Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen. Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Christina Schenk, Werner Schulz und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Soziale Absicherung einer besseren Pflege - Drucksache 12/1712 18. Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: VN-Menschenrechtsgerichtshof und Hochkommissar für Menschenrechte - Drucksache 12/1715 19. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Menschenrechtsbericht der Bundesregierung für die 11. Legislaturperiode - Drucksachen 11/6553,12/1735 20. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Lage der Kurden im Irak - Drucksache 12/1748 21. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Menschenrechte - Drucksache 12/1753 22. Aktuelle Stunde: Politik der Treuhandanstalt in bezug auf die Stahlindustrie in den neuen Bundesländern
Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung und Zusatzpunkt 17 auf:
15. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung ({1})
- Drucksache 12/1156 ({2}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige, Christina Schenk, Werner Schulz und der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN
Soziale Absicherung einer besseren Pflege
- Drucksache 12/1712 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Gesundheit
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dieses ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Rudolf Dreßler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der heute zur ersten Beratung anstehende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Einführung einer gesetzlichen Pflegeversicherung regelt ein sozialpolitisches Problem, das in unserem sonst umfassenden System der sozialen Sicherheit bisher nicht gelöst ist. Die Absicherung der Menschen gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit ist eine der zentralen Aufgaben des Sozialstaats.
Wir alle wissen: Die derzeitige soziale Lage pflegebedürftiger Bürgerinnen und Bürger ist unhaltbar und entspricht nicht unseren sozialstaatlichen Grundsätzen. Die bisher praktizierte Absicherung der Betroffenen über die Sozialhilfe ist systematisch fehlerhaft, sie ist finanzwirtschaftlich problematisch, und sie ist vor allem gesellschaftspolitisch untragbar.
({0})
Pflegebedürftig zu werden ist nicht nur ein schwerer persönlicher Schicksalsschlag; seine finanziellen und wirtschaftlichen Folgen sind darüber hinaus so einschneidend und so schwergewichtig, daß sie von der übergroßen Mehrheit der Betroffenen nicht bewältigt werden können. Sie sind überfordert.
Man muß sich vor Augen führen, was der Eintritt von Pflegebedürftigkeit für die Betroffenen wirtschaftlich und finanziell bedeutet: ein Leben lang gearbeitet, ein Leben lang Renten- und Krankenversicherungsbeiträge gezahlt und dann die Einsicht, es reicht nicht, sich selbst zu helfen. Man kommt da an, wo man als Zehn- oder Zwölfjähriger gestartet ist: bei einem Barbetrag, der als Taschengeld empfunden wird.
Dies ist unwürdig. Die Betroffenen empfinden es zu Recht als mangelnden Respekt unserer Gesellschaft vor ihrer Lebensleistung.
({1})
Deshalb gilt für die sozialdemokratische Fraktion die Verpflichtung: Wir müssen mit diesem unwürdigen Zustand Schluß machen. Wir brauchen eine wirksame Absicherung gegen das Pflegerisiko.
({2})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Pflegeversicherung, die den Menschen im Fall der Fälle hilft, auch weiterhin ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Für diejenigen in diesem Hause, die so oft und viel über die individuelle Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben philosophieren, darf ich hinzufügen: Das steht auch den Pflegebedürftigen zu. Helfen Sie also mit, daß sie es in Zukunft auch führen können.
({3})
Die Mitglieder der SPD-Fraktion wissen: Kernelement jeder Sozialpolitik ist praktizierte gesamtgesellschaftliche Solidarität. Diese Solidarität auch bei der Absicherung des Pflegerisikos zu organisieren ist für uns zwingende Notwendigkeit.
Bei den zur Wahl stehenden Lösungsmöglichkeiten steht für die SPD-Fraktion fest: Gelingen kann die Organisation von Solidarität nur im Rahmen einer sozialversicherungsrechtlichen Regelung. Alle anderen Vorschläge mögen die derzeitige Lage der Betroffenen vielleicht verbessern helfen, aber den entscheidenden Durchbruch in Richtung auf mehr soziale Gerechtigkeit für die Pflegebedürftigen bedeuten sie nicht.
In Sachen Absicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit ist die SPD eine Partei mit Vergangenheit. Im Jahr 1985 haben die SPD-geführten Bundesländer unter Federführung Hessens im Bundesrat einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Pflegeversicherung vorgelegt, der dem heute von uns vorgelegten sehr, sehr nahe kommt. Im Jahre 1988 hat die SPD-Fraktion als Alternative zu den unzureichenden neuen Pflegeleistungen des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes ein steuerfinanziertes Pflegeleistungsgesetz zur Abstimmung gestellt.
Auch die Koalitionsparteien, meine Damen und Herren, haben in Sachen Absicherung gegen das Pflegerisiko ihre Vergangenheit. Diese allerdings ist unrühmlich.
({4})
CDU/CSU und FDP haben beide Gesetzesvorstöße der SPD abgelehnt und somit durch ihre Mehrheit zum Scheitern gebracht.
({5})
Zur Wahrheit, Herr Blüm, gehört also nicht nur, daß Sie sich als verantwortlicher Ressortminister heute für eine vernünftige Pflegeversicherung einsetzen. Zur Wahrheit gehört auch, daß Sie frühere Vorschläge, die die Absicherung herbeiführen wollten, heftig bekämpft haben.
Pflegebedürftigkeit ist ein allgemeines Lebensrisiko, das alle Menschen gleichermaßen treffen kann. Und weil alle gegen dieses Risiko gesichert werden müssen, müssen sich auch alle an der Aufbringung der finanziellen Mittel beteiligen.
({6})
Anders und vereinfacht ausgedrückt: Wir brauchen eine Versicherung für alle, und wir brauchen tatsächlich nur eine Versicherung, nicht aber deren mehrere, wo sich nach Gruppen differenzierte Sonderrisiko- oder Solidargemeinschaften bilden. Solche Tendenzen werden gelegentlich als das der freiheitlichen Demokratie angemessene Recht der Selbstorganisation von Einzelgruppen bezeichnet oder gar verteidigt. Das Gegenteil ist wahr. Sonderrisikogemeinschaften zuzulassen bedeutet, den Ausstieg aus der gesamtgesellschaftlichen Solidarität zuzulassen.
Ich kenne keine Sonderrisikogemeinschaft, die gebildet wird, wenn deren finanzielle Lasten oder Beiträge höher sind als die der allgemeinen Risikogemeinschaft. Sie gibt es immer nur dann, wenn sie billiger sind. Und dieses Billiger für die wenigen bedeutet zugleich ein Teurer für die vielen.
({7})
Das, was wir in so ausgeprägtem Maße in der gesetzlichen Krankenversicherung verzeichnen müssen, darf nicht auch noch in der Pflegeversicherung Platz greifen. Wir brauchen eine große Solidargemeinschaft, die für alle offen ist.
Nun gibt es seit geraumer Zeit eine provozierende Diskussion um die Frage, ob sich die Arbeitgeberseite an der Finanzierung der Pflegeabsicherung beteiligen muß oder nicht. Dazu fallen mir mehrere Gründe ein, die zur gleichen Antwort führen: Natürlich muß sie es. Die Unternehmer reklamieren für sich den Auftrag, ja die Verpflichtung zur Mitgestaltung am Sozialstaat. Das ist richtig, diesen Auftrag haben sie auch. Aber sie können ihn nicht selektiv wahrnehmen. Ein Ja bei der Renten-, bei der Kranken- und bei der Arbeitlosenversicherung und ein Nein bei der Pflegeversicherung, das geht nicht.
({8})
Meine Damen und Herren, mitgestalten heißt mitfinanzieren. Finanzielle Trittbrettfahrer sind weder vorgesehen, noch sind sie erwünscht. Es gibt auch keine Aufgabenverteilung, bei der die einen bezahlen und die anderen sich darauf beschränken, über die Richtung mitzubestimmen. Auch das geht nicht.
Ich frage, was soll eigentlich das Argument, das Pflegerisiko und seine Absicherung habe nichts mit dem Arbeitsplatz zu tun, deshalb könne die Arbeitgeberseite bei der Finanzierung außen vor bleiben. Natürlich hat das Pflegerisiko etwas mit Arbeitsplatz, etwas mit Arbeitsrhythmus, etwas mit Arbeitsablauf zu tun. Wenn sich ein Arbeitnehmer in seinem Arbeitsleben so kaputtgeschuftet hat, daß er stirbt, dann sind die Arbeitgeber zu Recht an der Finanzierung der Rente für die Hinterbliebenen beteiligt. Wenn der Arbeitnehmer sich kaputtgeschuftet hat, aber „nur" pflegebedürftig wird, dann soll diese Mitfinanzierungsverpflichtung auf einmal entfallen sein? Was ist das für eine krause Logik?
({9})
Nein, meine Damen und Herren, der Arbeitgeberbeitrag zur Pflegeversicherung ist geboten. Die Arbeitgeber selbst wissen dies auch. Deren Widerstand gegen die finanzielle Beteiligung mag aus der speziellen Interessenlage verständlich sein, aber er liegt neben der Sache. Im übrigen, seit dem Angebot des Präsidenten der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, 55 Milliarden DM zur Finanzierung des Pflegerisikos beizutragen, ist dieser Widerstand auch als taktisches Manöver entlarvt.
({10})
Dieses 55-Milliarden-Angebot ist nicht nur das Eingeständnis, zur Mitfinanzierung verpflichtet zu sein, sondern auch die Bereitschaftserklärung, es tatsächlich zu tun.
Bei den in der Öffentlichkeit diskutierten verschiedenen Lösungsvarianten gibt es eine wesentliche Frage, an der sich die Geister scheiden: die Frage, ob die Lösung privatversicherungsrechtlich oder sozialversicherungsrechtlich organisiert werden soll. Wenn ich die Meinung der hier im Hause vertretenen Parteien korrekt einschätze, so habe ich den Eindruck, daß die Vertreter des sozialversicherungsrechtlichen Weges eine klare, eine eindeutige Mehrheit haben.
({11})
Ob nun diese verbale Mehrheit auch zu einer politischen Mehrheit werden kann, diese Entscheidung steht noch aus.
Niemand sollte sich etwas vormachen: Privat- und sozialversicherungsrechtliche Lösungen schließen einander aus, sind nicht zu einem Mischmodell miteinander zu verknüpfen. Wer, wie die Arbeitgeber, den Vorschlag verfolgt, die heute Jüngeren sollten sich privat absichern, die heute Älteren hingegen sozialversicherungsrechtlich versichern, spricht sich klar für ein prinzipiell privatversicherungsrechtliches Modell aus, denn er unterwirft die Lebensdauer des sozialversicherungsrechtlichen Teils in diesem Vorschlag natürlich biologischen Grenzen, macht diesen Teil zum auslaufenden Teil des Vorschlags. Entscheidend ist doch nicht, meine Damen und Herren, mit welcher Modellkombination man beginnt, sondern
entscheidend ist, welche Regelung hernach als Dauerregelung übrigbleibt.
({12})
Der Vorteil des sozialversicherungsrechtlichen Lösungsvorschlages, so wie ihn unser Gesetzentwurf enthält, ist die Finanzierung nach dem Umlageverfahren. Altere Menschen und schon heute Pflegebedürftige sind zuallererst die Nutznießer dieser Art der Finanzierung. Den Alteren ermöglicht diese Art der Finanzierung sozial tragbare Beiträge. Die heute schon Pflegebedürftigen können sofort Leistungen erhalten.
Privatversicherungsrechtliche Modelle müssen nach dem Kapitaldeckungsverfahren arbeiten, d. h. jeder einzelne Versicherte muß in seinem Versicherungsvertrag zunächst einen gewissen Kapitalstock über Beiträge vorfinanzieren, damit aus ihm Leistungen gezahlt werden können. Diese Systematik beschert den Älteren hohe oder Höchstbeiträge, die sie nicht finanzieren können, und schließt die heute schon Pflegebedürftigen von Leistungen aus. Dieser grundlegende Mangel ist von den Verfechtern der Privatversicherungslösung mittlerweile auch eingeräumt worden. Allerdings: Alle bekanntgewordenen Vorschläge, ihn durch einen künstlichen Eingriff in die Systematik zu lösen, führen nicht weit, weil sie den Pflegebedürftigen entweder in seiner heute bestehenden unbefriedigenden Situation belassen, in der er seine Bedürftigkeit für finanzielle Hilfe nachweisen muß, oder eine völlig unakzeptable staatliche Subventi onierung der privaten Versicherungswirtschaft bewirken. Weder das eine noch das andere wollen wir. Die Diskussion all dieser Vorschläge hat uns vielmehr noch sicherer gemacht: Tragfähig, meine Damen und Herren, ist nur der sozialversicherungsrechtliche Weg.
({13})
Zudem stehen privatversicherungsrechtliche Lösungsmodelle dem Solidargedanken in vielen Fällen entgegen. Ich kann nicht einsehen, welchen sozialpolitischen Sinn es machen soll, von einem 35jährigen Spitzenverdiener eine Beitragszahlung in gleicher Höhe zu verlangen wie von einem gleichaltrigen Arbeitslosen. Genau dies aber geschieht in der Privatversicherung.
Auch in der Pflegeversicherung brauchen wir viel mehr einkommensabhängige Beiträge. Höherverdienende sollen einen höheren Beitrag zahlen als Geringerverdienende.
({14})
Eine Lösung, die sozial gerecht sein soll, kann auf diesen finanziellen Ausgleich nicht verzichten.
Vor allem aus Kreisen der FDP begegnet uns im Zusammenhang mit der Privatversicherung immer wieder das Argument, dies entspreche dem Grundsatz der Eigenvorsorge. Bei der Sozialversicherungslösung aber sei dies nicht gegeben. Ich vermag einer solchen Logik nicht zu folgen, meine Damen und Her5546
ren. Wenn ich jeden Monat treu und brav zur Absicherung gegen das Pflegerisiko meine 45 DM als Beitrag in die Privatversicherung zahle, dann soll das Eigenvorsorge sein. Zahle ich jeden Monat treu und brav zum gleichen Zweck in die Sozialversicherung,
({15})
dann soll das keine Eigenvorsorge sein?
({16})
Wahr ist doch, sowohl im einen wie im anderen Fall sorge ich für meinen persönlichen Fall der Fälle vor. Wem eigentlich sollen solch ideologisch befangene Interpretationen weiterhelfen?
({17})
Ich habe den Eindruck, meine Damen und Herren, daß der Deutsche Bundestag nicht ernsthaft genug geprüft hat, ob bei der Regelung dieser grundlegenden Frage nicht besser vom herkömmlichen Gegenüber von Regierung und Opposition abgewichen werden sollte. Wir Sozialdemokraten wollen doch die Pflegeabsicherung nicht aus besonderer Anhänglichkeit zu einem Projekt, das wir uns in den Kopf gesetzt haben, sondern wir wollen sie, weil die Menschen dieses Projekt brauchen, meine Damen und Herren. Wenn ich Äußerungen von Vertretern der Koalitionsparteien richtig interpretiere, dann sehen sie dies doch auch so. Alle Fraktionen haben doch darüber hinaus das Projekt Pflege als dringlich erachtet.
Ich kann nur bedauern, daß die SPD-Bundestagsfraktion angesichts dieser Aussagen die Koalitionsfraktionen erst per Geschäftsordnung zwingen mußte, den Gesetzentwurf heute zu beraten.
({18})
Denn alle Versuche, den Gesetzentwurf einvernehmlich auf die Tagesordnung zu bringen, haben Sie vereitelt. Dies widerspricht Ihrer eigenen, selbst bekundeten Verpflichtung, den Pflegebedürftigen schnell helfen zu wollen.
Natürlich ist es aus Ihrer Sicht - ich verstehe das - nicht sonderlich angenehm, wenn zu einem brennend aktuellen Thema die Opposition einen Lösungsvorschlag vorlegt, die Regierungskoalition aber nicht, weil sie heillos zerstritten ist. Denn wer wollte bestreiten, daß die Koalition in Sachen Pflege nicht an einem Strang zieht, sondern sich gegenseitig blockiert. Aber, meine Damen und Herren, die Koalition aus CDU/ CSU und FDP hat nicht das Recht, die Selbstblockade der Regierung auf das Parlament zu übertragen.
({19})
Die Koalitionsfraktionen haben vielmehr die Pflicht zu prüfen, ob und wie das Parlament als Ganzes die Blokkade innerhalb der Regierung auflösen oder überwinden helfen kann.
({20})
Augenfällig war jedenfalls in den vergangenen Monaten, daß die Vertreter der Koalitionsfraktionen auch beim Pflegeproblem nicht miteinander, sondern vor
allem übereinander geredet haben. Über die Medien Grobheiten in Sachen Pflege auszutauschen mag zwar der eigenen parteipolitischen Profilierung helfen, den pflegebedürftigen Menschen hilft es nicht. Es schadet ihnen.
({21})
Den pflegebedürftigen Menschen nutzt auch nicht, wenn Vertreter der FDP die Vorstellungen des Arbeitsministers zur Pflege als Sintflutmodell verunglimpfen und der Arbeitsminister in gleicher Weise zurückkeilt. Deshalb appelliere ich an Sie: Hören Sie endlich auf mit diesen unangemessenen Tönen. Leisten Sie bitte endlich Ihren Beitrag, damit den betroffenen Menschen geholfen werden kann.
({22})
Die Diskussion der Koalitionsparteien in Sachen Pflege ist nicht nur im Tonfall eskaliert. Sie ist auch, was die Einordnung der Diskutanten in die politische Hierarchie angeht, in ungeahnte Höhen geklettert. Mittlerweile beschäftigen sich die Parteivorsitzenden persönlich mit dieser Frage. Zwar haben sie mittlerweile eine Pflegekommission eingesetzt. Aber nach den politischen Vorläufen ist die Chance, sich zu einigen, gering. Wenn dann sozusagen als Ausweg aus dieser Situation der ausgewiesene Pflegeexperte Helmut Kohl mit dem ausgewiesenen Pflegeexperten Otto Graf Lambsdorff
({23})
die Einzelheiten einer Pflegeregelung für einen Koalitionskompromiß festlegt,
({24})
meine Damen und Herren, dann ist Gefahr im Verzuge, und zwar für die Pflegebedürftigen und für das Konzept.
({25})
- Wissen Sie, Herr Weng, es gab eine Zeit, da haben der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und der damalige und heutige Außenminister Hans-Dietrich Genscher den Versuch gestartet, sich als Krankenhaustagegeldexperten zu profilieren.
({26})
Ich darf Ihnen sagen - ich habe das miterlebt - : Sie sind beide gescheitert.
({27})
Meine Damen und Herren, auf dieser politischen Ebene geht es nicht mehr um die Sachprobleme. Da wird alles zu einer Frage der Wahrung des politischen Gesichts. Dann haben sachfremde Argumente meist Vorfahrt.
