Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, meine Damen und Herren. Die Sitzung ist eröffnet.
Wir fahren mit Punkt 1 der Tagesordnung fort: Aussprache zur Erklärung der Regierung.
Ich darf daran erinnern, daß wir gestern für die heutige Aussprache eine Dauer von drei Stunden beschlossen haben.
Das Wort hat der Bundesminister Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Krieg am Golf, die Entwicklung in der Sowjetunion und in Osteuropa, die Vollendung der deutschen Einheit und die europäische Einigung sind die Schwerpunkte der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers, und sie werden auch die innenpolitischen Arbeiten und Debatten der nächsten Monate und Jahre prägen. Deswegen möchte ich dazu einige Bemerkungen machen.
Wir können leider nicht ausschließen, daß die Auswirkungen des Krieges am Golf nicht auf die Golfregion beschränkt bleiben. Saddam Husseins Aufruf zur weltweiten Begehung terroristischer Gewalttaten, insbesondere gegen Personen und Einrichtungen der unmittelbar in den Konflikt verwickelten Staaten, hat bei mehreren den Sicherheitsbehörden bekannten nahöstlichen terroristischen Gruppierungen Gehör gefunden. Wir nehmen diese Drohungen ernst.
Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern haben sich seit Wochen auf diese Situation vorbereitet. Seit dem Ausbruch des Krieges sind auf allen Ebenen die Sicherheitsmaßnahmen zusätzlich verstärkt worden. In enger Abstimmung insbesondere mit amerikanischen und britischen Stellen werden die Einrichtungen der betroffenen Staaten in besonderem Maße bewacht, und auch an den Außengrenzen der Bundesrepublik Deutschland wird intensiver kontrolliert.
Vor allem für den Bereich des zivilen Luftverkehrs wurden vielfältige zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, die natürlich auch Beeinträchtigungen für die Bürger, die Reisenden, bedeuten, insbesondere zeitliche Verzögerungen. Aber ich denke, daß unsere Bürgerinnen und Bürger Verständnis für diese Maßnahmen haben. Ich appelliere schon heute an sie,
nicht nur für einige Wochen das notwendige Verständnis und auch die notwendige Aufmerksamkeit zu haben, sondern sich darauf einzurichten, daß diese Sicherheitsmaßnahmen für einen längeren Zeitraum notwendig sind. Wir werden die Aufmerksamkeit unserer Bürgerinnen und Bürger für einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen müssen.
Es wird vor terroristischen Bedrohungen niemals eine absolute Sicherheit geben. Aber das Menschenmögliche wird von den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder getan. Darauf können unsere Mitbürger vertrauen. Ich denke, wir sollten uns vor allen Dingen darüber klar sein, daß wir den Terroristen dadurch keine Erfolgschance geben, daß wir dem Druck, der Einschüchterung, der Verbreitung von Angst und Panik nicht nachgeben.
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Im übrigen zeigt sich angesichts der vielfältigen Herausforderungen der Sicherheitslage in diesen Tagen und Wochen, wie gut und notwendig es ist, daß wir im Sicherheitsverbund von Bund und Ländern den Bundesgrenzschutz als eine vor allem verbandsmäßig organisierte Polizei des Bundes haben, auf die wir auch in Zukunft nicht verzichten können und nicht verzichten wollen.
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Der Wegfall der Grenzschutzaufgaben an der ehemaligen innerdeutschen Grenze - eine der erfreulichsten Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte - sowie die Verringerung der Grenzschutzaufgaben an den Grenzen zu Ost- und Südosteuropa - dem ehemaligen Eisernen Vorhang, der es heute zum Glück nicht mehr ist - dürfen nicht zu der Annahme verleiten, wir bräuchten den Bundesgrenzschutz nicht mehr. Er hat in diesem Sicherheitsverbund vielfältige Aufgaben.
Gerade in diesen Wochen machen die Polizeien des Bundes und der Länder erneut die Erfahrung, daß wir beinahe schon an der Grenze der Belastbarkeit angelangt sind. Wir können und werden auf den Bundesgrenzschutz nicht verzichten. Wir wollen ihm im Interesse der inneren Sicherheit weitere Aufgaben in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes zuweisen. Wir wollen die bundespolizeilichen Aufgaben nach
dem Grundgesetz möglichst auf den Bundesgrenzschutz konzentrieren.
Beim Aufbau einer neuen Grenzschutzorganisation in den fünf neuen Ländern haben wir die Aufgaben der Bahnpolizei und die Aufgaben zum Schutz des Luftverkehrs bereits auf den Grenzschutz übertragen. In den nächsten Wochen und Monaten wollen wir dafür rasch die gesetzlichen Grundlagen schaffen. Die Bundesregierung wird die entsprechenden Gesetzentwürfe vorlegen, damit wir auch in den elf alten Bundesländern bundespolizeiliche Aufgaben - Bahnpolizei und Schutz des Luftverkehrs - auf den Bundesgrenzschutz übertragen können. Ich bitte das Hohe Haus schon heute um eine zügige Beratung dieser Gesetzentwürfe und um Zustimmung zu ihnen, damit wir diese Aufgaben auf den Bundesgrenzschutz konzentrieren können.
Diese veränderten Rahmenbedingungen für den Bundesgrenzschutz werden zur Folge haben, daß wir in der Organisation und Dislozierung der Verbände wie auch der Dienststellen des Bundesgrenzschutzes zu einer grundsätzlichen Überprüfung kommen werden. Ich glaube, daß wir hei der anstehenden Neuorganisation alle einzeldienstlichen und verbandspolizeilichen Aufgaben des Bundesgrenzschutzes auf regionaler Ebene jeweils unter einem behördlichen Dach zusammenfassen sollten. Auch dies wird gewisse Umschichtungen unvermeidlich machen. Es wird auch die Frage nach den künftigen Standorten der Verbände und Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes zu stellen sein. Eine Arbeitsgruppe bereitet derzeit entsprechende Vorschläge vor, die ich dem Hohen Haus so rasch wie möglich vorlegen möchte. Ich bin der Meinung, daß die Zusammenführung von einzeldienstlichen und verbandlichen Komponenten bei der neuen Aufgabenstellung des Bundesgrenzschutzes eine effizientere Form der Organisation sein kann und sein wird. Deshalb möchte ich diese grundsätzliche Neuorganisation in die Wege leiten.
Wir müssen in den fünf neuen Bundesländern nicht nur den Bundesgrenzschutz aufbauen, sondern eine der zentralen Aufgaben der Innenpolitik in diesen Jahren ist auch der Aufbau einer leistungsfähigen Verwaltung in den fünf neuen Ländern, in den Städten, Gemeinden und Landkreisen. Bund und Länder haben vielfältige Hilfe geleistet. Aber wir wissen, daß zu den Engpässen bei der raschen Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland die noch nicht ausreichende Leistungsfähigkeit der Verwaltung in den fünf neuen Ländern gehört und daß uns noch große Anstrengungen bevorstehen. Wir müssen in den fünf Ländern für die Städte, Gemeinden und Landkreise das notwendige Personal zur Verfügung stellen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit doch darauf hinweisen, daß der Bund im Bereich der Bundesverwaltung bereits im vergangenen Jahr für etwa 15 000 Beschäftigte in den fünf neuen Ländern Aus- und Fortbildungsmaßnahmen durchgeführt hat. Dies zeigt, welch große Anstrengungen in der kurzen Zeit unternommen worden sind, die fortgesetzt werden müssen.
Bund, Länder und Kommunen haben Personal für
die fünf neuen Länder zur Verfügung gestellt. Der
Bund hat Personalkostenzuschüsse für die Abordnung von Mitarbeitern aus den Kommunalverwaltungen in den alten Bundesländern gewährt. Ich würde mir allerdings wünschen, daß die für solche Personalkostenzuschüsse zur Verfügung gestellten Mittel in einem höheren Maße in Anspruch genommen würden, als es bisher der Fall ist.
Mit dem Dank an alle, die sich bisher für die Arbeit in den fünf neuen Ländern zur Verfügung gestellt haben, möchte ich den Appell verbinden, daß diese Möglichkeiten noch mehr genutzt werden. Wir müssen jetzt wirklich sehr schnell und unbürokratisch das Menschenmögliche tun, um leistungsfähige Verwaltungen in den fünf neuen Ländern aufzubauen.
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Wir haben im Herbst vergangenen Jahres eine Clearing-Stelle zwischen Bund und Ländern unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände geschaffen, um diese Verwaltungshilfe zu organisieren. Wir führen nahezu regelmäßig Konferenzen in allen fünf neuen Ländern durch, zu denen wir die Bürgermeister und Landräte aller Landkreise und großen Kreisstädte einladen. In der kommenden Woche wird wieder ein solches Treffen stattfinden.
Ich möchte vor allem auch die zusätzlichen Mitarbeiter und die zusätzliche Verwaltungskraft, die dem Bundesinnenminister durch die Auflösung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen zuwächst, dazu nutzen, ganz unbürokratisch Beratungsstäbe aufzubauen, die in den fünf neuen Ländern, in den 200 Landkreisen. Städten und Gemeinden regelmäßig zur Verfügung stehen. So wollen wir ohne allzu kleinliche Rücksicht auf Zuständigkeiten unsere Beratung und unsere Hilfe in allen Ländern anbieten. damit nicht die Klagen, die aus allen Ländern und Landkreisen zu hören sind, weiterhin ihre Berechtigung haben, sondern so rasch wie möglich Abhilfe geschaffen wird und damit wir die notwendigen Transmissionsriemen haben, um hierbei zu schneller Hilfe zu kommen.
Ein großes Problem ist natürlich die Herstellung einheitlicher Bezahlungsverhältnisse zwischen den elf alten und den fünf neuen Ländern. Da wir am Beginn einer schwierigen, komplizierten Tarifrunde für den öffentlichen Dienst in allen 16 Ländern stehen, möchte ich die Gelegenheit nutzen, an alle Beteiligten, an che Arbeitgeber wie an die Gewerkschaften, zu appellieren, in den Tarifverhandlungen das Ziel der Herstellung einheitlicher Bezahlungsverhältnisse in kurzer Zeit nicht aus den Augen zu verlieren, aber zugleich in diesen Tarifverhandlungen das notwendige Augenmaß auch für die elf alten Bundesländer zu zeigen, weil wir ohne dieses Augenmaß dieses Ziel in kurzer Zeit nicht erreichen können.
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Mir liegt daran, bei dieser Gelegenheit erneut darout hinzuweisen, daß gerade der Prozeß der Vereinigung unseres deutschen Vaterlandes im vergangenen Jahr viele Kritiker der Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes widerlegt hat. Ich denke, unser öffentlicher Dient in alien seinen Teilen hat gerade im verBundesminister Dr. Schäuble
gangenen Jahr seine ungewöhnliche Leistungsfähigkeit unter besonderen Herausforderungen und auch seine Flexibilität bewiesen. Dafür möchte ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meinen Respekt und meinen Dank sagen.
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Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zur Gewinnung der Zukunft im vereinten Deutschland und zur raschen Lösung der Probleme wird uns in den kommenden Monaten und Jahren auch noch ein Stück weit die Vergangenheit im Bereich der Innenpolitik beschäftigen. Wir haben im Zuge der Ratifizierungsdebatte zum Einigungsvertrag im vergangenen Jahr in diesem Hohen Hause verabredet, daß wir alsbald in der neuen Legislaturperiode eine gesetzliche Grundlage für die Behandlung der Stasi-Akten miteinander schaffen wollen. Ich möchte die notwendigen Gespräche mit den Fraktionen des Hauses unverzüglich aufnehmen. Der Herr Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung angekündigt, daß wir die notwendigen Formulierungshilfen seitens der Bundesregierung erarbeiten. Sie werden in wenigen Wochen zur Verfügung stehen. Ich hoffe, daß wir im Innenausschuß bald miteinander darüber reden, und hoffe auch, daß wir uns in diesen Fragen der besonderen Schwierigkeiten und der besonderen Verantwortung bewußt sind. Es handelt sich ja ein Stück weit um die Quadratur des Kreises: Wir müssen uns auf der einen Seite davor hüten, alle Kraft nur auf die Bewältigung der Vergangenheit zu konzentrieren; aber wir müssen auf der anderen Seite Grundlagen schaffen, um Gegenwart und Zukunft meistern zu können.
Zu dem Bedrückendsten, was uns der Machtkomplex in der früheren DDR, der Machtkomplex der SED-Führung und der Staatsapparat, hinterlassen hat, gehören diese unsäglichen Aktenbestände mit Dossiers über 4 Millionen Bürger der früheren DDR und 2 Millionen Bundesbürger. Welch entsetzliches Unheil und welche fast unauflösbare Vermischung zwischen Tätern und Opfern sich aus diesen Akten ergibt, zeigt sich daran, daß jetzt die Täter zu Belastungszeugen gegenüber den Opfern zu werden drohen. Das haben wir in den vergangenen Wochen schon gesehen. Wir sollten uns vor Selbstgerechtigkeit hüten, aber wir sollten auch alles tun, um Nutzung, Aufbewahrung und Sicherung der personenbezogenen Daten und Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit so umfassend zu regeln, daß die gemeinsame Zukunft im vereinten Deutschland durch diese Akten keinen Schaden leiden kann.
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Wir wollen die Akten der SED und der Massenorganisationen der früheren DDR in das Bundesarchiv überführen. Wir denken, daß bei der Struktur der früheren DDR die Akten dieser Organisationen mindestens so sehr staatlichen Akten sind, die der Aktenverwaltung durch das Bundesarchiv zuzuführen sind, wie die staatlichen Akten als solche, also die Akten der Regierungsstellen. Denn in Wahrheit waren die Dienststellen der SED die eigentlichen Machthaber, also mehr als die Regierungsstellen. Ich erinnere mich
noch daran, daß im Briefkopf einer damals bedeutenden Persönlichkeit zunächst der Titel „Generalsekretär der SED" und erst danach, also an zweiter Stelle, „Vorsitzender des Staatsrats der DDR" stand. Deshalb müssen diese Akten in das Bundesarchiv übergeführt werden.
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Was das Vermögen der SED und der anderen Parteien sowie Massenorganisationen anbetrifft, so hat bereits die Regierung der DDR nach dem 18. März eine unabhängige Kommission eingerichtet, die einen Bericht über diese Vermögenswerte erstellen soll. Wir haben im Einigungsvertrag die Voraussetzungen dafür bestätigt und übernommen, daß diese Vermögen, soweit sie unrechtmäßig zustande gekommen sind, in öffentliches Eigentum, verwaltet durch die Treuhandanstalt, übergeführt werden. Es wird sorgfältig zu ermitteln sein - daran wird gearbeitet -, daß nur das Vermögen, das die Parteien und Massenorganisationen nach materiell rechtsstaatlichen Grundsätzen erworben haben, diesen Organisationen zur Verfügung gestellt werden kann. Das andere wird über die Treuhandanstalt zur Beseitigung der Schäden verwendet werden, die der Sozialismus in diesem Teil Deutschlands in 40 Jahren angerichtet hat.
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Wir werden - auch das gehört in den Bereich der Innenpolitik - nicht nur in Deutschland keine Grenzen mehr haben, sondern sind dabei, zumindest in dem Teil Europas, der in der Europäischen Gemeinschaft zusammengefaßt ist, ab Ende 1992 ein Europa ohne Grenzen zu sein. Manche besorgen, daß aus dem Wegfall der Grenzkontrollen ein Verlust an Sicherheit entstehen könnte. Ich habe diese Sorgen nicht; ich teile sie nicht.
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Meine Überzeugung ist, daß die großen Bedrohungen für die innere Sicherheit, die organisierte Kriminalität, der internationale Terrorismus und der Drogenhandel, schon heute ohne Behinderung durch die bestehenden Grenzen und Grenzkontrollen arbeiten.
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Meine Überzeugung ist, daß der Wegfall der Grenzkontrollen die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa ganz zwangsläufig verstärken muß und wird und daß wir auf dem Weg über eine verstärkte polizeiliche Zusammenarbeit auch bei Wegfall der Grenzkontrollen in Europa zu einem Mehr an Sicherheit kommen werden. Aber es ist ganz klar: Wir brauchen diese verstärkte institutionelle Zusammenarbeit in Europa.
Frau Präsidentin, ich bitte bei dieser Gelegenheit um Nachsicht dafür, daß ich der Debatte nicht bis zum Schluß folgen kann, weil ich heute noch im Verlauf des weiteren Vormittags mit meinem neuen französischen Kollegen zusammentreffen möchte. Ich bitte dafür schon jetzt um Verständnis und Nachsicht.
Nicht nur in Westeuropa werden die Grenzen wegfallen. Wie ich schon gesagt habe: Auch der Eiserne
Vorhang ist entfallen. Damit sind die Grenzen zwischen Ost und West nicht mehr trennend. Sie halten uns nicht mehr auf. Auch diese erfreuliche Entwicklung hat Kehrseiten für die Innenpolitik, beispielsweise die, daß im vergangenen Jahr 1990 193 000 Menschen als Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht gesucht haben. Das ist die höchste Zahl, die wir in der Bundesrepublik Deutschland jemals seit dem Zweiten Weltkrieg hatten.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich bin dafür, daß wir uns vor jeder Illusion schützen. In einem Europa, in dem die Unterschiede zwischen Arm und Reich, in dem das Gefälle in wirtschaftlicher, sozialer und auch noch in politischer Hinsicht so groß ist, wie es noch heute zwischen Ost- und Westeuropa ist, in einer Welt, in der die Spannungen zwischen Süd und Nord so groß sind, wie sie heute sind, und eher größer werden, als sie heute sind, werden die Flüchtlingsströme und die Wanderungsbewegungen eher zu- als abnehmen. In einer Welt, in der wir offene Grenzen in Europa wollen, müssen wir damit rechnen, daß sehr viele Menschen weiterhin im prosperierenden Teil Europas und speziell in Deutschland Zuflucht suchen werden. Das ist eine der großen europäischen Herausforderungen an die Innenpolitik.
Ich bin ganz sicher, daß wir diese Aufgaben national und allein nicht bewältigen können, sondern daß die Wanderungsströme, die Ströme von Asylbewerbern nur in einer europäischen Dimension bewältigt werden können. Deswegen hat die Koalition verabredet, daß wir eine europäische Lösung, eine Harmonisierung des Asylrechts in Europa auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention anstreben. Ein Europa der offenen Grenzen ist ohne eine Harmonisierung des Asylrechts, der Asylpraxis und der Asylpolitik auf europäischer Ebene überhaupt nicht denkbar. Das heißt, daß wir bis 1992 die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen schaffen müssen und schaffen werden.
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist die materielle Grundlage für eine Harmonisierung des europäischen Asylrechts. Ob sich daraus verfassungsrechtliche Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland ergeben oder nicht, darüber sind die Meinungen der Verfassungsrechtler geteilt. Ich denke, wir sollten den verbleibenden Zeitraum nutzen, um darüber Klarheit zu schaffen. Aber Einigkeit besteht darüber, daß kein europäisches Land für sich alleine mit diesen Herausforderungen fertig werden kann. Deswegen glaube ich, daß der Weg zu einer Europäisierung der ist, den wir in den kommenden Jahren mit Entschiedenheit gehen müssen.
Ich begrüße sehr, daß die Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung in Europa zunehmend Unterstützung findet. In der vergangenen Woche gab es in Wien eine große Konferenz des Europarates über die Wanderungs- und Flüchtlingsbewegungen in Europa. Dabei hat sich gezeigt, daß der Grundgedanke unserer Flüchtlingspolitik zunehmend Unterstützung gewinnt, daß nämlich noch so effiziente Kontrollen an den Grenzen das Problem nicht lösen, sondern daß letztlich das Entscheidende die Beseitigung der Ursachen, die Bekämpfung der Ursachen der Flüchtlingsströme in den Herkunftsländern ist.
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Wir werden diesen Weg konsequent weiterverfolgen. Wir haben die Möglichkeiten der Beschleunigung von Asylverfahren mit der Gesetzgebung der vergangenen Legislaturperiode im wesentlichen ausgeschöpft. Wir haben auch erreicht, daß die Verfahren für einen großen Teil der Asylbewerber inzwischen nur noch wenige Tage bis einige Wochen dauern. Aber das Problem ist alleine damit nicht zu lösen. Wir werden mit diesem Problem weiter zu leben haben, und wir werden darauf zu achten haben, daß die Bundesrepublik Deutschland ein ausländerfreundliches Land in der Mitte Europas bleibt. Das ist ein Ziel, dem wir mit dem neuen Ausländerrecht, das zum 1. Januar in Kraft getreten ist, ein ganzes Stück weit entgegengekommen sind.
Zu dem Ziel, ausländerfreundlich zu bleiben, gehört auch - darüber haben wir oft gesprochen, meine Damen und Herren - , daß man die Menschen weder tatsächlich noch in ihren Erwartungen und Ängsten überfordern darf. Deswegen appelliere ich an uns alle, daß wir den Stimmungsschwankungen nicht nachgeben, daß wir den Menschen aber auch nicht das Gefühl verweigern, daß dieser Rechtsstaat ein handlungsfähiger bleibt und daß er entschlossen bleibt, das Mögliche zu tun, um Bedrohungen, die die Bürger empfinden, rechtzeitig zu bekämpfen. Wir dürfen die Bürger in ihren Gefühlen nicht schutzlos lassen. Wir dürfen allerdings auch nicht den Schwankungen der jeweiligen Stimmungslage opportunistisch nachgeben. Der Staat muß beide Aspekte berücksichtigen und darf die Bürger nicht überfordern. Das gilt nicht nur für Asylbewerber; das galt, wenn ich daran erinnern darf, vor einem Jahr für Übersiedler aus der damaligen DDR, und das galt gestern und gilt heute wie morgen auch für die Deutschen und Deutschstämmigen aus den Aussiedlungsgebieten in Osteuropa und in der Sowjetunion.
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Die Koalition hat sich dafür entschieden, Art. 116 des Grundgesetzes nicht zu ändern.
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Ich denke, daß das der richtige Weg ist und daß die Erfahrungen mit den Übersiedlern aus der damaligen DDR im vergangenen Jahr jedem von uns auch zeigen, daß es richtig ist, das Tor nicht zuzuschlagen, sondern offenzulassen und zugleich dafür zu arbeiten, daß die Ursachen der Wanderungsbewegungen auch für Deutsche beseitigt werden. Wir haben damit gegenüber den Deutschen, die in Polen leben, im vergangenen Jahr durchaus erste Erfolge gehabt. Auch der Strom von Aussiedlern aus Rumänien hat sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres verringert.
Wir wollen entschieden, mit aller Kraft und allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf diesem Weg weiterarbeiten: das Tor für alle Deutschen, für die wir eine
besondere Verantwortung haben, offenlassen, aber zugleich mit den Heimatstaaten, mit Polen, mit Rumänien, mit der Sowjetunion, dafür arbeiten, daß die Deutschen in der Heimat, in der ihre Väter und Vorfahren seit Generationen leben, eine Zukunft haben, weil etwa die Sowjetunion ärmer wäre, wenn die Rußlanddeutschen in der Sowjetunion eine Heimat nicht mehr haben könnten, und weil eine gute Hilfe für die Sowjetunion in ihren Schwierigkeiten dazu beitragen könnte, daß die Rußlanddeutschen auch in Zukunft in ihrer angestammten Heimat leben können. Wir vermeiden aber Torschlußpanik nur, wenn klar ist, daß diese größer, stärker und verantwortungsvoller gewordene Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft Deutschen ihr Recht auf Heimat nicht verweigert und sich ihrer Solidarität hier wie auch in der Heimat drüben nicht entzieht.
Wenn wir diesen Weg gehen, haben wir eine bessere Chance, mit den Sorgen fertig zu werden, die viele sowohl im Vertriebenenbereich als auch bei den Aussiedlern haben. Ich sage noch einmal: Die Erfahrungen des vergangenen Jahres sollten uns ermutigen, diesen auch nicht immer populären Weg entschieden und mutig weiterzugehen.
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Wenn ich davon gesprochen habe, daß wir nicht bereit sind, Art. 116 unseres Grundgesetzes zu ändern, so gehört in diesen Zusammenhang auch ein Wort dazu, daß wir die Kriegsfolgengesetzgebung zum Abschluß bringen müssen und daß wir insbesondere im Zusammenhang mit den Entschädigungsfragen, die sich uns in bezug auf die fünf neuen Länder auch nach dem Einigungsvertrag stellen, zu einer Abschlußgesetzgebung für den Lastenausgleich kommen müssen und kommen werden. Wir werden die entsprechenden Vorschläge in absehbarer Zeit erarbeiten. Im übrigen müssen wir unsere Anstrengungen zu einer Hilfe für die Deutschen in ihrer angestammten Heimat verstärken.
Ich möchte daher auch angesichts der Aufgaben, die dem Innenministerium durch die Auflösung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen zugewachsen sind, im Innenministerium eine eigene Abteilung einrichten, die sich mit den Problemen der Vertriebenen und mit den Problemen und der Hilfe für die Menschen in den Aussiedlungsgebieten beschäftigt, damit wir unsere Arbeit verstärken und konzentrieren können.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich würde bei dieser Gelegenheit gerne all denjenigen meinen Dank und meinen Respekt sagen, die als Vertriebene hier in der Bundesrepublik Deutschland oder als Deutsche in den ehemaligen deutschen Gebieten seit 40 Jahren einen Beitrag zum Frieden in Europa leisten und die wir brauchen, wenn wir eine dauerhafte Friedensordnung in einem Europa ohne trennende Grenzen für die Zukunft gewährleisten wollen.
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Das friedliche Zusammenleben der Bürger in einem freiheitlichen Rechtsstaat zu sichern, das ist ja die Aufgabe der Innenpolitik. Diese Aufgabe ist in einer Zeit
schneller, dramatischer Veränderungen und großer sozialer und wirtschaftlicher Spannungen nicht leichter geworden. Eine solche Zeit schneller Veränderungen und großer Spannungen vermag die Ängste der Bürger zu schüren, und Ängste sind immer ein schlechter Ratgeber, auch für die innere Sicherheit und das friedliche Zusammenleben. Deswegen appelliere ich an uns alle, daß wir uns unserer Verantwortung bewußt bleiben, solche Ängste nicht zu schüren - nicht dadurch, daß wir opportunistisch Stimmungen nachgeben, aber auch nicht dadurch, daß wir den Menschen das Gefühl vermitteln, wir würden sie schutzlos lassen, dieser Staat würde seine Verantwortung für den Schutz der Bürger nicht mit aller Entschiedenheit ernst nehmen.
Aber ich möchte auch darauf hinweisen, daß wir in den vergangenen Jahren bei der Bewältigung dieser Aufgaben erfolgreich gewesen sind. Denn wenn man sich einmal vorstellt, daß allein in meiner kurzen Amtszeit als Innenminister seit dem April 1989 etwa 2 Millionen Menschen in die damalige Bundesrepublik Deutschland, in die elf alten Bundesländer, neu gekommen sind, dann haben wir diese Herausforderungen eigentlich mit geringen inneren Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen bewältigt, wie auch der Prozeß der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes - bei allen Schwierigkeiten, die bleiben und die ich nicht gering, sondern hoch einschätze - doch im Grunde mit geringen inneren Auseinandersetzungen bewältigt worden ist. Ich bin immer dafür, daß man trotz der Sorgen auch daran erinnert, was gut gelungen ist. Wir sollten uns nicht zu klein machen.
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Ich würde zum Schluß gern ein persönliches Wort sagen. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich habe in den zurückliegenden Wochen und Monaten bis in diese Tage hinein von vielen Kolleginnen und Kollegen und vom Hohen Hause insgesamt viel Zuspruch erfahren. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich dafür in aller Form zu bedanken. Es hat mir geholfen, und ich möchte meinen Dank dafür in der Zukunft abstatten, indem ich versuche, so gut ich kann, meinen Beitrag zu der demokratischen Auseinandersetzung für unseren freiheitlichen Rechtsstaat zu leisten, im sachlichen Streit, wo immer dies nötig ist, im demokratischen Miteinander, wo dies möglich ist, aber immer in der gemeinsamen Verantwortung für die Sicherheit und das Recht unserer Bundesrepublik Deutschland und für den Frieden und die Freiheit unserer Bürger.
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Herr Bundesminister, wir danken Ihnen für Ihren Einsatz; das darf ich im Namen des ganzen Hauses sagen.
Ich erteile jetzt Herrn Abgeordneten Penner das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Schwerpunkte der Innenpolitik werden, soweit vorhersehbar, bestimmt
sein von den Konsequenzen des sich vereinigenden Deutschlands, des immer mehr Staatlichkeit annehmenden EG-Europas sowie den Folgen sich auflösender Staats- und Gesellschaftsordnungen in Osteuropa.
Um mit dem letzteren zu beginnen: Jahrelang erschien die Weltflüchtlingsbewegung für Europa und damit auch für uns Deutsche als ein Geschehen, das weit entfernt, in Asien und Afrika, stattfand und uns Europäer spürbar lediglich in seinen Ausläufern mit steigenden Zahlen von Asylbewerbern wie auch anderen Menschen auf der Flucht erreichte. Das ist seit Jahr und Tag anders. In Rumänien, in Jugoslawien, besonders in der Sowjetunion, offenkundig aber auch immer noch in Polen gärt es. Bittere Not und Angst treibt die Menschen ungeachtet unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlicher Herkunft aus ihrem Land, das auch Heimat ist, dorthin, wo sie hoffen, daß es ihnen besser ergehe. Viele entsinnen sich alter Bindungen zum Westen und machen sich auf den Weg. Sie kommen auch zu uns. 400 000 Aussiedler waren es allein im Jahre 1990 gegenüber 40 000 im Jahre 1986, vier Jahre zuvor. Im Vergleich: Knapp 200 000 Asylbewerber haben wir im Jahre 1990 gezählt.
Kein Zweifel, Europa ist in Bewegung geraten, und wenn nicht alle Zeichen trügen, werden wir, die wir hier leben, Zeugen einer neuen Völkerwanderung in Europa. Wir werden uns nicht darauf verlassen können, daß es bei jenen 2 bis 3 Millionen Rußlanddeutschen oder den 250 000 Rumäniendeutschen oder den polnischen Oberschlesiern bleiben wird. Es interessiert diese Menschen wenig, ob sie als Asylbewerber, Flüchtlinge, De-facto-Flüchtlinge, Aussiedler oder rechtlich anders bei uns eingestuft werden. Sie kommen einfach. Das war in den 80er Jahren nicht anders.
Ich frage Sie von der CDU/CSU: Glauben Sie wirklich allen Ernstes, daß Sie durch eine bloße Änderung des deutschen Asylrechts auch nur die europäische Flüchtlingsbewegung stoppen könnten, als ob es kein zusammenwachsendes Europa gäbe, das wegen der durchlässigen Grenzen zumindest ein einheitliches Recht in Europa nahelegt, als ob es den KSZE-Prozeß nicht gäbe, dessen langjährige Ablehnung durch die CDU/CSU Bundeskanzler Kohl Ende vergangenen Jahres als Fehler eingeräumt hat? Eben diese Abmachungen über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die jetzt ja auch Bestandteil der Politik der Union sind, und, darauf aufbauend, die Freundschaftsverträge mit der Sowjetunion und Polen stellen auch zum Osten hin die Signale für Freizügigkeit zwischen den Völkern auf Grün.
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Auf Rot stehen unter der Ägide des KSZE-Regimes umgekehrt die Zeichen für eine restriktive Visapolitik.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir haben den osteuropäischen Nachbarn mehr Öffnung, mehr Hilfe und mehr Gemeinsamkeit versprochen, auch deswegen, weil sie die deutsche Einigung ungeachtet böser geschichtlicher Erfahrungen mit einem großen Deutschland vertrauensvoll begleitet haben.
Deshalb können und wollen wir uns nicht abschotten.
Gewiß, es gibt Brüche. Westeuropa erwartet von uns eher, daß wir die EG-Außengrenzen, d. h. unsere Ostgrenze, absichern. Auch darauf bleibt die Union eine Antwort schuldig. Nach unserer Einschätzung diente das mittlerweile jahrelange Gezetere gegen den Artikel 16 wohl denn auch eher als Schlagstock in der innenpolitischen Auseinandersetzung.
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Bis zum heutigen Tage hat die Union keinen förmlichen Antrag auf Änderung des Grundrechts auf Asyl im Deutschen Bundestag eingebracht, geschweige denn zur Abstimmung gestellt.
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- Nein, solche Verengungen bringen uns nicht weiter. Wir brauchen Lösungen und keine Dummschwätzereien.
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Es geht auch um eine zeitgemäße Anpassung des Aussiedler- und Staatsangehörigkeitsrechts. Wir sind deshalb der Auffassung:
Erstens. Artikel 116 Grundgesetz ist auf das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zu begrenzen.
Zweitens. Der Begriff des Statusdeutschen ist zu streichen.
Drittens. Damit verbunden müßte ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz mit Übergangsvorschriften und Einbürgerungsrichtlinien geschaffen werden.
Viertens muß das Bundesvertriebenengesetz so novelliert werden, daß unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nur noch diejenigen Volkszugehörigen den Vertriebenenstatus erwerben können, die bisher keine zumutbare Möglichkeit hatten, in das Bundesgebiet auszusiedeln.
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Natürlich - das hat der Bundesminister des Inneren mit Recht hervorgehoben - kommen wir auch nicht um eine Europäisierung des Flüchtlings- und Asylrechts herum. Aber all diese rechtlichen Bemühungen, gleichviel, ob sie das Asylrecht betreffen, ob sie das Flüchtlingsrecht betreffen, ob sie das Aussiedlerrecht betreffen, ob sie anderes Recht betreffen, all diese Bemühungen werden nie und nimmer reichen. Wir müssen mitwirken, daß die Menschen in den Auswanderungsländern Hoffnung schöpfen können und auf der Grundlage dieser Hoffnung dann auch dableiben.
Wir hoffen, daß dies nun auch endlich die Regierung begreift. Die Worte von Schäuble geben dazu Anlaß.
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Wir laden die Koalitionsparteien und auch andere ein
mitzumachen. Es geht schließlich um Sorgen, die alleDr. Penner
- Bund, Länder und Gemeinden, und zwar unabhängig von parteipolitischer Couleur - drücken.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die rein innenpolitischen Fragen dürfen nicht außen vor bleiben. Zunächst macht die Vereinigung beider Teile Deutschlands natürlich eine Verfassungsdiskussion unabweislich. Gewiß, das Bonner Grundgesetz ist ein höchst geglücktes Verfassungswerk. Aber gerade weil das so ist, sollten wir für Ergänzungen und Anpassungen offen sein, die im Zuge der Vereinigung, aber auch nach den Erfahrungen der vergangenen 40 Jahre wichtig werden können. Wir werden uns darüber noch im einzelnen unterhalten müssen.
Über diesen mehr prinzipiellen Fragen dürfen wir das Naheliegende und Praktische nicht vergessen. Es wird in den fünf neuen Bundesländern nur schwerlich vorwärtsgehen, solange es nicht intakte Verwaltungen gibt. Dafür ist Sachkunde erforderlich; und die kostet um so mehr, je geringer das Angebot ist.
Eine Qualifizierungsoffensive, die allerdings kurzfristig nicht greifen kann, ist unumgänglich. Ebenso müssen alle öffentlichen Verantwortungsbereiche der Bundesrepublik, nämlich Bund, Länder und Gemeinden, noch mehr als bisher mit Personal bis hin zur Entsendung ganzer Ämter, der sogenannten Organleihe, helfen.
Doch damit nicht genug. Bei einem rasant ansteigenden Preisniveau in der alten DDR, von dem auch die Mieten nicht verschont bleiben werden, sind Gehälter und Einkommen von gut einem Drittel der Bezüge in der Bundesrepublik kaum verantwortbar, und zwar auch im Interesse einer zügigen Konsolidierung der Lebensverhältnisse in den fünf neuen Bundesländern.
Dabei denkt der Innenpolitiker natürlich mit ernster Sorge - mit besonders ernster Sorge - an die Lage der Polizei. Wer mit knapp der Hälfte der Bezüge seines westlichen Kollegen auskommen muß, ist nicht so ausgestattet, wie es die häufig schwere Aufgabe, aber auch die Fürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet.
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Wir stellen fest: Die deutsche Einheit hat auf dem Gebiet der inneren Sicherheit in den fünf neuen Bundesländern zu erheblichen Problemen geführt. Kennzeichnend hierfür sind nicht nur die beinahe bürgerkriegsähnlichen Szenen beim Fußballspiel Sachsen Leipzig - Berlin Ende vergangenen Jahres in Leipzig. Es ist kein Vorwurf, aber fest steht es doch: Beinahe hilflos stehen die Polizeibehörden im Osten neuen Formen der Kriminalität gegenüber. Ich nenne hier nur die Wirtschaftskriminalität. Ich erwähne die Umweltkriminialität, die Eigenturnskriminalität und die wachsende Drogenkriminalität.
Mit Recht fordert die Gewerkschaft der Polizei ein Sofortprogramm „Innere Sicherheit" für die fünf neuen Ländern. Hauptbestandteil eines solchen Sofortprogramms muß eine intensive Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive für Polizisten sein. Bisher wurden die Polizisten der ehemaligen DDR nach einem sechsmonatigen Grundlehrgang hei der Schutzpolizeibehörde und einem sechsmonatigen Praktikum bei der Verkehrs- und Transportpolizeischule in den
aktiven Polizeidienst entlassen. Das ist künftig nach unseren Maßstäben nicht mehr verantwortbar.
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Denn in der alten Bundesrepublik dauert die Ausbildung drei Jahre. Für uns heißt das: Die Polizei der fünf neuen Bundesländer muß wenigstens für eine Übergangszeit in die Ausbildungsprogramme der westlichen Bundesländer einbezogen werden.
Auch die Ausstattung muß verbessert werden. Es geht einfach nicht an, daß die Kriminellen über modernste technische Mittel verfügen, während die Polizei in den fünf neuen Bundesländern mit völlig antiquiertem technischen Gerät arbeiten muß.
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Mit dem Rechenschieber fängt man keine Computerkriminellen! Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, an den guten Erfahrungen des gemeinsamen Programms von Bund und Ländern für die innere Sicherheit zu Beginn der 70er Jahre anzuknüpfen und zu handeln.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir verschweigen nicht, daß auch in der alten Bundesrepublik nicht alles zum besten steht, daß gerade die Personallage bei der Polizei unbefriedigend ist. Immer wieder sind es Haushaltsprobleme, die notwendige Entscheidungen verhindern. Wie dem auch sei: Kernaufgaben der hoheitlichen Tätigkeit - dazu gehört die polizeiliche - dürfen dabei nicht auf der Strecke bleiben.
Es gibt keinen Grund, beim Thema innere Sicherheit selbstzufrieden zu sein. Seit 1982 werden Jahr für Jahr 4,2 Millionen bis 4,3 Millionen Straftaten verübt. Beim Straßenraub sind sogar massive Steigerungsraten festzustellen.
Auch die Aufklärungsquote ist unbefriedigend. Seit der Wende 1982 stagniert sie zwischen 45 % und 50 %. Dies wird auch dem selbstgerechten Anspruch der CDU/CSU, gewissermaßen Gralshüter der inneren Sicherheit zu sein, nicht gerecht.
Die ständig steigende Zahl der Drogentoten ist besorgniserregend. 1 480 Todesopfer haben wir im vergangenen Jahr gezählt. Offenbar ist es immer noch nicht gelungen, den Drogenkonsum gesellschaftlich zu ächten. Das wird ein Thema sein, das uns auch künftig immer wieder begleiten wird. Ich neige dazu: Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Drogenproduzenten und die Drogenhändler mit aller Härte des geltenden und noch zu schaffenden Rechts zu verfolgen und zu bestrafen. Die Drogenkonsumenten hingegen sind nach meiner festen Überzeugung eher ein Fall für den Arzt, nicht aber für Staatsanwaltschaft und Polizei.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Natürlich muß auch das Datenschutzrecht fortgeschrieben werden. Wir brauchen ein Geheimschutzgesetz für Sicherheitsüberprüfungen, wir brauchen ein Personalaktengesetz und auch neue Gesetze für Statistiken. Leider gibt es auch keine Maßnahmen zur Verbesserung des Datenschutzes in der Wirtschaft. Die
Banken verfügen über eine Unzahl persönlicher Daten, die Versicherungen verfügen über eine Unzahl persönlicher Daten, die Detekteien und Auskunfteien nicht zu vergessen. Diese Daten sind Persönlichkeitsrechte. Mit diesen Daten kann man nicht nach freiem Belieben im rechtsfreien Raum hantieren. Ganz nachdrücklich fordern wir, daß die Arbeitnehmerdaten wiksamer als bisher rechtlich geschützt werden.
