiligen, die durch ihre Lebensführung bewußt gesundheitliche Risiken eingehen.
({3})
In den USA wird das übrigens schon längst praktiziert.
Ein Großteil der Erkrankungen ist heute auf Umweltgifte zurückzuführen. Die Regierungskoalition hat aber noch nicht einmal angefangen, darüber nachzudenken, was das für eine Gesundheitsreform bedeutet. Es ist versäumt worden, die Ärzte auf die umwelttoxikologische Realität und deren Herausforderungen vorzubereiten. Es ist aber auch versäumt worden, sich mit den überhöhten Grenzwerten z. B. für eine Schadstoffhöchstmengenbegrenzung in Lebensmitteln, Textilfarben, Baustoffen usw. auseinanderzusetzen. Nach wie vor gilt als Berechnungsgrundlage eine Person von 70 kg. Das Gewicht von Kindern und der meisten Frauen, also des größten Teils der Bevölkerung, liegt zum Teil erheblich darunter. Diese Menschen werden also durch falsche Grenzwerte Gesundheitsrisiken ausgesetzt.
Völlig unbekannt ist gar die Wirkung der Chemiecocktails, denen wir ausgesetzt sind. Es ist aber bekannt, daß wir einen steilen Anstieg der Zahl von Allergien und Hautkrankheiten zu verzeichnen haben. Die Ärzte stehen vielen dieser Erkrankungen ganz hilflos gegenüber; denn es gibt in Deutschland nur 20 Ärzte, die umwelttoxikologisch arbeiten. Spätestens seit dem Holzschutzmittelskandal ist vielen Menschen - offensichtlich aber noch nicht den Politikern - bewußt geworden, daß eine beträchtliche Menge von Erkrankungen auf Holzschutzmittel und andere Wohngifte zurückzuführen sind. Es gibt wiederum nur 20 Ärzte, die für Holzschutzmittelgeschädigte arbeiten.
Die verschiedenen Ärzteberufsgruppen können nur wenig mit diesen Geschädigten anfangen, weil sie überhaupt nicht darauf vorbereitet sind. Die dadurch entstehenden Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen sind teuer und treiben die Kostenspirale nach oben.
Die Krankenkassen wiederum haben bisher keine Anstalten gemacht, bei den Herstellern schädlicher Produkte, die die Menschen krank machen, Kosten für die Behandlung einzufordern. Es ist offensichtlich einfacher, den Betroffenen in die Tasche zu greifen. Wirklich kostendämpfend kann also nur eine radikale Umorientierung im Gesundheitssystem wirken. Die Entwicklung einer umfassenden Präventivmedizin wäre das Gebot der Stunde.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Niemand kann bestreiten, daß die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung ernster ist als jemals zuvor. Ich hatte deshalb bis zum Beginn dieser Debatte gehofft, daß wir diese schwierige Lage der gesetzlichen Krankenversicherung und damit der Gesundheitspolitik insgesamt hier im Parlament als Chance für einen Neubeginn in der gesundheitspolitischen Diskussion begreifen.
Ich finde es sehr bedauerlich, Herr Kollege Dreßler, daß Sie im Grunde die gleichen abgedroschenen Formulierungen wie 1988 und 1989 verwendet haben.
({0})
Sie haben die Chance zu einem Neubeginn, zu einer differenzierten Diskussion in der Gesundheitspolitik nicht genutzt.
({1})
Damit haben Sie sich dem Verdacht ausgesetzt, daß es Ihnen primär nicht um Gesundheitspolitik, sondern um Parteipolitik geht.
({2})
Es fällt mir nicht ganz leicht, Herr Kollege Kirschner, weil ich Sie ansonsten sehr hoch schätze, folgendes festzustellen: Auch Sie haben letzte Woche sehr stark auf diesem Instrument gespielt, indem Sie Mutmaßungen in den Raum gestellt haben, die Grundlage für viele Presseberichterstattungen waren, die sich bis zum heutigen Tage gehalten haben.
Deshalb beginne ich diese Rede damit, daß ich entgegen vielen Pressemeldungen der letzten Tage feststelle, was alles nicht kommt. Alles das, was Sie, Herr Kollege Kirschner, behauptet haben, trifft in der Realität nicht zu.
Ich sage der deutschen Öffentlichkeit hier vor dem Deutschen Bundestag: Es kommt keine Ausgrenzung der Brillen, es kommt keine Ausgrenzung der Kuren, es kommt keine Ausgrenzung der Hustensäfte und bestimmter Arznei-, Heil- oder Hilfsmittel aus dem Leistungskatalog. Es gibt keine Reduzierung des Zuschusses zum Zahnersatz von 60 auf 40 %, wie behauptet wurde. Es gibt keine Eintrittsgebühr beim Arztbesuch in Höhe von 10 %, weder prozentual noch mit einem Festbetrag.
Meine Damen und Herren, all dies, was von der SPD in der letzten Woche behauptet wurde, ist von der Koalition nicht beschlossen worden. Schon allein deshalb ist das, was verabschiedet wurde, ein gutes Paket.
({3})
Lieber Kollege Dreßler, ich bitte Sie, wenigstens Ihren Stil noch einmal zu überdenken.
({4})
Ich kann mir schwer vorstellen, daß sie beispielsweise gegen eine höhere Kostenerstattung von Chefärzten im Krankenhaus sein werden. Ich kann mit schwer vorstellen, daß die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die größte Arbeiterbewegung, wie sie sich selbst einstuft, im Bundestag oder im Bundesrat dagegen stimmt, wenn beschlossen werden soll, daß die Zahnarzt- und Arzthonorare für drei Jahre nicht stärker steigen sollen als Löhne und Gehälter.
Ich kann mir schwer vorstellen, Herr Dreßler, daß Sie und Ihre Fraktion hier sowie im Bundesrat dagegen stimmen, daß beim Zahnersatz die Vergütung für den Zahnarzt - nicht der Zuschuß für den Versicherten - um 20 % gesenkt wird. Da bin ich mal sehr gespannt.
Ich kann mir sehr schwer vorstellen, daß Sie im Parlament und im Bundesrat gegen den Solidarbeitrag, und zwar nicht gegen den freiwilligen, sondern gegen den gesetzlich fixierten, der ganzen Pharmabranche stimmen, nämlich Senkung der Arzneimittelpreise durch Gesetz 1993 und 1994 um 5 % und Festschreibung dieses gesunkenen Niveaus. Das gibt insgesamt für 1993 und 1994 einen Beitrag der Pharmabranche von 3 Milliarden DM.
Ich kann mir sehr schwer vorstellen, daß eine sozial eingestellte Partei hier im Deutschen Bundestag und im Bundesrat dagegen stimmt. Ich kann mir sehr schwer vorstellen, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und die sozialdemokratisch regierten Bundesländer in den beiden Verfassungsorganen Bundestag und Bundesrat gegen eine Personalverordnung für die Krankenhäuser stimmen,
({5})
die vorsieht, daß bis 1996 13 000 zusätzliche Stellen für Krankenpfleger und Schwestern eingesetzt werden mit einem Kostenvolumen von 840 Millionen DM.
({6})
Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß die neuen Bundesländer mit der Unterstützung der Sozialdemokraten dagegen sein werden - auch das ist Gegenstand unseres Pakets -, daß wir ab 1994 die Instandhaltungspauschalen für die Krankenhäuser in den fünf neuen Bundesländern über die gesetzlichen Krankenversicherungen finanzieren.
Meine Damen und Herren, weil ich mir das nicht vorstellen kann, daß dies eine seriös geführte Bundestagsfraktion der SPD und seriös geführte Landesregierungen der SPD tun, mache ich Ihnen den Vorwurf, daß Sie Ihre parteipolitischen Interessen höher einstufen als die Sorgen und die Probleme der Menschen, über die wir hier reden.
({7})
Diese Maßnahmen belasten die sogenannten Leistungserbringer, also Krankenhäuser, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Zahntechniker, mit insgesamt 8,2 Milliarden DM. Und um diesen Betrag werden die Beiträge ab 1993 entlastet.
({8})
Ich habe heute früh im Fernsehen nicht gesagt, daß wir mit dieser Aktion Beitragserhöhungen vermeiden könnten. Das Ziel dieser Aktion ist, daß sich ab 1993 die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr stärker entwickeln als die Einnahmen.
Aber ich habe hinzugefügt, daß wir mit diesem Gesetz möglicherweise nicht erreichen, daß die bereits ausgelösten Defizite des Jahres 1992 nicht in Beitragserhöhungen durchschlagen. Das sage ich nicht, weil das Projekt, das wir machen, so schlecht wäre, sondern weil man die Öffentlichkeit ehrlich informieren sollte, wie es um die Sache steht.
({9})
Jetzt komme ich zu der Versichertenseite. Die Versicherten sind in der Tat mit einem Beitrag von 3 Milliarden DM dabei. Dabei muß man folgendes sehen: Wenn wir als Gesetzgeber nicht handeln würden, dann würden wir ohne Zweifel im nächsten Jahr mindestens das gleiche Defizit wie im Jahr 1992 schreiben, also mindestens 10 Milliarden DM. Die Hälfte eines solchen Defizits tragen die Versicherten, nämlich 5 Milliarden DM. Herr Dreßler, hören Sie gut zu. Wenn wir nicht handeln, sind die Versicherten mit 5 Milliarden DM belastet, weil sie in jedem Fall die Hälfte des Defizits zu tragen haben.
({10})
Denn jeder Versicherte, jeder Patient ist auch Beitragszahler. Deshalb trägt jeder Patient auch die Hälfte eines Defizits. Wenn wir nicht handeln würden, hätte er ab dem nächsten Jahr auf Dauer jedes Jahr mindestens 5 Milliarden DM über höhere Beiträge zu tragen.
Mit unserer Maßnahme, mit der ja Beitragserhöhungen ab 1993 vermieden werden, wird der Versicherte nur mit 3 Milliarden DM belastet. Das heißt, die Alternative der Beitragserhöhung ist die weitaus unsozialere Maßnahme, weil sie die kleinen Leute trifft.
({11})
Sie ist auch deshalb unsozial, weil die Beitragserhöhung unmittelbar auf die Rentenerhöhung durchschlägt. Das ist Ihr eigentliches Konzept, das Sie wollen, daß mit steigenden Krankenversicherungsbeiträgen die Rentenerhöhung reduziert wird. Und dann stellen Sie sich hier hin und sagen: Die Regierung ist in der Krankenversicherung gescheitert und bei der Rentenversicherung unsozial. Das ist Ihre eigentliche Absicht, Herr Dreßler.
({12})
Meine Damen und Herren, die Koalition hat in großer Geschlossenheit ihre Handlungsfähigkeit auf diesem Gebiet bewiesen. Dieses Projekt ist eine gesunde Verzahnung zwischen einer Sparaktion, die unvermeidlich ist,
({13})
und der Einleitung von strukturellen Maßnahmen. Dazu werden einige Kollegen noch Ausführungen im Detail machen. Dieses Konzept ist sozial ausgewogen.
({14})
Die Verwirklichung dieses Konzepts wird dazu beitragen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland auch künftig auf hohem Niveau medizinischen Fortschritt, qualitative Versorgung anbieten werden, allerdings auch zu tragbaren Beitragssätzen.
({15})
Das Wort hat der Kollege Klaus Kirschner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Seehofer, ich denke, es geht hier nicht um abgedroschene Formulierungen, sondern es geht hier um Fakten.
({0})
Die sehen doch im elften Jahr ihrer Regierung folgendermaßen aus: das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung betrug im vergangenen Jahr 5,5 Milliarden DM, Beitragssatzanhebungen bei 301 Krankenkassen zu Beginn dieses Jahres, ein weiteres drohendes Milliardendefizit in diesem Jahr mit der Folge weiterer Beitragssatzanhebungen. Das von Ihnen, Herr Bundesminister Seehofer, vorgelegte Eckpunktepapier zur Reform der sogenannten Gesundheitsreform - oder wie immer Sie das auch bezeichnen - kennzeichnet doch derzeit die Lage in unserem Gesundheitswesen. Oder, präzise auf den Punkt gebracht: Das ist die Bilanz des GRG, das gerade drei Jahre als ist. Ich denke, einen deutlicheren Beweis des Scheiterns dieses Gesetzes kann es nicht geben.
({1})
Sie haben, meine Damen und Herren, mit dem GRG - und das können Sie nicht wegdiskutieren - die Patienten und Versicherer mit 6,5 Milliarden DM jährlich belastet.
({2})
Die ausgabentreibenden Fakten, wie beispielsweise die zunehmende Zahl der Kassenärzte, die Fehlbelegungen im Krankenhaus, im Arzneimittelbereich, die Überkapazitäten bei besonders teuren medizinischen Großgeräten sind Sie nicht oder, wenn, nur halbherzig angegangen. Sie haben die Leistungsanbieterseite weitestgehend verschont, und selbst da, wo diese durch das GRG in die Pflicht genommen werden sollte, beispielsweise bei der elektronisch lesbaren Krankenversicherungskarte, bei den Richtgrößen, bei der
Wirtschaftlichkeitsprüfung und Qualitätssicherung, ist die Bundesregierung - und das ist der Vorwurf an Sie, nicht an Sie persönlich, aber an Ihre Vorgängerinnen und an die Bundesregierung insgesamt - nicht ihrer Pflicht zur möglichen Ersatzvornahme nachgekommen.
({3})
Sie, meine Damen und Herren, haben es sich zu einfach gemacht und die Verantwortung einfach auf die Selbstverwaltung geschoben, wohl wissend, daß die Umsetzung dieser Instrumente an der Blockade der Leistungsanbringerseite gescheitert ist. Ich will Sie daran erinnern, daß die Bundesregierung selber in ihrem Bericht über die Entwicklung der Beitragssätze vom 7. Januar dieses Jahres - Sie können es in der Drucksache 12/1901 nachlesen - feststellt, daß weitergehende Maßnahmen, insbesondere zur Begrenzung der Leistungsmengen, erforderlich sind. Wo sind denn die Konsequenzen, die Sie daraus gezogen haben?
Die Berechnungen der Betriebskrankenkassen zeigen, daß die Ausgaben in diesem Jahr im ersten Quartal bereits um 13 % steigen, während die Einnahmen gerade 8 % erreichen.
Sie haben nun, Herr Bundesminister Seehofer, ein Eckpunktepapier vorgelegt. Danach werden die Versicherten durch erhöhte Zuzahlungen im Krankenhaus neuerlich zur Kasse gebeten. Dies trifft insbesondere die Langzeitpatienten und niemand anderes.
({4})
Bei den Arzneimitteln begehen Sie einen Wortbruch - daran möchte ich Sie erinnern -; denn bisher sollten Festbetragsarzneimittel zuzahlungsfrei bleiben. Beim Zahnersatz haben Sie eine Aufteilung in eine Grundversorgung und in eine Regelversorgung vor nach dem Motto „zwei Zähne zahlt die Kasse, drei Zähne zahlt der Patient dann selber", und dies - das ist das Unglaubliche - zum 3,6-fach höheren Satz, als die Kassen zu zahlen haben, nämlich nach der GOZ. Das wissen Sie genau.
({5})
Ich kann Ihnen nur sagen: Dies ist eine Weichenstellung in Richtung der Privatisierung der Gesundheitsrisiken zu Lasten der Patienten, und dies ausgerechnet in dem Bereich, wo wir die Spitzenverdiener im Gesundheitswesen haben, nämlich die Zahnärzte.
({6})
Meine Damen und Herren, die Begrenzung der Ausgaben der Leistungserbringer auf den Grundlohnzuwachs als echte Einsparung und als finanzielles Opfer der Leistungserbringerseite herauszustellen ist doch mehr als fragwürdig. Warum hat das Bundesministerium für Gesundheit als Aufsichtsbehörde nicht schon längst gehandelt und die Honorarverträge beanstandet, die den Grundsatz der Beitragsstabilität nicht beachtet haben? Die ersten Kassen, Herr Bundesminister Seehofer, die den Honorardeckel ohne Not aufgegeben haben, waren die Betriebskrankenkassen des Bundes, nämlich des Bundesverkehrs7718
ministeriums, der Bundesbahn und der Bundespost. Warum hat das Bundesgesundheitsministerium hiergegen nichts getan? Das gleiche gilt natürlich für die bundesweiten Ersatzkassen. Ich habe hier wiederholt in Anfragen an die Bundesregierung wissen wollen: Was tut die Bundesregierung dagegen, wenn hier der Grundsatz der Beitragsstabilität nicht eingehalten wird? Bis heute haben Sie diese Honorarverträge nicht beanstandet.
({7})
Zum Schluß noch eine Bemerkung, Herr Bundesminister. Wenn Sie glauben, Sie könnten die längst fällige Organisationsreform außer acht lassen, wenn Sie die Augen vor den Beitragssatzunterschieden zwischen 8 und 16,5 % verschließen und Kostendämpfung statt Strukturreform betreiben, dann werden Sie scheitern wie Ihr Vorgänger. Greifen Sie endlich - das ist das Angebot von uns an Sie - die vorliegenden Vorschläge der SPD auf! Denken Sie an die Vorschläge der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages oder an die seit sieben Jahren immer wiederholten Vorschläge des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen! Ich denke, das sind richtige und konsequente Vorschläge für eine Strukturreform des Gesundheitswesens.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich darf nur einen kleinen Hinweis geben. Es ist natürlich sehr geschickt vom Redner, wenn er, wenn seine Zeit bereits abgelaufen ist, einen ganzen Absatz mit dem Satz anfängt: „Zum Schluß möchte ich noch ... "
({0})
Das zweite ist eine Bitte. Wenn Sie so etwa in der Hälfte der Rede sind, schauen Sie bitte nicht nur den Bundesgesundheitsminister an, sondern auch mal in die andere Richtung; dann kann man nämlich sehen, wann das Licht aufleuchtet.
({1})
Als nächster hat das Wort der Kollege Bruno Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute erneut über die Kostenentwicklung in der GKV und die daraus zwingend resultierende weitere Entwicklung des GRG debattieren, dann kann ich wohl zu Recht einen Grundkonsens annehmen, nämlich den, daß keine politische Partei in diesem Hause gewillt ist, weitere Beitragssatzsteigerungen in der GKV tatenlos hinzunehmen.
({0})
Als Ergebnis dieser Erkenntnis und getragen von dem Willen, nicht nur kurzfristige Veränderungen, sondern grunsätzlich strukturelle Veränderungen und langfristig eine Stabilisierung unserer Solidarversicherung herbeizuführen, kann die Koalition heute nach intensiven Beratungen ein umfassendes Konzept zur Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens vorlegen. Dies sollte, so denke ich, auch für die Opposition Anlaß sein, unsere Vorschläge vorbehaltlos zu prüfen. Es hilft überhaupt niemandem, wenn man vorzeitig mit Schlagworten arbeitet wie z. B. mit solchen, daß die solidarische Krankenversicherung nun beerdigt werde oder daß es zu einer Amerikanisierung des Sozialstaates komme bzw. skandalöse Selbstbeteiligungsregelungen vorgesehen seien. Es ist auch nicht hilfreich, wenn bereits am 26. Mai - also schon eine Woche vor Abschluß unserer Koalitionsberatungen - unser verehrter Kollege Kirschner „wußte", daß statt einer Strukturreform nun wieder an Symptomen herumkuriert werde.
({1})
Auch der Kollege Dreßler spricht erneut von einem Abkassierungsmodell.
({2})
Auch von ihm war vor Beendigung der Koalitionsberatungen der Appell an die Bundesregierung zu hören, endlich die Leistungserbringer in die Pflicht zu nehmen.
({3})
Ich denke, man wird, wenn man das Koalitionspapier liest, unschwer erkennen können, daß hier ein ausgewogenes Gesamtkonzept zur Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens vorliegt.
({4})
- Dann würde ich empfehlen, es ein sechstes Mal zu lesen.
({5})
Ziel ist nicht nur die Beitragssatzstabilität ab 1993, Herr Kollege Dreßler, sondern die dauerhafte Absicherung der Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens.
({6})
Das Konzept ist auch eine konsequente Umsetzung unseres Zieles, daß alle Leistungserbringer und Versicherten ihren Beitrag zur weiteren Entwicklung unseres Gesundheitswesens leisten.
({7})
Dabei haben alle Leistungserbringer zu dem Gesamteinsparvolumen von 11,4 Milliarden DM einen Beitrag von über 8 Milliarden DM im nächsten Jahr zu leisten.
({8})
- Sie werden uns daran messen, Herr Kollege Dreßler. Wir werden in diesem Hause noch öfter darüber debattieren, da bin ich ganz sicher.
Auch die Ankündigungen Ihrerseits, daß Brillengestelle und daß Zahnersatz teurer wird, sind nicht eingetreten;
({9})
Ich muß Sie hier enttäuschen, auch was das Eintrittsgeld in die ärztliche Sprechstunde betrifft.
({10})
Und noch etwas lassen Sie sich sagen: Diese kurzfristigen Maßnahmen, die zwingend erforderlich sind, um tatsächlich in die Strukturreform des Gesundheitswesens einzutreten, sind unvermeidbar. Viel wichtiger ist das, was langfristig an Strukturmaßnahmen angedacht ist; das ist für uns eigentlich viel entscheidender.
Hierzu gehört neben dem Krankenhausbereich, der schon erwähnt wurde, die beabsichtigte Neuabgrenzung der Aufgaben einer Solidargemeinschaft, die in einem ersten Schritt beim Zahnersatz durch eine Unterscheidung zwischen Regel- und Wahlleistung vollzogen wurde.
({11})
Herr Kollege Kirschner, lassen Sie sich bitte gesagt sein: Die Koalition hat in voller Verantwortung nach intensiver Prüfung festgelegt, daß jeder Versicherte die notwendige prothetische Versorgung bekommt, die nach derzeitiger medizinischer Erkenntnis unverzichtbar ist.
({12})
- Messen Sie uns bitte an dem, was wir jetzt versprechen! 1988 hatte ich noch nicht die Ehre, diesem Bundestag anzugehören.
({13})
Ich bin überzeugt - meine Redezeit ist leider abgelaufen -: Wir werden noch öfter Gelegenheit haben, darüber zu sprechen.
Eines ist mir natürlich auch klar: Wer den Mut hat, Veränderungen anzupacken und in die Zukunft zu denken, der wird es nicht vermeiden können, daß er mit Kritik begleitet wird.
({14})
Er muß nur die Kraft haben, diese Kritik zu ertragen, sie dort, wo sie konstruktiv ist, umzusetzen und das, was er tut, in eine ausgewogene soziale Symmetrie zu bringen.
({15})
Dies haben wir getan.
({16})
Ich bitte Sie herzlich, mit uns in einen entsprechenden
Dialog zu treten; denn das Gesundheitswesen ist
etwas, was hier von uns allen in verantwortungsvoller
Weise getragen werden muß, ohne daß der eine oder andere glauben darf, für sich parteipolitischen Profit herausschlagen zu können.
Ich bedanke mich.
({17})
Herr Kollege Wolfgang Zöller, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn wir über Kostenentwicklung im Gesundheitswesen reden, können wir nicht so tun, als hätte es den 2. Juni 1992 mit den Problemlösungen nicht gegeben.
Ich glaube, wir sollten uns alle einmal die Frage stellen: Was wäre eigentlich passiert, wenn nicht so gehandelt worden wäre?
({0})
Erstens. Die Beiträge wären mit folgenden Auswirkungen angestiegen:
({1})
Der Versicherte hätte diese Steigerung zu 50 % von seinem Nettolohn zu bezahlen.
({2})
Für alle Arbeitgeber entstehen zusätzliche Belastungen
({3})
und damit steigende Lohnnebenkosten. - Herr Dreßler, würden Sie zuhören. Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten das Gesetz schon ein paarmal gelesen und nicht verstanden. Vielleicht können Erklärungen dazu beitragen, daß Sie es verstehen.
({4})
Eine weitere wichtige Auswirkung ist folgende - sie wurde bisher noch viel zuviel unterschätzt -: 1 % Steigerung bei der GKV führt dazu, daß die Rentenangleichung mit einem Minus von 1,7 % belastet wird.
({5})
Aus diesen Gründen ist der Vorschlag, der am 2. Juni gemacht wurde, ein ganz großer Schritt in die richtige Richtung.
({6})
Die Versicherten werden an den Belastungen mit 28 %, die Leistungserbringer - die Krankenhäuser, Pharmaindustrie und Ärzte - mit - ({7})
- Dann kapieren Sie es vielleicht doch noch! Wir haben die Chance.
({8})
Deshalb wiederhole ich: Die Belastungen sind gerecht und sozial verträglich verteilt.
({9})
In den Bereichen, in denen die Kosten durch Mengenausweitung stark angestiegen sind, sind sinnvolle Sofortmaßnahmen und neue Strukturelemente vorgesehen. Da bitte ich doch um die Aufmerksamkeit: Gerade diese Strukturelemente sind eigentlich die wesentliche Maßnahme, um ein leistungsfähiges, auf Dauer finanzierbares Gesundheitssystem zu erhalten.
Ich möchte nur vier davon herausgreifen: Erstens zum Krankenhaus. Durch die Aufhebung des gleichen Tagespflegesatzes wird mehr Wirtschaftlichkeit hineingebracht.
({10})
Wenn Sie gestern abend ferngesehen hätten, hätten Sie nicht die Befürchtung, daß wir die Belastungen nun den Kommunen vor die Haustür kehren. Durch die Übernahme eines Krankenhauses in die private Trägerschaft, wurden da Millionendefizite innerhalb von zwei Jahren in Millionengewinne umgewandelt.
({11})
- Schauen Sie nach: Zum Beispiel in Hildesheim ist das der Fall.
Dann zu Ihrer Frage nach der Anzahl der Kassenärzte. Durch eine sinnvollere Bedarfsplanung wird schon im kommenden Jahr in bestimmten Gebieten die Überversorgung - ({12})
- Wenn bei Ihnen das Wort der einzige Punkt ist, dann halten Sie sich mehr an den Inhalt.
({13}) - Ich garantiert nicht.
({14})
Sie verwechseln meine Jacke da vielleicht mit der eines anderen.
Diese Überversorgung wird also durch diese Bedarfsplanung - ({15})
- Das war dasselbe. Ich habe es Ihnen nur noch einmal sagen müssen.
Das andere ist: Ab 1999 gibt es die Bedarfszulassung. Ich glaube, auch hier können wir die Zahl der Kassenärzte auf ein erforderliches Maß beschränken.
Drittens die Organisationsreform der GKV. Hier wollen wir das Wahlrecht für die Arbeiter bei gleichzeitiger Beibehaltung unseres gegliederten Systems einführen. Wenn wir dabei bleiben wollen, brauchen wir einen sinnvollen Risikostrukturausgleich. Hierzu brauchen wir wertneutrales Zahlenmaterial, das innerhalb der nächsten zwei Jahre zusammengestellt wird. Mit Hilfe dieser Grundlage werden wir entscheiden.
({16})
Zum Zahnersatz. Hier haben wir den ersten Schritt in Regel- und Wahlleistungen getan.
Zum Schluß lassen Sie mich noch einen Satz sagen: Ständig steigendes Anspruchsdenken von allen Seiten zu Lasten der Solidargemeinschaft muß eingeschränkt werden. Die GKV ist kein Selbstbedienungsladen. Es bedarf daher künftig einer klaren Abgrenzung zwischen Eigenverantwortung und Leistung durch unsere Solidargemeinschaft.
Recht herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Horst Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Bei den Kranken Kasse machen", das ist der Eindruck, den die Bürger 24 Stunden nach der Vorstellung des Gruselkatalogs für Kranke empfunden haben.
({0})
- Dann lesen Sie einmal die Zeitung.
Ist diese Regierung nicht angetreten, unverzüglich und umfassend eine Strukturreform im Gesundheitswesen einzuleiten, Strukturmängel zu beseitigen und neue Steuerungsinstrumente einzuführen? Wollte die Regierung nicht den Widerspruch zwischen der Überversorgung im Bereich der Medizintechnik und Chemie und der Unterversorgung im Bereich der Pflege, der Prävention, der Rehabilitation und der Versorgung chronisch Kranker aufheben?
({1})
- Ich habe es von Ihnen abgeschrieben.
Von all dem findet sich nichts in Ihren Vorschlägen.
({2})
Das Wort „Strukturreform" findet man, wenn man das Papier liest, nur in der Überschrift. Das ist kein Wunder; denn Reformpolitik ist kein Markenzeichen Ihrer Politik. Reform bedeutet eben nicht „Abkassiermodell zu Lasten der Kranken", um die Arbeitgeberbeiträge zu schonen.
({3})
Reform bedeutet nicht Flickschusterei; Reform bedeutet nicht Schubladenpolitik. Oder haben Sie denn
Horst Schmidbauer ({4})
wirklich einen neuen Vorschlag in diesem Papier entdeckt?
({5})
Reform bedeutet Erneuerung an Haupt und Gliedern.
Wir lassen uns den Blick nicht verstellen: Wir sehen klar, welchen sozialpolitisch gefährlichen Weg die Koalition ansteuert. Sie wollen den Einstieg in eine andere Sozialversicherung.
({6})
Sie wollen den Arbeitgeberbeitrag und seine Lohnnebenkosten außen vor lassen. Sie wollen aber den Arbeitnehmerbeitrag über den Selbstkostenanteil massiv erhöhen.
Sie verabschieden sich damit von der Idee der Solidarität in der Krankenversicherung. Sie greifen denen in die Tasche, die als Pflichtmitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung keine Wahlmöglichkeit haben. Schlimmer noch: Sie muten die größten Opfer denen zu, die auf unsere Solidarität am meisten angewiesen sind, nämlich den kranken Versicherten, den Kranken, Schwerkranken, chronisch Kranken. Je schwerer und länger die Krankheit, um so größer und unerträglicher sind die Belastungen. Nicht mehr die solidarische Hilfe steht im Vordergrund: Der Kranke wird in Ihrem Konzept zunehmend zum Konsumenten von medizinischen Leistungen.
({7})
Die Devise heißt: Wer sich nicht marktgerecht verhält, d. h. krank wird, wird über die Selbstbeteiligung bestraft.
({8})
Wo bleibt eigentlich Ihr soziales Gewissen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU?
({9})
- Soziales Gewissen.
Ich möchte die Grundproblematik Ihrer Strategie am Beispiel des Krankenhauses verdeutlichen. Der Vergleich mit den Entwicklungslinien in den USA zeigt, daß mit der preislichen Steuerung allein Strukturen begünstigt werden, die wir nicht akzeptieren. Der Patient - das sollten wir uns vor Augen führen - darf nicht primär unter betriebswirtschaftichen Aspekten zum Kostenfaktor abgestempelt werden. Die preisliche Steuerung bringt noch keine Ausgabenreduktion, dafür aber eine Tendenz zur Ausgrenzung sogenannter schlechter Risiken und eine wirtschaftlich motivierte Ausgrenzung von Leistungen. Eine Krankenhausreform, die an den Grundsätzen sowohl der Menschlichkeit wie auch der Wirtschaftlichkeit orientiert ist, muß bei dem Wirtschaftlichkeitspotential des Krankenhauses ansetzen, d. h. erstens den Grundsatz „ambulant vor stationär" konsequent anwenden,
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zweitens Effizienzgewinne ausloten, drittens nicht in die Fortschrittsfalle der Medizin tappen, viertens Kooperationsgewinne in den Krankenhäusern ausschöpfen,
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fünftens Verzahnungsgewinne durch die Überwindung der Trennung von ambulant und stationär schaffen.
Wenn Sie Ihre Hausaufgaben in der Pflegeversicherung gemacht hätten, bräuchten wir heute schon weniger Betten in den Krankenhäusern. Lassen Sie die Finger von Ihrem Abkassiermodell!
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Machen Sie statt dessen mit uns Strukturpolitik! Machen Sie mit uns wirklich Gesundheitsreform!
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Das Wort hat der Kollege Wolfgang Lohmann.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Menzel, Sie haben vorhin den Versuch gemacht, bei der SPD daran zu appellieren, daß sie unvoreingenommen Konzepte prüft und in ein Gespräch eintritt. Wir als diejenigen, die schon etwas länger hier sind, müssen Ihnen sagen: Das ist völlig hoffnungslos.
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Ich habe vor etwa vier Wochen bei der ersten Aktuellen Stunde zu dieser Frage, die damals von der SPD beantragt worden war - die heutige Aktuelle Stunde ist interessanterweise von der PDS beantragt worden, die in „großer Zahl" erschienen ist, um hier die Aufklärung zu bekommen -, bereits gesagt, daß mir im Krankenhausbereich die Forderungen von Herrn Dreßler, z. B. die Abschaffung des Kostendeckungsprinzips,
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etwas verdächtig erschien, weil ich das Gefühl hatte, daß wir ein anderes Verständnis von wirtschaftlichem Verhalten haben als er.
Heute zeigt es sich: Selbst bei den Forderungen, die von Ihnen selbst oft als große Überschriften gestellt worden sind, wird hier nicht mitgemacht, wird nicht diskutiert, wird in Grund und Boden gestampft, während Sie anschließend sagen, es werde bei den Kommunen abgeladen.
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- Die Zwischenrufe kennen wir, Herr Dreßler; sie sind auch nicht dazu da, um einen Beitrag zu leisten oder um Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen,
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Wolfgang Lohmann ({4})
sondern sie sind ausschließlich dazu da, den Redner zu stören und daran zu hindern, seine Gedanken vorzutragen.
({5})
Aber wie auch schon früher: Das wird Ihnen nicht gelingen.
Ich versuche, mich auf den Krankenhausbereich zu konzentrieren, weil wir ja noch zu anderen Sachbereichen Redner haben. Wir sind uns darin einig: Das Kostendeckungsprinzip ist ein Prinzip, das nicht dazu anhält, Kosten zu senken, sich wirtschaftlich zu verhalten und möglicherweise über Gewinne Anreize zu haben, die uns nach vorne bringen. Da sind wir uns also einig.
Wir sind uns möglicherweise auch darin einig, daß wir nichts tun dürfen, was den langfristigen Weg im Hinblick auf ein monistisches Finanzierungssystem, nämlich Finanzierung aus einer Hand zu erreichen, erschweren kann. Da spielen die Länder natürlich eine große Rolle. Aber erste Schritte, wie wir aus den Verhandlungen unserer Koalitionsgruppe wissen, können dort möglich sein. Sie haben die Einzelheiten noch nicht gelesen.
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Sie haben vorhin gesagt, Sie hätten das Papier fünfmal gelesen und hätten nichts gefunden; beim sechstenmal würde das auch nichts helfen. Wir haben mit unseren Vorstellungen dafür gesorgt, daß Sie sich möglicherweise eine bessere Brille kaufen können, und zwar auf Krankenkassenkosten, damit Sie beim siebtenmal vielleicht etwas finden.
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Ich gehe einen Schritt weiter. Jetzt kommen wir zu der Begrenzung des Budgets, von dem wir geschrieben haben, und dazu, die Steigerung in den nächsten drei Jahren nur im Rahmen der Entwicklung der Grundlohnsumme zu ermöglichen. Da sprechen Sie von Planung. In diesem Rahmen geben wir den Häusern erstmalig die Chance, sich zu bewegen, umzuschichten, ihr Verhalten zu ändern, Gewinne zu machen und - das ist der entscheidende Punkt, der in der Kurzfassung noch nicht steht - Gewinne zu behalten und nicht beim nächsten Mal abkassiert zu bekommen.
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- Es kann sein, daß Sie das schon vor x Jahren gefordert haben; aber es ist bisher nicht geschehen. Wir machen es jetzt. Freuen Sie sich doch mit uns, daß es nun geschieht!
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- Sie können ruhig schreien.
Wir gehen weiter. Wir machen ein zweischieniges System. Das erste grenzt jetzt zunächst einmal ab und gibt Möglichkeiten der Beweglichkeit. Das zweite schafft neue Strukturen auf längere Sicht, die ab 1995 bzw. 1996 wirksam werden. Das gilt z. B. für die vorhin genannten leistungsgerechten Entgeltsysteme. Dabei spielen die Fallpauschalen, die wir einführen werden, eine sehr große Rolle. Fallpauschalen sind Preise, in deren Rahmen sich der Anbieter bewegen kann. Sie werden erleben, daß eine große Zahl von Krankenhäusern, wenn sie einen Festpreis für eine bestimmte chirurgische oder medizinische Leistung bekommen, sehr schnell dazu kommen, ihre Patienten früher aus dem Krankenhaus nach Hause oder in eine weiterbehandelnde Einrichtung zu entlassen, und auf diese Weise erhebliche Kosten sparen.
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Der bisherige tagesgleiche Pflegesatz verleitete - das ist doch unbestritten - dazu, den Menschen länger im Krankenhaus zu halten, weil jeder Tag mehr 350 DM mehr brachte. Das ist doch unbestritten.
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Wir haben jetzt ein System, das ja nicht von uns erfunden, sondern schon längere Zeit diskutiert worden ist, und setzen es in die Tat um.
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- Es ist aber bisher nicht eingeführt. Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, es einzuführen.
Ein Weiteres noch. - Ich sehe hier das rote Licht leuchten; deswegen nur noch ein letzter Satz.
Es ist erst das gelbe Licht.
Aber der letzte Satz könnte bei mir lang werden, weil der Herr Dreßler so oft dazwischenredet.
Der letzte Satz: Wir schaffen die Möglichkeit, erstmalig auch in kommunal geführten Häusern, in gemeinwirtschaftlich und in privatwirtschaftlich geführten zur Behebung des bisherigen Kapitalmangels, der durch die Länder verwaltet wurde, privates Kapital einzusetzen, um auf diesem Weg schneller zu Investitionen, früher zu Rationalisierungen und eher zu günstigen Preisen zu kommen. Das ist das Ziel dieser Reform.
Schönen Dank.
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Ich mache nur eine ganz kurze geschäftsleitende Zwischenbemerkung. Ich bin ja sehr dafür, daß mit Zwischenrufen und Erläuterungen die Debatte ein bißchen lebendig gemacht wird. Nur, ich habe den Verdacht, daß ein Kollege - ich will jetzt gar keinen Namen nennen -, der heute schon gesprochen hat, wenn alle seine Zwischenrufe im Protokoll gelandet sind, zusammengezählt vermutlich mehr Zwischenrufzeit im Protokoll hat, als seine Rede ausgemacht hat. Also, wir sollten es ein bißchen im Lot halten.
Als nächste hat die Kollegin Regina Schmidt-Zadel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beitragsstabilität ist das Gebot der Stunde. Mit diesen Worten stellten Sie, Herr Minister Seehofer, gestern Ihre Pläne vor, mit denen Sie - so Ihre Worte - die Kosten im Gesundheitswesen endlich in den Griff bekommen wollen. Es sind Worte, die, wie ich finde, sehr deutlich werden lassen, was eigentlich im Mittelpunkt der Gesundheitspolitik dieser Bundesregierung steht, nämlich nicht die Kranken, für die das Gesundheitswesen ja eigentlich da ist, und auch nicht die Bürgerinnen und Bürger, die mit ihrem mühsam verdienten Geld dieses Gesundheitswesen mitfinanzieren, und nicht die Versicherten, denen von Reform zu Reform ein immer geringer werdender Leistungsumfang zugemutet wird, und auch nicht die Rosinen, die Sie, Herr Minister, eben in Ihrem Paket hier herausgepickt haben. Nein, ein nackter, kalter Begriff wird zur Kernthese einer Gesundheitspolitik erhoben, die sich um die Auswirkungen auf die Menschen anscheinend überhaupt nicht mehr kümmert.
Herr Minister, ich möchte Ihnen entgegenhalten: Nicht nur die Beitragsstabilität ist das Gebot der Stunde, sondern auch die Ausgabenstabilität für Millionen von krankenversicherten Bürgerinnen und Bürgern sollte das Gebot der Stunde sein.
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Meine Damen und Herren, der größte Teil der Versicherten hat wenig davon, wenn die Beiträge - was im übrigen ja gar nicht sicher ist - nicht weiter steigen, wenn sie aber daneben Hunderte von Mark an Selbstbeteiligung berappen müssen. Es ist doch schlichte Augenwischerei, wenn Sie den Bürgern vorgaukeln, Sie würden mit dem vorgelegten Paket die Ausgaben für die Gesundheit begrenzen. Die Wahrheit wird jeder, meine Damen und Herren, bald am eigenen Geldbeutel spüren.
Sie werden einwenden, daß wegen der Härtefallregelung und der Überforderungsklausel auch nach den neuen Plänen niemand mehr zuzahlen muß als nach den alten Regelungen. Das ist wahr. 2 % des Bruttolohns sind nach wie vor die Obergrenze für die jährliche Eigenleistung. Allerdings wird durch die massive Ausweitung der Selbstbeteiligung - 11 DM für jeden Krankenhaustag, 10 % bei allen Medikamenten, mindestens aber 3 DM, Zahnersatz nur als Grundversorgung - die Obergrenze künftig sehr viel schneller erreicht. Eine Eigenleistung von 2 % des Jahreseinkommens wird für viele Menschen die Regel sein. Vor allem chronisch Kranke, Alte, Behinderte und psychisch Kranke sind davon in besonderem Maße betroffen.
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- Ich habe auf die Härtefallregelung hingewiesen, Herr Kollege. Hätten Sie zugehört.
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Wie sich das im einzelnen auswirkt, kann ich Ihnen an Hand eines Beispiels vorrechnen. Bei einem Bruttojahreseinkommen von 30 000 DM und einem durchschnittlichen Beitragssatz zur Krankenversicherung von 12,5 % ist ein jährlicher Beitrag von 1 875 DM fällig. Die Eigenleistung bei Ausschöpfung der Überforderungsgrenze beträgt zusätzlich 600 DM. Das macht zusammen 2 475 DM an Gesundheitskosten im Jahr.
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Dieser Bürger zahlt also genausoviel, als betrüge der Beitragssatz der Krankenkasse schon jetzt 14,5 %. Ich frage Sie, Herr Minister, meine Damen und Herren: Wo ist das sozial ausgewogen, was Sie hier vorgestellt haben?
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Meine Damen und Herren, das Wort Stabilität ist in diesem Zusammenhang blanke Schönrederei. Die Seehofer-Reform ist nichts anderes als ein weiterer Verschiebebahnhof für die Gesundheitskosten,
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wobei es wieder einmal die Patienten sind, auf deren Gleis die schwersten Waggons geschoben und gerollt werden.
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Die Leistungserbringer, vor allem Ärzte und Pharmaindustrie, werden in diesem Vergleich geradezu geschont.
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Im Gegensatz zu dem Kranken mit seinen bescheidenen 30 000 DM Jahreseinkommen kratzt die Pharmaindustrie mit Milliardenumsätzen, den höchsten in der Geschichte, ein zweijähriger Preisstopp relativ wenig.
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Herr Seehofer, Herr Minister, Sie werden viel Mühe haben, den Bürgerinnen und Bürgern zu erläutern, welche Vorteile die Versicherten von dieser angeblichen Beitragsstabilität haben werden. In Mark und Pfennig wird es sich jedenfalls für die Betroffenen nicht auswirken.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Jagoda.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das ist die dritte Aktuelle Stunde zu diesem Thema. Damit haben wir keinen Pfennig in der gesetzlichen Krankenversicherung gespart. Heute bringt auch noch die PDS
diese Aktuelle Stunde ein. Ich will mich mit drei Punkten befassen.
Verehrte Frau Kollegin, Sie haben nicht ganz begriffen, was Beitragsstabilität für den Arbeitnehmer bedeutet. Wenn wir Beitragsstabilität haben, braucht er nicht mehr von seinem Bruttolohn zu bezahlen als in der Vergangenheit. Das ist ein Wert für sich.