Deshalb sage ich: Der politische Konflikt muß aufgelöst werden, bevor es soweit kommt. Vor der Sommerpause dieses Jahres habe ich den Vorschlag unterbreitet, daß sich die Fraktionen zusammen an den Tisch setzen und prüfen, ob das Problem der Absicherung bei Pflegebedürftigkeit gemeinsam gelöst und so
den Betroffenen möglichst schnell geholfen werden kann. Bemerkenswerterweise hat sich damals dazu nur die FDP geäußert, und zwar positiv. Wenn ich die Vorstellungen der Union, der FDP und der SPD auf ihre politische Durchsetzbarkeit hin prüfe, so steht folgendes objektiv fest: Die Mehrheit in der CDU/ CSU-Fraktion hat in der Koalition für ihre Vorstellungen keine Mehrheit. Die FDP findet dort für ihre Vorstellungen auch keine Mehrheit. Sollten sich, was mehr als zweifelhaft ist, Union und FDP auf eine Linie einigen, so haben sie im Bundesrat ebenfalls keine Mehrheit, denn die liegt bei den SPD-regierten Ländern.
({28})
Keine Partei oder Fraktion hat für ihr Konzept eine Mehrheit. Die Pflegebedürftigen, die eine Regelung so dringend brauchen, sind also darauf angewiesen, daß alle Parteien zusammenarbeiten, meine Damen und Herren.
({29})
Deshalb wiederhole ich namens der SPD-Bundestagsfraktion im Interesse der Betroffenen mein Angebot vom Sommer: Lassen Sie uns zusammensetzen, die unterschiedlichen Konzepte gemeinsam und vorurteilslos werten und prüfen, ob ein gemeinsamer tragfähiger Lösungsvorschlag möglich ist. Dazu möchte ich Sie ausdrücklich einladen. Ich möchte Sie, Herr Blüm, und Sie, Herr Geißler, und Sie, Herr Cronenberg, ermutigen, noch heute in dieser Debatte zu unserem Angebot Stellung zu beziehen.
Ich danke Ihnen.
({30})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Heiner Geißler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nun ist klar und für jedermann erkennbar, daß die Vorstellungen der SPD denen der CDU/CSU näher sind als das, was die Freien Demokraten vorschlagen. Das ist kein Geheimnis. Dies ist für die Koalition ein schwieriges Problem. Wir sollten darum auch gar nicht herumreden.
Dies ist im übrigen nicht die einzige wichtige Frage, in der die Meinungen auseinandergehen. Wir sind uns z. B. im ganzen Hause einig, daß die Frage des Schutzes des ungeborenen Kindes eine Gewissensfrage ist. Wir haben allerdings unterschiedliche Meinungen, wobei ich bemerken darf, daß ich es merkwürdig finde, daß es bisher - mit Ausnahme der Union - in anderen Fraktionen offenbar nur zu kollektiven Gewissensentscheidungen gekommen ist.
({0})
Der Bundeswirtschaftsminister hat vor einigen Tagen in Frage gestellt, daß in dieser Legislaturperiode die Pflegeversicherung verabschiedet werden müsse.
({1})
Damit Sie aber wissen, was ich denke: Es gibt Menschen, die 24 Stunden am Tag ans Bett gefesselt sind, die gefüttert werden müssen, die Hilfe zum An- und Auskleiden benötigen, die sich nicht selbständig fortbewegen können und die oft nach einem erfüllten Arbeitsleben wie Kinder ein Taschengeld vom Sozialamt finanziert bekommen. Wenn der Deutsche Bundestag unfähig sein sollte, in dieser Legislaturperiode diesen Menschen eine würdige und gerechte soziale Hilfe und Betreuung zu ermöglichen, dann ist das für mich - ebenso wahrscheinlich für viele andere - auch eine Gewissensfrage.
({2})
Im übrigen gehört zu den Menschen, über die wir heute reden, auch das Kind, das behindert auf die Welt kommt. Damit mich niemand mißversteht: Ich plädiere nicht für wechselnde Mehrheiten; aber ich mache auf den Ernst dieser Diskussion aufmerksam.
Die SPD macht es sich allerdings etwas zu leicht, wenn sie nun die CDU/CSU auffordern sollte, mit ihr zu stimmen. Auch Sie haben in 13jähriger Regierungsverantwortung erfahren, daß parlamentarische Regierungsmehrheiten funktionsfähig sein müssen.
({3})
- Sie können ja bei Herbert Wehner nachfragen. Anfang der 70er Jahre sagte der Kollege Matthöfer unter großem Beifall der SPD-Fraktion an die CDU/ CSU gerichtet, wenn sie in einem Entschließungsantrag das Godesberger Grundsatzprogramm zur Abstimmung brächten und dies mit der FDP, dem damaligen Koalitionspartner, nicht abgestimmt wäre, dann würde die SPD sogar diesen Antrag ablehnen.
({4})
Nun machen Sie deswegen hier keine Spielereien. Die Sache ist zu ernst. Die FDP allerdings muß sich die Frage stellen, wie das Volk es empfinden muß, wenn ausgerechnet in dieser wichtigen gesellschaftspolitischen Frage gegen den erkennbaren Widerstand und gegen den erkennbaren Willen der überwiegenden Mehrheit der Wählerinnen und Wähler entschieden werden sollte. Auch dürfen wir, wenn wir die Pflegeversicherung wirklich wollen, die Hürden doch nicht so hoch legen, daß die Mehrheit des Bundesrates nicht mehr darüber hinwegkommt.
Vielleicht trägt es zur koalitionsinternen Entspannung bei, wenn ich daran erinnere, daß die CDU/CSU in dieser Frage nicht hinter der SPD herläuft, sondern die SPD - was man uns nicht vorwerfen kann - im wesentlichen von uns abgeschrieben hat.
({5})
1,65 Millionen Pflegebedürftige, das ist keine geringe Zahl, und sie ist im Wachsen. Es handelt sich
zunehmend nicht um ältere, sondern auch um jüngere Menschen, um Angehörige aller Jahrgänge. Die Betreuung und Pflege dieser Menschen kann man nicht dem Zufall überlassen. Zur Zeit wird diese große soziale Aufgabe in den Alten- und Altenpflegeheimen zu 80 % durch die Sozialhilfe finanziert. Die Absicherung des Grundrisikos des menschlichen Lebens ist aber keine kommunale Aufgabe.
Ich sage gleich von vornherein, sozusagen als Bemerkung in Klammern für jeden, der dazu im Laufe dieser Debatte Stellung nimmt, damit ich es nicht dauernd wiederholen muß - der Kollege Julius Louven wird dazu nachher noch Stellung nehmen - : Ich weiß, daß man dies alles bezahlen muß und auch bezahlen können muß. Ich weiß auch, daß der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland nicht gefährdet werden darf. Aber ich bestreite nachdrücklich, daß die Wettbewerbsfähigkeit des Industriestaates Deutschland ausgerechnet durch 1,5 % Beitragsleistung für die Pflegebedürftigen - 0,75 % Arbeitgeberanteil, abzüglich 0,15 % für Leistungen, die jetzt schon in der Krankenversicherung enthalten sind, abzüglich 0,2 % Steuerersparnis, so daß der Arbeitgeberanteil im Endergebnis also netto 0,4 % beträgt - gefährdet werden sollte, zumal diese Belastung nach unserer Konzeption ausgeglichen werden soll und gleichzeitig feststeht - ich möchte auf diese neue Form einer sozialen Frage aufmerksam machen - , daß z. B. bei einem Verzicht - das ist etwas, worüber wir noch einmal diskutieren müßten - auf eine Stunde Arbeitszeitverkürzung bei kommenden Tarifverträgen die gesamte Pflegeversicherung mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil voll finanziert wäre.
({6})
Die Pflegeversicherung beschäftigt die Menschen sehr. Es ist auch klar: Ein Versagen der Koalition bei der Pflegeversicherung kann ihr insgesamt, aber auch der wirtschaftspolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland natürlich nicht dienen. Hinterher ist der Jammer immer groß, wenn man wegen solch falscher gesellschaftspolitischer Entscheidungen in einer Legislaturperiode den Schaden hat.
({7})
Ich sage für die Union: Wir sind Volksparteien. Um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft politisch zu garantieren und zu ermöglichen, bedarf es eben mindestens 50,1 % der Wählerstimmen. Die werden für diese Koalition zum größeren Teil bekanntlich von der Union erwirtschaftet. Wir sind eine Volkspartei und können eine so wichtige Frage in dieser Legislaturperiode nicht außen vor lassen.
({8})
Soziale Marktwirtschaft hat nichts mit Thatcherismus oder Reagonomics zu tun. Die Headline, die Parole der Sozialen Marktwirtschaft, formuliert von Ludwig Erhard, hieß nicht Wohlstand für zwei Drittel oder Wohlstand nur für Leistungsfähige und Gesunde, sondern Wohlstand für alle, d. h. auch für die Schwächsten, zu denen die Pflegebedürftigen nun gewiß gehören.
({9})
Es hat auch Stimmen gegeben, die das Sozialversicherungssystem im Umlageverfahren als versorgungsstaatlichen Sozialismus bezeichnet haben. Ich stelle fest, daß unsere Sozialversicherung im Umlageverfahren, leistungsbezogen finanziert in der Rentenversicherung, der Krankenversicherung, der Unfallversicherung und der Arbeitslosenversicherung, in einer auf der Welt einmaligen Weise, wie sie uns andere erst einmal nachmachen müssen, für Freiheit und soziale Sicherheit, wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Frieden und damit zu einer in Europa und auf der Welt überlegenen Wirtschafts- und Sozialordnung geführt hat, aber eben auch deswegen, weil auch der soziale Friede ein Produktionsfaktor ist.
({10})
Die Sozialversicherung, im Umlageverfahren finanziert, hat sich bewährt und ist ein integraler Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft. Nicht sie trägt die Beweislast für Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit, sondern es ist umgekehrt: Wer für ein Grundrisiko des menschlichen Lebens eine grundsätzlich andere Lösung einführen will, hat die Pflicht, bis ins Detail nachzuweisen, daß das neue System effizienter, ökonomischer und gerechter ist als das bewährte.
({11})
Nicht jeder Pflegebedürftige wird bei Einführung einer Pflegeversicherung seine Abhängigkeit von der Sozialhilfe verlieren. Dies zu versprechen wäre unredlich. Aber ich will es einmal so definieren: Es muß erreicht werden, daß derjenige, der jetzt und heute, ohne Pflegefall zu sein, von der Sozialhilfe unabhängig ist, auch dann nicht zum Sozialfall wird, wenn er pflegebedürftig wird, wenn er gepflegt werden muß.
Wir müssen ja irgendwo wissen, was wir wollen. Das bedeutet, daß die Leistungen sowohl in den Alters- und Alterspflegeheimen als auch für diejenigen, die zu Hause, also ambulant, versorgt werden, so hoch sein müssen, daß die Pflegekosten abgedeckt werden können und daß diese Menschen in der Lage sind, mit ihren Renten oder ihren sonstigen Einkommen den normalen Lebensunterhalt und die Mieten zu finanzieren.
Mit 1500 DM - das ist die maximale Summe, die nach dem Kapitaldeckungsverfahren bisher für möglich gehalten worden ist - kann man dies nicht erreichen. Die Landeswohlfahrtsverbände in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Baden-Württemberg, gehen von einer notwendigen Summe von mindestens 2 000 DM aus.
Darunter kann es ja auch nicht liegen. Denn wofür machen wir denn diese Versicherung? - Frau Babel,
Sie haben in der Haushaltsdebatte gesagt, wir hätten in dieser Debatte einen realen Ansatz verloren, weil die Union sich nur auf den Menschen und auf sonst gar nichts konzentriere. Ich habe Sie nicht mißverstanden. Ich weiß, was Sie sagen wollten. Es ist allerdings richtig: Auf wen sollten wir uns denn sonst konzentrieren? - Dem Pflegebedürftigen muß doch geholfen werden. Es macht keinen Sinn, eine gigantische Versicherung aufzubauen und das Geld dann in die Sozialhilfekassen zu schieben, ohne daß die betroffenen Menschen etwas von dieser Transaktion haben.
({12})
Wir machen doch keine Politik für Institutionen; wir machen sie für die Menschen.
Finanzieren kann man das nicht auf freiwilliger Basis, sondern nur durch eine Pflichtversicherung. Darüber besteht im übrigen zwischen uns auch Einigkeit.
Ich habe mir manchmal Gedanken darüber gemacht, warum unser Vizepräsident und stellvertretender Fraktionsvorsitzender Dieter-Julius Cronenberg - ein Unternehmer mit einem hohem Maß sozialpolitischer Verantwortung, wie wir alle aus der täglichen Arbeit wissen - sich doch mit einer gewissen Heftigkeit, die man sonst bei ihm nicht gewohnt ist, an dieser Diskussion beteiligt. Ich weiß es nicht, aber vielleicht habe ich eine Erklärung: Die Freien Demokraten hatten ursprünglich eine andere Konzeption, nämlich die Pflichtversicherung auf freiwilliger Basis
({13})
mit Anreizen durch Steuervergünstigung. Dies war eine in sich konsequente und schlüssige Alternative, die das Problem allerdings nur für relativ wenige gelöst hätte. Das muß man sagen.
Wer nun diese Konzeption aufgibt und den Schritt in die Pflichtversicherung vollzieht, der sieht sich schwer auflösbaren Widersprüchen gegenüber. Ich sehe das sehr wohl. Aus diesem Grunde müssen wir darüber reden, wie eine solche Konzeption aus dem Stand - das ist etwas, was nicht beantwortet ist - die Pflegekosten für die jetzt schon 1,65 Millionen Pflegebedürftigen finanziert und die Risiken von über 12 Millionen Rentnerinnen und Rentnern abdeckt. Das ginge nur mit einem vom Steuerzahler in Milliardenhöhe zu finanzierenden Subventionstopf.
({14})
Wer dies vom Finanzminister in der heutigen Situation verlangt, der kann im Grunde genommen auch gleich seinen Rücktritt verlangen. Die privatversicherungsrechtliche Lösung muß grundsätzlich von einer risikoberechneten Prämie ausgehen. Das heißt, wer jung und gesund ist, zahlt einen geringen Beitrag, wer alt und krank ist, einen hohen. In Reinkultur - ich weiß, daß Sie das nicht vorschlagen; auch die Arbeitgeber haben es nicht vorgeschlagen, aber man muß die Reinkultur einer privatversicherungsrechtlichen Lösung einmal vor Augen haben - bedeutet das bei 1 500 DM Pflegeleistung 18 DM für den 18jährigen,
100 DM für den 60jährigen und 150 DM für den 67jährigen, ohne daß die Ehefrau mitversichert wäre.
({15})
Wie will man ein 60jähriges Ehepaar mit vielleicht 1 600 DM Rente, ohne schamrot zu werden, zwingen, 200 DM Beitrag zu zahlen, ohne je die Aussicht zu haben, im Pflegefall mit 1 500 DM aus der Sozialhilfe herauszukommen?
({16})
Daß dies nicht geht, haben auch die Arbeitgeber erkannt.
Sie haben deshalb vorgeschlagen, die Beiträge für junge Menschen zu erhöhen und durch diese Subvention die Beiträge der Älteren zu senken.
({17})
Die Liberalen sind, was diesen Punkt anbelangt, noch konsequenter. Sie sprechen nämlich von einer gleichen Beitragsleistung, zum Beispiel 40 DM, für alle. - Aber wie kommen wir eigentlich dazu, einer 20jährigen Verkäuferin mit einem Nettoeinkommen von 1 500 DM denselben Beitrag von 40 DM abzuknöpfen wie ihrem Abteilungsleiter mit einem Einkommen von 8 000 DM im Monat, und zwar für ein und dieselbe Leistung?
({18})
Ich kann dies nicht Vorsorge für die junge Generation nennen. Nach diesem Modell subventionieren die Jungen mit einem in der Regel niedrigen Einkommen die Älteren mit in der Regel wesentlich höherem Verdienst, Lohn oder Gehalt.
In einer Pflichtversicherung dürfen wir übrigens schon aus verfassungsrechtlichen Gründen - natürlich mit einer gewissen Variationsbreite - die Bürger nicht zwangsweise stärker belasten, als zur Finanzierung des Versicherungszweckes notwendig ist. Um dieses Privatversicherungsmodell für ältere Menschen auch nur einigermaßen sozial tragbar zu machen, müssen die Jungen in einer finanziellen Höhe belastet werden, die ihre eigentliche Risikoprämie haushoch übersteigt.
Die Sozialversicherung hat ein anderes Ziel: Je niedriger die Einkommen, desto niedriger die Beiträge. Das kann doch wohl nicht heißen: Je jünger die Leute sind, desto mehr müssen sie bezahlen.
Die Union will im Umlageverfahren - das ist die Grundlage unserer Beschlüsse - eine Grundversicherung für die Pflegebedürftigkeit. Was über die Grundversicherung hinausgeht, sollte privatrechtlich versichert werden.
Wir sehen auch die demographische Problematik. Es ist vor allem einer Initiative des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, Erwin Teufel, und den baden-württembergischen Kolleginnen und Kollegen in der Union zu verdanken, daß in das Konzept der Union ein in das System der Sozialversicherung pas5550
sender und effizienter Vorschlag eingebaut worden ist. Wir wollen, um kommende Generationen mit ihrer Beitragsbelastung nicht zu überfordern, eine Kapitalrückstellung, durch Beitragsanteile finanziert, einführen, die wir allerdings privateigentumsrechtlich schützen wollen, damit kein Arbeitsminister und kein Finanzminister in 20 Jahren auf die Idee kommen kann, sich an diesem Kapitalstock zu vergreifen, aus dessen Erträgen mögliche, demographisch bedingte Schwankungen der Beiträge abgefangen werden könnten.
Die demographische Problematik wird im übrigen in unserem Sozialversicherungssystem und in unserer Debatte nach meiner Auffassung überschätzt.
({19})
Unberücksichtigt bleiben bei dieser Diskussion z. B. der Produktivitätsfortschritt, die Steigerung der Frauenerwerbsquote und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Im übrigen wird völlig übersehen, daß die geringere Zahl an inländischen Beitragszahlern schon allein durch die absolute Freizügigkeit in einem Europa, das im Jahre 2020 weit über die jetzigen EG-Grenzen hinaus ein einheitlicher Wirtschafts- und Arbeitsmarkt sein wird, durch Zuwanderung und Umzug aus anderen Ländern ausgeglichen wird.