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Es gibt ein Sonderproblem - der Minister hat es angesprochen -, das uns noch lange beschäftigen wird. Es ist der Umgang mit den sogenannten Stasi-Akten. Unsere Vorstellungen sind klar:
Erstens. Die am 12. Dezember 1990 erlassene vorläufige Benutzerordnung muß durch ein Gesetz abgelöst werden.
Zweitens. An der Institution des Sonderbevollmächtigten ist festzuhalten.
Drittens. Das heute bestehende Auskunftsrecht ist zu einem Einsichtsrecht zu erweitern.
Viertens. Die Nutzung für nachrichtendienstliche Zwecke ist strikt auszuschließen.
Fünftens. Bei der Sicherheitsüberprüfung sind Auskünfte allenfalls der Einstellungsbehörde, nicht aber dem Verfassungsschutz zu erteilen. Akzeptabel ist das Interesse der Dienste für hauptamtliche Mitarbeiter des früheren MfS.
Sechstens. Dem Sonderbevollmächtigten ist ein Herausgabeanspruch einzuräumen, um die bereits in den Besitz anderer Behörden gelangten Akten des MfS wieder zusammenzuführen. Es kann ja nicht sein, daß die in aller Welt herumvagabundieren.
Bei den Akten der Blockparteien und der Massenorganisationen der früheren DDR ist differenziertes Vorgehen empfehlenswert. Da die SED und die ihr zuzuordnenden Ablegerparteien Teil des staatlichen Ganzen waren, kann für sie das Parteienprivileg des Grundgesetzes nicht generell gelten.
({11})
Soweit Parteiakten Staatsangelegenheiten enthalten, müssen sie wie Staatsakten behandelt werden. Wo sich Nähe zur Stasi-Tätigkeit ergibt, gehören sie zum Aktenbestand der Stasi. Nur insoweit, als es sich um Parteivorgänge nach dem Verständnis des Grundgesetzes oder des Parteiengesetzes handelt, greift das Parteienprivileg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Wort noch zu den Diensten. Da die kommunistische Drohkulisse nicht mehr existiert, entfällt ein wesentlicher Teil der Aufgabenstellung von BfV und BND. Das heißt im Ergebnis Personal- und Aufwandsreduzierung. Wir Innenpolitiker von der SPD lehnen es ab, das Bundesamt für Verfassungsschutz statt dessen mit der Bekämpfung illegalen Waffenexports und internationaler Bandenkriminalität und dabei besonders des Drogenhandels beauftragen zu wollen.
({12})
Der Verfassungsschutz darf keine polizeilichen oder polizeiähnlichen Tätigkeiten ausüben. Er ist darauf auch gar nicht vorbereitet.
Noch eines will ich sagen: Wer der Vorfeldbeobachtung das Wort redet, der nimmt in Kauf, die Bundesrepublik Deutschland gewissermaßen zu einer Dependance der Firma Pinkerton zu machen. Das verfassungsrechtlich abgesicherte Trennungsgebot zwischen Verfassungsschutz und Polizei hat sich bewährt.
({13})
Wenn jemand gefragt ist, dann sind es die Polizei und der Zoll. Beide bringen einschlägige Erfahrungen mit. Wenn sich der BND im Ausland bei der Nachrichtensammlung verstärkt des Waffen- und Drogenthemas annehmen würde, stünde das auf einem anderen Blatt. Hier stellt sich der Kompetenzkonflikt nicht.
Die Kontrolle der Dienste kann nicht so bleiben wie bisher. Die Aufsplitterung der parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten dient der Sache nicht. Das PKK-Gesetz ist dringend novellierungsbedürftig. Es geht um mehr Konzentration, aber auch um mehr Effizienz der Kontrolle. Als völlig untauglich hat sich die gesetzlich vorgesehene Berichtspflicht der Bundesregierung erwiesen. Der Berichtsrahmen wird durch das Gesetz in das Ermessen der zu kontrollierenden Bundesregierung gestellt. Was die strikte Geheimhaltung der PKK anbetrifft, habe ich bisweilen den Eindruck, daß das meiste bereits offenkundig ist und diese Offenkundigkeit lediglich geheimgehalten werden soll.
({14})
Tatsächliche Kontrolle ist gefragt. In diesem Sinne werden wir uns konstruktiv an der Novellierung des PKK-Gesetzes beteiligen, die ja auch die Koalition als notwendig ansieht. Anders ist es nicht zumutbar, sich als Parlamentarier an dem Scheinunternehmen Kontrolle der Dienste zu beteiligen. Darüber kann auch das pompöse Wahlverfahren für die Mitglieder der PKK nicht hinwegtäuschen.
({15})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie immer ist die Innenpolitik vielfältig und manchmal auch ein steiniges Feld. Gegensätze mit der Koalition werden unvermeidlich sein. Wir wollen uns wie früher um Genauigkeit und Nüchternheit bemühen. Wir - und ich ganz persönlich - freuen uns, daß der Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble wieder dabei ist. - Schönen Dank.
({16})
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte mir sehr gewünscht, mein neues Amt als Bundesjustizminister in einer Zeit antreten zu können, die weniger von Gewalt und Unrecht erfüllt ist. Wir alle sind mit großen Hoffnungen in dieses Jahr gegangen: Die Teilung
Deutschlands ist überwunden. Der KSZE-Prozeß ist abgeschlossen. Wir durften glauben, vor einer Zeit des Friedens und des Rechts zu stehen. Aber es ist anders gekommen. Die Welt wird von einer Welle des Unrechts erschüttert. Die Verbrechen Saddam Husseins sind auch eine Niederlage des Rechts. Recht ist eben nicht nur innerstaatliches Recht.
In den baltischen Republiken müssen die Menschen um die Rechte kämpfen, die bereits die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 als unantastbar und selbstverständlich definiert hat.
({0})
Aber das Recht ist eine mächtige Kraft. Ich jedenfalls baue darauf, wir sollten darauf bauen, daß es sich letztlich durchsetzen wird.
({1})
Unrecht kann nur durch Recht überwunden werden. Damit meine ich nicht nur Gesetze und Verordnungen. Recht ist mehr: Recht ist, so Radbruch, Wille zur Gerechtigkeit. Auf diesen Willen zur Gerechtigkeit kommt es an. Mit ihm müssen wir versuchen, dem Unrecht entgegenzutreten.
Neben Recht und Freiheit zählt der Frieden zu unseren höchsten Werten. Der Einsatz für den Frieden verdient deshalb immer Achtung und Respekt. Er ist ein Wert an sich.
({2})
Gerade weil wir in unserem Jahrhundert Erfahrungen so entsetzlicher Art gemacht haben, müssen wir diejenigen verstehen, die den Krieg als Mittel der Politik total und endgültig ablehnen. Aber richtig ist eben auch, daß das Recht dem Unrecht nicht weichen darf. Aggression darf nicht belohnt werden; Aggression darf nicht siegen. Wenn das Recht nicht entschieden verteidigt wird, zerfällt es und verliert seine bewußtseins- und handlungsbildende Kraft.
Ich meine allerdings, daß jede Diskussion dort aufhört, wo unter der Decke von Friedensdemonstrationen klar Antiamerikanismus betrieben wird.
({3})
Wir verdanken den Amerikanern außerordentlich viel. Sie haben sich für unser Recht und für unsere Freiheit in der Vergangenheit in besonderem Maße eingesetzt.
Dasselbe gilt für unsere Solidarität mit Israel, die vor allem auf seiten der Israelis viel Kraft gekostet hat, bis es zum Aufbau unseres gegenwärtigen Verhältnisses kam. Ich sage klar: Dieses Verhältnis darf nie wieder getrübt werden.
Vor 40 Jahren hat Thomas Dehler als erster Bundesminister der Justiz dem damaligen Bundestag seinen ersten Bericht über die Aufgaben des Justizministeriums vorgetragen. Die Wiederherstellung der Rechtseinheit und die Erneuerung des Rechtsbewußtseins war damals sein Thema. Damals ging es darum, das Recht der westlichen Besatzungszonen zu vereinheitlichen und es von den Resten des NS-Unrechts zu befreien.
Heute ist es unsere Aufgabe, die Hinterlassenschaft des SED-Unrechts aufzuarbeiten. Wir stehen, ich stehe als neuer Bundesjustizminister vor der großen Aufgabe, das verlorengegangene Vertrauen der Menschen zueinander, das Vertrauen in den Staat und in den Rechtsstaat neu aufbauen zu müssen. Dehler sagte damals, dieses Vertrauen sei durch eine verbrecherische Zeit des Unrechts erschüttert worden. Gleiches ist in der ehemaligen DDR geschehen. Ministerpräsident Biedenkopf hatte recht, als er gestern sagte, daß das Ausmaß des geschehenen Unrechts täglich leider deutlicher und schrecklicher werde. Ich habe als Bundesjustizminister Akten und Vorgänge aus der früheren DDR übernommen, bei denen es mir im wahrsten Sinne des Wortes schlecht geworden ist. Darüber wird noch an anderer Stelle zu sprechen sein.
Die tiefgreifende Verunsicherung der Menschen, die aus der jahrelangen Rechtlosigkeit, Bespitzelung und Bevormundung resultiert, muß abgebaut werden. Die Sehnsucht nach dem Recht war eine der großen Triebkräfte für die Revolution. Die Menschen hoffen nun in den fünf neuen Ländern auf den Rechtsstaat. Sie müssen, wie ich sagte, wieder Vertrauen zueinander finden. Diese Hoffnungen müssen und werden wir einlösen.
Die zentrale rechtspolitische Aufgabe der nächsten vier Jahre wird deshalb - so jedenfalls sehe ich es - der Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Bundesländern sein. Kein Mensch würde verstehen, wie ich schon an anderer Stelle gesagt habe, wenn wir unser fein austariertes und ausgebautes Rechtssystem in den alten Bundesländern weiter ausziseliert aufbauen würden, während wir in den fünf neuen Bundesländern eine absolut defizitäre, katastrophale Lage haben.
Der wirtschaftliche Aufbau ist gewiß ungeheuer wichtig. Für die betroffenen Menschen aber sind die Rechtsstaatsprobleme mindestens von gleichem Gewicht. Das ist für uns in den Altländern nicht so ganz einfach zu verstehen, weil wir nach 40 Jahren gelebtem Rechtsstaat alles als absolut selbstverständlich empfinden.
Es geht um den Aufbau einer demokratischen Justiz in den neuen Bundesländern, die dafür sorgt, daß die Bürger wieder zu ihrem Recht kommen; denn Recht sichert Freiheit, und nur Recht führt zur Freiheit und zum Vertrauen der Menschen untereinander. Die Justiz muß von Richtern und Staatsanwälten befreit werden, die dem SED-Regime als Steigbügelhalter gedient haben und sich als Instrument der Unterdrükkung mißbrauchen ließen. Wer sich allerdings nichts zuschulden kommen ließ, kann auch bleiben. Kennzeichen des Rechtsstaats ist individuelle Gerechtigkeit.
Wir brauchen eine Fülle von neuen Richtern, Staatsanwälten, Rechtspflegern, Geld aus den Altländern, Fortbildungshilfe, technische Hilfe, kurz: eine gewaltige Unterstützung in der Praxis. Ich habe in den vergangenen Monaten versucht, einiges anzuschieben, und werde meine ganze Kraft diesen Fragen widmen.
({4})
Wir brauchen für den Neubeginn vor allem aber auch Kraft, Verständnis und Solidarität. Ich warne gerade in dem Bereich, über den ich spreche, vor Überheblichkeit, auf die die Menschen in den neuen Bundesländern zu Recht hochempfindsam reagieren. Ich warne vor gönnerhafter, meist übrigens nur scheinbarer Überlegenheit.
({5})
Wir hatten das Glück, meine Damen und Herren, auf der richtigen Seite zu sein und ab 1949 einen freien und demokratischen Staat aufbauen zu können.
Wir bekamen auch - das wird heute leicht vergessen - nach der Zeit des Unrechtsstaates, nach der Nazizeit, 1945 die Chance, die schwierigen Spielregeln der Demokratie und der Sozialen Marktwirtschaft einzuüben. Zu diesen Spielregeln gehört die Achtung vor der Meinung des anderen, gehören Toleranz und die ständige Bereitschaft zum Dialog. Im Umgang miteinander können und müssen wir jetzt unter Beweis stellen, wie ernst es uns mit diesen Spielregeln ist.
Wir stehen heute vor der schweren Aufgabe, die verheerende Hinterlassenschaft der SED aufzuräumen. Das Unrecht hat ja nicht nur 40 Jahre gedauert; es hat leider Gottes auch alle Bereiche des Lebens erfaßt. Gleich nach dem Kriege wurden die Menschen deportiert, interniert und durch die sowjetischen Militärtribunale verurteilt. In den Jahren 1945 bis 1949 wurden viele Menschen ohne jeden Grund aus dem Lande gejagt und um ihr Vermögen gebracht. Der Vorwurf, sie zählten zu den Kriegsschuldigen oder den Naziaktivisten, war eine Lüge.
({6})
Ihnen wurde allein zum Verhängnis, daß sie einer Gesellschaftsschicht angehörten, der die kommunistische Ideologie das Existenzrecht absprach.
({7})
Republikflüchtlingen und verurteilten Regimegegnern hat die DDR ihr Eigentum rigoros entzogen. West-Eigentümer unterlagen einer subtilen Enteignungspraxis.
Unrecht hat die SED aber nicht nur am Vermögen der Betroffenen begangen; das Regime hat systematisch Menschen zerbrochen und Lebensschicksale zerstört. Kritiker wurden strafrechtlich verfolgt, in psychiatrische Anstalten gesperrt, an Ausbildung und Fortkommen gehindert.
Aber - auch das gehört zur Tragik der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert - wir können das geschehene Unrecht nicht ungeschehen machen. Um die Einheit unseres Vaterlandes zu gewinnen, mußten wir im Einigungsvertrag schweren Herzens auf die Rückgängigmachung der Enteignungen der Jahre 1945 bis 1949 verzichten. Das ist uns und - das möchte in an dieser Stelle auch einmal deutlich sagen - mir als dem verantwortlichen Verhandlungsführer außerordentlich schwergefallen. Ich möchte mit Nachdruck sagen, daß Ausgleichsleistungen bald kommen müssen.
({8})
Viele Menschen wurden an Körper, Geist und Seele gebrochen. Sie sind heute alt, einige sind gestorben. Keine moralische Rehabilitierung und kein Geld vermag hier mehr zu helfen. Als Justizminister verspreche ich den Opfern an dieser Stelle, alles in meiner Macht Stehende zu tun - wie es bereits der Ausschuß Deutsche Einheit anläßlich der Beratung des Einigungsvertrages gefordert hat - , um hier zu helfen. Mit der Arbeit an einem Rehabilitierungsgesetz haben wir im Justizministerium bereits begonnen.
Aber ich bitte die betroffenen Opfer zugleich ganz herzlich - ohne hier irgend etwas verdrängen zu wollen - , uns Vertrauen zu schenken und sich nicht in Bitterkeit zu verhärten. Wir müssen dieses Mal unsere Vergangenheit rechtzeitig bewältigen. Wir müssen unseren inneren Frieden finden und die Kraft zur Aussöhnung aufbringen. Die Kräfte für die Zukunft werden sonst nicht frei, und wir schleppen die Lasten der Vergangenheit sonst immer weiter mit uns herum.
Ich komme zum Schluß: Von ganz entscheidender Bedeutung sind die offenen Vermögensfragen. Über eine Million Anträge liegen bei den 213 Landratsämtern und den 34 kreisfreien Städten. Wir müssen mit Personal, Technik, Soft- und Hardware versuchen, das möglichst rasch in den Griff zu bekommen, ebenso die gigantischen Probleme der Treuhandanstalt.
Deshalb erarbeiten wir zur Zeit mit großem Nachdruck das Gesetz zur Beseitigung von Hemmnissen bei der Privatisierung von Unternehmen. Dieses Gesetz wird bereits am 6. Februar im Bundeskabinett beraten und diesem Hohen Hause in Kürze vorliegen.
Der demokratische Rechtsstaat ist keine Parteiensache. Um ihn erfolgreich aufzubauen, müssen wir alle gemeinsam zusammenwirken. Ich möchte Sie deshalb heute auch in meiner neuen Funktion nachdrücklich bitten, mit mir diese großen Aufgaben in Angriff zu nehmen. Ich brauche Sie alle. Ich brauche zur Mitwirkung und zur Bewältigung dessen, was vor uns liegt, gerade im rechtsstaatlichen Bereich vor allem den Deutschen Bundestag.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Laufs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Aus der Fülle der anstehenden Probleme kann ich nur einige Stichworte herausgreifen.
Ein großes Thema der Innen- und Rechtspolitik sind die im Einigungsvertrag aufgezeigten und für die Europäische Politische Union erforderlichen Ergänzungen und Änderungen des Grundgesetzes. Das informelle gemeinsame Gremium aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates sollte rasch gebildet werden.
Unsere Position ist klar: Wir wollen keine neue Verfassung. Wir lehnen eine Totalrevision des Grundgesetzes ab.
({0})
Wir sagen auch: Keine Experimente mit Staatszielbestimmungen. Wir setzen uns für ein Staatsziel Umweltschutz ein, aber wir lehnen die Aufnahme weiterer Staatsziele in das Grundgesetz ab. Konkurrierende Interessen können nicht gleichermaßen mit Vorrang verfassungsrechtlich ausgestattet werden. Über Prioritäten müssen wir uns politisch auseinandersetzen.
Wir halten auch nichts von Experimenten mit dem Volksentscheid. In den häufig auftretenden hysterischen Stimmungslagen - was haben wir denn anderes in diesen Wochen? - könnten vernünftige plebiszitäre Beschlußfassungen nicht erwartet werden. Wir wollen keinen Rückfall in die Demokratie der Straße.
({1})
- Ich will Ihnen sagen, was ich damit meine: Der saarländische Ministerpräsident hat dieser Tage die Bevölkerung und seine Staatsbeamten dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen und sich an einer Antikriegsdemonstration zu beteiligen. Dies findet unsere Kritik.
({2})
Dieser Aufruf ist amtswidrig und gegen den repräsentativen Parlamentarismus gerichtet.
({3})
Herr Abgeordneter Laufs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weiß?
Ja, bitte schön.
Sie sagten, Sie möchten keinen Rückfall in die Demokratie der Straße. Sind Sie auch der Auffassung, daß es falsch gewesen ist, daß die Bürgerinnen und Bürger der DDR im Herbst 1989 auf die Straße gegangen sind, um ihre Demokratie zu erkämpfen?
({0})
Herr Kollege Weiß, exakt das will ich nicht sagen, sondern ich sage: Eine Regierung hat sich mit politischen Fragen im Parlament auseinanderzusetzen - nicht durch die Mobilisierung der Straße. Sie müssen doch von der parlamentarischen Ordnung hier in der Bundesrepublik Deutschland ausgehen. Ich möchte auch hinzufügen: Das Parlament darf nicht zum Ort der Demonstration mit Kerzen, Flugblättern und Pflanzen werden.
({0})
Mit der CDU/CSU wird es keine Grundgesetzänderung geben, die unsere repräsentative parlamentarische Verfassung unterminiert.
({1})
Herr Abgeordneter Laufs, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein.
Zum Asylrecht, Herr Kollege Penner, stimmen wir Ihnen zu: Es muß europäisch harmonisiert werden. Nur wie soll das ohne Änderung des Art. 16 unseres Grundgesetzes gehen? Für uns ist diese Anpassung unserer Verfassung unumgänglich.
Meine Damen und Herren, eine schwere Bürde ist die Hinterlassenschaft des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit. Es ist gewiß gegenwärtig richtig, Auskünfte an Betroffene aus den Archiven des Sonderbeauftragten zunächst nur in den Fällen zu erteilen, die zur Wiedergutmachung, Rehabilitierung, Strafverfolgung und Abwehr von Gefahren unerläßlich und unaufschiebbar sind. Diese vorläufige enge Begrenzung für Auskünfte und Nutzung muß aber so bald wie möglich aufgehoben werden.
Aus den Archiven des Sonderbeauftragten müssen alle Betroffenen die sie betreffenden Auskünfte erhalten können, damit sie die Chance zur Aufarbeitung des Unrechts und zur Rehabilitierung haben. Dieses allgemeine Auskunftsrecht könnte zeitlich befristet werden, damit die Akten, die dann keine weitere Bedeutung mehr haben, vernichtet werden können. Wir werden für eine endgültige Benutzerordnung bald eine gesetzliche Grundlage schaffen. Unbefugter Umgang mit diesem verfassungswidrigen Material und unbefugter Besitz von Stasi-Akten sind unter empfindliche Strafe zu stellen.
({0})
Wie werden prüfen, in welchem Umfang der Sonderbeauftragte bei der Ermittlung gegen Straftäter mitzuwirken hat. Wegen der Vernetzung aller Vorgänge müssen Zugangsmöglichkeiten zu anderen DDR-Aktenbeständen eröffnet werden.
Es ist eine vordringliche Aufgabe der neuen rechtsstaatlichen Justiz, diejenigen in einem fairen Prozeß abzuurteilen, die sich schwer gegen die Grundsätze des Rechtsstaats und der Menschenrechte vergangen haben. Es geht nicht darum, im Westen moralisch Gericht zu halten. Es geht um die Wiedergewinnung des inneren Friedens, um die Bewältigung eines schrecklichen Zeitabschnittes deutscher Geschichte. Die ganze Wahrheit muß ans Licht; sonst wird es keinen Frieden geben.
Alle Stasi-Grausamkeiten, alle Arten von Stasi-Untaten müssen dokumentarisch beispielhaft an konkreten Einzelfällen offengelegt werden,
({1})
auch die Fälle tragischer Verstrickung, wo Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern wurden. Erste vereinzelte Publikationen sind da. Wir ermutigen Verlage, betroffene Bürger und Schriftsteller zu dieser exemplarischen Aufarbeitung des Stasi-Terrors.
Zu den weiteren vordringlichen Aufgaben gehört vor allen Dingen der grundlegende Neuaufbau der Verwaltung in den neuen Ländern. Wir können nicht darauf vertrauen, daß Gesetze und Programme allein die Wirklichkeit verändern. Ohne erfahrene und leistungsfähige Beamte und Angestellte geht es nicht. Der Bundesinnenminister hat auf die Probleme hingewiesen.
Aus dem Sonderfonds des Bundes für Neueinstellungen westdeutscher Bewerber in Gemeinden der
neuen Länder in Höhe von 10 Millionen DM ist im Jahre 1990 nicht eine Mark abgeflossen. Für die 50 Millionen DM im Haushalt 1991 liegen bis jetzt lediglich 74 Anträge vor. Wenn Programme nicht greifen, müssen sie geändert werden. Die zuständigen Stellen in den neuen Ländern ersticken bereits in Anträgen zur Regelung offener Vermögensfragen, ohne daß - abgesehen von der Eingangsbestätigung - greifbare Fortschritte vorliegen. Es gibt weitere bedrückende Beispiele.
Es ist wahrlich an der Zeit, daß unsere Anstrengungen massiv verstärkt und die Verwaltungen in den neuen Ländern auch von unten in ihrer Alltagsarbeit eingewiesen und unterstützt werden.
({2})
Meine Damen und Herren, ein Anliegen von außerordentlicher Bedeutung ist die Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Wir sehen sehr ernst und eindringlich unsere Pflicht, die letzten Schlupflöcher für illegale Exporte und militärischen Mißbrauch von Industriegütern zu stopfen. Wir haben in den vergangenen zwei Jahren das Außenwirtschaftsrecht mit fünf Novellen und 26 Verordnungen verschärft.
Ich möchte hier auf einen inneren Zusammenhang mit der Bekämpfung auch der internationalen Bandenkriminalität, der Rauschgift- und Wirtschaftsverbrechen hinweisen. Der Gesetzentwurf zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität liegt auf dem Tisch. Er ändert u. a. das Strafgesetzbuch bei der Einführung der Vermögensstrafe, bei der Erweiterung des Verfalls von Vermögensgegenständen und bei der Beschlagnahme von Gegenständen, die dem Verfall unterliegen.
Eine Beteiligung des Verfassungsschutzes an der Aufklärung illegaler Exporte ist verfassungsrechtlich höchst brisant. Wenn wir aber einen effektiven Rechtsschutz wollen, ist eine mit besonderen Kontrollen versehene Beteiligung des Verfassungsschutzes nicht nur zweckmäßig, sondern auch erforderlich.
({3})
Dann aber spielen auch die Regelungen des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität über den Einsatz verdeckter Ermittler oder akustischer und optischer Überwachungsgeräte eine maßgebliche Rolle. Wir sollten diese Thematik im Zusammenhang beraten. Wir müssen sie mit aller Nüchternheit, mit Augenmaß und mit großer Sorgfalt erörtern.
Es ist nicht sinnvoll, das Außenwirtschaftsrecht ganz gesondert zu behandeln.
({4})
Herr Kollege Penner, es genügt nicht, anklagend die furchtbaren Verbrechen zu bejammern. Wir hier sind gefordert, wirksame Instrumente zur Bekämpfung bereitzustellen. Sie sind dazu offensichtlich nicht bereit.
Meine Damen und Herren, in den letzten drei Jahren sind gut 1 Million Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa zu uns gekommen. Wir treten nachdrücklich dafür ein, daß diese Deutschen in ihrer angestammten Heimat als Minderheiten geschützt und,
mit besonderen Volksgruppenrechten versehen, ohne Diskriminierung leben können. Dies wird auch vertraglich mit unseren östlichen Nachbarn festzuschreiben sein.
Außerdem müssen wir die Hilfe in den Aussiedlungsgebieten beträchtlich verstärken. Mit Paketen, medizinischer Hilfe und deutschen Schulbüchern - so notwendig das alles ist - darf es nicht getan sein. Wir halten es für erforderlich, daß den Deutschen in Schlesien, im Banat, in Kasachstan eine echte Perspektive zum Bleiben geboten wird. Unsere Hilfe muß sich deshalb auch auf den Aufbau landwirtschaftlicher, handwerklicher, gewerblicher Existenzen erstrecken.
Ich könnte mir vorstellen, daß eine vom Bund geförderte Entwicklungsagentur neben den Landsmannschaften und den karitativen Organisationen diese Hilfeleistungen vor Ort in die Tat umsetzen könnte.
({5})
Darüber hinaus halte ich es für notwendig, daß wir in den nächsten Jahren die deutsche Kultur aus den Gebieten jenseits von Oder und Neisse nicht nur in Museen, Hochschulen oder in ostdeutschen Heimatstuben im Bundesgebiet fördern, sondern auch aktiv zur Bewahrung deutscher Kulturgüter in Osteuropa beitragen. Zum Beispiel sollten wir Initiativen zum Wiederaufbau des Domes in Königsberg fördern oder im schlesischen Kreisau eine würdige Gedenkstätte zur Erinnerung an die Widerstandskämpfer schaffen.
({6})
Meine Damen und Herren, der Prozeß der deutschen Einheit wurde weltweit nicht zuletzt deshalb mit Sympathie begleitet, weil die beiden Rundfunkanstalten des Bundes, nämlich die Deutsche Welle und der Deutschlandfunk, mit ihrer Arbeit dazu beigetragen haben. Wir danken ihnen dafür. Die Deutsche Welle als deutsche Stimme in der Welt sollte noch leistungsfähiger werden, könnte mit echten Fernsehkapazitäten ausgestattet werden. Der Deutschlandfunk sollte in einer zweckmäßigen Organisationsform fortbestehen. Die Bundesregierung sollte die Novelle zum Bundesrundfunkgesetz so bald wie möglich vorlegen.
Meine Damen und Herren, die Aufgaben im Bereich der Innen- und Rechtspolitik sind gewaltig. Wir werden sie Schritt für Schritt angehen und meistern. Wir sind glücklich, daß unser Partner im Innenministerium wieder Wolfgang Schäuble ist.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Gerster.
Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! In der Anfangspassage der Ausführungen des Kollegen Laufs ging es um das Demonstrationsrecht. Ich glaube, daß möglicherweise etwas Mißverständliches hängengeblieben ist,
Gerster ({0})
was der Kollege Laufs so aber mit Sicherheit nicht gemeint hat.
({1})
- Ich kenne den Kollegen Laufs mit Sicherheit besser als Sie. Er ist nicht nur Mitglied meiner Fraktion, sondern auch meiner Arbeitsgruppe. Ich weiß, daß er im Hinblick auf Grundrechte und Menschenrechte keinerlei Belehrung bedarf.
Meine Damen, meine Herren, selbstverständlich akzeptieren wir alle in vollem Umfang das Demonstrationsrecht. Wir sind stolz auf die friedlichen Demonstrationen, die im letzten Jahr in der DDR zur Demokratisierung und auch zum Fall der Mauer geführt haben. Mehr noch: Wir als CDU/CSU haben auf Grund zahlreicher Anlässe demonstriert, so z. B. wegen Afghanistan, wegen Solidarność und wegen vieler anderer Anlässe. Ich habe am letzten Samstag in Bonn an einer Demonstration pro Israel teilgenommen. Es gibt viele Anlässe. Klar ist - das wurde vom Kollegen Laufs auch deutlich gemacht - , daß das Demonstrationsrecht aber auch sehr leicht mißbraucht wird. Es wird z. B. mißbraucht, wenn der saarländische Ministerpräsident seine Beamten mehr oder weniger deutlich auffordert, sich an einer Demonstration auf den Straßen zu beteiligen.
({2})
Es wird leider Gottes auch mißbraucht, wenn z. B. kleine Kinder, die die Tragweite einer Demonstration nicht überblicken können, bewußt in einer Demonstration eingesetzt werden.
({3})
Ferner wird es mißbraucht, wenn diejenigen Menschen, die nach dem Gasangriff Saddam Husseins gegen die Kurden im eigenen Land und nach dem Überfall auf Kuwait geschwiegen haben, nun plötzlich die Alliierten, die die UNO-Beschlüsse durchsetzen wollen, einseitig an den Pranger stellen. Gegen diesen Mißbrauch des Demonstrationsrechts hat sich der Kollege Laufs aus gutem Grund gewandt. Natürlich will die CDU/CSU-Fraktion nicht nur das Recht auf Demonstrationsfreiheit verteidigen, sondern sie will es selbst auch in Anspruch nehmen, um in der Öffentlichkeit auch für die eigenen politischen Meinungen einzutreten.
Ich bedanke mich.
({4})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Herr Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Hauptfrage für die Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands ist heute: Stehen sie unter dem Gesetz des Verhältnisses von Siegern und Besiegten im innerdeutschen kalten Bürgerkrieg,
({0})
oder werden sie bestimmt von Partnerschaft, von dem, was einst „Zusammenwachsen" genannt wurde? Sicherlich hat der Prozeß der Vereinigung, der dann zum Anschluß wurde, schon vieles in der ersten Richtung bestimmt. Dennoch meine ich, daß der Prozeß umkehrbar ist. Lassen Sie mich dies an einer Frage deutlich machen, nämlich an der Frage der „Abwicklung" im öffentlichen Dienst. Art. 13 des zweiten Staatsvertrages und die entsprechenden Bestimmungen in der Anlage I sehen vor, daß in allen Einrichtungen der DDR, die nicht von Bund oder Land übernommen werden, die Mitarbeiter in den Wartestand und dann, wenn sie nicht übernommen werden, in die Arbeitslosigkeit gehen. Das Arbeitsrecht findet keine Anwendung. Das betrifft Staatsapparat, Wissenschaft, Gesundheitswesen und Kultur gleichermaßen. Betroffen sind unter vielen anderen die Hochschule für Körperkultur, die Theater der Kinder und Jugend in Leipzig und Halle, ein sächsisches Institut für Pflanzenschutz und auch das Regierungskrankenhaus. Zum Teil werden nur Teile von Einrichtungen abgewickelt. Dabei werden sie - wie etwa Fakultäten der Universitäten - in Wirklichkeit gar nicht aufgelöst. Der Lehrbetrieb geht weiter. Es findet eine sofortige Neugründung statt. Nur: Die Wissenschaftler sind ihrer Arbeitsrechte beraubt. Es geht um Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaftler, Künstler und Mediziner; es geht um über 100 000 Intellektuelle.
Diesen groben Maßnahmen folgt dann die Feinarbeit mit Fragebögen bei der Wiederbewerbung. Sie erstreckt sich auf die Hunderttausende von Angehörigen des öffentlichen Dienstes.
Wir bestreiten nicht die Notwendigkeit der Bestrafung vergangenen Unrechts. Hier geht es aber um etwas anderes. Nachträglich sollen 2,3 Millionen Mitglieder und Funktionäre der SED, 500 000 Mitglieder und Funktionäre der anderen Blockparteien und weitere Millionen Mitglieder und Funktionäre von Massenorganisationen an einer für sie überhaupt nicht geltenden Verfassung gemessen werden. Für sie sollen die Maßstäbe des Berufsverbots angewandt werden. Jedem von ihnen muß aber nach dem Scheitern des DDR-Sozialismus das Recht eingeräumt werden, aus diesem Vorgang für viele sehr schmerzhafte Schlußfolgerungen zu ziehen. Die heutige Beurteilung muß an heutiges Verhalten anknüpfen.
Die Praxis in der ehemaligen DDR verstößt nach meiner Ansicht gegen mehrere Gebote des Grundgesetzes. Sie verstößt aber auch gegen die Gebote politischer Vernunft. Eine wirkliche Vereinigung leidet Schaden, wenn das intellektuelle Potential dort in hohem Maße aus ideologischen Gründen, aber auch aus einfachen Gründen der Konkurrenz - ein Institut für Pflanzenschutz und ein Institut für chemische Technologie genügen - ausgeschaltet wird.
Meine Damen und Herren, gestern hörte ich, daß sich Björn Engholm geweigert hat, Herrn Ortleb als Minister für Bildung und Wissenschaft zu akzeptieren, weil er dem DDR-System angehört habe.
Ich hoffe - damit möchte ich schließen - , daß es uns gemeinsam gelingen wird, mit dem Erbe des Kalten Krieges, mit einem Demokratieverständnis, das im eigenen Wertesystem dem politischen Gegner keinen Platz auf der gemeinsamen Grundlage der Verfassung
zubilligt, und mit der von Bundespräsident von Weizsäcker am 3. Oktober kritisierten Einteilung Ost- und Westdeutscher in mißlungene und gelungene Existenzen oder gar in Böse und Gute zu brechen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Köppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu den innenpolitischen Vorhaben gehört u. a. der Umgang mit Unrechtshandlungen in der ehemaligen DDR. Hier ist an erster Stelle die Aufarbeitung der Praxis und Organisation der Staatssicherheit zu nennen. Wir, die Abgeordneten vom Bündnis 90 und von den GRÜNEN, nehmen gern das in der Koalitionsvereinbarung formulierte Angebot an, in Gesprächen mit uns und der SPD eine Konzeption für den Umgang mit den StasiAkten zu entwickeln. Eine schriftliche Einladung zu solchen Gesprächen ist uns aber bis heute nicht zugegangen.
Wenn wir allerdings die Ausgangslage dafür betrachten, macht sich Bitterkeit breit. Die Forderungen der Bürger- und Bürgerinnenbewegung und des zentralen Runden Tisches sind zum größten Teil bis heute nicht erfüllt worden. Die Stasi konnte sich weitgehend geordnet selbst auflösen. Übriggeblieben ist ein Klima der Verdächtigungen. Gelegentlich machen neu aufgedeckte Skandale aus der Ära der Staatssicherheit Schlagzeilen in der Tagespresse. Weitestgehend verschlossen sind die Archive, nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Betroffenen.
Die notwendige Aufarbeitung der Verflechtung und Verbrechen der Stasi und anderer Stellen wurde eher behindert als gefördert, und dies nicht nur durch den ehemaligen Innenminister Diestel. An der Verschleppung der Aufarbeitung haben auch westdeutsche Stellen entscheidenden Anteil. So hält z. B. die Bundesregierung, statt öffentliche Aufklärung über ihre Geschäfte mit Herrn Schalck-Golodkowski zu betreiben, offenbar mittels Bundesnachrichtendienst ihre schützenden Hände über ihn. Das ist skandalös.
({0})
Wir wollen keine Vergangenheitsüberwältigung, wie sie vor 40 Jahren beiderseits der Elbe halb staatlich verordnet, halb dankbar entgegengenommen wurde. Wir wissen zu genau, es gab nicht nur einige wenige Täter und im übrigen nur Opfer. Es gab eine große Verstrickung der gesamten Gesellschaft in das Unrecht. Genau dies aufzuarbeiten, müssen wir der ostdeutschen und der westdeutschen Gesellschaft erlauben und zumuten, statt ihr per Staatsakt Unwissenheit, Schweigen und Verdrängung aufzuerlegen.
Ich habe mir die Regierungserklärung zu diesem Bereich sehr genau angesehen. Abgesehen von den vielen nebulösen Formulierungen sieht die Art und Weise der Bewältigung wie folgt aus: Es sollen einige Hauptschuldige ausfindig gemacht und dem Strafrecht und anderen Sanktionssystemen überantwortet werden. Die Bevölkerung wird in den Status der Unmündigkeit gestoßen. Sie wird darin bestärkt, daß man in Krisenzeiten sein Glück im Privaten suchen kann. Das aber genau hat das Unrecht erst über Jahrzehnte gestattet. Wir müssen fragen: Warum hat es so wenig Widerstand gegen die SED-Herrschaft gegeben, und wie kann die Bevölkerung der ehemaligen DDR wirklich Konsequenzen für ihr jetziges Leben aus diesen Verstrickungen ziehen?
Bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit müssen vor allem drei Probleme im Zusammenhang gelöst werden. Es sind erstens Regelungen zum Umgang mit den Stasi-Akten, zweitens Regelungen zur Rehabilitierung und drittens Regelungen zur Strafverfolgung zu treffen.
Eine Regelung im Umgang mit den Stasi-Akten muß differenziert, auf die unterschiedlichen Aktenkategorien bezogen sein. Dabei sind das informationelle Selbstbestimmungsrecht sicherzustellen und ein Akteneinsichtsrecht für die Betroffenen zu garantieren.
Die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der SED-Herrschaft ist ein beschämendes Kapitel. Wie will man den Stasi-Opfern verständlich machen, daß sie bis heute auf eine Rehabilitierung und Entschädigung warten müssen? Nachdem man im Einigungsvertrag alle Vorstellungen des Rehabilitierungsgesetzes der DDR gekippt hat, will der Herr Bundeskanzler die Opfer - ich zitiere - „neben den bestehenden Entschädigungsregelungen soweit möglich berücksichtigen". Bisher gibt es noch nichts außer den spärlichen Zuwendungen nach dem Häftlingshilfegesetz, für jeden Haftmonat 80 DM. Für wochenlange Verhöre, Wohnungsdurchsuchungen und berufliche Benachteiligungen gibt es nicht einmal eine Entschuldigung. Wenn in der Regierungserklärung hierauf nur einige wenige Worte verwandt werden, um sich ansonsten den Vermögensfragen zuwenden zu können, dann zeigt das, welche unselige Priorität hier gesetzt wird.
({1})
Wir sind der Auffassung, es muß auch strafrechtliche Konsequenzen geben. Verhindert werden muß aber, daß durch Herausgreifen einiger Schuldiger die Gesellschaft aus der Verantwortung entlassen wird. Wenn wir vom Umgang mit der Stasi-Vergangenheit sprechen, geht es zudem um berufliche Konsequenzen. Wir wollen nicht, daß ehemalige Mitarbeiter der Stasi neue Gewalt über Schulkinder und Erwachsene bekommen.
({2})
Wir wollen auch nicht, daß ehemalige höhere Kader der SED sowie haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter der Stasi heute umstandslos staatliche Posten einnehmen oder behalten können.
({3})
In diesem Zusammenhang ist auch für uns, für die
Bundestagsabgeordneten ein Beschluß wichtig, wonach alle Mitglieder des Bundestages auf eine ZuFrau Köppe
sammenarbeit mit der ehemaligen Staatssicherheit überprüft werden.
({4})
Wir brauchen insgesamt sehr genaue Kriterien für den Anteil an Mitschuld und - umgekehrt - Kriterien für berufliche Positionen, wann man also dafür geeignet oder ungeeignet ist. Damit dies wie bei den Sicherheitsüberprüfungen in der Bundesrepublik nicht willkürlich und ohne gesetzliche Grundlage geschieht, sollte dazu ein geeignetes Gesetz entworfen werden.