Dann haben Sie das „bewährte Gesundheitssystem" der DDR hier angesprochen. Wissen Sie, was sich bewährt hat? Sie haben hervorragende Ärztinnen und Ärzte gehabt, haben hervorragendes Pflegepersonal gehabt, die in der schlechten Situation noch das allerbeste für die Patienten gemacht haben.
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Ihr System hat überhaupt nichts getaugt. Gewinne kannten Sie im Sozialismus nicht.
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Sie haben das alles aus der Staatskasse genommen. Aber Sie haben auch eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gehabt. Nehmen wir einmal die Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherung der DDR aus dem Jahre 1960. Damals sind 16,1 der Kosten aus der Staatskasse genommen worden. Der Rest kam aus Versicherungsbeiträgen. Im Jahre 1987 - das ist die letzte Zahl, die mir zur Verfügung steht - lag der Griff in die Staatskasse bei 46,7 %. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist mehr als eine Verdoppelung der Prozentzahl. Also kommen Sie bitte nicht so daher.
Ich will einen dritten Punkt ansprechen. Sie haben gesagt, der Individualverkehr und die Luftverschmutzung töteten die Menschen. Haben Sie denn vergessen, was Ihre Politik in den 40 Jahren den Menschen durch Umweltbelastung gebracht hat?
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Wo nehmen Sie denn den Mut her, daß Sie sich damit im Deutschen Bundestag hinstellen und glauben, daß wir uns ein X für ein U vormachen lassen? Nein, meine Damen und Herren; mit uns nicht.
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Nun komme ich zur SPD, und zwar zunächst zum Kollegen Kirschner, der eine Bilanz aufgemacht hat. Herr Kollege Kirschner, ich sage Ihnen: Sie haben vergessen, daß in den Jahren 1989 und 1990 in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Überschuß von 16,5 Millionen DM erwirtschaftet und in Beitragssenkungen an die Versicherten heruntergegeben worden ist.
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- Herr Dreßler, Sie können zurufen, was Sie wollen. Sie sind schuld an der Beitragssatzsteigerung von 8 auf 12 % in Ihrer Regierungszeit.
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Wo war denn Ihre Kraftanstrengung? Sie hatten doch
damals die Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat.
Sie sind der größte Abkassierer. Sie nehmen sich ein Beispiel an Lafontaine im Saarland.
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Dem haben Sie vorgemacht, wie er es machen soll. Von da aus hatten wir Beitragssatzsenkungen.
Noch etwas. Herr Kollege Kirschner, Sie kennen das Gesetz nicht. Das bedaure ich. Sie werfen der Bundesregierung vor, sie habe bei der Krankenversichertenkarte keine Ersatzvornahme gemacht. Zeigen Sie mir doch bitte, wo die Gesetzesgrundlage dafür ist!
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Wo ist denn diese Gesetzesgrundlage? Sie haben doch die Mehrheit im Bundesrat. Sie hätten das doch ändern können.
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Von da aus zum nächsten Punkt, den Sie uns vorwerfen: Richtgrößen. Sie waren doch damit einverstanden, daß das auf Landesebene festgesetzt werden soll. Der VdAK als Ersatzkassen hat das bundesweit gemacht.
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Die Länder haben es auf diesem Gebiet nicht getan. Wie kommen Sie mir denn vor, wenn Sie hier seriös auftreten wollen, aber noch nicht einmal das Gesetz kennen! Gesetzeskenntnis ist doch die Mindestvoraussetzung, die ich von Ihnen verlangen muß.
({10})
Nun zum Herrn Kollegen Dreßler. Herr Kollege, die dpa hat mir gestern eigentlich schon das gesagt, was Sie heute hier sagen wollten.
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Herr Dreßler, ich lese Ihnen vor:
Dagegen waren die Pläne bei der SPD, der Deutschen Angestelltengewerkschaft, dem Hartmannbund, der Arbeiterwohlfahrt ... schon auf erbitterten Widerstand gestoßen, bevor Einzelheiten bekanntgeworden sind.
({12})
Welche Ernsthaftigkeit! Ich möchte doch gern mit Ihnen diskutieren; aber ernsthaft. Lesen Sie das doch erst einmal und bewerten Sie es! Lassen Sie uns dann darüber streiten.
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Aber Sie sind schon dagegen, bevor Sie es gesehen haben, meine Damen und Herren! Dazu fällt mir ein, daß Mark Twain einmal gesagt hat: Nur der kann verdrehen, der die Wirklichkeit kennt. Und Sie kenBernhard Jagoda
nen die Wirklichkeit. Sie sind ein hochintelligenter Bursche.
({14})
Sie wissen ganz genau Bescheid. Hier stellen Sie sich her und verdrehen die Tatsachen, damit Sie ihr Nachtgebet wieder einigermaßen aufsagen können.
({15})
Eines will ich zum Schluß sagen, Herr Kollege Dreßler, und dafür bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit. Ich muß Ihnen sagen: Eines hat mich sehr getroffen. Sie haben dem Bundesgesundheitsminister den Gruß an den Bundeskanzler mitgegeben und gesagt: Mit der SPD hier nicht; auch im Bundesrat nicht!
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Sie sind ja Jahrhunderte zurückgefallen. Das ist ja die Sprache des Sonnenkönigs von Frankreich: L'etat c'est moi - Der Staat bin ich; ich, Dreßler, entscheide in Deutschland, was Sache ist.
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Wo sind wir denn eigentlich? Ich denke, Sie sind ein Demokrat.
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Werden Sie doch dieser Rolle einmal gerecht! Prüfen Sie uns! Streiten Sie mit uns über die Einzelheiten!
Herr Kollege Jagoda!
Aber verteufeln Sie es nicht, bevor Sie es gelesen haben! Das ist immer sehr gefährlich.
({0})
Herr Kollege Hoffacker, noch einen Moment. Ich muß erst die vermeintliche Ehrverletzung des Kollegen Dreßler zurechtrücken. Herr Kollege Dreßler, das Wort „Bursche" stammt von dem Wort ,,bursa", wo im Mittelalter die Studenten untergebracht waren. Daraus entwickelte sich der „Bursch", was später eine Bezeichnung für Studenten, dann für junge Männer, aber schließlich auch für die Bedienten von Offizieren war.
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Eine Beleidigung war es zu keinem Zeitpunkt.
Das Wort hat der Kollege Paul Hoffacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Schluß der Debatte stellt sich die Frage: Was hat diese Debatte erbracht?
Erstens. Sie hat erbracht, daß wir nicht bereit sind, das Krankensystem der SED hier einzuführen, was uns die Nachfolgeorganisation PDS offenbar empfiehlt.
({0})
Zweitens. Die Debatte hat erbracht, daß sich die SPD in der Vergangenheit bewegt und daß sie hier deutlich gemacht hat, daß ihre Zukunft in der Vergangenheit liegt. Dies müssen wir hier feststellen.
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Sie hat unsere Vorschläge offenbar gar nicht gelesen, sonst hätte hier soviel Stuß und Unfug von der Opposition nicht vorgetragen werden können.
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Ich beantrage deshalb eine Lesehilfe auf Kosten der Krankenkasse zu den jetzt geltenden Bedingungen des Rechtes.
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Meine Damen und Herren, die Debatte hat ergeben, daß Herr Dreßler, der in der Öffentlichkeit angekündigt hat, daß er gegen die Koalition erbitterten Widerstand leistet, sich selbst den Krieg erklärt hat. Denn er hat in der Öffentlichkeit wiederholt vorgetragen, er sei für eine leistungsorientierte Vergütung im Krankenhaus - Originalton des Papiers. Er ist gegen das schreckliche Selbstkostendeckungsprinzip. Das will er weg haben. Er ist für mehr Transparenz. Ich stelle hier fest: Allem, was wir gemeinsam in öffentlichen Diskussionen hier vorgestellt haben, erklärt er jetzt den erbitterten Widerstand. Wir nehmen dies gerne zur Kenntnis.
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Ein Weiteres hat diese Debatte erbracht, Herr Dreßler leistet erbitterten Widerstand, und zwar gegen die Versicherten; denn er kann rechnen. Er hat hier zwar vorgeführt, daß er mit den Zahlen nicht umgehen kann; aber rechnen muß er eigentlich können. Denn er weiß: Wenn wir nichts machen, dann zahlen die Beitragszahler in Zukunft mehr, als die Zuzahlungen ausmachen, die wir vorgeschlagen haben - bescheidener Rahmen, wie das heißt. 70:30 ist ein gutes, ausgewogenes Verhältnis. Er leistet also erbitterten Widerstand gegen die Versicherten.
Er leistet auch erbitterten Widerstand gegen die Rentner; denn er will offenbar, daß die Rentenerhöhungen in Zukunft gekürzt werden. Deshalb will er den Beitrag weiter in die Höhe schießen lassen.
Er leistet - drittens - erbitterten Widerstand gegen die AOK und die Betriebskrankenkassen, die das Sparprogramm der Koalition begrüßt haben. Das müßt ihr euch einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ein herrliches Gefühl!
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Meine Damen und Herren, wir werden mit diesem erbitterten Widerstand von Herrn Dreßler bestimmt fertig werden. Ich meine ihn jetzt, ganz seriös, einladen zu sollen. Da die Opposition nichts Neues gebracht hat, kann sie bei uns viel lernen. Die Gespräche, die wir anbieten, sind ernst gemeint. Die Drohung - das hat, glaube ich, Klaus Kirschner gesagt -, dieses Gesetz würde im Bundesrat gekippt, klingt, ich
möchte fast sagen: leicht masochistisch. Aber gut, lassen wir das einmal!
Die Drohgebärden überzeugen nicht; denn kein Sprecher der Opposition hat hier gesagt, er sei gegen die zusätzliche Schaffung von Krankenschwesterstellen und Pflegerstellen. So unsozial kann gar keiner sein, daß er dieses Gesetz kippen will. Unmöglicher Zustand!
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Das kann überhaupt nicht sein; denn diese Partei nennt sich doch „sozial"-demokratisch. Sie will doch unbedingt an der Basis, an der Grasnarbe helfen, und das ist doch im Krankenhaus. Er verbaut mit dem Kippen doch alles. Ich muß an eine alte Kippkarre vom Niederrhein denken: große Räder, 1,80 m hoch. Da war der Kippeffekt besonders gut.
Ich will sagen: Er will also kippen, daß die Kassen die Investitionskosten in Zukunft mit übernehmen, obwohl wir den Menschen in den neuen Bundesländern, die lange genug unter dem schrecklichen SED-System gelitten haben, mehr zukommen lassen wollen. Das will die SPD kippen.
Meine Damen und Herren, wenn sie das will, soll sie das tun. Wir werden jedenfalls versuchen, das Angebot zum Gespräch umzusetzen.
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- Nehmen Sie sich bloß zusammen, mein lieber Freund.
Herr Dreßler, er hat „lieber Freund" gesagt.
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Ich möchte nicht, Herr Präsident, daß ich dies zurücknehmen muß.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß feststellen: Das Angebot, daß die SPD bei uns etwas lernt, und zwar franko, kostenfrei - wir nehmen keine Honorare; das vielleicht im Gegensatz zu Ihnen, möchte ich sagen -, meinen wir ernst. Deshalb wünsche ich mir gute Beratungen für diesen Gesetzentwurf, nämlich den Strukturentwurf 1993 für das Gesundheitswesen.
Vielen Dank.
({0})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Meine Damen und Herren, zunächst habe ich einige amtliche Mitteilungen zu machen.
Die Abgeordnete Jutta Braband hat am 2. Mai 1992 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolgerin hat die Abgeordnete Ingeborg Philipp am 21. Mai 1992 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Der Abgeordnete Heinz Hübner hat am 12. Mai 1992 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Dr. Christoph Schnittler am 22. Mai 1992 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Der Abgeordnete Herbert Helmrich hat am 21. Mai 1992 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Sein Nachfolger, Abgeordneter Jürgen Sikora, hat am 22. Mai 1992 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Der Abgeordnete Dr. Ottfried Hennig hat am 31. Mai 1992 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Werner Ringkamp am 1. Juni 1992 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Ich begrüße die neue Kollegin und die neuen Kollegen sehr herzlich und hoffe auf gute Zusammenarbeit.
Sodann, meine Damen und Herren, sind einige Neuwahlen zu Gremien erforderlich
Aus dem Gemeinsamen Ausschuß nach Art. 53 a des Grundgesetzes scheiden die Kollegen Bernd Wilz und Dr. Paul Laufs als ordentliche Mitglieder aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als neue ordentliche Mitglieder die Abgeordneten Dr. Franz Möller und Otto Hauser vor.
Sind Sie damit einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Damit sind die Kollegen Dr. Franz Möller und Otto Hauser als ordentliche Mitglieder im Gemeinsamen Ausschuß bestimmt.
Aus dem Gremium gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ist der frühere Kollege Herbert Helmrich ausgeschieden. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Abgeordneten Horst Eylmann vor.
Sind Sie auch damit einverstanden? - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Damit ist der Kollege Horst Eylmann als Mitglied im Gremium gemäß § 9 Abs. 1 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses bestimmt.
Aus dem Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt scheidet der Kollege Bernd Wilz als ordentliches Mitglied aus. Als Nachfolger schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Abgeordneten Dr. Peter Paziorek
VOL
Besteht damit Einverständnis? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist der Kollege Dr. Peter Paziorek als ordentliches Mitglied in den Kontrollausschuß beim Bundesausgleichsamt gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um folgende Zusatzpunkte zu erweitern:
2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Kuba - Drucksache 12/2683 -Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Winfried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehom, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Die Schöpfung bewahren, privates Engagement fördern, die Umsetzung von Umweltmaßnahmen in Entwicklungsländern beschleunigen - Drucksache 12/2715 -Beratung des Antrags der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Winfried Pinger, Klaus Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehom, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Entwicklungspolitische Maßnahmen zur Minderung der Asyl- und Flüchtlingsprobleme - Drucksache 12/2726 -
Vizepräsident Hans Klein
Sind Sie mit den Ergänzungen der Tagesordnung einverstanden? - Auch dagegen sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 sowie die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
5. Entwicklungspolitische Debatte
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Karl-Heinz Hornhues, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative in der „Dritten Welt"
- Drucksache 12/1356 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({0})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Christoph Matschie, Verena Wohlleben, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bekämpfung von Fluchtursachen
- Drucksache 12/1824 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({1})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uwe Holtz, Günter Verheugen, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kuba
- Drucksache 12/1855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Rudolf Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umfassende Hilfe beim Aufbau eines unabhängigen Namibia
- Drucksache 12/2303 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({3})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
e) Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß ({4}) und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE
Erzbergbau am Ok Tedi in Papua-Neuguinea
- Drucksache 12/2462 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer, Dr. Hans Modrow und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Erlassung der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR
- Drucksachen 12/427, 12/2287 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Barbara Höll Dr. Jürgen Warnke
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Fischer und der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Kuba
- Drucksache 12/2683 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({6})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Winfried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Die Schöpfung bewahren, privates Engagement fördern, die Umsetzung von Umweltmaßnahmen in Entwicklungsländern beschleunigen
- Drucksache 12/2715 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Winfried Pinger, Klaus Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Entwicklungspolitische Maßnahmen zur Minderung der Asyl- und Flüchtlingsprobleme
- Drucksache 12/2726 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({7})
Innenausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Klaus-Jürgen Hedrich das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen richten sich die Hoffnungen vieler Menschen auf die Umweltkonferenz in Brasilien. Ist Rio für uns
eine Chance, oder wird ein neuer Kalter Krieg zwischen Nord und Süd, Arm und Reich unvermeidbar? Rio ist insofern ein Erfolg, als dieser Gipfel überhaupt stattfindet. Aber es ist auch die Frage erlaubt, ob Massenkonferenzen die Probleme der Massen wirklich einer Lösung zuführen können.
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Wahrscheinlich ist ebenso der Streit darüber müßig, welche Bedeutung die Bevölkerungsentwicklung für die Umweltzerstörung hat. Klaus Töpfer scheint diesen Aspekt ein wenig zu unterschätzen. Sicher ist auf jeden Fall, daß die Vernichtung von Wäldern weniger auf die Rücksichtslosigkeit kapitalistischer Holzfäller als auf die Verzweiflung landsuchender und hungernder Menschen zurückzuführen ist. Der Name der Konferenz ist nicht ohne Grund „Umwelt und Entwicklung".
Umweltschäden, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind zu einem großen Teil Armutsschäden. Deshalb ist die Bekämpfung der Armutsursachen das Gebot der Stunde.
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Natürlich müssen die Industrieländer ihre Hausaufgaben machen. Wenn der Norden der eigentliche Ressourcenfresser und Umweltsünder ist, dann ist Umkehr erforderlich, Umkehr im echt biblischen Sinne des Wortes, nämlich die Bereitschaft zu einem Neuanfang. Da eine auch nur annähernde Angleichung der Lebensverhältnisse der sogenannten unterentwickelten Völker an die unsrigen zum Kollaps auf unserem Planeten führen würde, ist ein ständig steigender Verbrauch unserer natürlichen Lebensgrundlagen unakzeptabel.
Das hat Auswirkungen auf den Lebensstandard. Das müssen wir unserer Bevölkerung sagen. Ich glaube, daß ein Teil der Protesthaltung unserer Bürger aus Zukunftsangst und Unsicherheit über kommende Belastungen zu erklären ist. Wir müssen den Bürgern jedoch verdeutlichen, daß es nicht möglich ist, die uns weltweit bedrängenden Probleme sorgsam abgewogen, nach und nach zu lösen, so wie bei einer Hausrenovierung Zimmer auf Zimmer nacheinander tapeziert wird. Nein, die deutsche Einheit, der Wiederaufbau Osteuropas und die verstärkte Nord-SüdKooperation sind Aufgaben, die gleichwertige und gleichzeitige Anstrengungen erfordern.
Andererseits ist die internationale Zusammenarbeit keine Einbahnstraße. Wir fordern deshalb mit allem Nachdruck auch die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer ein. Dies betrifft insbesondere die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf unseren Entschließungsantrag „Entfaltung der privaten unternehmerischen Initiative in der Dritten Welt".
Auf den hohen Stellenwert unternehmerischer Tätigkeit und der Privatwirtschaft für den eigendynamischen Entwicklungsprozeß ist oft genug verwiesen worden. Ich brauche das hier nicht zu wiederholen.
Eine fundamentale Erfahrung in der Entwicklungshilfepolitik ist allerdings die Erkenntnis, daß jede Maßnahme, jedes Projekt ohne die Beteiligung der betroffenen Bevölkerung zum Scheitern verurteilt ist.
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Um die Massenarmut zu überwinden, bedarf es vor allem der Entfaltung von Selbsthilfeinitiativen, wobei stärker als bisher die Frauen als die eigentlichen Entwicklungsträger gewonnen werden müssen.
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Ich füge hinzu: Männer verhalten sich oft wie Machos und zeigen zugleich drohnenhafte Züge. Die alleinerziehende Mutter in den Ballungsräumen Afrikas und Lateinamerikas ist die Regel, nicht die Ausnahme.
Der informelle Sektor erfüllt in vielen Entwicklungsländern wichtige volkswirtschaftliche Aufgaben. Zu ihm gehören diejenigen Produzenten und Händler, die legale Ziele verfolgen, ohne vom Staat juristisch und fiskalisch erfaßt zu werden. Unser Antrag verweist zu Recht darauf, daß der informelle Sektor nicht nur den Charakter von Schattenwirtschaft aufweist, sondern vor allem seine Funktion als Überlebenswirtschaft erkennen läßt.
In den letzten Wochen, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir uns intensiv mit der Diskussion um die Verbesserung unserer entwicklungspolitischen Instrumentarien beschäftigt und haben diese Diskussion begonnen. Dies beinhaltet die Frage der Vorfeldorganisationen wie GTZ, KFW, DEG, ihre bessere Außenvertretung und eine stärkere Einbindung von Trägern in den Entwicklungsländern,
Entscheidender dürfte allerdings das mittelfristige Verhältnis zwischen nationaler und europäischer Entwicklungspolitik sein. Es sollte der Versuchung widerstanden werden, die Entwicklungspolitik als ein Feld zu benutzen, auf dem problemlos europäischer Konsens demonstriert werden kann, während auf anderen relevanten Feldern hart verhandelt wird. Gerade auch auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik müssen wir für die Akzeptanz der Europäischen Union werben. Wer glaubt, ohne die innere Bereitschaft der europäischen Völker das gewünschte Ziel erreichen zu können, ist hoffentlich durch das Ergebnis der Volksabstimmung in Dänemark in seiner Überheblichkeit erschüttert worden. Das emotionale und rationale Befinden und die Befindlichkeit der Deutschen und in Deutschland unterscheiden sich in dieser Frage nicht wesentlich von denen in unserem Nachbarland. Ich füge mit großem Nachdruck hinzu: Eigentlich eignet sich der Bereich der Entwicklungshilfe zur Integration nicht - eine These, die in dieser Absolutheit unrichtig ist und deshalb der Differenzierung bedarf.
Natürlich muß die EG die Federführung für die Lomé-Verhandlungen behalten, die vor allem unser Verhältnis zu den sogenannten AKP-Staaten regeln. Ähnliches gilt für die Vereinbarungen mit den ASEAN-Ländern und den Mittelmeeranrainern. Eine wirklich echte Eigenständigkeit auf der europäischen Ebene ist jedoch nicht entstanden.
Dort, wo es um klassische entwicklungspolitische Zusammenarbeit geht, also im Bereich der FZ und TZ,
konkurriert die EG im wahrsten Sinne des Wortes bei ihren Projekten mit denen bilateraler Natur.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Wie im nationalen Bereich gibt es bei der EG gute und schlechte Projekte, aber sie haben keinen entscheidend andersartigen Charakter; das heißt, das Prinzip der Subsidiarität entfällt völlig, ja, es wird sogar konterkariert. Die Abwicklung personeller Hilfe bedarf der multilateralen Ebene nicht. Nur dies aber würde ihre Übertragung auf Brüssel rechtfertigen.
Aber wir sind doppelt inkonsequent. Dort, wo eine EG-Zuständigkeit sinnvoll wäre, belassen wir es bei einem Mixtum; Beispiel: Nahrungsmittelhilfe. Zeichnet sich irgendwo in der Welt eine Hungersnot ab, dann ziehen die Agenten des Mitleids von einer europäischen Hauptstadt zur anderen und suchen sich mühsam die Millionen zusammen. Natürlich tauchen sie auch in Brüssel auf. Viel zweckmäßiger wäre es, die Katastrophenhilfe an einer Stelle zu konzentrieren, um sie kurzfristig und besonders schlagkräftig einsetzen zu können.
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Wir fordern deshalb, daß europäische Entwicklungspolitik vor allem koordinierte bilaterale Entwicklungspolitik der europäischen Mitgliedstaaten ist.
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Eine weitere Mittelaufstockung für gemeinschaftliche Entwicklungshilfe ist erst wieder möglich, wenn diese definiert ist einschließlich der Aufgabenteilung zwischen EG und den Institutionen der nationalen Ebene.
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Wir begrüßen, daß die Maastrichter Verträge die entwicklungspolitische Zusammenarbeit der EG auf die Fortentwicklung und Festigung der Demokratie und des Rechtsstaates sowie die Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ausrichten. Wir haben manchmal den Eindruck, daß die EG in ihren Verhandlungen mit den Eliten vor Ort nicht ganz so konsequent ist, wie das bei bilateralen Gebern der Fall ist,
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obwohl wir manchmal auch sehr zurückhaltend sein sollten.
Weiter: Die EG ist die wichtigste Welthandelsmacht. Ihre Handelspolitik entscheidet maßgeblich über die gewünschten Exporterfolge der Entwicklungspolitik. Es ist unsinnig, uns im Ausschuß oder im Parlament darüber zu streiten, wieviel Mittel wir aufstocken, wenn nicht gleichzeitig der Abbau des EG-Protektionismus und des EG-Dumpings erfolgt.
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Die EG muß ihre Entwicklungspolitik weltweit öffnen. Die bisherige Konzentration auf die früheren Kolonien einiger Mitgliedstaaten muß aufgegeben werden zugunsten einer Konzeption, die sich nach den Problemen der Dritten Welt insgesamt richtet.
Der Europäische Entwicklungsfonds sollte möglichst bald in den europäischen Haushalt eingestellt werden.
Völlig inakzeptabel ist die Aufgabenteilung in der EG-Kommission selbst. Wenn zwei unterschiedliche Generaldirektionen unterschiedliche Auffassungen zu bestimmten Fragen der Entwicklungspolitik entwickeln, kann man nie von einer einheitlichen europäischen Entwicklungspolitik sprechen.
In diesem Zusammenhang erheben wir die nachhaltige Forderung, daß der Anteil unserer Verpflichtungen für internationale Institutionen am Gesamthaushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht weiter steigt, sondern im Laufe der nächsten Zeit sogar schrittweise zurückgeführt wird.
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Da der Minister, unser gemeinsamer Freund Carl-Dieter Spranger, nach der ersten Runde antworten wird, sage ich hier schon vorweg - vielleicht ist er bereit, dazu etwas zu sagen -: Es ist völlig unakzeptabel, daß die Bundesregierung ständig neue internationale Verpflichtungen eingeht bzw. entsprechende Zusagen macht, ohne das Parlament vorher in angemessener Weise konsultiert zu haben.
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Manchmal hat man, wenn man die Diskussion um Maastricht verfolgt, den Eindruck, daß eine Landesregierung besser informiert ist als der Deutsche Bundestag, nicht in dieser Frage, sondern in anderen Fragen. Jedermann weiß, was gemeint ist. Das bilaterale Element muß nach unserer Auffassung auch zukünftig der Kern deutscher Entwicklungspolitik bleiben.
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Zum Schluß noch ein Hinweis: Parallel zu unserer Debatte diskutiert der Auswärtige Ausschuß über die Frage des Islam. Vielleicht wäre es gut, wenn deutlich würde, daß auch in dieser Frage der Zusammenhang von Außenpolitik und Entwicklungspolitik unverzichtbar ist. Religion und Entwicklung, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind zwei in sich verwobene Faktoren.
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Religion kann der Motor, aber auch der Hemmschuh von Fortschritt sein. Religion tritt als der Anwalt von Menschenrechten auf, aber sie liefert auch in ihrem Absolutheitsanspruch die Begründung für die Unterdrückung Andersdenkender.
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Die Ausbreitung fundamentalistischer Sekten in Lateinamerika zum Beispiel ist mit einer gewissen Skepsis zu betrachten, und die Spielart des Islam iranischer Prägung mit dem Ansprechen dumpfer menschlicher Instinkte gefährdet in ihrer Menschenverachtung inneren wie äußeren Frieden.
Unsere entwicklungspolitische Zusammenarbeit ist mir manchmal - aber das ist wahrscheinlich notwen7730
digerweise so - ein wenig zu technokratisch. Der Mensch stellt jedoch bei allen materiellen Nöten immer auch die Frage nach dem Sinn des Lebens. Es liegt daher an uns, ob die Menschen im Handeln des politischen Alltags etwas von ihren Sehnsüchten und Hoffnungen wiederfinden.
Ich bedanke mich.
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Frau Kollegin Brigitte Adler, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! „Die Schöpfung bewahren, privates Engagement fördern, die Umsetzung von Umweltmaßnahmen in Entwicklungsländern beschleunigen", damit haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sich hehre Ziele gesteckt, die wir im Grundsatz unterstützen können. Allerdings mangelt es in Ihren Anträgen am notwendigen Augenmaß, wenn es darum geht, im Sinne einer globalen Verantwortung, die jetzt ja auch, wie wir eben schon gehört haben, Gegenstand der Diskussion auf dem Umweltgipfel in Rio ist, die Problemzusammenhänge in der Gesamtheit zu erfassen; denn dabei dürfen wir unseren Verantwortungsbereich nicht ausklammern.
In Ihrem Antrag zur Förderung der privaten unternehmerischen Initiative beispielsweise überwiegt die Darstellung der internen Entwicklungshemmnisse. Zu Recht verweisen Sie darauf, daß Korruption, Patronage, fehlende Rechtssicherheit und ineffiziente Verwaltungsstrukturen privatwirtschaftliche Initiativen erschweren und deshalb abgeschafft werden müssen.
Aber wie steht es denn mit den externen Entwicklungshemmnissen? Ich nenne einige wie z. B. die Schuldensituation, die Welthandelspraktiken und den Protektionismus. Die Zusammenhänge liegen doch auf der Hand. Warum also vermeiden Sie eine klare Ursachenbenennung?
Solange die internationalen Rahmenbedingungen keinen Spielraum für privatwirtschaftliche Initiativen lassen, ist eine Besserung nicht in Sicht. Wie sollen denn unternehmerische Initiativen umgesetzt werden, wenn das für Investitionen in den Entwicklungsländern notwendige Kapital wieder in die Industrieländer zurückfließt? Solange diese fest zementierten Weltwirtschaftsstrukturen nicht reformiert werden, können die hier vorgelegten Konzepte nicht greifen.
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Bedauerlicherweise muß festgestellt werden, daß es auf internationaler Ebene nur wenig Bereitschaft zur Reformierung des Weltwirtschaftssystems gibt. Daran müssen wir arbeiten, z. B. in den GATT-Verhandlungen. Ein fairer Handel ist bis heute Illusion. Das bisher Erreichte ist bei genauem Hinsehen eine neue Verteilungspolitik der Reichen. Die Bananen-Story offenbart diese Scheinheiligkeit geradezu.
Es ist nicht verwunderlich, daß in Ihrem Maßnahmenbündel der Schwerpunkt auf finanzieller Unterstützung, Transfer von Umwelttechnologien usw. liegt, also auf dem Versuch, von außen kompensatorisch die Mißstände zu lösen, ungeachtet der Tatsache, daß die Entwicklungsländer weiterhin am Tropf hängen. Dies hat in der Vergangenheit nicht geholfen und wird es auch in der Zukunft nicht tun. Im Gegenteil, die Probleme sind noch größer geworden. Wir sollten den Glauben endlich aufgeben, mit Entwicklungshilfe die Folgeschäden unserer Weltwirtschaftsordnung reparieren zu können.
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Die Lösung kann deshalb nur eine kombinierte Vorgehensweise sein: Schaffung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung und Nutzung der entstehenden Freiräume für privatwirtschaftliche Initiativen.
Anfangen könnten wir direkt bei den Exportprodukten, die die Entwicklungsländer seit Jahren unter Preis an uns verkaufen. Ein fairer Preis für Rohstoffe würde schnell zu einem wirtschaftlichen Aufbau in den Entwicklungsländern beitragen.
In Ihrer Bewertung der internen Entwicklungshemmnisse weisen Sie in die richtige Richtung. Eine gute Balance zwischen privatwirtschaftlichem und öffentlichem Engagement sollte gesucht werden. Für die korrupten Eliten muß die Selbstbedienung unterbunden werden, ohne daß dabei vergessen wird, wer aus dem Norden mit dieser Elite seine Geschäfte macht.
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Der Demokratisierungsprozeß ist zu fördern. Es muß aber auch darauf geachtet werden, daß die Besitzenden und die Bildungseliten das Parlament nicht für ihre Ziele und die Aufrechterhaltung ihrer Privilegien mißbrauchen. Wenn nicht erreicht wird, daß alle gesellschaftlichen Gruppen an den Reformprozessen teilhaben, ist das Scheitern vorprogrammiert. Wir werden deshalb im Ausschuß die Gelegenheit wahrnehmen, Ihren Antrag dazu Punkt für Punkt zu erörtern.
In diesem Zusammenhang möchte ich die Ursachen der Armut in den Entwicklungsländern näher betrachten. Sie sind nach meiner Meinung u. a. darin begründet, daß die Verteilung der Böden so ist, daß viele nicht in der Lage sind, sich und ihre Familien zu ernähren. Was dies für das Selbstwertgefühl eines Menschen bedeutet, mag sich jeder selbst beantworten. Kinder als Arbeitskräfte und Garant sozialer Sicherung tragen zur Bevölkerungszunahme über die Maßen bei. Die Überweidung der Böden wiederum ist eine Folge der Bevölkerungszunahme. Die katastrophalen Folgen für die Natur kann man z. B. in der Sahelzone hautnah erleben.
Das Aufpfropfen von Landwirtschaftstechnologien der gemäßigten Breiten auf die der heißen Zonen hatte zur Folge, daß der natürliche Kreislauf vielerorts unterbrochen wurde. Pestizideinsatz und Überdüngung haben vordergründig erst einmal die Not gelindert. Mittel- und langfristig aber dominieren die zerstörerischen Effekte. Falsches Saatgut und dafür notwendig gewordene Bewässerungssysteme haben
mehr Unheil angerichtet als die traditionellen Methoden der Länder.
Also zurück ins 17., 18. oder 19. Jahrhundert? - Nein! Aber ortsangepaßte Wirtschaftsweisen, die traditionelle Nachhaltigkeit mit der modernen Ertragslandwirtschaft verbinden, sind notwendig. Ebenso nötig sind Landreformen, die es den Landlosen ermöglichen, sich selbst zu ernähren. Damit könnte verhindert werden, daß weiterhin zwei Fluchtwege gegangen werden: erstens in die Städte und zweitens in den tropischen Regenwald. Regionale Zentren, die vor- und nachgelagerte Bereiche der Landwirtschaft aufnehmen, müßten gefördert werden. Privates Engagement und Verantwortung könnte auf diese Weise angeregt werden, und so könnten im Kleinen entstehende und organisch wachsende Wirtschaftsstrukturen etabliert werden.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen zu „ökologischen und sozialen Vergabekriterien in der multilateralen Entwicklungszusammenarbeit" zeigt sich, daß man auf die Formel „vertretbares Maß" ausweicht. Angesichts der Tatsache, daß das Maß unserer Fehler eigentlich schon übervoll ist, sollten wir uns im Detail darüber verständigen, was unter dieser Formulierung zu verstehen ist. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Grenzen?
Nehmen wir das Beispiel der Kupfer- und Goldmine Ok Tedi in Papua-Neuguinea. Prüfen Sie, ob dieses Projekt das „vertretbare Maß" noch einhält! Eine Delegation des Ausschusses konnte sich letztes Jahr ein eigenes Bild von der Situation vor Ort machen. Im Reisebericht der Gruppe wird darauf hingewiesen: „wenn sich die Umweltschäden als irreversibel erweisen, dann müsse die DEG sich aus der Kupfermine zurückziehen".
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Auch der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN begehrt dies. Wir sollten sorgfältig darüber beraten, ob die beiden Positionen nicht angenähert werden können und in eine gemeinsame Entschließung münden.
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Dieser Antrag zeigt aber auch exemplarisch, wie es mit dem Reden und dem Handeln steht. Es begegnet uns immer wieder, daß knallharte Wirtschaftsinteressen mit Wunschvorstellungen kollidieren.
Alles in allem enthalten die Anträge der Koalitionsfraktionen gute Elemente, denen man beipflichten kann. Sie müssen im Detail beraten und konkretisiert werden. Auf die kritischen Punkte habe ich aufmerksam gemacht. Die Weltanschauung, die dahinter steht, kann manchmal den Blick verstellen und damit die Weichen für eine ehrliche Entwicklungspolitik falsch stellen. Lassen Sie uns darüber reden, damit wir für diese geplagte Welt gute und vor allem ausgewogene Lösungen finden.
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Frau Kollegin Ingrid Walz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Fast hat es den Anschein, als hätte die Dritte Welt Konjunktur.
({0})
Nicht nur der neue Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit weckte unvermutetes Interesse für die Entwicklungspolitik; auch der neue Außenminister hat den drohenden Nord-Süd-Konflikt als herausragende Aufgabe seiner Politik erkannt.
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Selbst die hartschlägigen EG-Landwirtschaftsminister haben sich auf einen gemeinsamen Vorschlag für die Uruguay-Runde des GATT einigen können. Auch der mit so viel prophylaktischer und auch professioneller Skepsis betrachtete UN-Gipfel in Rio entwikkelte bereits im Vorfeld positive Kräfte des Umdenkens. Ich denke, das Wort- und Begriffspaar „Umwelt und Entwicklung" könnte trotz aller widrigen Erwartungen ein Synonym für Hoffnung werden.
Ist diese Hoffnung nun begründet, und kann sie angesichts brennender Wälder, Millionen hungernder Menschen, einer ungebremsten Bevölkerungsentwicklung und einer steigenden Zahl von Analphabeten erfüllt werden? Tatsache ist: Noch lösen diese Schreckensbilder in den Köpfen und Herzen unserer Bürger Angst, Abwehr, Resignation oder sogar das Gefühl von Feindseligkeit aus. Festungsmentalitäten werden wach. Doch wie kann angesichts solcher Angste die Verdrängung aufgebrochen werden und die Erkenntnis Raum greifen: Wenn wir überleben wollen, dann müssen alle den Teil ihrer Verantwortung sehen, den sie durch Verhaltensänderung aus Einsicht in globale Zusammenhänge und durch Aufgabe eigensüchtiger und gedankenloser Vorteilsnahme übernehmen können? Damit sind wir gemeint.
Von dieser Verantwortung ist zu reden. Denn eine solche Verantwortungsgemeinschaft beinhaltet mehr als 0,42 oder 0,7 % des Bruttosozialprodukts der Industrienationen. Dies wäre Ablaßpolitik. Verantwortungsgemeinschaft bedeutet aber auch im Süden nicht globale und undifferenzierte Schuldzuweisung, um von den eigenen Sünden abzulenken. Vielmehr müssen - wie wir es in Brasilien erlebt haben - die Armen, die Landlosen und die Frauen endlich als gleichberechtigte Bürger gesehen werden und darf der Wohlstand Weniger nicht auf ihre Kosten gemehrt werden. Dazu gehört in Lateinamerika, aber auch auf den Philippinen die Überwindung überholter feudaler Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen. Eine Landreform ist der entscheidende Schritt dazu.
Aber Verantwortungsgemeinschaft heißt nicht, neue scheinheilige und wenig erfolgreiche Entwicklungsmodelle mit schlichten Formeln des Teilens zu versehen. Neue Modelle müssen vom Beteiligten ausgehen und von den Beteiligten kommen, also von denen, die es zu entwickeln gilt oder die von einer Entwicklung profitieren sollen. Dies haben uns heute morgen im AWZ die Indio-Vertreter überdeutlich
gesagt. Aber dies setzt natürlich Bereitschaft bei uns voraus, wirklich partnerschaftsfähig zu werden, um die Verantwortung in dieser einen Welt nicht zum leeren Geschwätz verkommen zu lassen.
Was diese Welt braucht, ist wirtschaftliche und Umweltpartnerschaft. Der Weg dahin ist weit, weil zuerst Scheren in unseren Köpfen verschwinden müssen. Die Entwicklungspolitik - das wissen wir alle - hat in der Vergangenheit nicht nur geholfen, sondern auch geprägt und zerstört. Viele Modelle der Hilfe sind gescheitert, weil wir allzu lange die Selbsthilfekräfte unterschätzt haben. Wir haben damit Sozialhilfe praktiziert, Almosenempfänger gezüchtet und machtbesessene korrupte Regime im Sattel gehalten. In einigen Ländern gab es dann Hoffnung auf eine nachholende industrielle Entwicklung; doch in den meisten dieser Länder hat dieses Entwicklungsmodell unangepaßte Strukturen und Schuldenberge verursacht. Genauso irrig war die Vorstellung, mit Agrarexporten Devisen erwirtschaften zu können. Afrika leidet unter dieser unangepaßten Wirtschaftsentwicklung.
Meine Damen und Herren, der Ost-West-Konflikt ist beendet. Die Marktwirtschaft und die Demokratie haben sich offensichtlich durchgesetzt. Ob damit das Ende der Heilslehren gekommen ist, wird sich erst noch erweisen müssen. Nicht alles, was in demokratischem Gewande daherkommt, kleidet wirkliche Demokraten, und nicht alles, was sich Marktwirtschaft nennt, ist nach unserem Verständnis Soziale Marktwirtschaft.
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Der Weg der Entwicklungsländer in die Soziale Marktwirtschaft und in demokratische Strukturen ist genauso weit und genauso schwierig, wie es der unsrige war. Wir sollten uns gelegentlich daran erinnern.
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Deshalb meinen wir, die Hilfen zur Demokratisierung müssen in der Entwicklungszusammenarbeit eine neue, ganz herausragende Priorität erhalten. Dabei kann es nicht nur um Wahlhilfe, sondern muß es auch um die massive Unterstützung beim Aufbau von dezentralen, kommunalen Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen gehen; denn Demokratie ist nach unserem Verständnis ohne Rechtsstaatlichkeit nicht denkbar. Deshalb müssen vor allem Hilfen bei der Formulierung von Verfassungs- und Rechtssystemen gewährt werden. Dies ist die wirksamste Waffe im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen.
Meine Damen und Herren, die Marktwirtschaft hat sich durchgesetzt. Der Zusammenbruch des Sozialismus und das Scheitern der sozialistischen Planwirtschaft haben in vielen Entwicklungsländern zu einem Umdenken geführt. Die angenehmen Seiten der Marktwirtschaft sollen vielen Menschen Wohlstand bringen. Daraus ist jedoch in vielen Teilen dieser Welt eine unkontrollierte Marktwirtschaft entstanden, die in den Ländern des Südens und des Ostens soziale Zusammenhänge zerstörte und neue soziale Verantwortlichkeit bisher nicht aufgebaut hat. Wir sehen diesen Konflikt und halten trotzdem an dem Modell „Marktwirtschaft" fest.
Meine Damen und Herren, immer mehr politisch Verantwortliche sehen in der ökologisch orientierten Sozialen Marktwirtschaft nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern ein gesellschafts- und sozialpolitisches Programm, das die Würde des Menschen und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit am besten sichert. Privatwirtschaft schafft Arbeitsplätze und eine stabile Mittelschicht. Marktwirtschaft wird damit auch in den meisten Ländern des Südens zur Voraussetzung für die Beseitigung von Armut. Aber ich wiederhole es erneut: Die Förderung marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen allein genügt nicht. Neu hinzukommen muß die Einsicht, daß die soziale Absicherung der Menschen Abhängigkeiten verringert und soziale Ungleichgewichte verhindert. Nur mit der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft kann der Rückfall in sozialistische Strukturen vermieden werden.
Die künftige Entwicklungszusammenarbeit muß diesen Erfordernissen Rechnung tragen und, falls erwünscht, im Sinne des vorher Gesagten auch sozialpolitische Beratung zum Aufbau von sozialen Sicherungssystemen auf der Grundlage traditioneller Strukturen beinhalten.
In dem vorliegenden Antrag der Koalition rücken wir die Stärken des privaten Sektors in den Mittelpunkt, wobei wir grundsätzlich kleine, mittlere und größere Unternehmen im Auge haben. Dies trifft auch für die Förderung von Kleinstunternehmen im informellen Sektor zu; denn der informelle Sektor erfüllt in den Entwicklungsländern eine wichtige volkswirtschaftliche Aufgabe. In diesem Bereich wurden in vielen Ländern mehr Arbeitsplätze geschaffen als in der formalen Wirtschaft. Der informelle Sektor ist nicht nur, wie es Herr Kollege Hedrich richtig sagte, zur Überlebenswirtschaft geworden, sondern - wie auch bei uns - in den kleinen Betrieben ein Feld der Innovation.
Die Privatwirtschaft kann nach unserem Verständnis aber nicht ohne eigenverantwortete Selbsthilfeorganisation und Interessenvertretung funktionieren. Wir müssen deshalb Zusammenschlüsse fördern, die neue, von mächtigen Interessengruppen und vom Staat unabhängige genossenschaftliche Bewegungen zum Ziel haben. Wir haben auch dies in Brasilien erlebt. Ich glaube, auch hier wird ein Schwerpunkt unserer gesellschaftspolitischen Zusammenarbeit liegen müssen.