Jede Generation muß für sich selber sorgen. Das trifft natürlich irgendwie zu. Aber es trifft nur einen Teil des Problems. Das kann man mit Mühe vielleicht für die finanzielle Vorsorge für richtig halten. Aber wie sieht es denn mit der nicht minder wichtigen Pflege selber aus? Sollen denn in Zukunft die Alten die Alten, die Pflegebedürftigen die Pflegebedürftigen betreuen und versorgen?
({20})
Unser ganzes menschliches Leben würde nicht mehr lebenswert sein und wäre zum Scheitern verurteilt ohne die Solidarität der Generationen.
({21})
Die Eltern sorgen für die Kinder. Wie sollen sich die Kinder auch sonst helfen können? Die Kinder tragen Verantwortung für ihre Eltern, wenn diese nicht mehr in der Lage sind, für sich selber zu sorgen. Dieser zutiefst christliche und solidarische Grundsatz hat zudem den großen Vorteil, daß er ökonomisch effizient, finanzierbar und in der Sozialgeschichte ohne Konkurrenz ist. Außerdem ist er auch verwaltungsmäßig einfach.
Die Pflegeversicherung unter dem Dach der Krankenversicherung macht im Prinzip Schluß mit der willkürlichen Aufteilung unserer Kranken in solche, die heilbare, und solche, die unheilbare Krankheiten haben. Ich war 13 Jahre Sozialminister und weiß, zu welchen menschlichen Tragödien es kommen kann, wenn im Übergang von Kriegsfolgeleiden zu anderen Krankheiten, von Unfallschäden zu krankhaften Zuständen und von körperlichen Krankheiten zu seelischen Schädigungen AOK und Versorgungsverwaltung, Unfallversicherung und Rentenversicherung - um nur einige wenige Beispiele zu nennen - einen Paragraphen-Krieg über die jeweilige Zuständigkeit zum Teil so lange geführt haben, bis sich durch den
Tod des betroffenen Menschen die Aktenvorgänge selber erledigt hatten. Heilbar Kranke bei der AOK, unheilbar Kranke bei über 50 Privatversicherungen - ich finde, das muß erst einmal verantwortet werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie soll es weitergehen? Es gibt bestimmte wichtige Themen, auch große Probleme in jeder Legislaturperiode, zu deren Lösung unterschiedliche Vorschläge gemacht werden und um die in der Politik auch gestritten werden muß, wie überhaupt Streit in der Demokratie die Voraussetzung für Transparenz und Fortschritt ist. Es gibt aber auch Probleme, die besser, wenn es irgend geht, aus der wahlkampfpolitischen Auseinandersetzung herausgehalten werden.
Es sind vor allem Probleme, die die Menschen betreffen, die über keine Lobby und damit auch nicht über die Droh- und Störpotentiale mächtiger Organisationen verfügen. Deren Lobby müssen wir in den Regierungen und in den Parlamenten sein. In einer zivilisierten und aufgeklärten Demokratie sollte es eigentlich nicht schwerfallen, den sonst durchaus nötigen parteipolitischen Streit nicht gerade auf dem Rücken der Schwächsten in unserer Gesellschaft auszutragen.
({22})
Es hat dem Ansehen der Parteien nicht geschadet, daß wir uns in der Rentenpolitik über Parteigrenzen und Koalitionsgrenzen hinweg verständigt haben. Warum sollte dies in der Frage der Pflegebedürftigkeit nicht gelingen?
Ich zitiere den Bundeskanzler aus seiner Regierungserklärung vom 30. Januar 1991:
Lassen Sie uns das doch einmal versuchen, bevor wir jetzt erneut Mauern des Kalten Krieges im Parlament errichten.
Ich füge hinzu: Wir sollten es auch bei anderen Themen tun. Wir werden 1994 die Bundestagswahl haben. Vielleicht sind wir alle miteinander zufrieden und froh, wenn wir in den Wahlkampfversammlungen sagen können, daß wir - CDU/CSU, FDP und SPD -, wie es bei der Rente der Fall war, auch bei der Pflege eine gemeinsame Basis im Interesse der betroffenen Menschen gefunden haben.
({23})
Als nächster hat das Wort Herr Kollege Dieter-Julius Cronenberg.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen eine Feststellung treffen, von der ich hoffe, daß sie nicht im Laufe meiner Rede von Ihnen vergessen wird, die Feststellung nämlich, daß ich das Problem der Pflegebedürftigkeit, die menschlichen Dramen, die sich um Pflegefälle abspielen, und die Probleme derjenigen, die die Pflege übernehmen, sehr wohl kenne. Es mangelt bei mir und bei meinen Kolleginnen und Kollegen nicht an Mitgefühl und nicht an Verständnis.
({0})
Dieter-Julius Cronenberg ({1})
Das Suchen, das Bemühen um die richtige Lösung als „soziale Kälte" zu diffamieren, empfinde sich als unfair und verletzend.
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Die Diskussion bedarf, weil es sich um eine grundsätzliche Weichenstellung unserer Gesellschafts-, Sozial- und Wirtschaftspolitik handelt, einer sehr gründlichen und, wie ich meine, auch von gegenseitigem Respekt getragenen Auseinandersetzung.
Meine Damen und Herren, wir bejahen die Notwendigkeit einer angemessenen Lösung, meinen aber, daß die Kenntnis der Probleme uns alle nicht von der Verpflichtung befreit, eine unseren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen angemessene Lösung zu suchen.
Wegen der Kürze der Zeit, die mit zur Verfügung steht, werde ich mich auf die wesentlichen Unterschiede zwischen dem SPD-Entwurf und unseren Vorstellungen zur Absicherung des Pflegerisikos, der in der Finanzierung des Modells liegt, konzentrieren.
({3})
Vorab: Ohne eine richtige Diagnose wird es auch keine richtige Therapie geben, und zur Diagnose gehören auch folgende Feststellungen:
Bei uns werden im allgemeinen die Menschen ordentlich gepflegt. Deswegen möchte ich auch nicht versäumen, mich bei denjenigen an dieser Stelle zu bedanken, die die aufopfernde Pflegetätigkeit in Familien und Heimen übernehmen.
({4})
Wir wissen auch, daß sich die Lebens- und Familienstrukturen in unserer Gesellschaft verändern. Wir kommen von der Drei-Generationen- zur Fünf-Generationen-Gesellschaft. Der Anteil an Singles und kinderlosen Ehepaaren steigt deutlich. Wir haben es in unserer Gesellschaft nicht nur mit dem Ausgleich zwischen den Generationen zu tun, sondern auch mit dem Ausgleich derjenigen, die Kinder aufgezogen haben, und derjenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, dies nicht getan haben; denn unbestritten, meine Damen und Herren, muß die nächste Generation, müssen unsere Kinder die Pflege bzw. die Finanzierung der Pflege beim jetzigen System und, wenn Ihr Vorschlag die Mehrheit finden würde, auch bei Ihrem System zusätzlich übernehmen, es sei denn, wir treffen Vorsorge.
({5})
Ebenso wichtig ist festzuhalten, daß sich das Verhältnis zwischen aktiven Beitragszahlern und Ruheständlern wegen Verlängerung der Ruhestandsphase und des sinkendes Anteils der Aktiven in unserer Gesellschaft weiter, wie ich meine, dramatisch verschlechtert. Lag der Prozentsatz der über 65jährigen an der Gesamtbevölkerung 1960 bei 11,6 %, 1990 schon bei 15,3 %, so wird er im Jahre 2030 auf 27 % ansteigen.
Diese Perspektiven signalisieren, daß unsere traditionellen sozialen Sicherungssysteme, die Renten-, die Kranken-, die Arbeitslosen- und die Unfallversicherung, die ja im Umlageverfahren finanziert werden, schon mittelfristig einen gravierenden Anstieg der Sozialversicherungsabgaben zur Folge haben werden.
Verdeutlichen muß man sich auch immer wieder, wie hoch die Abgabenbelastung unserer Arbeitnehmer in den Betrieben heute schon ist. Meine Damen und Herren, was dies für einen Arbeitnehmer bedeutet, will ich einmal an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Für einen Arbeitnehmer mit einem Bruttomonatsverdienst von 3 000 DM führt der Betrieb auf Grund gesetzlicher und tariflicher Verpflichtungen noch einmal 3 000 DM ab. Aber auch dafür erbringt der Arbeitnehmer die Leistung; der Chef tut es ja nicht. Eigentlich hat er also einen Bruttoverdienst von 6 000 DM. Je nach Familienstand und Steuerbelastung bekommt er netto noch 1 700 bis 1 900 DM ausgezahlt. Wir zahlen den Menschen also weniger als ein Drittel dessen, was sie geleistet haben, netto aus.
({6})
- Nein, nein, Kollege Andres.
Genaugenommen wird also ein Drittel ausgezahlt.
({7})
- Natürlich stimmt das.
Muß man sich denn dann nicht fragen, ob eine Belastungsgrenze erreicht ist. Können wir es uns bei Wahrung des sozialen Friedens in dieser Gesellschaft wirklich erlauben, weiter an der Beitragsschraube zu drehen,
({8})
zumal ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden muß: Mit wachsender Tendenz - zwischen den alten und neuen Bundesländern besteht hier kein großer Unterschied - kommen jetzt die geburtenschwachen Jahrgänge, die Jahrgänge nach dem Pillenknick, ins Arbeitsleben. So sank der Anteil der unter 18jährigen von 1960 bis 1990 von 25,3 auf 19,7 %; Prognosen zufolge wird er bis zum Jahre 2030 auf 16,8 % sinken. Diese geburtenschwachen Jahrgänge werden also demnächst die Mittel zu erwirtschaften haben, die erforderlich sind, um die berechtigten Ansprüche der geburtenstarken Jahrgänge im Bereich der Rentenversicherung, der Krankenversicherung und der allgemeinen sozialen Sicherung zu erfüllen. Das ist schon ein fast unlösbares Problem. Diese Problematik haben, auch wenn Sie schimpfen, Herr Kollege, viele erkannt. Weil diese Problematik erkannt worden ist, möchte ich es nicht versäumen, mich bei Christ- und Sozialdemokraten dafür zu bedanken, daß sie im Rentenreformgesetz mit uns gemeinsam die notwendigen Maßnahmen ergriffen haben, um unsere Rentenversicherung auf die von mir geschilderte Situation, die unbestritten ist, einzustellen und vorzubereiten.
({9})
Dieter-Julius Cronenberg ({10})
Während diese Erkenntnis der. Gefahr der Überbelastung erfreulicherweise beim Rentenreformgesetz vorgelegen hat, muß man sich doch fragen, wo sie denn beim Verfasser des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes geblieben ist. Diese Frage ist um so berechtigter, als ich meine, daß es bessere Lösungen gibt.
Bei der Pflegebedürftigkeit handelt es sich um ein Risiko, das relativ selten ist - nur 2 bis 3 T. unserer Bevölkerung werden pflegebedürftig -,
({11})
das allerdings jeden treffen kann, Herr Kollege Geißler, und das, wenn es einen trifft, fast unbezahlbar ist.
({12})
Man muß aber schon sehr konservativ und phantasielos sein, wenn einem bei dieser besonderen Ausgangslage nichts anderes einfällt, als die alten, traditionellen und schon überstrapazierten Finanzierungsmethoden einzusetzen,
({13})
mit anderen Worten: der immer kleiner werdenden nächsten Generation noch zusätzliche Sozialabgaben für die Pflegeversicherung auf die Schultern zu pakken.
Wir meinen, daß wir, die jetzige Generation, nicht zuletzt auch im eigenen Interesse, nämlich um die Finanzierung der anderen Sozialversicherungssysteme funktionsfähig zu erhalten, das Problem durch die Ansammlung von Kapital und durch die Pflicht zur Vorsorge lösen und erleichtern sollten.
({14})
- Ach, Herr Kollege, hören Sie ein Momentchen zu; ich will versuchen, es in aller Ruhe und Sachlichkeit zu erklären.
Wir sehen auch einen Zusammenhang zwischen vorhandenem und sich bildendem Vermögen und der Absicherung des Pflegerisikos. Das gilt um so mehr, als der auch heute morgen anwesende Kollege Jochen Vogel zu Recht darauf hingewiesen hat, daß die ältere Generation schon jetzt über ein Geldvermögen von 680 Milliarden DM und ein Grundvermögen von 590 Milliarden DM verfügt.
({15})
- Aber eine der Voraussetzungen, Herr Kollege Vogel, auf die sich unsere Beschlüsse berufen können, nämlich die Ausgangssituation der älteren Generation. Um wieviel mehr muß das für die jüngere Generation, also die Generation, über die wir jetzt reden, gelten. Wir haben eben auch eine Generation von Erben zu erwarten.
Wie bekannt schlagen wir deshalb die Absicherung des Pflegerisikos in einer Art Kapitaldeckungsverfahren vor. Der SPD-Vorschlag, Rudolf Dreßler, belastet
- wie auch die Vorstellungen nicht weniger Unionspolitiker - den Lohn der Arbeitnehmer dauerhaft mit
zusätzlichen Sozialversicherungsbeiträgen - das kann man nicht bestreiten -, während nach unserem Modell ein wachsender Teil durch die Erträge des angesparten Kapitals gedeckt werden kann. Das Umlagesystem, Rudolf Dreßler, ist natürlich eine Vorsorgeform. Wie käme ich auf die Idee, das zu bestreiten? Es ist eben gesagt worden.
({16})
Aber es ist die falsche Vorsorgeform für diesen Zweck.
Es entspricht auch nicht - ich bitte ernsthaft darüber nachzudenken - den Verhältnissen unserer Gesellschaft; denn der Einkommensanteil aus unselbständiger Tätigkeit, die sogenannte Lohnquote, sinkt relativ, und die Einkünfte aus Kapital steigen. Das geschieht auch, weil Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt wird. Wie Sie wissen, kosten viele Arbeitsplätze inzwischen 200 000 DM bis 300 000 DM an Investitionen. Warum aber, so fragen wir uns, sollen nicht zur Vermeidung von Überbelastung bei den lohnbezogenen Abgaben - ich habe eben darauf hingewiesen, wie hoch diese sind - die Erträge angesammelten Kapitals zur Finanzierung mit eingesetzt werden?
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Um die Prämien zu erleichtern, habe ich vorgeschlagen, dafür sowohl die vorhandenen Verträge nach dem Vermögensbildungsgesetz als auch einen gesondert einzuführenden 312-DM-Betrag zu verwenden.
In der Vergangenheit - hier vertraue ich für die Zukunft auf die Einsicht der Tarifvertragsparteien - sind derartige Abschlüsse nach dem Vermögensbildungsgesetz im Rahmen von Tarifverträgen auch - Gott sei es gedankt - gebührend berücksichtigt worden.
Nun kommt aber der eine oder andere Schlaumeier und sagt: Das kostet doch auch Geld; das kostet doch Lohngeld. Ja, selbstverständlich! Das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Ich komme nicht auf die Idee, Ihnen hier einen Vorschlag zum Nulltarif zu unterbreiten. Doch der Unterschied ist: Bei unserem Modell wird der wachsende Anteil des notwendigen Geldes - über die Leistungshöhe sind wir uns, abgesehen von geringfügigen graduellen Unterschieden, einig - aus Zinserträgen und nicht dauerhaft allein aus Sozialversicherungsbeiträgen bezahlt. Die Höhe der Beiträge, die Prämien - das trifft für alle Modelle zu -, hängt entscheidend von der Höhe der Leistungen ab. Deswegen, Kollege Geißler, sind die Rechnungen so, wie Sie sie aufgemacht haben, nicht richtig. Richtig allerdings ist - das trifft für alle Modelle zu, und erfreulicherweise wird es heute morgen hier auch eingeräumt, in der öffentlichen Diskussion leider nicht - : Ein beachtlicher Teil der Pflegebedürftigen wird durch die vorgesehenen Maßnahmen nicht von der Sozialhilfe befreit. Sie können auch nicht von der Sozialhilfe befreit werden, weil man dann AbsicheDieter-Julius Cronenberg ({18})
rungen vornehmen müßte, die in jedem Fall unfinanzierbar wären.
({19})
- Natürlich. Ich gehe davon aus, daß bei den jetzigen Modellen 25 % bis 30 % in der Sozialhilfe bleiben.
Die von den beiden großen Parteien erweckten Erwartungen in der Bevölkerung können so nicht erfüllt werden und werden vermutlich zu Enttäuschungen führen.
Die Höhe des Beitrags hängt aber auch davon ab, ob all diejenigen, die wenig oder gar nichts in ein solches Sicherungssystem eingezahlt haben, uneingeschränkt Leistungen erhalten sollen. Wer das will, muß allen einen Rechtsanspruch gewähren. Ich sehe aber bei Gott nicht ein, warum der pflegebedürftige Millionär, der nichts oder nur wenig für die Absicherung des Risikos eingezahlt hat, nunmehr einen Rechtsanspruch auf Finanzierung der Pflege aus den Beitragsmitteln der schlechtergestellten Versicherten erhalten soll.
({20})
Dabei ist es für uns selbstverständlich, daß für pflegebedürftige und pflegenahe Jahrgänge sozialverträgliche Lösungen gefunden werden müssen.
Herr Kollege Cronenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?
Ja.
Herr Kollege, können Sie mir sagen, warum ausgerechnet die Ärzteschaft Ihr Modell nicht unterstützt?
({0})
Die Ärzteschaft hat in einem Briefwechsel deutlich gemacht, daß sie sich für ein Leistungsgesetz, was keiner hier im Hause vertritt, entscheidet.
({0})
- Entschuldigung, dann, Herr Dr. Seifert, nehme ich Sie aus dieser allgemeinen Beurteilung selbstverständlich aus; ich bitte um Nachsicht, daß das meiner Aufmersamkeit entgangen ist. Herr Dr. Schuster, Sie sind nicht auf dem neuesten Stand der Dinge. Ich stelle Ihnen gerne den entsprechenden Briefwechsel zur Verfügung.
Wer einen Rechtsanspruch gewähren will, muß diesen also auch jedem Millionär - obwohl die Mittel aus Arbeitnehmergroschen aufgebracht worden sind - zugestehen. Was aber hat es mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, wenn diese Leistungen, für die keine Beiträge gezahlt wurden, jedem unabhängig von der Vermögenssituation gewährt werden? Steckt dahinter nicht der alte SPD-Gedanke vollständiger Kollektivsicherung ohne eigenen Beitrag und ohne
eigene Vorsorge? Man muß sich doch fragen, ob nicht die Fähigkeit und Bereitschaft zu größerer Eigenvorsorge mit wachsendem Wohlstand auch in der Arbeitnehmerschaft unterschätzt wird. Über 70 % aller Arbeitnehmerhaushalte verfügen über eine Lebensversicherung. Das ist ein deutliches Zeichen, daß die Bereitschaft und Möglichkeit zu Vermögensbildung und Absicherung bestehen.