Abschließend will ich über zwei innenpolitische Vorhaben der Bundesregierung sprechen.
Erstens. Die Nachrichtendienste, deren Aufgaben durch die Ost-West-Umwälzungen weitestgehend entfallen sind und deren Abbau nicht erst seitdem politisch ansteht, sollen nun - im Gegenteil - ausgebaut werden. Der BND soll Drogengeschäfte aufspüren. Der Verfassungsschutz sucht dringend eine neue Legitimation, etwa durch Einsatz gegen Waffenhändler. Diese Forderung nach Übernahme von Polizeiaufgaben lehnen wir ab.
({5})
Meine zweite Anmerkung betrifft die geplanten Regelungen gegen die sogenannte organisierte Kriminalität. Nebenbei: Niemand weiß offenbar, was alles darunter fällt. Ich befürchte hier eine überbreite Anwendung der geplanten Vorschriften. Gerade im Bereich der Drogenbekämpfung kommen wir mit strafrechtlichen Regelungen nicht viel weiter, wie uns viele Länder lehren. Wenn Innenpolitik nicht vor allem innere Sicherheit sein soll, sondern sich der gesellschaftlichen Entwicklung verpflichtet sieht, muß sie gesellschaftliche Ursachen z. B. für den Drogengebrauch ins Auge fassen. Zugriffsrechte des Staates wie die Rasterfahndung und der Einsatz von verdeckten Ermittlern sind einer demokratischen Gesellschaft unwürdig.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Thierse.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich trete hier gewissermaßen als ein retardierendes Moment auf, weil ich vorhabe, aus der Sicht eines ehemaligen DDR-Bürgers, eines Bürgers aus den neuen Ländern etwas allgemeiner und grundsätzlicher über die Probleme des gesellschaftlichen Zusammenwachsens in Deutschland zu reden.
Vorweg zu Herrn Laufs die doch notwendige Bemerkung, daß auch ich hier nicht stehen würde, wenn es die Demokratie der Straße nicht gegeben hätte.
({0})
Aus dieser Grunderfahrung und aus der Erinnerung - das werden Sie verstehen -, daß ich früher als DDR-Bürger immer mit großem Neid auf die Bundesrepublik geschaut und das Recht auf Demonstration als eines der wichtigsten Rechte angesehen habe,
({1})
verstehe ich nicht, warum im Zusammenhang mit Demonstrationen immer von „Straße" geredet wird. Man kann ja die Meinung derer kritisieren, die auf die Straße gehen. Dagegen habe ich nichts. Aber warum sagt man „Straße" ? Ich werde niemals zulassen, daß diejenigen, die mit mir in Berlin am 4. November, jenem wichtigsten Tag des Herbstes 1989, demonstriert haben - wir waren 500 000 bis 1 Million -, als „Straße" bezeichnet werden. Das waren 500 000 Menschen!
({2})
Herr Abgeordneter Thierse, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Laufs?
Herr Kollege Thierse, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir alle, auch ich persönlich, stolz sind, daß die Menschen in der ehemaligen DDR gegen das totalitäre SED-Regime friedlich aufgestanden sind, weil es dort die parlamentarische Demokratie nicht gab, und wollen Sie bitte erkennen, daß im demokratischen Rechtsstaat die Durchsetzung eines politischen Willens im parlamentarischen Verfahren zu erfolgen hat?
({0})
Herr Laufs, ich will gerne zugeben, daß ich noch nicht so lange bürgerlicher Demokrat bin wie Sie, sondern halt ein schlichter DDR-Bürger. Aber ich habe immer gedacht, daß zu den großen Werten der Demokratie gehört, daß die Bürger - sie sind ja nicht alle im Parlament - das unmittelbare Recht haben sollten, ihre Meinung zu äußern.
({0})
Herr Gerster hat es etwas schärfer gesagt. Er nennt - und das finde ich eher schlimm - die Artikulation einer von seiner Meinung abweichenden Meinung Mißbrauch. Das, finde ich, ist schlimm.
({1})
Meine Damen und Herren, seit dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Herstellung der deutschen Einheit, sind erst knapp vier Monate vergangen. Aber mir kommt es so vor, als sei dieses geschichtliche Datum viel weiter entfernt. Viele Hoffnungen und viele Wünsche hat es gegeben. Viele Hoffnungen und viele Wünsche sind enttäuscht und guter Wille ist mißbraucht worden. Ich rede noch nicht von der niederdrückenden Fülle der Probleme. Ich rede zunächst von bürokratischen Lösungen, von der Sprache der
Technokraten und Lehrmeister und der Effizienz der Wahlkampfstrategen. Mich bewegt dabei nicht Neid auf wohlfeile Zwischenergebnisse, sondern Trauer: Trauer um die spirituelle Substanz der Politik, wie das Max Frisch einmal genannt hat. Damit hat er nicht billiges Pathos gemeint. Er hat gesagt, wenn diese Substanz fehle, bleibt „Politik als Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln: ein gewisser Wohlstand für die meisten als Köder zum Verzicht auf Selbstbestimmung, die Verkümmerung unserer Humanität in Komforthörigkeit" .
Ich rede von Zeichen verweigerter Solidarität, von Engherzigkeit und Kleinkariertheit. Ich rede zum Beispiel vom erfolgreichen Erpressungsversuch der westdeutschen Pharmaindustrie, von der Verweigerung eines Solidaritätsbeitrags, etwa durch den Deutschen Beamtenbund, der natürlich und naheliegenderweise jedes „einseitige Sonderopfer", wie es dann heißt, ablehnt. Ich rede vom Verteilungskonflikt zwischen den alten und den neuen Bundesländern und - ja - auch vom Regierungsprogramm. Ich sehe im Westen nicht sehr viel Bereitschaft zu wirksamem Verzicht. Aber ich weiß doch: Solidarität ist nicht nur ein pathetisches Gefühl, sondern etwas handfest Bitteres. Muß man sie aber deshalb wie ein Finanzbuchhalter lesen, als eine Zahl mit irgendwelchen Nullen, und, wenn man solidarisch und zugleich clever ist, mit eher weniger Nullen?
Robert Leicht schrieb in der „Zeit", es sei beklemmend zu sehen, wie wenig sich die Bonner Routine durch den Vorgang der Einigung verändert habe. Die Prioritätenliste habe sich in nichts verschoben und sei folglich falsch, ja politisch pervers geworden. Keiner frage, so Leicht, was in den fünf neuen Ländern zunächst geschehen müsse, und was danach für unsere hergebrachten Pläne übrigbleibe. Statt dessen heiße es: erst wir im Westen, dann die im Osten.
({2})
Ich rede von der Debatte über die sogenannten Kosten der Einheit. Bei dieser Debatte tragen die CDU/ CSU und die FDP keineswegs allein die Verantwortung für Mißklänge.
({3})
Aber für das Ergebnis, das wir heute sehen, tragen Sie die Verantwortung allein. Am Anfang stand die Unfähigkeit und die Weigerung, den Bürgerinnen und Bürgern noch vor ihrer Wahlentscheidung mitzuteilen, was auf uns alle zukommt.
({4})
Dabei ist der Eindruck entstanden, als ob diese Kosten niemand tragen wolle.
({5})
Der Eindruck ist hoffentlich falsch. Trotzdem mündete er in die Versicherung, erstens, mit der Einheit werde es niemandem schlechter gehen, und zweitens, es gebe keinen Bedarf für Steuererhöhungen.
({6})
Richtig wäre gewesen, den Menschen klar zu sagen, daß die Bundesrepublik jetzt ein neuer Staat mit neuen, bisher ungewohnten Aufgaben ist. Ein solcher Appell an die Solidarität der mündigen Bürger in Ost und West wäre mit Sicherheit verstanden worden.
({7})
Statt dessen stehen wir vor der absurden und beschämenden Situation, daß der Finanzminister und der Kanzler sagen, es werde auf keinen Fall Steuererhöhungen für die Einheit, also für die Bewältigung existentieller Probleme eines guten Drittels der Menschen in unserem Lande geben, aber für die Finanzierung des Krieges am Golf sind Steuererhöhungen vorgesehen. Was glauben Sie, wie die Menschen im östlichen Teil Deutschlands darauf reagieren werden? Darf ich Ihnen sagen, daß mich persönlich dieser Vorgang entsetzt?
({8})
Seit über einem Jahr lehnt die Bundesregierung Steuererhöhungen für die Aufgaben der deutschen Einigung ab, und jetzt, ganz schnell, so schnell, als hätte man nur auf eine Gelegenheit gewartet, sollen Steuererhöhungen möglich und notwendig sein. Für das friedliche Werk der deutschen Einheit waren sie ein Tabu, für einen Krieg dagegen ist man sofort dazu entschlossen.
({9})
Im Osten Deutschlands sind die Folgen des letzten furchtbaren Krieges noch nicht überwunden bzw. ist deren Überwindung noch zu finanzieren. Da sollen wir der Finanzierung eines Krieges nebenan zujubeln!
({10})
„Wir sind schnell dabei, Steuern zu erhöhen, um den Krieg finanzieren zu können. Wir finanzieren den Tod, anstatt daß wir das Leben fördern."
({11})
Das war ein Zitat. Mit diesen Worten kritisierte im Frankfurter Kaiserdom in der vergangenen Woche der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, die Ankündigung der Bundesregierung. Ich kann ihm nur aus vollem Herzen zustimmen.
({12})
Es ist eine bittere, sehr bittere Konsequenz der deutschen Einheit, die erst durch eine friedliche Revolution möglich wurde, daß wir, die friedlich Hinzugekommenen, an einem Krieg beteiligt werden.
({13})
- Ich bleibe dabei. Ich halte das für eine Art von Beteiligung.
({14})
Ich bleibe dabei: Gerade jetzt, wo der Krieg ein unentrinnbares Faktum ist, dürfen wir uns nicht der notwendigerweise alternativlosen Unlogik des Krieges unterwerfen. Die deutsche Geschichte und erst recht die Erfolgsgeschichte der Entspannungspolitik und des Herbstes 1989 verpflichten nicht zum Mitmachen, sondern zu entschlossener Friedfertigkeit.
({15})
Das bedeutet nicht Drückebergerei. Das bedeutet nicht, sich herauszuhalten, sondern meint die Verpflichtung zu deutschen Beiträgen zur politischen Konfliktlösung, zu immer neuen Versuchen zur Deeskalation des Konflikts, nicht zur Teilnahme an militärischer Eskalation.
({16})
Diese meine Haltung schließt folglich ein entschiedenes Ja zur Unterstützung der Verteidigungsfähigkeit Israels ein. Gerade deshalb, weil ich sehr gut verstehe, daß die Israelis nie mehr Opfer sein wollen, bitte ich um Verständnis dafür, daß Deutsche - vielleicht nicht alle - nie mehr Täter sein wollen. Ich jedenfalls setze Regierungsfähigkeit, Politikfähigkeit, Handlungsfähigkeit nicht mit Bereitschaft zum Kriege gleich.
({17})
Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal Robert Leicht zitieren, wörtlich: „Bonn stellt der vormaligen DDR den Rechts- und Ordnungsrahmen hin. Jetzt sollen sich ihre Bürger gefälligst damit zurechtfinden, und Geld gibt es gerade so viel, daß es uns nicht richtig juckt und dort nicht richtig zu Aufständen führt" - eine, wie ich finde, sarkastische, aber zutreffende Beschreibung des Geistes, der Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung bestimmt.
({18})
Geschichtlicher Atem jedenfalls durchweht sie nicht mehr, nur noch ein bedrückendes, dumpfes Bonner Lüftchen ist zu verspüren.
({19})
Die Chance eines deutschen Neuanfangs in Solidarität wird vertan durch erschreckende Konzeptionslosigkeit, durch Kleinlichkeit, durch unverantwortliche Verharmlosung. Dabei kann die Situation in der ehemaligen DDR, in den neuen Ländern, nicht dramatisch genug geschildert werden. Es geht allerdings nicht mehr um die Schuldfrage. Wir sind uns einig, daß es das SED-Regime war, das uns dieses schwere Erbe hinterlassen hat. Aber das Abtragen dieses Erbes, die Lösung der Aufgaben liegt jetzt in unserer gemeinsamen Verantwortung, und dies muß damit beginnen, daß wir den dramatischen Ernst der Lage wahrzunehmen bereit sind.
Dazu gehört, daß wir die Tatsache nicht verdrängen, daß die willkommene staatliche Einheit mit einer sich verschärfenden ökonomischen und sozialen Spaltung Deutschlands verbunden ist.
({20})
Diese bestimmt die Alltagserfahrung im Osten Deutschlands, und davon will ich reden.
({21})
- Entschuldigen Sie, ich reagiere so scharf, weil sowohl in der Regierungserklärung von Helmut Kohl als auch in der Koalitionsvereinbarung wie in den Reden der CDU/CSU-Vertreter nicht vom Ernst dieser Lage die Rede war, sondern nur in beschönigenden, verharmlosenden Worten - -({22})
- Ich kann das ganz kurz machen und an das anschließen, was Herr Biedenkopf und Herr Kühbacher gestern gesagt haben, auf unterschiedliche, aber sehr beredte Weise. Daß ich etwas schärfer rede, werden Sie mir vielleicht abnehmen. Das ist keine Polemik gegen Biedenkopf und Kühbacher, sondern Respekt. Ich bin ein gelernter DDR-Bürger, ich lebe 40 Jahre da, und ich weiß, was ich hierher mitbringe. Ich sehe es als meine Pflicht an, Ihnen auch zu zeigen, wie schlimm das ist, was wir mitbringen.
({23})
Nach den gestrigen Reden reicht es, die Stichworte zu nennen und hinzuweisen auf den Zusammenbruch der Wirtschaft in Ost-Deutschland, auf die rasant zunehmende Arbeitslosigkeit, auf die existentiellen Finanzprobleme der Länder und Gemeinden und auf die Tatsache, daß durch Beschlüsse der Bundesregierungen die Lebenshaltungskosten im Osten erheblich schneller steigen werden als Löhne und Gehälter.
Den Subventionsabbau will ich nennen, um wenigstens an einem Beispiel deutlich zu machen, was die Menschen unmittelbar berührt. Der Subventionsabbau betrifft insbesondere die Bereiche Energie, Wohnungswesen, Verkehr und Wasserwirtschaft. Für den Bürger kommt es dabei zu erheblichen Preissteigerungen. Zum Beispiel kommt es zu einer Verdreifachung bei elektrischer Haushaltsenergie, zu einer Verdreifachung bis Vervierfachung bei Heizgas, zu einer Vervierfachung der Mietpreise und zu fünfzigprozentigen Steigerungen der Preise im Personenverkehr.
({24})
- Das Wohngeld reicht nicht aus, dieses auszugleichen.
Es kommt zu erheblichen Verteuerungen im Nahverkehr. Ich könnte Ihnen das - ich habe jetzt nicht genug Zeit - zuschicken. Ich habe hier Modellrechnungen, was das für ein Rentnerehepaar bedeutet, was das für einen Durchschnittsverdiener, für eine normale Familie bedeutet. Sie werden in diesem Jahr erhebliche Einbußen in ihren Lebensmöglichkeiten erleiden.
({25})
Ich breche hier mit dem Katalog ab.
Ich will nur auf die Wirkung verweisen: Die Ost-West-Wanderung hält unvermindert an. Wir wissen nicht genau, wie viele Tausende wöchentlich, monatlich die ehemalige DDR verlassen. Aber wir wissen, daß die Zahl der amtlich festgestellten Wahlberechtigten vom 18. März bis zum 2. Dezember 1990 um 1,1 Millionen abgenommen hat. Ich glaube nicht, daß in den wenigen Monaten so viele gestorben und so wenige 18 Jahre alt geworden sind.
({26})
Die Mehrheit aber ist geblieben. Diese Menschen wollen es noch immer versuchen. Sie harren aus in Erwartung einer Chance, sich sinnvoll einzusetzen und an dem versprochenen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mitzuarbeiten. Aber es fehlen bisher ausreichende Perspektiven und Möglichkeiten. Die Zeit der Ankündigungen und des geschichtsbesessenen Pathos muß vorbei sein. Es geht jetzt um deutliche Zeichen der Ermutigung. Es bedarf konkreter Maßnahmen, es bedarf praktischer Solidarität. Wo immer Regierung und Koalition solche Schritte gehen, werden sie unsere Unterstützung erhalten.
({27})
Es geht darum - und das sage ich zustimmend, wenn denn den Worten Taten folgen sollen -, Arbeitsplätze zu sichern und so schnell wie möglich neue zu schaffen.
({28})
Es geht darum, jetzt eine aktive Industrie- und Strukturpolitik zu entwickeln zur Rettung - so dramatisch muß man es nennen - des Industriestandorts östliches Deutschland.
Ein solches Konzept, das ich bisher in der Koalitionsvereinbarung nicht erkenne, setzt voraus, daß verläßliche Rahmenbedingungen, also die Entwicklung der Infrastruktur, die Klärung der Eigentumsverhältnisse, die Überwindung der Verwaltungsdefizite, die Beseitigung der Umweltschäden, geschaffen und Investitionsanreize gewährt werden, die die Defizite der neuen Länder als Produktionsstandort spürbar ausgleichen.
Ich erlaube mir hier eine Nebenbemerkung zur Treuhandanstalt: Ihre Aufgabe ist nach meinem Verständnis - deswegen haben wir sie eingerichtet - nicht nur Privatisierung, sondern auch und vor allem
Sanierung. Wo Privatisierung der Sanierung dient, ist es gut; aber das ist wahrhaftig nicht immer der Fall.
({29})
Ich stimme allen Vorschlägen zu - ich hoffe, sie werden verwirklicht - , die Hilfen zur Ingangsetzung einer demokratischen Verwaltung bei uns verwirklichen können. Ich fordere entschiedene finanzielle Maßnahmen zur Lebensfähigkeit der Länder und Kommunen. Das ist bisher nicht ausreichend.
({30})
Ich will noch ein paar Sätze zum Bereich der politischen Kultur sagen: Hier ist eine Hilfe anderer Art durchaus gefordert. Einige Redner haben darauf hingewiesen. Ich kann nur sagen: Ihr Wort in Gottes Ohr. Es geht hier um den Versuch, daß wir ehemaligen DDR-Bürger, die, wie Sie ja wissen, wenige ökonomische und soziale Gründe haben, uns als Gleichberechtigte zu erfahren und zu empfinden, im Bereich der politischen Kultur eine wirkliche Chance haben, Gleichberechtigte in diesem gemeinsamen Deutschland zu sein. Dazu gehört für mich, daß wir nicht von unserer Vergangenheit enteignet werden. Ich empfinde die Attacken auf die Behörde von Jochen Gauck als einen solchen Versuch. Es geht darum, daß wir miteinander mit ihrer Hilfe unsere eigene Vergangenheit aufarbeiten können.
Es geht darum, daß wir in einer wirklichen Verfassungsdiskussion - nicht, was Sie zugestanden haben, Herr Laufs, oder was der Herr Bundeskanzler zugestanden hat; ein paar kosmetische Änderungen hält er schon für möglich - die Chance haben, unsere negativen und positiven Erfahrungen von 40 Jahren Diktatur und anderthalb Jahre demokratischem Aufbruch einzubringen, zu artikulieren. Wenn man uns sagt, es könne ein paar kleine kosmetische Änderungen geben, dann haben wir diese Chance nicht.
({31})
- Wir haben Vorschläge gemacht.
({32})
- Ich habe 40 Jahre negative Erfahrungen.
({33})
- Ja. Ja, so ist es. So treten Sie uns auch gegenüber.
({34})
Es geht um praktische Solidarität, es geht darum, die soziale und psychische Befindlichkeit unserer neuen Mitbürger zu erkennen und anzuerkennen. Es muß endlich durch Taten - nicht mehr nur durch Versprechungen - der Teufelskreis durchbrochen werden, in dem die Menschen im östlichen Deutschland irrelaufen zwischen übergroßer Hoffnung und EnttäuThierse
schung, zwischen entschlossenem Aktivismus und lähmender Resignation. Es gibt notwendige Verluste. Die meisten von ihnen erleben wir mit Erleichterung. Manche ertragen wir aus Einsicht mit zusammengebissenen Zähnen.
Aber es gibt auch Verluste, die Trauer, Irritation und Verzweiflung hervorrufen. Die DDR war neben allem, was in den Mülleimer der Geschichte gehört
- ich weiß davon genügend Beispiele - , auch ein Geflecht menschlicher Beziehungen, ein System von Alltagsverhalten und Alltagsverhältnissen, in denen wir uns zurechtgefunden und als Menschen unsere
- gewiß problematische - Identität gefunden haben.
Der jähe Wechsel der jetzt geforderten Umstellungs- und Lernprozesse überfordert viele. Deshalb und angesichts der vorhin geschilderten sozialen und ökonomischen Erfahrungen muß jetzt eine konkrete Perspektive für die wirtschaftliche, soziale, kulturelle Entwicklung im Osten Deutschlands eröffnet werden. Wir verlangen eine Politik, die von dem Grundsatz getragen wird: erst die im Osten Deutschlands, dann wir im Westen Deutschlands. Eine wirkliche ökonomische und soziale Umverteilung ist notwendig. Kleiner geht es nicht, wenn die Einheit Deutschlands wirklich hergestellt werden soll!
({35})
Egon Bahr hat kurz nach dem 3. Oktober gesagt: „Jetzt haben wir die Probleme, die wir uns immer gewünscht haben." Gewiß.
({36})
Aber die Art, wie sie angegangen werden, entscheidet darüber, ob die Mehrheit der Menschen sie als wünschbare oder als lästige, ja, als verfluchte Probleme erfahren wird.
Angesichts dieser Koalition und angesichts dessen, was sie vereinbart hat und wie sie es getan hat, fällt mir nur ein Satz aus Schillers „Räuber" ein:
Ein großer Moment findet ein kleines Geschlecht.
Die Chance eines Neuanfangs in Solidarität, fürchte ich, könnte kleinlich vertan werden.
({37})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Geißler.
({0})
- In der Regel machen wir es vom Platz aus.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ausführungen von Herrn Thierse zur politischen Kultur sehr wohl zur Kenntnis genommen. Aber ich finde, der jetzt wiederholte und gestern von Ihrem Fraktionsvorsitzenden in der Rede selber doch modifizierte Vorwurf der Kriegssteuer ist schwer mit politischer Kultur zu vereinbaren.
({0})
Die Anstrengungen, die wir gemeinsam unternehmen, um die Verbündeten zu unterstützen, betrachte ich als einen Beitrag, den Krieg im Golf so rasch wie möglich beendigen zu können, und infolgedessen als das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben.
Ich möchte Sie herzlich bitten, einmal mit uns darüber zu diskutieren, ob dieser ganzen etwas verwirrenden Diskussion nicht eine unterschiedliche Bewertung der Wertordnungen zugrunde liegt, von denen wir ausgehen.
({1})
Ich habe den Eindruck, daß offenbar bei einigen auch in unserem Land die Auffassung vorhanden ist, daß der Friede unter allen Umständen ein oberster Grundwert sei.
({2})
Ich bin der Meinung, daß dies wohl nicht richtig sein kann; denn wenn dies richtig wäre, dann hätte ja wohl Adolf Hitler,
({3})
ohne Gegenwehr überhaupt finden zu dürfen, sein Unrechtsregime auf der ganzen Welt ausbreiten können.
({4})
Ich bin der Meinung, daß richtiger ist - was im übrigen auch die katholische Kirche und die evangelische Kirche vertreten - , daß der Friede die Realisierung der Grundwerte voraussetzt, daß wahrer Friede nur dort gegeben ist, wo Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität vorhanden sind, und daß in Wahrheit erst diejenigen für den Frieden eintreten, die mit ihren Beiträgen dafür sorgen wollen, daß sich Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer bestimmten Region durchsetzen, z. B. dadurch, daß wir dafür sorgen, daß Israel frei bleibt.
({5})
Die Freiheit und die Demokratie von Israel wären auf das schwerste gefährdet, wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland uns dieser solidarischen Verpflichtung entzögen. Deswegen ist unser Beitrag in Wahrheit ein Beitrag für den Frieden.
({6})
Herr Thierse zu einer kurzen Replik.
Herr Geißler, es mag sein, daß ich - wenn Sie mir diese Ironie erlauben - als Anfänger noch sehr auf Worte achte.
({0})
Ich denke, das Wort „Kriegssteuer" ist deshalb zutreffend, weil die Steuer nicht erhoben worden ist, um das
Embargo zu finanzieren, das, wie wir wissen, ja auch viel Geld gekostet hat und im Falle seiner Fortsetzung noch mehr gekostet hätte. Insofern, denke ich, ist der Zusammenhang eindeutig und auch von der Regierung immer so genannt worden: Wir brauchen Steuern, um unsere aus Ihrer Sicht notwendige Beteiligung an diesem Krieg finanzieren zu können.
({1})
Insofern ist der Ausdruck nicht polemisch, sondern nur sehr präzise.
({2})
Lassen Sie mich eine zweite Bemerkung machen. Es ist sehr schwierig, sich über Grundwerte zu streiten. Ich denke, daß wir - mit Unterschieden - denselben Grundwerten anhängen. Aber Sie kennen das alte Problem, daß aus denselben Grundwerten noch nicht die gleichen politischen Konsequenzen gezogen werden müssen. Ich habe Bischof Kamphaus, einen katholischen Bischof, zitiert. Ich könnte Ihnen auch noch katholische Bischöfe aus den USA zitieren, die sich entschieden gegen diesen Krieg gewandt haben.
Ich denke, wir sollten in der gegenwärtigen dramatischen Situation etwas sehr Wichtiges nicht vergessen, nämlich die Diskussion in den Kirchen, den christlichen Kirchen der Welt, in den letzten zehn Jahren über die Überwindung des Instituts des Krieges.
({3})
Das sollten wir bei diesem Anlaß und gerade jetzt nicht vergessen, weil wir andernfalls nicht wieder herausfinden könnten, sondern - das habe ich vorhin gemeint - uns alternativlos der Unlogik des Krieges unterwürfen.
({4})
Meine Damen und Herren, mir liegen drei weitere Wortmeldungen für Kurzinterventionen vor. Ich finde ja, das belebt die Diskussion; nur sollten wir die Debatte vielleicht nicht nur in Form von Kurzinterventionen fortführen, sondern auch mit der Rednerliste weiterkommen. Diese drei Wortmeldungen werde ich aber noch zulassen.
Als erster Herr Dr. Ullmann.
Herr Abgeordneter Geißler, ich denke, Sie haben jetzt einen ähnlichen Versuch unternommen wie bereits mehrere Kollegen von Ihnen, indem Sie die Gemeinsamkeit der Demokraten, die in diesem Hause herrschen muß und die die Friedensvoraussetzung unserer Debatten ist, in Frage gestellt haben, indem Sie von verschiedenen Wertordnungen gesprochen haben.
({0})
Ich liebe das Wort Wertordnung aus philosophischen
Gründen nicht; aber da Sie es gebraucht haben, will
ich es mir jetzt aneignen. Wir gehen davon aus, daß
alle in diesem Hause, die demokratisch gewählt sind, denselben Normen unterstehen. Das sollte nicht in Frage gestellt werden; in keiner Debatte.
({1})
Zweitens. Ich muß darauf hinweisen, daß sich nicht nur einige Bischöfe geäußert haben. Die Konferenz der katholischen Bischöfe in Amerika hat kritisch Stellung genommen gegen ihre Regierung.
({2})
Ist das Antiamerikanismus? Der Nationale Rat der Kirchen in den USA hat Stellung genommen gegen den Krieg. Ich habe den Herrn Generalsekretär des Weltkirchenrats um eine Stellungnahme gebeten. Er hat Stellung genommen gegen den Krieg. Warum nehmen Christen Stellung gegen diesen Krieg? Weil es zum Frieden keine Alternative gibt, Herr Geißler.
({3})
Herr Abgeordneter Graf von Schönburg-Glauchau.
Herr Kollege Thierse, meine erste Intervention ist eine ganz friedliche. Ich möchte Sie nur bitten, darüber nachzudenken, ob es stimmt, daß die zeitliche Abfolge von Steuerforderungen etwas mit der Priorität zu tun hat. Man kann sich sehr gut den Fall vorstellen, daß eine Familie Besuch erwartet. Es kommen die Liebsten: die Eltern, die Kinder. Da sagt die Hausfrau: „Wir haben genug eingekauft." Danach kommt ein Zwangsbesuch. Da sagt sie: „Hierfür müssen wir tatsächlich noch etwas holen gehen."
({0})
Sehen Sie, das ist der Unterschied, ob wir Steuermehreinnahmen zur Finanzierung der Verhältnisse in unserer Heimat oder zur Finanzierung der Abwehr der Angriffe auf Israel brauchen. Das ist keine Frage der Priorität, sondern nur eine Frage der zeitlichen Abfolge gewesen.
({1})
Herr Abgeordneter Gerster.
Herr Kollege Thierse, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zur Kenntnis nehmen wollten, daß ich ausdrücklich gesagt habe, daß die Demonstrationsfreiheit für meine Fraktion, für meine Partei, aber selbstverständlich auch für mich völlig unantastbar ist, und zwar selbstverständlich gerade auch dann, wenn möglicherweise die politische Richtung einer bestimmten Demonstration mir oder meiner Fraktion nicht paßt. Das habe ich ausdrücklich gesagt. Aber ebenso klar muß sein, daß das Grundrecht als solches nicht verbieten kann, einen Mißbrauch des Demonstrationsrechts deutlich zu machen und Mißbräuche zu kritisieren. Ich bitte Sie, das Protokoll zu überprüfen und dann Ihre ungeheuerliche Behauptung, ich hätte hier so etwas wie ein GesinGerster ({0})
nungsfreiheitsdemonstrationsrecht gefordert, zurückzunehmen.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Thierse, wer, wie ich es bin, Vorsitzender einer gesamtdeutsch gewordenen Partei ist, der merkt in der Tat recht bald, daß es ein Alltagsverhalten in der früheren DDR gegeben hat, daß es das heute noch gibt, daß viele Erwartungen z. B. an politische Parteien bestehen. Auch die viel geschmähten und manchmal zu Unrecht geschmähten alten Blockparteien
({0})
waren und sind immer noch Nischen für Menschen, die sich dort zusammengefunden und ihre Sorgen miteinander diskutiert haben.
({1})
Wenn ich auf meinem Schreibtisch den täglichen Briefeingang von Menschen sehe, die um ganz praktische Hilfe in ganz praktischen Fragen bitten - Stapel aus der alten DDR, kaum aus der Bundesrepublik -, dann plagt es mich, daß man diesen Erwartungen nicht gerecht werden kann.
Wir haben im Jahr 1991 erlebt, daß die Euphorie und die Freude über das Jahr 1990 schnell vergangen sind. Wir haben auch erlebt, daß die Umstellung von der Planwirtschaft, von der Kommandowirtschaft auf die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft schwieriger gewesen ist, als es sich viele von uns gedacht haben, und immer noch schwierig ist. Die Stichworte sind alle gefallen: Eigentumsordnung, Seilschaften, Verwaltungsproblematik und auch - Herr Thierse, Sie haben es wiederholt - das Thema der Treuhandanstalt.
Aber ich widerspreche Ihnen in einem Punkt: Die Treuhandanstalt ist nicht dazu da, zu sanieren und dauerhafte Staatsbetriebe aufzubauen. Sie ist dazu da, zu privatisieren. Die Treuhandanstalt darf auch nicht regionalisiert werden und damit unter den Druck regionaler Organisationen und Demonstrationen geraten. Dann wäre ihre Entscheidungsfähigkeit völlig dahin. Daß es hier Verbesserungen bedarf, hat der Bundeskanzler angekündigt; das ist notwendig.
Wir haben nicht in vollem Umfang gesehen - Herr Biedenkopf hat das gestern gesagt - , was die SED in 40 Jahren Wirtschafts-, Umwelt- und Gesellschaftspolitik angerichtet hat.
Daß Herr Modrow sich gestern hier hingestellt und von der Zweidrittelgesellschaft bei uns und von der Eindrittelgesellschaft in den neuen Bundesländern gesprochen hat, das ist eine Unverfrorenheit von einem Mann, der mit seiner Partei für eine Einprozentgesellschaft eingetreten ist.
({2})
Ein Prozent an Parteifunktionären, Bonzen und Schiebern, die das Volk unterdrückt haben, das war Ihre Gesellschaftsordnung, Herr Modrow.
({3})
Das, was wir an Aufgaben zu lösen haben, ist in Monaten nicht zu schaffen. Aber Herr Thierse, in einem Punkte korrigieren Sie sich bitte. Ich habe vor der Wahl landauf, landab in der früheren DDR gesagt: Wir gehen, Sie alle gehen - ich kann es Ihnen nicht ersparen - im Jahr 1991 durch das Tal der Tränen. Ich habe nichts von dem versprochen, was Sie hier sagen; allerdings mit der einen Einschränkung, daß ich gesagt habe: Es wird den Rentnern in der DDR vermutlich ein bißchen besser gehen als vorher und nicht schlechter. Das ist im wesentlichen so gekommen.
({4})
Herr Thierse, Sie haben die Themen Mieten und Energie angesprochen. Aber so wie Sie darf man nicht argumentieren.
({5})
Dann sagen Sie mal bitte, wieviel Prozent des Einkommens ein DDR-Bürger an Miete für seine traurige Behausung hat zahlen müssen und wie die Steigerungen von dieser Basis aus aussehen. Daß das die Menschen plagt, weiß ich auch. Aber argumentieren Sie bitte, wenn Sie schon in Ökonomie gehen, mit Zahlen und intellektuell ehrlich. Das haben Sie heute leider nicht getan.
({6})
Wenn Sie sich - wie wir alle - über die maßlose Energieverschwendung im privaten Bereich in der früheren DDR beschweren, dann wissen Sie doch ganz genau, daß das daran liegt, daß das Zeug so gut wie nichts kostet und deswegen so verschwendet wird.
({7})
Ich bleibe bei meiner Überzeugung, daß wir die Aufgaben in den fünf neuen Bundesländern lösen können und werden, obwohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen - auch weltweit - nicht leichter geworden sind. Ich stimme dem zu, was Herr Biedenkopf und Herr Kühbacher gestern ebenso wie Sie, Herr Thierse, gesagt haben und was breite Meinung im Hause ist: Die Finanzdiskussion zwischen den neuen Ländern auf der einen Seite und den alten Ländern, den Kommunen und dem Bund auf der anderen Seite ist unerfreulich und zeigt keine Solidarität. Vom Hin- und Herschieben der Beträge auf dem Papier haben die in Potsdam, Schwerin und Dresden nichts.
({8})
Hier gibt es auch in der alten Bundesrepublik deutliche Unterschiede: Was das Land Nordrhein-Westfalen an Haltung gezeigt und angedeutet hat - Frau Matthäus-Maier hat es erwähnt - , ist in Ordnung. Was das Land Niedersachsen in dieser Frage anzeigt, ist überhaupt nicht in Ordnung.
({9})
Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Knaape?
Ja, wenn es mir nicht angerechnet wird, da ich sehr knapp mit der Zeit bin.
Bitte.
Ich möchte eine Frage zur Treuhand stellen. In meinen Wahlkreis befindet sich das Chemiefaserwerk Tremnitz, das 5 500 Arbeitskräfte hat. Dieser Betrieb bemühte sich, zu einer Eigensanierung zu kommen; ein Konzept lag vor. Von der Treuhand wurde inzwischen der Verkauf dieses Betriebes ausgeschrieben. Das führte dazu, daß die Kredite gestrichen wurden.
Herr Kollege, das Wesen einer Frage besteht darin, daß man eine Frage stellt.
- Das war die Einleitung. Die Frage ist: Privatisierung um jeden Preis, oder sollten bei Betrieben nicht die Eigenbemühungen zur Sanierung unterstützt werden? Was sollen wir den Arbeitern sagen?
Wenn die Eigenbemühungen eine solide finanzielle Grundlage haben und die wirtschaftlichen Aussichten so gestaltet sind, daß man es aus eigener Kraft, etwa mit - ich benutze den englischen Ausdruck - Management buy out, schaffen kann: Warum dann nicht? Aber das ist eine Frage, die von Fall zu Fall geprüft werden muß. Ich kann Ihnen nur die generelle Antwort geben, daß ich selbstverständlich auch das für einen Lösungsansatz hielte.
Meine Damen und Herren, wir bleiben dabei, daß Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit nicht notwendig waren und nicht notwendig sind. Ich bleibe dabei: Sie sind ökonomisch falsch, weil sie die Wirtschaft im Westen belasten, deren Leistungsfähigkeit wir in den fünf neuen Bundesländern brauchen.
({0})
Herr Thierse, wir führen hier eine sehr deutsche Diskussion. Wir haben gesagt: Wir brauchen nicht mehr Steuern. Wir müssen das Geld nehmen, das bei den alten Bundesländern wegen einer guten Wirtschaftsentwicklung ohne DDR-Bezüge schon mehr einkommt, erst recht das Geld nehmen - darin waren wir gestern einig -, das wegen der Aufbauarbeit in der DDR zusätzlich hereinkommt.
Wenn Sie mit einer Steuererhöhung anfangen, dann werden Sie an diese Gelder überhaupt nicht mehr herankommen, weil dann aus Steuererhöhungen finanziert wird und erst recht niemand etwas hergeben will.
Steuererhöhungen wären ökonomisch falsch. Dabei bleibt es.
Nun stehen wir vor der Situation, daß wir - Sie wollen es vielleicht nicht, aber wir halten es für notwendig und richtig - Milliarden zusätzlich bezahlen müssen. Die können wir nun beim besten Willen nicht
auch noch auf diese Weise aufbringen. Da müssen wir die Steuern erhöhen. Wir führen eine Grundsatzdiskussion, als wenn das eine moralisch schlecht, das andere moralisch gut wäre. Es ist absurd, wie hier diskutiert wird.
({1})
Ich sage in dem Zusammenhang noch einmal - Herr Modrow hat das ja gestern erwähnt - : Ich bin nach wie vor heilfroh darüber, daß die 15 Milliarden DM Ihnen damals nicht mitgegeben worden sind. Es hätte Ihnen so passen können, die Mittel, die Sie sich aus Bonn hätten mitnehmen können, vor der Volkskammerwahl mit segnender Gebärde im Lande zu verstreuen. Die Entscheidung war richtig. Falsch war nur, daß man Sie damals hierher eingeladen hat.
({2})
Der ehemalige Ministerpräsident Modrow ist der erste Regierungschef in der deutschen Geschichte - jedenfalls nach meinen historischen Kenntnissen - , der dem Vertreter einer früheren Siegermacht einen Brief des Inhalts geschrieben hat: Setz Du mal bei den Beilegungsverhandlungen die von Dir durchgesetzte kommunistische Eigentumsordnung durch.
({3})
Das schöne Bild des Jahres 1990 hat in den vergangenen Wochen in der Tat rasch an Glanz verloren. Es hat sich im Ökonomischen getrübt. Es trübt sich in der Weltwirtschaft. Es wird von Rezession gesprochen. Wir alle wissen nicht, ob die gestiegenen Risiken bedeuten, daß auch wir sehr bald in stürmische See geraten. Die gestrigen geldpolitischen Beschlüsse der Bundesbank sind ein berechtigtes Warnsignal. Kosten müssen unter Kontrolle bleiben. Lohnforderungen, die sich auf 10 % und mehr belaufen, passen nicht in diese Lage. Die öffentlichen Finanzen müssen solide bleiben,
({4})
was angesichts der gestiegenen Anforderungen an den Haushalt am besten durch äußerste Sparanstrengungen und erst in letzter Konsequenz durch zeitlich befristete Steuererhöhungen unter Beweis gestellt werden kann.
Aber es kommt ja auch von außen auf uns zu. Die Vorgänge im Baltikum machen uns alle und die Liberalen ganz besonders betroffen und besorgt. Hitler hat diese Länder an Stalin verschachert. Wir Deutsche haben deswegen eine besondere moralische Verpflichtung, sie in dem Wunsch zu unterstützen, ihre Unabhängigkeit zu erlangen. Ich glaube, daß wir festhalten sollten: Die Schüsse von Wilna und Riga dürfen nicht wegen des Golfkriegs klammheimlich hingenommen werden.
({5})
Wir wissen nicht, wann der Krieg am Golf beendet wird. Den Schlüssel dafür hat der irakische Diktator in der Hand. Er muß die Forderung der UNO nach Räumung Kuwaits erfüllen. Solange dies nicht geschieht, ist es unsere Aufgabe, zusammen mit anderen dem
Völkerrecht Geltung zu verschaffen. Und es ist unsere Aufgabe, für die Sicherheit Israels zu sorgen. Die Sicherheit Israels muß uns so wertvoll sein wie die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Das können Sie nur mit den Amerikanern zusammen, Herr Thierse, und mit niemandem anders schaffen.