Meine Damen und Herren, ich könnte noch etwas zum GATT sagen. Der beschämende Poker um Handelsliberalisierung ist uns allen in Erinnerung. Ich könnte etwas dazu sagen, was unsere Subventionierungen, unser Perfektionismus und unsere Handelshemmnisse für die Dritte Welt bedeuten. Auch hier sollten wir die Einsicht haben, uns im Rahmen des GATT - der Uruguay-Runde - zu neuen Ufern zu bewegen.
Ich bedanke mich.
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Herr Kollege Dr. Gregor Gysi, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen die entwickDr. Gregor Gysi
lungspolitische Debatte im Bundestag, wenngleich ich der Meinung bin, daß über ein Dutzend Anträge beim besten Willen schlecht in zwei Stunden ausführlich beraten und entschieden werden kann und daß im Ergebnis wahrscheinlich wiederum Beschlüsse gefaßt werden, die an der Lage der Entwicklungsländer nichts ändern, jedenfalls nicht zum Guten.
Das Plenum des Bundestages sollte künftig entwicklungspolitischen Fragen und insbesondere den tatsächlichen Ursachen für die Unterentwicklung und für die Zuspitzung des Nord-Süd-Gegensatzes größere Aufmerksamkeit widmen. Die fehlende Bereitschaft, über diese Ursachen zu sprechen, führt dazu, daß von vielen die Entwicklungspolitik und die sogenannte Entwicklungshilfe zum Allheilmittel der Probleme der Dritten Welt hochstilisiert werden. Das ist verantwortungslos und erzeugt auch die Illusion, daß die Entwicklungspolitik wirkliche Entwicklung entscheidend fördert.
Wichtig bleibt nach meiner Auffassung, daß die auf hohen Profit oder Gewinn - oder wie man das Ding auch immer nennen will - ausgerichtete Weltwirtschaftsordnung die neokoloniale Ausbeutung der ökonomisch Schwächeren verewigt.
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Sie entwertet zugleich alle ehrlich gemeinten entwicklungspolitischen Aktivitäten von Staaten und Nicht-Regierungsorganisationen. Die Praxis der bisherigen Entwicklungspolitik verdeutlicht, daß sie gegenüber den ehemals kolonial unterdrückten Völkern bestenfalls schadensbegrenzend ist.
Entwicklungspolitik muß - wie uns scheint - grundlegend neu konzipiert werden. Sie darf nicht wie bisher politisch-ideologisch motiviert und Bestandteil der ungleichen, eben nicht gleichberechtigten Weltwirtschaftsordnung sein. Sie muß viel stärker - wie heute übrigens die Vertreter der Indianer aus Lateinamerika und der Karibik im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit forderten - die konkreten Lebensbedingungen berücksichtigen. Es gilt eben nicht, den Entwicklungsländern unser System überzustülpen, sondern unser System zu ändern, um den Nord-Süd-Konflikt wenigstens nicht weiter zuzuspitzen, also zu begrenzen.
Der sogenannte Wirtschaftsgipfel in München Anfang Juli dieses Jahres könnte dazu deutlich neue Akzente setzen, die von den einzelnen Industrieländern umzusetzen wären. Wahrscheinlich geschieht das aber nicht. Dann werden uns die Auswirkungen der Unterentwicklung hier in Europa und Deutschland schnell einholen; zum Teil haben sie uns bereits erreicht.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, daß die ganze Art und Weise, wie die Asyldebatte hier im Deutschen Bundestag und vor allem außerhalb des Deutschen Bundestages geführt worden ist, sehr wohl etwas mit diesem Nord-SüdKonflikt zu tun hat. Diese Debatte ist nämlich zumindest von der CDU/CSU immer so geführt worden, als ob es darum gehe, sich gegenüber dieser Welt erfolgreich abzuschotten. Ich behaupte, daß dieser Weg in die Sackgasse führt. Abschottungspolitik führt - übrigens von der SED über viele Jahre praktiziert, und
man sieht es an ihrem Schicksal - zum Untergang.
Vor allem verhindert sie die Lösung von Problemen.
Ich möchte, da wir nur begrenzt Zeit haben, auch noch etwas zu den Anträgen zu Kuba und Nicaragua sagen. Ich glaube, daß die Politik gegenüber Kuba verheerend ist. Bekanntlich stellt Kuba keine Gefahr für die USA oder den Weltfrieden dar. Weshalb dann eine so umfassende Wirtschaftsblockade? Die Willkür der Initiatoren der „neuen Weltordnung" ist inhuman und völkerrechtswidrig. Sie stützt sich auf eigene Macht und will Machtverhältnisse in Ländern der Dritten Welt von außen gewaltsam verändern.
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Daß die Koalitionsparteien in Deutschland als „partners in leadership" diese neue Weltordnungsstrategie des Verbündeten in Übersee mittragen, verwundert nicht. Wir lehnen sie kategorisch ab und verurteilen die Haltung der Bundesregierung.
Die SPD fordert in ihrem Antrag faktisch nicht nur Reformen in Kuba - darüber läßt sich zweifellos reden -, sondern die Übernahme westlicher Systeme nach dem Beispiel Ost- und Zentraleuropas, d. h. eine völlig andere innere Ordnung, die den USA paßt, unbeschadet der damit verbundenen sozialen und anderen Folgen für die kubanischen Menschen. Es ist weder sozial noch demokratisch, daß von den Kubanern angesichts ihrer Geschichte vor 1959 eine solche Verhaltensweise erwartet wird.
Bekanntlich wird in Kuba darüber nachgedacht, was verändert und was reformiert werden muß. Das kubanische Volk hat aus eigener Kraft die Batista-Diktatur überwunden; es wird auch selbst die Kraft aufbringen, Veränderungen im gesellschaftlichen Leben des Landes herbeizuführen, die es für notwendig erachtet. Wir fordern deshalb nicht nur eine Lockerung - wie die SPD -, sondern eine sofortige Aufhebung der Blockademaßnahmen.
Kuba hat trotz Wirtschaftsblockade, des militärischen Druckes und der Bemühungen, es politisch zu isolieren, bedeutende Erfolge erzielt. Die amerikanische Variante der Hallstein-Doktrin gegenüber der Inselrepublik hat die Entwicklung zweifellos behindert. Um so höher müssen die Leistungen der Kubanerinnen und Kubaner bewertet werden. Entscheidend ist, daß die entwicklungspolitischen Fortschritte im Interesse und zum Wohlbefinden der sogenannten einfachen Menschen erzielt wurden, und zwar gegen den Widerstand der westlichen Supermacht.
Isolierung und Blockade waren noch nie hilfreich für einen Demokratisierungsprozeß. Im Gegenteil, sie versetzen ein Land in eine Art permanenten Ausnahmezustand.
Wirklich grobe Menschenrechtsverletzungen z. B. in sehr reaktionären lateinamerikanischen Regimen haben noch nie zu Blockadeentscheidungen der USA oder auch der Bundesregierung geführt.
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- Aber nur vorübergehend und sehr eingeschränkt.
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Ich möchte darauf hinweisen, daß es vielleicht noch schlimmere Regime gab, wo nichts geschehen ist. Ich meine, daß diese Einseitigkeit in der Politik auch nicht gerade zu ihrer Glaubwürdigkeit beiträgt.
Bei unseren Entscheidungen gegenüber Kuba sollten wir stets berücksichtigen, daß das Recht der Menschen auf Leben, auf Arbeit, auf kostenlose medizinische Betreuung, auf Bildung und anderes mehr politische Realität in Kuba war. Dem kubanischen Volk ging es besser als den meisten Völkern Latein- und Mittelamerikas.
Die kubanische Revolution war eine selbstbestimmte Revolution, die vom Volk unterstützt wurde und wird. Lassen Sie diesem Volk die Freiheit, von der Sie so viel sprechen, selbst zu entscheiden, was es für notwendig hält. Die vorgesehene Verfassungs- und Wahlreform sind Anzeichen dafür, daß es auch auf Kuba Veränderungen und Reformen geben wird, über die die Kubanerinnen und Kubaner entscheiden müssen.
Ich weise darauf hin, daß ich es für völlig unvertretbar halte, daß die Bundesregierung die Verträge der DDR mit Kuba nicht einhält, insbesondere die Verträge zu Milchpulverlieferungen. Ich frage mich: Was will man eigentlich erreichen? Wenn man Kindern Milch entzieht, um eine Regierung zu irgendwelchen Verhaltensweisen zu zwingen, dann ist das für mich völlig inhuman und politisch durch nichts zu rechtfertigen.
Eine weitere Bemerkung zu der Frage der Verschuldung Nicaraguas und zu der Art und Weise, wie sich die Bundesregierung dazu verhalten sollte. Ich fand es ganz spannend, wie sich die Debatte darüber entwikkelt hat. Es ist nämlich so, daß aus Verträgen mit der DDR noch 570 Millionen US-Dollar Schulden Nicaraguas resultieren. Nun stellt sich die Frage, ob man diese Schulden erläßt und in welchem Umfange.
Anfangs wurde behauptet, daß diese Schulden überwiegend aus Waffenlieferungen der DDR an Nicaragua resultieren. Dann kam jemand auf die Idee, daß es nicht sonderlich moralisch sei, wenn sich nun die Bundesrepublik Deutschland diese Waffenlieferungen der DDR nachträglich bezahlen läßt. Daraufhin kam die Bundesregierung auf die Idee, daß es vielleicht doch nicht so viele Waffenlieferungen waren, und hat die angeblich 90 % an Waffenlieferungen auf 10 % heruntergedrückt und gemeint, der Rest sei doch echte Entwicklungshilfe gewesen, insofern seien auch die Schulden echt, und insofern müßte Nicaragua diese Beträge an die Bundesrepublik Deutschland zurückzahlen.
Da entsteht bei mir einfach der Verdacht, daß solche Fakten immer nach der jeweiligen Zweckmäßigkeit und Zielstellung gehandelt oder auch nicht gehandelt werden. Ich glaube, daß das, was dort geliefert worden ist, sicherlich eine Mischung von allem war. Natürlich gab es auch echte entwicklungspolitische Hilfsmaßnahmen; ich erinnere an Krankenhäuser, an Berufsbildungszentren und anderes mehr. Aber ich finde es moralisch ungerechtfertigt, daß die Bundesrepublik Deutschland diese Schulden jetzt gegenüber Nicaragua einklagt. Ich meine, hier wäre ein vollständiger Verzicht angebracht; das würde diesem Land wirklich helfen, auch im Rahmen seiner neuen Politik zu wirtschaftlichen Ergebnissen zu kommen. Ich füge hinzu, daß es ja wirkliche Erlasse auch z. B. gegenüber Polen und gegenüber anderen Ländern, z. B. gegenüber Ägypten, gegeben hat.
Ich verstehe nicht, weshalb man diese Maßstäbe an Nicaragua nicht anlegen will. Es ist sehr geschickt formuliert: Man will einen Teil der Schulden erlassen, die bis dann und dann fällig sind, und vergißt - man vergißt es natürlich nicht , daß die meisten Schulden gegenüber der ehemaligen DDR erst danach fällig werden und mithin in diesen Schuldenerlaß gar nicht einbezogen sind. Letztlich würde es vielleicht um 10 % gehen. Ich meine, das ist wesentlich zuwenig. Die Bundesrepublik Deutschland sollte Nicaragua diese Schulden erlassen, um dort eine wirksame Hilfe zu leisten und um ein Beispiel in der Welt zu geben, daß mit der Entschuldung zumindest von hier aus ernsthaft begonnen wird und daß nicht nur an Umschuldung gedacht wird.
Letzter Satz: Ich befürchte, daß als Motiv für die Ungleichbehandlung ein einziger Umstand Berücksichtigung findet, nämlich der, daß man befürchtet, daß die Sandinisten irgendwann wieder Wahlen gewinnen könnten. Dann würde es einem doch zu sehr leid tun, wenn man vorher die Schulden erlassen hätte. Genau diese Motivation kann ich nicht akzeptieren. Entwicklungshilfe ist immer erforderlich, ob einem die Regierung nun besonders paßt oder nicht.
Danke schön.
({4})
Nunmehr hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Carl-Dieter Spranger, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Hedrich hat bei seiner Rede den allgemeinen Vorhalt einer unzureichenden Beteiligung des Parlaments durch die Bundesregierung erhoben. Ich gebe dazu gerne die erbetene Stellungnahme ab. Lieber Kollege Hedrich, diesen Vorhalt muß ich natürlich generell bestreiten. Im Einzelfall kann ich ihn und seine Berechtigung zwar nicht ausschließen, aber wenn Sie das BMZ angesprochen hätten, hätten Sie sicher gesagt, daß das Ministerium das Parlament jederzeit umfassend und rechtzeitig im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeiten beteiligt. Dieser Aussage hätte ich natürlich nur zustimmen können.
({0})
- Das ist richtig. Deswegen stellen wir uns auch
ständig dieser Auseinandersetzung. Aber ich glaube,
Sie können im großen und ganzen mit der Kooperation mit dem BMZ zufrieden sein.
({1})
Herr Minister, Sie sind offensichtlich bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hedrich zuzulassen.
Bitte sehr, immer.
Herr Minister, Sie haben meine Formulierung sicherlich auch so verstanden, daß ich von der Bundesregierung insgesamt sprach.
Richtig, so habe ich das auch interpretiert.
({0})
Meine Damen und Herren, unsere Welt wächst immer schneller zusammen. Gleichwohl belegt der kürzlich veröffentlichte Bericht der Vereinten Nationen über menschliche Entwicklung, daß die Unterschiede der Lebenschancen der Menschen in den Industrie- und Entwicklungsländern in den vergangen Jahren nicht ab-, sondern zugenommen haben. Während 1960 die reichsten 20 % der Weltbevölkerung über ein Einkommen verfügten, das dreißigmal größer war als das Einkommen der ärmsten 20 %, hat sich die Schere im Jahre 1990 auf das sechzigfache erweitert.
In einer Welt, in der die nationalen Grenzen zunehmend an Bedeutung verlieren, ist die Schaffung menschenwürdiger Lebensbedingungen für alle Bürger dieser Erde eine unerläßliche Voraussetzung für weltweiten Frieden, für Sicherheit, für Stabilität und für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Heute besteht auch mit unseren Partnern in den Entwicklungsländern Übereinstimmung: Verantwortlich für seine Zukunft ist in erste Linie ein jedes Land selbst. Um wirtschaftlichen Fortschritt mit sozialer Gerechtigkeit zu vereinen, müssen die Entwicklungsländer eine Wirtschafts- und Sozialordnung schaffen, die den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt, die Privatinitiative fördert und im Rahmen von Demokratie und verantwortungsbewußter Regierungsführung den Menschen Freiräume für die Entfaltung ihres schöpferischen Potentials eröffnet.
Hierbei zu helfen ist das vorrangige Ziel unserer Entwicklungspolitik. Ich bin dankbar für die breite Unterstützung dieses Kurses durch das Parlament, die nicht nur in den vorliegenden Anträgen zum Ausdruck kommt. Ich bin auch dankbar für die Beiträge der Kollegen Hedrich, Frau Adler und Frau Walz, die diesen Grundkonsens heute deutlich gemacht haben.
Zu Herrn Gysi läßt sich nur sagen: Der Sprachschatz und der Inhalt seiner Ausführungen, insbesondere zu
Kuba, spiegeln die alte SED-Ideologie nach wie vor wider.
({1})
Die SED hat ja Entwicklungsarbeit nach ihrer eigenen Ideologie immer als Teil des internationalen Klassenkampfes bezeichnet und verstanden. Wir haben am 3. Oktober 1990 insgesamt 65 taugliche Projekte mit 150 Mitarbeitern übernehmen können. Das war der ganze traurige Restbestand. Ich glaube, daß Sie hier wirklich nicht legitimiert sind, dem Bundestag und der Bundesregierung Belehrungen zum Thema Entwicklungspolitik zu erteilen.
({2})
Ich möchte auf einige der Anträge mit kurzen Bemerkungen eingehen; aus Zeitgründen kann ich es nicht zu allen tun. Mit Hilfe des Parlaments wurde bei der Verabschiedung des Haushalts 1992 die Möglichkeit eröffnet, durch den Aufbau selbstverwalteter Kapitalvermögen in den Entwicklungsländern neue unternehmerische Initiativen entfalten zu helfen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen zur „Entfaltung privater unternehmerischer Initiative" setzt ein Zeichen für die Bereitschaft des Deutschen Bundestages, auf diesem Wege auch weiterhin konstruktiv und kompetent mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten.
Wirtschaftliches Wachstum, getragen von einem dynamischen privaten Sektor, ist eine der Voraussetzungen für die Überwindung der Armut in den Entwicklungsländern. Die Teilhabe der Menschen an politischen Entscheidungen, eine transparente und rechenschaftspflichtige Regierungsführung sowie Investitionen in das menschliche Kapital sind Indikatoren dafür, daß wirtschaftliches Wachstum auf die Verwirklichung der grundlegenden Ziele tragfähiger Entwicklung ausgerichtet ist. Diese Ziele sind die Überwindung der Armut und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Der Weltentwicklungsbericht 1992 hat in überzeugender Weise verdeutlicht: Wachstumsverzicht würde für eine Milliarde Menschen, die gegenwärtig mit einem Einkommen von weniger als 1 Dollar täglich auskommen müssen, und für noch mehr Menschen in der Zukunft ein Leben in Armut festschreiben. Nicht totaler Wachstumsverzicht, sondern umweltgerechtes Wachstum ist daher der Schlüssel zu einer besseren Zukunft für alle Menschen dieser Erde.
Wirtschaftliche Reformen in Entwicklungsländern, die von Weltbank und Währungsfonds in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und anderen bilateralen Gebern gefördert werden, stehen hierzu nicht im Widerspruch, sondern leisten entscheidende Beiträge zur Wiederherstellung eines tragfähigen, sozial und ökologisch ausgewogenen Wachstumsprozesses in den Entwicklungsländern. Ein Beispiel hierfür ist der Abbau von Subventionen für den Verbrauch von Energie oder natürlichen Ressourcen wie Wasser, der nicht nur zur fiskalischen Stabilisierung beiträgt, sondern gleichzeitig einen Beitrag zur umweltgerechten Entwicklung leistet.
({3})
- Auch bei uns, wie wir überhaupt viele Konzepte,
die wir den Entwicklungsländern immer empfehlen,
auch bei uns hier überprüfen und in bezug auf ihre Relevanz und Umsetzung auf den Prüfstand stellen sollten.
({4})
- Das gilt vor allem für die fünf neuen Bundesländer und ihre Erblasten.
Für alle Programme der Weltbank und regionaler Entwicklungsbanken gilt: Auswirkungen auf die Umwelt werden vergleichbar der Umweltverträglichkeitsprüfung für deutsche Entwicklungsprojekte sehr sorgfältig analysiert und bei der Projektgestaltung berücksichtigt. Die multilateralen Entwicklungsbanken verfügen über eigene, sehr umfassende Umweltrichtlinien, die von allen Mitgliedstaaten gemeinsam beschlossen worden sind, von der Bundesregierung mitgestaltet wurden und somit auch mitgetragen werden. Sie stimmen inhaltlich weitgehend mit den für die bilaterale Entwicklungspolitik geltenden Richtlinien überein. Entscheidend für die Umsetzung ist, daß die Vereinbarung dieser Richtlinien im multilateralen Rahmen die Akzeptanz durch die betroffenen Entwicklungsländer sicherstellt und vor allem auch ihre Mitverantwortung festschreibt. Dies ist ein bewährtes Verfahren, von dem nicht, wie von der SPD gefordert, durch nationale Alleingänge abgewichen werden sollte.
Umweltdiktate einzelner bilateraler Geber entsprechen nicht meinem Verständnis von globaler Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft! Partnerschaft heißt vielmehr: Erstens. Wir müssen Zeichen setzen und durch die Entwicklung neuer Produktions- und Verhaltensweisen, die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mit der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen in Einklang bringen, selbst Vorbild für die Länder des Südens werden. Das Bundeskabinett hat eine Verringerung der Kohlendioxidemissionen bis zum Jahr 2005 um 25 bis 30 beschlossen. Das bekräftigt die Entschlossenheit der Bundesregierung, in diesem Bereich auch weiterhin die internationale Meinungsführerschaft zu übernehmen und Zeichen für unsere Partner nicht nur in den Entwicklungsländern zu setzen.
Partnerschaft heißt zweitens, im Rahmen einer präventiven Entwicklungspolitik dazu beizutragen, den Menschen in den Entwicklungsländern in ihrer Heimat Perspektiven zu eröffnen, Fluchtfolgen zu mildern und die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen zu fördern.
Daß über die Inhalte und die Erfolgsvoraussetzungen einer solchen Politik ein breiter Konsens im deutschen Parlament besteht, unterstreichen die Anträge der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion. Die Beachtung der Menschenrechte, die Beseitigung interner Entwicklungshemmnisse in unseren Partnerländern, konsequente Armutsbekämpfung und die Erhaltung der natürlichen Umwelt sind zentrale Beiträge unserer Entwicklungspolitik zur Bekämpfung von Fluchtursachen.
Diese Politik wird konsequent umgesetzt. Die ausrichtung der Vergabe von Entwicklungshilfe an den Rahmenbedingungen der Empfängerländer schlägt sich in unseren Planungen für die Länderquoten im
Jahre 1992 nieder. Bei der Umsetzung unserer sektoralen Schwerpunkte werden wir auf der Grundlage unserer Planung erstmals erreichen, daß mit 50,9 % über die Hälfte der Projekte der Grundbedürfnisbefriedigung dient.
({5})
- Insbesondere was zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden kann: Trinkwasserversorgung und Nahrungsmittelversorgung. Das sind sicherlich Grundbedürfnisse. Sie wissen das viel zu gut, Herr Toetemeyer.
({6})
Der Anteil von Projekten des Umwelt- und Ressourcenschutzes soll von 19,3 % im vergangenen Jahr auf 27,8 % im laufenden Jahr gesteigert werden. Im Bildungsbereich haben wir Arbeiten zur Weiterentwicklung unserer Förderinstrumente beschleunigt und in wichtigen Teilen abgeschlossen. Hierzu gehören die kürzlich der Öffentlichkeit vorgestellten Sektorkonzepte Grundbildung und berufliche Bildung, die Grundlage für weitere Steigerungen unseres Engagements im Bildungssektor sein werden.
Auch im Bereich der Rückkehrförderung hat die Bundesregierung gehandelt. Durch das Fachkräfteprogramm Afghanistan sind seit 1990 hier lebende afghanische Fachkräfte auf die anstehenden Wiederaufbau- und Entwicklungsaufgaben vorbereitet worden. Fachkräfteprogramme für Äthiopien, Eritrea und Vietnam sind in Vorbereitung. Am 1. Juni wurde eine Vereinbarung über die Rückkehr eritreischer Flüchtlinge aus Deutschland abgeschlossen. Eine entsprechende Vereinbarung mit Vietnam soll nächste Woche unterzeichnet werden.
({7})
Mit Slowenien und Kroatien setzen wir die Verhandlungen über den Abschluß von Rückkehrabkommen fort.
Ein verläßlicher Partner in einer globalen Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft zu sein heißt für uns auch, rasch und flexibel auf Veränderungen der Rahmenbedingungen in den Entwicklungsländern zu reagieren und entwicklungspolitische Chancen in Umbruchsituationen zu nutzen, wie es der Antrag der Koalitionsfraktionen formuliert. Ich habe diese Initiative des Parlaments bereits in unserer Sitzung am 12. März begrüßt und dargelegt, daß wir auf die Ereignisse in Äthiopien, Eritrea und Somalia rasch reagieren und auch vor dem Beschreiten unkonventioneller Wege nicht zurückgescheut haben.
Verantwortung in der einen Welt zu übernehmen heißt allerdings weit mehr, als durch konsequente Entwicklungspolitik sozial und ökologisch tragfähige Entwicklungsprozesse in unseren Partnerländern zu unterstützen. Seit meinem Amtsantritt habe ich in Parlament und Öffentlichkeit immer wieder betont: Nicht nur in der Entwicklungspolitik, sondern in allen Politikbereichen müssen sich Entscheidungen an den
Erfordernissen einer weltweiten Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft messen lassen.
({8})
Die Beschlüsse des Bundeskabinetts zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes, zur Unterzeichnung der Konventionen zum Schutz der Erdatmosphäre und zum Artenschutz in Rio, die konstruktive Haltung der Bundesregierung bei der Erarbeitung eines Kompromisses zur Reform der europäischen Agrarpolitik und der von großem persönlichem Engagement getragene Einsatz des Bundeskanzlers für einen erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde belegen, daß sich die Bundesregierung dieses Zusammenhangs bewußt ist und konsequent danach handelt.
({9})
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Uwe Holtz das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die autoritären Utopien sind zerstoben. Demokratischer Realismus, gepaart mit der Kraft zur Vision, ist angesagt. Weder in Bangkok noch in Nairobi oder Havanna brauchen die Menschen westliche Missionare, um nach Demokratie zu rufen. Was die Menschen im Süden allerdings von uns erwarten, ist die Unterstützung von Reformen und keine Unterstützung von Despoten.
({0})
Der dramatische Zusammenhang zwischen Entwicklung und Umwelt, zwischen Armut und Bevölkerungsexplosion muß zu einem Ausgangspunkt neuer nationaler Anstrengungen und einer neuen Dirnension globaler Solidarität werden. Entwicklungspolitik und Umweltpolitik - richtig! beginnen zu Hause. Unseres Erachtens hat die Bundesregierung ihre Hausaufgaben nicht in ausreichendem Maß erledigt.
({1})
Die Industrieländer müssen der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern in den 90er Jahren einen höheren Stellenwert beimessen. Hierzu bedarf es, wie der OECD-Ministerrat vor zwei Wochen in Paris feststellte, einer kohärenten und umfassenden Strategie, die an mehreren Fronten ansetzen muß. Bislang hatte das Auswärtige Amt für die Probleme, Sorgen und Nöte des Südens ein unterentwickeltes Engagement an den Tag gelegt. Das beklagen wir. Um so mehr ist der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gefordert.
In der Tat, Kohärenz ist ein Schlüsselproblem. umfangreiche Studien belegen, daß alljährlich die Handelspolitik der Industrieländer die Entwicklungsländer um ein Veilfaches dessen ärmer macht, was ihnen durch Entwicklungspolitik jedes Jahr zufließt. Das ist ein skandalöser Zustand.
({2})
Wir können unsere Entwicklungspolitik vergessen, wenn wir dieses Problem nicht vom Tisch bekommen.
({3})
Da sind Sie, sehr geehrter Herr Minister, gefordert; da ist besonders aber auch der Bundeskanzler mit seiner Richtlinienkompetenz gefordert.
Mit vielen Zielen Ihrer Entwicklungspolitik stimmen wir überein. Das kommt in der Arbeit im Fachausschuß und auch hier im Bundestag zum Ausdruck. Wir von der Opposition werfen Ihnen aber vor, Herr Minister, daß immer noch zu sehr ein langer Pfad zwischen Wort und Tat klafft. Haben Sie den Mut und die Durchsetzungskraft, die neuen entwicklungspolitischen Kriterien von den Menschenrechten bis zum Rüstungsabbau konsequenter durchzusetzen: gegenüber Malawi, gegenüber Zaire, gegenüber einer ganzen Reihe von Entwicklungsländern!
({4})
Das, was der Auswärtige Ausschuß heute in Sachen China beschlossen hat, ist eine Niederlage für Sie, für viele von uns und auch für die Demokratiebewegung in China.
Ein Schlüsselfaktor für Entwicklung überhaupt sind Bildung, Ausbildung und insbesondere Grundbildung. Das Parlament hat Sie in diesem Bereich, besonders im Grundbildungsbereich, zu größeren Taten aufgefordert. Die Ausgaben für soziale Grundbedürfnisse, also medizinische Grundversorgung, für Grundschulen und weiterführende Schulen, für Familienplanungsprogramme sowie für die Trinkwasserversorgung und die Abwasserentsorgung in den ländlichen Gebieten liegen bei der deutschen Entwicklungspolitik, so im letzten UNICEF-Bericht zu lesen, bei einem Anteil von gerade einmal 11 % der gesamten Entwicklungshilfe. Das ist zuwenig, Herr Minister.
({5})
Der deutsche Umweltminister spricht sogar von der Möglichkeit eines Kalten Krieges zwischen Nord und Süd. Um diesen zu vermeiden, brauchen wir eine neue Art von Entspannungspolitik, nämlich eine wirtschaftliche, eine ökologische, eine soziale Entspannung zwischen Nord und Süd.
Wir fordern die Bundesregierung auf, am Aufbau einer leistungsfähigen, gerechten, sozialen Weltwirtschaft konstruktiv mitzuwirken, eine bessere Wirtschaftspolitik zu betreiben, Gelder umzuschichten im Sinn einer Förderung einer auf Dauer tragfähigen, wirtschaftlich produktiven, sozial gerechten und menschenwürdigen Entwicklung; und wir fordern bei dementsprechenden eigenen Anstrengungen der Entwicklungsländer auch eine bessere finanzielle Ausstattung. Wer dauernd davon spricht, daß z. B. das Flüchtlingsproblem vor allem durch Ursachenbekämpfung zu mildern ist, der muß dementsprechend endlich handeln und mehr Mittel bereitstellen.
({6})
Auch für Nicaragua ist die Schuldenfrage zu einer Fessel geworden. Wir Sozialdemokraten treten von Fall zu Fall für substantielle Schuldenerlasse ein. Sie sollten endgültige Verzichte beinhalten. Die Höhe eines Erlasses muß sich an der wirtschaftlichen Leistungs- und der finanziellen Transferfähigkeit des jeweiligen Landes ausrichten. Wir wenden uns aber eindeutig gegen einen pauschalen Schuldenerlaß, wie er im Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste gefordert wird.
Wäre Herr Gysi noch hier, dann hätte man ihm deutlich sagen können: Gerade hinsichtlich dessen, was er forderte, nämlich den Lebensbedingungen der Menschen Aufmerksamkeit zu schenken, hätte er heute morgen bei uns im Ausschuß Gelegenheit gehabt, etwas zu hören. Dort haben sich Indio-Vertreter gegen einen pauschalen Erlaß ausgesprochen und vielmehr gefordert, daß ein solcher Schuldenerlaß zugunsten der Selbstentfaltung und Selbstentwicklung für die breite Bevölkerung eingesetzt werden sollte. Wir wollen doch nicht Diktaturen und womöglich noch Diktatoren durch pauschale Schuldenerlasse helfen.
({7})
Wir würdigen, was die Bundesregierung bislang in Sachen Schuldenerlaß getan und angekündigt hat, aber ich muß sagen, daß uns das im Bundestagsausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht gereicht hat, was uns jetzt hier der Finanzausschuß als federführender vorlegt. Wir hatten gewünscht und erwartet, daß sich der federführende Ausschuß unserem Votum anschließt, nämlich im Rahmen der bilateralen Verhandlungen weitere Schuldenerleichterungen für Nicaragua zu gewähren. Im Finanzausschuß heißt es jetzt, daß man alles auf den multinationalen Verhandlungsbereich schiebt. Wir bedauern, daß die Bundesregierung entgegen den Andeutungen gegenüber der Präsidentin Chamorro diese restriktivere Haltung einnehmen wird.
({8})
Am 17. Dezember vergangenen Jahres hatte die SPD-Bundestagsfraktion den Kuba-Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Warum?
Erstens. Im Einigungsvertrag hatte sich die gesamtdeutsche Regierung dazu verpflichtet, die gewachsenen außenwirtschaftlichen Beziehungen der alten DDR weiterzuentwickeln und auszubauen. Ich meine, eingegangene Verträge sind zu halten. Die Bundesrepublik - nicht die Bundesregierung, wie es im Antrag heißt - sollte mit zu jenen Staaten gehören, die einen positiven Wandel in Kuba unterstützen. Viele Entwicklungserfolge, die es im Sozialbereich in Kuba unbestritten gegeben hat, waren zum Teil von außen finanziert.
Zweitens. Angesichts der sich dramatisch verschlechternden Situation gibt es unabhängig von Regime-Fragen Anlaß genug, sich humanitär zu engagieren.
Drittens. Außerdem war die Politik des Wandels durch Dialog auch anderswo erfolgreich.
Mit dem Antrag mahnt die SPD die Bundesregierung, sich mit dem Thema Kuba endlich angemessen zu befassen. Washington setzt auf Strangulierung und wird dabei von rechtsextremistischen Exilkubanern getrieben. Es riskiert damit blutige Auseinandersetzungen und enorme Flüchtlingsströme, wie uns selbst Demokraten aus Kuba immer wieder bestätigen. Deshalb plädieren wir für einen friedlichen Wandel, für Dialog und Brücken, die von menschenrechtsfeindlichen und wirtschaftlich weitgehend erfolglosen kommunistischen Regimen wegführen.
Eines muß man deutlich sagen: Die kubanische Revolution hatte doch nicht nur soziale Ziele, sondern auch politische Ziele. Die politischen Ziele, Freiheit und Demokratie für alle erfahrbar zu machen, wurden von Fidel Castro verraten. Wer hier über Kuba spricht, muß auch über diese häßliche Seite des Regimes sprechen.
({9})
Was Kuba braucht, sage ich immer, ist eine Gastroika, eine der Perestroika ähnliche Reform. Fidel Castro, der maximo leader, wird zu einem tragischen Helden, wenn er glaubt, auch weiterhin gegen den demokratisch-reformerischen Strom schwimmen zu müssen. Ein erstes positives Zeichen wäre es, wenn die politischen Gefangenen in Kuba endlich freigelassen würden.
({10})
Wir Sozialdemokraten treten für eine Lockerung des Wirtschaftsembargos ein. Dies wäre nicht nur eine Antwort auf die von Kuba unterstützte Entspannungspolitik in Afrika und Zentralamerika. Dies läge auch im eigenen Interesse der USA. Außerdem wird das Embargo von Fidel Castro als Legitimation für die Status-quo-Politik benutzt und erschwert einen friedlichen Wandel in Kuba.
Deutschland sollte zu den Staaten gehören, die einen positiven Wandel zu mehr Demokratie, zu Demokratie in Kuba unterstützen. Dabei besteht für Kuba die Herausforderung darin, Reformen durchzuführen, ohne Entwicklungserfolge aufs Spiel zu setzen. Unser Antrag bedeutet ein positives Signal an ein reformbereites Kuba. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung ein neues Kapitel in den deutsch-kubanischen Beziehungen aufschlagen.
Danke schön.
({11})
Nunmehr hat der Abgeordnete Dr. Christian Ruck das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige entwicklungspolitische Debatte bringt zu Recht wieder ökologische Fragestellungen zur Diskussion. Das ist in der Woche der Rio-Konferenz ein gutes Zeichen dafür, daß globale Umweltverantwortung auf der Tagesordnung des Bundestages bleibt.
Wir hatten ja schon vor zwei Wochen in Berlin eine große Debatte zum Thema Umwelt und Entwicklung. Frau Adler, um einem kritischen Unterton Ihrerseits an dieser Stelle zu begegnen, möchte ich doch auf meinen bescheidenen Beitrag anläßlich dieser Debatte hinweisen, wo natürlich auch ich, wo wir alle auf den engen Zusammenhang, den globalen Zusammenhang vom Umweltschutz und Armutsbekämpfung hingewiesen haben, deutlich gemacht haben, daß das nicht zu trennen ist, daß wir globale Kraftanstrengungen unternehmen müssen, die alle Länder und alle Entwicklungsinstitutionen betreffen, und daß wir langfristige Strategien für ein kombiniertes Vorgehen brauchen, das aus den Veränderungen der äußerlichen Rahmenbedingungen bestehen muß, d. h. auch der bestehenden Ordnung der Weltwirtschaft. Aber es wurde weitgehend einhellig festgestellt, daß dieses nur der eine Teil des Schlüssels ist; der andere Teil, der genauso notwendig ist, heißt Veränderung der Rahmenbedingungen innerhalb der Entwicklungsländer. Nur beides zusammen wird zum Erfolg führen.
Ich glaube schon, daß unser Entwicklungsminister Carl-Dieter Spranger hier Zeichen gesetzt hat, auf dem richtigen Weg ist,
({0})
zusammen mit Umweltminister Töpfer. Daß nicht alles von heute auf morgen geht, liegt nicht zuletzt in der Natur der Sache der Entwicklungspolitik: zwischenstaatliche Verträge, keine Projektruinen. Ich glaube, wir entwicklungspolitischen Insider wissen das.
Die globalen Strategien, die wir auch in Berlin diskutiert haben, können wir nur gemeinsam realisieren. Wir können uns aber trotzdem fragen, ob wir nicht hier im Bundestag, von der Bundesrepublik Deutschland aus, konkrete, wenn auch vielleicht bescheidenere Schritte selber tun können. Dazu dient der eine oder andere Antrag, der hier vorliegt. Ich möchte auf zwei eingehen.
Der von der CDU/CSU und der F.D.P. vorgelegte Antrag „Die Schöpfung bewahren, privates Engagement fördern, die Umsetzung von Umweltmaßnahmen in Entwicklungsländern beschleunigen" hat zum Ziel, kompetente nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen, Neudeutsch sogenannte NGOs, auch im Umweltbereich stärker an der bilateralen deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu beteiligen.
Hintergrund dafür ist, daß in manchen Entwicklungsländern auf Grund des Fehlens effizienter staatlicher Träger oder z. B. auch durch politische Flügelkämpfe international bereitgestellte öffentliche Mittel nicht oder nur schleppend genutzt werden, obwohl für viele Ökosysteme die Zeit davonläuft. Die dramatische Bedrohung der Schöpfung auch in der Dritten Welt ist ja in der Debatte vor zwei Wochen in Berlin noch einmal deutlich zum Ausdruck gekommen.
Auf der anderen Seite sind viele NGOs im Umweltbereich in den letzten Jahren bei ihrer Arbeit professioneller und leistungsfähiger geworden. Sie hätten Projekte, die schneller und unbürokratischer zu verwirklichen wären, aber aus Geldmangel steckenbleiben, Projekte, die wir alle, glaube ich, wollen, weil sie die natürliche Umwelt schützen und gerade dadurch auch der dortigen Bevölkerung nachhaltige Einkommensquellen schaffen oder sichern, Projekte, die Armutsbekämpfung mit dem Kampf gegen Wüstenbildung, Bodenerosion und Waldzerstörung verbinden.
Die Bundesregierung ist begrüßenswerterweise bereits in die Zusammenarbeit etwa mit dem Worldwide Fund for Nature und der IOCN eingestiegen und hat dabei, glaube ich, keine schlechten Erfahrungen gemacht.
Eine intensive Zusammenarbeit mit den NGOs kann natürlich - ich sage es noch einmal - die verstärkten Anstrengungen der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit im Umweltbereich oder auch verstärkte Anstrengungen im nationalen Umweltschutz in keiner Weise ersetzen; sie ist aber - glaube ich - ein wichtiger Mosaikstein in einem notwendigen Bündel von Maßnahmen. Wir brauchen das private Engagement auch im Umweltbereich der Entwicklungszusammenarbeit und machen mit unserem Antrag deutlich, daß wir auch mit den NGOs die globale Umweltpartnerschaft suchen.
Ein Wort zu einem anderen Antrag, nämlich zum Erzbergbau am Ok Tedi und dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE: Nach den mir vorliegenden Informationen und Augenzeugenberichten glaube ich auch, daß dieses Projekt in der Tat schwere ökologische Probleme verursacht hat. Dennoch ist der Antrag, Herr Kollege Weiß, in der vorliegenden Form für mich - um es vorsichtig auszudrücken - noch sehr stark diskussionsbedürftig.
Als Grundlage stellen Sie auf die Studie des Starnberger Instituts ab, die inzwischen von der von mir für sehr seriös gehaltenen IOCN in der Luft zerrissen wurde. Sicherlich kennen Sie die Gegenstudie auch.
Aus den fünf Hauptkritikpunkten der IOCN möchte ich aus Zeitgründen nur zwei zitieren:
Durch die selektive Darstellung von Informationen, die bestenfalls irreführend und schlimmstenfalls falsch sind, wird die Glaubwürdigkeit des Berichts in bezug auf die dort im Minenbetrieb hervorgerufenen Umweltschäden beträchtlich vermindert.
Und an anderer Stelle heißt es:
Die in dem Bericht aufgestellten Behauptungen hinsichtlich Umweltverschmutzung und Umweltschäden werden durch die im Verlauf der Untersuchung gesammelten Daten nicht erhärtet.
Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, daß wir über diese Studie und auch über den Antrag sicherlich noch einmal diskutieren müssen. Ich bezweifle auch ein bißchen, ob die in dem Antrag enthaltenen Forderungen an die Bundesregierung wirklich den Kern der Sache treffen. Bekanntlich liegen ja 95 % der Anteile an der Betreibergesellschaft des Projekts außerhalb der Reichweite unserer unmittelbaren politischen Einflußnahme. Wir könnten höchstens auf die DEG unmittelbar einwirken.
So sehe ich es als einen hoffnungsvollen Schritt in die richtige Richtung an, daß am 27. Mai in Frankfurt
ein Treffen der privaten deutschen Anteilseigner mit den kirchlichen Missionswerken stattgefunden hat. Dort einigte man sich in einer sehr konstruktiven Atmosphäre auf gemeinsame Problemlösungsversuche. Die Bundesregierung sollte auf jeden Fall diesen Ansatz mit ihren in diesem Fall bescheidenen Einflußmöglichkeiten unterstützen, auch gegenüber der Regierung von Papua-Neuguinea.
Lassen Sie mich schließen mit einem Blick auf die großen Zusammenhänge der Entwicklungspolitik: Ich gebe den meisten meiner Vorredner, auch denen von der Opposition, recht, wenn sie sagen, daß die gewaltigen Herausforderungen, die auf die Entwicklungspolitik zukommen, seien es Bekämpfung der Fluchtursachen, Bevölkerungsexplosion oder Umweltzerstörung, mit dem vorliegenden Haushalt kurz-und mittelfristig nicht zu schaffen sind. Und ich fordere uns alle auf, hier auch die Bemühungen des Ministeriums zu unterstützen, zumindest mittelfristig deutlich mehr herauszuholen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal befinden wir uns in einer entwicklungspolitischen Debatte, wo mir ein wenig unheimlich wird.
({0})
Wir alle kennen die Zahlen. Wir stimmen in der Beschreibung der Symptome weitgehend überein. Wir stellen die gleiche Diagnose.
({1})
Wir haben fast dieselben therapeutischen Ansätze, aber der Patient ist weiterhin krank, bleibt krank, ist sterbenskrank.
Und da stellt sich mir einfach die Frage: Ist das, was wir hier tun, richtig? Ist es nicht lediglich eine hilflose Geste des guten Willens?
Herr Kollege Holtz hat bereits auf den jüngsten Bericht der UNICEF über die Situation der Kinder in der Welt und insbesondere in den Entwicklungsländern verwiesen. Und wenn ich mir ansehe, was da an Fakten geschildert wird, dann frage ich mich wirklich, ob das, was wir an Entwicklungszusammenarbeit leisten, ausreichend ist, ob es richtig ist. Eine Viertelmillion Kinder sterben Woche für Woche. Mehr als eine Million Mädchen sterben Jahr für Jahr, weil sie nicht als Jungen geboren wurden und als Mädchen diskriminiert werden. Täglich - auch das ist im Kontext der gegenwärtig in unserem Hause geführten Debatte bezeichnend - werden weltweit 50 000 illegale Abtreibungen vorgenommen. Mehrere Millionen Kinder sterben jährlich, weil der Abstand zwischen den Geburten zu gering ist oder weil Mütter zu jung sind. Schließlich sterben mehr als 100 000 Mütter jedes Jahr, weil sie nicht das Wissen, die Mittel oder das Recht haben, die Zahl ihrer Geburten und den Abstand zwischen ihnen zu planen.