Mir ist völlig unverständlich, warum gerade Sozialdemokraten auf die Idee kommen, nur den Lohn, das Haupteinkommen der Arbeitnehmer, dauerhaft zu belasten, anstatt auch Kapitalerträgnisse hinzuzunehmen.
({1})
- Herr Dr. Seifert, Sie sollten sich einmal die Vermögenstrukturen der Arbeitnehmerschaft in den alten Bundesländern ansehen. Dann würden Sie erkennen: Das ist das Ergebnis eines Systems, um das uns die Welt mit Recht beneidet.
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Niemand komme mir mit der vordergründigen Betrachtungsweise, Sozialversicherungsbeiträge würden zur Hälfte vom Arbeitgeber gezahlt. Die Beiträge für die sozialen Sicherungssysteme, die hälftig finanziert werden, werden natürlich von den Arbeitnehmern erwirtschaftet. Ich verweise auf mein Beispiel: 3 000 DM brutto, 6 000 DM Kosten, 1 700 bis 1 900 DM netto. Natürlich fließen die sogenannten Personalzusatzkosten in die Kalkulationen ein wie die Kosten von Lohn und Material; sie bestimmen den Preis für unsere Produkte und Dienstleistungen, bestimmen unsere Wettbewerbsfähigkeit als exportorientierte Volkswirtschaft. Wenn diese Wettbewerbsfähigkeit nicht gegeben ist, haben wir keine Arbeitsplätze, können wir keine Sozialversicherungsabgaben und Steuern erwirtschaften.
({3})
Nur wenn wir die Arbeit nicht unbezahlbar machen und durch Investitionen an der Spitze des technischen Fortschritts bleiben, haben wir die Chance, Arbeit für möglichst viele zu schaffen und unsere sozialen Sicherungssysteme, auch und gerade die umlagefinanzierten, solide zu finanzieren.
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Unser Vorschlag, für die Absicherung des Pflegerisikos auch Erträgnisse aus angesammeltem Kapital zu verwenden, hat den zusätzlichen Effekt, Mittel für Investitionen zur Verfügung zu stellen. Wer Vermögensbildung für Arbeitnehmer befürwortet, müßte mir jetzt doch eigentlich begeistert zustimmen.
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In der Haushaltsdebatte, meine Damen und Herren, war von allen Seiten des Hauses, von der PDS bis zu allen anderen, die am Opponieren waren, die Begründung - manchmal sogar aus meiner Sicht nachvollziehbar - für wünschenswerte Leistungen zu hören:
Dieter-Julius Cronenberg ({6})
Wir sind eines der reichsten Länder der Welt, und deswegen müssen wir uns dies oder jenes leisten, dies oder jenes finanzieren können. - Wenn wir uns nur einen Bruchteil dieser Wünsche erfüllen würden, dann wären wir bald nicht mehr in der Lage, das Notwendige, das Unverzichtbare zu finanzieren. Meine Damen und Herren, wenn wir uns in den letzten 40 Jahren, besonders in den letzten neun Jahren, so verhalten hätten, wie man das heute von uns verlangt, dann wären wir nicht mehr eines der wohlhabendsten Länder der Welt.
Lieber Rudolf Dreßler, wer wäre 1981/82 in der SPD-Fraktion ernsthaft auf die Idee gekommen, der Krankenversicherung die Pflegekosten zuzumuten? Wenn ich aber die Sozialdemokraten in der Haushaltsdebatte richtig verstanden habe, dann sind sie unisono der Meinung, daß die im Bundeshaushalt ausgewiesene finanzielle Situation, die Lage in den sozialen Sicherungssystemen, insbesondere in der Krankenversicherung, viel schlechter ist - einige meinen sogar: katastrophal schlechter -, als das damals der Fall war.
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Außerdem sind gewaltige Anstrengungen erforderlich, um die notwendigen Maßnahmen in den neuen Bundesländern zu finanzieren. Wie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, kann jemand, der diese Erkenntnisse hat, zusätzliche Lasten auf Steuer- und Beitragszahler packen wollen?
Nein, meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf löst das Problem mit falschen Mitteln. Eine schrumpfende Generation wird überfordert, und mit einer solchen Überforderung wird der Generationenvertrag aufgekündigt. Statt die Belastungen der arbeitenden Menschen durch Kapitalerträge zu mindern, sollen immer weniger Menschen immer höhere Sozialversicherungsbeiträge zahlen.
Herr Kollege Cronenberg, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Ja.
Herr Kollege Büttner.
Herr Kollege Cronenberg, stimmen Sie mir zu, daß auch die Zinserträgnisse von der jeweils arbeitenden Generation erwirtschaftet, erarbeitet werden müssen?
Aber selbstverständlich stehen hinter den Erträgnissen aus Kapital auch Leistungen. Aber Sie werden mir ebenso zustimmen - und da liegt die Logik meiner Argumentation - , daß es sinnvoller ist, Kapital anzusammeln und für Investitionen zu verwenden, also Vermögen zu bilden, als ausschließlich den Faktor Lohn, die Haupteinnahmequelle von Arbeitnehmern, noch stärker zu belasten. Es ist geradezu arbeitnehmerfeindlich, was in der Grundidee Ihrer Lösung steckt.
({0})
Ich sage Ihnen, Herr Kollege: Verantwortungsvoll Handelnde müssen diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Das Angebot, den Dialog fortzusetzen, nehme ich gern an. Dieser Dialog wird um so erfolgreicher sein, je mehr man bereit ist, den Grundansatz „Kapitalerträgnisse statt Überbelastung im Bereich der Sozialversicherungsabgaben" zur Grundlage der Finanzierung dieses absicherungswürdigen Risikos zu machen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld und auch für Ihre hoffentlich vorhandene Nachdenklichkeit.
({1})
Nun hat die Kollegin Barbara Weiler das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ist stolz darauf, Ihnen heute ein Gesetz vorstellen zu können, das eine immer noch bestehende große Lücke im System unserer sozialen Sicherheit schließen soll. Welche Schwierigkeiten Sie von der CDU zur Zeit damit haben, ist allseits bekannt. Nach den Ausführungen, die wir gerade vom Kollegen Cronenberg gehört haben, bezweifeln wir, ob wir da mit Ihnen zu einer vernünftigen Regelung kommen, Herr Geißler.
Bereits 1986 haben Sie die Initiative der hessischen Landesregierung, des Sozialministers Armin Clauss, mit der CDU-Mehrheit im Bundesrat abgelehnt. Es gibt zur Zeit kaum ein anderes Gesetz, auf dessen Verabschiedung so ungeduldig und dringend gewartet wird:
({0})
von den Betroffenen, von den Wohlfahrtsverbänden, von den Fachleuten und Kommunen.
Wir alle haben ja auf den Schreibtischen viele Briefe und Resolutionen der Verbände liegen. Ich will nur einige aufzählen - darin werden auch Sie sich wiedererkennen - : vom Kolping-Werk, vom VdK, von der Katholischen Frauengemeinde Deutschland, von der CDA, vom Bund Evangelischer Arbeitnehmer, vom Deutschen Landfrauenverband, vom Deutschen Familienverband, von der Lebenshilfe, der Arbeiterwohlfahrt, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und vielen anderen.
Lassen Sie mich zunächst auf die Lage der Betroffenen eingehen. Damit meine ich die Pflegebedürftigen und die Pflegepersonen. Die Pflegebedürftigen sind zur Zeit in einer unhaltbaren sozialen Lage, die unseren sozialstaatlichen Grundsätzen in keiner Weise entspricht. Nach einem langen Arbeitsleben sind sie plötzlich durch ihre Pflegebedürftigkeit auf Sozialhilfe angewiesen, da die Unterbringung in Pflegeheimen und die Kosten dafür auch überdurchschnittlich Verdienende an den Rand des Existenzminimums bringen.
Wenn die Angehörigen die Pflege zu Hause übernehmen wollen, besteht für die Pflegepersonen bisher keine Möglichkeit einer sozialen Absicherung für ihr eigenes Alter, die sie auch von dem Druck und der Angst befreit, eines Tages eventuell selber der Sozialhilfe anheimfallen zu müssen.
Außerdem brauchen sie dringend finanzielle und fachliche Unterstützung bei dieser schwierigen Aufgabe, die sehr viele Familienangehörige fast an die Grenze der Belastbarkeit bringt.
({1})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, unser Gesetzentwurf räumt der häuslichen Pflege gegenüber der stationären Pflege eindeutig den Vorrang ein. Wir wissen alle, daß alte und pflegebedürftige Menschen am liebsten in ihrer gewohnten Umgebung und in den vertrauten vier Wänden wohnen und auch dort betreut werden wollen.
In der gesamten Bundesrepublik gibt es rund 2,5 Millionen pflegebedürftige Menschen. Davon werden „nur" - relativ! - 450 000 stationär und über zwei Millionen von den Familienangehörigen, meist den weiblichen, zu Hause betreut.
Übrigens war die Relation auch in der früheren DDR im großen und ganzen ähnlich. Auch dort wurden die meisten pflegebedürftigen Menschen zu Hause betreut.
Das müssen wir gerade angesichts des Vorurteils, das in den Medien oft aufkommt, festhalten, wonach alte Menschen eben abgeschoben werden. So ist es nicht. Die meisten werden zu Hause gepflegt. Wir wollen das fördern und stärken. Darum müssen wir - die Politik, der Gesetzgeber - endlich diese moralische Anerkennung in konkrete Hilfen umsetzen.
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Diese Frauen - es sind ja zu über 80 Prozent Frauen - können die Pflege kranker Angehöriger jedoch meist nur dann übernehmen, wenn sie auf eine eigene Erwerbstätigkeit verzichten. Daher sind sie selten in der Lage, eine eigene Alterssicherung aufzubauen. Dieser Teufelskreis muß endlich durchbrochen werden, zumal er im Endeffekt mehr Geld kostet als die in unserem Gesetzentwurf vorgesehene soziale Absicherung der Pflegepersonen. Ich meine, es ist recht und billig, daß wir einen Rentenanspruch nicht nur für die Kindererziehungszeiten, sondern auch für die Pflegezeiten anerkennen. Unser Gesetzentwurf sieht dies vor.
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Auch bei diesem Problem erleben wir, daß unsere Gesellschaft von den Frauen voraussetzt und mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auch erwartet, daß sie sich nach guter alter Mütterart als pflegender und dienender Teil der schwächsten Mitglieder dieser Gesellschaft annimmt, und dies lediglich für ein gutes Wort und Gottes Lohn.
Meine Damen und Herren der Regierung, ich fordere Sie auf: Schaffen Sie für die Frauen, die Pflegebedürftige zu Hause pflegen, endlich eine soziale Absicherung, und unterstützen Sie unseren Gesetzentwurf, zumal kein anderer vernünftiger vorliegt!
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Als einen weiteren wichtigen Punkt lassen Sie mich auf die Bedeutung der ambulanten Dienste hinweisen. Neben der finanziellen Hilfe ist eine fachliche Beratung zur Entlastung und Unterstützung der Frauen und Männer bei ihrer Pflegetätigkeit notwendig. Deshalb sieht unser Gesetzentwurf die personelle und technische Einrichtung und Erweiterung der ambulanten Dienste vor. Hierzu gehören der Ausbau eines flächendeckenden dichten Netzes von Sozialstationen, Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen, die eine Begleitung und Qualifizierung der Pflegenden sowie eine Unterstützung von Gemeinschafts- und Selbsthilfediensten leisten können. Auch dies ist ein brennendes Problem seit der Vereinigung unseres Landes, da die Versorgung in den neuen Bundesländern nach dem 3. Oktober in diesen Bereichen in weiten Teilen praktisch zusammengebrochen ist. Wenn wir es ernst meinen mit dem Vorrang der häuslichen Pflege, dann erfordert dies Mittel vom Bund, aber auch von den Ländern und Kommunen für die Umgestaltung, für die Erweiterung von Wohnungen im Hinblick auf die Möglichkeit, daß ältere und pflegebedürftige Menschen in ihren eigenen vier Wänden bleiben können.
Daher erwarten wir neben den dringend notwendigen Investitionen im stationären Bereich, daß die Kommunen und Länder auch die Infrastruktur im ambulanten Bereich ausbauen.
An dieser Stelle möchte ich noch kurz darauf hinweisen, daß wir uns im Rahmen dieser Diskussion auch um den Pflegenotstand kümmern müssen; denn ambulante Dienste, effektive Prävention und Rehabilitation sind nur dann möglich, wenn qualifizierte und motivierte Altenpfleger und Altenpflegerinnen vorhanden sind.
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Auch in diesem Bereich arbeiten überwiegend Frauen, und zwar ca. 70 %. Daher sind diese Arbeitsplätze wie die meisten Frauenarbeitsplätze leider auch durch niedrige Gehälter und hohe Arbeitsbelastung gekennzeichnet. Sowohl die Anzahl der Pflegekräfte als auch deren Qualifizierung und die tarifliche Einstufung bedürfen dringend einer Verbesserung.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, wir haben schon früher an Sie appelliert - Herr Dreßler hat es heute wiederholt - , einer Absicherung des Pflegerisikos zuzustimmen. Sie wissen: In der Bevölkerung entsteht der Eindruck, daß sich die Fraktionen des Bundestages nicht einigen. Herr Geißler, Ihren Beitrag eben habe ich ein wenig als Signal verstanden, auf das Angebot von Herrn Dreßler einzugehen.
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Darum fand ich die Bemerkung von der Mauer des kalten Krieges völlig absurd und in diesem Zusammenhang nicht passend.
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- Ich weiß.
Wir verbinden mit diesem Gesetz und mit der Diskussion, die wir im Parlament, aber auch mit den Verbänden, im Ausschuß und auch sonst in der Öffentlichkeit zur Zeit führen, noch etwas ganz anderes: Wir müssen uns bewußt werden und in der Öffentlichkeit klarmachen, daß alte und pflegebedürftige Menschen ein Recht auf Selbstbestimmung und auf unsere Hilfe haben, daß sie in Würde alt werden können.
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Als nächstes hat das Wort der Kollege Konrad Weiß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir brauchen - darüber herrscht bei uns wohl Einigkeit - eine bessere soziale Absicherung von Pflegeleistungen. Doch die Auseinandersetzungen, wie sie nun schon seit Monaten innerhalb der Regierungskoalition geführt werden, bringen uns nicht voran. Geht es denn wirklich nur darum, wie Sozialhilfeträger und Krankenkassen am besten entlastet werden können? Oder geht es um Menschen, um Menschen, die alt und pflegebedürftig sind, die benachteiligt und hilflos sind und keine mächtige Lobby haben?
Wir haben in dieser Debatte eine merkwürdige Konstellation. Alle scheinen übereinzustimmen, daß dringender Handlungsbedarf besteht. Über alle Parteigrenzen hinweg könnte eine Mehrheit für ein solidarisches Lösungsmodell zustande kommen. Doch die Regierung scheint wieder einmal handlungsunfähig zu sein, weil sie sich selbst in ihren internen Differenzen bremst. Schon wird orakelt, ob der Sozialminister auf dem Koalitionsaltar geopfert wird.
Die Koalitionskontroverse Sozialversicherung kontra Privatversicherung wird exemplarisch geführt. Verhandelt wird im Grunde die Frage: Brauchen wir mehr oder weniger Sozialstaat? Im Westen scheint dies eine immer wiederkehrende Streitfrage zu sein. Ich sehe mich zum erstenmal in die Lage versetzt, politisch gestaltend in diesen Streit einzugreifen. 30 Jahre lang konnte ich mich nur theoretisch mit den Grundaussagen der katholischen Soziallehre auseinandersetzen. Nun endlich kann ich politisch handeln, und ich werde mich entschlossen dafür einsetzen, daß in dem hier zu gestaltenden Bereich unser Gemeinwesen solidarischer und humaner wird.
Auch meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE, meine Damen und Herren, plädiert für die Sozialversicherungslösung.
Pflegenotstand in Heimen, Unterversorgung im ambulanten und teilstationären Bereich der Pflegedienste, hohes Verarmungsrisiko und Sozialhilfeabhängigkeit der Betroffenen, chronische Überlastung der pflegenden Abgehörigen - mit jeder Verzögerung verschlimmert sich die Situation.
Gerade angesichts der Probleme in den östlichen Bundesländern brauchen wir eine solide und tragfähige Absicherung für die Pflegebedürftigkeit, nicht anders als für das Alter, für die Erwerbslosigkeit oder die Erwerbsunfähigkeit, für die gesundheitliche Vorsorge.
In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage unserer Gruppe hat die Bundesregierung den erheblichen Problemdruck in den östlichen Bundesländern bestätigt. Sie bemängelt darin insbesondere, daß die Pflegeheime dort weder von der räumlichen noch von der personellen Ausstattung her ihren Aufgaben gewachsen seien.
Als besonderes Problem muß erwähnt werden, daß in der DDR auch behinderte Erwachsene, Jugendliche, ja, sogar Kinder in Alten- und Pflegeheimen untergebracht wurden. Da die Heime darauf konzeptionell nicht eingestellt waren, überforderte dies Insassen und Pflegepersonal gleichermaßen. Noch dringlicher als im Westen geht es also in Ostdeutschland um eine strukturelle Neuorientierung und um die Verbesserung der Pflegequalität.
Hinzu kommt, daß bei uns pflegebedürftige Menschen bislang in den meisten Fällen gar keine Alternative zum Heim hatten, weil das ambulante Pflegeangebot stetig reduziert worden ist. Im Rahmen des Soforthilfeprogramms sind mittlerweile zwar einige hundert Sozialstationen eingerichtet worden. Aber dennoch eröffnet dies denen, die heute in Heimen leben, keine Wahl. Sie hat die Umstellung der Heimfinanzierung in den östlichen Bundesländern schwer und unvorbereitet getroffen. Viele alte Menschen, die unter ganz anderen Voraussetzungen ins Heim gegangen sind, sind dadurch von einem Tag auf den anderen von Sozialhilfe abhängig geworden.
Wer darin keine unzumutbare Härte erkennt, mißachtet die Befindlichkeit der Betroffenen. Das sind nun einmal Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitet und durch Einzahlungen Vorsorge getroffen haben und die sich nun als Abhängige, als Bettler empfinden.
Doch auch im Westen ist der Handlungsdruck erheblich. Meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE, hat daher heute gleichzeitig mit dem SPD-Gesetzentwurf einen eigenen Antrag eingebracht, mit dem wir die Regierung zum unverzüglichen Handeln auffordern. Grundsätzlich unterstützen auch wir die vorgeschlagene Sozialversicherungslösung.
({0})
Wir halten aber das vorgesehene Finanzierungsvolumen und entsprechende Leistungsangebote für unzureichend.