({6})
- Jawohl, es ist Friedenspolitik.
In dieser Auseinandersetzung reiht sich bei Herrn Saddam Hussein Kriegsverbrechen an Kriegsverbrechen. Der Mann ist ohne Skrupel. Einen Waffenstillstand kann und darf es jetzt nicht geben. Er würde nur Saddam Hussein nutzen. Er würde mehr Menschenleben auf der Seite der alliierten Streitkräfte kosten, weil sich Saddam Hussein neu arrangieren könnte, neu befestigen könnte und neu aufmarschieren könnte.
({7})
Hier wurde vorhin bestritten, daß wir Beteiligte sind
- ich weiß nicht mehr, welcher Kollege das getan hat -. Der Bundeskanzler hat es gesagt, und der Außenminister hat es gestern wörtlich gesagt: Wir sind Partei in diesem Krieg. - So ist es. Es ist traurig; aber es ist so, und es kann nicht anders sein.
In diesem Krieg ist unser Platz an der Seite der UNO, an der Seite derer, die dem Aggressor Einhalt gebieten, vor allem an der Seite der USA, die die Hauptlast des Krieges tragen, und an der Seite Israels.
({8})
Unsere Verfassung verbietet den Einsatz von Soldaten außerhalb des NATO-Gebiets. Aber alles andere müssen wir tun, und wir tun es.
Lügen wir uns über die Türkei doch bitte nichts in die Tasche.
({9})
- Herr Duve, nun lassen Sie mich erst einmal reden; Sie können ja Zwischenfragen stellen. - Ohne die Operationsbasis deutscher Flugplätze könnten die Alliierten ihren Luftkrieg nicht führen. Sehen Sie einen Unterschied zum Verhalten der Türkei?
Wir haben mit Abscheu und Entsetzen feststellen müssen, daß sich deutsche Firmen am Aufbau des Aggressionspotentials des irakischen Diktators beteiligt haben. Das hat bei unseren Freunden, vor allem in Israel, Beklemmung, Empörung und Zorn hervorgerufen. Wir können uns nicht mit dem Hinweis aus der Verantwortung ziehen, daß auch andere beigetragen hätten.
Mit Hilfe aus Deutschland wurde der Irak in die Lage versetzt, Giftgas zu produzieren. Für solches Handeln gibt es keine Entschuldigung. Wir müssen uns davor hüten, die gesamte deutsche Industrie zu ächten. Aber diejenigen, die in skrupelloser Gewinnsucht in diese Geschäfte eingestiegen sind, müssen
öffentlicher und gesellschaftlicher Verachtung ausgesetzt sein.
({10})
Ich will genau sagen, was ich damit meine: Ich meine nicht nur Strafverfahren. Sie gehören in keinen Industrieverband, in keinen Arbeitgeberverband, in keinen Rotary Club, in keinen Lions Club; sie müssen heraus aus solchen gesellschaftlichen Veranstaltungen.
({11})
Es hat bei unseren Freunden im Ausland Irritationen über die Demonstrationen bei uns gegeben, vor allem über den dabei zunächst zum Ausdruck gekommenen Antiamerikanismus, als ob der Krieg von diesem Land ausgegangen wäre. Herr Thierse, jeder hat das Recht, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren; darin bin ich mit Ihnen völlig einig. Aber manche Äußerungen der letzten Tage erinnern schon an das bittere Wort von Clausewitz: „Der Aggressor ist immer friedliebend; er möchte fremdes Territorium besetzen, ohne einen Schuß abzugeben."
({12})
Aber wie kann man eigentlich Demonstranten Vorwürfe machen, wenn uns die SPD-Fraktion heute auf Drucksache 12/63 einen Antrag zur Golfkrise zumutet - lesen Sie ihn bitte alle durch - , in dem der Aggressor Saddam Hussein nicht ein einziges Mal erwähnt wird, in dem die Frage der Verantwortlichkeit überhaupt nicht vorkommt?
({13})
Das ist ein Dokument der Verantwortungslosigkeit, das hoffentlich als ein Dokument der Schande in Ihre Parteigeschichte eingehen wird.
({14})
Glücklicherweise hat sich gezeigt, daß bei uns nur eine Minderheit so denkt und daß bei diesen ersten Demonstrationen nicht die Haltung der Mehrheit der Deutschen repräsentiert wurde.
Es ist nicht lange her, daß uns Deutschen der Ruf des Militarismus vorausging. Daß heute in unserem Lande keine Gewaltgelüste bestehen, daß es keinen Militarismus mehr gibt, das ist doch positiv zu werten, und das sollten auch unsere Nachbarn gutheißen.
Wir haben verstanden, daß sich nach der Vereinigung Stimmen erhoben, die vor neuer Arroganz der Macht in Deutschland gewarnt haben. Die Sorge ist unangebracht. Ich verstehe aber nur schwer, daß offenbar gerade diejenigen, die bei der Vereinigung vor neuen Machtambitionen warnten, jetzt ebenso intensiv nach deutscher militärischer Präsenz am Golf rufen.
Herr Abgeordneter, es wird eine Zwischenfrage erbeten.
Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird, Herr Präsident, gerne.
({0})
- Herr Duve, rechnen Sie fleißig, und dann schicken Sie mal das Ergebnis.
({1})
Graf Lambsdorff, in dem Entschließungsantrag der SPD auf der Drucksache 12/63, die Sie eben genannt haben, wird im ersten Abschnitt von der irakischen Führung gesprochen. Glauben Sie, daß Herr Saddam Hussein nicht dazugehört?
Können Sie einmal sagen, ob dort irgendein Wort darüber steht, daß er die Verantwortung für diesen Überfall trägt? Es steht dort, die irakische Führung solle aus Kuwait ausziehen.
({0})
- Herr de With, wir kennen doch die Diskussionen in Ihrer Partei. Stimmt es, daß Willy Brandt im Vorstand der SPD gesagt hat: Genossen, wir sind im Kriege!? Oder stimmt das nicht?
({1})
Will das Ihre Partei realisieren oder nicht? Oder wollen Sie - wie in der letzten Wochen - mit einem Drittel Ja, mit einem Drittel Nein und mit einem Drittel Enthaltung abstimmen? Sie wissen doch nicht, wo Sie politisch stehen. Sie sind völlig orientierungslos.
({2})
Ihr Fraktionsvorsitzender spricht sich gegen den Waffenstillstand aus, weil er meine Beurteilung teilt.
({3})
Es war Herr Gansel - der im übrigen die Sache mit mir in Ordnung gebracht hat, was ich dankbar akzeptiere - ,der sich nun gegen den Waffenstillstand aussprach.
({4})
- Ich erteile hier nicht das Wort.
Der Redner hat noch 20 Sekunden Redezeit.
({0})
- Graf Lambsdorff, wenn Sie eine Zwischenfrage zulassen, stoppen wir die Uhr.
({1})
Graf Lambsdorff, nachdem Sie dem SPD-Antrag hier bewußt einen falschen Inhalt unterlegt haben, darf ich Ihnen einfach den Satz hier vorlesen, der sagt
Stellen Sie bitte eine Frage, Frau Kollegin!
Er soll zustimmen, daß das da steht, Herr Kollege Präsident. Es heißt hier:
Zu diesem Zweck fordert er die irakische Führung auf, sofort mit dem Abzug der irakischen Truppen aus Kuwait zu beginnen, dessen völkerrechtswidrige Besetzung Ausgangspunkt der jetzigen Konfrontation ist.
Dieses ist doch wohl eindeutig. Oder?
Nein, es ist nicht eindeutig.
({0})
- Es ist nicht eindeutig, und ich bleibe bei meiner Beurteilung dieses Antrags, Frau Matthäus-Maier. Bevor Herr Duve mich stoppt, da müssen schon ein paar andere kommen, verehrter Herr Kollege. Das schaffen Sie so schnell nicht. So.
({1})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Menschen in unserem Lande haben die neue internationale Verantwortung, die unserem Land jetzt zugewachsen ist, noch nicht in sich aufgenommen; das ist verständlich. Nach 40 Jahren der politischen Unmündigkeit und politischen Unselbständigkeit ist dies zunächst schwer. Aber für unsere Sicherheit gegenüber der Bedrohung aus dem Osten stand die Allianz des Westens. Wir haben uns auf sie verlassen. Wir haben natürlich auch unsere Beiträge geleistet. Wir haben diese Sicherheitsgarantie dankbar angenommen. Jetzt müssen wir lernen, uns in neuer Verantwortung zurechtzufinden, vor allem bei international übergreifenden Konfliktsituationen wie der Golfkrise.
Dabei brauchen die Menschen bei uns politische Führung. Es ist unsere besondere Verantwortung, die der Politiker, insonderheit der Bundesregierung, den Menschen im Land diese Führung im Geiste von Freiheit und Demokratie zu geben. Unser Land und damit auch die Bundesregierung stehen nicht nur, so wichtig das ist, in den fünf neuen Bundesländern, sondern auch in diesen Fragen der internationalen Verantwortung Deutschlands vor einer Bewährungsprobe, die es zu meistern gilt.
Ich bedanke mich.
({2})
Meine Damen und Herren, wir stehen im Moment vor folgender Situation. Ich habe hier die vereinbarte Rednerliste mit einer angeforderten Redezeit von weiteren 65 Minuten. Rechnen Sie Zwischenfragen, Applauspausen dazu, dann sind es 70 Minuten. Wir haben aber für 12 Uhr die namentliche Abstimmung angekündigt.
Inzwischen habe ich zwei weitere Wortmeldungen für Kurzinterventionen. Ich glaube, wir müssen, so schmerzhaft ich das empfinde, weil die Kurzintervention die Diskussion belebt, zu diesem Zeitpunkt mit der Rednerliste weitergehen. Vielleicht gelingt es
Vizepräsident Klein
dem einen oder anderen Kollegen, seine Redezeit nicht voll in Anspruch zu nehmen; manches läßt sich straffer ausdrücken.
Ich gebe deshalb jetzt das Wort der Abgeordneten Däubler-Gmelin.
({0})
- Sie haben nicht das Wort. Frau Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will trotz der, wie ich finde, unnötig scharfen und auch außerordentlich ungerechten Worte von Graf Lambsdorff in der Schlußrunde versuchen, mit ein paar freundlichen Worten zu beginnen,
({0})
und zwar an Justizminister Kinkel, den wir zum erstenmal als Minister in diesem Hause gesehen haben.
({1})
Wir kennen Sie ja aus einer anderen Funktion. Wir schätzen Sie. Wir bieten Ihnen unsere Unterstützung an, und wir hoffen auf eine gute und auch menschlich erfreuliche Zusammenarbeit, etwa wie die es war, die wir mit Ihrem Vorgänger, dem Kollegen Engelhard, in den letzten Jahren hatten.
({2})
Sie wissen, daß das unterschiedliche Auffassungen, auch Kritik, weder an Ihnen noch an dem, was Sie sagen, nicht ausschließt; Sie werden das nicht anders erwarten.
Aber lassen Sie mich dem, was Sie hier sagten, hinzufügen: Ich war durchaus gespannt darauf, wie Sie die Aufgaben der Regierung für die kommenden vier Jahre beschreiben würden, denn zum rechts- und zum innenpolitischen Teil - da widerspreche ich dem Kollegen Laufs ganz ausdrücklich - sind die Koalitionsvereinbarungen und auch das, was der Herr Bundeskanzler dazu gesagt hat, außerordentlich dürr.
Ich hatte eigentlich erwartet, Sie, Herr Justizminister, würden ein bißchen mehr in die vollen gehen. Nach dem, was Sie sagten, scheint uns eine Zeit der großen rechtspolitischen Reformen nicht bevorzustehen. Die Drogenbekämpfung, die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, der Abbau von Diskriminierungen - z. B. bei § 175 - sind - das wissen wir alles - wichtige Vorhaben. Aber das sind eigentlich alles Restanten, die nicht erledigt werden konnten, und zwar einfach deshalb, weil Sie sich bisher nicht einigen konnten. Da wurde viel versäumt.
Mittlerweile ist die Bundesrepublik faktisch zum Schlußlicht der Drogenbekämpfung in Europa geworden.
({3})
Jedenfalls ist unser Recht so löcherig wie ein Schweizer Käse. Die Schweizer Regelungen sind da sehr viel effektiver.
Herr Minister, wenn Sie das ändern wollen: Unsere Unterstützung haben Sie, wie gesagt. Aber wir bestehen darauf, daß im Interesse des inneren Rechtsfriedens und auch um neue Gefährdungen für Bürgerrechte und Menschen abzuwehren, und zwar im gesamten geeinten Deutschland, weitere Reformen notwendig sind. Wir werden unsere Vorschläge auf den Tisch legen.
Wir werden einfordern, den Datenschutz weiter auszubauen. Hier handelt es sich um Bürgerschutz, nicht um Täterschutz.
({4})
Wir werden Sie daran erinnern, daß Justizreformen notwendig sind. Wir werden auch daran erinnern, daß sich immer mehr neue Formen des Zusammenlebens durchsetzen und daß es dort auch Schwächere gibt - Kinder, aber auch schwächere Partner - , die des rechtlichen Schutzes bedürfen.
Wir werden auch darauf bestehen, daß wir in den beiden kommenden Jahren den Grundsatz „Recht und Hilfen statt Strafe" umsetzen. Darauf haben wir uns im letzten Sommer im Einigungsvertrag geeinigt. Ich denke, Sie müssen mithelfen, daß diese Anstrengungen jetzt nicht wieder im Sande verlaufen.
Herr Bundesjustizminister, lassen Sie mich sagen: Wir werden Sie bei all dem, was wir vorhaben, daran erinnern, daß es in diesem Amt große Vorgänger gab, die wir alle zu den Reformern rechnen. Es waren Sozialdemokraten, aber auch Liberale dabei. Das sind gute Vorbilder.
Jetzt komme ich zum Schwerpunkt, der die Regierungserklärung, die Koalitionsvereinbarungen und auch die Debatte gestern und heute beherrscht hat bzw. beherrscht: die Notwendigkeit, daß die Menschen in den beiden Teilen Deutschlands nach der staatlichen Einheit zusammenfinden müssen, daß der staatlichen Einheit jetzt die Einheit der Lebensverhältnisse und vor allen Dingen die Verbesserung der im Osten unseres Landes dramatisch schlechteren Lebensverhältnisse folgen muß.
Ich sage nochmals: Die Verträge des letzten Jahres haben manches richtig auf den Weg gebracht. Aber ich stelle auch fest: Es wäre gut gewesen, meine Herren von der Regierung, Sie hätten bei der Aushandlung der Verträge von Anfang an mehr auf das gehört, was wir Ihnen gesagt haben.
Ich will nur zwei Beispiele bringen. Viele der Gemeinden in den fünf neuen Ländern stehen jetzt vor dem finanziellen Ruin. Das haben wir alles schon im letzten Jahr vorhergesehen. Hätten Sie unseren Mahnungen Raum gegeben,
({5})
wären die Probleme heute längst nicht mehr so groß.
({6})
Das zweite, Herr Bundesjustizminister: Sie weisen zu Recht darauf hin - jeder tut das - , daß eine
Menge von Hindernissen Investitionen für notwendige Arbeitsplätze in den fünf neuen Bundesländern blockieren, daß die ungeklärten Vermögens- und Eigentumsverhältnisse wirtschaftliche Investitionen blockieren. Das ist so.
Auch darauf haben wir im letzten Jahr hingewiesen. Wir haben darauf gedrängt, stärker dem Grundsatz „Entschädigung statt Rückgabe" Rechnung zu tragen. Hätten Sie es gemacht, ginge es den Menschen in den fünf neuen Bundesländern heute besser. Dann hätte die Treuhandanstalt weniger Probleme. Viele Gemeinden und Kreise hätten heute schon mehr Erfolge zu vermelden, als das bisher der Fall sein kann.
Gestern haben Ministerpräsident Biedenkopf und auch der Finanzminister des Landes Brandenburg in ungewöhnlich eindrucksvoller Weise darauf hingewiesen, wie schwer und wie groß die Probleme geworden sind und wie wenige Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Ich bin ganz sicher, daß viele Bürgerinnen und Bürger aus den alten Bundesländern, die gestern zugehört haben, gar nicht genau wissen, wie schwierig die Lebensverhältnisse und wie groß die Probleme sind, daß z. B. städtische Versorgungsunternehmen, die jeder Bürger und jede Bürgerin tagtäglich zum Leben braucht, vor dem Aus stehen, wenn nicht unmittelbar geholfen wird.
Gestern ist gesagt worden, Hilfe dafür habe Priorität. Gut, wir begrüßen das. Es geht doch aber nicht nur um diese Soforthilfe in einem Fall, in dem unmittelbare Not am Mann oder an der Frau ist, sondern es geht um Konzepte und Wege, die es den fünf neuen Bundesländern und ihren Gemeinden ermöglichen, ihre Probleme aus eigener Kraft und nach eigenen Vorstellungen zu lösen, und zwar bald. Diese Möglichkeit müssen wir ihnen verschaffen. Dazu ist die Unterstützung nicht nur der Bundesländer, sondern auch des Bundes erforderlich.
Konzepte für die Gewährung einer solchen langfristigen Hilfe und dafür, daß man die Probleme selbst lösen kann, ohne weiterhin am Gängelband des Westens oder des Bundes hängen zu müssen, haben wir in der Koalitionsvereinbarung und auch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers weitgehend vermißt.
({7})
Auch in der Debatte sind auf die konkreten Vorschläge, die wir gemacht haben, auf die vom Fraktionsvorsitzenden Vogel erwähnten acht Punkte und auf die Anregungen von Frau Matthäus-Maier oder von Wolfgang Roth oder von den anderen sozialdemokratischen Sprecherinnen und Sprechern, die sich mit anderen Gebieten auseinandergesetzt haben, keine Antworten gegeben worden. Ich bedaure das. Ich bitte Sie darum, diese Anregungen aufzunehmen. Die Menschen in den fünf neuen Bundesländern, die Länder selbst und die Gemeinden brauchen dringend Hilfe.
Nochmals ein Wort zu Ihnen, Herr Bundesjustizminister Kinkel. Sie haben gesagt, Sie würden einen Großteil Ihrer Arbeitskraft darauf verwenden, daß in den fünf neuen Bundesländern die rechtsstaatlichen Verwaltungen und die Justiz möglichst schnell ihre
Arbeit aufnehmen können. Das ist richtig. Wir begrüßen das selbstverständlich. Wir wissen aber ganz genau, daß die alten Bundesländer hier schon eine ganze Menge tun. Das nehmen wir mit Dankbarkeit zur Kenntnis. Wir wissen aber, daß auch das nicht reicht, weder von den Zahlen noch von den Unterstützungsmöglichkeiten her.
Ich hatte erwartet, daß wenigstens Sie, Herr Bundesjustizminister - wenn sich darüber schon nichts in der Koalitionsvereinbarung befindet oder auch der Bundeskanzler nichts dazu sagt - , sagen würden: Wir unterbreiten jetzt konkrete Angebote, damit nicht Tausende von neuen arbeitslosen Bürgerinnen und Bürgern in der ehemaligen DDR, die zum Arbeitsgericht gehen und ihr Recht suchen, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet werden
({8})
und damit nicht immer mehr Bürgerinnen und Burger, die manchmal von skrupellosen Geschäftemachern übers Ohr gehauen werden - das wissen wir - , umsonst nach Rechtsberatung oder Rechtsschutz suchen.
Ich hatte mir gewünscht, daß Sie sagen: Der Bund ist zusammen mit den Ländern bereit, eine ausreichende Anzahl von Richtern und Staatsanwälten, zur Hälfte finanziert, in die fünf neuen Bundesländer zu schicken.
({9})
Solange solche konkreten Angebote, auch solche konkreten Wege nicht gemacht bzw. aufgezeigt werden, nützen uns schöne Worte relativ wenig.
({10})
Sie nützen nicht nur uns nicht, sondern vor allem auch den Menschen in den fünf neuen Bundesländern wenig, die ganz besondere und - sage ich einmal - schlimme Erfahrungen mit dem Rechtsstaat machen, den sie doch eigentlich immer wollten. Der Kollege Thierse hat darauf doch gerade hingewiesen. Das dürfen wir doch nicht durchgehen lassen.
Meine Damen und Herren, ich habe schon gesagt: Wer für Verbesserungen eintritt, der findet unsere Unterstützung. Lassen Sie mich noch eines klarstellen. Bei der Klärung von offenen Rechtsfragen geht es uns nicht nur um Vermögensfragen, also um Eigentum an Häusern, Fabriken, Unternehmen oder Grundstücken, sondern wir werden auch darauf bestehen - insofern bin ich für das, was die Kollegin vom Bündnis 90 gesagt hat, sehr dankbar; denn das gilt auch für uns - , daß auch die Opfer anderer Verfolgungstaten und Unrechtshandlungen gesehen werden, daß ihre Schicksale berücksichtigt werden und wir uns um sie kümmern. Wir müssen auch ihre Schäden sehen und die Opfer entsprechend entschädigen.
({11})
Ich habe in den letzten Tagen einen Brief von einem alten Sozialdemokraten bekommen, der lange Jahre in Bautzen und Workuta gesessen hat. Er wurde auf Grund politischer Delikte verurteilt. Er ist nach dieser langen Haft heute körperbehindert und krank. Nach dem Tode seiner Angehörigen wurde er in ein Heim
für geistig Behinderte eingeliefert und ist damit praktisch isoliert.
Ich sage Ihnen: Mir ist es genauso wichtig - ja noch wichtiger - wie die Rückgabe oder die Entschädigung für verlorengegangenes Vermögen, daß dieser Mann aus dem Heim kommt.
({12})
Mir ist es genauso wichtig, daß die Schäden, die solche Opfer des Unrechtsregimes haben, bei uns in den Vordergrund gestellt werden. Auch das ist für die Aussöhnung, von der viele gesprochen haben und die wir doch in unserem Land wollen, wichtig.
Wie gesagt, wir vermissen bei Ihnen klare Konzepte, die über die unmittelbare Hilfe hinausreichen. Wir vermissen auch Wege, auf denen nicht wieder Löcher aufgerissen werden, wenn denn eines gestopft wird.
Auffällig in der vergangenen Debatte war - lassen Sie mich das sagen - folgendes. Je weniger Konzepte ersichtlich waren, desto deutlicher und massiver wurden die Angriffe gegen Sozialdemokraten. Auch die Friedensbewegung hat dazu herhalten müssen. Graf Lambsdorff, ich verstehe auch Ihre Ausfälle von eben genau in diesem Sinn. Es hat sich da so eine Art Gesetzmäßigkeit herausgebildet: Je weniger Konzepte, desto stärker die Kraftworte.
({13})
Gestern abend war das bei Bundesminister Blüm ganz deutlich zu verspüren. Er hat natürlich auch eine Menge zu kompensieren: weniger Kompetenzen, die Tatsache, daß die Pflegeversicherung auf das lange Gleis geschoben wurde - das ist ja alles richtig - und zudem ein Sonderopfer für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber zur Finanzierung der deutschen Einheit. Dann muß Herr Minister Blüm auch noch zugeben, daß er keine Wege und keine Konzepte dafür hat, wie den steigenden Zahlen von Arbeitslosen in den fünf neuen Bundesländern entgegengewirkt werden kann.
({14})
Jedenfalls war Ihre Rede gestern abend ein einziger Ausdruck der aggressiven Hilflosigkeit.
({15})
Ich will gerne zugestehen, daß Sie auch noch eine Auflistung von Mängeln und von Problemen mitgeliefert haben. Bloß sage ich Ihnen: Das reicht heute einfach nicht mehr.
Ganz deutlich war es auch bei Ihnen, Herr Bundesminister Waigel. Auch Sie hatten ja vieles, von dem Sie ablenken mußten nach der Methode - die wir ja kennen - „Haltet den Dieb". Sie ist alt. Sie ist zu durchsichtig, um jetzt noch wirksam zu sein.
Sie müssen auch vieles ausbaden. Vor den Wahlen gaben Sie das Versprechen: Keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit. Jetzt müssen Sie das Gegenteil verantworten: die Erhöhung der Telefongebühren - das ist ja faktisch eine Steuer - , den Griff in die Taschen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber durch die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und noch vieles mehr.
Hinzu kommt noch die Steuer im Zusammenhang mit dem Krieg. Ich wähle jetzt diesen Ausdruck ganz bewußt, weil wir gerade darüber geredet haben.
({16})
Aber ich sage Ihnen, Herr Geißler: Ich halte überhaupt nichts davon, einen Begriff wie Golf-Steuer oder andere verniedlichende Ausdrücke zu wählen; es sind vielmehr natürlich Steuern, die im Zusammenhang mit dem Krieg erhoben werden sollen.
({17})
Dagegen - lassen Sie uns das noch einmal sehr deutlich sagen - richtet sich unsere Ablehnung. Dagegen richtet sich im übrigen auch - das wissen Sie - die Predigt von Bischof Kamphaus, die mein Kollege Thierse gerade zitiert hat. Wir sagen: dies wollen wir nicht; wir lehnen diese Steuer ab.
({18})
Jetzt bin ich bei einem zweiten Schwerpunkt, der viele von uns - ich glaube, die meisten Menschen - in diesen Tagen bedrückt. Ich meine die Soldaten und Panzer in den baltischen Staaten, die gegen demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen vorgehen, aber besonders den schrecklichen Krieg am Golf. Ich sage nochmals: Wir wollen, daß er schnell beendet wird.
({19})
Ich betone, daß jede Möglichkeit und jede Initiative zu einem Waffenstillstand, der realistisch ist, ergriffen werden muß, um Raum für politische Lösungen zu schaffen. Graf Lambsdorff, ich habe einfach nicht verstanden, warum Sie ausgerechnet in dieser Frage neue Zwietracht säen wollen, obwohl wir doch im Grunde genommen alle dieser Meinung sind. Ich brauche doch Hans-Jochen Vogels Worte von gestern nicht zu wiederholen. Er hat klar ausgedrückt, was wir meinen. Er hat auch unsere Bereitschaft zur Hilfe für Israel deutlich erklärt.
Ich bleibe dabei: Die Debatte hat gezeigt, daß wir uns in wichtigen Fragen einig sind, und zwar durchaus über die Parteigrenzen hinweg. Aber ich bleibe auch dabei: In anderen wichtigen Fragen - das war wohl Ihr Signal, Graf Lambsdorff - sind wir eben nicht einig. Wir betonen: Erstens. Der NATO-Bündnisfall liegt nicht vor. Zweitens. Es gibt keine Automatik. Drittens. Über Krieg und Frieden entscheidet ausschließlich der Bundestag mit der Mehrheit nach Artikel 115a des Grundgesetzes, also mit Zweidrittelmehrheit.
({20})
Ich hätte es sehr gut gefunden, wenn auch Sie, Graf Lambsdorff, und wenn die Bundesregierung - ich wende mich jetzt an den Bundesinnenminister, aber auch an den Bundesjustizminister - daran aber auch nicht den Hauch eines Zweifels gelassen hätten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Grafen Lambsdorff?
Bitte schön.
Darf ich, Frau DäublerGmelin - damit überhaupt kein Zweifel besteht; Sie wollten ihn ja ausgeräumt haben - , Ihnen dreimal unterstrichen bestätigen, daß ich diese Ihre Meinung nicht teile?
Das ist ein klares Wort. Ich füge nur hinzu, Graf Lambsdorff: Dann werden wir unseren Standpunkt noch deutlicher vertreten: Zunächst politisch, und wenn es sein muß, wenn Sie also bei Ihrer Auffassung bleiben, werden wir zum Bundesverfassungsgericht gehen.
({0})
Wohin kämen wir denn, wenn irgend jemand anderes als die freigewählte Volksvertretung der Bundesrepublik Deutschland über diese existentiellen Fragen zu befinden hätte?
({1})
Wohin kämen wir denn, wenn wir der Bundesregierung oder gar einem NATO-Offizier dieses oberste Recht einräumen würden? Das ist auch in anderen Staaten nicht so. Wenn Sie diese Auffassung nicht teilen, dann sollten Sie Ihren Blick nach Großbritannien, nach Amerika oder nach Frankreich richten. Dann würden Sie sehen, was eine parlamentarische Demokratie ist.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja.
Frau Däubler-Gmelin, darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß unsere Position auf der Rechtsauffassung beruht, daß dieses frei gewählte Parlament diese Entscheidung in den NATO-Rat - die Zustimmung der Bundesregierung vorbehalten - übertragen hat?
({0})
Graf Lambsdorff, ich darf Sie daran erinnern, daß Sie sich auch im letzten Sommer zu anderen juristischen Fragen noch ein zweites und ein drittes Mal haben beraten lassen. Das hat bisweilen zu sehr guten Ergebnissen geführt. Darum bitte ich Sie an dieser Stelle ausdrücklich.
({0})
Jetzt möchte ich fortfahren. Ich hätte es gut gefunden, wenn im Laufe dieser Debatte die ungerechtfertigten und harschen Kritiken und Angriffe gegen die Friedensdemonstranten zurückgenommen worden wären.
({1})
Sie treffen damit Hunderttausende von jungen Menschen, die es mit dem Frieden sehr ernst meinen und die sich dieser vermeintlichen und schrecklichen Logik des Krieges eben nicht beugen wollen. Ich rufe ihnen zu: In dieser Haltung haben Sie recht. Bleiben Sie dabei. Wir ermuntern sie ausdrücklich dazu.
Ich will aber auch noch etwas hinzufügen, gerade auch in Anknüpfung an die Diskussion, die sich durch die letzten spannenden Interventionen entwickelt hat: Auch einige andere Äußerungen dürfen nicht so stehenbleiben. Herr Geißler, der Verteidigungsminister wird in der Grundwertefrage mit der Äußerung zitiert: Frieden sei kein oberster Grundwert.
({2})
Ich habe auch Ihr Interview im Deutschlandfunk gehört, Herr Geißler, wo Sie unter Hinweis auf Thomas von Aquin die Auffassung vertreten haben,
({3})
lediglich Gerechtigkeit und Freiheit seien oberste Grundwerte.
Ich frage Sie: Sind Sie heute wirklich noch nicht weiter? Ist denn die Diskussion der vergangenen 15 Jahre wirklich so spurlos an Ihnen vorbeigegangen? Diese Verwirrungen dürfen wir doch nicht länger bestehenlassen. Natürlich sind Freiheit und Gerechtigkeit oberste Grundwerte. Aber, Herr Geißler, der Frieden ist es auch.
({4})
Er ist nicht nur, wie Sie gerade eingewandt haben, ein politischer Zustand. Genau darin liegt der Fehler.
Sie können doch gerade heute, wo wir tagtäglich sehen, was Massenvernichtungsmittel an Menschen, an der Natur und an der Umwelt anrichten, nicht mehr sagen, Friede sei lediglich ein politischer Zustand. Friede ist selbstverständlich auch ein oberster Grundwert.
({5})
Lassen Sie mich dazu noch eines sagen. Zwischen obersten Grundwerten mag es Spannungen geben. Völlig richtig. Aber diese Behauptungen, die ans Demagogische grenzen und mit denen beabsichtigt wird, Menschen, die ehrlich und ernsthaft für den Frieden eintreten, in eine dubiose Ecke zu rücken,
({6})
sollten wir nicht mehr dulden, die sollten wir gemeinsam ausschließen.
({7})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Scharrenbroich?
Einen Moment bitte.
- Ich will Sie noch an einen Erfahrungssatz erinnern, der in unserer Geschichte wirklich bitter gelernt werden mußte. Das ist der Erfahrungssatz, daß Frieden vielleicht nicht alles sein mag, aber ohne Frieden alles nichts ist. Ich glaube, dieser Satz stimmt.
({0})
Bitte schön.
Frau Kollegin, um es jetzt zu präzisieren: Sind Sie denn der Auffassung, daß man auch die Unfreiheit, die Unterwerfung hinnehmen muß, nur um den Frieden zu bewahren? Das ist genau die Frage nach der Rangordnung.
({0})
Ich hätte mir von Ihnen etwas mehr an Seriosität gewünscht. Lassen Sie mich das einfach sagen.
({0})
- Sie wissen das aus unserer Zusammenarbeit, Herr Kollege, wie ich Sie schätze.
Wenn ich sage, Freiheit und Gerechtigkeit sind oberste Grundwerte, aber auch der Frieden ist oberster Grundwert, dann kann es natürlich Spannungen geben. Aber das berechtigt niemanden - auch Sie nicht - zu derart törichten Unterstellungen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam über die Menschen froh sein, die ihre Friedensbereitschaft zum Ausdruck bringen. Sie schaden dem deutschen Ansehen nicht, sondern sie nutzen ihm. Ich darf wiederholen: Schaden tun dem deutschen Ansehen diejenigen, die die Geschäfte des Todes betrieben haben und weiter betreiben.
({2})
Schaden tun dem deutschen Ansehen - hier wird es für viele, auch in diesem Hause, sehr viel kritischer, weil näher -, die das gewußt haben und die sie trotzdem mit einem Augenzwinkern haben gewähren lassen, weil es politisch oder wirtschaftlich opportun war.
Nachdem es nach dem Skandal mit der Giftgasfabrik in Libyen nicht möglich war, müssen wir die Situation heute dazu benutzen, die Schlupflöcher zuzumachen.
({3})
Wir müssen das Rüstungsexportverbot in unsere Verfassung aufnehmen, Herr Geißler. Wir sollten es um
so mehr tun, als wir über die Rolle des geeinten Deutschlands in der Welt nachdenken wollen.
Wir sagen ja zu mehr Verantwortung und auch zu mehr Pflichten. Wir sind übrigens der Meinung, daß die Friedenswilligkeit und die Friedensbereitschaft ein hervorragendes Pfund sind, mit dem wir wuchern können, gerade wenn es um die neue Rolle der Deutschen geht. Das ist ein viel besserer Ausgangspunkt als alles das, was jetzt z. B. in englischen Zeitungen zu lesen ist - und das ist ein Vorwurf gegen uns - , die sich nach einer Nation der Blüchers, Moltkes und Rommels zurücksehnen. Ich möchte wirklich einmal wissen, was unsere europäischen Nachbarn tatsächlich täten, wenn sich bei uns heute die Menschen am militärischen Denken dieser drei Herren ausrichteten.
({4})
Nein, wir müssen die Friedenswilligkeit und die Friedensfähigkeit zum integralen Bestandteil der Rolle des geeinten Deutschlands in Europa und auch in der Welt machen.
Ich denke, im Rahmen unserer Verfassungsdiskussion sollten wir uns über eines klar werden: daß man über eine Beteiligung z. B. deutscher Soldaten an Friedensmissionen der UNO nur reden kann, wenn zuvor im Grundgesetz nicht nur der Verzicht auf A-, Bund C-Waffen und der Rüstungsexport verankert sind, sondern wenn wir zuvor auch mit unseren Partnern in der NATO und mit unseren Freunden in der Europäischen Gemeinschaft eine Verständigung darüber erzielt haben, daß sich im Bereich des Rüstungsexportes wirklich etwas ändert, d. h. daß sie mit uns der Meinung sind, daß strenge Begrenzungen und Gesetze ohne Schlupflöcher gelten müssen.
({5})
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.
Herr Präsident, darf ich den einen Satz beenden? - Ich danke Ihnen sehr.
Ich hätte sehr gerne noch etwas zur Verfassungsdiskussion gesagt. Das ist mir jetzt wegen der spannenden Diskussion zu den anderen Fragen nicht möglich. Aber ich denke, wir werden in den kommenden Jahren Gelegenheit haben, uns darüber noch auseinanderzusetzen. Für uns sind diese Fragen wichtig. Wir werden sie mit allem Ernst verfolgen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Geis.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Däubler-Gmelin, der Frieden ist ein hoher Wert. Darüber brauchen wir uns hier nicht zu streiten. Friede ohne Freiheit ist aber kein Friede.
({0})
Deshalb geht es zunächst um die Freiheit; das ist das, was Herr Geißler gemeint hat.
Wir sind stolz auf unser Demonstrationsrecht, wie es in unserem Grundgesetz verankert ist. Ich teile überhaupt nicht die Meinung, daß wir jetzt empfindlich darauf reagieren sollten, wenn draußen junge Menschen für den Frieden demonstrieren. Solange sie für den Frieden demonstrieren und nicht gegen die USA, nicht gegen unsere Verbündeten, nicht gegen das jüdische Volk, solange sie für den Frieden an sich demonstrieren, kann das nur in Ordnung sein. Darüber müssen wir übereinstimmen.
({1})
Herr Abgeordneter, ich darf Sie einen Moment unterbrechen.
Meine Damen und Herren, es hat sich offenbar teilweise herumgesprochen - jetzt sage ich es offiziell -, daß die sozialdemokratische Fraktion den Antrag auf namentliche Abstimmung zurückgezogen hat.
({0})
Um so mehr bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die im Saal sind, den restlichen Ablauf der Debatte noch einigermaßen konzentriert zu verfolgen.
Frau Däubler-Gmelin, über den Frieden entscheidet nicht der Bundestag, wie Sie es formuliert haben, sondern über Krieg und Frieden entscheidet der Aggressor.
({0})
Und der Aggressor ist im Golfkonflikt Saddam Nussein. Wir haben im Rahmen des Beitrags der freien Völker selbstverständlich unseren Beitrag gegen diesen Aggressor zu leisten. Was wären wir für ein Volk, wenn wir hier feige zurückstehen würden? Hier müssen wir unseren Beitrag leisten.
({1})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Dr. Götte?
Lassen Sie mich doch erst einmal ein paar Ausführungen machen, und kommen Sie dann zu Ihrer Frage.
Wir haben heute eine sehr polemische Rede von Herrn Abgeordneten Thierse vernommen.
({0})
Die Bundesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, in den kommenden vier Jahren einen Ausgleich der Lebensverhältnisse im östlichen und westlichen Teil unseres Vaterlandes zu finden. Frau Däubler-Gmelin, wir haben mit Genugtuung Ihre Ausführung vernommen, daß die Verträge zur deutschen Einheit des letzten Jahres vieles auf den Weg gebracht haben; diese Ausführung steht insoweit im Gegensatz zu den Ausführungen des Abgeordneten Thierse. Daß Sie da und dort mit Ihrer Kritik ansetzen, ist das gute Recht der Opposition.
Wir stehen aber erst am Anfang dieser Entwicklung. Es wäre völlig falsch, die zweifellos verständliche Unruhe, die verständliche Ungeduld unserer Mitbürger in den fünf neuen Bundesländern in diesem Parlament jetzt auch noch zu schüren und anzuheizen. Das wäre der falsche Weg. Wir müssen um Geduld werben. Es wird nicht möglich sein, den Ausgleich der Lebensverhältnisse nach 40 Jahren Sozialismus in der vormaligen DDR von heute auf morgen, in wenigen Wochen oder Monaten - nicht einmal in wenigen Jahren - zu erreichen. Deswegen müssen wir um Geduld werben. Das ist meiner Meinung nach eine der wichtigen Aufgaben aller verantwortlichen Politiker.
Wer - wie Herr Thierse das getan hat - den Neubeginn mit solch bitterer Galle, mit einer solchen, bei weitem überzogenen Polemik
({1})
- und auch mit Arroganz - von vornherein unmöglich zu machen versucht, handelt nicht im Interesse der Mitbürger und Mitbürgerinnen der neuen fünf Bundesländer, sondern handelt dem genau entgegen.
({2})
Wir müssen mit mehr Vernunft, mit mehr Rationalität die großen Schwierigkeiten, die zweifellos vorhanden sind und die niemand leugnet, anpacken und versuchen, sie in Ruhe zu lösen.
Ein großes Problem ist auch, wie wir zu gleichen Lebensverhältnissen im Bereich des Rechts und der Gerichtsbarkeit kommen. Wir haben große Probleme bei der Angleichung des Rechts. Hier kann man nicht mit dem Rasenmäher vorgehen, hier muß differenziert werden. Ich stimme mit dem Gedanken überein, daß wir das Mietrecht staatlich regulieren müssen, solange es zu sehr auf das Einkommen der Familien drückt. Aber es wäre doch ein völlig falscher Weg, wenn wir dadurch jegliche Privatinitiative verhinderten, wenn wir verhinderten, daß Privatkapital auch in den Wohnungsbau in den neuen Ländern strömt. Wenn wir ein zu eingeschränktes Mietrecht haben, dann werden wir private Investoren abschrecken, und dann landen wir zum Schluß genau dort, wo der Sozialismus aufgehört hat, nämlich bei der Wohnungszwangswirtschaft, und das kann niemand von uns wollen.