In Rio, meine Damen und Herren - ich sage das hier als katholischer Christ und ganz bewußt - ist Geburtenplanung kein Thema.
({2})
Das geht doch nicht. Bei einer vernünftigen Familienplanung wäre die Reduzierung des Wachstums um jährlich 30 % - so der UNICEF-Bericht - möglich.
({3})
- Ach, wissen Sie lieber Kollege, der Papst macht das auch nicht. Das müssen wir alle machen!
({4})
Staatliche Großprojekte, meine Damen und Herren, haben sich in der Entwicklungspolitik häufig als Fehlinvestitionen erwiesen. Auch das ist unstrittig. Wir sind uns einig, daß wir stärker als bisher private Initiativen fördern wollen. Das ist ja richtig, aber, Herr Kollege Spranger, ich habe meine Zweifel, wenn es darum geht, den Rückkehrern aus der DDR nach Vietnam in der von Ihnen ausgewählten Form Rückkehrhilfe zu leisten. Ich habe einfach Sorge, daß die Mittel, die wir dorthin schicken, im unersättlichen sozialistischen Staatshaushaltsrachen verschwinden und den Menschen, die damit gemeint sind, nicht geholfen wird.
({5})
Das ist für mich ein ganz ungelöstes Problem. Ich denke, wir hätten besser daran getan, die wahrscheinlich etwa noch 11 000 in Deutschland lebenden Vietnamesen, die wohl zum Teil auch hier leben wollen, hier zu lassen. Gerade die Vietnamesen hätten auch Chancen auf dem Arbeitsmarkt gehabt.
Zu dem Projekt Ok Tedi. Nach meinen Informationen - das ist im wesentlichen die Starnberger Studie, auf deren Grundlage wir unseren Antrag gestellt haben; das ist aber auch die Einschätzung der Weltbank - ist dieses Projekt in Papua-Neuguinea in der Tat außerordentlich zweifelswürdig. An diesem Projekt ist das deutsche Unternehmen Degussa AG mit 7,5 % beteiligt, die DIEG, die Deutsche Investitions-und Entwicklungsgesellschaft, ist mit 5 % beteiligt.
Seit 1982 hat der Staat Papua-Neuguinea, dem dieses Projekt eigentlich dienen sollte, keinerlei Einnahmen aus seinem Anteil am Aktienkapital der Mine erhalten. Alle Gewinne sind für den Schuldendienst und für Neuinvestitionen abgeflossen.
Ich will auch dem Vorsitzenden des Ausschusses danken, daß der Antrag heute hier behandelt worden ist, obwohl ich nicht anwesend war. Ich weiß, das ist kein guter Stil, aber ich hatte mit einer anderen Vorlage für einen anderen Ausschuß zu tun und mußte einfach abwägen. Ich bitte um Verständnis.
({6})
- Ja, leider. Bei acht Leuten ist das manchmal nicht
anders möglich. Aber ich finde es trotzdem nicht gut
Konrad Weiß ({7})
und will mich nicht rechtfertigen. Nur sind die objektiven Zwänge so.
Von diesem Projekt Ok Tedi, dem Erzbergbauprojekt, sind keine beschäftigungspolitischen Impulse ausgegangen. Die Infrastruktur ist fast ausschließlich auf die Bedürfnisse der Mine und ihrer Beschäftigten ausgerichtet gewesen und ohne wirtschaftlichen Effekt für die Wohnbevölkerung geblieben. Kennzeichnend ist ein hoher Importanteil der Verbrauchsgüter.
Schließlich müssen wir feststellen, daß dieses Projekt zu einer hohen Belastung der Flüsse Ok Tedi und Fly River durch Schwermetalle geführt hat. Jährlich werden nach den uns vorliegenden Informationen 60 bis 70 Millionen Tonnen Abraum und Erzabfälle in die Flüsse geleitet. Die Konzentration an Zyanid und Kupfer im Wasser des Flusses liegt weit oberhalb aller vernünftigen Grenzwerte und ist toxisch. Muß ich sagen, daß dank der Mitwirkung deutscher Unternehmen der Ok Tedi auf einer Länge von 160 Kilometern biologisch tot ist? Hinzu kommt die Anhebung der Flußbetten durch eingeleiteten Abraum, wodurch landwirtschaftlich genutzte Gebiete nun von Überschwemmungen bedroht sind und Fischfang nicht mehr möglich ist.
Unser Antrag fordert die Bundesregierung auf, über Anteilseigner und auf diplomatischem Wege Einfluß auf die Regierung in Papua-Neuguinea zu nehmen und auf die Einhaltung von ökonomischen und ökologischen Standards zu dringen sowie auf die Achtung der Menschenrechte hinzuwirken.
Vielleicht ist es naiv, aber ich frage dennoch: Warum handeln die beteiligten deutschen Unternehmen nicht von sich aus sozial verantwortlich? Warum verlangen z. B. die Aktionäre der Degussa von ihrem Unternehmen nicht sozial und ökologisch verantwortliches Handeln? Ich will keinen staatlichen Dirigismus, aber welche wirksamen Regulative müssen wir schaffen, um Unternehmen zu entwicklungspolitisch verantwortlichem Handeln zu veranlassen? Wir können doch nicht von den Menschen in den Entwicklungsländern fordern, daß sie bewußter mit den Ressourcen, mit der Natur umgehen, wenn deutsche Unternehmen in den Entwicklungsländern die schlimmsten Umweltverseucher sind.
Aber es gibt auch positive Beispiele. Ich denke, auch diese sollen genannt werden. Es gibt ein gemeinsames Projekt eines grünen Politikers, der einmal Mitglied der Fraktion der GRÜNEN gewesen ist, Willi Hoss, und des deutschen Automobilherstellers Daimler-Benz in Brasilien. Daimler-Benz hat 1 Millionen DM für ein Projekt zur Verfügung gestellt, bei dem nach grünen Konzepten die Wasserversorgung für die Bevölkerung im Amazonasgebiet möglich gemacht wird. Ich finde, das ist ein gutes Bündnis, ein Bündnis von grünen Ideen und Kapital.
Der Schwerpunkt dieses Projekts ist es, in einem Choleragebiet Trinkwasser zu entkeimen. Dabei werden einfachste Mittel verwendet. Es werden Sonnenkollektoren, Windräder oder Tretmühlen verwendet. Das Wasser wird anschließend mit einfachsten Mitteln entgiftet. Auf diese Art und Weise ist es möglich, für jeweils 600 DM einwandfreies Trinkwasser für 100 Menschen herzustellen. Davon betroffen sind etwa 20 000 Dörfer.
Daimler-Benz sagt: Das muß sich für uns rechnen. Es rechnet sich für das Unternehmen, denn ÖkologieEntwicklungshilfe ist eine Investition in die Zukunft. Gegenwärtig ist es noch so, daß weniger als 10 % der Entwicklungshilfe, die wir leisten, zur Erfüllung der Grundbedürfnisse der Armen dient, also der medizinischen Grundversorgung, der Grundschulerziehung, der Bereitung von Trinkwasser und der Familienplanung.
Ich denke, es gibt erhebliche Zweifel an den Selbstheilungskräften der Wirtschaft. Das zeigt das Beispiel Ok Tedi. Es gibt einige gute Beispiele. Wir müssen, so denke ich, gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, wie den Unternehmen ein Anreiz geboten werden kann, von sich aus sozial und ökologisch verantwortlicht auch in der Dritten Welt zu handeln und zu arbeiten.
Vielen Dank.
({8})
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Burkhard Zurheide das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Die Indikatoren für die vielen ungelösten globalen Probleme unserer Welt nehmen wir auch in Deutschland wahr. Flüchtlingsströme und Asylbewerber machen nur die Spitze eines unsichtbaren Eisbergs aus, dessen Kennzeichen Armut, Hunger und Umweltzerstörung sind. Auf diesen Ursachenzusammenhang hat erst kürzlich Bundesaußenminister Kinkel in diesem Hause dezidiert hingewiesen. Auf dieser Welt werden - auch insoweit hat der Außenminister recht - täglich Tausende von Kindern geboren, die von Geburt an nicht die geringste Chance auf ein menschenwürdiges Leben haben.
Die F.D.P. begrüßt daher ausdrücklich, daß der Bundesaußenminister angekündigt hat, er werde sich in ganz besonderer Weise und ganz besonders intensiv um die Probleme der Dritten Welt kümmern.
({0})
Es gibt, meine Damen und Herren, keinen Widerspruch zwischen Außen- und Entwicklungspolitik. Beide Politikbereiche sind integrale Bestandteile unserer auswärtigen Beziehungen, die gemeinsame Ziele verfolgen: Friedenssicherung, soziale Gerechtigkeit und das Hinwirken auf menschenwürdige Lebensverhältnisse überall auf dieser Welt.
Es besteht allerdings Veranlassung, darüber nachzudenken, auf welchem Weg wir diese Ziele am ehesten und am besten erreichen können. Es ist dabei zu fragen, wie zukünftig das Verhältnis zwischen der klassischen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit und der multilateralen Zusammenarbeit aussehen soll. Derzeit erreicht rund ein Drittel der Mittel der deutschen Entwicklungshilfe die Entwicklungsländer über multilaterale Organisationen und die Europäische Gemeinschaft. Für die Entwicklungsländer spielen die Organisationen der multilateralen Zusammen7742
arbeit eine wichtige Rolle. Es ist notwendig, die Ziele und Kriterien der Geberländer sowohl bilateral als auch multilateral aufeinander abzustimmen.
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Dies muß in einem partnerschaftlichen Dialog mit den Entwicklungsländern selbst erfolgen.
Im Umweltbereich hat die Weltbank zwischenzeitlich Maßstäbe gesetzt, die von den bilateralen Gebern und den regionalen Entwicklungsbanken für die Gestaltung einer umweltgerechten Entwicklungspolitik genutzt werden. Die Weltbank zielt auf eine konsequente Stärkung der Eigenverantwortung, des politischen Willens und der institutionellen Kapazität zur Lösung der Ressourcenprobleme in den betroffenen Ländern.
Trotz aller Schwierigkeit von Umweltverträglichkeitsprüfungen muß an ihrer Notwendigkeit festgehalten werden. Natürlich gibt es bei Entwicklungsgroßprojekten trotz allem Umweltprobleme. Dies gilt, soweit wir das gegenwärtig beurteilen können, z. B. auch für das Kupferbergbauprojekt am Ok Tedi. Wenn es zutrifft, daß infolge übermäßigen Abbaus Sedimentablagerungen in dem Fluß Ok Tedi auftreten mit der Folge, daß der Fluß ständig über seine Ufer tritt, umliegendes Land überschwemmt und giftige Sedimente ablagert, dann müssen sofort geeignete Gegenmaßnahmen getroffen werden.
Unsere Appelle an die Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen, müssen allerdings dann auch berücksichtigen, daß solche Rahmenbedingungen nur dann geschaffen werden können, wenn genügend wirtschaftlicher Spielraum vorhanden ist.
Aus diesem Grunde ist es wichtig, den Entwicklungsländern bei einer wirksamen Umschuldungspolitik zu helfen. Die Bundesregierung hat sich im Gläubigerkreis mit Nachdruck und Erfolg dafür eingesetzt, daß bei den Umschuldungsverhandlungen für Nicaragua eine besonders großzügige Regelung gefunden wurde. Es wurde doch tatsächlich eine 50prozentige Reduzierung eines Teiles der nicaraguanischen Schulden gegenüber öffentlichen Gläubigern erreicht. Die Bundesrepublik leistet nach Maßgabe der am 17. Dezember letzten Jahres unterzeichneten Vereinbarung einen Beitrag von 110 Millionen US-Dollar. Etwa die Hälfte hiervon entfällt auf Forderungen der früheren DDR. Die Summe konnte bereits jetzt um 50 % reduziert werden.
Durch Art und Umfang unserer Hilfe muß deutlich werden, daß wir denjenigen Ländern vorrangig helfen und helfen wollen, die eigene Anstrengungen zur Verbesserung ihrer Situation vornehmen und entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen schaffen.
Leider gehört Kuba noch nicht zu diesen Ländern. In Kuba sind keine überzeugenden Anzeichen dafür vorhanden, daß man dort den Wind der Demokratie und der Marktwirtschaft in das Land hereinlassen will, der schon in vielen anderen Ländern der Dritten Welt in den letzten Jahren für Veränderungen gesorgt hat. Es liegt mithin an Kuba selbst, die unerläßlichen
Voraussetzungen für eine Verbesserung der Beziehungen zu schaffen.
In vielen Ländern der Welt ist das größte Entwicklungshemmnis allerdings nach wie vor das ungebremste Bevölkerungswachstum. Geburtenraten von 2,5 % und mehr sind inakzeptabel. Die armutsbedingte Vernichtung natürlicher Ressourcen wird weiter zunehmen, falls es uns nicht gelingt, den Teufelskreis aus Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung und daraus resultierender verschärfter Armut zu durchbrechen.
Diesen ebenso schlichten wie eigentlich unbestreitbaren Zusammenhang hat in diesen Tagen der Vatikan in Abrede gestellt. Man mag mit der katholischen Kirche noch darüber streiten und diskutieren, ob ihre Ablehnung der künstlichen Verhütung unverantwortlich, wie ich meine, ist oder durch die Inanspruchnahme tiefer religiöser Überzeugungen gerechtfertigt ist. Es geht aber nicht an, daß man einen objektiven Tatbestand selbst leugnet, weil man erkannt hat, daß man sich in der Ablehnung der zu ziehenden Konsequenz heillos vergaloppiert hat.
Wer unbestreitbare Zusammenhänge leugnet, um einen Vorwand zu haben, sich an der Lösung eines Problems nicht zu beteiligen, verdrängt nicht nur die Wirklichkeit, er handelt schlicht unverantwortlich. Wäre die Situation nicht so ernst, könnte man der katholischen Kirche zurufen: Und sie bewegt sich doch! Wer glaubwürdig an der Bewältigung globaler Menschheitsprobleme mitwirken möchte, darf keine Tabus errichten. Dies gilt im übrigen nicht nur für die Kirchen, sondern für die Entwicklungsländer und die Industrieländer genauso.
Vielen Dank.
({2})
Die Abgeordnete Verena Wohlleben hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Herren und Damen!
Wer mit den Menschenrechten ernst macht, wer also alle wirtschaftlichen und sozialen Rechte, die darin verankert sind, allen Menschen geben will, ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer Sprache, ihrer politischen Überzeugungen, der nationalen oder sozialen Herkunft, der muß die Mauern zwischen den armen und den reichen Ländern einreißen.
Ich zitiere Egon Bahr aus dem Jahre 1975.
Sehr verehrte Herren und Damen, die Mauern sind inzwischen eingerissen. Die Menschen haben sich auf den Weg gemacht, um in die reichen Industrieländer zu kommen. Damit sind aber neue Mauern entstanden: die Mauern in den Köpfen und Herzen der Menschen in den Aufnahmeländern, so auch bei uns in Deutschland.
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Uns allen sind die Wahlkampagnen noch im Gedächtnis, mit denen Herren und Damen aus den konservativen Lagern mit dem Thema Flüchtlinge,
Fremdenfurcht und Fremdenhaß geschürt haben. Das Ergebnis dieser Diskussionen im Volksmund ist Angst: Angst vor Flüchtlingsströmen, Angst vor Flüchtlingsschwemme, Angst vor Asylantenschwemme und nicht zuletzt - das haben die Menschen bei diesen Diskussionen eigentlich immer im Hinterkopf - die Angst, etwas vom eigenen Wohlstand abzugeben. Es gibt aber auch die Angst der reichen Minderheit der Industriestaaten vor der armen Mehrheit der Dritten Welt. Angst ist kein guter Ratgeber. Sie dient der Panikmache, aber wenig der Sache. Es geht nicht um die Abwendung eines Schreckgespenstes; es geht vielmehr um die nüchterne Tatsache, daß wir nicht nur über die Flüchtlingsströme diskutieren dürfen, sondern auch handeln müssen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges ist in unserer Welt nichts mehr so wie bisher. Mauer und Eiserner Vorhang hatten die Wanderung von Ost nach West aufgehalten. Und heute? - Not, Bürgerkrieg, Umweltzerstörung und Hoffnungslosigkeit der Menschen, zu Lebzeiten noch eine Besserung zu erfahren, sind Motive der Wanderungsbewegungen. Hinzu kommt die instabile, von lange aufgestauten Spannungen geladene Atmosphäre in den Umbruchstaaten Ost- und Südosteuropas.
Wir können nicht länger wegschauen, z. B. vor Hungersnöten in den Entwicklungsländern, während sich bei uns das tägliche kleine Gespräch um die Figur dreht. Wir müssen uns den wirklichen Problemen stellen. Die Probleme der Wanderungen liegen damit weniger in der speziellen politischen Verfolgung, die es natürlich auch gibt, als vielmehr in der allgemeinen existentiellen Katastrophe von Millionen Menschen - nicht irgendwo in der Welt, sondern ganz nahe um die Ecke und in Reichweite unseres westeuropäischen Werbefernsehens. Hierüber müssen wir nachdenken, und diesen Aufgaben müssen wir uns stellen, wenn das Wohlstandsgefälle in Europa und in der Welt so bleibt, wie es ist.
Wir brauchen eine neue Sicherheitspolitik. Das ist nach meinem Verständnis in der Zukunft nicht mehr allein Militärpolitik, sondern immer mehr - und bald in erster Linie - Entwicklungspolitik.
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Das ist der große Themenwechsel, den wir herbeiführen müssen. Wir müssen die Ursachen der Flucht bekämpfen und nicht die Flüchtlinge. Die heutigen Fluchtbewegungen sind Folgen des Versagens der Außen- und Entwicklungspolitik, sie sind Folge der Nachlässigkeit der Regierenden, z. B. bei der Kontrolle von Waffenexporten. Hier müssen wir ansetzen, nicht die Folgen bekämpfen, die der Westen mit seiner häufig zynischen doppelten Moral selbst verursacht hat.
Die Herkunftsländer sind bekannt. Warum wird z. B. die Türkei, die die Kurden so drangsaliert oder quälen läßt, nicht noch massiver unter Druck gesetzt? Es war doch die deutsche Bundesregierung, die die
Waffen geliefert hat, mit denen die Kurden ohne Ansehen der Person bekämpft worden sind.
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Und heute kann man in der „Süddeutschen Zeitung" lesen, daß Bundesaußenminister Kinkel den Auswärtigen Ausschuß darüber informieren wird, daß die Rüstungslieferungen an die Türkei nach Auffassung der Bundesregierung wieder aufgenommen werden können. Ich frage mich: Wer wagt es, da zu schreien, wenn die Opfer, soweit sie durchkommen, die Flüchtlingszahlen vermehren?
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Was geschieht, um den Menschen in Osteuropa eine Ausbildungs- und Arbeitsperspektive zu geben? Wir im Westen müssen unsere Politik ändern und endlich die Ursachen der Fluchtbewegungen anpacken, bekämpfen und überwinden, bevor sie nicht mehr beherrschbar sind. Not kennt kein Gebot!
Kann man die Flüchtlingsströme vermindern? - Ja, aber nicht von heute auf morgen. Zuviel ist falsch gelaufen, zu viele bewußte Fehler wurden gemacht, und zuviel wurde versäumt. Aber die Notwendigkeit bleibt. Die Probleme Hunger, Unterernährung, kriegerische Auseinandersetzungen, Vormacht des Militärs können nur gelöst werden, wenn alle Nationen auf der Welt bereit sind, Abhilfe zu schaffen.
Es geht nicht um die Probleme in der Dritten Welt; es geht um unsere Welt, die wir erhalten sollen und müssen. Um unsere Welt zu erhalten, sind alle gefordert. Alle Industrienationen müssen sich verpflichtet fühlen - ich bitte Sie: Machen Sie Ihren Einfluß geltend! -, ebenso alle Ministerien, auch das Außen-und Wirtschaftsministerium. Denn - das muß uns allen klar sein - in einem Meer von Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung läßt sich keine Insel des Wohlstands halten, auch unsere nicht.
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Jede Kleinkariertheit im Denken und im Handeln - ich denke z. B. an Marktabschottung und Billigexporte im Agrarbereich, an die Kaffeepreise, die im Keller sind - zeugt von Verantwortungslosigkeit hinsichtlich eines menschenwürdigen Zusammenlebens auf der Erde.
In den Fragen der Entwicklungspolitik spielen auch Frauen eine zentrale Rolle. Fehlende Gleichberechtigung oder gar Unterdrückung, wirtschaftliche Abhängigkeit und mangelnde Bildung führen dazu, daß die Frauen nur in den Kindern Selbstwertgefühl und Anerkennung erfahren. Gerade hier ist ganzheitliche, integrale Entwicklung gefordert, nicht nur wirtschaftliche Unabhängigkeit, sondern auch rechtliche und soziale Gleichstellung mit dem Mann. Dafür kämpfen wir ja im eigenen Land und haben hier bis heute noch nicht die Verwirklichung der Gleichstellung geschafft. Wir müssen also auch im eigenen Land etwas verändern. Wie wollen wir das sonst alles in den Entwicklungsländern schaffen! Die Veränderung der Stellung der Frauen ist nun einmal wichtig für den Entwicklungsprozeß ihrer Länder.
An wichtiger Stelle steht nun einmal die Bildung, die Ausbildung und die Weiterbildung. Ganz eng damit hängt die medizinische Versorgung zusammen, die die Notwendigkeit verringert, viele Kinder zur Welt bringen zu müssen, um so quasi eine Lebensversicherung durch die Kinder zu haben. Die Kinder haben aber doch gar keine Zukunftsperspektive in ihren Ländern, wenn die Länder auf dem heutigen Stand bleiben. Das ist die Generation von morgen, die sich dann auf den Weg macht und ihr Land im Stich läßt.
Integrierte Programme verbinden die Familienplanung mit der Bildungs- und Gesundheitsförderung gerade von Frauen und beachten dabei aber auch das eigene Gewicht kultureller und religiöser Traditionen - Bildung, damit die Hoffnungen der Eltern auf die eigene Zukunftsperspektive und Hoffnungen hinsichtlich der Zukunft der Kinder und die Aussichten der Frauen verbessert werden, um zu sozialer Sicherung und zu anderen Formen der Alterssicherung zu kommen.
Erst dann, wenn Menschen aufgeklärt werden durch ein funktionierendes Schulwesen, durch Ausbildungsmöglichkeiten, daß sie z. B. auch wissen, was Gesundheit bedeutet, hilft unsere Entwicklungshilfe auch etwas.
Mehr für die Bildung in den Entwicklungsländern zu investieren heißt aber auch, in unserem eigenen Land mehr für Bildung zu investieren; denn nur dann, wenn wir unsere Kinder darauf hinweisen und für die eine Welt verantwortlich machen, wenn sie auch Verständnis für die Menschen haben, die in einem anderen Teil der Erde leben, sind sie auch bereit zu helfen, ihr eigenes Denken und Handeln zu verändern und mitzuhelfen für diese eine Welt.
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Eines dürfen wir dabei nie vergessen: Wenn wir versuchen, unser System - oder unsere Systeme - den Menschen in den Entwicklungsländern einfach überzustülpen, dann kann das nur mißlingen. Soll Entwicklungspolitik im weitesten Sinne gelingen, geht das nur im Dialog. Nur miteinander ist es möglich, etwas auf der Welt zu verändern, damit Fluchtursachen immer weniger werden. Ich begrüße es deshalb, meine Herren und Damen von der Koalition, daß auch Sie jetzt einen Antrag zum Thema der Fluchtursachenbekämpfung eingebracht haben. Ich hoffe und wünsche mir, daß Sie zur Zusammenarbeit bereit sind, und bitte Sie, der Überweisung unseres Vorschlags zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
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Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! In dieser entwicklungspolitischen Debatte darf ich mich wie meine Vorrednerin zunächst den zwei Anträgen zuwenden, die sich mit entwicklungspolitischen Maßnahmen zur Minderung von Asyl- und Flüchtlingsproblemen und mit der Bekämpfung der Fluchtursachen auseinandersetzen, sowie zwei weiteren Anträgen, entwicklungspolitische Chancen in Umbruchsituationen zu nutzen und den Demokratieprozeß in Äthiopien und Eritrea zu unterstützen. Die beiden hängen aufs engste mit dem Fluchtthema zusammen.
Vorweg möchte ich gerne eines sagen, Frau Kollegin Wohlleben, was nicht ganz mit Ihrem Bild des konservativen Politikers übereinstimmen mag: Die Menschen sind viel beweglicher geworden, als sie es früher gewesen sind. Ich habe einmal gefragt: Wie viele Ausländer sind im Jahre 1989 in die Bundesrepublik eingereist? Die Antwort der Bundesregierung, die in einer Fragestunde gegeben wurde, war: 140 Millionen, also mehr als doppelt soviel, wie wir Bürger in der Bundesrepublik haben. Im Beherbergungsgewerbe haben davon 14 Millionen übernachtet; die anderen sind noch schneller durchgefegt.
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Flüchtlinge sind in diesem Jahr 129 000 gekommen.
Ich möchte diese Relationen erst einmal vorweg sagen, um zu zeigen, daß die Zahl der Menschen, an der ich die Beweglichkeit der Menschheit, die Handel und Wandel und Wohlstand fördert, aufgezeigt habe, unendlich viel größer ist als die Zahl derer, die ihre Flucht aus Elend antreten.
Im Unterschied zu dieser Beweglichkeit, die aus Wohlstand entsteht, ist das unfreiwillige Wandern immer schmerzlich. Es ist vertrieben werden, es ist sein nacktes Leben retten, es ist Lebensumstände suchen, die wenigstens ein Minimum an Lebensstandard und Menschenwürde garantieren können.
Was der Deutsche Bundestag im Antrag „Der entwicklungspolitische Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlingsproblemen" am 27. Januar 1989 beschlossen hat, gilt nach wie vor. Erfreulich ist, daß nach gründlicher Beratung durch eine interministerielle Arbeitsgruppe zahlreiche Gedanken des damaligen Antrages in die Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung übernommen wurden. Der Grund, warum wir uns aber erneut mit dem Thema befassen, ist der, daß sich die Probleme zwar noch deutlicher verschärft haben, daß aber die Chancen, Lösungsansätze weiterzuentwickeln, besser geworden sind; beides hängt zusammen.
Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat einerseits neue Krisenherde und Fluchtursachen geschaffen; über 60 % der heute die Bundesrepublik erreichenden Flüchtlinge kommen heute aus Europa und nicht aus der Dritten Welt. Die Chance liegt aber darin, daß die Fluchtursachenbekämpfung in einer Welt, in der nicht jeder Regionalkonflikt gleich durch einen weltweiten Ost-West-Konflikt überlagert wird, leichter geworden ist. Deshalb gehören der Koalitionsantrag „Entwicklungspolitische Maßnahmen zur Minderung der Asyl- und Flüchtlingsprobleme " und der der Opposition „Bekämpfung von Fluchtursachen" einerseits und die Anträge andererseits zusammen, bei denen an Einzelbeispielen von Ländern
aufgezeigt wird, wie wir entwicklungspolitische Chancen in Umbruchsituationen nutzen können.
Lassen Sie mich nur drei Grundakkorde anschlagen. Erstens: die Einwirkung auf die Fluchtursprungsländer. Nichts lastet schwerer auf der Bevölkerung eines Landes als die Verselbständigung von Bürgerkriegsarmeen. Wir erleben dies heute in Jugoslawien und werden es, fürchte ich, auch weiterhin im Osten erleben.
Lassen Sie mich ein anderes Beispiel wählen: Nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges ist es in Angola gelungen, die einstigen Gegner in einem Vertrag auf den Weg der Versöhnung, des Demokratisierungsprozesses und von Wahlen zu bringen. Voraussetzung, damit dies gelingt, ist die Demobilisierung der Bürgerkriegsarmeen.
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Schwerter in Pflugscharen umzuschmieden als bildungspolitische Aufgabe: Ausbildung ehemaliger Soldaten zu Bauern und Handwerkern. Wir sollten hier zusammen mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Europäischen Gemeinschaft einen Schwerpunkt setzen.
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Ein anderes Beispiel: Der Aufbruch in Äthiopien wird nur dann gelingen, wenn die zentralistische Herrschaft einiger Clans nicht durch die einiger anderer schlichtweg ersetzt wird.
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Der Demokratisierungsprozeß in Äthiopien und Eritrea muß deswegen begleitet und ermutigt werden. Mit das Wichtigste, was wir Deutschen in diesem Prozeß beisteuern könnten, wäre die Hilfe zum Verwaltungsaufbau föderaler Strukturen.
Über die Entwicklungspolitik hinaus ist hier die Außenpolitik gefordert, vor allem aber dort, wo der Rettungs- und Genesungsprozeß erst beginnen muß, z. B. im Sudan oder in Somalia.
Zweitens: Hilfe für Nachbarländer. Immer noch gilt, daß die überwiegende Mehrzahl der Fluchtbewegungen aus ärmsten Ländern der Dritten Welt in ärmste Länder dieser Region erfolgen. Hilfe für Nachbarländer ohne verewigte Lagersituationen bleibt hier ein entscheidender Bestandteil der Flüchtlingskonzeption.
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Bei der Hilfe für Nachbarländer möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen, der begreiflicherweise noch vielfach auf Skepsis stößt. Wer sich intensiver mit Fluchtbewegungen beschäftigt, erkennt mit Überraschung, daß der Wunsch, die Heimat zu bewahren, so stark ist, daß auch viele Unannehmlichkeiten in Kauf genommen werden. Endgültiger Exodus beginnt immer erst dann, wenn sich Hoffnungslosigkeit breitmacht.
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Wir kennen hier Beispiele aus dem kurdischen Bereich ebenso wie aus dem christlicher Gruppen in der Türkei. Ein entscheidender Beitrag zur Minderung von Fluchtelend könnte deshalb die Schaffung sicherer Städte und Stätten sein.
Wenn ich das Thema mit unserer Asyldiskussion in Verbindung bringen darf: Viele der bei uns Schutz Suchenden oder wegen Rückkehrangst Verbleibenden würden lieber im eigenen Kulturkreis wohnen, wenn es da nur irgendeine Zukunftsperspektive gäbe.
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Es müßte zu den wichtigsten außen- und entwicklungspolitischen Bemühungen gehören, inländische Fluchtalternativen oder solche in Nachbarländern schaffen und garantieren zu helfen und nicht nur auf deren Möglichkeit in richterlichen Entscheidungen hinzuweisen.
Drittens. Vorbereitung von Flüchtlingen auf die Rückkehr und Hilfe in diesem Prozeß gewinnen zunehmend an Bedeutung. Vielleicht war früher die Hoffnungslosigkeit von Konflikten, wie etwa in Afghanistan, daran schuld, daß man zuwenig auf die Rückkehrsituation vorbereitet hat. Zerstrittene Oppositionsgruppen müssen ins Gespräch gebracht werden. Ausbildungen müssen die Rückkehrsituation im Auge behalten. Rückkehrhilfe kann den Start zum Wiederaufbau erleichtern. Herr Bundesminister, ich bin sehr dankbar, daß Sie in Zukunft in diesem Bereich einen Schwerpunkt setzen wollen.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hans-Günther Toetemeyer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigentlich sagen: Wir sind wieder einmal unter uns. Das stimmt aber nicht. Ich begrüße all diejenigen, die nicht Mitglied im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit sind.
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Ich glaube, es ist gut, daß wir diese Debatte führen. Es zeigt sich wieder einmal, wie groß die Übereinstimmung ist.
Ich möchte zu einem konkreten Thema Stellung nehmen - Sie haben das sicherlich erwartet -, nämlich zu unserem Namibia-Antrag. Ich darf Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch einmal daran erinnern, daß wir uns am 15. März 1989 einig waren - ich zitiere aus unserem damaligen Antrag -, „diesem Lande schnell und umfassend zu helfen".
Nun sind mehr als drei Jahre vergangen, und wir haben zu fragen: Ist diesem einmütigen Wunsch des Bundestages Folge geleistet worden? Was aber ist passiert? Es ist das alte Instrumentarium angewandt worden. Dies wollten wir nicht. Der Kollege Graf von Waldburg-Zeil wird sich an unsere Diskussion 1989
erinnern; er hat es damals noch sehr viel schärfer formuliert, als es nachher im Antrag stand.
Als Entwicklungspolitiker wissen wir, daß dieses Instrumentarium schwerfällig ist. Dadurch ist es eben dazu gekommen, daß die bereits im Haushaltsplan 1990 als Verpflichtungsermächtigung bereitgestellten 100 Millionen DM sowie die weiteren 40 Millionen DM im Haushaltsplan 1991, die wir in den Haushaltsgesetzen beschlossen haben, bis heute, dreieinhalb Jahre später, noch nicht umgesetzt worden sind.
Das ist das Kernproblem. Hier wird überhaupt kein Vorwurf gegenüber irgendeinem Minister oder irgendeinem Staatssekretär erhoben. Ich weiß, wie sich Hans-Peter Repnik sehr intensiv eingesetzt hat. Das Problem ist ein ganz anderes: Die Bürokratie hat gesiegt. Sie kennen das alte Wort: Es ist schon immer so gewesen, da kann ja jeder kommen und etwas neues fordern. Das heißt, die Bürokratie des BMZ hat uns, den Deutschen Bundestag, vorgeführt.
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Es ist bedauerlich, dies anzumerken. Nun hoffe ich - wir werden den Antrag ja an den Ausschuß überweisen -, daß wir gemeinsam wieder, wie damals, zu einer Beschleunigung dieses nun einmal eingeleiteten bürokratischen Verfahrens kommen.
Bundesminister Klein hatte damals in der Debatte - leider sitzt er als Präsident nicht mehr hinter mir; sonst hätte ich ihn selbst ansprechen können - gesagt:
Wir müssen umfassend und schnell deutsche Hilfe beim Aufbau eines unabhängigen Namibia leisten.
Ich will das, was da passiert ist, nur an einem einzigen Objekt deutlich machen. Es gibt im Norden des Landes - Charly Hornhues ist nicht mehr da; er kennt es genauso gut wie ich; Graf von Waldburg-Zeil wahrscheinlich auch - ein schon vorhandenes Wasserprojekt; das Wasser läuft offen durch das Land. Die Auffassung der Regierung ist auch die Auffassung der KfW und aller Leute, die das geprüft haben: Dies muß aus drei Gründen kanalisiert werden: erstens, damit nicht zuviel Wasser verdunstet; zweitens, damit die überflüssigen Donkeys - die Esel, die dort in viel zu großer Zahl herumlaufen, weil sie Statussymbol sind - nicht an das Wasser gehen und es trinken; drittens, damit die Leute nicht sowohl Wäsche waschen als auch Trinkwasser diesem offenen Kanal entnehmen.
Das alles ist bekannt. Trotzdem geht es nach dem alten Verfahren: Im Mai 1990 - das muß man sich einfach vorstellen - beginnt die Diskussion mit der Regierung in Namibia über dieses Projekt, also über die Verrohrung des offenen Wasserkanals. Das BMZ leitet einen Prüfbericht an die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Diese prüft, sie schickt den Prüfbericht zurück. Er bleibt fünf Monate im BMZ liegen. Im November 1991, also zweieinhalb Jahre später, wird der Vertrag, weil das ein FZ-Projekt ist, zwischen der KfW und der Regierung in Namibia geschlossen. Passiert ist seit der Zeit nichts.
Nun ein Vergleich: Die französische Regierung, die sich sehr intensiv um dieses Land bemüht, hat genau zur gleichen Zeit, nämlich im Mai 1990, Überlegungen mit der namibischen Regierung angestellt, welchen Teil sie neben der deutschen Entwicklungshilfeleistung übernehmen sollte. Bereits ein Jahr später - da war der Vertrag zwischen der KfW und der namibischen Regierung noch nicht abgeschlossen - hat sie schon mit den Arbeiten begonnen.
Als eine Delegation der deutsch-afrikanischen Parlamentariergruppe Anfang Februar in Namibia war, mußte sie erleben, daß der französische Entwicklungshilfeminister im Lande war, die ersten 10 km einweihte und uns die zuständigen Leute der Regierung fragten: Was wird denn mit euch? Inzwischen ist unter französischer Hilfe mit weiteren 20 km begonnen worden. Bei uns ist immer noch nichts passiert.
Statt dessen hat man drei Feasibility-studies in Auftrag gegeben und dafür schon 4 Millionen DM an deutsche Consultants ausgegeben. Das Geld ist also nicht nach Namibia geflossen. Es handelte sich - darüber kann man denken, wie man mag - um eine Studie über den notwendigen Bedarf, um eine Studie über die Wirtschaftlichkeit, um eine Studie über die Umweltverträglichkeit. Das ist an sich sehr sinnvoll. Aber in diesem konkreten Falle waren das alles schon vorher beantwortete Fragen.
Ich habe mit den Herren der KfW sehr lange darüber diskutiert. Sie haben mir gesagt, Ökonomie sei die Grundlage. Ich habe gesagt, liebe Leute, das Problem ist doch, daß die Menschen im Ovamboland jahrhundertelang so gelebt haben: Wo Wasser ist, nehmen wir das Wasser, und wenn kein Wasser mehr da ist, gehen wir woanders hin. Ihnen jetzt zu sagen, wir zwingen euch, für das Wasser zu bezahlen, dies bedeutet ihren kulturellen Hintergrund zu mißachten. Ich bin mit der KfW der Auffassung, daß langfristig für das Wasser bezahlt werden muß. Dies aber zur Voraussetzung des Baubeginns zu machen - es ist Bestandteil des Vertrages -, halte ich für unmöglich. Wenn wir so weitermachen, kommen wir noch weiter von unserer einmütigen Meinung vom März 1989 weg.
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Der Denkfehler der Bürokratie einschließlich der Organisationen, die dafür zuständig sind - bei der FZ ist das die KfW -, ist: Es wird - ohne Rücksicht auf die spezifische Besonderheit dieses Landes und ohne Rücksicht auf die Meinungsbildung - nach alten Kriterien verfahren. Dies muß geändert werden; denn sonst nimmt uns in Namibia kein Mensch mehr ernst.
Ich kenne das Gegenargument, das im Ausschuß von der Bundesregierung immer wieder vorgetragen worden ist. Sie hat gesagt: Das hat so lange gedauert, weil wir uns über die finanziellen Konditionen nicht einig werden konnten. Da kann ich nur sagen - ich will das jetzt nicht bewerten -: Wir waren Ende 1990, Anfang 1991 schnell bereit, 250 Millionen DM ohne jede Bedingung als budget aid an die Golfanrainerstaaten zu geben. Ich hätte die Hilfe an Namibia ohne jede Bedingung für falsch gehalten. Denn ich möchte nicht - ich sage das aus einem sehr konkreten Grund -, daß budget aid dafür benutzt wird, daß sich
der Präsident dafür ein Flugzeug kauft. Ich hätte es an Bedingungen gebunden, aber ich hätte budget aid gegeben, weil die dringend nötig waren, um große Rückstände, vor allem im Norden des Landes, aufzuholen.
Ich möchte heute noch einmal appellieren, daß wir hier - an diesem konkreten Beispiel wollte ich das gerne deutlich machen - pushen, damit es schneller geht. Nicht die Bundesregierung, das deutsche Parlament, wir werden unglaubwürdig gegenüber Namibia, wenn wir hier nicht für Beschleunigung sorgen.
Ein Letztes - das halte ich in der Tat für eine Mißachtung des Willens des Parlaments -: ECOSOC - das ist der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen - hat schon im Mai 1991 gesagt: Wir sind bereit, für eine Übergangszeit - ich habe das im Antrag in der englischen Urfassung zitiert -, Namibia als LDC-Land zu akzeptieren. Ich weiß, daß der Minister - er muß hier die Bundesregierung vertreten, deswegen kann er dazu nichts sagen - in die gleiche Richtung denkt. Aber der Finanzminister der Bundesrepublik weigert sich, diesen Beschluß von Genf, der verstärkt worden ist durch einen Beschluß der UNO-Generalversammlung vom Dezember letzten Jahres, durchzuführen. Er sagt: Mich interessiert nicht, was die UNO da beschlossen hat. Es gibt nach wie vor nur Darlehen. Es gibt nur loans, es gibt keine grants. Wenn ein Parlament sich das von seinem Finanzminister gefallen läßt, ist es selber schuld, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das heißt, so geht es nicht.
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Hier müssen - der Finanzminister gehört ja derselben politischen Gruppierung an wie der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, der hochwohllöblichen CSU ({4})
sich die zwei Minister einmal untereinander verständigen, wie ernst die Bundesregierung Beschlüsse der UNO nimmt. Das kann so nicht weitergehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe an einem Beispiel deutlich gemacht, wie es mit unserer Hilfe für Namibia steht. Das Wasserprojekt ist ganz wichtig für dieses Land, gerade jetzt in der Dürreperiode; denn auch Namibia, das es schwer hat, leidet unter der gegenwärtigen Dürreperiode. Aber noch immer haben die Deutschen nichts für das Wasser getan. Also nicht immer nur darüber reden, sondern handeln.
Wenn wir uns nicht selber darum kümmern, daß unser Beschluß vom März 1989 eingehalten wird, sind wir es selbst schuld. Dies wäre ein Armutszeugnis für dieses Haus.
Danke schön.
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Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Anneliese Augustin das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wer, wie wir alle, Schöpfung bewahren, privates Engagement fördern und die Umsetzung von Umweltmaßnahmen beschleunigen will, der darf die größte Gefahr, die uns allen droht, nicht einen Augenblick aus dem Auge lassen. Ich denke an das rasante Wachstum der Bevölkerung auf unserem Planeten.
Was ich Ihnen hier zeige, ist ein Computer, auf dem man taufrisch, Minute für Minute ablesen kann, wie der augenblickliche Stand unserer Weltbevölkerung ist. Ich habe die Zahl eben abgelesen. Wir sind im Augenblick bei 5 471 323 114 Menschen auf diesem Planeten angelangt.
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In einer Minute werden wir weltweit 180 Menschen mehr sein. Wenn ich meinen fünfminütigen Beitrag beendet habe, sind wir netto 900 Menschen mehr auf dieser Welt.
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- Es sterben halt immer ein paar Menschen, lieber Herr Toetemeyer.
Wenn wir dieser Bevölkerungsexplosion tatenlos zusehen, wird sich die Weltbevölkerung bis zum Jahre 2050 verdoppelt haben, auf 11 Milliarden, mehr, als unsere Erde auf Dauer tragen kann.
Wenn es uns nicht gelingt, dieser gefährlichen Entwicklung Einhalt zu gebieten, werden sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt in den Entwicklungsländern Illusion bleiben. Alle Anstrengungen zur Bewahrung der Schöpfung werden ins Leere laufen. Die Hoffnung, Flüchtlingsströme zum Abebben zu bringen, wird einer bitteren Enttäuschung weichen müssen.