Zwar will auch die SPD, daß Pflegebedürftigkeit künftig nicht mehr zur Verarmung und zur Abhängigkeit von Sozialhilfe führen soll. Das ist aber inkonsequent. Mit den von ihr vorgesehenen Obergrenzen für den ambulanten Bereich - 60 Pflegestunden pro Monat - wird bei erhöhter Pflegebedürftigkeit der notwendige Bedarf keineswegs gedeckt. Da wird entweder auf zusätzliche unentgeltliche Pflege in der Familie gesetzt, oder es bleibt als Alternative nur das Heim.
Konrad Weiß ({1})
Wir schlagen daher einen Beitragssatz von 2,5 bis 3 % vor. Wir räumen damit der bedarfsgerechten Alterssicherung pflegebedürftiger Menschen Priorität ein und meinen, daß ein solcher Satz für die heute erwerbstätige Generation verkraftbar ist.
Zugleich sehen wir die Gefahr, daß infolge der vorhersehbaren demographischen Entwicklung, vor allem nach dem Jahr 2010, die Dynamik der Beitragssätze zu einer überhohen Belastung für die künftigen Generationen führen könnte. Daher schlägt das Bündnis 90/GRÜNE, ähnlich wie der sächsische Ministerpräsident, eine Mischfinanzierung vor, eine Kombination aus Umlagefinanzierung und Kapitalstockbildung. Würden vom aktuell erhobenen Beitragssatz 0,5 To zur Bildung dieses Kapitalstocks innerhalb der Sozialversicherung abgezweigt, könnte der so angesparte Fonds ab dem Jahr 2010 dazu dienen, die Beitragsdynamik zu bremsen.
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Neben diesen finanztechnischen Überlegungen unterscheidet sich unser Antrag aber auch inhaltlich. Wir möchten, daß sich Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Betroffenen in einklagbaren Rechten niederschlagen. Die Selbstbestimmung der Pflegeform soll auch dann gewährleistet sein, wenn die teurere Pflegeform gewählt wird. Die ausweglose Abhängigkeit von familiären Pflegepersonen, die lieblos oder durch die Pflege überlastet sind, kann für die Betroffenen ebenso schmerzhaft und unzumutbar sein wie der Umzug in ein Heim, der durch die Umstände erzwungen wird. Gewalt gegen alte und pflegebedürftige Menschen gibt es nicht nur in Heimen, sondern auch im ambulanten und familiären Bereich.
Mit einer besseren Pflegefinanzierung muß ein Umbau der Pflegestrukturen einhergehen. Die Unterbringung in großen stationären Einrichtungen entspricht in der Regel nicht den Wünschen und Gewohnheiten des pflegebedürftigen Menschen. Wenn wir das wissen, warum lenken wir dann nicht die Fördermittel um und fördern zukünftig vor allem kleine wohnliche Einrichtungen? Dies könnte man insbesondere in den östlichen Bundesländern beherzigen, wo derzeit ohnehin ein erheblicher Nachholbedarf besteht und eine bedarfsgerechte Infrastruktur geschaffen werden muß.
Zur Humanisierung gehört ferner die qualitative Verbesserung der Pflege. Dies erfordert auch eine entsprechende Ausstattung. Daher plädieren wir dafür, gesetzliche Mindeststandards festzulegen, damit tatsächlich ein Rechtsanspruch auf aktivierende und rehabilitative Pflege gewährleistet ist.
Am Herzen liegt uns auch noch eines. Pflegebedürftige Menschen brauchen gerade dann eine Lobby, wenn sie selbst nicht in der Lage sind, ihre Rechte einzuklagen und durchzusetzen. Wir schlagen daher Pflegeombudspersonen und Pflegekommissionen vor, an die sich die Betroffenen wenden können und die sie bei der Wahrung ihrer Interessen unterstützen können.
Ein letzter, aber nicht weniger wichtiger Punkt: Insgesamt muß das gesellschaftliche Ansehen der Pflegearbeit, der professionellen wie der unentgeltlichen, aufgewertet werden. Pflegearbeit ist bislang fast ausschließlich Frauenarbeit. Eine Hauptursache für die enorme Arbeitsbelastung ist der Personalnotstand; dadurch sind chronische Zeitknappheit und ständige Überforderung des Pflegepersonals bedingt. Auch die familiäre Pflege sollte durch ein entsprechendes Entgelt und durch ausreichende soziale Absicherung aufgewertet werden. Der derzeit häufigen Überlastung pflegender Frauen in den Familien könnte gleichzeitig durch ein breites Angebot von entlastenden Hilfen, wie ambulante, sozialpflegerische Dienste, Kurzzeitund Tagespflege, entgegengewirkt werden.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nun hat der Kollege Julius Louven das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich mich mit dem SPD-Gesetzentwurf auseinandersetze, möchte ich einige Anmerkungen zum Problem selbst machen.
Ich bekenne, daß ich lange von der Einführung einer Pflegeversicherung als zusätzlichen Zweiges der Sozialversicherung nichts gehalten habe und für eine private Pflichtversicherung im Kapitaldeckungsverfahren eingetreten bin. Die Gründe dafür lagen einmal in der Entwicklung der Lohnnebenkosten. Ich sah die demographischen Probleme, damit einhergehend steigende Beiträge. Ich sah in verschiedenen Bereichen Überversorgung und Mitnahmeeffekte. Ich würde das gern auch an einigen Beispielen darstellen, aber dazu reicht die Zeit nicht.
Ich habe auch ein Problem darin gesehen, daß in der Sozialversicherung Kinderlosigkeit belohnt wird. Ich kann eigentlich nicht einsehen, daß diejenigen, die bewußt ohne Kinder leben, um sich ein schönes Leben machen zu können, das Pflegerisiko dann durch die Kinder anderer bezahlen lassen.
({0})
Je mehr ich mich jedoch mit der Problematik beschäftigte, mußte ich erkennen, daß ein reines Kapitaldeckungsverfahren nicht geht. Zum einen könnte man in diesem Verfahren eine Finanzierung der sogenannten alten Last - ich weiß, dies ist kein schönes Wort, aber ich weiß auch kein besseres - nicht hinkriegen. Die Beiträge für die pflegenahen Jahrgänge wären utopisch hoch, die Finanzierung der Infrastruktur in der Pflege wäre nicht sicherzustellen, und ebenfalls könnte eine Verbesserung der Situation der Pflegenden über ein Kapitaldeckungsverfahren wohl kaum erreicht werden. Demgegenüber hat die Sozialversicherungslösung den großen Vorteil, daß sofort Geld für all diese Dinge zur Verfügung steht.
({1})
Meine Damen und Herren, ich habe großes Verständnis für die Sorgen der Wirtschaft in bezug auf die Ausweitung der Lohnnebenkosten und andere Belastungen. Der Wirtschaft geht es derzeit gut. Dennoch muß man gewisse Warnsignale ernst nehmen. Die Belastungen im europäischen Vergleich sollte man auch nicht verharmlosen. Die Erfahrungen der
70er Jahre, als es damals hieß, man solle einmal die Belastbarkeit der Wirtschaft testen, sollten uns zur Vorsicht mahnen.
({2})
Mittelstand und Handwerk haben unter steigenden Belastungen und Lohnnebenkosten sicherlich stärker zu leiden als Großbetriebe. Der Lohnkostenanteil, gemessen am Umsatz, beträgt beispielsweise in der Automobilindustrie 15 bis 20 %, in verschiedenen Handwerksbereichen bis zu 80%. Wir sollten von daher allen Versuchungen widerstehen, uns bezüglich der Belastungen der Wirtschaft gesundrechnen zu wollen.
Wirtschaftskreise waren in der Frage zusätzlicher Belastungen noch nie so sensibel wie derzeit. Die Aussagen der Sachverständigen und auch die Aussagen der Bundesbank sollten wir nicht so leicht vom Tisch fegen.
({3})
Auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sollten die Entwicklung der Lohnnebenkosten wirklich ernst nehmen. Sie haben ja ein Gespräch mit dem Zentralverband des Handwerks geführt. Dort sind Ihnen die Sorgen des Handwerks auch vorgetragen worden. Sie haben laut einer Presseerklärung gesagt - ich zitiere nur den letzten Satz Die SPD betonte, daß sie das Argument der Personalzusatzkosten sehr, sehr ernst nehme.
Wir sollten es von daher allesamt auch nicht vernachlässigen.
({4})
Wir in der CDU haben uns mit diesen Fragen sehr ernsthaft auseinandergesetzt. Wir haben einen Kompromiß gefunden, der es auch den Kollegen aus der Wirtschaft ermöglichen sollte, ihm zuzustimmen. Heiner Geißler hat die Regelungen eben vorgestellt. Ich darf dazu noch anmerken, daß unsere Aussage sehr wichtig ist, daß es mit der Einführung einer Pflegeversicherung keine zusätzlichen Belastungen für die Wirtschaft geben darf, will heißen, daß an anderer Stelle eingespart werden muß.
Nun, Herr Dreßler, zum SPD-Entwurf. Sie haben heute gesagt, die SPD sei in dieser Frage eine Partei mit Vergangenheit und wir eine Partei mit unrühmlicher Vergangenheit.
Herr Kollege Louven, gestatten Sie die Zwischenfrage des Kollegen Haack?
Bitte sehr, Herr Haack.
Herr Kollege Louven, ich komme auf Ihre Bemerkung zurück, die Kosten müßten neutral sein. Ist das Faber-Papier aus dem Bundesministerium für Gesundheit - ({0})
- Das ist das Papier, in dem aufgeschrieben worden ist, wieviel Milliarden im Gesundheits-Reformgesetz, das am 1. Januar 1989 in Kraft getreten ist, eingespart werden können.
Kann ich aus Ihrer Bemerkung und aus den Vorarbeiten im Bundesgesundheitsministerium schließen, daß es eine Abkassierungsorgie Nr. 2 im Bereich des Gesundheitswesens geben wird, um die Kosten, die für die Pflegeversicherung aufgebracht werden müssen, zu finanzieren?
Ich kenne weder eine Orgie im ersten Akt,
({0})
noch wird es eine im zweiten Akt geben,
({1})
aber den ernsthaften Willen der CDU/CSU-Fraktion, an anderer Stelle einzusparen. Ersparen Sie es mir, zum jetzigen Zeitpunkt schon zu erklären, wo dies möglich ist. So weit sind wir in der Tat noch nicht.
({2})
Herr Dreßler hat also gesagt, die SPD sei eine Partei mit Vergangenheit. Sie haben gestern gesagt, Sie würden sich heute moderat äußern. Ich bestätige Ihnen gerne, daß Sie sich moderater als früher geäußert haben. Dennoch kann ich Ihnen einige Bemerkungen nicht ersparen.
Ich zitiere aus dem „Dienst für Gesellschaftspolitik" vom 31. Oktober 1980:
Im September 1975 haben die Arbeits- und Sozialminister der Länder die Bundesregierung um eine Prüfung der Möglichkeiten für eine zweckmäßige Kostenverteilung bei der Altenpflege gebeten. Zwei Jahre später legte das Bundesgesundheitsministerium den Bericht „Pflegebedürftigkeit älterer Menschen" vor, der zwar das Problem einer ungenügenden Absicherung von pflegerischen Kosten aufzeigte, aber keine genügend konkretisierenden Verbesserungvorschläge machte. Die Arbeitsminister der Länder stellten daraufhin in Zusammenarbeit mit der Gesundheitsministerkonferenz und den beiden zuständigen Bundesministerien eine Bund-LänderArbeitsgruppe zusammen, der sechs Mitglieder der Bundesministerien und acht der Länderministerien angehörten, die bis März 1980 17 Sitzungen abhielten, einschließlich einer Anhörung aller betroffenen Verbände, und in ihrem Bericht fünf Lösungsvorschläge unterbreitete.
({3})
Ich denke, diese Schilderung spricht für sich. Es gab fünf Jahre Beratung und am Ende fünf Lösungsvorschläge, aber kein Ergebnis.
({4})
Herr Dreßler, Sie waren doch in dieser Zeit Staatssekretär im Arbeitsministerium.
({5})
Sie begründen in Ihrem Entwurf, daß wir trotz der neuen Leistungen in der GKV den Stand westlicher Länder nicht erreichen. Ich denke, diese Aussage ist nicht richtig; denn vergleichbare westliche Länder verfügen über kein Bundessozialhilfegesetz. Wir sollten dieses Bundessozialhilfegesetz, auf das wir alle stolz sind, auch nicht abwerten.
({6})
Unbestreitbar, meine Damen und Herren von der SPD, ist, daß Handlungsbedarf besteht. Daß Sie aber dann hingehen und Ihren Gesetzentwurf mit Regelungen aus der früheren DDR begründen, hat mich schon betroffen gemacht. Ich meine, was in der DDR gut war, stand allenfalls auf dem Papier; in der Praxis hat es aber nicht stattgefunden.
Ich will andererseits gern zugeben, daß manch ein Regelungsansatz bei Ihnen mit dem unsrigen übereinstimmt.
({7})
- Ich meine unsere Eckwerte. Werden Sie doch nicht nervös.
Wir haben erklärt, daß wir bis zum 30. Juni nächsten Jahres einen Gesetzentwurf präsentieren werden. Gehen Sie davon aus, daß dies auch geschieht.
({8})
Wir wollen - im Gegensatz zu Ihnen - allerdings keine Volksversicherung als Einheitsbrei. Ich befürchte, daß eine Volksversicherung in diesem Bereich auch ein Schritt in Richtung Volksversicherung bei der Krankenversicherung wäre, wo wir uns auf Trägervielfalt etwas einbilden.
Ich gebe Ihnen noch einige Kostproben aus Ihrem Entwurf: Länder stellen Bedarfspläne für die ambulante und stationäre Versorgung auf; tätig werden kann nur, wer im Bedarfsplan aufgenommen ist. Das erinnert mich an die unselige Krankenhausbedarfsplanung. Ich meine, wir sollten die gleichen Fehler in diesem Bereich nicht machen.
({9})
Auch im Bereich von Pflegeeinrichtungen wollen wir Trägervielfalt und mehr Markt. Sie wollen Pflegekonferenzen auf Landesebene und auf regionaler Ebene. Diesen soll die Planung, die Abstimmung und die Koordinierung obliegen. Sie wollen Landespflegekonferenzen. Sie wollen Landespflegepläne.
({10}) Sie wollen Planung, Planung, Planung,
({11})
viel Staat und möglichst viel Länderzuständigkeiten.
({12})
Man erkennt deutlich, wer Ihnen bei diesem Gesetzentwurf die Feder geführt hat.
({13})
Auch Ihre Zahlen stimmen nicht; vielleicht können Sie sie widerlegen. Sie unterstellen 2,5 Millionen Pflegebedürftige und davon 450 000 im stationären Bereich, also etwa 2 Millionen in häuslicher Pflege. Knapp 11 Milliarden DM setzen Sie hierfür ein. Dividiert man diese Summe durch 2 Millionen, ergibt dies einen monatlichen Betrag von 443 DM, obwohl Sie ein Pflegegeld mit einer Mindestleistung von 500 DM vorsehen. Außergewöhnlich Pflegebedürftige sollen 1 200 DM und Schwerstpflegebedürftige sollen 1 500 DM erhalten. Sie haben sich gesundgerechnet, um Eindruck zu machen. Ich könnte dies an weiteren Beispielen deutlich machen.
({14})
Ihre Pflegeversicherung läßt sich mit 1,5 % nicht finanzieren.
({15})
Wir sind der Meinung, daß es einen verläßlichen Mechanismus zur Kostenbegrenzung geben muß, weil man sonst riskiert, daß die Kosten aus dem Ruder laufen.
Die Zahlen machen deutlich, daß es sich lohnt, sorgfältiger an die Dinge heranzugehen, als Sie es getan haben. Dies betreiben wir seit Monaten. Wir haben - ich sagte es schon - in der Fraktion einen Konsens gefunden. Wichtig ist hierbei, daß wir die Belastungen nicht steigen lassen wollen und daß wir eine Kapitalrückstellung vorgesehen haben, die Sie, Herr Weiß, ebenfalls vorgeschlagen haben.
Unsere Aussage, darüber hinausgehende Vorsorge müsse privatrechtlich versichert werden, ist ein Hinweis an unseren Koalitionspartner. Ähnliches sagte im übrigen auch der Rheinland-pfälzische Sozialminister, der bekanntlich weder der FDP noch der CDU angehört.
Wir haben mit dem Gesundheits-Reformgesetz einen ersten Schritt getan. 200 000 pflegende Angehörige haben eine Leistung erhalten. Geld- und Sachleistungen für häusliche Pflege sind 500 000mal gewährt worden.
({16})
Dies verschweigen Sie. Auf diese erste Leistung sind wir stolz; weitere Leistungen werden folgen.
({17})
Die Aussage des FDP-Fraktionsvorsitzenden Hermann Otto Solms vom 6. November 1991 zu einer möglichen Kompromißlinie stimmt mich zuversichtlich. Ich glaube auch, die heutige Debatte hat gezeigt, daß man gewillt ist, aufeinander zuzugehen. Die Zeiten der gegenseitigen Vorwürfe sollten vorbei sein. Wir alle wollen eine Lösung. Ich bin zuversichtlich,
daß wir sie bis Mitte nächsten Jahres auch in Form eines Gesetzentwurfs präsentieren werden.
({18})
Das Wort hat nun der Kollege Gerd Andres.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute die Möglichkeit, im Rahmen der ersten Lesung des Gesetzentwurfes der SPD über ein gesellschaftliches Problem zu diskutieren, bei dem es in weiten Bereichen im Deutschen Bundestag Übereinstimmung gibt. Es gibt Übereinstimmung bei der Einschätzung der Lage der Betroffenen. Es gibt Übereinstimmung, daß dieses gesellschaftliche Problem gelöst, daß eine Regelung gefunden werden muß. Es gibt weitgehende Übereinstimmung bei den Leistungskatalogen, auch wenn es in einzelnen Punkten Unterschiede gibt. Ich denke, wenn man sozusagen die Mehrheitsfähigkeit in diesem Parlament an dieser Frage erproben würde, dann gäbe es eine breite Übereinstimmung weit über Parteigrenzen hinweg.
({0})
Man muß festhalten, daß das Thema Pflege und die Absicherung des Pflegerisikos ein gesellschaftliches Thema ist, bei dem weite Kreise der Bevölkerung außerordentlich sensibel reagieren und der Lösungsdruck, der auf die Politik zukommt, kaum noch steigerungsfähig ist.
({1})
Es ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit von Politik ganz allgemein - das betrifft uns alle - , ob dieser Deutsche Bundestag, ob die großen Parteien quer Tiber die Parteigrenzen hinweg die Kraft und die Möglichkeit finden, dieses von allen anerkannte gesellschaftliche Problem einer vernünftigen Lösung zuzuführen.