({3})
Herr Abgeordneter, das wäre jetzt eine gute Stelle für eine Zwischenfrage.
Bitte schön.
Herr Abgeordneter, ich möchte Sie zu Ihren Eingangssätzen etwas fragen. Wie kommt es denn, daß Sie damals bei der Diskussion über den § 218 eine persönliche Erklärung abgegeben haben, daß Sie es vor Ihrem Gewissen nicht verantworten können, daß Abtreibung stattfindet, weil es dabei um Leben geht
({0})
- was wir mit Respekt zur Kenntnis genommen haben - , während Sie jetzt keine Bedenken zu haben
scheinen, wenn es um das Leben von Menschen im Krieg geht?
({1})
Frau Kollegin, ich finde es schon geradezu unbeschreiblich, daß Sie in einer solchen eigentlich schon brutalen Weise versuchen, das eine gegen das andere so maßlos auszuspielen. Das halte ich für unmöglich.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Zusammenbruch des sozialistischen Regimes drüben hat natürlich auch zu einem Zusammenbruch der Gerichtsbarkeit geführt. Es muß unsere Aufgabe sein, drüben so schnell wie möglich eine funktionierende Gerichtsbarkeit aufzubauen. Dazu ist es notwendig, daß möglichst viele Juristen aus dem westlichen Teil hinüberwechseln. Es kommt entscheidend darauf an, daß dies in den nächsten Wochen und Monaten gelingt.
Art. 5 unseres Einigungsvertrags trägt uns auf, daß wir uns über die Frage Gedanken machen, wo wir unser Grundgesetz ergänzen können. Ich glaube, daß niemand - jedenfalls nicht der ganz überwiegende Teil dieses Hauses - daran denkt, nun an eine Totalrevision unseres Grundgesetzes zu gehen. Es ist sicherlich richtig, daß wir da und dort Verbesserungen vorzunehmen haben. Aber wir sollten uns dabei immer dessen bewußt sein, daß wir in einer der freiheitlichsten Ordnungen leben, die wir je in unserer Geschichte hatten, und Grundlage dieser Ordnung ist unser Grundgesetz. Unser Grundgesetz und die darin niedergelegten Wertvorstellungen haben sich in den letzten 40 Jahren hervorragend bewährt. Deshalb kann es letztlich nur um eine Fortschreibung dieser Wertvorstellungen in die neue Situation hinein gehen.
Bei all den großen Fragen, die im Rahmen der Wiedervereinigung auf uns zukommen, dürfen wir nicht vergessen, daß wir auch Aufgaben haben, die schon lange Zeit ihrer Lösung harren, und da stimme ich mit Ihnen überein. Es geht zum Beispiel um den Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Dabei geht es natürlich um das Problem der Gewinnabschöpfung und um das Problem einer vernünftigen Regelung betreffend die Geldwäsche. Hier geht es vor allem aber darum, daß wir die Ermittlungsmöglichkeiten verbessern. Es geht um eine praktikable Regelung der Rasterfahndung und um einen Einsatz von Polizeibeamten als verdeckte Ermittler. Es geht auch darum, daß wir für einen vernünftigen Zeugenschutz sorgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin gefragt worden, weshalb ich gegen den Einigungsvertrag gestimmt habe. Es ist richtig, daß ich dagegen gestimmt habe. Der Einigungsvertrag gibt uns auf, für den § 218 so schnell wie möglich eine mit unserer Verfassung übereinstimmende Regelung zu finden. Daß die jetzt in der vormaligen DDR bestehende Fristenregelung nach den Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht 1975 aufgestellt hat, und bei Berücksichtigung dessen, daß diese Fristenregelung noch weiter geht als die Fristenregelung, die damals zur Debatte stand, mit unserem Grundgesetz nicht in Einklang ist, dürfte für die meisten wohl außer Zweifel sein. Deshalb ist es unsere Aufgabe, so schnell wie möglich Sorge dafür zu tragen, daß wir in diesem Bereich, wo es um eine elementare Frage geht, wo es um Freiheit, wo es um Frieden und wo es um Leben geht, nicht versagen. Es kommt sehr darauf an, daß wir mit größerer Rationalität und weniger Emotionen dieses Thema diskutieren und versuchen, hoffentlich mit einer großen Mehrheit, eine gute Regelung zu finden, die dem Schutz des noch nicht geborenen Lebens auch tatsächlich dient.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Jelpke.
Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zwei Vorbemerkungen machen.
Zum einen: Ich finde es unerträglich, mit welcher Arroganz hier einige Herren, insbesondere Herr Lambsdorff, über die Bevölkerung der ehemaligen DDR sprechen, obwohl sie meines Erachtens überhaupt keine Ahnung haben von den wirklichen Problemen, die die Menschen aus der ehemaligen DDR zur Zeit haben.
({0})
Wenn man hier Zwischenrufe wie „Wohngeld" hört, wenn die Leute hohe Mieten zahlen müssen, und nicht gleichzeitig gesagt wird, wie hoch das Wohngeld ist, dann muß man einfach sagen: Das ist einfach lächerlich.
Meine zweite Vorbemerkung: Ich finde es ebenfalls unerträglich, wie hier Demokratie praktiziert wird. Seit einer Stunde stehe ich vorn auf der Redeliste. Aber es gibt hier sehr viele eitle Leute, die unbedingt ins Fernsehen müssen -
Frau Abgeordnete, ich darf Sie darauf hinweisen: Wenn Sie damit den amtierenden Präsidenten kritisieren wollen, entziehe ich Ihnen das Wort.
({0})
Der Präsident setzt die Reihenfolge der Redner fest. Das ist sein souveränes Recht.
Das mag ja sein.
({0})
Aber es gibt auch so etwas wie eine parlamentarische Absprache. Das ist beispielsweise auch eben deutlich geworden, als es hier um die Intervention ging -
Bitte beschäftigen Sie sich nicht weiter mit diesem Gegenstand!
Das ist für mich alles eine Frage der Demokratie. Das ist hier ja wohl gerade der Tagesordnungspunkt, oder nicht?
({0})
Als eben jemand von der PDS eine Intervention vortragen wollte, wurde auch das abgeblockt.
({1}) - Ich weiß nicht, was daran eine Frechheit ist.
Frau Abgeordnete, ich weise Sie ein letztes Mal darauf hin, daß Sie keine Kritik an der Amtsführung des Präsidenten zu üben haben.
({0})
Ich komme zu meinem Beitrag.
Und von der PDS braucht niemand in diesem Haus - ausgenommen Sie selbst - Belehrungen über Demokratie hinzunehmen.
({0})
Ich glaube, daß das Haus nicht das Recht hat, permanent die PDS in Sachen Demokratie zu belehren.
({0})
- Ich werde nicht aufhören.
({1})
Das müssen Sie sich schon gefallen lassen. Ich komme aus dem Westen - um das gleich klarzustellen.
({2})
Ich werde auch Ihre westliche Politik kritisieren.
({3})
Ich fange jetzt mit meinem Beitrag an: In den ersten Monaten des Jahres 1990 entstand in der DDR die demokratische Kultur der Runden Tische. Das sollten Sie sich besonders -
Verzeihung, Frau Abgeordnete, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. - Ich bitte nun allerdings auch die Kollegen, sich mit ihren Reaktionen so zu verhalten, daß die Kollegin zu Wort kommt.
({0})
Das ist sehr nett. Es geht also um die Runden Tische: Diese Runden Tische haben scharf die Staatssicherheit, die massenhafte Erfassung jeglicher Opposition, die schmutzige Arbeit der V-Leute verurteilt. Das waren die Themen jener Zeit. Sie brachten eine Bewegung der Kontrolle des DDR-Polizeiapparats, der Zerschlagung der Stasi und der Offenlegung ihrer Schnüffelpraxis in Gang. Diese Entwicklung wurde in der BRD damals heftig
begrüßt, gerade von den Damen und Herren der Opposition aus der SPD und der Regierungskoalition.
Über den BRD-Sicherheitsapparat und seine Praktiken hingegen wurde nicht geredet, im Gegenteil.
({0})
Eilig wurden in der BRD die Gesetze über die Geheimdienste verabschiedet, die ihnen die Generalvollmacht zur Kontrolle der eigenen Bevölkerung erteilten. Die Verabschiedung erfolgte ohne nennenswerte öffentliche Debatte und fast ohne Widerstand, leider auch aus der SPD nicht. Das ist kein Wunder. In der BRD hat sich in den letzten 20 Jahren auch mit Hilfe der Sozialdemokratie ein Sicherheitssapparat entwickelt, den man Überwachungsstaat nennen könnte.
({1})
Der Polizei wurden immer mehr Befugnisse übertragen. - Hören Sie richtig zu, dann können Sie hinterher auch argumentieren.
Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung dient dem Staat und seinen Organen zu weiteren Eingriffen in die Rechte der Bürgerinnen.
Frau Abgeordnete, Sie haben Ihre Redezeit bereits um 16 Sekunden überschritten. Wenn Sie vielleicht zu einem Schlußsatz kommen wollen.
Es hätte mich gefreut, wenn Ihnen so etwas auch bei Frau DäublerGmelin eingefallen wäre, die nämlich um etliche Minuten überzogen hat.
({0}))
Das scheint ebenfalls eine Art von Demokratie hier zu sein, daß man uns sofort das Wort abschneidet.
Frau Abgeordnete, ich entziehe Ihnen jetzt das Wort.
({0})
Ich gebe jedem Redner, wenn er sich in der Schlußphase befindet, noch 10, 20, auch 30, 40 Sekunden zu. Ich habe Sie ganz höflich darauf hingewiesen, daß Sie die Redezeit bereits überschritten haben und zu einem Schlußsatz kommen möchten. Sie quittieren das mit einer unangemessenen Bemerkung.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß wir uns von dieser Art des Verhaltens im Parlament unsere Abläufe nicht werden diktieren lassen.
({1})
Ich möchte, daß man hier geregelt, vernünftig und fair miteinander umgeht. Das bedeutet auch, daß man ein Stück Rücksicht aufeinander nimmt. Wir nehmen immer auf die Minderheiten ein bißchen mehr Rücksicht als die Großen aufeinander. Das gehört zu demokratiVizepräsident Klein
schen Abläufen. Aber Mißbrauch wird auf jeden Fall unterbunden.
({2})
Ich erteile dem Abgeordneten Kleinert das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Vielleicht gelingt es mir, einige Minuten einzusparen, damit diejenigen, die es noch nach anderen Interventionen drängt, eine zusätzliche Möglichkeit gewinnen. Ich will den Erwartungshorizont aber nicht zu hoch spannen. Denn einiges muß heute noch gesagt werden.
Das leise Pathos ist besonders gefährlich, Herr Thierse. - Ich sehe ihn jetzt nicht. - Diese leise Art, Philosophien vorzutragen und dann ganz unvermittelt und überraschend materielle Forderungen anzuknüpfen und sich in diesem Durcheinander als besser darzustellen als alle anderen, das ist wahrscheinlich nicht das, was uns bei den Aufgaben hilft, die vor uns liegen.
({0})
Wir müssen ganz, ganz sachlich arbeiten. Ich habe sehr wohl verstanden, was hier über den spirituellen Gehalt der Politik gesagt worden ist. Wir Liberalen sind nicht der Meinung, daß die Politik einen spirituellen Gehalt braucht.
({1})
Das ist sehr schön dichterisch gesagt. Ich glaube, all das, was damit wohl an kultureller, philosophischer, moralischer Selbstverwirklichung gemeint ist, ist Sache des einzelnen Bürgers. Wir haben dafür zu sorgen, daß er die Freiheit hat, sich damit selbst zu beschäftigen.
({2})
Wir denken aber gar nicht daran, ihm in diese Dinge hineinzureden oder uns gar verantwortlich zu fühlen, auf diesem Wege irgendwelche Ziele aufzustecken, Fahnen zu schwenken, große Worte zu machen,
({3})
sondern wir wollen uns lieber mit den konkret anstehenden Fragen beschäftigen.
({4})
Sicher ist allerdings in diesem Zusammenhang auch eines. Sicher ist, daß die Bürger in den sogenannten fünf neuen Ländern - in der früheren DDR - eben nicht in erster Linie an die Verbesserung ihres finanziellen Status, ihrer Vermögens- und Einkommenslage gedacht haben, sondern daß der Drang nach Freiheit das Wichtigere gewesen ist.
({5})
Dazu gehört auch der Drang nach Teilhabe an einer vernünftigen, an einer geordneten demokratischen Gesellschaft. Von der soll man nicht zuviel verlangen; von der darf man aber jedenfalls verlangen, daß das, was Sache des Staates ist, ordentlich geregelt wird.
Darum müssen wir uns jetzt noch einige Jahre hindurch gemeinsam bemühen. Das wird auch geschehen. Das kann nicht mit Ankündigungseffekten, mit großartigen Zahlen geschehen, von denen man dann eines Tages eingeholt wird - vielleicht ausschließlich zu dem Zweck, daß sich die Häme der Opposition darüber ergießt, wenn man sich bei Schätzungen über die Personalzahlen in der Richterschaft oder in der öffentlichen Verwaltung um 20 % geirrt hat -; vielmehr muß man tun, was gerade irgendwie geht.
Ich glaube, der neue Bundesjustizminister, den ich in diesem Hause sehr herzlich begrüße,
({6})
hat die Sache schon richtig angefaßt, indem er gesagt hat, daß er sich einsetzen will und das Äußerste tun will, und nicht etwa angefangen hat, hier buchhalterisch aufzuzählen,
({7})
was im Soli steht, nur damit sich andere in kleinlicher Rechenhaftigkeit hinterher daran reiben können.
Frau Däubler-Gmelin hat zu der Sache einige Worte gesagt und hat gemeint, der Bund sei hier in der Pflicht, insbesondere - da sind wir uns in der Sache ja völlig einig - den dringenden Bedarf bei den Gerichten, aber auch darüber hinaus in der allgemeinen öffentlichen Verwaltung schneller zu befriedigen, als das zur Zeit - zu unserem Bedauern - noch möglich erscheine, und da müsse sich der Bund auch finanziell beteiligen. Ich darf dazu sagen, daß es das Land Nordrhein-Westfalen gewesen ist, das in den Beratungen der Justizministerkonferenz aus verfassungsmäßigen Bedenken heraus gesagt hat, eine solche Mischfinanzierung in dem Bereich, in dem die Länder für die Besoldung auch der zu entsendenden Beamten zuständig seien, wolle man nicht hinnehmen. Das ist nicht von uns gekommen. Ich bin der Meinung, man sollte sich gar nicht so sehr am Detail festbeißen. Wenn geholfen werden muß, dann wäre ich auch bereit, ungewöhnliche Wege zu gehen, auch wenn es dem Herrn Bundesfinanzminister pflichtgemäß nicht unbedingt gefallen sollte.
({8})
Aber auch wenn ungewöhnliche Wege gegangen werden, bleibt eines: Die beschworene Solidarität eröffnet ein weites Feld der Tätigkeit, auch für viele der SPD angehörende Ministerpräsidenten.
({9})
Die Kassen der Länder in der alten Bundesrepublik erfreuen sich nicht zuletzt deshalb zur Zeit eines heftigen Geklingels, weil die Menschen aus den neuen Ländern einen Teil ihrer Kaufkraft - zwangsläufig, weil die Dinge noch nicht richtig zurechtgewachsen sind - in den Westen leiten. Dann muß das eben auch - wie es andere vorher schon gesagt haben - dorthin zurückkommen.
({10})
Warum soll man Mischfinanzierungen und rechtlich bedenkliche Wege in Aussicht nehmen, wenn es auf andere Weise möglich ist?
({11})
Kleinert ({12})
Wir haben im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Deutsche Einheit und über diese Verträge festzustellen gehabt, daß die Administration dieser Bundesrepublik auf eine besondere Herausforderung in hervorragender Weise reagiert hat, daß hier unglaublich schnell ein gewaltiges Stück Arbeit geleistet worden ist. Dafür danken wir.
Bei der gleichen Gelegenheit müssen wir feststellen, daß es selten eine solche Fülle von Regelungen gegeben hat, über die wir lieber im Parlament entschieden hätten, die wir aber nur im nachhinein nach dem Motto „Vogel, friß oder stirb!" nur im Ganzen annehmen oder ablehnen konnten. Das ist eine höchst unbefriedigende Situation für das Parlament.
({13})
Wir haben dieses Verfahren wegen der besonderen Natur der Herausforderung sehend und wollend getragen. Aber nun soll es uns auch Veranlassung geben, die Rolle des Parlaments wieder besonders sorgfältig zu wahren und darauf zu achten, daß man nicht aus dem völlig falschen Gedanken, man könne dann ja so weitermachen, tatsächlich anfängt, so weiter zu machen.
({14})
Das möchten wir bei dieser Gelegenheit ganz deutlich klarmachen. Das ist auch genau das, was die Menschen im Zusammenhang mit der Einigung von uns erwarten.
Natürlich sind wir dafür, daß demonstriert wird.
({15})
Nach dem Grundgesetz versammelt man sich im übrigen nicht auf der Straße, sondern unter freiem Himmel.
({16})
Das ist ein sehr schönes Wort und macht deutlich, was für eine Fülle von Verwirklichung des Bürgers damit gemeint ist.
({17})
Wenn dabei die Sache gelegentlich eher über das Ziel hinausschießt, dann nehmen wir das immer noch viel lieber in Kauf, als daß wir einmal gestatten würden, daß es nicht mehr stattfinden kann.
({18})
Es ist jetzt einfach nicht mehr möglich, auf eine Fülle von Dingen einzugehen, die sich in diesem Zusammenhang jeder für sich ausdenkt und bei denen er die Möglichkeit sieht, alles das durchzusetzen, was er früher in anderen Zeiten nicht durchsetzen konnte, wie z. B. der Bundesgerichtshof jetzt schon unter der Last stöhnt, die erst in Zukunft eintreffende Akten dort verursachen werden.
({19})
Es gibt dazu eine schöne Geschichte. Die muß ich mir hier heute leider ersparen. Ich bin auf Nachfrage bereit, sie privat mitzuteilen.
({20})
Die bevorstehende Last gibt jedenfalls schon Veranlassung, an sehr wichtige Dinge zu rühren. Ich kann heute nicht mehr tun, als Sie, meine liebe Kolleginnen und Kollegen, darauf aufmerksam zu machen, daß die Idee, Gerichte, obere Bundesgerichte seien hervorragend oder sogar ausschließlich zur Rechtsfortentwicklung berufen, vernünftigen Grundsätzen der Gewaltenteilung widerspricht.
Auf diesen Pfad werden wir uns auch unter einem noch so großen Aktendruck nicht bringen lassen.
({21}) Das ist aber nur ein Beispiel.
Herr Abgeordneter, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.
Zum Schluß, Herr Präsident, möchte ich insbesondere an die Adresse der verehrten und verehrungswürdigen Frau Kollegin Dr. Däubler-Gmelin sagen, daß man nicht immer versuchen sollte - je besser man es kann, um so weniger -, mit rechtlichen Kriterien alle Fragen zu lösen. Das gilt sowohl für die Fragen von Krieg und Frieden, die politisch entschieden werden müssen und zu denen nun einmal die Rechtslage das, was Sie gesagt haben, leider nicht hergibt, obwohl wir es - das ist eine ganz andere Frage, über die man gemeinsam sprechen soll - vielleicht gern anders hätten. Das gilt noch viel mehr für alle Versuche, an einem Grundgesetz, das sich bewährt hat und das dazu beigetragen hat, daß wir alle heute in diesem Parlament zusammensitzen können,
({0})
herumzubasteln, um aus dem Grundgesetz etwa einen Wunschzettel für den Nikolaus zu machen, . . .
({1})
Herr Abgeordneter!
... statt zu wissen, daß die entscheidenden Fragen in politischer Verantwortung entschieden werden müssen: die Wohnung, die Arbeit, der Unterhalt.
So viel Freude Sie dem Haus mit ihren Ausführungen bereiten, ist Ihre Redezeit aber gewaltig überschritten.
Deshalb wollen wir alle zusammen auf der soliden Basis, die wir vorgefunden haben, ganz behutsam weiterarbeiten.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Riege.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Regierungserklärung ist
das Verfassungsproblem, zu dem sich eben Kollege Kleinert geäußert hat, sehr lakonisch behandelt worden. Einige Änderungen des Grundgesetzes werden für möglich und sinnvoll gehalten. Das ist, finde ich, eine Absage an die vielfach erhobene Forderung, daß sich der neue Souverän nach der Bildung des gesamtdeutschen Staates seine Verfassung gibt.
Die Position der Bundesregierung hat ihre Logik: Der Eingliederung, der DDR in die Bundesrepublik entspricht der Standpunkt, daß die Verfassung der Bundesrepublik allenfalls einigen Änderungen unterzogen werden soll. Insofern wird die Bildung des deutschen Gesamtstaates etwa den Gründen gleichgestellt, die zu den bisherigen rund drei Dutzend Grundgesetzänderungen geführt haben. Das ist nicht akzeptabel.
Die Übergangsphase, für die das Grundgesetz konzipiert worden ist, hat ihren Abschluß gefunden. Nun muß werden, was im Grundgesetz selbst vorgesehen ist, nämlich eine Verfassung, die vom gesamten deutschen Volk legitimiert ist. Das gehört zu dem Weg, auf dem das vereinte Deutschland zum wirklichen Staat der Deutschen in West und Ost wird.
Das ist etwas anderes, als den Geltungsbereich des Grundgesetzes auf Gebiet und Menschen der neuen Bundesländer auszudehnen. Vor allem ist das mehr als eine Fachfrage von Juristen und Beamten. Weil es um Lebensverhältnisse der Bürger und Bürgerinnen, um ihre sozialen Belange, um ihre Teilhabe am demokratischen Prozeß und um den Ausdruck ihrer Erfahrungen geht, deshalb plädieren wir für eine breitestmögliche öffentliche demokratische Erörterung der Verfassung und für deren Autorisierung durch den Entscheid der Bürger selbst.
Worin sehen wir die Hauptfelder einer Verfassungsdiskussion? Erstens in der Ergänzung des beachtlichen Katalogs der politischen und persönlichen Grundrechte durch sozialökonomische und kulturelle Grundrechte einschließlich geeigneter - also nicht nur juristische und justizförmige - Gewährleistungsformen; von welch existentieller Bedeutung Arbeit, Wohnen und gleiche Bildungschancen für Millionen von Bürgern sind, muß hier nicht begründet werden;
zweitens in der Ergänzung der Repräsentativdemokratie durch Formen der unmittelbaren Demokratie, die dem Grundgesetz bislang nahezu fremd sind; heute wurde die Demokratie der Straße als gleichsam systemgefährdend hingestellt; daß das Volk seine Souveränität nur über Repräsentanten ausüben dürfe, darf nicht Funktionsprinzip der politischen Ordnung dieses Landes sein; der Grundsatz der Volkssouveränität wäre zur bloßen Bekenntnisformel verkümmert;
drittens in der Anerkennung von Bürgerbewegungen;
viertens im Ausbau der Stellung und der Mitwirkungsrechte der Länder im föderativen Gefüge;
fünftens in der Aufnahme sozial und ökologisch orientierter Staatszielbestimmungen;
sechstens im Verhältnis der parlamentarischen Körperschaften zu den exekutiven Organen; wenn
die Meldung der Medien von heute früh zutrifft, wonach der Kanzleramtsminister erklärt habe, die Feststellung des Bündnisfalles - und damit die Entscheidung über Krieg und Frieden - sei allein Sache der Regierung, und das Parlament sei davon lediglich zu unterrichten, dann ist die Dringlichkeit dieses Gegenstandes offensichtlich;
siebtens, weiterführende Regelungen zum Friedensgebot des Grundgesetzes dürfen nicht dazu führen, daß die verfassungsrechtlichen Wege für den Einsatz deutscher Truppen im Ausland geöffnet werden;
achtens in einer Änderung der Staatsangehörigkeitskonzeption; es darf nicht sein, daß in der Verfassung so, wie das in Art. 116 der Fall ist, das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 fortlebt; der europäische Frieden braucht auch in dieser Hinsicht einen Schlußstrich unter den Zweiten Weltkrieg.
All das ist auch für die Verfassungen der neuen Bundesländer wichtig. Diese werden nur dann in der Bevölkerung lebendig sein, wenn sie aus deren Erfahrungen und Wollen erwachsen. Wird, wie erkennbar, jede neue Idee für den Verfassungsinhalt mit dem Hinweis darauf getötet, daß sie dem Grundgesetz in seiner geltenden Form nicht entspreche, geht vom Grundgesetz neben unzweifelhaft positiven Wirkungen auch ein deutlich restriktiver Einfluß aus. Wir hätten es mit einer Variante des Überstülpens der in den Alt-Ländern gewordenen Ordnung auf die in anderer Weise gewachsenen Verhältnisse in den Neu-Ländern zu tun.
Herr Abgeordneter, Sie hatten ursprünglich drei Minuten Redezeit. Sie haben inzwischen fünf Minuten geredet. Ich bitte Sie, jetzt zu schließen.
Letzter Satz - danke schön, Herr Präsident - : Das ist um so mehr auszuschließen, als das Grundgesetz selbst im Einigungsvertrag als - wenn auch in bescheidenem Maße - veränderungsbedürftig angesehen wird.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist, glaube ich, klar, daß zum Schluß dieser Debatte noch einmal auf die Frage der Demonstrationen, die uns ja auch in dieser Debatte sehr häufig begleitet hat, eingegangen wird.
Ich möchte gerne sagen, daß unter den Demonstranten, wo auch immer, sicherlich sehr viele Menschen waren, die diese Frage außerordentlich bewegt. Aber es ist sicherlich genauso richtig und notwendig, darauf hinzuweisen, daß es bei uns und meiner Fraktion ein hohes Maß an Irritation über bestimmte Begleitumstände und insbesondere über die Aussagen mancher Organisatoren und Initiatoren dieser Demonstrationen gegeben hat.
({0})
Das gilt z. B. auch für die große Demonstration am vergangenen Wochenende, an der sich ja auch die SPD beteiligt hat.
({1})
Wenn Sie dort von der Aggression der USA sprechen und die Tatsache, daß das Ganze am 2. August begonnen wurde, nicht ansprechen, müssen Sie schon verstehen, daß das bei uns sehr viele Fragen an Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Frage aufwirft.
({2})
Wieso blieb eigentlich bei dieser Großdemonstration die Forderung an Saddam Hussein, Kuwait freizugeben, die auch erhoben wurde, nahezu ohne Resonanz, während die Aufforderung an die UNO-Truppen, ihre Aktion einzustellen, tosenden Beifall fand?
({3})
Das ist, glaube ich, eine Frage, die sich doch berechtigterweise stellt.
Auch ist zu fragen, welche Glaubwürdigkeit man dem beimessen soll, wenn dort eine Frau aus Israel auftritt, die dem stalinistischen Flügel der kommunistischen Partei Israels angehörte, die jahrelang gegen ihr eigenes Land agitierte und die Greueltaten während der stalinistisch-kommunistischen Herrschaft in Osteuropa geflissentlich übersah.
Ich glaube schon, daß diese Fragen in diesem Hause gestellt werden sollten und daß Sie eine Antwort darauf zu geben haben.
({4})
Meine Damen und Herren, ich meine auch, daß nicht unwidersprochen bleiben kann, was gestern insbesondere Herr Kollege Gansel in seinem Beitrag gesagt hat. Es ist auch hier mehrfach klar zum Ausdruck gekommen, daß alle Bundesregierungen seit 1961 keine Genehmigungen für Kriegswaffenexporte in den Irak gegeben haben. Warum sollte eigentlich diese Gemeinsamkeit, die uns doch eigentlich verbinden müßte, hier unter den Teppich gekehrt werden?
Ich möchte Sie auffordern, zu der Frage Stellung zu nehmen, wieso die Genehmigungen für Rüstungsgüter, die es in der Tat gegeben hat, insbesondere in den 70er Jahren, von Ihrer Regierung, zuletzt im Frühjahr 1982, hier von Ihnen nicht erwähnt werden.
({5})
Ich möchte Sie fragen, mit welcher Berechtigung Sie gegen das Außenwirtschaftsrecht, das hier eine Rolle spielt, zu Felde ziehen, wenn unter der Verantwortung des Justizministers Hans-Jochen Vogel im Jahre 1976 die bis dahin bestehende Strafbewehrung in einen Ordnungswidrigkeitentatbestand umgewandelt wurde.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist der Sachverhalt. Ich hätte keine Veranlassung gesehen, Ihnen das nun im einzelnen vorzuhalten, weil ich finde, daß wir das gemeinsam aufarbeiten sollten,
aber die Selbstgerechtigkeit, die Sie an den Tag legen, stört mich in der Tat.
({7})
Ich möchte jetzt eigentlich Herrn Wischnewski nicht ansprechen; aber mich stört schon folgendes: Als wir in dieser Koalition der Auffassung waren, daß der Zivilschutz eine wichtige Sache sei, wurden wir von Ihnen als Kriegstreiber diffamiert. Aber im Hinblick auf die Unterstützung, die wir bei dem Bau eines atomsicheren Bunkers zur Kenntnis haben nehmen müssen, wird Ihrerseits nun einfach zur Tagesordnung übergegangen. Das ist doch ein sehr, sehr komisches und merkwürdig berührendes Verständnis von Solidarität, das Sie an den Tag legen.
({8})
- Sehen Sie!
({9})
Ich möchte in diesem Zusammenhang vorlesen, was Herr Lahnstein vor kurzem gesagt hat.
({10})
- Ich möchte keine Zwischenfrage zulassen; ich habe nur noch wenig Redezeit, Herr Müller. - Herr Lahnstein schrieb vor kurzen:
Die Sozialdemokratie läuft Gefahr, ihre Maßstäbe zu verlieren. Emotionalität ersetzt die gründliche Abwägung, idealistische Weltflucht ersetzt die Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge.
({11})
Dabei könnten wir alle bei Friedrich Ebert und Gustav Radbruch, Fritz Erler und Ernst Reuter, Helmut Schmidt und Willy Brandt nachlesen, wie es um das Eintreten für alle Grundwerte, wie es um unsere besondere geschichtliche Verantwortung, wie es um die unauflöslichen Zusammenhänge zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden bestellt ist. Statt dessen wird der wohlfeile Begriff von der „Betroffenheit" herumgereicht, der für einen Politiker doch oft nichts anderes ist als das Synonym für Feigheit.
Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
({12})
Frau Kollegin Matthäus-Maier hat hier bemängelt, daß wir nicht sparen und daß weitere Steuern erhoben werden. - In diesem Zusammenhang bin sich sehr dankbar für die Einlassungen vom Oppositionsführer Vogel, der den Kampfbegriff der Kriegssteuer weggenommen hat. Das ist auch gut so; denn es handelt sich um eine Solidaritätssteuer, und dazu stehen wir auch.
({13})
- Jawohl, sie ist eine Notwendigkeit, um sich für das Völkerrecht, für Frieden und Gerechtigkeit in der Golfregion und in Osteuropa einzusetzen.
({14})
Frau Matthäus-Maier hat aber gemeint, wir könnten nicht sparen. Das aus ihrem Munde zu hören, überrascht schon sehr. Ich habe einmal nachgelesen und folgendes erfahren: In den letzten vier Jahren hat die SPD allein 48 Steuern und Abgaben gefordert - das ist die Wirklichkeit - , darunter Produktsteuer, Spekulationssteuer, Ausbildungsplatzabgabe, Entgiftungssteuer, Grundwasserabgabe,
({15})
Abwasserabgabe, Schwefelabgabe, Pestizidsteuer, Stickstoffabgabe, Lärmabgabe, Abfallabgabe, Altölabgabe, Rohstoffsteuer, Verpackungsabgabe, Waldpfennig, Erzeugerabgabe in der Landwirtschaft, Erhöhung der Strom- und Wassertarife, Abgabe der Massentierhaltung, Sondermüllabgabe, „Benzinsaufsteuer ".
({16})
Es ist fürchterlich, was man hier im einzelnen vorlesen muß. Meine sehr verehrten Damen und Herren, eher fliegt doch eine Elster an funkelndem Klunker vorbei, als daß die SPD Abgaben und Steuern ausläßt. Das ist doch die Wirklichkeit.
({17})
Bei allem Streitigen hat es in dieser Debatte sicherlich auch viel Gemeinsames gegeben; dafür sind wir auch dankbar. Ich glaube, daß wir auch die sehr eindrucksvollen Beiträge von Ministerpräsident Biedenkopf und Minister Kühbacher aus Brandenburg hier mit aufnehmen sollten. Eine Debatte soll auch dazu beitragen, daß wir voneinander lernen und uns besser verstehen.
Ich glaube, die Erkenntnis ist wichtig, daß wir die großen Probleme, die wir ohne Zweifel im vereinten Deutschland vor uns haben, gemeinsam bestreiten und lösen müssen. Dazu sind Bund, Länder und Gemeinden und sicherlich auch alle Fraktionen dieses Hauses eingeladen und gefordert.
Ich meine auch - ohne damit schönreden zu wollen - , daß wir die gemeinsame Verpflichtung haben, den Menschen in den neuen Bundesländern diese Perspektive verantwortungsbewußt und realistisch zu vermitteln. Es ist deshalb auch verantwortungslos, sozusagen nur die noch nicht gelösten Probleme in den Vordergrund zu stellen, immer nur die negativen Dinge nach vorne zu bringen. Man muß eine realistische Perspektive vermitteln, damit die Menschen Hoffnung haben, damit sie wissen, daß sie sich auf uns hier im Bundestag, auf diese Koalition, verlassen können, damit wir den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern erreichen.
({18})
Meine Damen und Herren, diese Regierung und diese Koalition haben doch in den großen Fragen der deutschen Politik in den letzten Jahren immer recht behalten. In der Nachrüstungsdebatte mußten wir uns
gegen Sie durchsetzen. Wer hat recht behalten? Wir haben mit unserer Politik recht behalten.
({19})
Wie sah es in der Deutschlandpolitik aus? Wir haben gegen Ihre innere Überzeugung von Anfang an auf die Einheit gesetzt, wir haben kein gemeinsames Papier mit der SED verabschiedet. Wir haben recht behalten.
({20})
So bin ich ganz sicher, daß wir auch in der jetzigen Herausforderung als Koalition von CDU/CSU und FDP recht behalten werden. Nicht die Miesmacher, die Angstmacher, die Neid zeugen, werden recht haben, sondern diejenigen, die sich verantwortungsbewußt den Problemen stellen und für die Menschen sorgen. Das ist diese Koalition.
({21})
Ich glaube, daß wir bei allen Problemen, die vor uns liegen, die nicht zu verniedlichen sind, eine gute Chance haben, die Einigung Europas voranzutreiben, einen wichtigen Beitrag für den Frieden auch in der Golfregion zu leisten. Ich sehe es in diesem Zusammenhang durchaus als hoffnungsvolles Zeichen an, daß ich allen, die das kritisch sehen, zurufen möchte, daß es eigentlich erstmals in der Geschichte der Menschheit diese Gemeinsamkeit der freien Völker, dieser Gemeinsamkeit der Völker in den Vereinten Nationen gegeben hat im Nein zu dem Bösen und in der Umsetzung dieser Überzeugung in eine aktive und klare Politik. Das ist auch eine Grundlage, die uns sicherlich in die Lage versetzen wird, die Probleme des ausgehenden Jahrhunderts zu lösen.
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers und die Aussprache dazu machen nach meiner festen Überzeugung deutlich, daß wir ein klares Konzept dafür haben, den Aufschwung und den Aufbau in den neuen Bundesländern zu bewerkstelligen, daß wir in der Lage sein werden, die innere Einheit in unserem Lande weiter voranzutreiben, und daß wir als geachtetes Glied in der Gemeinschaft der freien Völker mit dazu beitragen werden, daß Europa eine friedliche Zukunft haben wird und daß in der Welt Frieden und Gerechtigkeit eingekehrt.
Vielen Dank.
({22})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wir stimmen zunächst über den Entschließungsantrag der SPD auf Drucksache 12/40 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen ab über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/60 ({0}). Um eine Korrektur zu erläutern, hat der Abgeordnete Müller ({1}) das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch die Korrektur auf
Müller ({0})
dem Antrag, zweiter Absatz, hat sich ein Schreibfehler eingeschlichen. Da muß es heißen: ,,... zu welcher Zeit - z. B. durch gezielte Informationen befreundeter Nachrichtendienste - ...".
Aber ich wollte auch noch zur Sache etwas sagen, Herr Präsident. Wir fordern einen Bericht über die Beteiligung deutscher Unternehmen an der Aufrüstung des Irak, und wir verlangen Aufschluß darüber, was staatliche Stellen gewußt haben und was die Bundesregierung zur Verhinderung dieser Aufrüstung des Irak getan hat. Diese völlige Aufdeckung ist auch wichtig für die parlamentarische Beratung der jetzt anstehenden Verschärfung der Gesetze. Wir haben gute Erfahrungen gemacht. Ich möchte Sie daran erinnern, daß wir hier vor zwei Jahren, nämlich am 18. Januar 1989, gemeinsam beschlossen haben, einen Bericht über die Lieferungen nach Libyen anzufordern.
Herr Kollege Müller ({0}), ich glaube, das Korrekturbegehren ist verstanden worden. Wir sollten jetzt nicht noch eine Erörterung der Sache vornehmen.
Herr Präsident, ich möchte doch ein paar Worte dazu sagen. Sie können es auch als Kurzintervention betrachten.
Herr Bohl hat einen wichtigen Punkt aufgegriffen - es tauchte hier ebenso wie in der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers auf - , nämlich die versteckte Drohung -
Entschuldigung, wir sind in der Abstimmung. Sie können nicht die Debatte neu eröffnen.
({0})
Ich spreche von der versteckten Drohung, daß man es nicht aufdecken will, weil angeblich früher auch Waffenlieferungen stattgefunden haben. Wir möchten Aufklärung über Waffenlieferungen seit Beginn des irakisch-iranischen Krieges.
({0})
Herr Kollege Müller, Sie haben das Wort zur Begründung einer Korrektur erhalten.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/60 ({0}) ab, und zwar mit der vom Kollegen Müller ({1}) begründeten Korrektur. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe!
({2})
- Enthaltungen? - Der Antrag ist mit der Mehrheit
der Stimmen der Koalitionsparteien gegen die Stimmen der Opposition bei einigen Enthaltungen bei der
FDP und, soweit ich sehen konnte, bei einer Enthaltung aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
({3})
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/63 ab. Darf ich um das Handzeichen bitten, wer dafür ist. - Gegenprobe! - Enthaltungen?
({4})
- Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 12/64. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition bei einer Enthaltung angenommen.
Der Kollege Dr. Ullmann möchte dazu eine Erklärung abgeben.
Ich möchte hiermit erklären, warum ich gegen den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und FDP gestimmt habe.
Der Entschließungsantrag enthält eine Reihe von Feststellungen, die ich durchaus bejahe. Er enthält aber auch eine Reihe von Darstellungen, die ich als Legitimation der Kriegsführung betrachten muß.
({0})
Kriegsführung, die einen Legitimationsbedarf hat, ist in meinen Augen aber nicht legitim.
Ferner halte ich die auf Seite 4 unter den Spiegelstrichen gemachten Vorschläge zwar für vernünftig, sie weisen allerdings einen Mangel auf, und zwar erstens, weil Ihre Fraktion soeben gegen die nötige Kontrolle gestimmt hat,
({1})
und zweitens, weil die wichtigste Tatsache unter den Vorschlägen fehlt, nämlich die, daß es sich hier um Waffen handelt. Waffenhandel aber ist nicht auf nationaler Ebene zu beseitigen. Wenn ich diese Strafvorschriften sehe, dann weiß ich schon, wie man sie umgehen kann.
({2})
Herr Gansel hat das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung über die Drucksache 60 ({0}). Ist das richtig?
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Erklärung zur Abstimmung abgeben. Das kann ich nur persönlich machen, auch wenn dies die Meinung aller Kollegen und Kolleginnen der SPD-Fraktion ist. So bestimmt es die Geschäftsordnung.