Das rasante Anwachsen der Weltbevölkerung gefährdet das ökologische Gleichgewicht auf unserer Erde ohne Zweifel ebenso stark wie die Umwelt, die heute in Rio auf der Tagesordnung steht. Den Erhalt der Artenvielfalt, den Erhalt der Wälder, der Flora und der Fauna können wir in den Sand schreiben. Wenn wir nicht wollen, daß das Leben für alle Erdbewohner eines Tages ein abruptes Ende findet, muß die Umweltgefährdung durch das atemberaubende Bevölkerungswachstum massiv eingedämmt werden. Wir müssen Bevölkerungspolitik und Familienplanung endlich als das erkennen, was sie sind: als die wichtigsten Felder zur Sicherung unseres Planeten. Bevölkerungspolitik und Familienplanung gehören unabdingbar zu den Grundpfeilern einer Welt, die überleben möchte.
Was ist zu tun? Neben den notwendigen Maßnahmen im Umweltbereich zum Schutz der Wälder, der Flüsse und der Seen sollten möglichst zeit- und ortsgleich alle Anstrengungen unternommen werden, die geeignet sind, der Bevölkerung in den Entwick7748
lungsländern Familienplanung näherzubringen und zu ermöglichen: näherzubringen durch Information und Aufklärung möglichst durch einheimische, gut geschulte Mitarbeiter und zu ermöglichen durch ein entsprechendes Angebot an Kontrazeptiva zu erschwinglichen Preisen.
Angebote zur Familienplanung dürfen jedoch nicht isoliert dastehen. Sie müssen mit dem Aufbau eines Netzwerkes von Basisgesundheitsdiensten einhergehen, in welchen neben der Aufklärung über Säuglingsernährung und Säuglingshygiene Arzneimittel und Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden. Aber auch verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten insbesondere für Frauen, verbesserte Berufschancen, beispielsweise durch Gewährung von Kleinkrediten, sind selbstverständlich Teil einer effizienten Familienplanung. Es heißt ganz lapidar im Weltentwicklungsbericht der Weltbank: Eine Verbesserung der Ausbildung der Mädchen dürfte in Afrika und anderen Entwicklungsregionen die wichtigste langfristig wirkende Umweltschutzmaßnahme darstellen.
Erfreulicherweise können wir feststellen, daß die Akzeptanz von Familienplanung sowohl bei den in Frage kommenden Regierungen als auch bei den betroffenen Paaren enorm gestiegen ist. War es 1959 allein Indien, das eine aktive Bevölkerungspolitik in unserem Sinne praktizieren wollte, so waren es 1989 bereits 63 Regierungen, die der Familienplanung positiv gegenüberstanden. Bis zum Jahre 2000 werden etwa 600 Millionen Paare Bedarf an Familienplanung haben.
Frau Abgeordnete Augustin, wenn Ihre imponierende Rechnung von eben stimmen soll, müssen Sie jetzt freundlicherweise aufhören. Oder Sie berechnen neu.
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Herr Präsident, ich komme zum Ende.
Mit großem Dank können wir feststellen, daß sowohl im eigenen Land als auch multilateral auf diesem Gebiet enorm viel geleistet worden ist. Da das noch nicht ausgereicht hat, darf ich Sie schon heute um Ihr engagiertes Eintreten insbesondere in den anstehenden Haushaltsberatungen zu diesem Punkte bitten.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
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Der Abgeordnete Arno Schmidt hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Afrika - der vielversprechende politische Wandel in vielen afrikanischen Ländern einerseits und Bürgerkriege oder Dürrekatastrophen andererseits erfordern ständig unsere Aufmerksamkeit. Doch der Geist der Demokratie erfaßt mittlerweile den gesamten Kontinent. Unsere Aufgabe ist es, wo immer Ansätze und Entscheidungen für einen Demokratisierungsprozeß zu finden sind, Hilfen anzubieten.
Dort, wo man sich auf die Durchführung von Wahlen verständigt hat, können wir bei der Wahlvorbereitung behilflich sein. Wo eine demokratische Verfassung erarbeitet werden soll, können wir unsere Erfahrung anbieten. Ebenso können wir unser Know-how in Bildungs- und Ausbildungsmaßnahmen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und vor allen Dingen Verwaltung, wo gewünscht, zur Verfügung stellen, auch für Führungskräfte.
Dort, wo noch Bürgerkrieg oder politische Unsicherheit herrschen, sollten wir die Reformkräfte nachhaltig stützen, wohl wissend, daß jedes afrikanische Land auf seinen eigenen Traditionen aufbaut und sich daher jeder demokratische Aufbau anders vollziehen und entfalten kann. Immer aber läßt die Einführung demokratischer Strukturen auf wirtschaftliche und politische Reformen hoffen, die Ansätzen marktwirtschaftlicher Entfaltung Raum geben können.
Im südlichen Afrika kommt dabei der Entwicklung länderübergreifender Wirtschaftsräume besondere Bedeutung zu, deren stabilitätsfördernde Wirkung auf die beteiligten Staaten nicht unterschätzt werden sollte. Wir sollten daher vor allem grenzüberschreitende Projekte fördern.
Auch mit Blick auf Äthiopien und Eritrea gilt es, den demokratischen Prozeß nachhaltig zu unterstützen. Wie wir vorhin von Minister Spranger hörten, wird um des Aufbaus des Landes willen die Reintegration rückkehrwilliger Äthiopier und Eritreer aus der Bundesrepublik durch entsprechende Projekte gefördert. Wie mir gesagt wurde, stehen dafür in diesem Jahr 12 Millionen DM zur Verfügung.
Die Entscheidung über die Selbständigkeit Eritreas wird Mitte nächsten Jahres durch ein Referendum getroffen werden. Erst dann kann die völkerrechtliche Anerkennung Eritreas mit allen Konsequenzen erfolgen.
Im Sudan erfordern der neunjährige Bürgerkrieg und die groben Menschenrechtsverletzungen ein nachhaltiges Drängen der Bundesregierung auf die Einhaltung zentraler demokratischer Prinzipien gegenüber den herrschenden Militärs.
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Wir verurteilen die anhaltende Offensive der sudanesischen Armee gegen den Südsudan. Die Leidtragenden in der Zivilbevölkerung waren mehrere Wochen vom internationalen Hilfsgüternachschub abgeschnitten. Dort, wo die Regierung, aber auch wo Rebellen mit der Not der Menschen Politik treiben, muß die Bundesregierung gegenüber Khartum auf Lösungen insistieren, die ein Ende des Bürgerkrieges und den Autonomiestatus des Südens zum Inhalt haben.
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Mit Blick auf Angola bleibt zu hoffen, daß der Friedensprozeß weiterhin grundsätzlich positiv verArno Schmidt ({2})
läuft. Die Entwicklungszusammenarbeit muß schon jetzt vorbereitet werden,
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um dem gebeutelten Land den Aufbau und die Stabilisierung demokratischer Strukturen zu erleichtern.
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Die DDR führte dort ja nur eine mehr personelle Hilfe durch.
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Trotz aller Schwierigkeiten, die auch weiter das Bild Afrikas bestimmen werden, sind wir doch zuversichtlich, daß die Völker Afrikas auf ihrem Weg in eine freundlichere Zukunft weiter vorangehen werden. Wir sollten sie auf diesem Weg immer wieder unserer Unterstützung versichern und ihnen unsere tatkräftige Hilfe angedeihen lassen.
Ich danke.
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Als letzter spricht der Abgeordnete Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das reichste Fünftel der Welt konzentriert auf sich mehr als 80 % der Weltproduktion, mehr als 80 % des Welthandels, fast 95 % der Geschäftskredite und mehr als 80 % der Investitionen. Das ärmste Fünftel der Welt verfügt über nicht einmal 1,5 % der Weltproduktion. Sein Anteil am Welthandel beträgt 1 %, an den Geschäftskrediten gar nur 0,2 % und an den Investitionen lediglich 1,3 %.
Diese Zahlen zeigen, wie riesig die Kluft zwischen der Ersten Welt und der Dritten Welt, besonders dem ärmsten Teil dessen, was auch fortschrittliche Ökologen etwas willkürlich als die Dritte Welt bezeichnen, ist.
Eine noch deutlichere Sprache sprechen die ständig zu uns kommenden Berichte über Hunger und Krankheit, Not und Elend und über auch von dieser Not erzwungene Umweltzerstörungen in der Dritten Welt.
Die Grundlagen für diesen Hunger, diese Not und ihre Folgen sind in der Zeit des Kolonialismus durch uns Europäer gelegt worden. Das ist unsere historische Schuld. Sie verpflichtet uns, wirkliche Opfer zur Hilfe für die Dritte Welt zu erbringen.
An die Stelle des früheren Kolonialismus und offenen Imperialismus ist seit längerem der vor allem wirtschaftlich und industriell verdeckte Imperialismus der hochentwickelten Industrieländer, d. h. die Beherrschung der Dritten Welt über vor allem ökonomische Beziehungen getreten. Wer aber das industrialistische Modell der hochentwickelten Länder, vor allem also der Triade Amerika, Europa, Japan in die Dritte Welt exportieren will, löst die Probleme im Süden unseres Planeten nicht, sondern verschärft sie, vor allem die dortige weitere Umweltzerstörung.
Zugleich müssen wir einsehen, daß die von uns in unseren Ländern praktizierte industrielle Entwicklungslogik - besonders darum geht es mir jetzt - die Ausbeutung der Dritten Welt nicht abschwächt, sondern verstärkt. Das, was wir hier tun, ist dafür nach wie vor mit verantwortlich. Je stärker wir unsere Produktion hier auf kapitalintensive High-Tech-Sektoren mit zum Teil geradezu abenteuerlich hochgepeitschten Leistungsparametern konzentrieren, um so mehr ihrer natürlichen Reichtümer und ihrer Arbeitsproduktivität müssen die Länder der Dritten Welt im marktwirtschaftlichen Austausch, der eben gar nicht so gerecht ist, an uns liefern. Das hindert sie bereits heute an der eigenen Entwicklung. Wenn wir so weitermachen, wird dieser ungleiche Tausch die Entwicklung der Dritten Welt völlig verhindern.
Unsere industriepolitische Inzucht ist es geradezu, die insbesondere über Spitzentechnologien vorangetrieben wird, die uns am Hunger und an der Not in der Dritten Welt weiterhin mitschuldig werden läßt.
Deshalb, aber auch aus ökologischen Gründen, ist ein Ausstieg aus der Logik des immer Mehr und immer Schneller hier bei uns als Hilfe für die Dritte Welt notwendig. Deshalb ist die Kontrolle und Eindämmung der wirtschaftlichen und industriellen Dynamik und nicht ihre Verstärkung hier bei uns auch für die Dritte Welt erforderlich.
Wir müssen wirklich bereit sein, mit den Menschen in der Dritten Welt unseren bereits bestehenden, allein in den 40 Jahren der Nachkriegsgeschichte gewaltig gewachsenen Wohlstand zu teilen und nicht unseren Wohlstand durch immer weitergetriebenes Wachstum hier bei uns noch weiter zu Lasten der Natur und auch der Dritten Welt auszudehnen.
Angepaßte, dem Bedarf der Länder der Dritten Welt entsprechende Technologien für diese Welt statt des Exports von Spitzentechnologien, die Unterstützung von Genossenschaften und Alternativprojekten statt der zunehmenden Kommerzialisierung dieser Gesellschaften, der Aufbau von Wirtschaftsstrukturen für lokalen und regionalen Bedarf auf der Grundlage einer möglichst weitgehend durch Rezyklierungsprozesse von Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen und durch Nutzung erneuerbarer Energien geprägten Produktionsweise, die Förderung von mittel- und geringkapitalintensiven Produktionen sind einige der Antworten auf die weitere Stimulierung des blinden, chaotischen und umweltzerstörerischen Wachstums hier.
Insofern kommen wichtige, entscheidende Aufgaben auf die Gegenkräfte bei uns in den Metropolen zu. Hier in den Metropolen sind wichtige Lösungen für die Dritte Welt zu erreichen. Die Gewerkschaften, die Betriebsräte und Personalräte sowie ökologisch aktive Betriebsgruppen haben hier eine wichtige Aufgabe: das Was, Wie und Wofür der Produktion und die dazugehörigen ökonomischen Verhältnisse hier bei uns so zu ändern und das Bewußtsein für diese Notwendigkeit zu schärfen, daß der Druck von der technologisch hochgerüsteten Triade auf die Dritte Welt abnimmt und wirklich solidarische Hilfe für die Länder der Dritten Welt möglich wird.
Herr Präsident, ich danke.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache. Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1356, 12/1824, 12/1855, 12/2303, 12/2462, 12/2683, 12/2715 und 12/2726 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Das ist der Vorschlag der Fraktionen.
Die Fraktionen haben mir soeben mitgeteilt, daß bezüglich Zusatztagesordnungspunkt 3 vorgeschlagen wird, den Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/2715 zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß und an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überweisen. Wenn das Haus mit diesen Überweisungsvorschlägen einverstanden ist - das ist offensichtlich der Fall , dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Wir kommen nun zur Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 5 f. Abgestimmt wird über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste zum Erlaß der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR auf Drucksache 12/2287. Der Finanzausschuß empfiehlt Ablehnung. Wer der Empfehlung des Finanzausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Dann ist die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses mit überwiegender Mehrheit gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste, des Abgeordneten Briefs und einiger Abgeordneter der SPD-Fraktion angenommen worden.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 1992 - Drucksache 12/2427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({0}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich erteile dem Abgeordneten Engelbert Nelle das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Magazin für Berufsbildung der Industrie- und Handelskammern in Deutschland war in diesen Tagen zu lesen - ich zitiere -:
Im deutschen Bildungswesen läuten die Alarmglocken. Der Studentenberg hat schwindelnde Höhen erreicht. 1,8 Millionen Studierende auf 900 000 Studienplätzen an den deutschen Hochschulen sind noch längst nicht der endgültige Rekord. Mit dem sogenannten „Nachholbedarf" aus den neuen Ländern werden bis zum Jahre
2000 2 Millionen Studenten erwartet. Gleichzeitig blutet die berufliche Bildung aus. Die Zahl der Auszubildenden sinkt ständig. Die Unternehmen klagen über einen zunehmenden Mangel an Facharbeitern und Fachangestellten. Eine Wende ist nicht in Sicht.
Wir beurteilen die Situation ähnlich und teilen die Sorge.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zu dem Zeitpunkt, als Georg Picht 1964 unter dem spektakulären Titel „Die deutsche Bildungskatastrophe " eine Verdoppelung der Abiturientenquote forderte, lag sie damals bei lediglich 4 % eines Altersjahrgangs. Eine Verdoppelung hätte eine Quote von 8 % bedeutet. Gegenwärtig liegt diese bei ca. 30 % in den alten und ca. 15 % in den neuen Ländern,
({0})
und dies mit steigender Tendenz.
Es ist einsichtig, daß eine Fortführung dieses Trends zu einer Abkoppelung vom Beschäftigungssystem führen muß.
({1})
Allein in den alten Ländern blieben im vergangenen Jahr 130 000 betriebliche Ausbildungsplätze unbesetzt. Wir erwarten, daß in diesem Jahr möglicherweise 200 000 angebotene Ausbildungsplätze nicht besetzt werden können.
({2})
- Wir kommen darauf zurück.
Während sich die Zahl der Studenten in dem Zeitraum 1980 bis 1990 um rund 50 % erhöht hat, sank die Ausbildungsplatznachfrage um 30 %, in der Zeit von 1985 bis 1991 sogar um 40 %.
In meinen Beiträgen im vergangenen Jahr bei der Einbringung wie auch bei der Verabschiedung des Berufsbildungsberichts 1991 habe ich auf diese dramatische Situation hingewiesen. Die uns vorliegenden statistischen Zahlen im Berufsbildungsbericht 1992 zeigen, daß die Schere zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem noch weiter auseinandergegangen ist. Alle an der Berufsbildung beteiligten Gruppen, besonders auch die deutsche Wirtschaft und die Gewerkschaften, sehen dieser Entwicklung mit Sorge auch um den Wirtschaftsstandort Deutschland entgegen. Zu dessen herausragenden Erfolgsfaktoren gehörte bisher ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Qualifikationsbedarf des Beschäftigungssystems und dem Angebot aus den unterschiedlichen Bildungsbereichen.
Um die Dramatik der Entwicklung gänzlich darzustellen, muß auch an die demographische Entwicklung erinnert werden. Im Detail bedeutet dies: Die Zahl derjenigen Jugendlichen, die für den Zeitraum 1995 bis 2000 nach Abschluß ihrer betrieblichen Ausbildung oder Hochschulausbildung dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, steht bereits heute fest. Insgesamt werden in diesem Zeitraum rund ein Drittel weniger junge Leute für eine Berufstätigkeit zur Verfügung stehen als zwischen 1985 und 1995. Dabei
wird allerdings mit 40 % weniger Auszubildenden und 20 % weniger Abiturienten gerechnet. Dies bedeutet, daß mit einer massiven Lücke bei den Facharbeitern zu rechnen sein wird.
Außerdem, so der Berufsbildungsbericht 1992, nimmt die Neigung bei jungen Menschen mit mittleren Schulabschlüssen oder Studienberechtigung zu, nach absolvierter dualer Ausbildung keine Fachkräftetätigkeit aufzunehmen, sondern eine weitere schulische Ausbildung an einer Fachoberschule oder ein Hochschulstudium anzuschließen.
Eine Korrektur der aufgezeigten dramatischen Fehlentwicklung kann nach unserer freiheitlichen Verfassung grundsätzlich nicht mit dirigistischen Methoden und Lösungsansätzen erfolgen. Die Berufsbildungspolitik kann allein durch Veränderung der Rahmenbedingungen zu einer indirekten Steuerung und Veränderung beitragen.
({3})
Nur im engen Schulterschluß mit allen an den Bildungsentscheidungen junger Menschen maßgeblich beteiligten gesellschaftlichen Gruppen können wir die Erfolgsaussichten für die beabsichtigten Korrekturen erhöhen.
Wir haben auch im vergangenen Jahr über solche Korrekturen gesprochen. Berufsbildungspolitik kann diese Situation nur verbessern, wenn - ich nenne Stichworte - etwa bei der Berufsfindung, bei der Differenzierung der beruflichen Bildung, bei der Durchlässigkeit der beruflichen Bildung Fortschritte erreicht werden. Die SPD hatte vor kurzem dazu einen Antrag eingebracht, den ich von der Tendenz sehr unterstütze.
({4})
Den Ausbau der Berufsakademien will ich hier erwähnen, lieber Graf Waldburg-Zeil,
({5}) und zwar über die ganze Bundesrepublik.
Aus dieser kurzen Auflistung der Handlungsfelder ergibt sich nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Kompetenz, daß wir die eingangs erwähnte dramatische Entwicklung nur korrigieren können, wenn wir alle, die an der Berufsbildungspolitik beteiligt sind, also Bund, Länder, Tarifpartner, Verbände, in einer großen, gemeinsamen konzertierten Aktion gewillt sind die dargestellten Probleme anzugehen und zu lösen.
Darum möchte ich den Bundeskanzler bitten, die vorgenannten Gruppen zu einem Bildungsgipfel nach Bonn einzuladen, um die notwendigen Leitlinien und Strukturveränderungen miteinander abzustimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte uns gemeinsam bitten, in den künftigen Wochen und Monaten im Ausschuß - denn dahin wird dieser Bericht überwiesen werden - sehr intensiv über die Rahmenrichtlinien, von denen ich eben nur stichwortartig gesprochen habe, nachzudenken, sie zu vertiefen und einer Lösung zuzuführen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Evelin Fischer ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor nicht allzu langer Zeit hat die Fraktion der CDU/CSU eine Aktuelle Stunde beantragt, in der sie auf den Facharbeitermangel hinwies. Das ist erst einmal löblich. Ich befürchte allerdings, daß man zehn solcher Aktuellen Stunden machen könnte, ohne einen Schritt weiterzukommen, solange die Bundesregierung und das Bundesministerium kontraproduktiv wirken.
Ich will Ihnen das im einzelnen etwas erläutern und fange dabei mit einem Zitat meines Kollegen Rainer Jork in der soeben erwähnten Aktuellen Stunde an. Dort sagte er sehr richtig:
Natürlich wird ein Beruf, ein Bildungsweg geprägt durch Erwartungen zum Einkommen, zu Laufbahn- und Prestigevorstellungen sowie zum durchschnittlichen gesellschaftlichen Ansehen. Aufgabe einer verantwortungsbewußten Bildungspolitik muß sein, auch solche Sollwerte in Frage zu stellen.
Wissen Sie, diese Frage nach den Sollwerten stellen unsere Jugendlichen gar nicht mehr. Für sie ist die Kernfrage schlicht und einfach: Bekomme ich in den neuen Ländern überhaupt einen Ausbildungsplatz?
({0})
Und wenn ich dann schon einen bekomme, werde ich dort so ausgebildet und so qualifiziert, daß ich auf dem Arbeitsmarkt auch eine Chance habe? - Das ist die Frage.
Ich glaube, daß sich die Problematik im Jahre 1992 noch verschärft. Es werden ungefähr 160 000 Schulabgänger auf den Ausbildungsmarkt drängen. Die letzten Ermittlungszahlen von Nürnberg sprechen aber nur von 62 500 angebotenen Lehrstellen, davon sind 4 000 schon wieder storniert. Damit sind summa summarum etwas über 100 000 Schulabgänger noch ohne Lehrstelle.
Wenn Sie sich die Forderung unseres vorherigen Aktionsprogramms ein wenig zu Herzen genommen hätten, würden wir uns die Debatte heute wahrscheinlich sparen können. Sie haben 1991 schon mit geschönten Zahlen gearbeitet und uns weismachen wollen, daß Sie das Problem quantitativ gelöst hätten. Dabei sind 25 000 bis 30 000 Jugendliche irgendwo verschwunden. Sie sind eigentlich auch nicht wieder aufgetaucht. In diesem Jahr werden es von vornherein gleich 40 000 sein, denn die vom Bundesministerium veröffentlichten Zahlen gehen nur von 120 000 bis 130 000 Absolventen aus. Das heißt, da stehen schon 30 000 bis 40 000 Jugendliche überhaupt nicht in der Statistik. Das ist eine Steigerung zum Vorjahr, allerdings liebe ich Steigerungen dieser Art nicht besonders.
Wenn ich noch einmal auf die Aktuelle Stunde zurückkomme, kann ich es mir nicht verkneifen, ein
Evelin Fischer ({1})
Zitat des Ministers Ortleb in die Debatte zu werfen, der ganz richtig sagte: Wir müssen die berufliche Bildung so attraktiv wie möglich machen, damit sie im Wettbewerb der Bildungswege zur gleichwertigen Alternative wird.
({2})
Ich frage mich nur, wie Sie das erreichen wollen, denn bei uns in den neuen Ländern schicken Eltern ihre halbwegs intelligenten Kinder aufs Gymnasium. In manchen Regionen sind es schon 50 % der Schüler, die aufs Gymnasium gehen. Das sind genau 15 % zuviel, die nämlich Facharbeiter werden könnten. Und wenn Ihr Aufschwung Ost, so Gott will, in zwei, drei Jahren greifen und zum Erfolg kommen würde, dann fehlen Ihnen genau diese Facharbeiter.
Die Eltern wären meiner Meinung nach mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn sie den Weg des Gymnasiums für ihre Kinder nicht wählten. Sie kennen doch ihr Umfeld. Selbst private Betriebe oder Betriebe, die von der Treuhand verwaltet werden, bilden zum Teil überhaupt nicht mehr aus, sie halbieren die Ausbildung, sie dritteln oder vierteln sie, ganz wie sie es wollen.
Ich gebe zwei Beispiele:
Carl Zeiss Jena hatte ehemals 3 000 Azubis. Der ausgegliederte Betrieb Carl Zeiss mit 3 000 Beschäftigten hat die Ausbildung komplett eingestellt, und das unter Westregie. Wir wissen das. Diese Ausbildung soll jetzt Jen-Optik übernehmen. Die derzeit 800 Auszubildenden werden abgewickelt. Von ihnen bleiben 1992 20 bis 30 übrig.
({3})
- Leider nicht.
({4})
Ich möchte mich hier nicht als Jammer-Ossi präsentieren, aber die Regierung gibt mit ja keine andere Möglichkeit, als Ihnen nur diese Zahlen zu nennen.
({5})
Im Werkzeugmaschinenbau, Werk Aschersleben, heute Schieß AG, Düsseldorf, gingen 150 Jugendliche in die Ausbildungswerkstatt. Derzeit sind es 69, Neueinstellungen 1992: 10 bis 12.
({6})
In diesem Zusammenhang optimistische Botschaften seitens der Regierung zu hören - das klingt bei uns wie Parteipropaganda aus alten Tagen. Da brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn Politik und Politiker unglaubwürdig werden. Wir brauchen uns nicht über Politikverdrossenheit zu wundern. Dort oben sitzt eine ganze Galerie junger Leute. Sie wissen ganz genau, wie man die Kette dann weiterverfolgen kann.
({7})
Ein sehr makabrer Höhepunkt ist, daß in einem Ostharzer Baumaschinenwerk in Aschersleben die kaufmännisch Auszubildenden zwecks Übung ihre eigenen Kündigungen schreiben durften und anschließend die Kündigungen ihrer Azubi-Kollegen.
({8})
Ich möchte Sie noch auf eine Tendenz aufmerksam machen, damit Sie anschließend nicht sagen können, Sie hätten nichts gewußt. Die Opposition zeigt eben immer, wo es lang geht, zumindest den richtigen Weg.
Es gibt industrielle Berufsausbildungszentren, die sich langsam von den Betrieben abtrennen. Sie bieten ihre Einrichtungen sogenannten Ausbildungsringen an, weil sie dann finanziell über § 40 c abgesichert sind. Sie bieten ihre gesamte Ausbildungsstätte beim Arbeitsamt als außerbetrieblich an. Ich glaube, hier besteht auch die Gefahr der Doppelfinanzierung. In anderen Regionen werden komplette Bildungseinrichtungen mühselig wieder aufgebaut, und hier werden sie demontiert. Außerdem werden Ausbildungsringe, die sich da festsetzen, mitfinanziert. Hier müßte man überlegen, wo man sparen kann.
Es bedarf meiner Meinung nach einer großen Kraftanstrengung der Regierung, um allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu garantieren, und zwar vorrangig im dualen System und, wenn das nicht möglich ist, wenigstens einen Beruf mit einem Abschluß, der Zukunftschancen offenhält.
({9}) - Das meinte ich gerade nicht.
Das wird angesichts der defensiven Haltung der Betriebe, die ich soeben geschildert habe, schwer sein, auch angesichts der nur ca. 10 000 neuen Handwerksgründungen. Selbst wenn jeder neue Handwerker einen Azubi aufnimmt, sind das nur 10 000 Plätze.
Die sich daraus ergebende Akternative wäre, daß nicht nur 32 000 Jugendliche, wie im vergangenen Jahr, den Weg in den Westen finden, sondern vielleicht 50 000 oder 60 000. Die Konsequenzen hat dann die Bundesregierung zu tragen. Und machen Sie uns deshalb 1994, wenn wir die Regierungsverantwortung übernehmen,
({10})
dann nicht verantwortlich! Wir übernehmen sie, aber machen Sie uns nicht verantwortlich für den bildungspolitischen Scherbenhaufen, den Sie uns hinterlassen; denn das sind Ihre Scherben!
Danke.
({11})
Herr Abgeordneter Dirk Hansen hat nunmehr das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf darauf hinweisen: Die Fünf springt jetzt schon auf die Vier. Eine Minute stehe ich hier aber noch nicht.
Herr Abgeordneter Hansen, Sie werden erleben, daß diese Minute, die wir jetzt verschenken, genau richtig ist.
({0})
Sie wissen, man starrt immer auf diese magische Spanne.
Sie brauchen keine Sorge zu haben. Sie werden - wie jeder hier im Saal - gerecht behandelt. Nun ist aber der Zeitverlust für Sie größer, als der Sinn Ihrer Intervention.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. Es war auch eine andere Zeit vereinbart. Ich nehme an, daß die Korrektur gleich erfolgt.
Ich bin Frau Fischer für mindestens einen Hinweis sehr dankbar. Sie sagte, daß sie hier nicht als JammerOssi Stellung nehmen wolle. Ich will - jedoch nicht als Jubel-Wessi - feststellen: Mit der Vorlage des Berufsbildungsberichts 1992 hat die Bundesregierung schlicht und einfach klare Zeichen dafür gesetzt, in welchen verschiedenen Bereichen die Berufsbildungspolitik die Herausforderung für die kommende Zeit - auch über 1994 hinaus, Frau Fischer - bestehen wird.
({0})
Die Lage in den fünf neuen Bundesländern, der Zusammenhang in der Bildungspolitik Ost-, West-und Mitteleuropas und schließlich insgesamt die gesellschaftlichen und berufsbildungspolitischen Erfordernisse für die 90er Jahre werden klar genannt.
({1})
- Darauf wird eingegangen.
Wir wissen sehr wohl, daß für die 90er Jahre wichtige Weichenstellungen in der Bildungspolitik insgesamt anstehen. Im Bereich der beruflichen Bildung lesen wir ja zunehmend Meldungen - Herr Nelle hat darauf hingewiesen: Einerseits gehen die Zahlen der Auszubildenden immer weiter zurück. Die Zahl der offenen Stellen hingegen steigt. Die Schere öffnet sich. Auch diese Sorge haben Sie ja für die fünf neuen Länder angesprochen.
Wo sind die Möglichkeiten seitens des Bundes, um sich nun mit Blick auf den EG-Binnenmarkt - 1. Januar 1993 - den Herausforderungen in Ost und West zu stellen? - Ich denke, wir sind uns alle einig, daß wir in Europa das Prinzip der Freizügigkeit auch bei der Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise verwirklicht sehen wollen und daß ein europäischer Konsens darüber besteht, daß die Niederlassungsfreiheit und das Recht, einen Arbeitsplatz über die eigenen Grenzen hinweg zu besetzen, erst die wirkliche Vereinigung der Europäer bedeutet. Wir wissen, daß ein europäischer Konsens erreichbar ist - auch wenn die Vielfalt der nationalen Berufsbildungssysterne erhalten bleibt und weiterentwickelt wird. Die verschiedenen Programme der EG - Petra, Force, Eurotecnet etc. - sind alle sehr unterstützenswert; auch in der Hinsicht, daß sich die EG seit etwa einem halben Jahr in diesen Programmen für Polen, Ungarn und Tschechoslowaken geöffnet hat. Die Umwälzungen in der ehemaligen UdSSR, wie wir sie beispielsweise gerade vorvergangene Woche im Bildungsausschuß in den baltischen Staaten haben deutlich wahrnehmen können, zeigen, daß weitere Herausforderungen und Wünsche an Westeuropa und damit auch an das westliche Bildungssystem verknüpft sind. Die Problematik der grundsätzlichen Umorientierung in Mittel- und Osteuropa darf uns nicht kaltlassen.
Es ist erfreulich, daß der Bericht darauf eingeht. Es ist ebenso erfreulich, daß zunehmend in Westeuropa und gerade auch in Mittel- und Osteuropa das deutsche Berufsbildungssystem in seiner Qualität von betrieblicher und schulischer Ausbildung immer mehr Anerkennung findet und als Modell studiert wird.
({2})
Von daher unterstützt die F.D.P.-Fraktion bewußt auch die Aktivitäten von Bundesbildungsminister Ortleb, in dieser Richtung den neuen Demokratien mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Wenn ich mich nunmehr der besonderen Problematik des Berichts über die Berufsausbildung in den fünf neuen Ländern zuwende, so will ich es mir wirklich versagen, immer wieder dieses Zahlenspiel mitzumachen. Wir haben vor zweieinhalb Monaten, im März, schon einmal darüber debattiert. Wir können ja dem Bericht dankenswerterweise entnehmen, wie unzulänglich die statistischen Erhebungen noch sind und daß ein Verbesserungsbedarf in dieser Hinsicht unumstritten ist.
Dennoch ist schlicht und einfach festzustellen: Die Lehrstellenbilanz von 1991 war ausgesprochen erfolgreich. Auch das von mancher - sprich: Ihrer - Seite skeptisch beurteilte Lehrstellenprogramm von Minister Ortleb hatte seinen Anteil an diesem Erfolg.
({3})
Wenn sich im Bericht 1992 die quantitative Problematik noch einmal besonders stellt, da in diesem Jahr im wesentlichen neue Schulpflichtsregelungen durchschlagen und insofern zusätzlich ein Jahrgang von Lehrstellenbewerbern ansteht, so wissen wir dies. Es ist zu unterstützen, daß der Bundesbildungsminister nicht davor zurückgeschreckt hat, schon frühzeitig in dem vergangenen Jahr darauf hinzuweisen, daß eine verstärkte, nochmalige Anstrengung aller Beteiligten vonnöten sein wird, wenn man den lernwilligen Jugendlichen und Lehrstellensuchern ein entsprechendes Lehrstellenangebot machen will.
Solange sich die Wirtschaft - Frau Fischer, da gebe ich Ihnen sehr recht - in den neuen Ländern noch nicht so weit entwickelt hat, daß sie von sich aus genug Lehrstellen anbieten kann, oder zum Teil noch allzu große Sorge davor besteht, bei erst vor kurzem gegründeten Betrieben jetzt Ausbildungskapazitäten zur Verfügung zu stellen, so lange werden besondere Anstrengungen erforderlich sein.
Deswegen unterstützen wir - im Bericht erwähnt - den weiteren Ausbau eines Netzes überbetrieblicher Ausbildungsstätten. Ebenso mahnen wir aber an, die vom Bund zur Verfügung gestellten
5 Milliarden DM zur Verbesserung der kommunalen Infrastruktur auch für den Ausbau moderner Berufsschulen zu nutzen.
Darüber hinaus werden der Bund, die Bundespost, die Bundesbahn, die Treuhandanstalt, wie schon 1991, die Länder, Kommunen, aber ebenso die Bundesanstalt für Arbeit, in besonderem Maße gefordert sein. Es kann daher sowohl volkswirtschaftlich als auch gesellschaftspolitisch nicht akzeptiert werden, wenn es Überlegungen geben sollte, im Zuge allgemein notwendiger Einsparungen auch bei außerbetrieblicher Ausbildung einsparen zu wollen.
Energisch müssen wir uns dagegen wenden, daß der Wirtschaft selber noch nicht genügend Raum zur Verfügung steht, um Ausbildungskapazitäten zu schaffen. Wir als Bildungsausschuß haben gerade vor wenigen Tagen eine außerbetriebliche Ausbildungsstätte in Greifswald aufgesucht. Dort wurde uns vor Ort klar, wie dramatisch in dieser Beziehung die Situation etwa in Vorpommern ist. Aber ich vermute, sie ist es auch in anderen Regionen entlang dem Gürtel etwa von Cottbus über Görlitz und Zittau, wo ähnliche Verhältnisse bestehen.
Hier gilt der Satz: Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist auch Ausbildung nichts.
Sosehr dieser Satz richtig ist, so sehr muß dann in der jetzigen Übergangs- und Notsituation davon ausgegangen werden, daß die außerbetrieblichen Ausbildungsstätten fortgeführt werden. Würden diese Möglichkeiten der Qualifikation und Umschulung gestrichen werden, so hätten die jungen Leute, aber auch die in Weiterbildung und Umschulung befindlichen Älteren, keine Chance mehr, in ihren Heimatregionen zu verbleiben, und die Wanderungen gen Westen würden das schon jetzt bekannte Maß verstärken. Die Bundesanstalt für Arbeit wird hier weiter gefordert sein müssen: die Qualifizierungspolitik darf nicht nachlassen. Entwicklungschancen müssen individuell und regional angeboten werden.
Es gilt der Satz von Ortleb „fördern statt ausgrenzen".
({4})
- Lesen Sie es im Bericht nach, auch da steht es. Sie haben es offenbar noch nicht gelesen.
Es ist daher zu begrüßen, daß im Nachtragshaushalt 1992 vorgesehen ist, für überbetriebliche Ausbildungszeiten von vier bis sechs Wochen Lehrlinge von etwa 200 Industriebetrieben zusätzlich zu fördern. Bei einem durchschnittlichen Förderungsbetrag von 12 500 DM pro Ausbildungsplatz können bei fünfjähriger Zweckbindung ca. 100 000 junge Leute zusätzlich qualifiziert werden, um den Facharbeiterbrief zu erhalten.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben deutlich gemacht, daß für sie Arbeitsbedingungen, Weiterbildungs-, Berufs-, Karriere- und Einkommenschancen in Verbindung mit der getroffenen Berufswahl stehen.
Herr Abgeordneter Hansen, wenn ich mich nicht dem Verdacht aussetzen will, Sie zu privilegieren, dann müssen Sie jetzt zum Schluß kommen.
In diesen Verdacht werden Sie nicht kommen, und schon gar nicht von Herrn Rixe, der immer besonders tolerant ist - gegenüber allen.
Ich bin der Meinung, Frau Fischer: Es muß erreicht werden, daß der Ansturm, also die Entscheidung für Gymnasium, Abitur und Studium, nicht weiter anhält wie bisher. Im übrigen ist es verständlicherweise in diesem Jahr so gekommen, aber das darf nicht anhalten. Aber der persönliche Frust - die hohen Studienabbrecherquoten beispielsweise weisen darauf hin - zeigt, wie falsch dieser Weg vielfach eingeschlagen wird. Von der finanziellen und auch volkswirtschaftlichen Verschwendung braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht zu reden.
({0})
Ihre Ankündigung verliert an Glaubhaftigkeit, Herr Abgeordneter. Ich bitte nun sehr, zum Schluß zu kommen.
Hier sind wir im Sinne der immer wieder zitierten Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung gefordert. Das ist das Ziel, unter dem alle antreten, die Koalitionsfraktionen und Gott sei Dank auch diese Bundesregierung.
({0})
Der Abgeordnete Dr. Keller hat nun das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da wir uns hier im Bundestag in einer erweiterten Ausschußsitzung befinden, habe ich mein Manuskript auf dem Platz liegen lassen. Ich will nicht alles das wiederholen, was wir in den letzten Sitzungen, bei denen wir zu ähnlichen Fragen gesprochen haben, gesagt haben. Wenn ich Sie von der Regierungskoalition reden höre, erinnere ich mich des Witzes, daß die Kuh ersoffen ist, obwohl der Wasserstand im Fluß nur 75 cm betragen hat.
Sie haben recht: Wenn Sie aus der Sicht der Altbundesländer sprechen, kann man aus diesem Bericht der Bundesregierung eine positive Bilanz ziehen. Ich muß aus der Sicht der neuen Bundesländer sprechen und kann deshalb dieser positiven Bilanz nicht zustimmen. Herr Bundesbildungsminister, Sie haben mir in unserer letzten Auseinandersetzung deutlich gemacht, daß Sie der Mathematikprofessor sind.
({0})
Ich akzeptiere das, gehe allerdings davon aus, daß Rechnen und Verrechnen offenbar eine Vorstufe der Mathematik ist. Deshalb bitte ich Sie einfach, auch als Bundesregierung den Mut zu haben, zu sagen, daß Ihre Ankündigung, es sei ein Bombenerfolg erzielt worden, ein Rechenfehler ist.
Ich kann Ihnen die entsprechenden Zahlen für die neuen Bundesländer anschließend geben. Sie kennen sie ja selbst. Hier stehen Fragen an, die nicht nur für
die neuen Bundesländer dringend einer Antwort bedürfen.
({1})
- Vielleicht hat der Bundesbildungsminister jemanden vom Statistischen Zentralamt der DDR mitgenommen; vielleicht sind die Zahlen deshalb so ausgefallen. Das kann ja sein, wenn Sie mich auf diese Frage ansprechen.
Diese Situation in den neuen Bundesländern hat nicht nur für die neuen Bundesländer katastrophale Auswirkungen, sondern wird für die gesamte Bundesrepublik Deutschland katastrophale Auswirkungen haben. Ich appelliere an Sie, gemeinsam mit allen, die sich dafür verantwortlich fühlen, ein Konzept zu entwickeln, damit die neuen Bundesländer nicht zu einem Brachland werden. Es hat keinen Zweck, danach zu fragen, ob die Henne oder das Ei zuerst da war: Muß erst die Wirtschaft kommen oder erst die Ausbildung? Fakt ist, daß sich im Augenblick weder die Wirtschaft so entwickelt, wie wir es alle hoffen, noch ein Facharbeiternachwuchs ausgebildet wird, den wir dringendst brauchen. Hier werden Lücken entstehen, die wir alle gemeinsam bitter beklagen werden.
Insofern, Herr Minister, verstehe ich Sie nicht ganz, warum Sie im Interview mit der „Wochenpost" vom 27. Mai gesagt haben, daß die „Ausbildungsförderung 5 000" in den Handwerksbetrieben mit weniger als 20 Mitarbeitern eine einmalige Aktion gewesen sei und nicht wiederholt werden dürfe. Ich hätte von Ihnen erwartet, daß Sie die Frage der Montanregion aufwerfen, wo Ausbildungsplätze nach wie vor mit 42 000 DM unterstützt werden.
Wenn wir wollen, daß es eine gleichberechtigte Entwicklung gibt, müssen wir auch diese Fragen - auch wenn sie vielleicht Härten in anderen Bundesländern nach sich ziehen - so aufwerfen, daß die Chance für eine gleichberechtigte Entwicklung in den alten und in den neuen Bundesländern entsteht. Wenn Sie das nicht machen - das sage ich nicht als Warnung -, werden sich die Ergebnisse der Kommunalwahl von Berlin wiederholen.
Ich danke Ihnen.
Nunmehr erteile ich dem Minister für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Ortleb, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihnen liegt der Berufsbildungsbericht 1992 vor. Er beschäftigt sich vor allem mit den berufsbildungspolitischen Anforderungen des Jahres 1991. Im Bereich der beruflichen Bildung war das zurückliegende Jahr 1991 von erfolgreichen Anstrengungen gekennzeichnet für die Jugendlichen in den neuen Ländern, ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot zu schaffen, die Ausnahmesituation des Bedarfs an beruflicher Weiterbildung in den neuen Ländern zu bewältigen, die europäische Herausforderung in der beruflichen Bildung anzunehmen und den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel in den ost- und mitteleuropäischen Staaten durch gezielte Hilfen zu unterstützen.
Diese Schwerpunktaufgaben werden die Berufsbildungspolitik auch 1992 wesentlich bestimmen.
({0})
Erstens. In den neuen Bundesländern muß weiterhin Vorsorge getroffen werden, daß jeder Jugendliche, der das will, einen Ausbildungsplatz erhalten kann. Gleichzeitig muß der Prozeß der qualitativen Anpassung der beruflichen Bildung weiter vorangebracht werden.
Zweitens. Der zunehmende Nachwuchsmangel an Fachkräften, zum Teil auch schon in den neuen Ländern erkennbar
({1})
- ich komme gleich darauf zurück -, fordert dringend Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der beruflichen Bildung. Dazu gehören neben der weiteren Modernisierung der Ausbildung sowie der Lehr- und Lernmethoden vor allem eine stärkere Differenzierung der beruflichen Bildung nach den individuellen Neigungen, Fähigkeiten und Leistungsmöglichkeiten mit dem Ziel, die Begabungsreserven von Jugendlichen, die bislang ohne Berufsbildung bleiben, besser anzusprechen und andererseits Leistungsstärkeren in der beruflichen Bildung eine attraktive Alternative zum Gymnasium zu bieten.
({2})
- Das ist eine große Reserve, sehr richtig.
Ganz entscheidend wird es in den kommenden Jahren darum gehen, der beruflichen Bildung den Ruf einer nachrangigen Qualifizierung mit eingeschränkten Perspektiven für den einzelnen zu nehmen. Dies gelingt jedoch nur, wenn im Rahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung auch der Erwerb formaler Berechtigungen - wie in den allgemeinbildenden Schulen - ermöglicht wird und wenn sich die Perspektiven beruflich Qualifizierter im Vergleich zu Absolventen anderer Bildungsgänge nachhaltig verbessern.