({2})
Viele von uns haben gemeinsam Podiumsdiskussionen, Debatten und Auseinandersetzungen geführt. Wir kennen vielfach die Argumente, die dort ausgetauscht werden. Was mich sehr beschäftigt, ist, daß etwa seit einem halben Jahr in vielen Veranstaltungen die Frage thematisiert wird: Herr Abgeordneter, glauben Sie überhaupt, daß es in dieser Legislaturperiode zu einer Lösung kommt? Wie schätzen Sie es eigentlich ein, wenn es nicht zu einer Lösung kommt? Bekommen wir die schwierigen Probleme, die sich in der Pflege und durch die Pflegebedürftigkeit ergeben, überhaupt gelöst?
Ich habe in solchen Diskussionen immer dafür plädiert, nach Möglichkeit einen Konsens zu suchen. Im Interesse der Betroffenen und im Interesse des Abbaus des unglaublichen Problemdrucks ist es ganz wichtig, an alle, die hier sitzen, zu appellieren, sich nicht weiter in ideologische Schützengräben einzugraben, sondern den Versuch zu unternehmen, aus diesen ideologischen Schützengräben herauszukommen und eine vernünftige Lösung in bezug auf das Pflegerisiko zu finden.
({3})
Ich habe den Ausführungen heute morgen sehr aufmerksam zugehört. Ich will bei einem letzten Punkt anfangen, bei dem, was der Kollege Louven vorgetragen hat. Er hat von einem Fünf-Punkte-Papier geredet, das 1980 in einer Bund-Länder-Kommission bearbeitet und dann nicht weiterverfolgt wurde.
({4})
Herr Kollege Louven, wenn man die Kernargumente relativ stringent verfolgt, wird deutlich: Wir hatten ab dem Jahr 1980 und in den folgenden Jahren - dieses Konzept ist damals schon von interessierter Seite beerdigt worden, so daß es nicht verfolgt werden konnte - in der Bundesrepublik eine riesengroße Debatte um die Frage der Lohnnebenkosten, um die Möglichkeiten des Sozialstaates und staatliche Handlungsmöglichkeiten. Diese Debatte mündete dann in Lambsdorff-Papieren, in Heimo-George-Papieren, in Albrecht-Papieren und ähnlichem.
Ich habe die herzliche Bitte - die einer großen Sorge entspringt -, alles zu unternehmen, um zu verhindern, daß wir debattenmäßig und inhaltlich wieder in genauso einem Loch landen, wie wir damals gelandet sind. Denn meine tiefe Überzeugung ist, daß das weder dem Sozialstaat noch der Lösung großer gesellschaftlicher Probleme genutzt hat, sondern daß wir ganz im Gegenteil eine gesellschaftliche Entwicklung feststellen können, die ich eigentlich mit den Worten von Herrn Geißler beschreiben darf.
Herr Cronenberg beschwört eigentlich zwei Dinge. Er beschwört zum einen die Frage der Lohnnebenkosten und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Er beschwört zum zweiten die Nettoverfügbarkeit von Arbeitnehmereinkommen und stellt die Frage, ob das alles eigentlich überhaupt aus Arbeitseinkommen zu bewältigen ist.
Herr Louven, auf das, was Sie gesagt haben, will ich, wie gesagt, schlicht mit Heiner Geißler erwidern, weil ich das inhaltlich für richtig halte. Heiner Geißler schrieb in einer schönen Pressemitteilung:
Der internationale Vergleich des Anteils der Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt zeigt, daß die Bundesrepublik heute mit 34,3 % weit vorne liegt.
Er sagt, „daß das Unternehmereinkommen am Volkseinkommen um 17,6 % im Jahre 1982 auf 24,5 % gestiegen ist" usw.
Weiter:
Zur Entwicklung der Lohnnebenkosten in den 80er Jahren einschließlich der Personalzusatzkosten führt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung in seinem jüngsten Gutachten aus: „Von allen Kostenkomponenten sind die Lohnkosten am wenigsten stark gestiegen."
Er führt weiter aus:
Auch im internationalen Vergleich stellt sich die
Lohnkostenentwicklung der Bundesrepublik
günstig dar. Die realen Lohnstückkosten liegen in
der Bundesrepublik um 9,1 % unter dem Niveau von 1982.
({5})
Ich könnte Ihnen reihenweise weiter Heiner Geißler vorlesen. Ich halte seine Argumentation, wenn man das Pflegekonzept herunterrechnet und auf 0,4 Prozentpunkte reale Belastung kommt, für völlig richtig. Ich bitte den Kollegen Cronenberg, diese Argumentation doch bitte schön einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen.
({6})
Das nächste Problem, das mich interessiert: Wir haben ja ein ähnliches Stück in einem anderen Zusammenhang erlebt. Im Jahre 1988 hat nämlich der Minister, der da sitzt, gemeint, er müsse nun ein Gesundheits-Reformgesetz machen. Das Ergebnis dieses Gesundheits-Reformgesetzes kann man momentan ablesen.
({7})
Es ist ein Trümmerhaufen, der übriggeblieben ist. Es haben Leistungskürzungen und massive Anhebungen der Selbstbeteiligung stattgefunden.
({8})
Es gibt relativ hart geregelte Pflegeleistungen. Ich sage Ihnen: Von Ihren ursprünglichen Kalkulationen, die Sie mit 14 Milliarden DM Einsparungen vorhatten - wovon 6 Milliarden DM in den Pflegebereich gehen sollten - , und von all den wunderschönen Vorhersagen, die sie gemacht haben, ist relativ wenig übriggeblieben.
Unsere Einschätzungen, es handelt sich um ein reines Kostendämpfungsgesetz, mit dem wir nach wenigen Jahren beweisen können, daß diese Reform, wenn man an den Strukturen nichts ändert, eine in den Sand gesetzte gesetzliche Maßnahme ist, die lediglich die sozialen Belastungen in der Bevölkerung anders verteilt,
({9})
hat sich voll bewahrheitet.
Ich sage Ihnen: Sie waren der Auffassung, Sie seien stark genug, große gesellschaftliche Reformen im Sozialbereich alleine machen zu können. Die Quittung und das Ergebnis können Sie am GRG ablesen. Deswegen meine Aufforderung: Treten Sie dem Angebot von Rudolf Dreßler näher, den Versuch zu unternehmen, die Frage der Absicherung und der gesetzlichen Regelung des Pflegerisikos in einer gemeinsamen Kraftanstrengung und im Dialog im Deutschen Bundestag noch in dieser Legislaturperiode zu beantworten.
({10})
Kollege Andres, Herr Kollege Geißler hatte eine Zwischenfrage, die
sich auf Ihre vorhergehende Äußerung bezog; Sie waren aber nicht zu bremsen.
Ich habe leider nur noch eine Minute Redezeit.
Die Uhr wird angehalten.
Nein, ich möchte nämlich noch einen anderen wichtigen Gedanken aufgreifen. Herr Cronenberg vermittelt den Eindruck, daß sozusagen die Finanzierungskonzeption der FDP es schaffen würde, die Lohnnebenkosten zu begrenzen oder gar abzusenken und die Nettoverfügbarkeit von Arbeitnehmereinkommen zu steigern oder zu gewährleisten.
({0})
Herr Cronenberg, ich habe Ihnen schon einmal in einer Podiumsdiskussion gesagt, daß Ihre Rechnung von den Lohnnebenkosten und den 6 000 DM, bezogen auf die Sozialabgaben und Steuern, so nicht stimmt. Es ist eine Milchmädchenrechnung.
({1})
Ich bitte Sie, doch einmal zur Kenntnis zu nehmen, woraus die Lohnnebenkosten bestehen;
({2})
da müssen die Tarifvertragsregelungen und ähnliche Dinge einbezogen werden.
Der letzte Punkt, Herr Cronenberg, zu dem ich etwas sagen möchte, ist: Zum Schluß müssen Sie offenbaren, daß es die Menschen doch bezahlen müssen. Ob mit Privatversicherung oder anders, die Menschen müssen es bezahlen!
({3})
Der „Charme" Ihres Systems, Herr Cronenberg, ist der des weiteren Abbaus gesellschaftlicher Solidarität;
({4})
denn es ist natürlich klar - da greife ich das Beispiel des Kollegen Geißler auf -: Wenn die 35jährige Verkäuferin im Einzelhandel einen gleich hohen Beitrag zahlen soll wie ihr Hauptabteilungsleiter mit dem mehrfachen Einkommen, dann ist dies genau der Ausstieg aus der gesamtgesellschaftlichen Solidarität,
({5})
den Sie im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform schon praktiziert haben und der letztendlich dazu führt, daß wichtige Grundpfeiler des Sozialstaates und unseres Sozialsystems Stück für Stück ausgehöhlt werden.
Meine ganz herzliche Bitte ist - Sie haben das Angebot gemacht, das sicherlich ernst gemeint ist - , im Interesse der betroffenen Menschen, die 24 Stunden, rund um die Uhr versorgt werden müssen, die zu Taschengeldempfängern degradiert werden, deren Familienangehörige kaum noch die Lasten tragen können, deren Eigenheime und deren angespartes Ver5562
mögen in kürzester Zeit aufgebraucht werden und die am Ende ihres Lebens genau da stehen, wo sie am Anfang standen, indem ihnen die gesamte Lebensleistung weggeräumt wird, den Versuch zu unternehmen, über ideologische Grundsatzfragen hinweg - diese helfen den Menschen nicht - eine vernünftige gesetzliche Regelung anzustreben und im Bundestag zu verabschieden. Dafür steht die SPD ausdrücklich in Gesprächen zur Verfügung. Rudolf Dreßler hat das für uns gesagt.
Ich komme zum Schluß. Ich habe Herrn Geißler sehr aufmerksam zugehört. Bei manchen Paarungen hatte ich etwas Probleme, Herr Geißler. Ihre Beschreibung der Menschen mit der 24-Stunden-Pflege stimmt, aber daran die Erklärung anzuhängen, der Bundestag könne nicht mit wechselnden Mehrheiten etwas beschließen, hilft diesen Menschen mit den 24 Stunden auch nicht.
({6})
Bei Ihrer Aufforderung, Herr Geißler, man müsse sich einmal überlegen, ob die Gewerkschaften nicht auf eine Stunde Arbeitszeitverkürzung verzichten sollten, hätte es mich eher gefreut, wenn Sie Ihre Presseerklärung genommen und etwas über Unternehmereinkünfte, Lohnkostenentwicklung und ähnliches gesagt hätten.
({7})
Das wäre angemessener gewesen und hätte weniger daneben gelegen.
({8})
Mir liegen jetzt drei Wortmeldungen für Kurzinterventionen vor. Ich lasse maximal noch eine vierte Wortmeldung zur Entgegnung zu.
Die erste Wortmeldung stammt vom Kollegen Dr. Heiner Geißler.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe hinsichtlich der Zahlen, die Sie, Herr Andres, vorgetragen haben, natürlich schon den dringenden Wunsch, klarzumachen, daß diese Zahlen, die völlig unbestritten sind, von mir nicht verwendet worden sind, um die Problematik des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland zu verharmlosen. Ich habe vielmehr auf die eigentlichen Ursachen, die dieser Problematik zugrunde liegen, hingewiesen. Sie können nicht in erster Linie in den Belastungen der Sozialversicherung gesehen werden.
Wenn man einmal die Begründung der Industrie- und Handelskammer der Vereinigten Staaten für zurückgehende Investitionen aus dem Ausland in der Bundesrepublik Deutschland sieht, dann muß festgestellt werden, daß dort etwas ganz anderes genannt wird - das habe ich gesagt -, nämlich erstens mangelnde Mobilität der Arbeitnehmer, zweitens zu hohe Unternehmensteuern und drittens zu kurze Arbeitszeit.
Es ist doch gar nicht zu verkennen - das steht in meiner Presseerklärung; das hätten Sie sagen müssen -, daß es für den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland in der Konkurrenzsituation natürlich von entscheidender Bedeutung ist, daß bei uns die durchschnittliche Arbeitszeit pro Jahr 1 600 und in Japan 2 200 Stunden beträgt. Ich füge hinzu: Es ist für mich ein Problem der Solidarität, daß diejenigen, die über die Droh- und Störpotentiale verfügen und in mächtigen Organisationen organisiert sind, Arbeitgeber und Gewerkschaften, bei der Verteilung des Bruttosozialproduktes durch Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich den Kuchen erarbeiten, den wir eigentlich auch bräuchten, um die Probleme der Pflegebedürftigkeit zu lösen.
({0})
Die nächste Kurzintervention vom Kollegen Julius Cronenberg.
Frau Präsidentin! Verehrter Herr Kollege Gerd Andres! Ich möchte noch einmal präzisieren: Es geht uns nicht darum, Solidarität dadurch aufzulösen, daß wir etwa die Überbelastung von Arbeitnehmern fördern. Das Gegenteil ist der Fall. Zu Recht ist die Bundesbank zitiert worden, was den sinkenden Anteil des Lohns an der gesamtvolkswirtschaftlichen Rechnung anbelangt. Es ist doch unsinnig, diesen sinkenden Anteil noch zusätzlich zu belasten.
Das Entscheidende ist doch: Wenn schon - auf eine Kurzformel gebracht - die Investitionen für die Effektivität unserer Wirtschaft immer notwendiger werden - und Investitionen werden nun einmal mit Kapital finanziert - , dann sollten die Erträge eben dieses Kapitals eingesetzt werden, um die solidarische Absicherung der Pflege zu ermöglichen.
Ich bitte wirklich, zur Kenntnis zu nehmen, daß die Rechnung 6 000 DM brutto/1 900 DM netto keine Milchmädchenrechnung ist. Natürlich gehören die tariflichen Zusagen dazu. Das wird überhaupt nicht bestritten. Aber die Kalkulation muß von der Zeit, in der gearbeitet wird, ausgehen. Alles andere sind Leistungen, die jeweils hinzuzurechnen sind. Deswegen ist es nun einmal so: 6 000 DM sind die Kosten, 1 700 bis 1 900 DM werden netto ausgezahlt. Sie, Kollege Andres, wissen doch am allerbesten - noch viel besser als ich - , daß sich die Menschen, wenn sie ihre Lohnabrechnung bekommen, beschweren. Sie sagen zu Recht: Netto bleibt zuwenig übrig.
Warum nehmen Sie die Hilfe nicht an, in Zukunft das Pflegerisiko auch durch Kapitalerträge zu finanzieren?
({0})
Zur nächsten Kurzintervention der Kollege Heribert Scharrenbroich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mir geht es langsam etwas auf den Geist, mit welcher Melodramatik die Koalition von der SPD immer wieder eingeladen wird, doch gemeinsam mit allen Fraktionen eine Lösung zu suchen. Ich möchte noch einmal die Reihenfolge darstellen.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode zu dieser Zusammenarbeit eingeladen. Ich weiß das noch deswegen ganz genau, weil ich in meinem Redebeitrag damals den Kollegen Dreßler kritisiert habe, daß er auf diese Einladung nicht eingegangen ist. Ich freue mich, daß es jetzt bei der SPD so weit ist.
({0})
Wir halten diese Zusammenarbeit aus dem gleichen Grund, aus dem wir bei der Rente zusammengearbeitet haben, für sehr sinnvoll: Damit die jetzt Erwerbstätigen wissen, daß dann, wenn sie später im Pflegealter sind, alle wichtigen Fraktionen dieses Parlamentes - gleichgültig, wie die Regierung aussieht - zu der Pflegeversicherung stehen.
({1})
Das Argument gilt für die Rente wie für die Pflege; aber das setzt natürlich voraus, daß wir uns mit unserem Koalitionspartner über dieses Verfahren einigen. Das setzt auch voraus, daß auch die SPD mitmacht - und dazu lade ich ein - , damit das umgesetzt wird, was im Tendenzbeschluß der Union festgehalten ist, daß nämlich die Gesamtbelastung der Wirtschaft bei der Einführung einer Pflegeversicherung nicht steigt. Von daher wäre es sehr interessant, dieses Werk gemeinsam mit der SPD zu vollbringen.
Danke schön.
({2})
Es ist schon höchst ungewöhnlich, daß wir die Debatte um eine Serie von Kurzinterventionen bereichern.
({0})
Noch ungewöhnlicher ist, daß der Angesprochene von seinem Erwiderungsrecht nicht Gebrauch macht, um einem weiteren Kollegen eine Redechance zu eröffnen.
({1})
- Die Kurzintervention hat den Sinn, daß sich jemand auf eine bestimmte Äußerung hin meldet und etwas dazu sagt; es können auch einmal zwei Abgeordnete sein. Aber wenn wir eine ganze Serie von Kurzinterventionen einschieben, dann müssen wir den Debattenverlauf ändern.
({2})
- Das ist ja auch in Ordnung. Ich stelle das nur fest. Hier gab es nur einen Vorgang, der das noch weiter deterioriert hätte.
Herr Kollege Andres, bitte.
Ich möchte bei der letzten Außerung anfangen: Uns geht es um die Regelung der Probleme vieler betroffener Menschen und vieler Menschen, die in Zukunft noch davon betroffen sein
werden, und wenn das dem Kollegen Scharrrenbroich auf den Geist geht, kann ich das nicht ändern.
({0})
Ich habe ein praktisches Beispiel genannt, nämlich die Gesundheitsreform, bei der Sie genau mit dieser Haltung jetzt vor einem Trümmerhaufen stehen.
({1})
Zu dem, was Herr Cronenberg gesagt hat: Meine Erfahrung ist - da haben wir sogar eine Erfahrung aus einer gemeinsamen Podiumsdiskussion - , daß, wenn man mit den Menschen darüber redet und fragt: „Was ist euch die Regelung des Pflegeproblems wert?" und: „Seid ihr bereit, dafür auch Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen?", 99 % der Betroffenen sagen:
({2})
Jawohl, bei diesem schwierigen Problem sind wir bereit, entsprechende Beiträge zu zahlen; wir sehen auch ein, daß die notwendig sind.
Wenn ich die Gegenrechnung aufmache - GRG, steuerliche Entlastung und ähnliche Dinge; da verweise ich noch einmal auf Herrn Geißler - , denke ich, daß diese Belastungen sowohl volkswirtschaftlich als auch individuell vertretbar und verkraftbar sind.
Herr Geißler, zu Ihrem Argument der Arbeitszeitverkürzung: Man könnte jetzt trefflich darüber streiten; aber der Zusammenhang war der, daß ich Sie aufgefordert habe, in Ihrem Diskussionsbeitrag nicht die Verbindung mit der Stunde Arbeitszeitverkürzung herzustellen, sondern die Verbindung mit der realen Entwicklung der Lohnnebenkosten, der Konkurrenzfähigkeit und der Entwicklung der Unternehmen.