Im Anschluß an die Rabta-Affäre, bei der es um den Bau einer Giftgasfabrik in Libyen ging, an der sich Deutsche beteiligt hatten, haben wir hier im Bundestag einen Bericht der Bundesregierung erhalten, der nicht nur sehr zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen hat, sondern der auch Grundlage für die nachfolgende Gesetzgebung war. Das Giftgas, das in Libyen produziert worden ist, ist noch nicht zum Einsatz gekommen. Aber die Raketen, die im Irak unter Beteiligung deutscher Firmen gebaut worden sind, sind schon eingesetzt worden. Sie können möglicherweise auch mit Giftgas eingesetzt werden, an dessen Herstellung Deutsche mitgewirkt haben. Die besondere Problematik, die politische Explosivität - im übertragenen Sinne - gebietet es, daß sich der Bundestag bei der Aufklärung dieses Sachverhalts nicht weniger Mühe macht als bei der Aufklärung der Rabta-Affäre.
({0})
Deshalb, meine Damen und Herren, habe ich an der Formulierung eines Antrags mitgewirkt, der so sachlich ist und so sehr auf Sachinformation abgestellt ist, daß es eigentlich keinen Grund geben dürfte, ihn abzulehnen. Wir haben diesen Antrag auch gestellt, damit von vornherein nicht als einzige Alternative nur ein Untersuchungsausschuß bleibt. Deshalb bitte ich darum - damit darf ich meine Erklärung abschließen, Herr Präsident - , daß die Regierungsparteien unseren Antrag in der Zeit nach der heutigen Debatte, nachdem man über ihn vielleicht noch einmal kühler nachdenken kann, nochmal bedenken. Wenn die Bundesregierung so verfährt, wie wir beantragt haben, dann können wir einen großen Schritt vorwärts kommen, auch wenn es keinen förmlichen Beschluß gibt. Legt die Bundesregierung dem Bundestag diesen Bericht aber nicht vor, dann wird ein Untersuchungsausschuß unausweichlich sein. Ich bitte Sie, sich das zu überlegen.
({1})
Es geht darum, durch eine Untersuchung zu erreichen, daß sich die Bedrohung Israels auf eine so schreckliche Art und Weise, wie wir sie in diesen Tagen erleben, die uns so bedrückt und die viele von uns so sehr mit Scham erfüllt, nie mehr wiederholt, und zwar erst recht dann nicht, wenn daran Deutsche und deutsche Firmen beteiligt sind. - Ich danke Ihnen.
({2})
Zu einer weiteren Erklärung zur Abstimmung hat das Wort Herr Abgeordneter Möllemann.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen hier verbindlich zusichern, daß ich Ihnen, wie soeben entsprechend der Seite 3 des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP beschlossen - dort heißt es nämlich: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, lückenlos über die Erkenntnisse über illegale Rüstungsexporte in den Irak zu berichten" -,
({0})
über den hier in Rede stehenden Problemkomplex eine lückenlose Information geben werde. Die Bundesregierung hat nicht den geringsten Anlaß, die vom Parlament geäußerten Petita zurückzuweisen. Wir werden Ihnen den gewünschten lückenlosen Bericht geben.
({1})
Zu einer weiteren Erklärung zur Abstimmung Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Für die FDP begrüße ich die Erklärung, die der Bundeswirtschaftsminister eben abgegeben hat. Ich möchte Ihnen, Herr Gansel, sagen, wenn Sie einen Beschluß formuliert hätten, der nicht schon inzidenter Verdacht geäußert hätte, dann sähe es anders aus. Sie sagen in Ihrem Entschließungsantrag:
Der Bericht soll außerdem Aufschluß darüber geben, welche Stellen ... der Bundesregierung . . . von einer möglichen Beteiligung ... informiert gewesen sind.
Hätten Sie geschrieben „ob und gegebenenfalls welche", wäre unsere Haltung wohl anders.
({0}) Das macht einen Unterschied.
Genauso geht es weiter:
Die Bundesregierung soll auch Bericht erstatten, inwieweit die Bundesregierung ... die Mitwirkung genehmigt
hat. Hätten Sie gefragt „ob und gegebenenfalls inwieweit", sähe es jetzt anders aus.
Sie unterstellen in dieser Formulierung, daß sich die Bundesregierung bereits in Ihrem Sinne unverantwortlich verhalten habe. Dem kann die FDP-Fraktion in der Tat nicht zustimmen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Bundesanstalt für Arbeit
- Drucksache 12/56 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Vizepräsident Klein
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Soziales.
({1})
- Für Arbeit und Soziales.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Weil Arbeit der wichtigste Faktor der Wirtschaft ist, empfinde ich das als ein Kompliment für das Ministerium für Arbeit und Soziales.
({0})
- Wenn es noch weitere Vorschläge der SPD gibt, bitte ich sie alle zu Protokoll zu nehmen.
Meine Damen und Herren, die Rentenversicherung und die Arbeitslosenversicherung sind eigenständige Sozialversicherungen. Deshalb gibt es auch getrennte Kassen, also die Rentenkasse und die Arbeitslosenversicherungskasse, und deshalb muß es auch unterschiedliche Antworten auf unterschiedliche Finanzlagen geben.
In der Rentenversicherung haben wir die erfreuliche Tatsache großer Überschüsse. Das ist das Ergebnis einer guten Konjunktur in Westdeutschland. Das ist auch das Ergebnis der deutschen Einheit, durch die in Westdeutschland die Konjunktur einen wichtigen Schub bekam. Das ist ferner das Ergebnis unserer soliden Rentenpolitik.
({1})
Die Überschüsse weisen eine Rekordhöhe auf: 2,5 Monatsausgaben. 1990 erhöhte sich die Rücklage in der Rentenversicherung um 7,5 Milliarden DM auf über 33 Milliarden DM. Bei unveränderten Beitragssätzen, würden wir also den Beitragssatz so lassen, wie er jetzt ist, kämen 1991 weitere 10 Milliarden DM hinzu. Wir hätten eine Gesamtrücklage von 43,3 Milliarden DM. Da stellt sich sehr zu Recht die Frage, ob wir von diesen Überschüssen nicht etwas an die zurückgeben sollen, die sie erwirtschaftet haben, nämlich an die Beitragszahler.
Bei der Umsetzung unseres Vorschlags einer Beitragssenkung von 18,7 auf 17,7 % wird die Rücklage immer noch leicht höher sein als 1990. Das ist die höchste Rücklage seit 1977, dem Rekordjahr der Rücklagen, gewesen.
Um es noch einmal zu sagen: Wenn wir jetzt den Beitrag senken, bleiben wir immer noch auf einer Rekordhöhe der Rücklagen. Rentensicherheit ist das wichtigste Gebot unserer Rentenpolitik. Das ist die wichtigste Mitteilung an die Rentner in allen Teilen Deutschlands.
({2})
Freilich ist es ebenso richtig, daß wir in späterer Zeit
- wahrscheinlich in zwei Jahren - die Beiträge wieder auf die jetzige Höhe erhöhen müssen. Deshalb teilt dieser Vorschlag das Schicksal des Vorschlags der SPD, den sie vor Jahresfrist vorgelegt hat. Die SPD hat damals eine Beitragssenkung vorgeschlagen, die ebenfalls mit der Ankündigung verbunden war, daß sie später durch Beitragsanhebungen wieder kompensiert werden müsse. Es besteht also überhaupt kein Grund, in diesem Vorgang etwas Außergewöhnliches zu sehen. Die Opposition hat den Vorschlag schon vor Jahresfrist vorgelegt. Wir haben die Entwicklung noch etwas abgewartet. Die Rücklage ist inzwischen noch besser geworden. Deshalb schließe ich mich der Begründung des SPD-Vorschlags an, die damals lautete - ich zitiere aus dem Vorschlag der Opposition - :
Die momentan nicht benötigten Finanzmittel in der Rentenkasse gehören nicht dem Staat, sondern den Beitragszahlern, die sie angesammelt haben.
({3})
Wenn zwei das gleiche tun, bleibt es, wie ich hoffe, auch das gleiche.
({4})
Auch die Rentenversicherungsträger haben übrigens schon damals die Möglichkeit der Beitragssenkung nicht nur akzeptiert, sondern als im System enthalten angesehen.
Ich erkläre nachdrücklich, um für die Rentner alle Mißverständnisse zu beseitigen: Die Höhe des Beitragssatzes entscheidet überhaubt nicht über die Ansprüche auf die Rente. Wenn wir die Beiträge senken, heißt das nicht, daß wir die Renten senken. Man muß wegen mancher Verunglimpfungen und mancher Angstkampagnen diese große Selbstverständlichkeit hier noch einmal betonen. Es geht lediglich um die Rücklagen. Die Rücklagen sind dank unserer soliden Rentenpolitik so hoch wie noch nie. Deshalb geben wir einen Teil an diejenigen zurück, die sie angesammelt haben.
({5})
Jetzt zum zweiten Teil: Anders als in der Rentenversicherung haben wir in der Arbeitslosenversicherung Defizite: hier Überschüsse, dort Defizite. Deshalb heißt dort die Antwort nicht Beitragssenkung, sondern Beitragserhöhung. Diese Beitragserhöhung wäre auch ohne die Möglichkeit, die Beiträge in der Rentenversicherung zu senken, notwendig, und zwar ebenso wie die Senkung in der Rentenversicherung möglich gewesen wäre, ohne daß die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erhöht werden.
Wir decken das Defizit, das in der Arbeitslosenversicherung vorhanden ist, erstens weiterhin durch einen staatlichen Zuschuß - trotz angespannter Finanzlage verabschiedet sich der Staat nicht aus der Verantwortung; über 2 Milliarden DM wird der Staat der Arbeitslosenkasse zuschießen - und zweitens durch Beitragserhöhungen für dieses Jahr ab 1. April, wie es der Gesetzesvorschlag vorsieht. Der Satz soll 2,5 % und im nächsten Jahr 2 % betragen. Nach dem alten Grundsatz „halbe-halbe" bezahlen davon die Hälfte, also 1,25 %, die Arbeitnehmer, die andere Hälfte, also ebenfalls 1,25 %, die Arbeitgeber.
Wir setzen trotz der angespannten Finanzlage unsere Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau fort. Die angespannte Finanzlage führt nicht dazu, daß wir die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik reduzieren. Auch die globalen Minderausgaben sollen erwirtschaftet werden, ohne daß die notwendigen arbeitsmarktpoliBundesminister Dr. Blüm
tischen Unterstützungen auch nur in irgendeiner Weise reduziert werden.
Auch gegenüber anderslautenden Meldungen weise ich deshalb nochmals darauf hin, daß es keine Bundesregierung vor uns gab, die je mehr Geld in aktive Arbeitsmarktpolitik investiert hat. Das ist so und bleibt so, auch entgegen allem Gerede.
({6})
1982 - das war das letzte Jahr der SPD-geführten Regierung - hatten wir für aktive Arbeitsmarktpolitik - ich muß die Zahl immer wiederholen - 6,9 Milliarden DM. 1990 hatten wir 17,7 Milliarden DM. Jeder, der die Grundrechenarten beherrscht, wird wissen, daß das fast dreimal mehr ist als 1982.
Wir bleiben auch angesichts der großen arbeitsmarktpolitischen Probleme in den neuen Bundesländern mit der Arbeitsmarktpolitik hilfreich, und zwar - ich wiederhole dieses Wort - auf hohem Niveau.
Zum einen sind hier die Qualifizierungsmaßnahmen zu nennen. Ich habe gestern schon davon gesprochen, daß es unser ehrgeiziges Ziel ist, für die fünf neuen Bundesländer in diesem Jahr 330 000 Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen zu finden. Das ist eine gewaltige Steigerung gegenüber dem, was wir schon jetzt erreicht haben. Im letzten Jahr waren es 130 000. Ich füge hinzu: Am Geld wird Qualifizierung nicht scheitern.
({7})
Der eigentliche Mangel sind Initiativen, sind Menschen, die die Qualifizierung organisieren. Es sind noch nicht einmal alle Mittel abgeflossen, die wir zur Verfügung gestellt haben.
({8})
Ich sage noch einmal: An Geld und gutem Willen wird es nicht mangeln. Was wir brauchen, sind Menschen, die solche Qualifizierungen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen organisieren.
In den neuen Bundesländern stehen für Qualifikation 6,6 Milliarden DM zur Verfügung, in den alten ungefähr der gleiche Betrag, nämlich 6,7 Milliarden DM. Wir nehmen also auch in Westdeutschland die Qualifizierungsanstrengungen nicht zurück. Es braucht hier niemand den Versuch zu unternehmen, die einen gegen die anderen auszuspielen.
Zweitens bleibt das Instrument der Kurzarbeit. Auch hier wiederhole ich, was ich gestern schon gesagt habe: Das Instrument der Kurzarbeit muß gerade in den neuen Bundesländern stärker als bisher mit Qualifizierung verbunden werden.
({9})
Hier sind wir sehr auf die Mitarbeit, die Unterstützung und die Kooperation der Tarifpartner angewiesen. Sie sollten den tarifpolitischen Impuls an der richtigen Stelle einsetzen: nicht zur Aufstockung der Kurzarbeit, sondern zur Aufstockung der Qualifizierungsmaßnahmen.
({10})
- Das ist das beste Kapital. Unser Ziel bleibt: 130 000 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern. Im letzten Jahr hatten wir rund 20 000 erreicht. Sie sehen, was hier an Anstrengungen notwendig ist. Im alten Bundesgebiet, in Westdeutschland, bleiben wir bei 95 000. Das sind übrigens
- auch das darf ich wiederholen - dreimal mehr als 1982. Ich sage das stets von neuem, weil von der Opposition immer wieder behauptet wird, wir würden die Arbeitsmarktpolitik einschränken. Wie kann ein solcher Vorwurf von einer Seite erhoben werden, die nur ein Drittel dessen getan hat, was wir heute tun?
({11})
Unsere Anstrengungen für die Langzeitarbeitslosen sollen nicht abnehmen. Ich rufe auch hier die Betriebe und die Tarifpartner auf, denen mit Unterstützung zur Seite zu stehen, die es am schwersten haben, in das Erwerbsleben zurückzufinden. Ich denke auch an die Behinderten und an deren Recht, mitzuarbeiten. Das ist die beste Hilfe zur Integration. Auch heute will ich die Gelegenheit nutzen und dafür plädieren, daß der Staat, gerade die Länder, daß der öffentliche Dienst bei der Einstellung von Behinderten mit gutem Beispiel vorangeht.
({12})
Wir werden uns nicht aus der Arbeitsmarktpolitik verabschieden. Ich möchte mich auch gegen die Darstellung wenden, die gestern abend schon einmal angeklungen ist, als hätten wir diese Anstrengungen für die Sozialversicherung jetzt an die Beitragszahler abgeschoben. Die Anschubfinanzierung, die wichtigste Initialzündung, ist aus Steuermitteln finanziert worden. Das war meine Behauptung im letzten Jahr, und das ist auch jetzt noch richtig. Wir haben die Bundesanstalt bei der Anschubfinanzierung mit 2 Milliarden DM unterstützt, die Krankenversicherung mit 3 Milliarden DM und die Rentenversicherung mit 2,15 Milliarden DM. Es kann also niemand sagen, wir würden die Sozialversicherung allein lassen.
Was gebraucht wird, ist solidarische Gesinnung. Ich wende mich gerade auch an die westdeutschen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Der westdeutschen Wirtschaft ging es noch nie so gut wie jetzt, und zwar Arbeitgebern wie Arbeitnehmern. Es ist ein Gebot der Solidarität, von diesem Wachstum, das auch durch die deutsche Einheit ausgelöst worden ist, etwas an diejenigen zurückzugeben, die am stärksten Hilfe brauchen und die diesen Überschuß mitfinanziert haben.
({13})
Dank unserer Steuer- und Sozialpolitik haben wir die Arbeitnehmer in den letzten Jahren entlastet. Der monatliche Nettolohn hat sich seit 1982 durchschnittlich um 476 DM erhöht. Der Nettolohn um 476 DM! 1990 war es eine Erhöhung um monatlich 165 DM. Ich will darauf hinweisen, daß die Sozialpolitik auch ihren Beitrag geleistet hat. Ohne Krankenversicherungsreform müßten die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber jetzt nicht 12,2 % Beitrag zahlen, sondern mindestens 14 %. Sie sehen: Auch die Sozialpolitik hat ihren Beitrag geleistet.
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Büttner zu beantworten? - Bitte sehr, Herr Abgeordneter!
Herr Bundesminister, halten Sie es für einen Beitrag an Solidarität, daß für die Arbeitsmarktmaßnahmen nur die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten herangezogen werden und alle anderen außen vor bleiben?
Nein. Ich will schon darauf hinweisen, daß diese solidarische Leistung der Beitragszahler freilich auch bei der Einkommensfindung im Beamtenbereich ihre Berücksichtigung finden muß.
({0})
Das halte ich für einen Akt der Solidarität.
({1})
Im übrigen mache ich darauf aufmerksam, daß die Anschubfinanzierung, von der ich gesprochen habe, eine Anschubfinanzierung nicht der Beitragszahler, sondern aller Steuerzahler war. Ich bestätige aber ausdrücklich, daß aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit eine ausgewogene Lastenverteilung notwendig ist.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn? - Bitte, Herr Abgeordneter!
Herr Bundesarbeitsminister, können Sie dem Bundestag mitteilen, welche Mehrbelastungen sich in diesem Jahr für die Arbeitnehmer durch die Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ergeben und welche Mehrbelastungen, möglicherweise in Form geringerer Steigerungen beim Besoldungszuwachs, auf die Beamten entfallen?
Das sind rund 20 Mark im Monat für den durchschnittlichen Verdiener. Diese Belastung wird durch höheres Wachstum das dank unserer guten Wirtschaftspolitik möglich war, und durch die Maßnahmen der Steuerreform, die den Arbeitnehmern zugute kamen, überkompensiert.
({0})
Insofern stehen Arbeitnehmer wie Arbeitgeber dank unserer Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik dreimal besser da als zu SPD-Zeiten. Ich bedanke mich sehr für diese hilfreiche Frage!
({1})
Herr Minister, beantworten Sie noch eine Frage des Abgeordneten Heyenn? - Bitte sehr!
Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben exakt an meiner Frage vorbei geantwortet, denn ich hatte Sie nach der vergleichbaren Belastung der Beamten gefragt.
({0})
Ich habe im Zusammenhang mit der Frage meines verehrten Kollegen Büttner schon darauf hingewiesen, daß wir die höhere Beitragsbelastung, die jetzt auf die Arbeitnehmer zukommt, freilich bei der Einkommensfindung der Beamten berücksichtigen müssen. Das ist meine Überzeugung. Das hat im Zusammenhang mit der Tarifbildung im öffentlichen Dienst zu geschehen. Aus Achtung vor der Tarif autonomie des öffentlichen Dienstes kann ich jetzt keine Zahl nennen, aber ich bleibe dabei - ({0})
- Ich rede nicht darum herum, Herr Dreßler.
({1})
Ich spreche direkt dazu, daß unsere Arbeitsmarktpolitik besser ist als jene, die unter Ihrer Verantwortung erfolgte. Wir wollen jetzt diese Arbeitsmarktpolitik ganz besonders den Arbeitnehmern in den fünf neuen Bundesländern zugute kommen lassen. Das ist die größte Solidaraufgabe, die diesem Sozialstaat Deutschland ins Haus steht.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zwei knappe Vorbemerkungen machen. Erstens. Es ist ein erstaunliches Parlamentsverständis, wenn ein Gesetzentwurf der Koalitionsfraktion von der Regierung begründet wird. Das ist erstaunlich genug. Ich frage, ob diese Praxis einreißen soll.
Zweitens. Es ist immer wieder erstaunlich, zu welchen Kehrtwendungen, Luftsprüngen und Kapriolen der Bundesarbeitsminister fähig ist. Er hat es hier im besten Stil eines Winkeladvokaten tatsächlich fertiggebracht,
({0})
Inhalte zu begründen, die er im abgelaufenen Jahr kategorisch abgelehnt hat. Dazu will ich Ihnen einige Beispiele nennen. Hier geht es nicht nur um ein paar Pfennige; es geht für 1991 im Bereich der Arbeitslosenversicherung um eine Zusatzbelastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Beitragszahler insgesamt von rund 18,3 Milliarden DM und für 1992 um eine Zusatzbelastung von über 23 Milliarden DM. Es ist ja nicht von Pappe, was den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern da abverlangt wird.
Der Bundesarbeitsminister hat in einer Presseerklärung vom 17. Mai 1990 folgendes erklärt:
({1})
Die Anschubfinanzierung für den Aufbau einer
vergleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR
darf nicht den Beitragzahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet werden. Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln.
Herr Abgeordneter Schreiner, sind Sie bereit, dem Abgeordneten Blüm eine Frage zu beantworten? - Bitte schön!
Herr Abgeordneter Schreiner, bestreiten Sie, daß die Anschubfinanzierung von über 7 Milliarden DM so, wie ich es gesagt habe, aus Steuermitteln gezahlt wurde?
({0})
Entschuldigung, Herr Bundesminister, die Formulierung lautet eindeutig: Die Anschubfinanzierung für den Aufbau einer vergleichbaren sozialen Sicherheit in der ehemaligen DDR. Das heißt, der Aufbau ist dann abgeschlossen, wenn die Menschen drüben ähnliche soziale Standards haben wie wir hier. Überhaupt nichts anderes kann das heißen!
({0})
Ihre Zwischenfrage setzt die Tradition üblen Winkeladvokatentums fort. Ich denke, die Frage ist beantwortet.
({1})
Ein zweites Zitat ist noch wesentlich deutlicher, Herr Arbeitsminister. Das Arbeitsministerium ließ am 23. November vergangenen Jahres, also wenige Tage vor der Wahl, folgendes über dpa erklären:
Eine von der SPD behauptete Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 4,3 % auf 6,3 % ist nicht geplant.
Im Grundsatz beschlossen sei lediglich eine Anhebung um höchstens einen Prozentpunkt auf 5,3.
({2})
Tatsächlich haben Sie hier noch wesentlich mehr als das eingebracht, was wir damals an Erhöhung behauptet haben, noch wesentlich mehr!
({3})
Es gibt zwei Möglichkeiten, diesen Sachverhalt zu interpretieren, Herr Blüm. Entweder haben Sie in der Schlußphase des Wahlkampfs die Wählerinnen und Wähler eiskalt getäuscht, oder Sie sind bei den Koalitionsverhandlungen in der zentralen Frage der Finanzierung der deutschen Einheit einfach umgefallen und über den Tisch gezogen worden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Wenn man zu Ihren Gunsten die zweite Möglichkeit annimmt, stellt sich die schlichte Frage: Welches Gewicht hat eigentlich ein Sozialminister in der Bundesregierung, der es zuläßt, daß die soziale Symmetrie bei der Finanzierung der deutschen Einheit vollständig auf der Strecke bleibt? Was ist eigentlich das öffentliche Wort eines solchen Ministers noch wert?
({4})
Welches Vertrauen können die Bürgerinnen und Bürger in Ihre Erklärungen noch setzen?
({5})
Ich sage Ihnen: Überhaupt keines mehr. Sie sind vollständig unglaubwürdig geworden.
({6})
Die wirkliche Bedeutung dieses Ministers steht in einem grotesken Mißverhältnis zu seinem wichtigtuerischen Redeschwall.
({7})
Herr Abgeordneter Schreiner, sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage zuzulassen?
Bitte schön.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Sehr geehrter Herr Kollege, was ist Ihnen eigentlich wichtiger: daß Aussagen, die einmal als Prognose für die Zukunft gemacht worden sind, wortwörtlich eingehalten werden oder daß die Bürger in den neuen Bundesländern wirklich den sozialen Status erreichen, den die Bürger in den alten Bundesländern schon haben?
({0})
Herr Abgeordneter, würden Sie bitte so nett sein, die Usancen dieses Hauses zu beachten, also bei der Beantwortung Ihrer Frage stehenzubleiben?
Ich erspare Ihnen das Stehenbleiben gern, weil ich im übernächsten Satz genau auf diese Frage zurückkommen werde.
({0})
Deshalb biete ich fairerweise an, daß wir zu den normalen Gepflogenheiten zurückkehren und Sie Platz nehmen können.
({1})
- Sie sind wirklich ein wilder kleiner Giftzwerg. Sie könnten sich das wenigstens in Ruhe anhören.
({2})
Ich will Ihnen zu der Erklärungsvielfalt des Bundesarbeitsministers - ({3})
Entschuldigung, Herr Abgeordneter! Meine Damen und Herren, Zwischenrufe sind ja gelegentlich in einer Debatte das Salz in der Suppe. Aber es geht wirklich nicht, daß Sie alle auf einmal rufen.
({0})
Ich bitte daher um ein bißchen Ruhe für den Redner.
Herr Abgeordneter Schreiner, Sie haben das Wort.
({1})
Vielleicht können Sie sich einigen, in welcher Reihenfolge Sie Ihre Zwischenrufe machen.
Ich will Ihnen ein Zitat aus der Zeitschrift „Die Zeit" vom 6. Oktober 1989 nicht ersparen.
({0})
Da geht es nicht um die Hauptstadt, sondern um Herrn Blüm.
({1})
Ich denke, das trifft den Sachverhalt sehr genau:
Wenn Bonn die Hauptstadt des Schönredens, des Selbstpreisens, des Großschwätzens und des Heldenbrustzeigens ist oder geworden ist, dann ist Blüm in all diesen Disziplinen Meister.
({2})
Das trifft genau den Sachverhalt, den ich eben in anderen Zusammenhängen zu beschreiben versucht habe.
Um jetzt auf den Kollegen aus der ehemaligen DDR zurückzukommen - ({3})
- Jetzt machen Sie mal eine Pause. Jetzt mache ich erst mal eine Weile weiter.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist der Versuch der Regierungsfraktionen, sich auf Kosten der sozial Schwächeren aus einer selbstverschuldeten Ausweglosigkeit zu befreien. Sie haben es - und das ist unsere Hauptkritik ({4})
im Wahljahr 1990 gegen besseres Wissen versäumt, die Menschen, vor allen Dingen die im Westen, darauf vorzubereiten, daß die soziale Einheit Opfer abverlangen wird. Und Sie haben, wiederum gegen besseres Wissen, den Hinweis unterlassen, daß nur durch eine große solidarische Kraftanstrengung die sozialen Gegensätze im zusammenwachsenden Deutschland überbrückt werden können.
({5})
Ich sage Ihnen: Die Menschen im Westen sind zur Solidarität bereit gewesen, und sie sind es noch.
({6})
Solidarität bedeutet aber auch, daß den materiell Bessergestellten mehr abverlangt werden muß als den sozial Schwächeren.
({7})
Dazu hat die SPD viele Vorschläge gemacht.
({8})
Sie gehen - und das ist der Kern unseres Vorwurfs - genau den umgekehrten Weg. Wie wollen Sie eigentlich begründen, Herr Blüm, daß zur Finanzierung vor allem diejenigen Arbeitnehmer herangezogen werden, deren Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze von 6 500 DM brutto liegt? Warum wird derjenige, der mehr oder wesentlich mehr verdient, für den überschießenden Betrag nicht zur Kasse gebeten?
({9})
Warum bleiben Beamte und Freiberufler, die keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zahlen, völlig außen vor? Warum wird ein geringverdienender Arbeitnehmer in der ehemaligen DDR - 1 200 DM Monatseinkommen, vielleicht weniger - über diesen Gesetzentwurf enorm zur Kasse gebeten, während ein topverdienender Rechtsanwalt im Westen völlig ungeschoren bleibt? Wie wollen Sie das eigentlich begründen?
({10})
- Ja, der Gesetzentwurf ist unerhört. Da stimme ich Ihnen gerne zu, Herr Kollege.
Hier wird die soziale Lastenverteilung vollständig auf den Kopf gestellt. Die Solidarität zwischen West und Ost ist allein Sache des Staates und der gesamten Gesellschaft, nicht bloß der beitragzahlenden Sozialversicherten. Gerade weil sie es versäumt haben, eine solidarische Kraftanstrengung aller vorzubereiten, sind Sie nun in der Lage eines kleinen miesen Gauners,
({11})
der nach allerlei Tricks Ausschau hält, an den Geldbeutel der kleinen Leute heranzukommen.
({12})
Die publizistische Kommentierung Ihres Gesetzentwurfs war ein einziger Verriß. Hier nur die Kostprobe einiger Überschriften: „Bonn bricht Schwüre" - Überschrift „Handelsblatt" - , „Die Vernunft bleibt auf der Strecke" - Überschrift „Die Zeit" -, „Soziale Schieflage" - Überschrift „Saarbrücker Zeitung" -, „Schlachtfest" - Überschrift „Handelsblatt".
({13})
In Ihren eigenen Reihen ist unter Hinweis auf die durch den Gesetzentwurf massiv steigenden Lohnnebenkosten von dem neuen Vorsitzenden des Diskussionskreises Mittelstand in der Unionsfraktion - angeblich 130 Mitglieder -, dem verehrten Kollegen Doss - ich hoffe, er ist anwesend -, ein - Zitat aus der „Welt" vom 12. Januar - „kompromißloser parlamentarischer Widerstand" gegen diesen Gesetzentwurf angekündigt worden.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich befürchte, Herr Doss wird mit Bundesminister Blüm ernsthaft um den Ehrentitel des obersten Papiertigers der Unionsfraktion konkurrieren.
Die Diskussion um die Lohnnebenkosten ist eigentümlich genug. In den vergangenen Jahren ist von Sprechern der Regierungsfraktionen in diesem Haus geradezu gebetsmühlenhaft vorgetragen worden, die Lohnnebenkosten in Deutschland bedrohten ernsthaft die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmungen. War das alles nur hohle Propaganda? frage ich angesichts der Tatsache, daß der vorliegende Gesetzentwurf die Lohnnebenkosten nun allerdings massiv ansteigen läßt. Richtig und zu kritisieren ist, daß der Gesetzentwurf im Gegensatz zu kapitalintensiven Betrieben vor allem lohn-, also beschäftigungsintensive Klein- und Mittelbetriebe belastet,
({15})
von deren Investitionsbereitschaft der Abbau der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern entscheidend mit abhängt.
Nicht zuletzt und gerade von den Regierungsfraktionen ist in der Vergangenheit immer wieder ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Lohnnebenkosten und der Ausweitung der Schwarzarbeit hergestellt worden.
({16})
Ich fahre fort; Herr Kollege Geißler, lassen Sie den Redner ausreden! Wenn der Präsident es nicht tut, verwarne ich Sie hier und geben Ihnen eine Gelbe Karte; ich will hier ausreden können.
({17})
Sollte dieser Hinweis auf den Zusammenhang zwischen erhöhten Lohnnebenkosten und Schwarzarbeit ernstgemeint gewesen sein, darf sich Minister Blüm jetzt auch noch mit dem Titel eines Ehrenmeisters der Deutschen Schwarzarbeiterinnung schmücken.
({18})
- Herr Kollege Geißler, ich will zusammenfassen.
({19})
Gemessen an den großen Herausforderungen, welche die soziale Gestaltung der deutschen Einheit uns allen abverlangt, läßt sich Ihre bisherige Arbeit nur so kommentieren: Gewogen und zu leicht befunden.
({20})
Ich will Ihnen noch einen Satz zu Ihrer Forderung, ich möge etwas zurücknehmen, sagen,
({21})
Wenn ich Ihre Erklärungen nehme, Herr Kollege Geißler, die nun einige Jahre zurückliegen,
({22})
die Sie hier im Parlament und außerhalb des Parlaments gegen die deutsche Sozialdemokratie vorgetragen haben, dann bin ich, was die Schwere dieser Vorhaltungen anbelangt, Ihnen gegenüber geradezu ein harmloser Waisenknabe.
({23})
Herr Abgeordneter Schreiner, wenn es richtig ist, daß das Protokoll bestätigen sollte, daß Sie den Bundesarbeitsminister, den Abgeordneten Blüm, als „kleinen miesen Gauner" bezeichnet haben
({0})
- ich habe es nicht selbst hören können, weil ich hier beschäftigt war - , dann sage ich vorsorglich schon, daß das einen Ordnungsruf verdient hat. Ich werde das im Protokoll kontrollieren lassen.
({1})
Nun hat die Abgeordnete Frau Dr. Babel das Wort.
({2})
- Herr Abgeordneter Schreiner, vielleicht ist es Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß Frau Dr. Babel jetzt das Wort hat und nicht Sie.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst noch Ihnen, Herr Schreiner, zur Kenntnis: Der Gesetzentwurf wird parallel von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung eingebracht. Insofern war es korrekt, wenn der Herr Bun272
desminister ihn begründet hat. Die Eilbedürftigkeit liegt darin, daß wir ihn zum 1. April zum Gesetz werden lassen. Die SPD hat ja auch eine Anhörung beantragt, die wir nachher beschließen sollen. Ich denke, diese Vorwürfe waren zumindest unbegründet. Es waren aber nicht die einzigen unbegründeten Vorwürfe in Ihrer Rede.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf zur Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung und zur Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung enthält zwei Sachverhalte, die unabhängig voneinander und jeweils für sich zu begründen sind,
({1})
wenngleich sie sich für den Beitragszahler in eine - wenn auch gebremste - Mehrbelastung zusammenrechnen.
({2})
Lassen Sie mich mit der guten Nachricht beginnen, nämlich der Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung. Ohne die vorgesehenen Änderungen stiegen die Reserven Ende 1991 auf 43 Milliarden DM und Ende 1994 auf 69 Milliarden DM. Damit würde die Schwankungsreserve die gesetzlich vorgesehene Höhe von mindestens einem Monatsbedarf um das Vierfache übersteigen.
Es müßten also ohnehin in Ausführung des Rentenreformgesetzes die Beiträge gesenkt werden, damit den Beitragszahlern die gute Kassenlage zugute kommt;
({3})
eine kluge Bestimmung, wenn man die Versuchung bedenkt, die eine so große Finanzsumme auf Politiker im allgemeinen und einen hungrigen Finanzminister im besonderen ausüben muß.
Die FDP begrüßt in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß die Defizite der Knappschaftversicherung vom Bund nicht auf die Rentenversicherung abgewälzt wurden und daß sich unser Wunsch erfüllt hat, die Neuzugänge der Art.-17-Betriebe aus der Zwangsmitgliedschaft herauszunehmen. Noch glücklicher wären wir, wenn auch das Problem der nicht bergmännisch Beschäftigten hätte gelöst werden können.
({4})
Meine Damen und Herren, die gute Finanzlage der Rentenversicherung ist Ergebnis eines gesunden Arbeitsmarktes mit hohen Beschäftigungszahlen in der alten Bundesrepublik,
({5})
- Ergebnis einer guten Politik und einer außerordentlich dynamischen Wirtschaftssituation.
({6})
So können wir 1992 die Übernahme und volle finanzielle Einbindung der Rentenversicherung der ehemaligen DDR in unsere Rentenversicherung vornehmen. Wie immer sich die Lage dann entwickelt, zum jetzigen Zeitpunkt bleibt die Senkung der Beiträge ordnungspolitisch und finanzpolitisch richtig.
Nun zum zweiten Sachverhalt - das ist die betrübliche Nachricht - , der Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozentpunkte im Jahre 1991 - umgerechnet auf das Jahr sind das 2 Prozentpunkte - und um 2 Prozentpunkte im Jahre 1992. - Ich will zugeben, daß wir Freien Demokraten uns hier schwertun. Beitragsstabilität - das hat mein Kollege Cronenberg schon am 1. März 1985 gesagt - hat für uns einen ebenso hohen Stellenwert wie das Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, meine Damen und Herren. Aber es gilt, sich die augenblickliche Lage zu vergegenwärtigen. Die besondere Situation, in der wir uns politisch und wirtschaftlich befinden, rechtfertigt auch Maßnahmen, die unter anderen Zeitläufen nicht zu ergreifen wären.
Meine Damen und Herren, es gibt heute eine einheitliche deutsche Arbeitslosenversicherung. Dies bedeutet, daß kommende, sicherlich auch noch wachsende Belastungen grundsätzlich auch in einem solchen beitragsfinanzierten speziellen Sicherungssystem zu bewältigen sind.
Wir erleben den Zusammenbruch einer planwirtschaftlichen Ordnung, und zwar einer Ordnung von ausgemachten Planungsgigantomanen. Die Dimensionen werden Ihnen deutlich, wenn Sie sich einmal folgendes vergegenwärtigen: In einer mittleren Industriestadt wie Eisenhüttenstadt - das hat mir ein Kollege aus Brandenburg mitgeteilt - mit 52 000 Einwohnern gibt es 10 000 Arbeitsplätze in einem einzigen Kombinat, der EKO Stahl AG. Davon sind 2 000 heute schon abgeschafft, 5 000 sind bedroht. Das heißt, daß in dieser Stadt im Grunde zwei Drittel aller Einwohner von der Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Meine Damen und Herren, das sind die Dimensionen eines Problems in einem Gemeinwesen. Hier müssen Prozesse einer umfassenden Umstrukturierung und Umschulung in einem solchen Ausmaß eingeleitet werden, wie wir es noch nie gehabt haben.
({7})
In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich, daß bei Umschulung und Qualifizierung Frauen besonders bedacht werden sollen
({8})
und daß wir nicht - was ja ein bißchen verführerisch wäre - nach dem Schema verfahren: In Zeiten der Not reicht es, erst einmal einen Ernährer zu qualifizieren, und das ist naturgemäß der Mann.
({9})
Meine Damen und Herren, wichtig ist, daß in der Debatte um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht nur die düstere Lage im Osten zur Sprache kommt, die diese Anhebung sicherlich verursacht,
({10})
sondern daß auch das Prinzip Hoffnung aufleuchtet. Dieses Prinzip verlangt nicht nur, daß wir Anreize für Unternehmer bieten, zu investieren und dort drüben Betriebe zu gründen, nicht nur, daß alles getan wird, um Arbeitsplätze zu erhalten, sondern es verlangt auch, daß wir ganz konzentriert Arbeitnehmer ermutigen, schulen, qualifizieren. Ziel ist der gesunde, lebendige Arbeitsmarkt im Osten unseres Landes.
Dafür die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung anzuheben heißt, der historischen Situation Rechnung zu tragen. Die Anhebung ist notwendig, um die Eckwerte der Verschuldung einhalten zu können
({11})
und sie ist auch währungspolitisch vertretbar, wenn man die vorsichtigen Äußerungen der Bundesbank richtig deutet.
Im Dezemberbericht wird darauf hingewiesen, daß die Anhebung des Beitragssatzes der Bundesanstalt deren Finanzlücken und damit den Bedarf an Bundeszuschüssen verringern wird. Dieser Hinweis, verbunden mit der Forderung, daß staatliche Defizite vermindert werden müssen, spricht dafür, daß die Währungshüter den eingeschlagenen Weg zumindest für vertretbar halten, meine Damen und Herren.
Nun zur Opposition. - Es reicht nicht, wenn man mit Schaum vor dem Mund hier redet.
({12})
Wir haben nur Kritik, aber kaum einleuchtende Alternativen gehört.
({13})
Bei der Rentenversicherung, meine Damen und Herren, folgen wir Ihrem Vorschlag aus dem Jahre 1990.
({14})
Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft erklärt sich z. B. in einer Presseverlautbarung vom 7. Januar bereit,
auf höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung mit niedrigeren Beiträgen zur Rentenversicherung zu reagieren.
Nehmen Sie sich das zu Herzen!
({15})
Nun laufen Sie Sturm gegen diese Vorschläge. Sie vermissen Sonderopfer bei Beamten, und Sie fordern die Arbeitsmarktabgabe für Selbständige und Freiberufler. Sie verkaufen diese alten, muffigen Hüte als Dernier cri.
Bei den Tarifverhandlungen werden wir die Veränderung der Beiträge berücksichtigen. - Dies zum Kreis der Beamten.
({16})
Aber von Freiberuflern und Selbständigen erhoffen
wir uns Impulse für den Arbeitsmarkt. Es wäre falsch,
diese jetzt mit einer Abgabe zu belasten, der keine Leistungsansprüche gegenüberstehen.
({17})
Meine Damen und Herren, zusammenfassend will ich sagen: Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf macht deutlich, daß die Kosten der Einheit nicht aus der Westentasche zu bezahlen sind. Die FDP hat das niemals behauptet. Wir haben auch vor der Wahl darauf hingewiesen, daß es zu solchen Anhebungen bei der Arbeitslosenversicherung kommen kann. Die FDP hofft aber, daß diese Belastung des Beitragszahlers zeitlich begrenzt bleibt. Ich hoffe in dieser Legislaturperiode auf den Augenblick, in dem ich die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ankündigen und hier begründen kann.
Vielen Dank.
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordneten Frau von Renesse das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin neu im Bundestag. Deswegen ist mir vielleicht auch noch ein bißchen die Faszination und Verblüffung über das, was ich gerade gehört habe, möglich.