({3})
Ich werde die Diskussion um die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung weiter intensivieren, so z. B. Anfang Juli eine Fachtagung mit Arbeitgebern, Gewerkschaften, Ländern und Wissenschaftlern zu diesem Thema durchführen, um die Möglichkeiten der Realisierung auszuloten und von den theoretischen Überlegungen einen Schritt in Richtung politischer Handlungskonzepte gehen zu können.
Drittens. Lebenslanges Lernen ist für immer mehr Menschen eine alltägliche Herausforderung. Das impliziert die Notwendigkeit der Qualität beruflicher Weiterbildung.
Viertens. Europa ist eine Herausforderung, aber auch eine Chance für uns alle. Es ist mein Anliegen, das deutsche Bildungswesen in der Europäischen
Gemeinschaft zu erhalten und zu stärken. Dafür werden wir aber auch unser Berufsbildungssystem „europafähiger" machen müssen. So wird es z. B. darauf ankommen, Fremdsprachen in der beruflichen Bildung stärker zu verankern.
Fünftens. Europa endet nicht an den Grenzen der Gemeinschaft. Wir sind durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche in den mittel- und osteuropäischen Staaten dringend aufgefordert, die damit verbundenen Chancen durch geeignete Hilfe auch in der beruflichen Bildung wahrzunehmen.
Lassen Sie mich nun - auch auf Grund des bisherigen Verlaufs der Debatte - noch besonders auf die Situation in den neuen Ländern etwas diffenzierter eingehen. Dort ist 1991 das Ziel einer ausreichenden Versorgung der Jugendlichen weitgehend erreicht worden. Jetzt möchte ich das Wort „weitgehend" erläutern. Darunter ist nicht zu verstehen, daß ich jetzt die bekannte Suche nach der schwarzen Katze im dunklen Zimmer wieder mit vollziehe und die verschwundenen Auszubildenden zu analysieren versuche. Frau Kollegin Fischer, wenn Sie 1994 die Regierung übernommen haben, werde ich mich dann mit Rechenkunststückchen revanchieren.
({4})
- Ich möchte gerne aus den Niederungen der Mathematik wieder heraus.
Herr Keller, ich habe für vieles, was Sie sagten, Verständnis und wünsche auch mir sehr, daß sich ein Gleichklang der wirtschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung der beruflichen Bildung im Osten vollzieht; denn es ist in der Tat das eine vom anderen nicht trennbar. Das heißt, ohne die Anstrengungen all derer werden alle Bemühungen der Bildungspolitiker, die für Wirtschaft verantwortlich sind, keinen Erfolg haben.
({5})
- Das sehe ich nicht so; aber ich möchte mich jetzt nicht mit diesem Detail befassen.
Auch die Bewertung der Bilanz in diesem Jahr würde ich anders vornehmen als mit den Zahlen, die bisher genannt worden sind. Wir müssen immerhin bedenken, daß wir im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs an betrieblichen Ausbildungsplätzen von mehr als 50 % haben; es sind fast 60 %. Die Zahl der Stornierungen verhält sich etwa wie 1 : 4 zugunsten dieses Jahres. Die Zahl von 140 000 bis 150 000 Nachfragern erschreckt mich daher nicht so sehr, ohne daß ich damit das Problem hier verniedlichen will. Es ist nach wie vor notwendig, bis zum letzten Augenblick die Anstrengungen aller Beteiligten aufrechtzuerhalten.
Überdies ist - ich sage das im Hinblick auf Ihre Bemerkung, Herr Dr. Keller - das Programm „Aktion 5 000 DM", wenn ich es so kurz ausdrücken darf, geblieben. Es ist allerdings dort verankert, wohin es gehört, nämlich bei den Ländern, weil es nicht Sinn machen kann - auch angesichts der sich inzwischen herausbildenden Unterschiede zwischen den neuen
Bundesländern untereinander -, ein Bundesprogramm zu fahren, das die Unterschiede und Besonderheiten der neuen Bundesländer nicht beachtet.
Gerade in den letzten Tagen erreichte mich die Nachricht, daß man in Mecklenburg-Vorpommern das Fehlen eines solchen Programms bemängelt. Ich muß sagen: Es gibt ein Landesprogramm, das zwar kein 5 000-DM-Programm, sondern ein 3 000-DMProgramm ist. Ich bitte Sie, die Statistik - die uns allen gleichermaßen vorliegt, nämlich die der Bundesanstalt für Arbeit - auch aus der Sicht zu werten, daß sich in einzelnen Positionen durchaus erfreuliche Trends zeigen. Aber das ist kein Grund, jetzt eine Siegesmeldung zu formulieren. Da stimme ich völlig mit Ihnen überein.
Übrigens: Das Wort „Bombe" habe ich schon bei meiner letzten Äußerung zu diesem Thema in Selbstkritik zurückgenommen, so daß ich darum bitte, es mir nicht ständig wieder vorzuwerfen.
Ich glaube, daß wir trotz dieser aus der Statistik zu folgernden insgesamt positiven Signale jetzt noch nicht über den Berg sind. Wir brauchen auch in diesem Jahr eine gemeinsame Anstrengung von seiten der Wirtschaft, der Bundesanstalt für Arbeit, aber auch der Treuhandanstalt, der Länder und der Kommunen, um das angestrebte Ziel zu erreichen.
Ich bin auch deswegen optimistisch, weil ich trotz verständlicher Auffassungsunterschiede, die von unseren unterschiedlichen Parteipositionen herrühren, der Meinung bin, daß wir uns in vielen Dingen im Ziel einig sind. Wir sollten es im Interesse für die junge Generation, die in dem Fall die betroffene ist, auch weiter dabei belassen, mehr die Gemeinsamkeit als die oberflächliche Gegnerschaft zu suchen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Nun hat der Kollege Josef Hollerith das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wo das Bildungssystem versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht" , schrieb Georg Picht vor drei Jahrzehnten zur deutschen Bildungskatastrophe, die er damals in dem zu geringen Studentenanteil zu erblicken glaubte. Zu seiner Zeit besuchten etwa 4 eines Jahrgangs eine Universität, mittlerweile sind es fast 40 %.
({0})
Im vergangenen Jahr waren 1,65 Millionen Jugendliche an Hochschulen eingeschrieben, dagegen standen nur 1,43 Millionen in der beruflichen Ausbildung.
Diese Zahlen zeigen uns deutlich, daß unser Bildungssystem dringend reformbedürftig ist. Die Devise der 70er Jahre „Abitur für alle" hat sich als Bumerang erwiesen.
Im uns jetzt vorliegenden Berufsbildungsbericht 1992 treten diese bildungspolitischen Altlasten deutJosef Hollerith
lich zutage. Die Bildungslandschaft ist im Umbruch. Die Hochschulen sind überlaufen, und in Forschung und Lehre gilt: Nichts geht mehr. Fast jeder dritte bricht inzwischen sein Studium ab, und die beruflichen Erfolgschancen sinken entsprechend.
Die berufliche Bildung - ich halte sie für den Schlüssel für unsere künftige wirtschaftliche Entwicklung, für Vollbeschäftigung und für eine innovative Strukturveränderung - gerät zunehmend in die Defensive.
Im Handwerk sind 200 000 Lehrstellen unbesetzt; zum Ende des Berufsbildungsjahres am 30. September 1991 standen in den neuen Ländern 2 421 unvermittelten Ausbildungsplatzbewerbern noch mehr als 6 000 unbesetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Ich bin deshalb auch sehr zuversichtlich, daß es in diesem Jahr durch eine gemeinsame Anstrengung aller gelingen wird, auch in den neuen Ländern genügend Ausbildungsplätze bereitzustellen.
({1})
Zwar ist es ein großer Erfolg der Bundesregierung und der Wirtschaft, daß jeder Schulentlassene, der es wünscht, eine berufliche Ausbildung erhält - alleine durch das Sonderprogramm der Bundesregierung ist die Einrichtung von rund 31 000 Ausbildungsplätzen in Kleinbetrieben der neuen Bundesländer gelungen -, jedoch zeigt die schwache Nachfrage nach Lehrstellen auch eine bedrohliche Entwicklung innerhalb unserer Gesellschaft. Eine Lehre nach dem Abitur gilt fast schon als Schande. Darin spiegelt sich der Stellenwert der beruflichen Bildung gegenüber der akademischen wider.
Damit unser Fachkräftemangel nicht zur Wachstumsbremse wird, benötigen wir eine Kurskorrektur.
Das Programm zur Förderung von Begabten in der beruflichen Bildung, das vom Bundesbildungsministerium unter Bundesminister Ortleb im vergangenen Jahr gestartet wurde, begrüße ich als einen ersten Schritt in Richtung Aufwertung der beruflichen Bildung auf nationaler Ebene.
({2})
Auf internationaler Ebene müssen wir gerade in Hinsicht auf den EG-Binnenmarkt unsere Wettbewerbsfähigkeit ausbauen. Richtungsweisend in diesem Zusammenhang ist eine kürzlich erschienene Vergleichsstudie über die Schul- und Berufsausbildung in Deutschland und in England. Sie kam zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß Deutsche gut, aber zu unflexibel ausgebildet sind.
Im Rahmen der Untersuchung, eines Gemeinschaftsobjekts von vier Universitäten, stellten sich jedoch auch die Vorzüge unseres Schul- und Bildungssystems heraus: Im Gegensatz zu anderen EG-Staaten besitzen unsere Absolventen eine solide fachliche Grundausbildung und breit angelegte schulische und berufspraktische Qualifikationen.
Petra II, ein Programm, mit dem erstmalig der Auslandsaustausch in der beruflichen Ausbildung gefördert wird, ist dazu angetan, die Flexibilität unserer beruflichen Ausbildung aufzuwerten. Deshalb halte ich dieses Programm für wertvoll. Allerdings ist es dem Umfang nach im Verhältnis zu Hochschulaustauschprogrammen noch zu knapp bemessen.
Fazit: Dank des dualen Systems besitzen wir ein substantiell hochwertiges Bildungswesen, in welchem allerdings Mobilität, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Innovationsbereitschaft noch zunehmen müssen. Voraussetzung für unseren Qualitätsartikel „Lehrling" sind fachlich und personell gut ausgestattete Berufsschulen, qualifizierte betriebliche Ausbildungen und in Ausnahmefällen überbetriebliche Ausbildungsstätten.
Die Wirtschaft erfüllt ihre Verpflichtungen. Sie ist in der Lage, das Ausbildungsplatzangebot auch für das nächste Jahr weiter zu steigern. Staat und Politik sind jetzt gefordert, die Rahmenbedingungen für eine Aufwertung der beruflichen Bildung zu schaffen.
Ich stimme voll dem zu, was Kollege Nelle gesagt hat, daß wir uns im Ausschuß umfassend damit beschäftigen müssen.
Der Weiterbildung als vierter Säule unseres Bildungssystems wird künftig noch stärkere Bedeutung zukommen. Betriebe und freie Träger haben hier bereits einen hohen Standard geschaffen. Für die weitere Entwicklung sind vorrangig die Tarifpartner gegenüber einer staatlichen Reglementierung gefordert. Insofern halte ich ein Berufsweiterbildungsgesetz für nicht erorderlich.
Den Wert der Bildung zu erkennen erfordert in Zukunft verstärkt Einsatz und Bereitschaft des einzelnen. Bildung ist ein Teil der Selbstentfaltung und der Selbstverwirklichung des Menschen. Sie kann, wie die nötige Hinwendung zu praktischen Tätigkeiten, nicht vom Staat verordnet werden.
Ich danke.
({3})
Nun hat der Kollege Dr. Peter Eckardt das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein 19jähriger junger Mann oder eine 19jährige junge Frau überlegen sich vor dem Abitur, welche berufliche Ausbildung sie eigentlich wählen sollen: ein Studium - in manchen Fächern mit riskanten Berufsaussichten und hohem Abbrecherrisiko zwischen Immatrikulation und Diplom - oder eine gewerbliche oder kaufmännische Berufsausbildung mit zur Zeit guten Berufschancen?
Als Entscheidungshilfe erblicken junge Leute in den westlichen Bundesländern an Baugerüsten schon wieder Plakate: „Werde Maler - ein Beruf mit Zukunft", „Sei schlau, lern beim Bau", „Werde Bäkker" und „Werde Fleischer", die Ausbildung und der Beruf sind abwechslungsreich, man steht nicht den ganzen Tag an derselben Maschine oder bearbeitet eine Akte, man hat Abwechslung.
Ein Kreishandwerksmeister erzählte mir kürzlich: Ich habe im Betrieb viele Realschüler. Sie sind geblieben, weil sie Spaß an dem Beruf haben. Sogar ehemalige Lehramtsstudenten arbeiten jetzt im Handwerk. Das Fazit: Wären sie gleich gekommen, hätten sie sich viel Ärger erspart.
Warum aber beginnen trotz dieser Werbung und den eigentlichen guten persönlichen und wirtschaftlichen Zukunftschancen viele junge Menschen, besonders mit mittleren Bildungsabschlüssen, eben keine Fachkräftetätigkeit, sondern schließen eine weitere schulische oder universitäre Ausbildung an? Die Antworten sind - das will ich sagen - zugegebenermaßen nicht leicht, müssen aber gegeben werden. Ich denke, sie müßten von der Regierung gegeben werden und im Berufsbildungsbericht stehen.
({0})
Sollten sich diese Trends fortsetzen, führt das mittel-und langfristig dazu, daß sich in Deutschland die Bildungsnachfrage von den Strukturen des Beschäftigungssystems weit entfernt.
Bildungspolitisch besteht die Aufgabe, dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Die deutsche Wirtschaft, das deutsche Dienstleistungsgewerbe werden sich nur mit qualifizierten Arbeitskräften auf allen Ebenen der wirtschaftlichen Konkurrenz stellen können.
({1})
Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverhältnisse in den alten Bundesländern ist 1991 wegen der Ausbildungspendler aus den neuen Bundesländern nur auf 540 000 zurückgegangen; aber Anzeichen deuten darauf hin, daß bis 1997 viele Ausbildungsplätze besonders im Handwerk nicht besetzt werden können.
Während der Anteil der jungen Frauen an den Ausbildungsverhältnissen wegen schulischer oder universitärer Ausbildung weiter zurückgeht, nimmt der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer an der Berufsausbildung weiter zu. Das letztere ist bildungspolitisch sehr erfreulich, wird aber dem Bedarf an qualifizierten Auszubildenden in Deutschland auch in Zukunft nicht annähernd gerecht.
Auf diese disproportionale Entwicklung der Berufsausbildung und der Wahl eines akademischen Studiums in den alten Bundesländern und nach einer Übergangszeit auch in den neuen Bundesländern sollten nach Meinung unserer Fraktion bildungspolitische Antworten gegeben werden. Eine reine Deskription reicht nicht. Wir vermissen diese Antworten im Berufsbildungsbericht 1992.
Deshalb stellen wir heute fest: Erstens. Das soziale Ansehen der beruflichen Bildung und die Möglichkeiten der Weiterbildung und für Zusatzqualifikationen sind in den letzten zehn Jahren leider stark gesunken. Mit Recht bedauern die deutsche Wirtschaft und die deutschen Gewerkschaften dies gleichermaßen. Defizitäre Ausbildung ist eben nicht nur eine Frage der Höhe der Ausbildungsvergütung, sondern auch das Ergebnis langjähriger Berufsbildungspolitik.
Zweitens. Im Ausbildungs- und Beschäftigungsbereich muß soziale Gerechtigkeit neu definiert werden. Rationalisierungen, Gehalts- und Lohndifferenzierungen müssen auch als politische Aufgabe begriffen werden, auf unterschiedliche Bildungsnachfrage Einfluß zu nehmen. Laufbahnvorschriften des öffentlichen Dienstes dürfen z. B. nicht nur an formale Schul-und Hochschulabschlüsse gebunden werden,
({2})
berufliche Qualifikationen müssen anrechenbar sein, wenn sie eine soziale Bedeutung für den einzelnen bei seiner Berufswahl haben sollen. Ohne das geht das nicht.
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Drittens. Berufliche Bildung muß qualitativ verbessert, mit der allgemeinen Bildung als gleichwertig angesehen und für die Bewerber nicht als „berufliche Sackgasse" verstanden und gesehen werden. Ich bin eigentlich sehr froh darüber, daß es da über die Parteigrenzen hinweg wenigstens verbal Übereinstimmung gibt.
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- So ist es. - Die Rollen von Hochschulen und von beruflicher Bildung müssen in Deutschland neu definiert werden.
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Viertens. In den allgemeinbildenden Schulen des Sek.-I-Bereichs müssen Arbeit und berufliche Tätigkeit einen höheren pädagogischen Stellenwert bekommen. Wenn z. B. in Mecklenburg-Vorpommern als einzigem neuen Bundesland die Hauptschule als dritte Sek.-I-Schule wieder eingeführt wird und infolgedessen fast 60 % der Eltern ihre Kinder im Gymnasium anmelden, kann man, ohne Prophet zu sein, voraussehen, welche Berufsentscheidungen dann später getroffen werden, wenn diese Jugendlichen das Abitur bestehen und es in einem akademischen Studium finanziell verwerten wollen, wenn sich bei Besoldung und sozialem Ansehen nichts ändert.
Bildungspolitisch bleibt es wahr: Integrative Schulsysteme individualisieren und optimieren die Berufswahlentscheidung, wenn sie durch praktische Lernelemente ergänzt werden und sich mit der Angebotsseite nach Ausbildung und beruflicher Tätigkeit besser koordinieren lassen.
Meine Fraktion hätte sich im Berufsbildungsbericht 1992 mehr Perspektive, mehr Zukunftssicht, mehr Entwurf, auch mehr Analyse der Zusammenhänge von Arbeit und Ausbildung gewünscht. Die Diskussion über die Berufsbildungspolitik der nächsten zehn Jahre findet leider nicht durch die jetzige Bundesregierung und schon gar nicht im Berufsbildungsbericht 1992 statt. Einzelkonzepte zur Begabtenentwicklung helfen da nicht; unter Beibehaltung des bewährten dualen Systems von Schule und Betrieb erwarten wir endlich ein Modernisierungskonzept.
Die Problembereiche Berufsabbrecher, Entwicklung eines höheren Anteils an Höherqualifizierten, Beschäftigungsmangel für Ungelernte, Änderung der beruflichen Anforderungsprofile, Gefahr der Austrocknung der Hauptschule werden im Bericht zwar angedeutet, berufsbildungspolitische Konsequenzen werden aber nicht gezogen, ja, sie werden fast verschwiegen. Das ist ein politisches Versäumnis mit Folgen für den Arbeitsmarkt und für die Lebenschancen vieler junger Auszubildender.
Die Schaffung einer leistungs- und begabungsgerechten Differenzierung der dualen Berufsausbildung zieht sich wie ein roter Faden, wie ein letzter Rettungsanker durch den Berufsbildungsbericht. Dieser rote Faden ist schlicht, starr und, denke ich, auch bildungspolitisch rückständig.
Unbestritten benötigt das System der deutschen Berufsausbildung mehr Differenzierung, aber nicht als Alternative „Studium oder Facharbeiter", „Abitur oder Hauptschule", „Hochbegabter oder Lernbeeinträchtigter", sondern als Qualitätsverbesserung innerhalb des dualen Systems.
Wir fordern deshalb eine stärkere Binnendifferenzierung und Individualisierung der beruflichen Bildung, Ausbildungselemente innerhalb des Systems, die den Auszubildenden im Rahmen der Ausbildungsordnungen beruflicher Entscheidungen und Entfaltungen auch am Arbeitsplatz eröffnet. Variationen von Lernzeiten, Methoden und Inhalten können Begabungsreserven ausschöpfen und Hochbegabte besser fördern. Die Einführung nur praktischer Berufsausbildungen oder eine Verkürzung der Ausbildung auf Berufsteilqualifikationen als eigenständige Bildungsgänge lehnen wir auch in Zukunft entschieden ab.
Zur Modernisierung der Berufsausbildung gehört auch: Die sozialen Bedingungen und Perspektiven, die durch berufliche Bildungsgänge eingeengt und eröffnet werden, müssen verbessert werden. Erfahrungen und berufliche Qualifikationen müssen Zugänge zu Arbeitsplätzen und Positionen eröffnen, die üblicherweise nur mit Hochschulabsolventen besetzt werden. Auf der mittleren Führungsebene muß der Berufserfahrene ebenso Chancen haben wie der Hochschulabsolvent.
({6})
Dort entscheidet sich, ob das Hochschulstudium oder
die Berufsausbildung bessere Berufschancen liefern.
Wenn durch eine Novelle zum Berufsbildungsförderungsgesetz das Bundesinstitut für Berufsbildung - übrigens die einzige Institution, die auf diesem Gebiet Forschung betreibt - politisch eingeengt werden soll, lehnen wir auch das schon jetzt entschieden ab.
Wir dürfen in Deutschland, denke ich als Schlußfolgerung, nicht in eine Modernitätskrise der Berufsausbildung geraten. Eine grundlegende Reform bei Beibehaltung des dualen Systems und des überwiegenden Lernens am Arbeitsplatz ist nötig. Schrittweises und wahlweises Vorgehen ohne Zielkonzeption werden wir nicht empfehlen.
Die Bundesregierung wird von uns aufgefordert, sich im Berufsbildungsbericht 1993 diesen bildungspolitischen Fragen zu stellen und ein glaubhaftes Modernisierungskonzept vorzustellen. Der Berufsbildungsbericht 1992 genügt diesen Notwendigkeiten nicht. Wir wollen ihn an die Ausschüsse überweisen und dort im Detail weiter diskutieren.
Ich danke Ihnen.
({7})
Nun hat der Kollege Hubert Hüppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Fischer sprach eben von Politikverdrossenheit. Jeder bemerkt auch, daß es sie tatsächlich in der Bevölkerung gibt. Aber ich denke, Politikverdrossenheit wird auch dadurch hervorgerufen, daß man objektive Erfolge des politischen Gegners nicht anerkennt.
({0}) Das finde ich eigentlich schade.
Als wir vor einem Jahr in diesem Hause den Berufsbildungsbericht 1991 diskutierten, hielten viele das gesteckte Ziel, allen Bewerberinnen und Bewerbern in den jungen Ländern einen Ausbildungsplatz anbieten zu können, für überhöht, ja für unerreichbar.
({1})
Meine Damen und Herren, es wurde erreicht, und dafür müssen wir allen Beteiligten hier danken.
({2})
Mit dem Berufsbildungsbericht 1992 und den sich daraus ergebenden Konsequenzen stehen wir nun erneut vor einer großen Herausforderung. Ich will an dieser Stelle auf einige wenige Gesichtspunkte noch einmal gesondert hinweisen. Das duale System der Berufsausbildung mit Betrieben auf der einen und den Berufsschulen auf der anderen Seite, mit der Vermittlung der praktischen und der theoretischen Fähigkeiten gilt international als Paradestück des deutschen Bildungssystems. In vielen Ländern wird es als Modell für Reformbestrebungen herangezogen. Die Zahlen des vorliegenden Berichts zeigen jedoch, daß der Stellenwert des bewährten dualen Systems bei den Jugendlichen und bei deren Eltern sinkt. Hier gilt es natürlich zu handeln. Gerade in den jungen Bundesländern stand und steht die berufliche Bildung vor großen Aufgaben. Vieles wurde in den zurückliegenden Monaten geleistet. Ich begrüße nachdrücklich die Absicht der Bundesregierung, mit gezielten Hilfen beim Aufbau eines flächendeckenden Netzes überbetrieblicher Berufsausbildungsstätten den nötigen Anpassungsprozeß zu beschleunigen. Zwar wird man nicht darum herumkommen, auch für außerbetriebliche Bildungseinrichtungen als Ausgleich finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, Ziel sollte es jedoch sein, diese mehr und mehr in betriebliche Ausbildung zu überführen.
Eine der Maßnahmen, die dazu führten, daß jedem Bewerber eine Stelle angeboten werden konnte, war mit Sicherheit das Sonderprogramm zur Förderung der Berufsausbildung in Kleinunternehmen bis 20 Beschäftigte, das sich, wie die Bilanz des vergangenen Jahres zeigt, eindeutig bewährt hat. Ich bin froh, daß jetzt das Handwerk - nicht die Bundesregierung - sagt, man käme künftig auch ohne dieses Sonderprogramm zurecht.
In der Phase des wirtschaftlichen Umschwungs und des Neuanfangs in den jungen Ländern wurde der Bereich der beruflichen Bildung bei den Unterneh7760
men kurzsichtig vielfach nur als Kostenfaktor angesehen. Allen Beteiligten muß aber klar sein, daß die Investition in die Facharbeiterausbildung die wirtschaftliche Zukunft auch und gerade in den jungen Ländern sichert. Eine Abwanderung junger Auszubildender in die alten Bundesländer gilt es zu verhindern, wenn die wirtschaftliche Zukunft der jungen Länder gesichert werden soll.
Die Umstellung der Ausbildungsdauer von ehemals zwei auf drei bis dreieinhalb Jahre sowie der Konkurs zahlreicher Großbetriebe und Kombinate, in denen die Berufsausbildung in der ehemaligen DDR konzentriert war, markierten weitere Problembereiche der beruflichen Bildung in den neuen Ländern. Durch den drastischen Rückgang der Konkurslehrlinge - nur noch 20 % des Vorjahres - wird es in diesem Jahr erfreulicherweise hier zu einer Entlastung kommen. Der durch die Änderung der Schulpflichtregelung in den jungen Ländern zu erwartende gesteigerte Ausbildungsplatzbedarf für das Jahr 1992
({3})
stellt uns natürlich vor eine besondere Herausforderung auch in diesem Jahr. Dabei werden wir darauf achten - das halte ich für sehr wichtig -, daß das Angebot nicht nur zahlenmäßig gesteigert wird, sondern auch qualitativ.
({4})
Vor ganz anderen Problemen stehen wir in den alten Bundesländern, in denen die Schere zwischen Ausbildungsplätzen und Ausbildungsplatzbewerbern immer weiter auseinandergeht. Da wäre an erster Stelle die Beziehung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung zu nennen. Wir erwarten, daß mit den Absichtserklärungen, eine Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung herbeizuführen, in absehbarer Zeit endlich Ernst gemacht wird.
({5})
Es darf nicht beim Lippenbekenntnis bleiben.
({6})
Hierbei sind der Bund und die Länder, insbesondere aber auch die deutsche Wirtschaft gefordert.
Ich freue mich daher über Ihre konkreten Ankündigungen in dieser Richtung, Herr Minister Ortleb. Es ist zwar positiv zu bewerten, daß nach einer Berechnung des Bundesinstituts für Berufsbildung die durchschnittliche Ausbildungsvergütung von 1990 auf 1991 um 11,7 % auf nunmehr 838 DM gestiegen ist, doch damit ist es längst nicht getan. Der schon heute deutlich vorhandene Mangel an Auszubildenden und Facharbeitern wird sich ohne deutliche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität der beruflichen Ausbildung ansonsten zu einer ernsten Krise für die deutsche Wirtschaft ausweiten. Die Zahlen des vorgelegten Berichts machen das deutlich. Dabei sind Ausbildungsvergütungen und Einkommensperspektiven nur ein Aspekt unter vielen, wenn auch für die Betroffenen sicherlich kein unwesentlicher. Die in einer beruflichen Ausbildung erworbenen Qualifikationen müssen daher von der Wirtschaft bei der tarifrechtlichen Eingruppierung angemessen berücksichtigt werden.
Ein Punkt noch zum Schluß. Der Bund und die Länder sollten als Arbeitgeber - das sage ich leicht provokativ - im öffentlichen Dienst eine Vorreiterrolle übernehmen. Gerade da gilt es, die Laufbahnverordnungen genau zu überprüfen und zu durchforsten.
Ich will überhaupt nicht bestreiten, daß es Probleme gibt. Es gehört zur Ehrlichkeit der Politik, dies zuzugeben. Aber durch das Wissen von den Leistungen und den Anstrengungen der Bundesregierung, auch der Landesregierungen und vor allem des Handwerks, des Mittelstands und der Industrie bin ich für die vor uns liegenden Aufgaben guter Dinge.
Vielen Dank.
({7})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/2427 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fortschreibung des Berichts der Bundesregierung über die Lage der Freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 12/21, 12/2017 Berichterstattung:
Abgeordneter Hansjürgen Doss
Nach einer Vereinbarung des Ältestenrats ist für die Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt eine Stunde vorgesehen. - Auch dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Als erstem erteile ich dem Kollegen Friedhelm Ost das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Einigkeit macht bekanntlich stark. Ich denke, es ist ein gutes Signal, daß alle Fraktionen im Wirtschaftsausschuß die Fortschreibung des Berichts der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe in Deutschland begrüßt und, was bemerkenswert ist, eine einstimmige Beschlußempfehlung zu diesem Bericht gegeben haben. Ich sehe darin ein sehr positives Signal, vor allem dafür, daß wir alle für eine weitere Stärkung der Freiberufler in unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eintreten. Vor allem in den neuen Bundesländern brauchen wir eine noch wesentlich breitere Schicht und eine größere Zahl von Freiberuflern in nahezu allen Bereichen. Freie Berufe und Sozialismus, das paßte in der früheren DDR kaum
zusammen. Viele Freiberufler wurden im „real existierenden Sozialismus" fast völlig eliminiert und in ihrer Existenz und Entfaltung behindert und bedroht; nur wenige hatten eine Überlebenschance, meist eine sehr kümmerliche.
Wir sollten uns dessen bewußt sein: Soziale Marktwirtschaft und Freiberufler gehören untrennbar zusammen. Ja, Freiberufler sind nicht nur bedeutende Leistungsträger unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, sondern auch Garanten für die Qualität unseres freiheitlichen Systems. Gerade deshalb sollten wir auch politisch alles zur Entfaltung einer breiten Schicht von Freiberuflern in unserem Land unternehmen.
Besonders in Ostdeutschland gilt es die noch großen Defizite zu beseitigen. Manche haben bereits Mut bewiesen und sind als Freiberufler in den neuen Bundesländern beim Aufbau der Städte, bei der Neuordnung der Wirtschaft, im Beratungssektor und im Gesundheitsbereich vielfältig aktiv geworden. Ich denke - man muß dies einmal deutlich sagen -, es gibt dort weiterhin sehr gute Chancen für Freiberufler, vor allem dann, wenn sie in ihrer Aktivität nicht durch zu viel Staat und Bürokratie behindert werden.
({0})
Diese Aufgabe gilt jedoch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ebenso, wenn auch in anderen Dimensionen. Es gibt in ganz Deutschland rund 500 000 selbständige Freiberufler in ärztlichen Praxen, in Anwaltskanzleien, in der Steuerberatung, als Architekten, Gutachter, Künstler, Publizisten usw. Sie beschäftigen gut 1,2 Millionen Menschen und bilden 150 000 junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus. Ich bin sicher, daß diese Zahl der Freiberufler in den nächsten Monaten und den nächsten Jahren weiter steigen wird, vor allem dann, wenn wir eine weitere Anpassung der ostdeutschen Strukturen an das westdeutsche Niveau erreichen. Sicher haben einige zehntausend weitere Freiberufler in den neuen Bundesländern eine gute Chance.
Zugleich wäre sicher zu begrüßen, wenn wir in ganz Deutschland zu der Erkenntnis kämen, daß eine Strategie „Weniger Staat, mehr privat" weitere Betätigungsfelder für Freiberufler erschließen würde. Auf allen Ebenen des Staates sollten wir deshalb gemeinsam kritisch überprüfen, ob nicht eine Entstaatlichung von Leistungen angezeigt ist, besonders im Bauwesen und im Prüfungs- und im Überwachungsbereich, aber auch in anderen Sektoren.
Der Bund sollte hier mit gutem Beispiel sicherlich vorangehen. Wir alle wissen, daß der sogenannte Staatsdienst, der staatliche Sektor, insgesamt zu groß geworden ist. Das Ideal vieler Deutscher ist es leider nach wie vor, beruflich in den staatlichen Dienst zu drängen. Dabei wäre es sicherlich im Sinne einer Entstaatlichung und auch einer Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft, wenn mehr junge, dynamische Zeitgenossen es riskierten, Freiberufler zu werden.
({1})
Dazu wäre es allerdings erforderlich, daß der Weg in die freien Berufe nicht weiter durch Hürden verbaut wird. Den Freiberuflern dürfen nicht immer und überall neue Fesseln angelegt werden. Soviel Freiheit, wie nur eben möglich, soviel Regulierung, wie unbedingt nötig. Dies muß, glaube ich, die Leitlinie für eine freiberuflerfreundliche Politik sein.
({2})
Ich denke, auch die baldige Einbringung eines Partnerschaftsgesetzes als zusätzliche Rechtsform für eine gemeinschaftliche Berufsausübung für die Gruppen der freien Berufe ist wichtig. Ich hoffe, daß das Bundesjustizministerium an dem Entwurf dafür mit Volldampf arbeitet, zumal diese neue Form gerade im Zuge des Europäischen Binnenmarktes besonders an Bedeutung gewinnen kann.
Der Europäische Binnenmarkt mit seinem Wachstums- und Entfaltungspotential bietet gerade auch für Freiberufler neue Chancen. Allerdings dürfen diese Möglichkeiten in einigen Bereichen nicht gleich von der EG-Kommission verbaut werden. Ich erwähne hier beispielhaft nur die Dienstleistungshaftungsrichtlinie, die meines Erachtens als völlig unannehmbar angesehen werden muß.
Für die freien Berufe ist es auf der einen Seite wichtig, daß sie sich auch in einem Gemeinsamen Binnenmarkt ihre hohe Qualifikation erhalten. Hohe Standards für Ausbildung und Weiterbildung sind dazu weiterhin unerläßlich. Andererseits müssen sie darauf achten, daß die freiberuflichen Tätigkeiten nur den wirklich fachkundigen Personen vorbehalten bleiben und dementsprechend Funktionsvorbehalte zum Schutze des Verbrauchers weiter bestehen bleiben. Dies gilt auch für das Berufsrecht, das das Verbraucherschutzrecht im besten Sinne darstellt, sofern es sachgerecht gestaltet ist.
Der erwähnte Richtlinienentwurf zur Haftung bei Dienstleistungen enthält indes eine Reihe geradezu unzumutbarer Regelungen. So wird z. B. im Baubereich die Haftungsfrist auf 20 Jahre ausgeweitet. Für die Frage des Verschuldens soll die Beweislast umgekehrt werden. Das hieße konkret: Nach 20 Jahren müßten Architekt und Ingenieur beweisen, daß sie einen Schaden nicht verschuldet haben.
Derartige Ordnungsvorschläge nähren grundsätzliche Zweifel an der Sachkompetenz der EG für solche Regelungen. Ich denke, wir sollten gemeinsam das Bundeswirtschaftsministerium und auch das Bundesjustizministerium ermuntern, die Vertretung gerade des deutschen Standpunktes bei den Verhandlungen mit der Kommission, dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament noch stärker als bisher wahrzunehmen.
({3})
Die freien Berufe sind nach Überzeugung meiner Fraktion ein Element der Freiheit in unserer Gesellschaft, nicht allein der persönlichen Freiheit, sondern auch der staatsbürgerlichen Freiheit. Sie sind ein Teil der Dienstleistungsgesellschaft, die sich immer stärker entwickelt und herausbildet, ein Teil des Mittelstandes als dynamische Kraft unserer Wirtschaft und Gesellschaft.
Ich denke auch, daß die freien Berufe weder Privilegien besonderer Art noch irgendwelche Schutz- zäune benötigen. Bei fairen, vernünftigen Wettbewerbsbedingungen, bei begrenzten und tragbaren Belastungen und bei weiter verringerten Benachteiligungen brauchen wir uns um die freien Berufe und um ihre vielfältigen und hochwertigen Leistungen im Dienste der Bürger keine Sorgen zu machen.
Allerdings - auch dies sage ich hier ganz offen - sollten manche Neidapostel aufhören, stets die Freiberufler ins Visier zu nehmen, wenn es um die Suche nach einer besonderen Gruppe geht, die mit noch höheren Steuern und Abgaben gemolken werden soll.
({4})
Die Freiberufler und Beamten werden immer in einem Atemzug genannt, bei denen man, wenn es um besondere Abgaben geht, noch etwas holen kann.
Wer die Lasten für die risikofreudigste Gruppe in unserer Gesellschaft wirklich zu schwer macht, der wird Freiberufler nicht zu Leistung ermuntern, sondern im Prinzip immer mehr Menschen in abhängige Beschäftigungsverhältnisse treiben. Unsere Gesellschaft braucht indessen mehr Leistung, mehr Dynamik, mehr Innovation. Deshalb sage ich: Geben wir den Freiberuflern gute Chancen, gute Rahmenbedingungen, damit sie dazu ihren Beitrag leisten können!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nun hat der Kollege Albert Pfuhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns wieder in der kleinen Runde. Wenn ich alleine daran denke, wie viele Mittelständler wir im Bundestag haben, wie viele hinter ihrem Namen den Titel Rechtsanwalt führen, wundere ich mich, daß diese Kollegen nicht hier sind. Es geht ja auch um ihr Interesse.
({0})
- Ja, ich weiß, das gilt auch für meine Fraktion, in erster Linie.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute über eine Entschließung zur Fortschreibung des Berichtes der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe, die der Wirtschaftsausschuß, wie es auch der Vorsitzende des Ausschusses schon gesagt hat, einstimmig zur Annahme empfohlen hat. Diese Einmütigkeit gehört nicht gerade zu den alltäglichen Ereignissen im Parlament. Unabhängig davon, ob die eine oder andere Formulierung in dieser Entschließung auch etwas anders hätte aussehen können, dokumentiert sie insgesamt die Anerkennung der großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistung der freien Berufe über die Parteigrenzen hinweg.
({1})
- Ach, jetzt läuft der auch noch fort.
({2})
Diese gemeinsame Auffassung hat auch die Regierungswechsel überlebt. Ich erinnere daran, daß der Deutsche Bundestag schon in der 8. Legislaturperiode einstimmig eine damals unter sozialdemokratischer Federführung vorgelegte Entschließung zum ersten Bericht über die Lage der freien Berufe verabschiedet hat.
Unüblich ist es normalerweise, daß über einstimmige Beschlußempfehlungen von Ausschüssen so ausführlich debattiert wird, vor allem dann, wenn man berücksichtigt, daß über die freien Berufe nun bereits zum dritten Male in gut anderthalb Jahren eine Debatte in diesem Hause stattfindet.
Ich werde deshalb den Verdacht nicht los, daß diese „Debattierwut", nachdem die Regierungskoalition ja zehn Jahre nichts zu diesem Thema gesagt hatte, in erster Linie der Profilierung der Kollegen Mittelstandspolitiker dient. Wenn sogar der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses, der ja kein Mittelständler ist, dazu Stellung nimmt, hat wahrscheinlich auch er seinen guten Grund dazu.
Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, Sie können sonst nicht viel dazu bieten; denn diese Kritik, auf die ich weiter eingehen werde - darauf lege ich Wert -, richtet sich keinesfalls gegen die freien Berufe. Aber mit Blick auf die Redner aus der Regierungskoalition halte ich es mit Tucholsky, der zum Thema Wiederholung, über Pointenwiederholer, gesagt hat: Es muß Menschen geben, die etwas erst dann richtig aufnehmen, wenn sie es selber gesagt haben. - Bei Ihnen muß das wahrscheinlich mehrere Male erfolgen. Eine Feststellung, die in dieser Debatte ganz offensichtlich gilt.
Ich hatte darauf hingewiesen, daß wir bereits in zwei ausführlichen Debatten über die Entwicklung in den freien Berufen, ihre Probleme, ihre Chancen in der Zukunft, insbesondere auch im Hinblick auf die EG und ihren Binnenmarkt, diskutiert haben, zuletzt über die Fortschreibung des Berichtes über die Lage der freien Berufe.
Wie schnellebig die statistischen Zahlenangaben in solchen Berichten sind, zeigt sich an der Entwicklung der Zahl der Freiberufler in Deutschland. Während der Bericht Anfang 1991 noch von 450 000 selbständig Tätigen sprach, kommt das Institut für freie Berufe, Nürnberg, zu dem Ergebnis, daß zum Jahresende 1991 in der Bundesrepublik Deutschland bereits mehr als eine halbe Million Freiberufler tätig waren - auch Herr Kollege Ost hat dies eben bestätigt -, davon etwa 90 % in den alten Ländern und 10 % in den neuen. Die Zunahme der Zahl der Freiberufler in den neuen Ländern ist besonders zu begrüßen, weil freie Berufe auch dort ganz entscheidend zum Aufbau einer funktionsfähigen Wirtschafts- und auch Gesellschaftsordnung beitragen können. Das Institut für
freie Berufe, Nürnberg, geht davon aus, daß die Zahl der Freiberufler auch in Zukunft, vor allem wegen des starken Zugangs von Hochschulabsolventen in den alten Bundesländern und des Bedarfs an freiberuflichen Leistungen in den neuen, weiter anwachsen wird.
In den zurückliegenden Debatten habe ich für meine Fraktion deutlich gemacht, daß wir die wirtschaftliche und soziale Bedeutung der freien Berufe, die unentbehrliche Dienstleistungen für den einzelnen Bürger und die Volkswirtschaft in unserem demokratischen und sozialen Rechtsstaat erbringen, ausdrücklich anerkennen und daß wir die freien Berufe, die ihre berufliche Legitimation, wie Herr Professor Deneke, der Vorsitzende des Bundesverbandes der Freien Berufe, trefflich formuliert, aus ihrer sozialen Funktion ableiten, bei diesen Aufgaben unterstützen.
In diesem Zusammenhang möchte ich deutlich klarstellen, daß Förderung und Unterstützung nicht verwechselt werden dürfen mit der rücksichtslosen Verwirklichung von Partikularinteressen.
Worum es geht, sind die fairen Rahmenbedingungen und die Chancengleichheit. Im Entschließungsantrag werden einige Schwerpunkte aufgegriffen, z. B. Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im Prüfungs- und Sachverständigenwesen - dieses Thema haben wir beim letztenmal sehr deutlich angesprochen -, stärkere Verlagerung öffentlicher Dienstleistungen auf freie Berufe - ein Vorhaben, das auch angesichts zunehmend knapper werdender öffentlicher Kassen notwendigerweise hier angepackt werden muß -, angemessene steuerliche Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen von Selbständigen bei Alter und Krankheit und, last but not least, die Beseitigung gravierender Nachteile im Zusammenhang mit der Dienstleistungshaftungsrichtlinie der EG, zu der mein Kollege Stiegler nachher im besonderen noch etwas sagen wird.
Meine Damen und Herren, ich hätte mir gewünscht, daß die Entschließung auch weitere Anliegen der freien Berufe hier aufgegriffen hätte, beispielsweise die von der SPD bereits seit Jahren geforderte und von den Regierungsparteien abgelehnte schärfere Eingrenzung von Nebentätigkeiten im öffentlichen Dienst.
In diesem Zusammenhang fiel mir heute ein Artikel in der „Süddeutschen Zeitung" auf, den ich ausgeschnitten habe. Überschrift: „Dienstunfähige Beamte werden Steuerberater" . Immer häufiger lassen sich offenbar Finanzbeamte wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzen, um bald danach den lukrativen Beruf des Steuerberaters zu ergreifen.