({3})
- Ja, darauf müssen Sie wieder antworten. - Diese günstige Entwicklung haben die Unternehmen trotz Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich erzielt und erreicht, und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland ist damit nicht schlechter geworden, sondern die deutsche Wirtschaft hat dies verkraften können.
({4})
Ein Letztes: Sie haben in Ihrem Papier bemerkenswerte Aussagen über die Sozialleistungsquote gemacht. Wenn die Sozialleistungsquote so wäre, wie sie im Jahre 1982 war, so sagen Sie, dann hätten wir in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr 95 Milliarden DM mehr für Sozialleistungen aufwenden können, als wir zur Verfügung haben.
({5})
Schönen Dank.
({6})
Herr Kollege Geißler, so ist das nun einmal. Wenn einer das Wort hat, kann man als Präsident nicht ständig dazwischengehen.
({0})
Wenn wir drei Kurzinterventionen haben, dann muß der Angesprochene natürlich ein bißchen mehr antworten können als im Normalfall.
({1})
Meine Damen und Herren, die Diskussion ist sehr lebhaft, und das schätzt ja das Parlament.
Ich erteile als nächstem dem Abgeordneten Peter Keller das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gehört zur Lebenswirklichkeit, daß, wenn wir heute über die Einführung einer Pflegefallabsicherung diskutieren, auch jeder von uns jeden Tag ein Pflegefall werden kann. Dieser Tatsache müssen wir ins Auge sehen. Deshalb möchte ich meinen Blick in dieser Aussprache mehr auf die Betroffenen selbst lenken.
Tatsache ist, daß heute die stationäre Pflegebedürftigkeit 70 % der Hilfsbedürftigen ihr gesamtes Einkommen und das angesparte Vermögen wegnimmt. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das betrifft vor allem Menschen, die durch die Hitler-Diktatur, durch den Krieg und die Nachkriegszeit gegangen sind. Gerade viele ältere Menschen dieser Generation empfinden es noch als herabsetzend, überhaupt Sozialhilfe empfangen zu müssen. Sie schämen sich vor ihren Kindern, abhängig zu sein. Sie fühlen sich um ihre Lebensleistung betrogen, wenn ihnen bis auf ein Taschengeld überhaupt nichts mehr übrigbleibt.
Lassen Sie mich diese Problematik an Hand eines Beispiels noch etwas verdeutlichen. Eine 75jährige Frau ist in einem Seniorenpflegeheim untergebracht. Die monatlichen Kosten betragen 3 000 DM. Dazu trägt sie selbst mit einem Renteneinkommen von 1 560 DM bei. Es wird ihr vom Sozialhilfeträger ein monatliches Taschengeld von 230 DM ausgezahlt. Nehmen wir an, die alte Dame hat einen Sohn und eine Tochter. Die Tocher ist 43 Jahre alt und mit einem wohlhabenden Mann verheiratet. Sie verfügt aber weder über eigenes Einkommen noch über eigenes Vermögen. Deshalb kann von ihr keine Beteiligung an den Sozialhilfeleistungen für ihre Mutter verlangt werden. Der Sohn hingegen ist technischer Mitarbeiter, verdient 5 000 DM netto, ist verheiratet, Alleinverdiener und hat drei Kinder in der Schulausbildung. Er wird im Gegensatz zu seiner Schwester zu monatlichen Unterhaltszahlungen herangezogen. Wenn er zusätzliches Vermögen hat, z. B. ein kleines Ferienhaus, muß er es vollständig einsetzen. Man kann sich vorstellen, welche Spannungen so in die Familien hineingetragen werden können.
Wir brauchen deshalb eine Lösung, die auch für die heutigen Pflegefälle sofort greift. Sie muß möglichst viele aus der Sozialhilfe herausholen. Wir brauchen ein Modell, das auch auf die besondere finanzielle Situation der Menschen in den neuen Bundesländern Rücksicht nimmt.
({0})
Ohne die Solidarität der Generationen ist dies bei uns kaum möglich. Jeder von Ihnen wird mir auch darin zustimmen, daß die häusliche Pflege in der Regel die beste Form der Hilfe ist.
({1})
Die dynamisierte Rente ist ein erprobtes Beispiel für einen solidarischen Ausgleich unter den Generationen. Ich frage mich wirklich: Warum könnte sich die Pflegeversicherung hier nicht als Grundversorgung anbieten? Dabei bleibt für individuelle, zusätzliche private Absicherung noch genügend Freiraum.
Es ist sicher, daß es auch bei dieser Lösung gesellschaftspolitischer Probleme nicht an kritischen Stimmen fehlt. Die Sorgen um zusätzliche Belastungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen wir ernst nehmen. Deshalb dürfen die Lohnnebenkosten bei der Einführung der Absicherung des Pflegefallrisikos nicht weiter steigen.
({2})
- Ich kann dem Kollegen Geißler sicher zustimmen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle an die Regierungserklärung unseres Bundeskanzlers Helmut Kohl vom 30. Januar erinnern, in der er die Fraktionen, nämlich uns alle, eingeladen hat, ähnlich wie bei der Rentenreform auch bei der Pflegefallabsicherung gemeinsame Lösungen zu finden. Solche Angebote wurden von unserem Bundeskanzler schon vorher gemacht.
Eine letzte Bemerkung, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß wir mit den wirtschaftlichen und sozialen Problemen in den neuen Bundesländern fertigwerden. Mit der Enttäuschung und Verbitterung von Millionen Pflegebedürftigen und deren Familien dürfte dies nicht gelingen, wenn wir keine zufriedenstellende Lösung schafften oder das Problem vertagten.
({3})
Lassen Sie mich hinzufügen und daran erinnern, daß alle großen sozialpolitischen Weichenstellungen mit der Union erfolgt sind.
({4})
Auch bei der Pflegefallabsicherung werden wir die
Weichen im Interesse der Betroffenen richtig stellen.
({5})
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Ilja Seifert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle reden hier von einer Pflegeversicherung. Ich sage Ihnen aber, und zwar aus der Sicht eines Betroffenen, als Präsident des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland, der für Selbstbestimmung und Würde eintritt, also einer bundesweiten Behindertenorganisation, sowie als behindertenpolitischer Sprecher der PDS/Linke Liste: Wir brauchen ein steuerfinanziertes Pflege-Assistenz-Gesetz.
Jeder Mensch kann in jedem Alter in die Situation geraten, zeitweilig oder ständig auf Pflege angewiesen zu sein. Es handelt sich hierbei also nicht um ein Risiko, gegen das man sich versichern könnte, sondern um eine konkrete Form des Normalsten im menschlichen Zusammenleben, nämlich des Aufeinander-angewiesen-Seins. Das soziale, das gemeinschaftsorientierte Wesen ist eine der Ureigenschaften des Menschen. Wenn wir über ein Pflege-AssistenzGesetz sprechen, handelt es sich also um nicht mehr und nicht weniger als um eine Urpflicht der Gemeinschaft gegenüber dem einzelnen; in die Sprache der Politik übertragen: um ein grundlegendes Menschenrecht. Und das, meine Damen und Herren, wollen Sie versichern?
Warum bringen Sie dann keine Gesetzentwürfe gegen das Risiko des Entzugs der Rede-, Versammlungs- oder Meinungsfreiheit ein? Diese Freiheiten gehören doch wohl auch zu den Menschenrechten. Oder wollen Sie mir weismachen, daß es Menschenrechte erster und zweiter Ordnung gibt, solche, die der Staat garantiert, und solche, für deren Einhaltung sich der einzelne Bürger versichern lassen muß? Es wird viel und lauthals darüber geredet, daß die DDR-Geschichte gründlich aufbereitet werden müsse. Glauben Sie mir bitte, daß für mich eine der wichtigsten Lehren aus dieser Zeit ist, daß die Menschenrechte unteilbar sind.
Nun wird in der Öffentlichkeit unglaublich viel und unglaublich einseitig über die Absicherung des Pflegefallrisikos geredet. Da wird der staunenden Öffentlichkeit doch tatsächlich vorgegaukelt, daß die Politiker hart um die beste Möglichkeit der Absicherung dieses sogenannten Risikos ringen. Und was bieten Sie als Lösungen an? Zwei Versicherungsmodelle. Das eine ist etwas sozialer, das andere etwas marktwirtschaftlicher orientiert.
Nun gehen also die Experten - es sind Finanzexperten, nicht etwa Betroffene - frisch ans Werk und rechnen der Bevölkerung die jeweilige Lieblingsvariante mit spitzem Bleistift schön vor. Und was wird da gerechnet? Woher das Geld kommen soll. Es wird nicht etwa zuerst gefragt, welcher individuelle Pflegebedarf tatsächlich besteht. Nein, man rechnet und rechnet, wo und wieviel Geld man einnehmen könne, um es dann großzügig für die Pflege auszugeben. Soll
denn das menschenwürdig sein? Endet die menschliche Würde etwa dort, wo das Geld alle ist? Und daß Pflege sehr viel mit Würde zu tun hat, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten.
Menschen, die auf fremde Hilfe in Form von Pflege angewiesen sind, müssen tiefe Eingriffe in ihre Intimsphäre gestatten. Es hat also sehr viel mit der unantastbaren Würde des einzelnen zu tun, wer ihm - mit Verlaub - den Hintern wischt.
Pflege bzw. Begleitung wird von Menschen mit geistigen Behinderungen ebenso benötigt wie von Menschen in hohem Lebensalter. Sinnesbeeinträchtigungen erfordern andere Hilfeleistungen als seelische Krankheiten. Doch all das kann die Gesellschaft als Ganzes gut leisten. Das ist ja gerade das Prinzip der Arbeitsteilung, die bekanntlich immer weiter voranschreitet.
Das bietet uns auch die reale Möglichkeit, Pflege als Hilfe zur Selbsthilfe aufzubauen. Wir, die wir auf Pflege angewiesen sind, können bei diesem Verständnis von Arbeitsteilung eine gleichberechtigte Rolle spielen. Dann werden nämlich Pfleger und zu Pflegende Partner. Jeder gibt, was er kann, jeder einzelne gewinnt dabei, und darin besteht der Gewinn für die gesamte Gesellschaft.
Von allen Seiten wird inzwischen zugegeben, daß am Exempel der Pflegefinanzierung ordnungspolitische Weichen für die zukünftige Entwicklung gestellt werden sollen. Es geht um die Bundesrepublik Deutschland, es geht aber auch um Europa. Wir können ruhig einmal über den Zaun hinausschauen; da gibt es ja ganz gute Lösungen.
In eine für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes verständliche Sprache übersetzt heißt das im Klartext: Es geht darum, ob in Zukunft die Verwertungsprinzipien des Marktes oder die Sozialstaatsprinzipien der Solidargemeinschaft zur Grundlage des Miteinanderumgehens werden.
In diesem Zusammenhang ist es durchaus symptomatisch, daß die entscheidenden Vorberatungen in der CDU/CSU im Wirtschaftsrat, nicht etwa in den Sozialausschüssen stattfanden - symptomatisch insofern, als unverblümt klar wird: Es geht dabei um ein großes Geschäft, nicht um eine zutiefst humanistische Aufgabe.
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Oder will jemand ernsthaft bestreiten, daß Versicherungen höchst einträgliche Unternehmen sind?
Unsere Aufgabe besteht aber meines Erachtens nicht darin, Versicherungen - weder privaten noch der Sozialversicherung - per Gesetz neue Kunden in die Arme zu treiben, damit sie ihren Profit steigern
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oder zumindest ein Heer von hochnotpeinlichen Bedürftigkeitsprüfern beschäftigen. Deshalb brauchen wir ein Pflege-Assistenz-, ein Bundesleistungsgesetz. Dieses Gesetz muß den Prinzipien des Sozialstaats verpflichtet sein.
Meine Partei, die PDS, gibt mir die Möglichkeit, hier im Deutschen Bundestag auch als Präsident des ABiD aufzutreten, der schon in seinem Namen das programmatische Wort „Für Selbstbestimmung und Würde" führt. Dieser ABiD, ein Kind des DDR-Herbstes 1989, ist inzwischen im gesamten Bundesgebiet vertreten, hat hier Anhänger und Mitglieder,
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tritt seit seinem Bestehen für ein steuerfinanziertes Pflegegesetz ein.
Ich nenne es, um deutlich zu machen, wohin es inhaltlich tendiert, Pflege-Assistenz-Gesetz. Und wir wissen uns in dieser Forderung nicht allein. Darauf wurde hier schon hingewiesen; ich sage ferner: Der Reichsbund und die CeBe-fs kämpfen ebenso für ein derartiges Gesetz wie die Zentren selbstbestimmten Lebens.
Auf einem Hearing, das die Abgeordnetengruppe PDS/Linke Liste in Ermangelung ausreichender Redezeit im Plenum am 21. November im Berliner Reichstagsgebäude abhielt, sprachen sich auch die Vertreter der Grauen, der Grauen Panther, der ÖTV und der Bremer GRÜNEN
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für ein solches Pflege-Assistenz-Gesetz aus.
Auch die im Bundestag vertretenen Parteien waren ursprünglich für ein solches Leistungsgesetz. Oder sind das Kriegsopferversorgungsgesetz und die Beamtenversorgung etwa Versicherungen? Nein, es sind Leistungsgesetze, die die Adenauer-CDU in den 50er Jahren durchsetzte. Ich lade Sie von der CDU/CSU herzlich ein, Ihren Ahnen gemeinsam zu beerben und diese für ausgewählte Bevölkerungsgruppen geschaffenen Leistungen auf alle anzuwenden, die ihrer bedürfen, ohne Ansehen der Person.
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- Ich komme gleich darauf.
Oder Sie, meine verehrten Damen und Herren von der SPD: Noch 1988 sprachen Sie überall von der Notwendigkeit eines Bundesleistungsgesetzes. Dann, im Sommer 1990, waren Sie so stolz darauf, das Wort „Sozialunion" erzwungen zu haben, daß Sie sogar der Währungsunion zustimmten. Jetzt legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der, weil die Einheit so teuer sei, eine Versicherung bringen soll. Bleiben Sie doch einfach bei Ihren Prinzipien! Viele inhaltliche Aspekte Ihres Vorschlages kann ich ohne weiteres befürworten.
Ein Pflege-Assistenz-Gesetz braucht weder Versicherungsbeiträge noch Steuererhöhungen. Es würde zum Teil den Etat der Sozialhilfe entlasten. Es würde vor allem massenhaft neue Arbeitsplätze für Pflegeassistenten schaffen, die dann Lohnsteuer zahlen würden.
Hier sei gleich noch einmal auf die Arbeit dieser Assistenten eingegangen. Die Qualifikation dieser Personen kann nicht an irgendwelchen speziellen Diplomen gemessen werden. Zur Qualifikation dieser
Personen gehören Eigenschaften wie Güte, Liebe, Einfühlungsvermögen. Wir, die wir der Pflege bedürfen, müssen uns die Menschen selbst aussuchen können, die diese schwere Arbeit leisten. Dazu müssen wir sie angemessen bezahlen können. Gleicher Lohn für gleiche Leistung, egal ob sie von den Eltern, den Kindern, den Ehepartnern, den Freunden, von Nachbarn, Bekannten oder speziell ausgebildeten Krankenschwestern und Pflegern usw. erbracht wird. Ansonsten besteht nämlich keine reale Auswahlmöglichkeit, ansonsten würden ausschließlich professionelle Pflegeanbieter bevorzugt. Steht aber uns zu Pflegenden die erforderliche Summe zur freien Verfügung, werden wir ordentliche Arbeitsverträge abschließen und selbstverständlich auch alle Nebenkosten - Steuern, Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge - zahlen: zum Wohle des einzelnen und der Gemeinschaft.
Es kann doch nicht sein, daß man arm dran ist, wenn der Arm ab ist.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Als nächster hat der Abgeordnete Bernd Henn das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer das Engagement des Bundesarbeitsministers für eine gesetzliche Pflegeversicherung unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung bei öffentlichen Auftritten erlebt hat - ich hatte die Gelegenheit beim Kongreß der Gewerkschaft Bau-Steine-Erden im Oktober dieses Jahres - , kann ihm die Anerkennung in dieser Frage nicht versagen. Aus meiner Sicht gilt diese Anerkennung immerhin einem Minister, der in meinem Heimatort Salzgitter vor sieben Jahren auf der Kundgebung zum 1. Mai von den Kolleginnen und Kollegen so gnadenlos ausgepfiffen wurde, daß er seine Rede abbrechen mußte. Da ich daran nicht ganz unschuldig war,
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möchte ich Ihnen heute, Herr Minister, angesichts Ihres verzweifelten Kampfes in Ihren eigenen Reihen doch ein spätes Wort der Entschuldigung sagen,
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obwohl Sie die Reaktionen der Arbeitnehmer durch die vielen Gesetze in gewisser Weise natürlich auch provoziert haben. Aber dennoch ein spätes Wort der Entschuldigung!
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Meine Anerkennung für Ihre Haltung in der Frage der Pflegeversicherung gilt natürlich nur so lange, wie Sie standhaft bleiben und nicht einknicken oder umfallen. Jeder weiß, daß Sie es in Ihrem politischen Lager nicht leicht haben. Ich denke, daß der von der SPD vorgelegte Gesetzentwurf einerseits eine objekBernd Henn
tive Hilfe für die Sache ist - ich persönlich bin der Auffassung, daß er in der Sache auch das bessere Konzept hat - , daß aber die Initiative der SPD Ihnen andererseits den Rückzug abschneidet, wenn Sie ihn denn vorhätten. Denn wenn Sie in dieser Frage hinter das zurückgehen würden, was Sie als Konzeption bekanntgemacht haben, dann dürfte wohl, wie der Volksmund sagt, niemand mehr eine Schnitte Brot von Ihnen nehmen.
Der SPD-Gesetzentwurf ist natürlich das sozial gerechtere Modell; denn es ist nicht einzusehen, warum Selbständige und Beamte aus der Verpflichtung zu einem Solidarbeitrag zu diesem gesellschaftlichen Problem entlassen werden sollten.
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Das gleiche gilt natürlich für die höhere Beitragsbemessungsgrenze.
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An die Adresse der PDS/Linke Liste gerichtet, möchte ich sagen: Geben Sie bitte Ihre Vorstellung von einer steuerfinanzierten Pflegesicherung auf! Stellen Sie sich nur einmal vor, was am Ende herauskäme, wenn die Pflegesicherung in die Mühlen der Haushaltsdebatten geriete. Ich glaube, es ist sinnvoll, dies als Sozialversicherungskonzept durchzuführen.