Da wird also dieses gesamte Gesetzesvorhaben, über das wir heute zu debattieren haben, unabhängig voneinander als eine gute und eine schlechte Nachricht dargestellt. Nur, die gute Nachricht ist leider nicht so gut, wie die schlechte schlecht ist. Soweit ich das beurteilen kann - ich habe zwar nicht die Erfahrung ausgefuchster Sozialpolitiker, sondern nur die einer Richterin, die noch bis vor kurzem Rechtsuchenden ins Auge geguckt hat - und soweit ich Leute kenne, denen man so etwas erklären soll, wird denen nur die Erkenntnis übrigbleiben, daß die Sozialversicherung insgesamt teurer wird.
Warum wird sie teurer? Auf der einen Seite wird also gesagt - das ist richtig - : Die Rentenversicherung schwimmt im Geld, sie kann etwas zurückgeben, hurra! Aber auf der anderen Seite wird gesagt: Da steht das sittliche Gebot der Solidarität.
Nun habe ich in den vergangenen Debatten auch viel davon gehört, daß das, was man hier bei Arbeitnehmern unterhalb der Bemessungshöchstgrenze als Solidarität bezeichnet, kein Sozialneid ist, wenn ein Mann mit einem Monatseinkommen von 1 500 DM den Mann mit 2 800 DM Monatseinkommen betrachtet, sondern nur dann, wenn jemand mit einem Monatseinkommen von 2 800 DM denjenigen betrachtet, der 7 800 DM Monatseinkommen hat. Ich möchte einmal diese Begriffe geklärt haben. Denn ich weiß gar nicht, wie ich eine solche Darstellung anderen Leuten überhaupt erklären soll.
Der Vergleich mit dem Winkeladvokaten erscheint mir auch beruflich sehr naheliegend. Das ist so, als wenn jemand seinem Mandanten sagt: 500 DM habe
ich aus deinem Schuldner herausgeholt, aber meine Gebührenrechnung beträgt 3 000 DM.
({0})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Bläss.
Meine Damen und Herren! Die Fraktion der PDS/Linke Liste lehnt den von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Bundesanstalt für Arbeit ab.
({0})
Ich möchte dies im folgenden kurz begründen.
Wir werden den Eindruck nicht los: Die Koalition konnte bei den Wahlen großspurig versprechen, auch künftig auf Steuererhöhungen zu verzichten, weil sie bereits ein System ausgeklügelt hatte, wie den Bürgerinnen und Bürgern über die Sozialversicherung direkt und indirekt tiefer in die Tasche gegriffen wird. So sehr wir dafür sind, füreinander einzustehen, so entschieden wenden wir uns dagegen, daß mit dem Gebot der Solidarität allein die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Kasse gebeten werden, um die zu erwartenden Löcher in der Arbeitslosenversicherung zu stopfen. Sie sollen in diesem Jahr schon 18,5 Milliarden DM mehr aufbringen, um die Folgen der Arbeitslosigkeit insbesondere in den fünf neuen Bundesländern sozial abzufedern. Für 1992 sind sogar 23 Milliarden DM an Mehreinnahmen in Aussicht gestellt.
Die Bundesregierung begründet ihre Maßnahme damit, daß Defizite dort gedeckt werden müssen, wo sie entstehen. Wir könnten uns dagegen ein Finanzierungskonzept vorstellen, das bei denjenigen Geld abschöpft, die die Arbeitslosigkeit in diesem Land zu verantworten haben.
({1})
Nehmen Sie die Wirtschaft in die Pflicht! Bitten Sie die Anschlußgewinner zur Kasse!
Es kann überhaupt kein Trost sein, wenn die Bundesregierung in Aussicht stellt, ab 1. Januar 1992 den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um 0,5 abzusenken, und für die nächsten Jahre weitere Senkungen verspricht. Unsere Skepsis begründet sich allein schon daraus, daß die Bundesregierung selbst Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung signalisiert, wenn sie sagt, eine mittelfristige Finanzplanung sei nicht möglich, da noch nicht übersehbar sei, welche Beitragssenkungen durch die zu erwartende bessere Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt möglich würden. Das ist also ein Konzept mit mehreren Unbekannten.
Wie kommen Sie eigentlich zu der Annahme, daß sich die Arbeitsmarktlage in den kommenden Jahren verbessern wird? - Es ist doch wohl unbestritten, daß in den Altbundesländern selbst in der Phase der höchsten wirtschaftlichen Prosperität ein Sockel von 2 Millionen Arbeitslosen nicht abgebaut werden konnte.
Selbst wenn Unerwartetes eintreten sollte, hätte die Bundesanstalt für Arbeit ausreichende finanzielle Ausgaben; denn es ist doch wohl ebenso unbestritten, daß das heutige Leistungssystem bei Arbeitslosigkeit eklatante Mängel aufweist: Die durchschnittliche Unterstützung bei Arbeitslosigkeit liegt in den alten Bundesländern bei knapp über 1 000 DM und bei Arbeitslosenhilfe bei 840 DM.
Über die Hälfte der Arbeitslosen liegt allerdings bei einem monatlichen Einkommen von unter 1 000 DM. Der überwiegende Teil von Frauen erhält weniger als 800 DM. Die Einkommensdiskriminierung von Frauen erweitert sich also automatisch in die Sozialversicherung hinein.
Schon heute kann das Leistungssystem der Bundesanstalt für Arbeit ein Abrutschen in die materielle Not nicht verhindern. Unter anderem wegen der undemokratischen Bedürftigkeitsprüfung bleiben 34 % der Arbeitslosen ohne jegliche Unterstützung. Die Folge ist die wachsende Sozialhilfebedürftigkeit.
Angesichts dieser Problematik halten wir es erstens für völlig unwahrscheinlich, daß die geplante Beitragserhöhung in den nächsten Jahren zurückgenommen werden kann, und zweitens finden wir es falsch, daß die von der Bundesregierung verursachten Probleme der Solidargemeinschaft allein denjenigen, die noch Arbeit haben, aufgebürdet werden. Wir erwarten, daß die Bundesregierung ihrerseits einen Beitrag zur Lösung der durch die Arbeitslosigkeit entstandenen Not leistet, insbesondere in den fünf neuen Bundesländern.
Die 2,5 %ige Beitragserhöhung für die Arbeitslosenversicherung enthält ein weiteres Problem: -
Frau Abgeordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Nein, jetzt nicht; ich mache weiter.
Was die Erhöhung der Lohnnebenkosten angeht, so hört man schon Kritik der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die nicht lange warten werden, die erhöhten Kosten auf die Preise abzuwälzen; eine Spirale, an deren Ende der Schwarze Peter immer bei den Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen bzw. den Konsumenten und Konsumentinnen landet.
Die zum Ausgleich angebotene Senkung des Rentenversicherungsbeitrages betrachten wir lediglich als eine Verschiebung der Problemlage; denn es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis auch hier die Kassen leer sind. Dies gesteht selbst der Minister ein, wenn er eine Wiederanhebung in zwei Jahren für wahrscheinlich hält.
Die Finanzierung der Arbeitslosigkeit zu Lasten der Rentenkassen ist keine Lösung, sondern lediglich eine notdürftige Verschleierung der drohenden Probleme.
Für uns wird insgesamt das Bestreben der Koalition immer deutlicher, die Gewinne der Einheit Deutschlands bei den Großunternehmen, Banken und VerFrau Bläss
sicherungen zu privatisieren, die Kosten auf breite Kreise der Bevölkerung abzuwälzen
({0})
und letztlich die eingesparten Mittel aus dem Bundeshaushalt im Golfkrieg zu verpulvern.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Grafen Lambsdorff das Wort.
Herr Präsident! Wir möchten den Vorschlag der Rednerin der PDS unterstützen. Sie hat eben gesagt, daß diejenigen die Arbeitslosigkeit finanzieren sollen, die sie verschulden. Ich empfehle, daß die PDS das von der SED ererbte Vermögen dafür zur Verfügung stellt.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Fuchtel.
Fuchtel ({0})): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf den Kollegen Schreiner zurückkommen. Was Sie gesagt haben, war zunächst einmal nur die böse Formel vom Wortbruch. Erstens stimmt das nicht, zweitens ist es nicht in die Zukunft führend.
Wenn Sie, lieber Kollege Schreiner, diese Ausführungen über den Kollegen Blüm nicht zurücknehmen,
({1})
dann sage ich Ihnen, daß die Arbeit im Sozialausschuß sehr schwer wird,
({2})
weil wir dann eben nicht die menschliche Basis finden, um die schwierige Aufgabe zu meistern, die wir miteinander erledigen müssen.
({3})
Ich habe gestern dem Kollegen Dreßler sehr genau zugehört; heute finde ich das in Ihrer Rede genauso wieder: Sie reden zwar von Solidarität mit den neuen fünf Bundesländern, aber wenn es darum geht, daß man etwas teilen muß, lehnen Sie das bisher von vornherein ab. Diese Haltung müssen Sie aufgeben oder ändern, damit wir hier zusammenkommen.
({4})
- Ich lasse mich jetzt einmal nicht auf Zwischenfragen ein; sonst sitzen wir heute abend noch hier. Wir können das in der zweiten und dritten Beratung noch sehr ausführlich miteinander besprechen.
Meine Damen und Herren, wer so an die Schaffung gleicher Lebensbedingungen herangehen will, wird diese große Aufgabe nicht meistern, und wir müssen sie meistern.
({5})
Es gibt keine sozialpolitische Rede der SPD - ich verfolge das seit vier Jahren - , in der das Wort „abkassieren" nicht im Mittelpunkt steht. Aber wenn Sie jetzt schon wieder die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung so kritisieren, sollten Sie zumindest - das empfände ich als fair - die positiven Entwicklungen in diesem Lande genauso würdigen.
({6})
Erstes Beispiel: Die Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung, die ja von Ihnen selbst vorgeschlagen wurde, ist wohl nur möglich, weil die Gesamtentwicklung günstiger verläuft, als wir alle glaubten. Nur auf diese Weise ist das möglich geworden. Den Rentnern wird dadurch überhaupt nichts weggenommen.
({7}) Tun Sie nicht so, als wenn das der Fall wäre!
Das zweite Beispiel: Ohne Gesundheitsreform lägen die Beiträge heute bei 14 %.
({8})
Wir haben sie stabilisiert und den Satz sogar um 0,7 Prozentpunkte abgesenkt.
({9})
Allein die Differenz zwischen den Beiträgen ohne Gesundheitsreform und den Beiträgen, wie wir sie jetzt haben, liegt in etwa in der Größenordnung, um die wir uns hier jetzt streiten, um die wir diskutieren,
({10})
wobei Sie wieder die alten Neidparolen hervorholen, die Sie schon damals ausgepackt haben.
({11})
- Der begreift nicht einmal die Zusammenhänge. Was ich hier an politischem Sachverstand erleben muß, ist schon furchtbar.
Drittes Beispiel: Als Sie 1969 an die Regierung kamen, betrug der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung 1,3 %. Als Sie gingen, waren es 4 %. Wenn Sie drangeblieben wären, hätten Sie die 61)/0 bestimmt erreicht - ohne diese Herausforderungen, denen wir uns jetzt stellen müssen.
({12})
Viertes Beispiel: Im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit geht es den Bürgern unter der Regierung Kohl nicht schlechter, sondern immer besser. Die durchschnittlichen Nettozuwächse wurden vorhin genannt. Die vorgesehenen Beitragserhöhungen für die Arbeitslosenversicherung bewegen sich in der Größenordnung von 20 DM. Was sollen bei dieser Sachlage die Arbeitslosen in den fünf neuen Bundesländern eigentlich von einer Politik denken, die sich den Finanzierungsnotwendigkeiten auf sozialpolitischem Gebiet, im Versicherungsbereich, konsequent entzie276
Fuchtel
hen will? - Das geht doch nicht, meine Damen und Herren!
({13})
Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ist doch wohl die vorrangigste sozialpolitische Aufgabe. Wenn für die Förderung der beruflichen Weiterbildung und für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fast 10 Milliarden DM eingesetzt werden, so ist dies doch der richtige Weg.
Die Finanzierung über die Arbeitslosenversicherung ist dabei um vieles sachgerechter als etwa die über Steuererhöhungen. Dafür sprechen schon die Flexibilität und die bisherigen Erfahrungen. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung können je nach Situation angepaßt werden, und das ist immer auch geschehen. Sie gingen in der Vergangenheit mal etwas herauf, mal etwas herunter. Bei steuerlichen Lösungen dagegen haben wir alle miteinander doch erlebt, daß es dann, wenn die Steuer einmal erhöht war, sehr schwierig war, die Steuer wieder zu senken.
({14})
- Wir haben das getan. Deswegen müssen wir auch noch lange in der Regierung bleiben, damit es nicht anders wird!
({15})
Die Arbeitslosenversicherung trifft systembedingt Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Ich habe auch das vorhin nicht gehört. Sie haben zwar von Verteilung von unten nach oben gesprochen, aber Sie haben nicht gesagt, daß daran die Arbeitgeber genauso beteiligt sind.
({16})
Deswegen trägt ihre Formel von der Verteilung von unten nach oben in dieser Sache überhaupt nicht.
({17}) In einem gebe ich Ihnen recht.
({18})
- Sie können ja nachher mit Kurzinterventionen und ähnlichem arbeiten; ich möchte jetzt, daß wir ein Ende der Debatte finden; wir haben nachher noch eine Ausschußsitzung - : Natürlich müssen wir auf die Solidarität achten. Wenn die Arbeitnehmer beteiligt werden, dann - das haben wir aber schon mehrmals gesagt - müssen selbstverständlich auch die Beamten einbezogen werden. Ich möchte auf die Koalitionsvereinbarung hinweisen, in der ganz deutlich zum Ausdruck kommt, daß eine Veränderung der Beiträge in der nächsten Besoldungsrunde auch bei den Beamteneinkommen entsprechend berücksichtigt werden muß.
Bleiben noch die Selbständigen und die Freiberufler. Aber war unsere Argumentation nicht immer so, daß wir bei der Festlegung von Freibeträgen für deren soziale Absicherung immer auch darauf hingewiesen haben, daß sie eben z. B. keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlen und deswegen ihre Wünsche auf Festlegung von solchen Freibeträgen nicht so erfüllt werden können, wie sie das immer wollten? Auch in dieser Richtung hat man also die Augen geöffnet und offengehalten.
Wenn Sie dies alles nicht akzeptieren, möchte ich von Ihnen einmal die Alternativen erfahren. Jede steuerliche Regelung wird in der jetzigen Situation dazu führen, daß auch auf allen anderen Gebieten ein finanzieller Bedarf angemeldet werden wird. Denken Sie daran, daß die Ergänzungsabgabe - das ist doch ein Wunschkind von Ihnen - bei einer Höhe von 10 % ganze 13 Milliarden DM bringen würde. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 % würde ganze 10 Milliarden DM bringen. Was, meinen Sie, bliebe dann für die Arbeitslosenproblematik übrig? Es würde weitaus weniger übrigbleiben, als wenn wir hier eine Regelung treffen, die ganz speziell die Arbeitsmarktsituation im Blick hat und versicherungsrechtlich abgesichert ist.
({19})
Unsere Erfahrungen seit 1982 beweisen im übrigen, daß niedrige Steuersätze die Wirtschaft blühen lassen und durch Wachstum die Steuerquellen sprudeln.
({20})
Durch höhere Lohn- und Einkommensteuer würden Leistungen, Investitions- und Innovationsbereitschaft geschwächt werden. Diese brauchen wir doch gerade in der heutigen Zeit.
Zur Ergänzungsabgabe hat sich vor kurzem Karl Schiller geäußert. Er hat gesagt, sie würde gerade diejenigen treffen, die aufgerufen sind, jetzt in den neuen Bundesländern kräftig zu investieren.
Meine Damen und Herren, wo zeigen sich die Alternativen zu unserem Programm? Sie werden hier sehr dünn auf der Matte stehen. Sie können nicht immer wieder die gleichen Steuerabgaben hier vorbringen; denn man kann das Geld nur einmal ausgeben.
Eine Mehrwertsteuererhöhung - eine andere Lösung ({21})
würde gerade den kleinen Mann und die Familie mit Kindern treffen. Auch das können wir in der jetzigen Situation für diesen Zweck natürlich nicht brauchen.
Deswegen ist es der richtige Weg, durch eine maßvolle Erhöhung der Beiträge in der Arbeitslosenversicherung und Parallelmaßnahmen bei den Beamten die notwendige Finanzierungsgrundlage zu schaffen, um mit einem mutigen und ideenreichen Konzept offensiver Arbeitsmarktpolitik einen wirksamen Beitrag zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern zu erbringen.
({22})
Meine Damen und Herren, die Kurzinterventionen haben zu einer beachtlichen und wünschenswerten Belebung der Debatte geführt. Ich habe nun zwei weitere Wortmeldungen vorliegen und beabsichtige, auch in diesen beiden Fällen das Wort zu einer Kurzintervention zu erteilen.
Der Präsident kann - er muß aber nicht - von diesem Instrument Gebrauch machen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir die vorgesehene Debattenzeit schon um anderthalb Stunden überschritten haben. Das voraussichtliche Ende dieser Sitzung liegt nun bei 15.30 Uhr.
Auch im Interesse der Arbeitnehmer dieses Hauses und der Kolleginnen und Kollegen, die nach Hause wollen, bitte ich, von dem Instrument der Kurzintervention sparsam Gebrauch zu machen.
Unter Berücksichtigung dieser Vorbemerkung erteile ich dem Abgeordneten Schreiner zu einer kurzen Kurzintervention das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich will sie auf zwei Bemerkungen beschränken.
Nachdem der Kollege Fuchtel mir eben vorgehalten hat, ich hätte nichts zu den Arbeitgeberbeiträgen gesagt, möchte ich ihn nur darauf hinweisen, daß ich fast zwei Minuten von den gestiegenen Lohnnebenkosten gesprochen habe, die vor allen Dingen in den beschäftigungs- und damit lohnintensiven klein- und mittelständischen Betrieben zu Buche schlagen werden, sich aber nicht bei den kapitalintensiven Betrieben bemerkbar machen werden. Unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten ist das nicht gerade das, was man sich wünscht.
Die zweite Bemerkung. Da Sie nochmals nach den Alternativen gefragt haben, sage ich Ihnen in einem einzigen Satz: Unsere Alternative besteht im Kern darin, daß wir sagen: Die Besserverdienenden, die mit den breiteren Schultern, müssen stärker herangezogen werden als die Schwächeren. Sie betreiben das genaue Gegenteil; das ist die Hauptkritik.
({0})
Bei der Abgeordneten Frau Dr. Höll möchte ich mich bedanken, daß mein Appell angekommen ist. So kann ich jetzt der Abgeordneten Frau Schenk das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch eingedenk des eben an uns ergangenen Appells möchte ich mich mit meiner Rede zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Bundesanstalt für Arbeit kurzfassen.
Bei der Vereinigungsfeier am 3. Oktober in der Philharmonie sagt der Bundespräsident, wir müßten lernen zu teilen. Der Bundeskanzler redet von Solidarität, vom sozialen Dialog und von ähnlich schönen Dingen. Offensichtlich sind aber mit denen, die teilen
oder sich solidarisieren sollen, immer nur ganz bestimmte Leute gemeint.
({0})
Die Besserverdienenden, deren Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze von über 6 500 DM liegt, sind damit nicht gemeint, die Beamten auch nicht, die Freiberufler nicht, die Selbständigen nicht und die Unternehmer schon gar nicht. Die sollen investieren und Gewinne einstecken; dafür bekommen sie hohe Steuergeschenke.
Wer soll sich also solidarisieren? Die pflichtversicherten Lohnabhängigen. Die sollen sich solidarisieren, indem sie freudig zur Kenntnis nehmen, daß ihre Lohnabzüge in Zukunft um 1,5 bzw. um 1,0 Prozentpunkte steigen werden. Die Kriegsteuer, die demnächst noch hinzukommt, kann dann nur noch zu Jubelschreien hinreißen.
Bei der Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung handelt es sich um nichts anderes als um eine verschleierte Steuererhöhung, nur mit dem einzigen Unterschied, daß die Steuererhöhung alle, die Beitragserhöhung aber nur die pflichtversicherten Lohnabhängigen trifft. Wir lehnen diese Vorgehensweise grundsätzlich ab.
Das Trostpflästerchen, das Sie für die Erhöhung der Arbeitslosenversicherung um 2,5 Prozentpunkte anbieten, die Herabsetzung des Beitrages zur Rentenversicherung, halten wir für fatal. Das wird dazu führen, daß die Rücklage, die die Beitragszahlerinnen und -zahlen mit ihren Beiträgen gebildet haben, schneller verbraucht wird und es in Kürze wieder eine Beitragserhöhung geben wird.
Manche Leute in diesem Hause sagen, die Regierung habe kein Konzept. Ich sage Ihnen: Sie hat eines, und dies wird durch die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ganz deutlich. Das Konzept heißt: Wer hat, dem wird gegeben, und zahlen sollen es die, die sich nicht direkt dagegen wehren können.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Andres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Redner der Koalition können hier vortragen, was sie wollen, die öffentliche Kommentarlage ist sehr eindeutig. Egal, welches Organ man sich ansieht, quer durch die Medien wird der sozialpolitische Verschiebebahnhof, den wir hier in erster Lesung beraten, verrissen.
({0})
Die „Zeit", bestimmt kein Gewerkschaftsorgan, schrieb am 18. Januar 1991 - ich zitiere - : „Bei den Bonner Sparbeschlüssen fehlt es an der sozialen Ausgewogenheit. Die alte Lobby setzt sich wieder durch".
Ich denke, wenn man sich die Reden hier auf der Zunge zergehen läßt, vom Kollegen Blüm, gestern abend vom Kollegen Scharrenbroich, kann man hier diskutieren, was man will: Das Gesetz, das wir hier beraten, regelt einen Großteil von Lastenverteilung nur zu Lasten einer ganz bestimmten Gruppe in unserer Gesellschaft.
({1})
Ich möchte eine Zwischenfrage vom Kollegen Gibtner beantworten. Ich habe im Handbuch nachgesehen: es ist ein Kollege aus den neuen Bundesländern, und ich sage das auch mit Blick auf die Menschen in den neuen Bundesländern. Wir streiten hier nicht darum, ob den Menschen in den neuen Bundesländern mit einer verheerenden Arbeitsmarktsituation geholfen werden soll oder nicht. Wir sind dafür, daß ihnen geholfen wird. Wir streiten darum, mit welchen Instrumenten wir das tun, und wir streiten darum, wer dafür die Rechnung zu zahlen hat. Was hier vorgelegt wird, halten wir für zutiefst sozial ungerecht, und wir halten dies für eine soziale Schieflage, die mit massivem Wortbruch verbunden ist, mit Aussagen vor der Bundestagswahl und mit dem, was die Koalitionsvereinbarung danach gebracht hat.
Ein zweiter Punkt. Ich muß sagen: Wer in Betrieben in den neuen Bundesländern unterwegs ist, wer damit befaßt ist, der sieht, daß die Beschäftigungslage in den neuen Bundesländern verheerend ist. Ich will hinzufügen: Auch bei uns in den alten Bundesländern ist es trotz Vollbeschäftigungssituation nicht so, daß wir über alle Fragen des Arbeitsmarktes glücklich sein können. Ich denke, wir sind bei dieser Entwicklung noch nicht am Ende. Die Beschäftigungslage wird in den neuen Bundesländern noch viel dramatischer werden, und das ist der eigentliche Hintergrund für das, was wir hier heute beraten.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat im Oktober eine Anhörung durchgeführt. Bereits in dieser Anhörung war für die beteiligten Fachleute völlig klar, daß auf Grund der dramatischen Arbeitsmarktentwicklung in den neuen Bundesländern die Bundesanstalt ein Defizit von mindestens 25 bis 30 Milliarden DM haben wird. Der Dreh- und Angelpunkt, mit dem wir uns hier bei dieser Debatte beschäftigen, ist, ob sich der Bund über Gesetzgebungsmaßnahmen sozusagen aus bestimmten Verpflichtungen verabschiedet oder ob er das nicht tut. 25 bis 30 Milliarden DM, da paßt es ganz gut, daß man zumindest für dieses Jahr mit einer Erhöhung von 2,5 Prozentpunkten rund 20,5 Milliarden DM über Beitragserhöhungen bei der Bundesanstalt für Arbeit hereinholt. Alle Kommentatoren - damit komme ich auf die Ausgangslage zurück - sagen: Es kann doch eigentlich nicht wahr sein, daß für eine Folgeproblematik, die sich aus der deutschen Einheit ergibt, nämlich für die Beseitigung von Strukturverwerfungen, die sich nicht aus der Systematik der Sozialversicherung ergeben, sondern aus der politischen Entscheidung für die deutsche Einheit, nur ein bestimmter Teil unserer Gesellschaft zur Kasse gebeten wird.
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Alle Kommentierungen sprechen davon, daß diejenigen, die keinen Beitrag an die Bundesanstalt für Arbeit zahlen müssen, aus diesem Problemkreis ausgegrenzt sind. Dies ist, meine sehr verehrten Damen und Herren - da können Sie hier reden, was Sie wollen - , sozial zutiefst ungerecht.
({3})
Ich füge ausdrücklich hinzu: Wenn man manche Reden hört und mitverfolgt, wie Nebel geworfen wird, wird man sehr traurig, vor allem diejenigen, die die Hintergründe kennen und die Problematik mit Sachverstand verfolgen.
Als geradezu tragikomisch empfand ich gestern die Rede des Kollegen Scharrenbroich. Man war immer hin- und hergerissen, ob man lachen oder Mitleid haben sollte. Ich persönlich meine, es gehört schon eine gewisse Portion Masochismus dazu,
({4})
die Maßnahmen der Bundesregierung so zu begründen, wie der Kollege Scharrenbroich das getan hat. Herr Kollege Fuchtel kam mit derselben Melodie.
Herr Scharrenbroich sagte: Es geht doch nur um 27 DM; was hätte man statt dessen tun sollen? Ich will daran erinnern: Mit dem Steuerreformgesetz 1990 verzichtete der Staat auf Einnahmen in Höhe von ca. 20 Milliarden DM. Diese sogenannte Reform wurde von Kohl, Waigel und Blüm als Jahrhundertwerk gefeiert. Viele Gesetze werden ja als Jahrhundertwerk bezeichnet. Wenn man sich anhört, was die Redner der Koalition alles als „Jahrhundertwerk" abfeiern, dann kann man wirklich Lachkrämpfe bekommen.
({5})
Mehr als dieser Betrag wird mit den Erhöhungen des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung abkassiert, jedoch mit einem Unterschied: Die jetzige Aktion trifft die Arbeitnehmer mit Durchschnittseinkommen; von den Steuerentlastungen profitierten überwiegend die Spitzenverdiener. Man kann der Bundesregierung gratulieren: Nach dieser Melodie ist Ihnen wirklich wieder ein Jahrhundertwerk gelungen.
Ich will einen weiteren Punkt anführen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Es wird davon gesprochen, daß die Beitragssenkung in der Rentenversicherung nur die Folge einer Forderung der SPD sei.
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- Ich komme gleich darauf, warum ihr das ohne uns gemacht hättet.
Ich möchte eine andere Begründung als der Bundesarbeitsminister zitieren, und zwar ebenfalls vom Mai des vergangenen Jahres:
Die gute Konjunkturlage hat zu einer erfreulichen Vermögensentwicklung der gesetzlichen Rentenversicherung geführt. Das birgt aber auch eine große Gefahr: Bundesfinanzminister Waigel möchte in die Rentenkassen greifen und damit die notwendigen Maßnahmen der Anschubfinanzierung für die DDR bezahlen. Der CDU/CSUAbgeordnete Lintner hat diese Absicht am 27. April vor dem Deutschen Bundestag in aller
Offenheit bestätigt. Nach den Wahlniederlagen des vergangenen Wochenendes wurden Beruhigungstabletten verteilt. Wegen der Verschiebeaktion der letzten Jahre kann man sich darauf nicht verlassen.
Das war eine weise Vorhersage, daß man sich darauf nicht verlassen kann. Herr Bundesarbeitsminister, selbstverständlich ist es bei einer entsprechenden Rücklagensituation der Rentenversicherung ein angemessenes Mittel, mit Beitragssenkungen zu reagieren.
Herr Abgeordneter, ich entnehme Ihrer Geste, daß Sie bereit sind, eine Frage des Abgeordneten Dr. Blüm zu beantworten.
Darf ich den Gedanken zu Ende führen? Dann ist der Bundesarbeitsminister an der Reihe. Setzen Sie sich noch so lange, Herr Blüm. Ich will Sie nicht so lange stehenlassen. Wir haben ja noch einen Moment Zeit.
Das überlassen wir dem Abgeordneten Blüm.
Völlig klar ist allen Fachleuten, daß diese Beitragssenkung nur eine sehr kurzfristige sein kann und daß mögliche Unwägbarkeiten auf die Rentenversicherung zukommen, die mit vielerlei Dingen zu tun haben, beispielsweise mit der Zusammenführung ab 1992.
Es ist völlig klar: Es wird eine vorübergehende Angelegenheit sein. Das Ganze ist von Ihnen doch nur als kleines Trostpflaster gedacht, um sozusagen die 21/2 Prozentpunkte Erhöhung der Arbeitslosenversicherung nach der Melodie der Kollegin von der FDP verkleistern zu können.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie sind dran.
Herr Kollege, können Sie bestätigen, daß sich Ihr Verdacht, der Bundesfinanzminister würde in die Rentenkasse greifen, als völlig unbegründet erwiesen hat?
Herr Bundesarbeitsminister, das kann ich überhaupt nicht bestätigen. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle sagen: Unsere Beitragsabsenkung vom vergangenen Mai war mit ganz konkreten Belegen dahin gehend versehen, daß der Bundesfinanzminister die mit der Anschubfinanzierung zusammenhängenden Probleme - diese werden wir in der Folgezeit ja auch noch zu bewältigen haben - mit einem Griff in die Rentenkasse bewältigen wollte.
({0})
Ich rechne Ihnen die Zeit nicht an, Herr Abgeordneter Andres.
Danke schön.
Herr Abgeordneter Blüm, wenn der Abgeordnete Andres bereit ist zu antworten, dann selbstverständlich. Bitte schön!
Können Sie bestätigen, daß das Volumen der Anschubfinanzierung größer war als der akute Finanzbedarf der Rentenversicherung?
Das kann ich bestätigen, Herr Arbeitsminister. Das Problem, das sich zu der konkreten Situation ergeben hat, als wir diese Forderungen eingebracht haben, kann ich aber genauso bestätigen. Die kann man jetzt hier nicht wegdefinieren. Hierbei ist zu bedenken - darauf weisen alle Fachleute hin; ich möchte das an dieser Stelle noch einmal sagen -, daß die mit der jetzigen Absenkung verbundenen Probleme, die sich infolge des Zusammenschlusses ab 1992 ergeben können, und die langfristigen Finanzprobleme, die wir mit Hilfe einer gemeinsamen Rentenreformgesetzgebung zu lösen versucht haben, nach wie vor vor uns liegen. Die Größenordnung, um die wir die Beiträge jetzt absenken, wird für die Rentenversicherung in den Folgejahren - langfristig gesehen - durch den entsprechend höheren Anstieg aber wieder ausgeglichen werden - das wissen Sie genauso gut wie wir -, und zwar von den gleichen Leuten.
({0})
Ein letzter Punkt. - Herr Präsident, vielleicht können Sie mir sagen, wieviel Redezeit ich noch zur Verfügung habe.
Sie haben noch zwei Minuten, Herr Abgeordneter.
Ich habe noch zwei Minuten. Das ist eine ganz wunderbare Angelegenheit. - In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen letzten Punkt ansprechen. Mit der Beitragsmanipulation und ihren schlimmen Folgen sind die Eingriffe der Bundesregierung in die Rentenfinanzen noch nicht zu Ende. Entgegen den öffentlichen Beteuerungen ist das Thema der Verschiebung von Finanzlasten der knappschaftlichen Rentenversicherung vom Bundeshaushalt auf die Beitragszahler noch keinesfalls vom Tisch.
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Vereinbart wurde nämlich, daß die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ab 1993 einen sogenannten Wanderungsausgleich an die knappschaftlichen Rentenversicherung zusätzlich zahlen soll. Damit mindert sich das Defizit der Bundesknappschaft, das eigentlich aus dem Bundeshaushalt zu decken wäre. Im Klartext: Der Bund hat sich auf Kosten der Beitragszahler aus der Verantwortung für die besonders ungünstige Altersstruktur der knappschaftlichen Rentenversicherung entlastet.
({1})
Ich möchte eine Schlußbemerkung machen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Da scheint mir das eigentliche Kernproblem zu liegen.
({2})
Es hat eine Reihe von Vorschlägen zu der Frage gegeben, wie man mit diesem Problem fertigwerden könnte. Von den Gewerkschaften ist z. B. vorgeschlagen worden, eine Arbeitsmarktabgabe einzuführen,
weil damit eine weitaus größere Beteiligung von Menschen in dieser Republik erreicht werden könnte. Diesen Gedanken haben Sie aber nicht weiter verfolgt. Den Fragen des Kollegen Heyenn danach, wie hoch denn die Belastungen für die Arbeitnehmer seien und wie hoch die Belastungen für die Beamten sein würden, sind Sie, Herr Bundesarbeitsminister, ja wohlweislich ausgewichen.
In diesem Zusammenhang möchte ich der Kollegin von der FDP-Fraktion nur sagen: Es gibt keine Tarifverträge für Beamte. Der Kernpunkt, um den es hier gehen muß, meine sehr verehrten Damen und Herren - darüber werden wir in den nächsten Wochen und Monaten noch streiten - , ist die Frage, wie die Lasten, die sich aus der deutschen Einheit ergeben, in dieser Gesellschaft solidarisch verteilt werden können. Eines berührt mich ganz, ganz unangenehm. Ich muß sagen: Sie sitzen hier in einer Ecke, in die Sie sich selbst hineinmanövriert haben. Herr Lambsdorff sagt immer, es gebe keine Steuererhöhung und all diese Dinge. Sie sitzen in einer Falle, in die Sie sich selbst hineinmanövriert haben. Jetzt versuchen Sie, dieses Problem über Abgaben und Gebührenerhöhungen zu regeln. Was ich für besonders pikant halte - das muß ich Ihnen jetzt wirklich einmal sagen - , ist, daß man nun angesichts der absehbaren Belastung von momentan 8,5 Milliarden DM wegen der Golfkrise sofort nach Steuererhöhungen ruft, damit man sozusagen aus der selbst gestellten Falle herauskommt.
({3})
Diese riesigen Belastungen in Höhe von 130 Milliarden, 150 Milliarden, 200 Milliarden und mehr, vor denen wir auf Grund der deutschen Einheit nun stehen, haben Sie vor dem Wahlgang immer verniedlicht, verkleinert und wegdiskutiert. Jetzt aber kommen diese Probleme auf uns zu. Sie befinden sich nun in einer Situation, die Sie dazu bringt, Gebühren, Abgaben und Beiträge erhöhen zu müssen, nicht aber darüber nachzudenken, wie in unserer Gesellschaft die Kosten für die deutsche Einheit solidarisch getragen werden können. Das ist der eigentliche Skandal.
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Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich jetzt mehr als großzügig gewesen bin.
Herr Bundesarbeitsminister, einen Schlußsatz, auch was Ihre Rede gestern abend betrifft.
Ich muß sagen, nach alledem, was ich aus den Koalitionsvereinbarungen mitbekommen habe - ich nenne die Abtrennung des Gesundheitsbereichs und ähnliche Dinge mehr -, nach den Schauspielen, die Sie uns jetzt bieten, und nach diesem Gesetzentwurf sind Sie für mich, bevor überhaupt das Jahr richtig begonnen hat, schon Ende Januar der Absteiger des Jahres.
Sie sollten sich an Ihre eigenen Vorgaben halten. Sie haben von einem Schlußsatz gesprochen.
Sie kennen das aus dem Fußball; Sie haben ja einmal versucht, prominente Fußballer in NRW unterzubringen.
({0})
Ich halte das, was Sie hier in bezug auf Ihr gebrochenes Wort verantworten, für politisch unglaublich.
Schönen Dank.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sind nun am Schluß der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Mir liegt ein Teil des heutigen Protokolls vor. Die Formulierungskunst des Abgeordneten Schreiner gibt mir nicht die Möglichkeit, die zur Diskussion stehende Passage mit einem Ordnungsruf zu belegen. Aber ich möchte dem Hause nicht vorenthalten, Herr Abgeordneter Schreiner, daß ich den Sinn und die Absicht, die in dieser Formulierung für mich klar ersichtlich waren, für unfair und für meine Person für unakzeptabel halte.
({0})
- Das können wir hier nicht diskutieren.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/56 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Finanzausschuß und den Ausschuß für Wirtschaft sowie an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses für Arbeit und Soziales darauf aufmerksam machen, daß nach Beendigung der Debatte dort noch eine - hoffentlich kurze - Sitzung stattfindet.
Wir kommen nunmehr zum zweiten Zusatztagesordnungspunkt:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 12/57 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit
Auch hier ist eine Stunde Debattenzeit vereinbart worden. Ich hoffe, daß diese nicht so überschritten wird wie beim letzten Tagesordnungspunkt. Ich frage das Haus, ob es mit einer Stunde Debattenzeit einverstanden ist. - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann kann ich die Debatte eröffnen. Das Wort hat der Abgeordnete Jagoda.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sozialstaat Deutschland ist größer geworden. Neben der ständiJagoda
gen Aufgabe, ihn weiterzuentwickeln, genießt die Aufbauarbeit in den fünfeinhalb neuen Bundesländern größte Priorität. Um das Ziel eines gleichen Sozialniveaus rasch zu erreichen, brauchen wir neue, wirkungsvolle Instrumente, Kraft und Flexibilität. Wir müssen darauf achten, daß der schwierige Umstellungsprozeß nicht negativ berührt, sondern positiv gefördert wird. Eine Überforderung der Sozialsysteme wäre schon in der bisherigen Bundesrepublik Deutschland untragbar; in den neuen Bundesländern wäre sie tödlich.
Da die Krankenversicherung keinen Staatszuschuß kennt, sondern nur auf die Beitragseinnahmen angewiesen ist und der Beitragssatz mit 12,8 % im Jahre 1991 festgeschrieben wurde, muß ganz besonders die gesetzliche Krankenversicherung vor Überforderung geschützt werden. Deshalb wurde die Selbstverwaltung der GKV im Einigungsvertrag verpflichtet, unter Wahrung der Beitragsstabilität Gebühren, Preise und Vergütungen so auszuhandeln, daß eine Überforderung vermieden wird.
Meine Damen und Herren, für den Arzneimittelbereich haben die Krankenversicherungen kein Instrument. Die Herstellerabgabenpreise können frei gebildet werden. Diese werden nach der Apothekenpreisspannenverordnung über die Großhandels- und Apothekenaufschläge einschließlich der 14prozentigen Mehrwertsteuer zu einem einheitlichen Apothekenabgabenpreis hochgerechnet. Diese Preise auf Westniveau sind bei der niedrigeren Grundlohnsumme und dem festgezurrten Beitragssatz nicht tragbar. Deshalb wurde im Einigungsvertrag ein Abschlagsmechanismus gewählt, der die Krankenversicherungen im Beitrittsgebiet vor Überforderungen durch Arzneimittelpreise schützt. Ziel dieser Operation war es, daß die Krankenversicherungen in den Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und dem Ostteil von Berlin für die Arzneimitteltherapie ihrer Versicherten ebenfalls nur einen Beitragsanteil von 15,6 % aufzubringen haben wie in der bisherigen Bundesrepublik.
Wegen der Zeitenge war es im Sommer 1990 nicht möglich, mit den Beteiligten über andere Instrumente zu debattieren. Deshalb waren sich die Verhandlungsdelegationen einig, den gesamtdeutschen Gesetzgeber zu bitten, zu prüfen, ob nicht andere, vielleicht praktikablere, die Krankenversicherung vor Überforderung schützende Instrumente gefunden und verbindlich festgeschrieben werden können. Angesichts der zurückliegenden Diskussion möchte ich anmerken, daß der seit dem 1. Januar 1991 praktizierte Weg weder ordnungspolitisch verwerflich noch verfassungswidrig ist. Auch er stellt einen brauchbaren Schutz vor Überforderungen der Krankenversicherungen dar. Er führt auch nicht zu einer Überforderung der Marktbeteiligten, weil er dynamisch der Einkommensentwicklung anzupassen ist.