({3})
Dabei würden sie sogar von den Steuerprüfungen befreit, schrieb der Bund der Steuerzahler an den Herrn Bundesfinanzminister Waigel. Vielleicht können Sie dazu Stellung nehmen, denn uns ist der Brief ja nicht direkt zugegangen, aber ich schätze, daß Herr Waigel Sie darüber informiert hat. Ich würde mich an Ihrer Stelle informieren lassen, wie Sie diese Unart
abstellen wollen, daß Leute, die sich dienstunfähig schreiben lassen, anschließend ohne Prüfung einen freien Beruf ergreifen und hiermit nach meiner Meinung praktisch nicht in das System hineinpassen, von dem wir reden. Ein Beamter sollte normalerweise arbeiten. Wenn er nicht mehr arbeiten kann, kann er auch nicht den Beruf eines Steuerberaters ausüben.
({4})
Den Sachverhalt habe ich bei der vergangenen Debatte und auch im Zusammenhang mit anderen Fragen bereits dargestellt, so daß ich auf allgemeine Punkte hier verzichten möchte. Die Zeit rennt davon. Nur so viel will ich sagen: Unsere Forderung in der Sache bleibt bestehen.
Ich hätte mir weiter gewünscht, daß die Entschließung auch unsere Forderung nach einem verstärkten Schutz für die gewerblich genutzten Mieträume berücksichtigt. Hier geht es ja nicht allein um die gewerblichen Mittelständler, wie Lebensmittelhändler usw., sondern es geht hier auch darum, daß viele Praxisräume, Kanzleiräume nicht mehr gehalten werden können, weil die Mieten, vor allem in den neuen Ländern, für die Anfänger in diesen Berufen nicht mehr zu bezahlen sind.
Meine Damen und Herren, Sie haben es abgelehnt, hier den gewerblichen Mieterschutz, der auch für die freien Berufe gegolten hätte, etwas zu verschärfen sondern Sie sind nur bereit, darüber zu diskutieren, ob man etwa die Kündigungsfristen ändert. Das Institut für freie Berufe Nürnberg hat dazu die Entwicklung der Mieten vor allem in den Ballungsräumen als Investitionshemmnis ersten Ranges auch für die Gründung freiberuflicher selbständiger Existenzen bezeichnet. Dieses gilt. Es handelt sich um eine Einschätzung, die auch von den Landesvorsitzenden der freien Berufe aus den neuen Bundesländern voll und ganz geteilt wird. Sie können das in der Zeitschrift „Die freien Berufe" lesen. Ich denke also, daß es auch hier durchaus im Interesse der freien Berufe gelegen hätte, wenn sich die Koalitionsfraktionen einem vernünftigen gewerblichen Mieterschutz angeschlossen hätten.
({5}) Bedauerlicherweise haben sie das abgelehnt.
Völlig unverständlich ist mir auch die Haltung meiner Kollegen aus den Koalitionsfraktionen im Hinblick auf den Kahlschlag der Bundesregierung in der Mittelstandsförderung. Im Westen haben wir abserviert. Selbst im Osten fängt es langsam an, werden Schwierigkeiten entstehen. Heilberufe erhalten keine Fördermittel aus dem Eigenhilfekapitalprogramm mehr. Als die zuständige Bank die Absicht hatte, dies auf eigene Verantwortung zu tun, wurde sie vom Bundeswirtschaftsminister zurückgepfiffen. Ausgerechnet die freien Berufe also, die den höchsten Investitionsaufwand bei der Existenzgründung benötigen! Wer erwartet hat, daß sich die Koalitionsabgeordneten - vor allem Sie von der CDU/CSU, die Sie ja stets betonen, wie wichtig und erfolgreich gerade das Eigenkapitalhilfeprogramm für die Gründung einer wirtschaftlich stabilen Existenz sei -, konsequent
gegen diese schleichende Aushöhlung auch in den neuen Bundesländern zur Wehr setzen würden, hat sich getäuscht.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsabgeordneten sollten sich an ihre eigene Vereinbarung halten, die mit Blick auf die Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen lautet:
Hierbei geht es sowohl um die Fortsetzung der Existenzgründungsförderung ({6}) als auch um die Weiterentwicklung der bewährten übrigen mittelstandspolitischen Fördermaßnahmen.
Soweit Ihre Koalitionsvereinbarung. Haben Sie diese erfüllt? Ich muß sagen: Nein.
({7})
Meine Damen und Herren, meine Redezeit läuft langsam ab.
Sie ist zu Ende, lieber Kollege.
Ich hatte darauf hingewiesen, daß wir der Entschließung zustimmen und der Auffassung sind, daß sie trotz der von mir angedeuteten Kritikpunkte im Kern den freien Berufen nützt. Ich halte diese Bereitschaft zur sachlichen Bewertung auch bei den Koalitionsfraktionen für dringend erforderlich. Dies gilt vor allem weit stärker als für die Einzelfragen für die zentralen Fragen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit.
Ich appelliere an Sie, endlich mit uns gemeinsam die dringend notwendigen strukturellen Maßnahmen für eine wirtschaftliche Belebung und Stabilisierung im Osten zu verwirklichen
Jetzt ist Ihre Redezeit wirklich zu Ende.
- und das Prinzip ,,Entschädigung vor Rückgabe", das auch in dem Zusammenhang anzusprechen ist, hier endlich anzupacken.
Herzlichen Dank.
({0})
Nun hat Kollege Hermann Otto Solms das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Dr. Kolb war so freundlich, mich bei einer Veranstaltung heute abend zu vertreten. Deswegen habe ich es übernommen, seine Rede zu den freien Berufen hier vorzutragen.
Aber vorab, Kollege Pfuhl, zu Ihnen. Die freien Berufe sind, wie der Name schon sagt, freie Berufe. Sie sind stolz darauf, als freie Berufe unabhängig, selbständig zu arbeiten, und deswegen fragen sie eben nicht nach staatlichen Subsidien und Förderungen, sondern wollen ihre Existenz gestalten und sichern und soweit wie möglich unabhängig sein.
Die freien Berufe gewinnen im wiedervereinigten Deutschland zunehmend an Bedeutung. Das ist hier vorgetragen worden. 25 % mehr Freiberufler gegenüber dem Stand von 1988 sprechen eine deutliche Sprache. Das ist ein starker Zuwachs. Zusammen mit 1,2 Millionen Beschäftigten, darunter 150 000 Auszubildenden, verdienen knapp 5 % der Erwerbstätigen ihren Lebensunterhalt bei den freien Berufen.
Die Fortschreibung des Berichtes der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland, die ich namens meiner Fraktion ausdrücklich begrüße, unterstreicht diese positive Entwicklung. Es ist in den letzten Monaten immer wieder auf die Bedeutung einer funktionsfähigen Verwaltung für die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft hingewiesen worden, insbesondere natürlich in Ostdeutschland. Ich will die heutige Debatte dazu nutzen, einmal in aller Klarheit und Deutlichkeit auf die Bedeutung der freien Berufe in unserem Staat am Beispiel des Umbruchs in den neuen Bundesländern hinzuweisen.
Einige Beispiele. Es ist beeindruckend und verdient Anerkennung, mit welchem Engagement und mit welcher persönlichen Risikobereitschaft sich viele Menschen in den freien Berufen des Gesundheitswesens engagieren und die Strukturen des alten DDR-Gesundheitswesens ersetzen.
Ohne die Unterstützung und Hilfe, die die freien Berufe, die rechts- und steuerberatenden Berufe für Bürger und Unternehmen in den neuen Bundesländern leisten, war und ist die Umstellung auf ein neues Rechtssystem mit einschneidenden Veränderungen vom Privatrecht bis zum Steuerrecht nicht denkbar.
({0})
Es sind die freien Berufe in den wirtschaftsberatenden Berufen, die den Unternehmen in den neuen Ländern, die in der Vergangenheit auf Produktion und Kapazität fixiert waren, kurzfristig Know-how in Sachen Marketing und Controlling zur Verfügung stellen.
Die Beispiele unterstreichen: Die praktische Mitwirkung der freien Berufe an der Umgestaltung der Wirtschaft in den neuen Ländern kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Viele von den jetzt noch existierenden Unternehmen wären nicht lebensfähig ohne diese Beratung.
({1})
Ich möchte einen weiteren Punkt nennen, der für die freien Berufe von überragender Bedeutung ist, die Dienstleistungshaftungsrichtlinie der Europäischen Gemeinschaft. Hier sind elementare Interessen der Freiberufler, insbesondere im Baubereich und in den Heilberufen, berührt. Das Problem ist akut. Die Richtlinie liegt zwar immer noch im Rechtsausschuß des Europäischen Parlaments. Bis Ende der Sommerpause wird aber aller Voraussicht nach ein modifizierter Vorschlag vorliegen.
Die F.D.P.-Fraktion unterstützt die eindeutig ablehnende Haltung der Bundesregierung gegenüber dem bisher vorliegenden Richtlinienentwurf.
Es wird in den anstehenden weiteren Verhandlungen darauf ankommen, eine Einheitshaftung für den freien Beruf, die den vertraglichen und deliktischen Haftungsbeziehungen nicht gerecht wird, zu verhinDr. Hermann Otto So1ms
dern. Verhindert werden muß auch die Beweislastumkehr, bei der ein Freiberufler den Nachweis für sein Nichtverschulden erbringen müßte. Die F.D.P.-Fraktion begrüßt und unterstützt daher die Bemühungen der Bundesregierung, in den Verhandlungen mit den anderen EG-Partnerländern konstruktiv auf eine einvernehmliche Regelung hinzuwirken.
Einen dritten Punkt der Entschließung, die Ihnen vom Wirtschaftsausschuß einstimmig zur Beschlußfassung vorgeschlagen wird, möchte ich aufgreifen: die Deregulierung im Bereich der freien Berufe. Die Deregulierungskommission hat für das technische Prüfungs- und Sachverständigenwesen sowie für die Märkte der Rechtsberatung und Wirtschaftsberatung eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Sie laufen auf mehr Wettbewerb und auf die Beseitigung von Marktzugangsbarrieren sowie auf eine größere Vielfalt des Leistungsangebots der freien Berufe in diesen Bereichen hinaus.
Die F.D.P. begrüßt und unterstützt diese Vorschläge. Die freien Berufe sind leistungs- und wettbewerbsfähig. Sie brauchen keine Schutzzäune. Sie wollen keine Schutzzäune. Sie wollen selbständig arbeiten und ihren Aufgaben nachgehen, und sie wollen, daß diese Arbeit leistungsgerecht entlohnt wird. Dann werden sie entsprechend erfolgreich arbeiten können. Wir als Politiker sind veranlaßt und aufgerufen, ihnen ihren Handlungsspielraum zu erhalten.
Vielen Dank.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt hätte als nächste Rednerin eigentlich unsere Frau Kollegin Angela Stachowa das Wort. Sie ist auch anwesend. Wegen einer Kieferoperation kann sie aber nicht reden. Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung, daß die Rede der Kollegin Stachowa zu Protokoll genommen wird.*)
({0})
- Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als nächstem Redner erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich danke dem Ausschuß für Wirtschaft für die gründliche Auseinandersetzung mit dem Bericht, aber auch für das Petitum an die Bundesregierung, dem Ausschuß eine ergänzende Information über die Lage der freien Berufe in den neuen Ländern zu geben. Mehr ist vorläufig aber auch nicht möglich. Die Statistiken, die wir für einen regelrechten Bericht bräuchten, sind auf absehbare Zeit nicht zu erhalten. Im übrigen: Wir sollten hier auch keine Zeit verlieren, um die notwendigen Entscheidungsgrundlagen im Interesse der freien Berufe bald verfügbar zu halten.
({0})
) Anlage 2
Die Entwicklung der freien Berufe schreitet mit Unterstützung des Bundes voran. Erfreulicherweise können die Zahlen der Beschlußempfehlung bezüglich der neuen Länder nach oben korrigiert werden. Die Zahlen sind soeben hier genannt worden.
1992 fördern wir erstmals freiberufliche Kammern und Fortbildungseinrichtungen in den fünf neuen Bundesländern. Aber nicht nur das: Darüber hinaus fördern wir Informations- und Schulungsveranstaltungen für freie Berufe in Polen, in der CSFR und in Ungarn. Diesen Weg wollen wir im Sinne guter Nachbarschaft auch weitergehen; denn wir haben ein existentielles Interesse daran, daß sich auch die freien Berufe in unseren Nachbarstaaten positiv entwikkeln.
({1})
Ein Wort, meine Damen und Herren, zu den aktuellen Honorarsätzen in den fünf neuen Bundesländern. Deren Höhe wird so nicht bleiben. Allerdings: Eine Anpassung muß im Gleichschritt mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erfolgen, d. h. im Einklang mit der allgemeinen Produktivitäts- und Lohnentwicklung.
Die Bundesregierung prüft nun, soweit sie überhaupt dafür zuständig ist, ob für bestimmte freie Berufe ein Titelschutz notwendig ist. Die Deregulierungsbemühungen der Bundesregierung und der grundrechtlich verbürgte Schutz der Berufsfreiheit setzen dabei strenge Maßstäbe.
Die Vorschläge der Deregulierungskommission sehen zahlreiche Erleichterungen vor, um die Wettbewerbsfähigkeit der freien Berufe zu stärken. In wenigen Tagen werden die Ergebnisse der Koalitionsarbeitsgruppe Deregulierung bekanntgegeben. Sie hat die sachgemäße und politische Umsetzbarkeit der Kommissionsvorschläge eingehend und detailliert geprüft. Ich denke, die Anhänger der Deregulierung und Privatisierung werden nicht enttäuscht sein. Das Wesen der rechtsberatenden freien Berufe und das bestehende technische Sicherheitsniveau sollen unter keinen Umständen angetastet werden.
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Privatisierung am ehesten in den neuen Bundesländern möglich ist, weil dort noch keine festgefahrenen Verwaltungsstrukturen bestehen. Viele Themen liegen aber in der Gesetzgebungskompetenz der Länder, so daß wir hier nur beratend mitwirken können.
Dennoch, es gibt Erfolge. Im Bereich des Vermessungs- und Katasterwesens konnten die gemeinsamen Gesprächsrunden der Leiter der Staatskanzleien und der Wirtschafts-Staatssekretäre erreichen, daß nun in fast allen neuen Ländern Gesetze erlassen wurden, die auch die freiberufliche Vermessung vorsehen. Diese Gesetze müssen nun von der Verwaltung aber auch entsprechend umgesetzt werden. Es darf nicht sein, daß in Thüringen nur öffentlich bestellte Vermessungsingenieure mit Regionalerfahrung zugelassen werden sollen oder in Sachsen nur drei Mitarbeiter oder gleichzeitig nur drei Aufträge für freiberufliche Vermessungsingenieure erlaubt sind. Hier besteht in der Tat Handlungsbedarf.
Die Verwaltung muß die Privatisierung fördern. Sie muß die Privatisierungshindernisse beseitigen. Dabei sollte es jedoch nicht bleiben. Im Bundeswirtschaftsministerium könnte man sich darüber hinaus beispielsweise sogar die Privatisierung des Katasters vorstellen.
Im Bereich des Sachverständigenwesens geht es in den neuen Bundesländern voran. Alle fünf Länder haben IHK-Gesetze verabschiedet, auf deren Grundlage Sachverständige nach § 36 der Gewerbeordnung bestellt werden können. Die gegenwärtige Anzahl von rund 250 öffentlich bestellten Sachverständigen wird sich auf Dauer mehr als verzehnfachen, besonders dann, wenn die administrativen Hindernisse bei der Sachkundeprüfung beseitigt sind.
Im heiß umkämpften Bereich der Kraftfahrzeuguntersuchungen sind ebenfalls mit beratender Unterstützung der Bundesregierung in allen Ländern die Voraussetzungen für eine freiberufliche Prüftätigkeit geschaffen worden. In Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen haben freiberufliche Prüfer nun ihre Arbeit aufgenommen.
Fortschritte gibt es auch beim geplanten Partnerschaftsgesetz, das hier mehrfach angesprochen worden ist. Die Sondierung des Bundeswirtschaftsministers bei den wirtschaftsnahen freien Berufen ergab, wie ich mit großer Freude sage, einhellige Zustimmung. Immer größer wird auch das Interesse der Heilberufe, insbesondere der Zahnärzte, an dieser besonderen Rechtsform für die Zusammenarbeit freier Berufe. Im federführenden Bundesjustizministerium wird zur Zeit eine Feinabstimmung mit den freien Berufen vorgenommen.
Wenn wir eine Haftungsbeschränkung erreichen können, die das besondere Risiko der Zusammenarbeit abdeckt, um, wie von Frankreich für die freiberufliche Kapitalgesellschaft vorgesehen wurde, die persönliche Haftung auf die handelnden Partner zu beschränken, so wäre das für die Personengesellschaft ein großer Fortschritt. Mehr ist nach Meinung des Bundesjustizministers und auch des Bundeswirtschaftsministers nicht erreichbar.
Mit einer solchen Haftungsbeschränkung, der Parteifähigkeit, dem Gesellschaftsvermögen, der Firma und dem Weiterbestand der Partnerschaft bei Ausscheiden eines Gesellschafters werden große Anreize zur Zusammenarbeit und damit zur Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt geschaffen. Es ist mit hoher Akzeptanz bei den freien Berufen zu rechnen.
Wir werden aber unsere Vorstellungen über freiberuflich grenzüberschreitende Gesellschaftsformen in Brüssel nur dann durchsetzen können, wenn wir zu Hause unsere Schularbeiten machen.
Ein Wort noch zu der von der EG-Kommission geplanten Dienstleistungshaftungsrichtlinie. Ich will unterstreichen, daß sie von der Bundesregierung weiter abgelehnt wird. Abgesehen von dem rechtssystematischen und auch rechtspolitischen Schaden hätten wir mit einer Verteuerung der Dienstleistungen u. a. wegen steigender Versicherungsprämien, aber auch mit einem Rückgang der Innovationsbereitschaft zu rechnen. Zur Zeit liegt der Vorschlag im
Rechtsausschuß des Europäischen Parlaments. Der Ausgang der Beratungen dort ist ungewiß.
Lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt beleuchten. Zur steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen bei Selbständigen möchte ich auf den Bericht des Bundesministers der Finanzen vom 30. April dieses Jahres verweisen. Danach sind im Zusammenhang mit dem laufenden Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung der Zinsbesteuerung deutliche Anhebungen des Grundhöchstbetrages für Vorsorgeaufwendungen, die Anhebung des Sonderausgabenvorwegabzugs sowie die Verzehnfachung des Sparerfreibetrages vorgesehen, außerdem erhebliche Verbesserungen bei der Besteuerung von Alterseinkünften durch Anhebung des Versorgungsfreibetrages und des Altersentlastungsbetrages.
Die Bundesregierung begrüßt, daß der Bericht über die Lage der freien Berufe auch in Zukunft fortgeschrieben werden soll. Der Bericht wird von den freien Berufen und der Wissenschaft, aber auch als Grundlage staatlichen Handelns in Bund und Ländern gebraucht. Der Bericht fördert auch den Dialog zwischen Bundestag und Bundesregierung. Er stärkt die freien Berufe, für die einzusetzen sich die Bundesregierung besonders verpflichtet fühlt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile jetzt unserem Kollegen Hansgeorg Hauser das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Komplimente zum Bericht über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik wurden eigentlich schon in der letzten Debatte verteilt, Herr Staatssekretär. Deswegen gestatten Sie mir, daß ich mit einer kritischen Anmerkung beginne. Bereits in meiner letzten Rede im September über den mit Datum vom 3. Januar 1991 versehenen Bericht der Bundesregierung habe ich wie andere Redner das Fehlen einer Darstellung der Entwicklung der freien Berufe in den neuen Bundesländern kritisiert. Das angehängte Kurzgutachten ist nur in Teilen zu gebrauchen, da einige Passagen längst überholt sind.
Auch unsere heutige Debatte müssen wir ohne solche Unterlagen bestreiten; Sie haben das bestätigt. Dabei wäre es wirklich angebracht, daß die Bundesregierung der Entwicklung der freien Berufe in den neuen Bundesländern besondere Aufmerksamkeit schenkt.
({0})
Ich bitte daher die Bundesregierung, wirklich umgehend dafür zu sorgen - wie es auch in der Beschlußempfehlung vorgesehen ist -, daß wir über die Entwicklung der freien Berufe in den neuen Bundesländern so bald als möglich unterrichtet werden.
Dabei sind die uns aus anderen Quellen zugänglichen Daten wirklich außerordentlich interessant. Wir haben hier offensichtlich die gleichen Quellen, Herr Kollege Pfuhl. Das Institut für Freie Berufe in Nürnberg hat in einer Untersuchung ein ungebrochenes
Hansgeorg Hauser ({1})
Wachstum der freien Berufe in den neuen Bundesländern konstatiert.
({2})
Trotz der vielfach herrschenden Schwierigkeiten haben sich in zahlreichen Berufssparten rund 50 000 Personen in freien Berufen selbständig gemacht.
Sie haben die Niederlassungshindernisse angeführt. Nur, wir sollten uns darüber nicht beklagen. Dies ist in allen Bereichen schwierig. Ich glaube, die freien Berufe - Kollege Solms hat dies dankenswerterweise angesprochen - können solche Schwierigkeiten am ehesten überwinden.
Als Beispiel für die Schwierigkeiten, denen sich die Angehörigen der freien Berufe in den neuen Bundesländern gegenübersehen, aber auch für die Leistungen, die dort erbracht werden, kann der Beruf des Steuerberaters gelten - ein Beispiel aus meinem Tätigkeitsbereich. Ende des Jahres 1989 gab es im Bereich der früheren DDR nur noch etwa 300 selbständige Helfer in Steuersachen und einige Steuerberater mit einem Durchschnittsalter von mehr als 70 Jahren. Das heißt, der Beruf war praktisch ausgestorben. Dies entsprach natürlich auch dem politischen Willen des damaligen Systems, das für einen freien Beruf in der Steuerberatung keinen Platz vorsah.
Seit Januar 1991 gilt das Steuerberatungsrecht der alten Länder auch in den neuen Ländern. Als Folge davon sind heute schon wieder rund 3 000 Steuerberater und Steuerbevollmächtigte in den neuen Bundesländern tätig, davon nur noch 145 der ehemaligen Helfer in Steuersachen. Ein kleiner Teil ist aus den alten Bundesländern zugewandert, aber rund 2 300 Steuerberater und Steuerbevollmächtigte sind in den neuen Bundesländern neu bestellt worden. Die Kapazität ließe sich noch erheblich ausweiten: 12 000 werden noch gebraucht. Zur Zeit ist nur rund ein Viertel des Bedarfes gedeckt.
Außerdem befinden sich derzeit bis zu 10 000 Personen in zweijährigen Umschulungsmaßnahmen zu Fachgehilfen in steuer- und wirtschaftsberatenden Berufen. Damit wird auch die Bedeutung der freien Berufe als Ausbilder und Arbeitgeber eindrucksvoll unterstrichen.
Die in den neuen Bundesländern ansässigen Berufsangehörigen stehen unter einem besonders hohen Leistungsdruck. Es ist zu bedenken, daß sie noch keine langen Berufserfahrungen im Rechnungswesen und im Steuerrecht haben, daß andererseits aber ein hoher Beratungsbedarf besteht, daß sie mit einer Finanzverwaltung zusammenarbeiten müssen, die sich noch weitgehend im Aufbau befindet und daß die äußeren Arbeitsbedingungen - Büroräume, Praxisausstattung - wesentlich ungünstiger sind als in den alten Bundesländern.
Daß diese Schwierigkeiten gemeistert werden, beruht auch auf der Unterstützung der berufständischen Einrichtungen, insbesondere der Kammern und Verbände, sowie der berufständischen Datenverarbeitungsorganisationen. Ich nenne hier die DATEV. Es ist angebracht, auch an dieser Stelle einmal allen in diesen Berufsorganisationen und Verbänden tätigen Mitarbeitern, Geschäftsführern, Vorständen usw. für diese Aufbauarbeit in den Kammern und Verbänden in den neuen Bundesländern zu danken.
({3})
Neben diesen optimistischen und erfolgreichen Meldungen darf jedoch nicht verhehlt werden, daß es durchaus auch Fälle gibt, in denen die Umschulung und die Durchsetzung in der freiberuflichen selbständigen Tätigkeit nicht geglückt sind. Das Institut für Freie Berufe in Nürnberg meldet, daß nach den ihm vorliegenden Informationen voraussichtlich eine größere Anzahl zugelassener Steuerberater vor allem aus fachlichen Gründen in den kommenden Monaten die Segel streichen wird.
Chancen ergeben sich für die freien Berufe nicht nur in den neuen Ländern, sondern natürlich auch in den alten Bundesländern. Wir haben die Zahlen gehört, 1,7 Millionen Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt in den freien Berufen. Das sind 5 % der Erwerbstätigen. Daß 150 000 Auszubildende in dieser Zahl enthalten sind, verdient eine ganz besondere Erwähnung. Die freien Berufe haben einen hervorragenden Anteil daran, daß Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt wurden. Offensichtlich würde sich diese Zahl sogar noch erheblich erhöhen, wenn genügend Bewerber zur Verfügung stünden.
({4})
Den freien Berufen - wir haben es gehört - bietet sich eine Reihe von neuen Chancen, wenn die Vorschläge der Deregulierungskommission verwirklicht werden. Die Beseitigung objektiver Marktzugangsbarrieren wie etwa Bedürfnisprüfungen sowie die Aufhebung staatlicher Monopole ergeben gute Aussichten.
Als Damoklesschwert - auch das haben wir heute gehört - hängt über den freien Berufen immer noch die sogenannte Dienstleistungshaftungsrichtlinie - allein schon von der Wortgestaltung her ein Ungetüm - der EG-Kommission. Nach einer Meldung der „Welt" vom 10. April dieses Jahres ist es EG-Kommissar Bangemann - so heißt es in dem Bericht - gerade noch mit äußerster Not gelungen, die freien Berufe aus einer sogenannten Dienstleistungshaftungsrichtlinie herauszunehmen, die generell die umgekehrte Beweislast im Falle prozessualer Auseinandersetzungen und einen 20jährigen Haftungszeitraum vorsah.
Allerdings, so heißt es auch von Bangemann, kann noch keine Entwarnung gegeben werden; denn der Entwurf der EG ist noch nicht vom Tisch. Ich möchte daher die Resolution der Mitgliederversammlung 1992 des Bundesverbandes der Freien Berufe ausdrücklich unterstreichen und die darin enthaltene Forderung nach sofortiger Einstellung aller Bemühungen zur Einbeziehung der freien Berufe in die geplante Dienstleistungshaftungsrichtlinie und nach sofortiger Einstellung aller Bemühungen zur Erarbeitung von Sonderhaftungsrichtlinien für Teile der freien Berufe nachdrücklich befürworten.
Erfreulicherweise ist es gelungen, die steuerliche Abzugsfähigkeit der Vorsorgeaufwendungen zu verbessern und die Besteuerung von Alterseinkünften zu vermindern. Auch die Neuregelung der Zinsbesteue7768
Hansgeorg Hauser ({5})
rung wird für die freien Berufe - wie natürlich für alle anderen Bürgerinnen und Bürger - eine steuerliche Erleichterung bringen, da die Freibeträge verzehnfacht wurden und im Bereich der Vermögen-, Erbschaft- und Schenkungsteuer ebenfalls erhebliche -Anhebungen erfolgt sind.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, in unserem Nachkriegsdeutschland hat sich eine hochstehende Kultur der Selbständigkeit entwickelt. Die Angehörigen der freien Berufe erbringen eine beachtete Leistung in unserer Gesellschaft und genießen hohes Ansehen. Die geforderte Kreativität, Flexibilität und Marktnähe wird dazu führen, daß die Anziehungskraft des Selbständigseins nicht abnehmen wird. Die freien Berufe sind - wie ich meine - für die Zukunft gut gerüstet.
Ich bitte Sie, der Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses zuzustimmen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Ludwig Stiegler das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Entschuldigung, daß ich etwas später kam. Der Kollege Hans de With ist 60 Jahre alt geworden, und ich hatte als Landesgruppenvorsitzender der Bayern einen Empfang. Ich habe mehr Kollegen - auch der anderen Fraktionen - dort gesehen als hier.
({0})
Wenn ein so verdienter Parlamentarier 60 wird, hoffe ich, daß Sie mir noch einmal verzeihen können.
Ich möchte, nachdem ich die Debatte im Ausschuß nachverfolgt habe, ein paar kritische Themen ansprechen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Wir alle sind uns in der Bedeutung der freien Berufe einig. Wir müssen uns aber alle mit der Tatsache vertraut machen, daß wir durch die Europäisierung sowie durch die Entwicklung der wirtschaftlichen Situation und auch der Anforderungen an die freien Berufe vor einem ziemlich dramatischen Wandel stehen.
Ich nehme einmal die europäische Entwicklung als Beispiel. Sie fordert uns bei den Ausbildungsordnungen. Wir müssen die Ausbildungszeiten verkürzen. Die freien Berufe verlieren Chancen, wenn sie in Deutschland so lange Ausbildungszeiten vorgeben, daß sie zu spät auf den Markt der Dienstleistungen kommen und ihre Leistungen nicht mehr erbringen können.
Wir müssen uns mit der Regelung der Berufsordnungen befassen. Ich glaube, wir können auf europäischer Ebene nicht alle Bestandteile, die noch aus der Zeit der Zünfte herrühren, aufrechterhalten. Das wird für manche sehr schmerzlich sein, und ich weise darauf hin, daß in der Entschließung des Wirtschaftsausschusses so ganz schlank steht, daß die Ergebnisse der Deregulierungskommission heiß begrüßt werden. Ich habe, als ich das nachgelesen habe, den Verdacht gehabt, daß der eine oder die andere diese Deregulierungsvorschläge gar nicht gelesen hat,
({1})
denn da würde manchem gehörig der Schreck in die Glieder fahren: Deregulierung heißt nämlich nicht nur Verlagerung öffentlicher Dienstleistungen auf Private; Deregulierung heißt im Grunde - wer die Ergebnisse der Kommission nachliest, weiß es - bei den rechts- und wirtschaftsberatenden Berufen beinahe eine Zerstörung der bestehenden Berufsordnungen, eine Änderung des Berufsrechts, bei der mancher jedenfalls sehr überrascht dreinsehen wird, der so leicht von Deregulierung redet.
Ich meine, wir müssen uns mit den Verbänden - ob der Ärzte, der Anwälte oder der kleineren freien Berufe - zusammensetzen und wirklich sehen: Was ist notwendig, was ist möglich, welche Übergangsfristen sind zu setzen, damit wir die freien Berufe so von alten Fesseln befreien, daß sie auch an die neuen Aufgaben herangehen können?
Wenn ich die europäische Situation betrachte, muß ich die Dienstleistungshaftungsrichtlinie in Erinnerung bringen, die inzwischen nach dem neuen Entwurf etwas entschärft ist; da waren wir im Unterausschuß Europarecht des Rechtsausschusses nicht ganz unbeteiligt, und der Kollege Gres hat das in dem Bereich sehr verfolgt.
Wir haben jetzt einen abgemagerten Vorschlag. Wir sind nach wie vor nicht davon überzeugt, daß es notwendig ist, diese Vereinheitlichung vorzunehmen. Nur: Daran, daß wir die Anforderungsprofile, die Fahrlässigkeitsmaßstäbe, die Sorgfaltsmaßstäbe an die Dienstleistungen einigermaßen vereinheitlichen müssen, führt kein Weg vorbei. Da erhebt sich die Frage: Schafft man das mit einer rechtlichen Regelung und schafft Klarheit, oder überlassen wir das einem mühseligen Prozeß der Rechtsprechung, die dann über Jahre und Jahrzehnte der Unsicherheit endlich zu einer Regelung kommt?
Ich meine, wir sollten uns nicht darauf verlassen, daß die Dienstleistungshaftungsrichtlinie schon scheitern wird, sondern sollten mit unseren Vorschlägen massiv Einfluß nehmen. Das, was jetzt im Mai gekommen ist, unterscheidet sich sowohl vom Geltungsbereich als auch von der Regelungsdichte her sehr wohltuend von dem, was bisher da war. Nur, reine Abwehr wird uns in dem Bereich nicht helfen.
Die europäische Situation verlangt von den freien Berufen immer mehr Kooperation. Den klassischen freiberuflichen Einzelkämpfer wird es zwar in Romanen, in einzelnen Dörfern und in irgendwelchen Nischen immer noch geben, aber die Wirklichkeit der freien Berufe wird von Kooperation, von Gemeinschaftspraxen, von überörtlichen Sozietäten oder von gemischten Sozietäten, wo verschiedene freie Berufe in einem Dienstleistungspaket zusammenwirken, gekennzeichnet sein.
Wir haben uns, was die rechtlichen Rahmenbedingungen anbetrifft, sowohl mit der berufsrechtlichen als auch mit der gesellschaftsrechtlichen Seite zu
befassen. Es ist sehr dankenswert, daß das Bundeswirtschaftsministerium - Herr Staatssekretär Beckmann ist da sehr aktiv - und das Bundesjustizministerium - Herr Funke gehört ja in diesem Bereich auch zu den Dioskuren - das Partnerschaftsgesetz voranbringen. Den Kollegen Kleinert, den ich hier heute nicht sehe, müßte man da auch noch ansprechen. Bei uns hat der Kollege Hans de With immer mitgemacht.
Wir wollen wirklich darangehen, das Partnerschaftsgesetz einvernehmlich hinzubekommen. Ich glaube, wir sollten auch von dieser Stelle aus an die deutsche Ärzteschaft appellieren, den hinhaltenden Widerstand aufzugeben. Es ist bisher immer noch so, daß die Ärzte meinen, sie könnten ganz alleine sein. Ich glaube, Horst Seehofer wird ihnen aber schon noch beibringen, daß sich große Investitionen im Alleingang nicht mehr lohnen werden und daß es auch hier der Kooperation und der Fortbildung bedarf und daß entsprechende Freizeitangebote gemacht werden müssen. Wir müssen mit dem Partnerschaftsgesetz insgesamt zu einer Regelung kommen, die den freien Berufen einerseits individuelle Betreuung und Beratung erlaubt, auf der anderen Seite aber auch Rechtsformen fast einer freiberuflichen OHG, die es ihnen ermöglicht, den interprofessionellen Anforderungen im europäischen Rahmen und den Anforderungen im nationalen Rahmen, die an sie gestellt werden, zu genügen.
Ich habe manchmal große Sorge, daß wir die internationale und europäische Situation unterschätzen: Amerikanische, englische und niederländische Anwälte beispielsweise sind in ihrem Bereich ganz anders vorbereitet. Auch im Wirtschaftsprüfungsbereich ist die Situation nicht anders. Wir vergeben erhebliche Chancen in einem Bereich der Dienstleistungen, der zum Markt geworden ist.
Wir werden uns auch ein wenig von der alten Justizratmentalität oder von dem Denken verabschieden müssen, daß derjenige, der eine Dienstleistung erbringt, eigentlich nur edle gute Taten vollbringt und vom Geld besser gar nicht redet. Das Verdrücken der Tatsache, daß Dienstleistungen auch eine Beteiligung am Wirtschaftsleben sind, muß man, glaube ich, überwinden.
Bei dem Partnerschaftsgesetz darf auch nicht entscheidend sein, daß manche Angst vor der Gewerbesteuer haben und deshalb nicht auf eine andere Gesellschaftsform hinauswollen. Wenn es denn unvermeidlich ist - ich persönlich glaube, daß man für die großen Dienstleistungsunternehmen nicht mehr lange eine Begründung finden wird, sie auszunehmen; es sei denn, Karlsruhe würde uns eines Tages wieder sagen, was zu tun ist -, daß die großen Unternehmen schon aus Gründen der Steuergerechtigkeit beteiligt werden, dann sollte man sich nicht an alten Zöpfen festhalten und sagen: Wir schaffen keine vernünftige neue Rechtsform, nur weil wir Angst haben, daß daran bestimmte andere Folgen geknüpft sind. Die freien Berufe müssen ihre Bewährung auch darin zeigen, daß sie sich diesen neuen Herausforderungen stellen.
Lassen Sie mich noch ein letztes Wort des Dankes sagen. Die freien Berufe haben gerade in den neuen
Bundesländern gezeigt, wie rasch, wie flexibel, wie belastbar sie sind.
({2})
Sie haben gezeigt, daß sie fast über Nacht „einberufbar " sind. Auch das Seniorenprogramm, das das Justizministerium aufgelegt hat, ist durchaus etwas, was man mit Anerkennung und Dank nennen sollte. Von daher gesehen, glaube ich, können wir durchaus sagen: Die freien Berufe können gefordert werden, und sie sollen deshalb auch gefördert werden.
Ich habe gerade heute einen Bericht bekommen, daß die medizinischen freien Berufe in den neuen Ländern nicht mehr gefördert werden sollen. Ich bitte die Bundesregierung wirklich, diesen Bereich noch einmal zu überdenken. Dies gilt nicht nur für Ärzte und Zahnärzte, sondern für Physiotherapeuten und für andere in gleicher Weise. Hier sollte der Aufbau entsprechend unterstützt werden. Wir sind auf diese Leistungen dringend angewiesen!
Ich hoffe, wir werden uns mit diesem Thema möglichst fraktionsübergreifend befassen. Wir sollten die Chance eines wahlfreien Jahres nutzen, die Reizthemen abzuarbeiten, damit jede Seite 1994 sagen kann, wie toll das alles war und wie gut man selber ist. Jetzt sollten wir aber das Jahr nutzen, eine tolle Arbeit zu leisten.
Vielen Dank.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt auf Drucksache 12/2017, die Unterrichtung durch die Bundesregierung zur Kenntnis zu nehmen und dazu eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen erübrigen sich. - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs einer Insolvenzordnung ({0})
- Drucksache 12/2443 -Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen, dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz, Rainer Funke, das Wort. - Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Regierungsentwurf der Insolvenzordnung sieht eine grundlegende Neugestaltung des geltenden Konkurs- und Vergleichsrechts vor, und zwar durch ein in sich geschlossenes Regelungswerk. Er beruht auf den gründlichen Vorarbeiten der Kornmission für Insolvenzrecht und ist vom Bundesminister der Justiz nachdrücklich auf die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ausgerichtet worden.
Das dringende Bedürfnis für eine umfassende Reform des Insolvenzrechts ist seit Jahren offenkundig; schließlich ist die Konkursordnung über 100 Jahre alt. Die gravierenden Schwächen des geltenden Konkurs- und Vergleichsrechts sind allen Praktikern hinreichend bekannt.
Der Regierungsentwurf der Insolvenzordnung bietet ein überzeugendes Konzept, mit dem die Mißstände des geltenden Rechts beseitigt werden können. Die neue Insolvenzordnung ermöglicht in einem straffen, unbürokratischen Verfahren eine wirtschaftlich effektive und rechtsstaatlich geordnete Insolvenzbewältigung. Sie erleichtert sinnvolle Sanierungen und Gesamtveräußerungen. Dies kommt den Gläubigern durch eine höhere Quote zugute, den Arbeitnehmern durch die Erhaltung von Arbeitsplätzen.
Durch die Reform wird außerdem die innerdeutsche Rechtseinheit auf dem Gebiet des Insolvenzrechts hergestellt. Derzeit gilt ja in den fünf neuen Bundesländern die Gesamtvollstreckungsordnung als Übergangsrecht weiter.
Der Regierungsentwurf der Insolvenzordnung enthält eine Reihe bedeutender Neuerungen, von denen ich einige kurz ansprechen möchte.
Erstens. Die Trennung von Konkurs und Vergleich wird aufgehoben. Im Rahmen der neuen Insolvenzordnung gehen beide Verfahrensarten in einem einheitlichen Insolvenzverfahren auf.
Zweitens. Die Voraussetzungen für die Eröffnung des neuen Verfahrens werden so ausgestaltet, daß die Abweisung mangels Masse von der Regel wieder zur Ausnahme wird. Jeder, der in der Praxis mit Konkurs-und Vergleichsverfahren zu tun hat, weiß, daß heute die meisten Verfahren auf Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgewiesen werden müssen. Dadurch daß wir versuchen, eine Massenanreicherung vorzunehmen, kann im Vorfeld Licht in die Vorgänge der Insolvenz gebracht werden. Die Verfolgung von Bankrottstraftaten wird erleichtert, Vermögensverschiebungen können besser rückgängig gemacht bzw. Strafverfahren können besser durchgeführt werden. Auch da möchte ich mich auf die Praxis beziehen: Da sehen wir, daß zwar die Konkursakte vorn Konkursrichter rüber zum Staatsanwalt wandert; aber in der Regel folgt kein Verfahren, obwohl hier allzu häufig Vorgänge existieren, die durchaus strafwürdig sein können.
Drittens. Bis die Sanierungsaussichten geprüft sind, darf der Verbund des insolventen Unternehmens nicht auseinandergerissen werden - also insoweit durchaus eine Angleichung an das amerikanische Recht. Die gesicherten Gläubiger müssen zeitweise stillhalten und werden an den entstehenden Kosten beteiligt. Aber, was auch genauso wichtig ist für unsere Bankenwirtschaft, eine volle Absicherung von Krediten bleibt weiterhin möglich.
Viertens. Der Ablauf des Insolvenzverfahrens wird weitgehend von der Autonomie der Gläubiger bestimmt. Ob und in welcher Form saniert wird, entscheiden die Gläubiger nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dabei stehen Liquidation, Reorganisation des Schuldners und auch übertragene Sanierung gleichberechtigt nebeneinander. Über den Fortbestand der Arbeitsverhältnisse kann mit verfahrensrechtlichen Mitteln frühzeitig Klarheit geschaffen werden, und zwar ganz unabhängig davon, ob es einen Betriebsrat im Unternehmen gibt oder keinen Betriebsrat.
Fünftens. Für den Liquidationsfall werden alle allgemeinen Konkursvorrechte beseitigt. Auch der Fiskus wird auf sein Vorrecht verzichten müssen. Einfache Gläubiger werden dadurch erheblich bessergestellt.
Aber ich sage ganz offen, daß wir im Vorfeld dieser Diskussion um die Insolvenzordnung natürlich harte Verhandlungen mit dem Arbeitsminister und dem Finanzminister durchzustehen hatten, denn die haben natürlich auf eine Reihe von Vorrechten verzichten müssen. Das waren nicht ganz leichte Auseinandersetzungen. Aber die Arbeitnehmer sind hinreichend geschützt. Die Lohnrückstände der Arbeitnehmer bleiben durch das Konkursausfallgeld gesichert, das ähnlich wie nach geltendem Recht für die letzten drei Monate des Arbeitsverhältnisses vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gezahlt werden soll.
Der Sozialplan im Insolvenzverfahren wird ähnlich wie im geltenden Recht geregelt. Wir haben hier häufiger schon in der letzten Legislaturperiode darüber reden müssen, ob wir dieses Gesetz „Sozialplan im Konkurs" verlängern oder nicht. Wir haben uns häufig miteinander strittig unterhalten müssen.
Sechstens. Eine in der Öffentlichkeit vielfältig beachtete Neuerung im Regierungsentwurf der Insolvenzordnung ist die Einführung der Restschuldbefreiung. Menschen, die finanziell in Not geraten sind, erhalten so die Chance für einen Neuanfang. Sie können auf der Grundlage eines Insolvenzverfahrens von ihren Schulden befreit werden. Die Möglichkeit ist allerdings zur Vermeidung von Mißbrauch an strenge Voraussetzungen geknüpft. Der Schuldner muß für die Dauer von sieben Jahren nach Abschluß des Insolvenzverfahrens den pfändbaren Anteil seines Einkommens an einen Treuhänder abtreten. Dieser Treuhänder muß natürlich die Beträge, die er bekommen hat, gleichmäßig auf die Gläubiger aufteilen. Auch ansonsten muß sich der Schuldner aktiv gläubigerfreundlich verhalten. Der Entwurf leistet mit dieser Regelung einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des Problems der Verbraucherverschuldung oder - um ein Stichwort aufzugreifen - des Schuldturms. Aber auch für Unternehmer, die ohne vorwerfbares Verhalten wirtschaftlich gescheitert sind, ist die Restschuldbefreiung zugänglich.
Der Regierungsentwurf der Insolvenzordnung enthält eine sorgfältig vorbereitete, wohl abgewogene Konzeption zur Überwindung der Mißstände des geltenden Konkurs- und Vergleichsrechts. Durch
eine Stärkung der Gläubigerautonomie trägt er zur Deregulierung der Insolvenzabwicklung bei. Er setzt der Gläubigermacht aber Schranken, wo die Interessen eines redlichen Schuldners und die Interessen der Arbeitnehmer dies gebieten. Insgesamt ist der Entwurf von den Grundgedanken einer Sozialen Marktwirtschaft geprägt.
Lassen Sie mich abschließend eine Bitte äußern. Dieses wichtige Gesetz sollte alsbald verabschiedet und daher im Rechtsausschuß schnell beraten werden, natürlich genauso gründlich, wahrscheinlich auch mit Anhörung. Die Wirtschaft braucht die neue Insolvenzordnung, aber auch der einfache Schuldner braucht die Restschuldbefreiung, um aus dem Schuldturm herauszukommen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir dieses Gesetz gemeinsam intensiv beraten, aber auch möglichst schnell.
Vielen Dank.
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Nunmehr hat unser Kollege Joachim Gres das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorgelegte Regierungsentwurf einer neuen einheitlichen Insolvenzordnung ist aus zwei Gründen von allgemeinem großen Interesse, und ich bedaure es ein wenig, daß dieses Thema heute übend zu später Stunde in diesem Haus so wenig Resonanz findet. Es hätte eine größere Teilnahme von Mitgliedern dieses Hauses verdient.
Der Entwurf markiert zunächst einmal den Schlußpunkt einer langen öffentlichen Vorbereitungsdebatte über die allgemein als überfällig empfundene Reform des deutschen Insolvenzrechts. Denn seit vielen Jahren wird in großen und kleinen Fachkreisen darüber diskutiert und gestritten, wie gegen den „Konkurs des Konkurses" dieses Wort eines bekannten Konkursverwalters ist mittlerweile allgemein geläufig - vorgegangen werden kann und muß. Es gab eine mehrere Jahre tagende Insolvenzrechtskommission. Es gab Referentenentwürfe für eine neue Insolvenzordnung. Dann gab es vorläufige erste Entwürfe des Justizministeriums in verschiedenen aufeinanderfolgenden Fassungen. Es gab Anhörungen hierzu in den verschiedensten Verbänden und Gremien. Schließlich gibt es zu all dem eine mittlerweile kaum noch überschaubare Spezialliteratur bis hin zu Dissertationen über Entwürfe.
Es wurde daher Zeit für die Vorlage des Regierungsentwurfs, der nach all den Jahren in begrüßenswerter Deutlichkeit Position bezieht, einen klaren Regelungsvorschlag macht und - bei aller Kontroversität einzelner Regelungsvorschläge - eine insgesamt brauchbare Grundlage für die weitere parlamentarische Beratung liefert.
Der Regierungsentwurf ist aber auch deswegen von großer Bedeutung - Herr Staatssekretär Funke, Sie haben darauf hingewiesen -, weil wir nach dem Einigungsvertrag als Bundesgesetzgeber bei der insolvenzrechtlichen Rechtsvereinheitlichung in ganz Deutschland in Zugzwang sind. Die zunächst für die fünf neuen Bundesländer übernommene Gesamtvollstreckungsordnung der ehemaligen DDR verliert mit dem Fortgang der Privatisierung vormals „volkseigenen" Vermögens im Kontext der Anwendung von Vermögensgesetz, D-Mark-Bilanzgesetz, Treuhandgesetz usw. seinen spezifischen Sinn und seine praktische Bedeutung. Schon heute ist die Bedeutung dieses partikularen Insolvenzrechts, wie es Professor Smid einmal ausgedrückt hat, weitgehend auf die Fälle der Insolvenzen von früheren LPGs reduziert. Ich will allerdings nicht verschweigen, daß in Zukunft wohl auch Insolvenzverfahren über das Vermögen natürlicher Personen in den neuen Bundesländern quantitativ zunehmen werden.
Mit dem Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern ergibt sich jetzt die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit zur Rechtsvereinheitlichung auch auf diesem Gebiet. Auch aus diesem Grunde müssen wir jetzt die parlamentarische Beratung einer einheitlichen deutschen Insolvenzordnung beginnen.
Lassen Sie mich zu dem vorgelegten Entwurf einige grundsätzliche Anmerkungen machen. Die Fülle von Einzelaspekten, die hier zu vertiefen wären, müssen der Ausschußberatung vorbehalten werden.
Erstens. Das Ziel jeden Konkurs- oder Insolvenzrechts in einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist im Kern die staatliche Gewährung der gleichmäßigen Befriedigung von Gläubigern in der Krise des Schuldners. Das ist das Ziel der alten Konkursordnung aus dem Jahre 1877 und ist auch heute die Kernaufgabe jeder neuen gesetzlichen Regelung. Dabei ist nicht die alte Konkursordnung für den Konkurs des Konkurses haftbar zu machen. Vielmehr ist die Konkursordnung an sich ein durchaus zweckmäßiges Regelungswerk, das weniger aus gesetzestechnischen oder systemimmanenten Gründen in die Krise geraten ist, sondern auf Grund von Regelungen und Rechtsentwicklungen im Umfeld des Konkurses. Ich nenne als Beispiel nur die Zunahme der publizitätslosen Sicherheiten und die immer weiter getriebene Ausweitung des Kreises der bevorrechtigten Gläubiger, vom Fiskus angefangen bis hin zu den Sozialplanberechtigten. Wegen dieser externen Faktoren stellen die Konkursordnung und erst recht die Vergleichsordnung in ihrer jetzigen Form keine befriedigende Lösung mehr zur Bewältigung der Insolvenzlage eines Betriebs oder auch einer Einzelperson dar.
In den letzten Jahren sind die Zahlen der Konkursoder Vergleichseröffnungen denn auch drastisch zurückgegangen. So wurden 1965 nur 39 % aller Konkursanträge mangels Masse abgewiesen. Seitdem ist dieser Anteil ständig gestiegen. Heute kann man davon ausgehen, daß - unter Einbeziehung der mangels Masse später eingestellten Verfahren - ca. 85 bis 90 % aller Konkursverfahren masselos sind, also die vorhandenen Mittel des Gemeinschuldners noch nicht einmal ausreichen, um die Kosten des Konkursverfahrens zu decken; von der ganz geringen Zahl der eröffneten und abgeschlossenen gerichtlichen Vergleichsverfahren ganz zu schweigen.
Richtig ist aber auch, daß ein modernes Insolvenzverfahren heute auch hochkomplexen und teilweise gegenläufigen Interessen gerecht werden muß. Es gilt, neben der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung die gesellschaftsrechtlichen, steuerlichen und arbeitsrechtlichen Konsequenzen eines Insolvenzverfah7772
rens untereinander auszubalancieren, Sanierungsmöglichkeiten für insolvente Unternehmen zu optimieren und, soweit dies aus Gründen des Sozialstaats angezeigt ist, die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung zugunsten privater Verbraucher zu regeln.
Zweitens. Wir werden in der kommenden parlamentarischen Beratung genau zu prüfen haben, ob der vorgelegte Gesetzentwurf in hinreichender Art und Weise den bekannten Problemen des Insolvenzrechts Rechnung trägt, ob er praktikabel ist oder vielleicht einige zu komplizierte Regelungen enthält und ob der Entwurf nicht teilweise mit Regelungen überfrachtet ist, die materiell eher in andere Gesetzesmaterien gehören, z. B. in den Bereich der Vollstreckungsschutzregelungen der ZPO.
Ich will hier nur einige konkrete Beispiele aus der Fülle von Fragen nennen, um die es gehen wird.
Im Interesse der mittelständischen Wirtschaft und des redlichen Geschäftsverkehrs dürfen die Mobiliarsicherheiten, also insbesondere die Besicherung der tausendfachen tagtäglichen Liefergeschäfte auf Lieferantenkreditbasis, in ihrer Werthaltigkeit nicht ausgehöhlt werden. In der Regel steht dem produzierenden Gewerbe, das seinerseits immer in einer längeren Fertigungskette mit seinen Zulieferern steht und an Finanzierungsabsprachen mit seinen Banken gebunden ist, im Gegensatz zu Finanzinstituten nicht die Möglichkeit zur Verfügung, sich Grundpfandrechte zur Besicherung der Kaufpreisforderungen zu verschaffen. Der mittelständische Unternehmer ist daher vielfach zwingend auf Mobiliarsicherheiten als sein einziges wirksames Sicherheitsinstrument angewiesen.
Gleichzeitig müssen aber die dinglich gesicherten Gläubiger in geeigneter Form in das Insolvenzverf ah-ren einbezogen werden, um die Überprüfung der Sanierungsfähigkeit von Betrieben und Unternehmen überhaupt durchführen zu können,
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ohne daß dabei allerdings Eingriffe in die Wertsubstanz der Sicherheiten vorgenommen werden dürfen. Es wird unsere Aufgabe sein, zu prüfen und zu entscheiden, ob der jetzt vorgesehene Weg auf der einen Seite die Zerschlagungsautomatik des heutigen Insolvenzrechts auf Grund der Möglichkeit der sofortigen Aussonderung von Vorbehaltsgütern verhindert und ob auf der anderen Seite die berechtigten Sicherungsinteressen von aussonderungsberechtigten Gläubigern durch lange hinausgeschobene Wahlrechtsregelungen des Insolvenzverwalters praktisch vereitelt werden, zumal wenn die Vorbehaltsware gar noch verarbeitet oder mit Drittprodukten vermengt wird.
Der andere große Problembereich ist die Frage der Geltung des Kündigungsschutzes von Arbeitnehmern auf Grund von § 613 a BGB im Fall der Insolvenz des Unternmehmers. Nach Angabe der meisten Insolvenzrechtspraktiker ist die derzeitige Regelung des § 613 a BGB einer der Hauptgründe für das Scheitern vieler Sanierungen von notleidenden, aber sanierungsfähigen Unternehmen. In vielen Fällen läßt sich eine erfolgreiche Teilbetriebsveräußerung eines insolventen Unternehmens und damit die Rettung wenigstens eines Teils der Arbeitsplätze dieses Unternehmens nur dann realisieren, wenn der Personalbestand noch vor der geplanten Übernahme durch einen Dritten reduziert wird. Dies möglich zu machen, ist eine der nachdrücklichen Forderungen z. B. des Gravenbrucher Kreises und der meisten Konkursrechtspraktiker. Ob der Gesetzentwurf hier bereits eine optimale Regelung vorsieht, bedarf der weiteren Diskussion und Vertiefung im Ausschuß.
Schließlich wird zu prüfen sein, ob das Mittel des Insolvenzplans ein wirklich praxisnahes Instrument ist, das in den jetzt dafür vorgesehenen Fällen einen angemessenen Rahmen für Insolvenzabwicklungen schafft. Hier wird besonders der vorgesehenen starken Auffächerung der über den Insolvenzplan abstimmenden Gruppen nachzugehen und zu fragen sein, ob Gruppenegoismen und komplizierte Abstimmungsmechanismen nicht eher eine Gesamteinigung der Gläubiger erschweren.
Hier sollten wir uns auch der Erfahrungen in europäischen Nachbarländern versichern. Zum Beispiel ist gerade erst in England im Rahmen der dortigen Insolvenzrechtsreform ein neues Sanierungsverfahren eingeführt worden, das nur noch eine einheitliche Abstimmungsprozedur zwischen der Gruppe der Gläubiger und den Gesellschaftern des insolventen Schuldners vorsieht, weil sich die früher vorgesehene Einzelgruppenabstimmung als nicht praktikabel erwiesen hat. Diese Erfahrungen sollten wir abfragen und für unsere Entscheidung nutzen. Jedenfalls sollten die Handlungsmöglichkeiten des Insolvenzverwalters und des Insolvenzgerichtes bei Betriebsveräußerungen an Dritte, also bei der sogenannten übertragenden Sanierung, nicht durch den Zwang zur Aufstellung eines komplizierten Insolvenzplanes so erschwert werden, daß am Ende keine raschen, praktikablen Lösungen erzielt werden können. Schnelles Handeln ist in diesen kritischen Situationen der Insolvenz oftmals der einzige Weg, um die Gesamtzerschlagung des Unternehmens zu verhindern.
Schließlich werden wir uns intensiv mit dem Verbraucherkonkurs beschäftigen müssen. Die jetzt vorgesehene Restschuldbefreiung knüpft ins besondere an entsprechende Regelungen in den USA an. Wir werden uns zu vergewissern haben, wie die Erfahrungen in den USA mit den Kap. 7 und 13 des US-amerikanischen Insolvenzrechtes sind. Was ich aus diesem Bereich höre, ist durchaus zwiespältig.
Sosehr es richtig ist, daß eine Regelung für eine vernünftige Restschuldbefreiung notwendig ist, so sehr müssen wir aber auch aufpassen, daß wir mit einer solchen Regelung nicht skrupellosen Geschäftemachern die Chance eröffnen, sich kurzerhand in einem derartigen Verfahren von ihren Verbindlichkeiten loszusagen, um an der nächsten Ecke mit dem Schuldenmachen wieder zu beginnen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ein funktionierendes Insolvenzrecht ist für die Soziale Marktwirtschaft von grundlegender Bedeutung. Es geht, wie es einer der Gutachter einmal gesagt hat, um die richtige rechtliche Ordnung des Marktaustritts oder des finanziellen Umbaues solcher Wirtschaftseinheiten, die am Markt versagt haben.
Zwar werden in der Regel nur eine verhältnismäßig geringe Zahl von Unternehmen insolvent; alle Marktpartner müssen aber ihr wirtschaftliches Verhalten auf die Normen des Insolvenzrechts einrichten. Deshalb dürfen die Vorschriften für die Abwicklung von Insolvenzen den normalen gesunden Wirtschaftsverkehr nicht behindern. Die Funktion eines Konkurses besteht darin, weitere Fehlentwicklungen zu verhindern und die Gläubigerinteressen in einem geordneten Verfahren sachgerecht auszugleichen.
Es geht bei dem neuen Insolvenzrecht meiner Meinung nach nicht um die Aufgabe, Konkurse zu verhindern oder alle Gläubiger in vollem Umfange zu befriedigen. Es geht deshalb auch nicht darum, not-leidende Unternehmen durch Eingriffe in die Rechte der Beteiligten vor der Zerschlagung zu retten. Der Erfolg der Reform, die wir alle anstreben, wird nicht daran zu messen sein, ob mehr Sanierungen als heute zustande kommen, sondern nur daran, ob marktwirtschaftlich sinnvolle Sanierungen ermöglicht und sinnwidrige Sanierungen verhindert werden.
Meine Damen und Herren, diesem Ziel dient der Gesetzentwurf, den wir in seinen Grundzügen begrüßen. Es wird noch eine Menge Arbeit sein, bevor wir ihn über die parlamentarischen Ausschußhürden gebracht haben. Aber ich glaube, er ist des Schweißes der Edlen wert. Wie Sie sagten, Herr Funke: Die Wirtschaft und die Betroffenen warten darauf, daß wir hier ein neues Gesetz verabschieden, das den praktischen Gegebenheiten von heute Rechnung trägt. Daran wollen wir mitwirken.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
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Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gres, Sie beklagen natürlich die mangelnde Präsenz, oder Sie wünschen sich mehr Zuhörer. Das wünschen wir uns hin und wieder alle. Ich muß nur darauf aufmerksam machen: Es gibt heute abend u. a. eine ganze Reihe von unaufschiebbaren Veranstaltungen und Sitzungen sowie Empfängen für ausländische Gäste. Ich denke an Besuch aus Zypern, ich denke an die Tagung des Vermittlungsausschusses. Normalerweise tagen wir mittwochs um diese Zeit nicht. Deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang keine Vorwürfe erheben.
Nun erteile ich unserem Kollegen Dr. Eckhart Pick das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bisher eine erfreuliche und sachliche Diskussion gewesen. Ich glaube, sie ist diesem Thema angemessen. Aber ich denke, Sie werden erwarten, daß man ein paar kritische Bemerkungen zu gegebener Zeit macht.
Seit Jahrzehnten wird über eine Reform des Insolvenzrechts diskutiert. Man ist sich weitgehend einig, daß Konkurs- und Vergleichsordnung den Anforderungen an ein modernes Insolvenzrecht nicht mehr entsprechen. Man könnte vermuten, daß das in der Tatsache begründet ist, daß beide Gesetze ziemlich bejahrt sind. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Die Konkursordnung stammt noch aus dem 19. Jahrhundert, und die Vergleichsordnung ist 1935 in die heutige Form gebracht worden. Aber das Alter allein ist nicht der Grund dafür, daß wir eine neue gesetzliche Regelung brauchen. Beide Gesetze sind höchst stimmig und dogmatisch klar aufgebaut, wenn man sie an der damaligen Zielsetzung mißt.
Wenn heute in der überwiegenden Zahl von Fällen der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung ein Konkursverfahren überhaupt nicht stattfindet, dann in der Regel mangels Masse. Dies ist schon ein geflügeltes Wort geworden.
Der Grund für das heutige Fehlen von Vermögenswerten, die in ein Konkursverfahren eingebracht werden könnten, liegt in der massenhaften Zahl von Sicherungsrechten einzelner Gläubiger, die die Masse ausbluten lassen. Die Praxis war und ist unerschöpflich in der Erfindung immer neuer, publizitätsscheuer Sicherungsinstrumente: Sicherungsübereignung, Sicherungsabtretung, Eigentumsvorbehalt über verlängerten, erweiterten Eigentumsvorbehalt bis zum Konzernvorbehalt. Es gibt ja da zur Freude der Juristen alle möglichen Konstruktionen. Stille Formen der zur Sicherung übertragenen Vermögensrechte machen den Ausgang eines Konkursverfahrens deshalb höchst ungewiß.
Dabei ist das Insolvenzrecht zugestandenermaßen eines der schwierigsten Gebiete unserer Wirtschafts-und Rechtsordnung. Es ist schon gesagt worden: In kaum einem anderen Sektor unserer Rechtsordnung prallen so unterschiedliche Interessen in ähnlich intensiver Form aufeinander wie gerade im Insolvenzrecht, gilt es doch so gegenläufige Interessen wie die des Schuldners, der Gläubiger, des Staates als Fiskus und der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerecht gegeneinander abzuwägen.
Anders als die frühere Zielsetzung, die eine gleichrangige Befriedigung der Gläubiger statt eines Wettlaufs um den besten Start bei der Einzelzwangsvollstreckung erreichen wollte, hat heute der soziale Staat auch den Erhalt überlebensfähiger Unternehmen und damit von Arbeitsplätzen vorrangig im Auge zu behalten. Sanierung muß ein gleichrangiges Ziel neben den anderen, sicher auch wichtigen Zielen der Befriedigung einzelner Interessen sein.
Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung nun den Entwurf einer Insolvenzordnung vorgelegt. Sie wird dies wahrscheinlich als großen gesetzgeberischen Erfolg verkaufen wollen, möglicherweise sogar als Jahrhundertereignis. Herr Funke, Sie waren da etwas bescheidener; das erkenne ich auch an; denn wir könnten in einen solchen Chor auch nicht einstimmen, schon deswegen nicht, weil dieser Entwurf noch nicht komplett ist. Er ist ein Torso, meine Damen und Herren. Das gibt der Entwurf ja selbst zu.
Es fehlt, so die Einleitung, das Einführungsgesetz, in dem die Vermögensübernahme nach § 419 BGB beseitigt werden soll. Die Möglichkeit, bei der GmbH eine vereinfachte Kapitalherabsetzung durchzuführen, und die Abschaffung des sogenannten Konzernvorbehalts werden ja dort angekündigt.
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Ich füge da noch einige Fehlanzeigen hinzu. Es fehlt außerdem eine seriöse Schätzung, wie viele Verfahren bis zu welchem Verfahrensabschnitt denn überhaupt nach den neuen Instrumentarien geführt werden können. Es fehlt auch eine verläßliche Kostenschätzung hinsichtlich der Verfahren überhaupt, des Verwalters, des Treuhänders usw. Der Entwurf schweigt sich auch über die Höhe der Ausfälle aus, die den Kommunen z. B. dadurch entstehen, daß sie übergeleitete Unterhaltsansprüche nicht mehr realisieren können. Es fehlt - auch das möchte ich Ihnen nicht ersparen - eine Übergangsregelung, die schon deswegen unerläßlich ist, weil sie etwas zum Nebeneinander von Konkurs- und Vergleichsordnung einerseits und der schon angesprochenen Gesamtvollstrekkungsordnung andererseits aussagen müßte - unter anderem.
Ich stelle fest: Dieser Entwurf enthält mehr Lücken als Regelungen.
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Ich denke, es ist im Grunde eine Zumutung an den Bundestag, auf einer solchen Grundlage die Beratungen zu beginnen. Er steht doch vor der Frage: Soll er eigentlich jetzt schon mit den Beratungen beginnen, oder soll er sinnvollerweise abwarten, bis das nachgeliefert wird, was ich eben angemahnt habe?
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Ich denke, hier muß man noch seine Hausaufgaben machen. Ich finde es nicht gut, daß in dieser Form der Bundestag vor der Frage steht, ob er möglicherweise scheibchenweise in die Diskussion einsteigen soll.
Ich nehme die Gelegenheit wahr, schon heute einige grundsätzliche Bemerkungen einzubringen, Kritikpunkte, aber auch unsere Zustimmungsvoraussetzungen zu benennen.
Wir stimmen dem Konzept zu, Herr Funke, Konkurs- und Vergleichsordnung in ein einheitliches Insolvenzrecht zusammenzufassen. Man hat allerdings den Eindruck, daß Konkurs- und Vergleichsrecht, die quantitativ bisher mit 370 Paragraphen auskamen, nunmehr mit 399 Paragraphen aufgebläht werden sollen. „Mästen statt abspecken!" heißt hier die Devise. Das spricht zumindest schon für die Vermutung, daß nicht Klasse - darunter verstehe ich Flexibilisierung, die Sie ja angedeutet haben -, sondern mehr Masse, d. h. neue bürokratische Regelungen, dominieren. Wir werden diese Vermutung noch hinterfragen.
Meine Damen und Herren, wir haben zur Zeit in der Bundesrepublik zweierlei Recht auf diesem Gebiet. Neben Konkurs- und Vergleichsrecht in den alten Bundesländern gilt die Gesamtvollstreckungsordnung in Ost-Berlin und den neuen Bundesländern. Diese kommt mit sage und schreibe 24 Paragraphen aus.
Ich bin nun weit davon entfernt, zu glauben, daß man sie ohne weiteres zum Muster nehmen könnte. Es gibt ja Vorschläge, diese Gesamtvollstreckungsordnung einfach zu übernehmen. Das ist sicherlich naiv. In dieser Gesamtvollstreckungsordnung sind nach allgemeiner Auffassung auch Ungereimtheiten, ja sogar Verfassungswidrigkeiten. Aber ich habe trotzdem den Eindruck, daß man sich an diesem von der Volkskammer noch im Juni 1990 verabschiedeten Gesetz durchaus in mancher Beziehung eine Scheibe abschneiden sollte, zumindest im Hinblick auf Sparsamkeit und Flexibilität einer Verfahrensordnung. Man hätte auch durchaus einige Monate abwarten können, um möglicherweise noch aus Erfahrungen mit dieser Ordnung zu lernen und dies entsprechend in die Diskussion einzubringen.
Was erwarten die Sozialdemokraten von einem neuen Insolvenzrecht? Erstens ein Verfahren, das nicht die Zerschlagung von Unternehmen zur Regel macht wie das jetzige Insolvenzrecht; zweitens ein Verfahren, das die Sanierung von Unternehmen erleichtert und damit Arbeitsplätze erhält - ich glaube, darin sind wir uns einig , aber auch ein Verfahren, das die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrt, auch was die Lohnansprüche, was den Sozialplan usw. angeht. Darüber ist auch schon gesprochen worden.
Wir sind auch dafür, daß die Konkursvorrechte im wesentlichen beseitigt werden. Da stimmen wir mit Ihnen überein. Wir sind für ein Verfahren, das der Aushöhlung des Vermögensschuldners durch Sicherungsabtretung, Übereignung und andere Formen der Gläubigersicherung einen Riegel vorschiebt. Und wir sind für ein Verfahren, das eine Entschuldung von Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglicht, sowie letztlich insgesamt für ein Verfahren, das insgesamt eine flexible und unbürokratische Handhabung beinhaltet, das die Interessen von Schuldnern, Gläubiger und Arbeitnehmerin/Arbeitnehmer gleichermaßen berücksichtigt.
Ich greife im folgenden noch ein paar Punkte heraus, die mir für die Anforderungen, die an einen solchen Ausgleich zu stellen sind, exemplarisch zu sein scheinen.
Wir halten die Beseitigung der Konkursvorrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für sozialpolitisch fraglich darüber werden wir noch zu diskutieren haben -, einfach deswegen, weil diese gegenüber anderen Gläubigern in besonderem Maße von der Insolvenz des Arbeitgebers, des Unternehmens betroffen sind. Die wirtschaftliche Existenz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist mit dem Bestand des Arbeitsplatzes und der damit verbundenen Vergütung fast ausschließlich verknüpft. Eine Bevorrechtigung anderer Gläubiger, etwa von Großgläubigern und Banken, wäre demgegenüber schwer erträglich.
Der Entwurf kündigt das Institut des Insolvenzplanes als eine der bedeutsamsten Neuerungen des Insolvenzverfahrens an. Insgesamt bietet das neue Rechtsinstitut - ich zitiere
über die Möglichkeiten hinaus, die im geltenden Recht mit einem gerichtlichen Vergleichsverfahren, einem Zwangsvergleich im Konkurs oder einem Vergleich im Gesamtvollstreckungsverfahren verbunden sind, insbesondere der Absonderungsberechtigten und der nachrangigen
Gläubiger sowie der am Schuldner beteiligten Personen,
- da habe ich mir ein Fragezeichen gemacht, Herr Funke, so heißt es aber in der Begründung auf Seite 195
zahlreiche weitere Gestaltungsmöglichkeiten.
Da ist irgend etwas nicht ganz gelungen. Am Schuldner beteiligte Personen sind mir schwer vorstellbar.
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- Möglicherweise ist das damit gemeint.
Mit dem Insolvenzplan soll es ermöglicht werden, Verwertungs- und Verteilungsvorschriften außer Kraft zu setzen, damit aber auch einzelnen Gläubigergruppen unterschiedliche Befriedigungsquoten und Zahlungsmodalitäten zu gewähren.
Dieses Aushandeln erfordert sehr viel Zeit, die nach unserer Auffassung in einem Insolvenzverfahren vermutlich nicht zur Verfügung steht. Auch eine starke Aufgliederung der über den Insolvenzplan abstimmenden Gläubigergruppen begegnet Bedenken, was die Praktikabilität betrifft. Das ist von Herrn Gres auch schon gesagt worden. So wichtig es ist, bei der Erarbeitung neuer Modelle über den nationalen Zaun zu blicken, so notwendig ist es auch, sich mit den Erfahrungen auseinanderzusetzen.
Vorbild für den Insolvenzplan ist das Chaptereleven-Verfahren nach dem Recht der USA. Dies wird aber dort immer mehr kritisiert,
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und zwar mit dem Argument, nur Anwälte, Wirtschaftsprüfer und andere Experten würden an diesem Verfahren verdienen. Ich finde, der Entwurf hätte diese Erfahrungen, die in Großbritannien oder den USA mit entsprechenden Verfahren gemacht wurden, durchaus einbeziehen müssen. Wir hören jedenfalls von langer Verfahrensdauer, Überforderung der Gerichte und letztlich auch von geringen Gläubigerquoten.
Die SPD-Fraktion begrüßt ausdrücklich, daß die Bundesregierung mit der Einführung einer Restschuldbefreiung eine von uns schon seit langem geforderte Neuerung aufgreift. Mit unserem Antrag „Schuldnerberatung und Schuldenbereinigung für Verbraucher" vom 3. Oktober 1988, Drucksache 11/3047, hat die SPD-Bundestagsfraktion unter anderem den Vorschlag eines Kleininsolvenzverfahrens für Verbraucher mit Restschuldbefreiung gemacht.
Wir freuen uns, daß die Bundesregierung sich endlich dem Problem gestellt hat, den in hoffnungsloser Verschuldung verstrickten Menschen wieder eine Lebensperspektive zu eröffnen. Die Entwicklung ist in der Tat alarmierend. In dem modernen Schuldturm befinden sich ca. 1,4 Millionen Haushalte.
In ihrem jüngsten Monatsbericht vom Mai 1992 merkt die Bundesbank an, daß die Konsumschulden 1991 in Westdeutschland mit einer Rate von 28,5 Milliarden DM „wesentlich stärker als ein Jahr zuvor zugenommen haben" . Die gesamten Verpflichtungen haben sich seit 1980 mit damals 137 Milliarden DM auf heute mehr als 288 Milliarden DM verdoppelt.
Diese Entwicklung zeigt sich auch in den neuen Bundesländern. Im Jahre 1991 wurden dort 6 Milliarden DM an Krediten für den Konsum aufgenommen. Es ist kein Wunder, daß z. B. in Magdeburg 16 000 von 300 000 Haushalten überschuldet sind.
Mit dem von der Bundesregierung gewählten Ansatz, die Verbraucherüberschuldung in die Insolvenzordnung einzubeziehen, können wir aber nicht einverstanden sein. Alle Fachleute, u. a. auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, die Schuldnerberater und die Konkursverwalter, fordern mit Recht, die Restschuldbefreiung aus der Insolvenzordnung herauszunehmen und in einem vereinfachten Verfahren, das den Besonderheiten der überschuldeten Verbraucher gerecht wird, zu regeln. Der Entwurf geht in dieser Beziehung hinter die Praxis der Schuldnerberatungsstellen zurück, die in den meisten Fällen schon freiwillige und außergerichtliche Vergleichslösungen zwischen Gläubiger und Schuldner erreichen.
Es ist zu befürchten, daß viele Insolvenzverfahren für Verbraucher auf Grund der komplizierten und zu starren Regelungen des Gesetzentwurfs scheitern und die Betroffenen insgesamt schlechter dastehen als vorher.
Der Regierungsentwurf ist aus der Sicht des Unternehmenskonkurses geschrieben. Das mache ich ihm nicht zum Vorwurf. Aber er ist dadurch auch weniger geeignet, in dieser Richtung praktikable Ergebnisse zu erreichen. Er ist nicht in der Lage, die Verknüpfung wirtschaftlicher und persönlicher Schwierigkeiten zu erkennen. Wer die Praxis der Schuldenberatung kennt, weiß, daß es hier nicht nur um die finanzielle Regelung geht, sondern meist um sehr viel schwierigere soziale Sachverhalte und Zustände.
Die sogenannte Wohlverhaltensperiode von sieben Jahren, innerhalb derer der Schuldner konstruktiv an der Rückzahlung seiner Schulden mitwirken muß, ist in den meisten Fällen zu lang. Ich sage hier selbstkritisch: Wir hatten damals auch in unserem Vorschlag eine Periode von etwa sieben Jahren. Wir sind von dieser Zeit abgegangen. Sie ist zu lang. Auch die Vergleiche der Schuldnerberatungsstellen machen es möglich, diese Periode auf eine zumutbare Zeit zu verkürzen. Laufzeiten von zwei bis drei Jahren sind in der Praxis durchaus gang und gäbe. Wir brauchen
und da sagt uns der Entwurf noch zuwenig - die Förderung der Vergleichsbereitschaft.
Meine Damen und Herren, die Herausnahme der Restschuldbefreiung - darüber werden wir zu diskutieren haben - würde die Chance bieten, das drängende Problem der hoffnungslosen Überschuldung vorab - möglicherweise vor der eigentlichen Insolvenzregelung - zu lösen.
Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion sagt Ihnen zu, diesen Gesetzentwurf konstruktiv zu begleiten. Wir werden uns alle Mühe geben, daß wir möglichst schnell noch zu einer Verabschiedung kommen. Ob dies in dieser Legislaturperiode geht, das wissen wir nicht. Das hängt auch davon ab, wieweit
wir bei der Beratung unterstützt werden. Wir werden mit Sicherheit mit allen Betroffenen zu reden haben. Wir werden auch noch einmal eine Anhörung vor dem Rechtsausschuß durchführen. Aber ich denke, Sie können sich darauf verlassen, daß wir als Sozialdemokraten hier mit allen Mitteln, die wir haben, daran mitwirken werden, eine sinnvolle und möglichst auch noch in dieser Legislaturperiode wirksame Regelung zu verabschieden.
Vielen Dank.
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Nun hat der Kollege Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das, was vor gut 100 Jahren richtig war, die Konkursordnung von 1877, die vor gut 50 Jahren, nämlich 1935, durch die Vergleichsordnung ergänzt wurde, ist in der Tat reformbedürftig. Nach langen Anläufen und mehreren Entwürfen liegt uns heute der Entwurf der Insolvenzordnung vor, die die Generalexekution - an sich ein sehr schauerliches Wort - einschließlich der Vergleichsmöglichkeit in einem Gesetz und einem Verfahren zusammenfaßt.
Ziel des Gesetzes ist es, die Verfahren von unnötigem bürokratischem Ballast zu befreien, zu vereinfachen und zu beschleunigen und insbesondere sanierungsfähige Betriebe zu erhalten und Wirtschaftswerte zu bewahren und letztendlich die Rechtseinheit in Deutschland zu erreichen. Um diese Ziele, die ich voll und ganz unterstütze, zu erreichen, müssen wir dieses Gesetz aber ein wenig entrümpeln. Der Entwurf mit fast 400 Paragraphen muß schlanker gemacht werden, wenn er seine Zwecke erreichen soll. Alle, auch der Herr Kollege Pick, sind dazu aufgerufen.
Dabei will ich nicht übersehen, daß es einige versierte berufsmäßige Konkursverwalter oder Objektsanierer gibt, die virtuos auf den Instrumenten der jetzigen Vergleichs- und Konkursordnung spielen und damit auch heute schon Wirtschaftswerte erhalten und Arbeitsplätze retten.
Dies sind jedoch bei der Mehrzahl der Konkurse die Ausnahmen, und deswegen ist die Kritik dieser Profis an dem Entwurf so nicht gerechtfertigt. Sie ist zwar hilfreich, und wir werden, falls wir keine Anhörung durchführen, mit diesen Gruppen intensive Gespräche führen, um deren Erfahrungen einzubringen. Wir müssen aber aufpassen, daß wir das Recht Gläubiger/ Schuldner nicht auf den Kopf stellen und plötzlich der Gläubiger der Buhmann der Wirtschaft ist und der nicht zahlende Schuldner die ehrenwerte zu schützende Person. Hier besteht auch das Problem der Restschuldbefreiung für den braven Schuldner. Rechtspolitisch und auch wirtschaftspolitisch richtig ist die Möglichkeit der Schuldbefreiung, um den unverschuldeten Schuldner von seinen Schulden zu befreien und ihm ein normales persönliches oder wirtschaftliches Leben wieder zu ermöglichen. Über die tatsächliche Praktikabilität und den Reiz der Mißbrauchsmöglichkeiten müssen wir diskutieren, um einen guten Weg zu finden.
Das vorgesehene Verfahren erscheint mir, Herr Staatssekretär, als zu schwerfällig und auch als zu teuer, weil in der Regel für den Gläubiger nichts übrig bleibt, wenn der Treuhänder erst einmal bezahlt ist.
Die Kritiker der Schuldbefreiung übersehen, daß es auch heute schon durch hohe Pfändungsfreigrenzen und Umgehung durch Anmeldung neuer Firmen auf Ehegatten oder Kinder faktisch eine Schuldbefreiung gibt und sich der so geprellte Gläubiger über die angebliche oder tatsächliche Untätigkeit der Vollstreckungsbehörden wesentlich mehr ändert, als wenn es gesetzlich vorgegeben wäre. Unabhängig von den Bestimmungen gehört eine solche Regelung meiner Ansicht nach rechtsdogmatisch nicht in das Insolvenzrecht, sondern, wie auch schon angedeutet, in die Zivilprozeßordnung, und zwar am besten in das 8. Buch der Zwangsvollstreckung unter einen neuen 6. Abschnitt, ohne daß ich der Herausnahme dieser Schuldbefreiung aus diesem Verfahren zustimmen möchte, weil ich es schon als Ganzes mit anlege.
Heute in der ersten Lesung möchte ich auf ein paar Dinge eingehen, die beachtenswert oder bedenklich sind und die wir einer gründlichen Prüfung unterziehen müssen.
Positiv ist die Möglichkeit der schnellen Eröffnung des Insolvenzverfahrens ohne komplizierte Untersuchungen, weil nur die Kosten des Verfahrens , und das sind jetzt nur noch die Kosten des Gerichts und des Verwalters - zur Eröffnung vorhanden sein müssen. Der Nachteil, daß dadurch mehr Verfahren eröffnet und mangels weiterer Masse später eingestellt werden müssen, ist ausgeglichen, weil der Gläubiger des Verfahrens gegebenenfalls bei Anmeldung seiner Forderung ohne eigenes Zutun einen Überblick über die Finanzen des Schuldners, gegebenenfalls einen Titel, erhält und seine zukünftigen Maßnahmen darauf abstellen kann, abgesehen davon, daß Straftaten wie Betrügereien dadurch leichter entdeckt werden können.
Ich teile auch nicht die Sorge, daß Arbeitnehmer im Hinblick auf das Konkursausfallgeld schlechter gestellt werden als beim bisherigen Vergleichs- und Konkursrecht. Sollte dies tatsächlich so sein, müßten im Gesetz - oder im Arbeitsförderungsgesetz - entsprechende Formulierungen aufgenommen werden, um sinnvolle Sanierungskonzepte in die Überlegungen mit einzubeziehen.
Gut ist die Streichung der Bevorrechtigung von Gläubigern; dies wurde schon erwähnt. Etwas bedenklich halte ich die Beweislastumkehr für den die Anmeldung verzögernden Geschäftsführer. Der Ermessensspielraum bei den Fristen z. B. Anmeldefristen oder Terminbestimmungen, erscheint mir im Hinblick auf die Beschleunigungsmaxime zu groß.
Das Verwertungsverbot von gewöhnlichem Hausrat mit geringem Wert ist sachgerecht. Die Trennung der Rechte von Eigentumsvorbehalt ({0}) und Pfand- und Sicherungseigentum einschließlich des verlängerten Eigentumsvorbehaltes als absonderungsberechtigt ist nur der Vollzug der gängigen Praxis mit einigen Klarstellungen.
Die Wahlmöglichkeit des Verwalters, gegen Vergütung die Gegenstände weiter zu benutzen, ist eine
Hilfe bei der Fortführung des Unternehmens, kann aber auch den Gläubiger erheblich belasten.
Zu prüfen ist, ob die Anforderung der „geschäftskundigen Person" für den Insolvenzverwalter ausreicht oder ob hier nicht eine weitere Qualifikation gefordert werden sollte. Ganz sicher abzulehnen ist aber, daß der Insolvenzverwalter eine „juristische Person", eine GmbH oder etwas ähnliches sein kann.
Die Regelung über den Unterhalt des Schuldners aus der Insolvenzmasse dient übrigens auch nach der Begründung im Entwurf u. a. dazu, daß der Staat nicht mit Sozialhilfe eingreifen muß. Diese Gründe halte ich für bedenklich, weil damit der Schuldner weiterhin auf Kosten der Gläubiger ohne deren Zustimmung, einschließlich seiner Angehörigen, lebt und die Masse vermindert wird.
Bei Betriebsänderung oder Betriebsaufgabe ist der Umfang des Sozialplans unter wesentlicher Übernahme der bisherigen Regelung auf das Zweieinhalbfache des Monatsverdienstes aller von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer, aber höchstens auf ein Drittel der Masse begrenzt, um die Gläubiger - meist mittelständische Unternehmen und Handwerker - nicht zu belasten.
Die Anfechtungsmöglichkeiten sind im wesentlichen übernommen oder an die Rechtsprechung angepaßt. Die 30jährige Frist der alten Konkursordnung ist richtigerweise auf zehn Jahre verkürzt worden. Persönlich nahestehende Personen und gesellschaftsrechtlich nahestehende Personen sind näher definiert worden und damit besser auszumachen.
Die Verwertungsmöglichkeit mit dem Eintrittsrecht des Gläubigers ist verbessert, wobei bei letzterem die „angemessene" Frist zu unbestimmt ist und durch eine kurze - vielleicht einwöchige - Frist ersetzt werden soll.
Wesentliche Änderungen gibt es bei der Planaufstellung und der Erörterung der Stimmrechte der Gläubiger zur Bestätigung des Plans. Mindestvergleichsvoraussetzungen wie in der Vergleichsordnung 35 bzw. 40 % oder beim Zwangsvergleich nach der Konkursordnung 20 % sind nicht mehr vorgeschrieben, sondern unterliegen jetzt dem Recht der Gläubiger bzw. des Insolvenzgerichts.
Bei der Novellierung des Insolvenzrechts sollte man sich auch nicht scheuen, § 613 a BGB im Insolvenzfall ausnehmen, weil die bisherige Handhabung im Konkurs und Vergleich mehr Arbeitsplätze vernichtet als erhalten hat. Kollege Gres hat ausführlich darauf hingewiesen. Ich bin einfach der Meinung, daß der Insolvenzverwalter in der Lage sein muß, auch bei Fortführung des Betriebes Dienstverhältnisse zu kündigen, um einen abgespeckten Betrieb besser verkaufen zu können. Dadurch werden Arbeitsplätze erhalten, und Vermögen wird nicht vernichtet. Insoweit sollte § 127 des Entwurfs eine Klarstellung enthalten.
Die besonderen Arten des Insolvenzverfahrens „Eigenverwaltung unter Aufsicht eines Sachwalters" bzw. „Eigenverwaltung ohne Sachwalter" bei Kleinverfahren sind Ansätze, die durchaus vernünftig erscheinen und manche Dinge vereinfachen, wobei auch hier dem Mißbrauch ein Riegel vorgeschoben werden muß.
Der sehr umfangreiche Entwurf der neuen Insolvenzordnung sollte, Herr Staatssekretär, zur Beratung an die zuständigen Ausschüsse überwiesen, gut beraten, gegebenenfalls ergänzt oder gekürzt und bald beschlossen werden.
Danke schön.
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Zu einer kurzen Erwiderung hat der Parlamentarische Staatssekretär Funke noch einmal das Wort.
Frau Präsidentin! Ich will gar nicht erwidern, ich will nur auf eines aufmerksam machen. Herr Professor Pick hat zu Recht moniert, daß das Einführungsgesetz noch nicht vorliege. Wir hatten aber angekündigt, daß in diesem Einführungsgesetz noch eine Reihe von wesentlichen Fragen zu bearbeiten ist, z. B. der § 419 BGB und der Konzernvorbehalt. Wir hatten zugesagt, daß rechtzeitig zu den Beratungen im Rechtsausschuß zu liefern. Das geschieht auch. Am 26. Juni wird dieses Einführungsgesetz im Kabinett beraten. Sie können im Ausschuß dann also auch mit diesem Einführungsgesetz arbeiten.
Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Damit schließe ich die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung dieser Vorlage auf Drucksache 12/2443 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 4. Juni 1992, 14 Uhr ein und wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.