Der Bundesarbeitsminister hat in mehreren Gesprächs- und Verhandlungsrunden mit den Marktbeteiligten ein anderes Sysstem ausgehandelt. Die Gesundheitsministerin hat nach letzter Feinabstimmung im Kabinett den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches SGB zur Entscheidung
vorgelegt. Nachdem das Kabinett diese Vorlage gebilligt hat, ist sie auf dem Weg zum Bundesrat.
Ich möchte für meine Fraktion dem Bundesarbeitsminister für die erfolgreichen Bemühungen, diese Lösung zu finden, danken, ebenso Ihnen, Frau Minister Hasselfeldt, für den letzten Feinschliff, den Sie vorgenommen haben.
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Herausstellen möchte ich aber auch die großen Anstrengungen der Marktbeteiligten, sich einvernehmlich auf die jetzige Lösung festzulegen. Dies ist ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft, gemeinsam Schwierigkeiten zu meistern. Herzlichen Dank also den Verantwortlichen aus der Pharmaindustrie, dem Großhandel und der Apothekerschaft.
Um diesem abgestimmten Modell zum 1. April 1991 Gesetzeskraft zu verleihen und den parlamentarischen Gremien ausreichend Zeit zur Beratung zu geben, haben sich sie Koalitionsfraktionen diesen Entwurf zu eigen gemacht und bringen ihn heute als ihre Initiative in den Deutschen Bundestag ein.
Mit diesem Entwurf erreichen wir das Ziel Schutz vor Überforderung auf einem anderen Weg. Die Marktbeteiligten garantieren durch Einnahmeverzicht, daß die Krankenversicherungen im Beitrittsgebiet für Arzneimittel prozentual nur so belastet werden wie im bisherigen Bundesgebiet. Sie tragen im ersten Zeitraum, vom 1. April 1991 bis 31. März 1992, ein entstehendes Defizit von 500 Millionen DM ganz und beteiligen sich an einem weiteren möglichen Defizit mit 50 %. Im zweiten Zeitraum, vom 1. April 1992 bis 31. März 1993, verdoppelt sich die Defizithaftung der Marktbeteiligten. Sie decken also ein mögliches Defizit in Höhe von 1 Milliarde DM allein. Sollte es wider Erwarten zu einem höheren Defizit kommen, so beteiligen sie sich wieder mit 50 %. Für die letzte Zeitphase, vom 1. April 1993 bis 31. Dezember 1993, also nur für neun Monate, steht die Garantiesumme von 700 Millionen DM zur Verfügung. Übersteigt das Defizit diese Summe, so zahlen Hersteller, Großhandel und Apotheker wieder 50 % der Restsumme. Zur Minderung des Restrisikos, meine Damen und Herren, stehen den Krankenversicherungen 600 Millionen DM aus der Anschubfinanzierung zur Verfügung.
Mit dieser Initiative wird nur die gesetzliche Krankenversicherung geschützt. Dies ist keine beabsichtigte Entscheidung gegen die private Krankenversicherung. Der Gesetzgeber hat seit jeher beide Bereiche unterschiedlich behandelt. Die Rechtfertigung leitet sich aus den unterschiedlichen Prinzipien des jeweiligen Systems ab. Das System der PKV kennt die Äquivalenz von Beitrag und Leistung. Die Beitragshöhe ist risikoadäquat. Die PKV ist im Regelfall gewinnorientiert und handhabt das Kostenerstattungsprinzip. Die gesetzliche Krankenversicherung dagegen fußt auf dem Prinzip des Solidarausgleichs. Hier steht der Besserverdienende dem Schwächeren bei. Die Kinder und der Ehepartner sind beitragsfrei versichert. Es gibt keine Risikozuschläge. Das Sachleistungsprinzip ist Grundlage der Patientenversorgung. Es handelt sich also um zwei sehr unterschiedliche Systeme.
Deshalb ist der in der Presse erhobene Vorwurf, diese Initiative verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, nicht ganz verständlich. In der Beratung werden wir uns sicher auch mit dieser Frage sehr eingehend zu befassen haben. Die Vorzüge dieser Initiative gegenüber dem zur Zeit praktizierten Weg sehe ich u. a. in folgenden Punkten.
Erstens. In ganz Deutschland bleibt der einheitliche Apothekenabgabepreis erhalten.
Zweitens. Die Akzeptanz der Marktbeteiligten ist gegeben. Akzeptierte Opfer werden leichter erbracht.
Drittens. Die wohnortnahe Versorgung der Patienten mit Medikamenten wird verbessert. Leistungsfähige Großhandelssysteme und die Verselbständigung von Apotheken werden erleichtert.
Viertens. Dies ist eine Exporterleichterung für die heimische Pharmaindustrie, weil der einheitliche Referenzpreis erhalten bleibt.
Fünftens. Die Mehrwertsteuereinnahmen erhöhen sich beträchtlich und kommen nach Art. 7 des Einigungsvertrages auch den neuen Bundesländern zugute.
Sechstens. Mögliche graue Märkte können besser bekämpft werden.
({1})
- Der Abgeordnete Peter ({2}) ist ein Wunderkünstler. Da ich nicht ganz unbeteiligt gewesen bin, Herr Kollege:
({3})
Ich hoffe, daß Sie die Humanisierung der Arbeitswelt auch noch ein Stück pflegen wollen und nicht erwarten, daß die Beamten in den einzelnen Ministerien, die damals rund um die Uhr gearbeitet haben, den Tag noch verlängern und 24 oder noch mehr Stunden arbeiten.
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Das im Einigungsvertrag festgelegte System des „dynaminsierten Einstiegswinkels" war polemischer Kritik ausgeliefert. Der Kulminationspunkt wurde mit der Weigerung einiger Pharmaunternehmen, Medikamente zu diesen Bedingungen den Kranken im Beitrittsgebiet zur Verfügung zu stellen, erreicht. Selbst wenn man sehr viel Verständnis für eine harte Auseinandersetzung in einer freien Gesellschaft aufzubringen vermag, stößt diese Verhaltensweise nicht nur auf völliges Unverständnis, sondern auch auf unsere erbitterte Ablehnung.
({5})
Ich sehe darin eine nachhaltige Imageschädigung der gesamten deutschen Pharmaindustrie, also auch jener Betriebe, die sich nicht beteiligten. Diese Handlungsart einiger ist um so unverständlicher, wenn man bedenkt, daß der Marktanteil der westdeutschen Pharmabranche 1990 im Beitrittsgebiet ganze 20 % betrug und die Arzneimittel kalkulatorisch zu Grenzkosten produziert werden können.
Geht man ferner davon aus, daß die Nachfrage nach apothekenpflichtigen Arzneimitteln durch die gesetzliche Krankenversicherung im Beitrittsgebiet nach heutigen Preisen ein Volumen von 5 Milliarden DM haben dürfte und die Pharmaindustrie West einen größeren Marktanteil erobern will, wird die Verhaltensweise einiger zu Beginn dieses Jahres noch unverständlicher. Wir sind meines Wissens das einzige Land, in dem sich die Herstellerpreise für pharmazeutische Erzeugnisse frei bilden können. Unser politisches Ziel muß es daher sein, daß dieses ordnungspolitisch richtige Verfahren im ganzen europäischen Binnenmarkt Einzug hält. Auch deshalb war diese spektakuläre Weigerung einiger ein Selbsttor, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Im Namen der CDU/CSU-Fraktion bitte ich die anderen Fraktionen dieses Hauses, durch eine zügige Beratung mitzuhelfen, daß die Beratungen zu dieser Initiative zeitgerecht abgeschlossen werden können. Für das erste Zeichen der Bereitschaft, schon heute eine Ausschußsitzung durchzuführen, möchte ich der Opposition im Namen meiner Fraktion herzlich danken.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knaape.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Durch den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll der im Deutschlandvertrag vorgesehene 55%ige Preisabschlag auf Arzneimittel durch eine stufenweise vorgenommene Defizitausgleichsregelung, verteilt auf die Arzneimittelhersteller, den Großhandel und die Apotheken, abgelöst werden. Dadurch soll ein böses Pokerspiel mit der Angst der kranken und behandlungsbedürftigen Senioren beendet werden. Es zeigt sich, daß der Bundesarbeitsminister im August 1990 seine Stellung falsch einschätzte, als er versuchte, durch dirigistisches Verfahren einen freien Markt zu regulieren.
Es ist nicht zu verstehen, weshalb die Bundesregierung bei einer so sensiblen Frage vorher nicht alle Beteiligten an einen Tisch geholt und über eine Kompromißlösung verhandelt hat. Offenbar glaubt sie, daß sie ohne Folgen durch solche zu massiver Verärgerung führenden Verfahrensweisen zäh und beharrlich am Stamm ihrer Wähler in den Beitrittsländern weitersägen kann. Sie unterliegt dem Fehler, den Langmut der Bürger zu unterschätzen. Man könnte sich aus der Opposition heraus über solche Ungeschicklichkeit nur freuen, wenn sie sich nicht folgenschwer auf die psychische Befindlichkeit der Bürger auswirken würde.
Die deutsche pharmazeutische Industrie scheute sich auch nicht, ihren traditionell guten Ruf in den Beitrittsländern aufs Spiel zu setzen und durch Rundschreiben einen Lieferboykott, unterstützt durch die Apotheken, ab Januar 1991 anzukündigen.
({0})
Aus der Sicht der Pharmaindustrie ist sicher verständlich, daß sie die unkontrollierte Verbreitung der in den Beitrittsländern verbilligt angebotenen Arzneimittel auf alle Bundesländer und auch auf das AusDr. Knaape
land befürchtete und verhindern wollte. Aus der Sicht eines bedürftigen Kranken ist es jedoch schwierig, solche Beschränkungen einzusehen, zumal in einer Phase der Entwicklung, in der das ambulante Gesundheitswesen in den Beitrittsländern im Umbruch, um nicht zu sagen: teilweise in der Auflösung begriffen ist, was die Polikliniken und Ambulatorien anbetrifft.
Der Zwang und das schnell geweckte Bedürfnis der Ärzte zur Privatisierung in freier Niederlassung, da die Kommunen die Finanzierung der Institutionen Poliklinik und Ambulatorien nicht mehr gewährleisten können, verunsicherte die Patienten und löste besonders bei den kranken Senioren infolge ihrer eingeschränkten Umstellungsfähigkeit Ängste und teilweise chaotische Reaktionen aus. Dazu kam, daß die guten Westmedikamente zeitweilig mancherorts in der Apotheke nicht beziehbar waren.
Wenn der Bundesarbeitsminister gestern davon sprach, daß Vertrauensbildung ein Wesenszug seiner Handlung als Minister sei, so kann diese Auffassung nicht im Einklang mit dem aufgezeigten Verfahrensweg stehen.
({1})
Von Frau Minister Hasselfeldt erhoffen wir mehr Einführungsvermögen und begrüßen in dieser Hinsicht auch die Einrichtung eines Ministeriums für Gesundheitswesen im Interesse des Aufbaus der staatlichen Einrichtungen in den Anschlußländern.
Die Pharmaindustrie sitzt unzweifelhaft am langen Hebel, der den Geldhahn der gesetzlichen Krankenkassen öffnet. Deshalb sollte überdacht werden, ob der Aufschluß eines später äußerst aufnahmefähigen Marktes nicht zu stärkerer Bereitschaft Anlaß geben sollte, sich an der Deckung des in den kommenden Jahren noch zu erwartenden Defizits bei der Abdekkung der Kosten für die Medikamente zu beteiligen.
Bei der Umverteilung der Lasten der Defizitdekkung zwischen Herstellern, Großhandel und Apotheken geht man davon aus, daß der Anteil des Ausgabenvolumens der gesetzlichen Krankenkassen, der zur Medikamentenversorung notwendig ist, auch im Beitrittsgebiet in der gleichen Höhe wie in den Altbundesländern liegt. Offen ist aber, ob diese Ausgabenerwartung in dieser Höhe bleibt oder sie erheblich überschreitet, was dann letztlich zu einer Mehrbelastung der Fonds der gesetzlichen Krankenkassen führen würde, da diese vom Gesetzentwurf her in den kommenden Jahren jeweils stärker am Ausgleich beteiligt sind. Dies würde sich wiederum nachteilig auf die sonstigen Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen auswirken und wäre einer Angleichung der medizinischen Versorgung insbesondere in den Krankenhäusern der Beitrittsländer in den kommenden Jahren sehr abträglich. Zum Beispiel liegt der Pflegesatz für den Monat Januar in einer Nervenklinik mit neurologischer Intensivstation, allgemeiner und spezieller Psychiatrie sowie Kinder- und Jugendneuropsychiatrie bei 92 DM pro Tag und Bett. Dies spricht sicher dafür, daß von der Bundesregierung vorgesehene Beträge zur Anschubfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung im Beitrittsgebiet weniger für die Deckung eines Defizitausgleichs bei den Arzneimitteln, sondern vielmehr für den Ausbau der Gesamtleistung der Krankenversicherung eingesetzt werden sollten.
Wir gehen davon aus, daß der vorliegende Gesetzentwurf zunächst durch die Anhörung von Sachverständigen im Gesundheitsausschuuß auf seine Tragfähigkeit in den Beitrittsländern abgeklopft werden muß, signalisieren aber gleichzeitig Kompromißbereitschaft, da im Interesse der Patienten in den Beitrittsländern schnell eine verträgliche Lösung gefunden werden muß. Unsere Forderungen bzw. Anregungen sind:
Erstens. Das finanzielle Risiko der gesetzlichen Krankenkassen in den Beitrittsländern muß niedrig gehalten werden.
Zweitens. Von den pharmazeutischen Unternehmern wäre ein höheres Angebot zur Deckung des Defizitbeitrags aus Solidarität zum Aufbau der medizinischen Versorgung in den Beitrittsländern zu erwägen.
({2})
Drittens. Die Medikamentenversorgung in den Beitrittsländern durch die westdeutschen Anbieter muß unkompliziert, reibungslos und ohne zusätzliche Kosten durch Überwachung und anderes für die gesetzlichen Krankenkassen abgewickelt werden können.
Und viertens wünschen wir uns, daß die Bundesregierung in Zukunft bei solchen Maßnahmen mehr Rücksicht auf das Empfinden der Menschen in den neuen Bundesländern nimmt.
({3})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Thomae.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Pharma-Abschlag war für die FDP ein rotes Tuch. Wir haben von Anfang an versucht, diesen Pharma-Abschlag, wie er anfänglich konzipiert war, neu zu gestalten.
({0})
- Sie wissen, daß es ein Vertrag war, keine gesetzliche Regelung; das war der Unterschied.
({1})
Vier Gründe gab es, um diesen Pharma-Abschlag in der ersten Fassung zu verändern: Erstens. Er war ordnungspolitisch völlig falsch.
({2})
Zweitens. Er war investitionshemmend für die fünf neuen Bundesländer. Drittens. Er war für die Patienten schädlich, und viertens war er für die deutsche Pharmaindustrie exportschädigend.
Aus diesem Grunde sind wir froh, daß jetzt ein neuer Entwurf vorliegt. Dafür möchte ich Herrn Bern284
hard Jagoda ganz herzlich danken, denn ich glaube, er hat mit dieser Arbeit ein Meisterstück geleistet.
({3})
Nur einen Punkt muß die FDP hinzufügen. Wir haben jetzt zwar einen Vorschlag für die gesetzliche Krankenversicherung. Ich denke aber, wir arbeiten mit einem gegliederten System in einem Gesamtgebiet. Daher muß auch die private Krankenversicherung in diese Überlegungen und Vorschläge einbezogen werden. Wir kündigen dies von seiten der FDP für die nächsten Verhandlungen an und freuen uns, daß wir heute schon die Anhörung beschließen können.
({4})
Das Wort hat Frau Dr. Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was erforderlich ist, um Kranken zu helfen, entscheiden solche Menschen, die selbst keine Patienten verantwortlich behandeln. Hat die Meinung von Ärzten überhaupt noch Bedeutung für gesundheitspolitische Entscheidungen? Ich stelle mir diese Frage deshalb, weil ich denke, daß die parlamentarische Arbeit sich unter Umständen doch von den eigentlichen Problemen entfernt.
Probleme bei der Angleichung des Gesundheitswesens in den fünf neuen Ländern gibt es genug. Das ist bekannt. Es wäre deshalb sicher wünschenswert gewesen, wenn nicht von vornherein eine Regelung zu den Medikamentenpreisen im Einigungsvertrag festgelegt worden wäre, die weitere Probleme bereits vorprogrammierte. Es kam, was nach den Regeln der Marktwirtschaft - ein bißchen habe auch ich hier dazugelernt - kommen mußte. Für mich jedenfalls kam der Boykott der westlichen Pharmaindustrie zu Beginn des Jahres nicht überraschend.
Ja, ich habe am 2. Januar in Apotheken gestanden. Mehr will ich dazu nicht sagen. Auf der Seite der Patienten gab es Verunsicherung, Wut, Verzweiflung; die Probleme wurden unmittelbar auf Kranke abgewälzt, für viele Ärzte, die ohnehin durch die Gesamtheit der Veränderungen gestreßt sind, noch ein zusätzlicher belastender Effekt.
Ich gebe zu, daß das auch ungewohnte Probleme sind - wie immer man dies im Augenblick auch beurteilen mag. Ich hoffe auch, daß mir nicht verübelt wird, wenn ich sage, daß mich bedrückt, daß bei der Umgestaltung des Gesundheitswesens in den fünf neuen Ländern das Wort Patient kaum noch zu hören ist und schon gar nicht im Vordergrund steht. Die Patienten werden nicht gefragt.
Die Medikamentenlieferungen kommen wieder stockend in Gang. Da offenbart sich nun ein neuer Fakt. Die Bürgerinnen und Bürger wähnen sich vor der ungerechten Zuzahlung zu Arzneimitteln noch bis zum Juli dieses Jahres sicher, und doch verlangen die Apotheker Geld, die Zahlung des Differenzbetrages zum Arzneimittel mit Festbetrag. Die Apotheken berufen sich auf Verordnungen, die aus dem Einigungsvertrag resultieren sollen. Die Ärzte und selbst die Krankenkassen sind verwirrt.
Geht man der Sache auf den Grund, muß man feststellen, daß es leider so im Einigungsvertrag steht. Dort wird bestimmt, daß nur die Zuzahlungen erst ab 1. Juli zu leisten sind. Daß der Differenzbetrag zum Festpreis keine Zuzahlung ist und demzufolge extra hätte erwähnt werden müssen, wenn auch er erst ab 1. Juli zu zahlen wäre, geht mir erst heute auf. Und ich bin sicher nicht die einzige. Ob nun bewußt oder in der Hast der Einheit entstanden, zum Nutzen der Patienten in den fünf neuen Bundesländern, ist diese Verunsicherung wohl nicht.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, sofort Schritte zu unternehmen, auch diese Differenzzahlungen auszusetzen; denn z. B. die Ärzte sind noch gar nicht mit den dafür notwendigen Unterlagen ausgestattet und nicht mit der Vielfalt der Probleme vertraut, wenn es darum geht, ein Arzneimittel mit einem Preis unter oder in Höhe des Festbetrages zu verschreiben, damit ihren Patienten die Zuzahlung erspart bleibt.
Die Liste der negativen Wirkungen der Regelungen des Einigungsvertrages auf die gesundheitliche Betreuung ist noch etwas länger. Der Fakt, den ich vorgetragen habe, ist nur einer.
Statt einer grundlegenden Reform des Gesundheitswesens, die übrigens auch in den alten Bundesländern des öfteren gefordert wird, wird das System überteuerter Krankenversorgung nun einfach auf die neuen Länder übertragen. Ich kann davon wirklich ein Lied singen. Auch mein Mann ist im Moment dabei, sich niederlassen zu müssen.
({0})
- Das ist so. Darüber könnten wir uns noch etwas länger unterhalten.
Ob durch diese Regelungen die gesundheitliche Versorgung zügig und nachhaltig, wie es der Einigungsvertrag in Artikel 33 Abs. 1 aussagt, verbessert werden kann, halte ich für etwas zweifelhaft.
Wir sind gegen den eingebrachten Gesetzentwurf, weil wir nicht auf einen völlig unkalkulierbaren, zeitlich begrenzten Solidarbeitrag der Pharmaindustrie setzen, sondern schnellstens einen schrittweisen Übergang zu einer umfassenden Neuordnung des gesamten Gesundheitssystems fordern. Dazu gehört allerdings auch, daß die Pharmaindustrie im Hinblick auf ihre Preispolitik einer strengen Kontrolle durch medizinische und ökonomische Sachverständige unterworfen wird, die dem Parlament kontinuierlich Bericht erstatten sollten. Wir, die Abgeordneten der PDS/Linke Liste, meinen, daß Gesundheit und Krankheit nicht nur wirtschaftlichen Interessen zum Nachteil vieler Patienten unterworfen werden dürfen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn der Kollege Dr. Knaape unsere
Peter ({0})
konstruktive Mitarbeit an diesem Gesetzentwurf angekündigt hat,
({1})
heißt das nicht, daß wir über diesen Gesetzentwurf begeistert wären. Wir sind nur der Meinung, daß uns die von Minister Blüm begonnene Kungelei mit der Pharmaindustrie in eine Sackgasse geführt hat, die dem Parlament keine Alternative läßt, weil es um die Interessen der Menschen in den neuen Bundesländern geht. Das ist die Ursache dafür, daß wir versuchen, bei dem Gesetz konstruktiv mitzuarbeiten.
Das Gesetz hat Kritikpunkte. Ein Punkt der Kritik ist beispielsweise, daß wir das Prinzip der Begrenzung der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Bundesländern auf die Einnahmen aus den Beiträgen an einer wichtigen Stelle durchbrochen haben. Ich weiß zwar auch um das Prinzip, daß man eine Kuh nicht melken kann, der man kein Futter gibt. Aber es ist schon kennzeichnend dafür, daß man etwas, was im Staatsvertrag über die Sozialunion als unverzichtbar galt, dann plötzlich wieder aufgeben muß, wenn Lobby Boykott androht.
({2})
Weiter wissen wir nicht, was bei einem höheren Defizit als dem prognostizierten Defizit von 1,5 Milliarden DM geschieht. Wie es jetzt aussieht, werden es die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler sein. Bei festgeschriebener Beitragshöhe kommen wir allerdings in eine neue Situation, die sich mit der Quadratur des Kreises vergleichen läßt. Wie Sie da einen Notausgang finden, Frau Ministerin Hasselfeldt, da sind wir sehr neugierig.
Schließlich fällt auf, daß das Deckblatt dieses Gesetzes gleich eine Deckblattlüge enthält. Die angekündigten 600 Millionen DM, die in der Begründung auftauchen, sucht man da, wo der Normalbetrachter etwas über den Inhalt eines Gesetzes erfahren soll, vergeblich. Da steht, daß Bund, Länder und Gemeinden keine zusätzlichen Kosten zu tragen haben.
Der Gesetzentwurf enthält eine Verordnungsermächtigung für den Bundesgesundheitsminister, ohne daß die Frage der Zustimmung und Beteiligung der Bundesländer über den Bundesrat geklärt ist. Das ist auch eine Stelle, wo man sich davor hüten muß, daß da neue Öffnungen für Kungeleien mit der Pharmaindustrie gefunden werden.
({3})
Es ist das Problem dieses Gesetzes, die Problematik des ganzen Mechanismus, daß Sie im Staatsvertrag die staatliche Preisfestsetzung durch die Bannerträger der Marktwirtschaft tatsächlich durchgesetzt haben, ohne zu wissen, weil Sie ja Bannerträger der Marktwirtschaft sind, worauf Sie sich eingelassen haben.
Ich stelle mir vor, wenn das von Sozialdemokraten in die Debatte gebracht worden wäre,
({4})
der Herr Kollege Jagoda und der Herr Kollege Thomae hätten Massenorganisationen auf die Beine gebracht und Demonstrationen und den staatlichen Dirigismus veranstaltet. Da wird selbst die FDP zu einer Massenorganisation, meine Damen und Herren,
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wenn es um die Interessen der Pharmaindustrie geht. Das ist doch das Problem. Das ist eben auch deutlich geworden. Dieser staatliche Dirigismus ist von Herrn Kollegen Jagoda als ordnungspolitisch sauber beschrieben worden. Vom Herrn Kollegen Thomae hörte es sich etwas anders an.
Was wir uns dort auf Grund eines irrationalen Streits mit der Pharmaindustrie eingebrockt haben, wie das immer bei Herrn Blüm ist, ist ein Streik auf dem Rükken der Betroffenen in den neuen Bundesländern. Und das halten wir für bedenklich. Das halten wir für ganz massiv bedenklich.
({6})
So haben wir hier das eindrucksvolle Beispiel für erfolgreichen Wirtschaftslobbyismus.
Die Ärztinnen und Ärzte in den neuen Bundesländern waren offensichtlich nicht so mächtig, ihren 55prozentigen Abschlag zu verhindern, der, gemessen an den Einnahmemöglichkeiten in den alten Bundesländern, im Staatsvertrag geregelt ist. Da gab es auch Proteste. Aber die tatsächlichen Machtverhältnisse in dieser Gesellschaft sind an diesem Beispiel der Ersten Novelle zu Teil V. des Sozialgesetzbuches deutlich nachzulesen. Dieser Automatismus müßte eigentlich parlamentarisch Kritik erregen.
Der Ansatz ist die dirigistische Feststellung. Die nächste Stufe ist die Kungelei im Bundeskanzleramt, wo der Bundesarbeitsminister noch kleiner herausgekommen ist, als er hereingegangen ist. Er ist schon klein genug.
({7})
Der nächste Schritt ist, daß das Parlament nachvollziehen muß, was hinter verschlossenen Türen als LobbyKompromiß ausgehandelt worden ist. Dann hat das Parlament keine Alternative mehr. Da sagen wir: Im Interesse der Menschen in den neuen Bundesländern, im Interesse der finanziellen Sicherung der Krankenversicherung werden wir konstruktiv mitarbeiten, damit möglicherweise Schlimmeres verhindert wird.
Das alles ist Ergebnis der unzureichenden Anschubfinanzierung. Es hätte ja denkbare andere Möglichkeiten gegeben, wenn Sie nicht in Ihrer Wahlkampffalle gesessen hätten, auf keinen Fall über Steuererhöhungen zur Finanzierung der notwendigen Kosten der sozialpolitischen Maßnahmen in den neuen Bundesländern nachzudenken. Eine Lösung im Bereich der Anschubfinanzierung wäre wahrscheinlich sauberer, gerechter gewesen, weil die Steuerzahler dann gleichmäßig belastet worden wären. Das wäre die bessere Alternative zu dem gewesen, was jetzt hier steht.
Das Beste an dem Gesetzentwurf ist die Befristung auf den 31. Dezember 1992,
({8})
Peter ({9})
wenn die verbleibende Zeit konstruktiv genutzt wird, wenn wir diese Zeit als eine Chance verstehen, Wege zu finden, die Lösung des Arzneimittelproblems tatsächlich gesellschaftlich vernünftig und gerecht in Angriff zu nehmen, und nicht etwa Wege zu beschreiten, die, wie im Kern dieser Gesetzentwurf, Sackgassen sind.
Dafür liegt die SPD-Alternative weiterhin auf dem Tisch. Sie ist, im Unterschied zu dem, was hier vorliegt, ordnungspolitisch unbedenklich. Sie ist ordnungspolitisch verträglich, sie beruht auf dem Prinzip des Interessenausgleichs statt der Lobbykungelei zwischen unterschiedlichen Interessen. Voraussetzung ist folgendes - wie Sie ja schon oftmals gehört haben, ist das die Grundvoraussetzung dafür, den Markt übersichtlich zu machen - : ein unabhängiges Arzneimittelinstitut mit Beteiligung von Apothekern, mit Beteiligung von Krankenkassen und mit Beteiligung von Ärzten, die daraus abzuleitende Positivliste und dann die Preisverhandlung, bei der eben nicht mehr gekungelt, sondern verhandelt wird. Was wir bei der Lohnfindung zwischen unterschiedlichen Interessen schaffen, das müßten wir doch eigentlich auch bei Preisverhandlungen zwischen den unterschiedlichen Interessen von Krankenkassen auf der einen Seite und der Pharmaindustrie auf der anderen Seite schaffen. Das ist eine Perspektive, über die sich gemeinsam nachzudenken lohnt.
({10})
Das ist die marktwirtschaftlich angemessene Perspektive, weil dies die Form ist, in der Marktwirtschaft unterschiedlichen Interessen gerecht werden kann, die Form des Machtausgleichs mit dem Ziel des Kompromisses.
Ich hoffe, daß Sie heute damit anfangen, über den Zeitpunkt 1992 - wenn das Gesetz ausgelaufen sein wird - nachzudenken. Dann hat die Gesundheitspolitik in dem vereinten Deutschland meines Erachtens eine echte Chance.
({11})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schenk,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während der ersten Januartage dieses Jahres erlebten wir als Neulinge in dieser Republik ein sehr eindrucksvolles Lehrstück zum Thema: Wem gehört Deutschland? Wer hat die Macht in diesem Lande?
({0})
Wenn es hart auf hart kommt, wenn es um Profitinteressen geht, dann gelten weder der Einigungsvertrag noch die schönen Ministerworte während des Wahlkampfes, noch hat das Parlament viel zu melden.
({1})
Man sagt, die Pharmaindustrie habe die Regierung beim Streit um die Medikamentenpreise erpreßt. Das ist wohl zutreffend. Nicht gesprochen wird allerdings über die Frage, wie es denn dazu kam, daß ein Industriezweig die Regierung erpressen konnte, und welche Politik dazu geführt hat, daß die Patientinnen und Patienten im Erweiterungsgebiet der BRD zum Faustpfand der westdeutschen Pharmaindustrie wurden.
Meine Damen und Herren, dazu muß man wissen, daß wir schon vor der Öffnung der Mauer gar nicht so schlecht mit Medikamenten versorgt gewesen sind,
({2})
wie das hier immer kolportiert wurde und wird. Das alles ist eine Frage der Relationen. Die Pharmaindustrie in den Ländern der ehemaligen DDR hat heute noch einen Marktanteil von ca. 80 %. Es wäre also durchaus sinnvoll gewesen, diese Branche zu demokratisieren, zu modernisieren und sie zu erhalten, statt sie durch Westimporte zu ruinieren und das Monopol über den Medikamentenmarkt des Beitrittsgebietes den westlichen Pharmaherstellern und ihren erpresserischen Methoden zu überlassen. Das hätte auch im Hinblick auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen in der ehemaligen DDR einen Sinn gemacht.
Auch im Sinne der Preisgestaltung für die Medikamente im Westen wäre es gut gewesen, die Pharmaindustrie im Osten als Konkurrenz mit Hilfe staatlicher Mittel zu modernisieren, anstatt eine Erweiterung des Monopols der Westfirmen gen Osten zuzulassen. Auf diese Weise hätte man auch erreichen können, was Herrn Blüm mit der sogenannten Gesundheitsreform nicht gelungen ist, nämlich die Preise herunterzudrücken. Ist hier eine Chance verpaßt worden? - Ich denke, nein. Denn diese Überlegung kam für die Bundesregierung gar nicht erst in Frage. Denn wozu hat man die DDR schließlich eingegliedert, wenn nicht um sie als Markt - in diesem Fall für die Pharmaindustrie - zu erschließen? Wenn sich diejenigen, die diese Politik gemacht haben, jetzt über deren Folgen empören und wenn sie Tränen vergießen über das Leid der Patientinnen und Patienten, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das halte ich für Krokodilstränen.
({3})
Das, was Sie jetzt hier vorschlagen, wird den Bund dazu zwingen, die Krankenversicherungen im Osten mit Millionenbeträgen zu unterstützen, und diese werden sich zusätzlich in Millionenhöhe verschulden müssen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist eine Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge in den beigetretenen Ländern vorprogrammiert, und zwar zusätzlich zu den drastischen Mieterhöhungen, zusätzlich zu den Fahrpreiserhöhungen bei gleichzeitig zunehmender Erwerbslosigkeit.
Wenn Sie jetzt fragen, was wir darüber denken, so sage ich folgendes.
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- Dann gehen Sie doch hinaus! - Die Pharmabranche gehört zu den Bereichen, in denen ich staatliche Eingriffe in die Preisbildung für sehr sinnvoll halte. Andere Bereiche, in denen das sinnvoll ist, sind zum Beispiel der Wohnungsmarkt, die Energieversorgung
und die öffentlichen Verkehrs- und Kommunikationsmittel.
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Ich komme zu meinem letzten Satz: Die durch diese Diskussion zum Vorschein gekommene Erpreßbarkeit der Gesellschaft durch die Pharmaindustrie ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wo die Marktwirtschaft ihre Grenzen hat. - Schönen Dank.
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Zum Schluß erteile ich der Bundesministerin für Gesundheit, Frau Hasselfeldt, das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir geht ein bißchen ab in dieser Debatte, daß wir uns darüber im klaren sind, für wen wir Politik machen und für wen dieses Gesetz gemacht wird. Es wird für niemand anders als für die Menschen in den neuen Bundesländern, für unsere Bundesbürger, gemacht.
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Mit diesem vorliegenden Gesetzentwurf wird ein wesentlicher Beitrag zu einer reibungslosen und uneingeschränkten Arzneimittelversorgung in den neuen Ländern geleistet. Damit wird ein Auftrag des Einigungsvertrages erfüllt, nämlich zur Vermeidung von Defiziten bei den Arzneimittelausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Ländern eine gesetzliche Regelung zu treffen. Dies ist Auftrag des Einigungsvertrages und nicht irgend etwas, was wir uns in den letzten Wochen erst ausgekungelt hätten, um in Ihrem Jargon zu sprechen, Herr Peter.
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Das ist besonders deshalb wichtig, weil wir alles tun müssen, um die Krankenversicherungsbeiträge auch und gerade in den neuen Ländern für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer stabil zu halten. Es ist nicht so, wie es im Laufe der Debatte gelegentlich zum Ausdruck kam, daß dies jetzt ein Nachhaken bei einer zunächst getroffenen Regelung ist, sondern durch die Überleitungsvorschriften des Einigungsvertrages wurde ganz bewußt nur zunächst ein Preisabschlag von 55 % eingeführt. Das war von Anfang an eine vorläufige Regelung.
({2})
Damals standen für die Versorgung im Gebiet der früheren DDR nur knapp 2 000 Arzneimittel zur Verfügung. Heute sind es 70 000. Es war für niemanden
vorherzusehen, wie sich diese Veränderungen auf dem Arzneimittelmarkt auswirken würden.
({3})
Gerade deshalb hat der Einigungsvertrag von Anfang an vorgesehen - ({4})
- Ich kann mir ja vorstellen, Herr Peter und Herr Dreßler, daß Sie das nicht gerne hören wollen; aber es war von Anfang an im Einigungsvertrag vorgesehen, daß eine gesetzliche Regelung vom gesamtdeutschen Gesetzgeber getroffen werden muß.
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Frau Ministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Ja, bitte sehr!
Bitte sehr!
Frau Ministerin, war Ihnen vorher nicht bekannt, daß es im Gebiet der alten Bundesrepublik schon weit mehr als 70 000 Arzneimittel gegeben hat und daß die nach der Öffnung der Grenze und nach dem Einigungsvertrag automatisch natürlich auch in den neuen Bundesländern zum Zuge kommen würden?
Natürlich war dies bekannt; das wissen wir. Aber wie sich diese Zahl und die gesamte Inanspruchnahme des Arzneimittelmarktes auf die Kosten auswirken würde, war zum damaligen Zeitpunkt nicht bekannt. Gerade deshalb, weil es nicht bekannt sein konnte, wurde im Einigungsvertrag - ich sage es noch einmal - definitiv festgelegt: Der gesamtdeutsche Gesetzgeber ist beauftragt, eine Regelung zu treffen, die wir hiermit treffen. Das ist die Ausgangsposition.
Jetzt möchte ich gerne in meinem Text weiterfahren, und zwar deshalb, weil mich die Kollegen vorhin gebeten haben: Machen Sie es kurz; wir haben noch Ausschußsitzungen. Ich verstehe das alles.
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Damals, im August, war es noch so, daß man von einem Defizit für das Jahr 1991 von über 3 Milliarden DM ausgegangen ist. Es wäre in der Tat ein 55 %iger Abschlag gewesen, der damit notwendig gewesen wäre. Die tatsächliche Entwicklung hat diese Annahme aber nicht bestätigt. Deshalb geht die Neuregelung davon aus, daß das auszugleichende Defizit im Jahre 1991 eine Höhe von etwa 1,5 Milliarden DM erreichen wird. Deshalb sind jetzt Abschläge auf den Arzneimittelrechnungsbetrag der Apotheken, entsprechende Abschläge beim Großhandel und bei den Herstellern vereinbart worden.
Mit dieser Regelung leisten die Marktbeteiligten, d. h. die Arzneimittelhersteller, der Großhandel und die Apotheken einen nennenswerten Beitrag, einen
Beitrag, der über die fast drei Jahre mindestens 2,2 Milliarden DM betragen und wahrscheinlich noch darüber hinausgehen wird.
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Außerdem verzichtet der Bundesfinanzminister auf die Rückzahlung von 600 Millionen DM. Mit diesem Verzicht des Bundesfinanzministers werden die Beitragszahler, die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber, entlastet.
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Anfang des Jahres ist die Abschlagsregelung des Einigungsvertrages in Kraft getreten. Wir alle wissen, daß es dabei - ich bedaure das auch sehr - in der Konsequenz bei der Arzneimittelversorgung in den neuen Ländern zu Engpässen gekommen ist und daß westdeutsche Arzneimittelhersteller ihre Lieferungen mit den entsprechenden Folgen für die Patienten eingeschränkt haben.
Deshalb war für die Bundesregierung klar: Voraussetzung für eine Neuregelung ist die Rücknahme dieser Lieferbeschränkungen. Dies ist auch erreicht worden.
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Nun haben manche Apotheken - die Kollegin hat dies angesprochen - in der Zeit dieser Lieferbeschränkungen von den Versicherten Zuzahlungen verlangt. Dafür gab und gibt es - ich sage das in aller Deutlichkeit - keine Rechtsgrundlage. Soweit die Versicherten solche Zuzahlungen geleistet haben, haben sie auch einen Anspruch darauf, das Geld nach Vorlage einer Quittung zurückzubekommen. Ich bitte darum, alle Möglichkeiten und Gelegenheiten, die wir haben, wahrzunehmen, um die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern davon zu informieren.
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Wir haben die Neuregelung im Konsens mit den Arzneimittelherstellern, dem Großhandel und den Apotheken getroffen. Ich habe all jenen ganz herzlich zu danken, die an der Erarbeitung dieses Ergebnisses mitgewirkt haben: meinem Kollegen Norbert Blüm und dem Kollegen Jagoda. Allen, die daran mitgewirkt haben, gilt unser herzlicher Dank.
Herr Peter, ich möchte ausdrücklich das zurückweisen, was Sie vorhin gesagt haben, daß dies eine Kungelei war.
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- Nein, dies ist nicht nur ordnungspolitisch sauber, sondern es ist das Bemühen, Gesundheitspolitik im Konsens aller Beteiligten zu machen, zum Wohle der Bürger unseres Landes.
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Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit eines klarstellen: Wenn wir im Gesundheitswesen, wo es um das höchste Gut nicht nur von uns, sondern von jedem Bürger unseres Landes geht, den Sozialneid und das Schießen des einen auf den anderen zur Richtschnur machen und nicht den Konsens und die Gemeinsamkeit als Grundlage unseres Handelns anstreben, dann ist es mit der verantwortungsvollen Politik im Gesundheitswesen nicht allzu weit her.
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Die jetzt gefundene Regelung bringt einen angemessenen Interessenausgleich. Sie sichert die Stabilität der Beitragssätze auf dem Arzneimittelsektor und eine uneingeschränkte Arzneimittelversorgung in den neuen Ländern.
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Ich darf Sie bitten, an der parlamentarischen Beratung dieses Gesetzentwurfs konstruktiv mitzuarbeiten und mit einer zügigen Bearbeitung und Beratung dafür zu sorgen, daß diese Regelung, wie vorgesehen, am 1. April dieses Jahres in Kraft treten kann.
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Damit sind wir am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/57 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Gesundheit - ich mache darauf aufmerksam, daß in etwa 15 Minuten auch dieser Ausschuß tagt - sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und zugleich gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß. - Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. Dies ist beschlossen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Schluß dieser Tagesordnung. Ich bedanke mich bei all denjenigen, die die Geduld gehabt haben, bis zum Schluß hierzubleiben, und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 20. Februar 1991, 13 Uhr ein.
Damit ist die Sitzung geschlossen.