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Was uns aus dem Lager der Arbeitgeberverbände und aus der FDP zu diesem Problem einer sozial besonders benachteiligten Bevölkerungsgruppe aufgetischt wird, überrascht natürlich nicht. Die Privatisierung sozialer Risiken ist das politische Programm der FDP, und politische Programme haben etwas mit Interessen zu tun. Was anderes, so meine ich, soll sich ein ehemaliges Vorstandsmitglied einer privaten Versicherung wie Otto Graf Lambsdorff eigentlich vorstellen können als eben private Versicherung dieses großen Lebensrisikos? Darüber wundere ich mich also nicht.
Herr Kollege Henn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Bitte schön.
Herr Kollege Henn, Sie empfehlen uns, von der steuerfinanzierten Pflegeassistenz abzugehen und für eine Versicherung zu sein. Halten Sie die Frage der Pflege für das gleiche wie einen Autounfall, den man versichern kann?
Es geht hier um eine Solidarversicherung, bei der jeder nach seinem Vermögen und nach seinen Einkünften dazu beiträgt, das Pflegefallrisiko abzusichern. Dafür bin ich in der Tat.
Ich wundere mich also nicht über die Haltung von Otto Graf Lambsdorff. Ich wundere mich allerdings über die Haltung einiger Teile der allerchristlichsten Parteien in diesem Hohen Hause. Das „C" scheint in diesen Parteien wirklich nur noch auf dem Arbeitnehmerflügel ernstgenommen zu werden.
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Wenn Norbert Blüm christliche Barmherzigkeit einfordert, wie er es auf dem Kongreß der IG Bau-SteineErden getan hat, dann nehme ich ihm das ab. Aber ich denke, bei dem Großteil der Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU bestimmen doch eher die Verbandslobbyisten aus Industrie, Handwerk und Versicherungsgewerbe die Leitlinien für politisches Handeln denn christliche Normen und Werte.
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Ich wundere mich auch über die Unverfrorenheit, hier über die hohen Belastungen der Wirtschaft durch Lohnnebenkosten zu jammern. Kollege Geißler hat das heute sehr sorgfältig vorgerechnet. Er ist auf 0,4 Belastung für die Arbeitgeber gekommen.
Die Bundesbank, die angeblich Milliardenlöcher in der Sozialversicherung ausgemacht hat und damit Verunsicherung hinsichtlich der bestehenden Sozialsysteme provoziert und dies, wie ich denke, gezielt und gewollt tut, um die Debatte über eine Pflegeversicherung zu beeinflussen, belegt selber, wie hervorragend sich die finanzielle Basis der westdeutschen Wirtschaft entwickelt hat. Falls Ihren Kabinettskollegen, Herr Bundesarbeitsminister, dies nicht bewußt sein sollte, legen Sie ihnen bitte doch noch einmal die Bundesbankberichte vom Mai und vom November 1991 auf den Tisch. Im Mai-Bericht geht es um die Seiten 16 und 17; das reicht. Für den November-Bericht kann ich Ihnen die Seitenangaben gern nachliefern. Dort finden Sie schwarz auf weiß, wie es der deutschen Wirtschaft geht.
Die Finanzierung der Pflegeversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde die Wirtschaft nicht überfordern und auch den Produktionsstandort Bundesrepublik nicht gefährden. Ich denke, auch die Arbeitnehmer könnten diesen Solidarbeitrag akzeptieren, ohne daß daraus reallohnerhaltende Tarifforderungen erwachsen würden und dürften.
Der Kampf um die Einführung einer sozial gerechten gesetzlichen Pflegeversicherung ist noch nicht entschieden. Ich meine, es kommt jetzt darauf an, den Druck, der von dem heute vorgelegten Gesetzentwurf der SPD ausgeht, durch eine verstärkt geführte öffentliche Debatte zu erhöhen.
Die fast zwei Millionen direkt Betroffenen und ihre Angehörigen müssen wissen, wer ihnen zur Seite stehen will und wer dieses Lebensrisiko privatisieren will, weil er auf der Seite der wirtschaftlich Starken und Mächtigen steht.
Schönen Dank.
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Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 20 Jahre Diskussion über die Pflegeversicherung, 20 Jahre Pflegestreit - ich denke, es reicht.
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Die Frage ist, ob dieser Bundestag die Kraft hat, zu entscheiden, ob dieser Bundestag die Kraft hat, eine befriedigende, eine soziale Antwort zu geben.
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Ich beteilige mich überhaupt nicht an der Diskussion: Wer hat was erfunden? Wer hat von wem abgeschrieben? Ich denke, das interessiert die Menschen nicht. Parteien sind kein Selbstzweck. Was uns nicht passieren darf, ist, daß im Gestrüpp von Modellen, im Dickicht von Taktik das große soziale Thema zugrunde geht.
Ich finde, es ist doch ein erfreuliches Ergebnis unserer Debatte, auch bei unterschiedlichen Standpunkten, daß heute klar geworden ist, daß in diesem Bundestag der Wille vorhanden ist, diese Frage in dieser Legislaturperiode zu beantworten.
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Dazu bedarf es parteienübergreifender Anstrengungen und des guten Willens auf allen Seiten.
Ich denke, es kann uns helfen, wenn wir uns vergewissern, um was es geht. Der Kollege Weiß hat heute gesagt: Der Sozialstaat besteht nicht aus abstrakten Größen. Wo könnte besser festgemacht werden, was Sozialstaat ist, als an den Hilfsbedürftigen, an den Pflegebedürftigen; nicht an Paragraphen und Bürokratien. Wer sich nicht in die Lage der Pflegebedürftigen versetzen kann, hat es schwer, Zugang zum Problem zu finden.
Ich habe in dieser Woche diese Anzeige der Privaten Krankenversicherungen gesehen:
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„Wer zahlt, wenn Sie wirklich einmal Pflege brauchen?".
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Betrachten Sie sich diese Anzeige: Man sieht jemanden mit einem Pudel, mit Schleifchen geschmückt, auf dem Schoß, Fingernagelkosmetik an der linken Seite, Fingernagelkosmetik an der rechten Seite, eine Tasse Kaffee, vier Pflegepersonen.
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Meine Damen und Herren, da hat man den Eindruck: Es wird jemand zum Bundespresseball vorbereitet,
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als ginge es um Kosmetik. Wissen Sie, um was es in Wirklichkeit bei der Pflege geht? Da geht es um Trokkenlegen, Waschen, Kämmen, hilflosen Menschen rund um die Uhr Dienst zu leisten. Diese Anzeige stellt für mich einen bodenlosen Zynismus dar und ist ein Ausdruck von Problemferne.
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Eine Familie, in der ein behindertes Kind gepflegt wird, die Mutter, der Vater, die Schwiegermutter oder der Schwiegervater, ist in Gefahr, aus dem Tritt gebracht zu werden. Dabei geht es nicht nur um Arbeitnehmerfamilien, sondern auch um Handwerkerfamilien.
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- Auch die Landwirte. Hier geht es nicht um ein gruppenspezifisches Problem.
Wir haben dieses Feld weitgehend den Frauen überlassen. Zum Dank für den Samariterdienst
- 1,2 Millionen Menschen werden zu Hause gepflegt - , zum Dank dafür, daß sie wegen der Pflege selbst nicht erwerbstätig werden können, stehen sie im Alter ohne eigene Rentenversicherung da. Ich glaube, wir stimmen überein: Das kann so nicht bleiben. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit gerade gegenüber denjenigen, die den Sozialstaat tragen.
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Es geht auch nicht nur ums Geldverteilen. Wir führen hier keine Buchhalterdebatte. Es geht um eine neue Infrastruktur nachbarschaftlicher Hilfen. Nicht immer würde beispielswiese eine Vervierfachung der Rente etwas nützen: Wenn die ältere Mitbürgerin niemanden hat, der sich um sie kümmert, hat sie Angst, daß ihr etwas passiert und niemand dies bemerkt. Ich bin sicher: Viele gehen nur deshalb ins Heim, weil sie Angst haben, ihnen passiert etwas und niemand merkt es.
Wir brauchen mehr Phantasie: Tagespflegeplätze, Kurzzeitpflegeplätze, Nachtpflegeplätze. In der Tat kann die einfache Alternative „Entweder allein daheim oder ab ins Heim" nicht die richtige Alternative sein. Die Großfamilie wie früher gibt es nicht mehr. Der Weg dahin zurück ist auch versperrt. Aber es kann doch nicht sein, daß wir eine reiche Gesellschaft auf einer Eisscholle werden.
Bei aller Wertschätzung für das, worauf Julius Cronenberg hingewiesen hat, nämlich die 680 Milliarden DM Vermögen: Trotz 680 Milliarden DM Vermögen finanzieren 70 % der Heimbewohner den Aufenthalt von der Sozialhilfe. Der Pflegefall ist der große Gleichmacher. Das kann mit dem Leistungsprinzip doch nicht übereinstimmen. Im Pflegefall sind alle gleich: Gleichgültig, ob jemand 30 oder 40 Jahre lang gearbeitet und Beiträge gezahlt hat oder nicht, alle sind Taschengeldbezieher. Insofern ist der Pflegefall der große Nivellierer.
Hat jemand gespart, sich ein Häuschen erworben, um es seinen Kindern zu vererben, ist er genausoweit wie derjenige, der auf diese Anstrengungen verzichtet hat. Das ist weder leistungsgerecht noch eigentumsfreundlich.
Ich bitte wirklich um Vorsicht, wenn man die Debatte mit Worten wie Anspruchsmentalität und Mitnahmeeffekte führt. Demjenigen, der so spricht, empfehle ich, einmal in ein Heim zu gehen; eine Stunde lang. Dann bleibt ihm anschließend ein solcher Verdacht im Halse stecken.
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Da kenne ich ganz andere Prachtexemplare, da weiß ich ganz andere Jagdgebiete. Ich habe noch niemanden gesehen, der aus Lust und Laune in ein Pflegeheim gegangen ist.
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- Es wird ja debattiert, durch Ausweitung der allgemeinen Sozialleistungen würden die Mitnahmeeffekte verstärkt. Ich glaube, bei diesem Thema, das wir hier diskutieren, ist diese Gefahr nicht gegeben. Ich gebe zu: Generell gibt es diese Gefahr zwar, aber bei diesem Thema sehe ich die Gefahr nicht.
Ich frage uns gemeinsam: Hat unser Sozialstaat nicht auch Schlagseite? Für Nasentropfen bemühen wir die Krankenkasse, Hühneraugen werden auf Krankenschein behandelt. Da ist Solidarität angeblich unverzichtbar. Aber im Zusammenhang mit dem Pflegefall fällt uns plötzlich die Eigenverantwortung ein. Das halte ich für eine ungeheure Schlagseite unseres Sozialstaats. Das erweckt den Eindruck: Wer in der Festung sitzt, verteidigt von dort aus die Besitzstände, aber neue soziale Fragen, die vor der Tür stehen, werden durch eine Zugbrücke abgesperrt.
Dabei spielt es keine Rolle, wieviele davon betroffen sind. Auch der Hinweis des Kollegen Cronenberg, daß es sich nur um 2 oder 3 % handelt, kann die Frage nach der Solidarität überhaupt nicht beantworten. Für die Solidarität ist allein der Auslöser, ob die Last von dem einzelnen zu tragen ist, und nicht, wie viele davon betroffen sind. Das spielt für die Solidarität keine Rolle. Beispielsweise Herzoperationen, Herzverpflanzungen betreffen ganz wenige. Trotzdem sagen wir Solidarität.
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Ich finde, es wäre auch herzlos, wenn der Sozialstaat immer erst mobilisiert würde, wenn die Massen betroffen werden. Das wäre in der Tat ein Stück Blindheit. Denn für den Betroffenen macht es überhaupt nichts aus, ob er seine Not teilt mit zehn, mit zehntausend oder mit hunderttausend anderen.
Vielleicht ist das die neue Gefahr unserer Gesellschaft: Die Gruppen, die keinen öffentlichen Druck machen können, die kleinen Gruppen, die Pflegebedürftigen und ihre Helfer, die keine Schlagzeilen erreichen, haben keine Stimme und sind deshalb in Gefahr, vergessen zu werden.
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Ich mache nur darauf aufmerksam, daß die Quantität kein Kriterium für Solidarität ist.
Ich will noch auf einen Irrtum hinweisen. Manche erwecken den Eindruck, als kostete die Pflege bisher nichts, und jetzt kommt der böse Blüm daher, und da kostet sie plötzlich was. Sie kostet schon jetzt was. Sozialhilfe 9 Milliarden DM mit steigender Tendenz. Das sind die Irrationalitäten unseres Systems: Ich behaupte, in vielen Krankenhäusern sind Pflegebedürftige untergebracht, ganz einfach weil es keine Pflegebetten gibt.
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Das ist nicht nur eine Frage der Humanität, es ist auch eine wirtschaftliche Frage.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reimann?
Herr Minister, würden Sie mir recht geben, wenn ich glaube, daß der Kollege Cronenberg insofern einen Denkfehler begeht, daß er meint, daß eine solidarische Versicherung dem Arbeitnehmer weniger Geld ins Portemonnaie schaffen würde im Gegensatz zu einer privaten Versicherung?
Der Kollege Julius Cronenberg wird es sicher ablehnen, daß ich ihn interpretiere. Aber ich will ihm ausdrücklich bestätigen, daß wir den gemeinsamen Willen haben, dieses schwere soziale Problem in dieser Legislaturperiode zu lösen.
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Vielleicht trägt auch die Diskussion heute dazu bei.
Ich will deshalb auch ein paar Fragen stellen: Kann denn wirklich ein vorgeschlagener Einheitsbeitrag - ich bitte, die Frage wirklich ohne jede Polemik zu verstehen - , soziale Bedingungen erfüllen? Stellen Sie sich vor: 40 DM Einheitsbeitrag. Das bedeutet für einen, der 1 000 DM verdient, 4 % Beitrag - den gibt es nämlich, viele Rentner - , und für einen, der 4 000 DM verdient - die gibt es auch - , 1 % Beitrag. Mit anderen Worten: Einheitsbeitrag heißt, daß die Höherverdienenden proportional weniger bezahlen als die Geringverdienenden. Ich widersetze mich dem. Das steht mit den Traditionen unseres Sozialstaates nicht in Übereinstimmung.
Nun, meine Damen und Herren, wie immer die Lösungen aussehen, es kann keine Lösung, auch keine zweitklassige, an der Not derjenigen vorbeigehen, die jetzt pflegebedürftig sind. Das ist die Kriegsgeneration, das sind diejenigen, die eine schlechtere Vergangenheit hatten, als die Nachwachsenden mit aller Wahrscheinlichkeit in Zukunft haben werden.
Ein Wort, Kollege Julius Cronenberg, wir sollten unser gemeinsames Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wir haben doch gemeinsam in den letzten neun Jahren, wenn ich das in Erinnerung rufen kann, sehr Front gemacht gegen die Lohnnebenkosten. Wir haben uns dafür beschimpfen lassen.
Warum stellen wir eigentlich unser Licht unter den Scheffel? Wir haben die niedrigsten Rentenversicherungsbeiträge seit 1973. Wir werden am Ende der Legislaturperiode einen niedrigeren Rentenversicherungsbeitrag als am Anfang haben. Wir werden einen niedrigeren Rentenversicherungsbeitrag, trotz deutscher Einheit, 1995 haben, 0,8 % unter dem, was wir gemeinsam geschätzt haben.
Jetzt frage ich vor der deutschen Öffentlichkeit? Warum hat die Deutsche Bundesbank bei 19,0 % , wie wir geschätzt haben, nichts gesagt? Jetzt sind wir bei 18,2 %, und sie schlägt die Alarmglocken. Die Frage
stelle ich an den Sachverstand und die Unabhängigkeit.
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Wir senken die Arbeitslosenversicherung von 6,8 auf 6,3 %. Niemand spricht darüber.
Und zähle ich zusammen, was die Sozialversicherung an Solidaritätsleistungen für die deutsche Einheit liefert, nämlich an Transfer von West nach Ost, der richtig ist, den ich unterstütze: Das sind im nächsten Jahr allein 49 Milliarden DM, das sind allein vier Beitragspunkte Finanzvolumen. Nun wird doch wohl niemand behaupten, diese Lasten würden auf Dauer bestehen. Würde der Arbeitslosenversicherungsbeitrag auf Dauer so hoch bleiben, hätten wir nicht sozialpolitisch versagt, dann hätten wir deutschlandpolitisch versagt, dann wäre die Arbeitslosigkeit ein Spaltungselement eines einheitlichen deutschen Sozialstaats.
Dann zur Krankenversicherung.
Herr Bundesminister, Ihre Redezeit ist gut überschritten.
Ich werde das in wenigen Augenblikken beenden. Herr Präsident, vielleicht erlauben Sie mir noch eine Schlußbemerkung zur Krankenversicherung.
53 Milliarden DM hat die Gesundheitsreform in drei Jahren gespart. Ich wiederhole mein Preisausschreiben: Wann gab es das schon einmal, unter welchem Arbeitsminister? Ich habe Ihnen schon mal versprochen: Ein Tag Arbeitsministerium als Trostpreis für die Beantwortung dieser Frage.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns den heutigen Tag nutzen für die Pflegeversicherung. Ich bin auch optimistisch, was die Einigung in der Koalition anbelangt. Ich habe mir die rheinland-pfälzische Koalitionsvereinbarung zwischen FDP und SPD angesehen. Ich kann sie auch noch einmal vorlesen.
Bitte nicht, dann wird es zu lang!
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Da sie jeder kennt, bin ich sicher: Lambsdorff kann nicht in Bonn Kohl verweigern, was Lambsdorff Scharping in Mainz zugestanden hat, eine solidarische Pflegeversicherung. Deshalb laßt uns den Versuch zu einer Einigung in diesem Bundestag machen! Wir brauchen in dieser Legislaturperiode eine Entscheidung für die Pflegebedürftigen.
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Meine Damen und Herren, ich muß Sie jetzt an der Entscheidung der Sitzungsleitung teilhaben lassen. Meine Vorgängerin hat es für richtig gehalten, angesichts der Bedeutung dieses Themas einzelne Redner nicht zu unterbrechen; damit kam es immer wieder zu bedeutenden
Zeitüberschreitungen, die dann die anderen natürlich auch für sich in Anspruch genommen haben.
Die Koalition hat jetzt mit der Rede des Herrn Bundesministers ihre Zeit ausgeschöpft. Gleichwohl ist in dieser Debatte die FDP reichlich vorgenommen worden. Die FDP ging im Augenblick davon aus, sie hätte noch drei Minuten. Das war aber ein von dem Kollegen Blüm ad absurdum geführter Irrtum. Ich fände es aber richtig, wenn wir der Kollegin Dr. Babel jetzt noch zwei bis drei Minuten das Wort geben könnten.
Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich sehr kurz fassen und nur wenige Bemerkungen machen.
Herr Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm, Sie sprechen zu Recht Ihre Verdienste und die FDP-Verdienste um die Senkung der Lohnnebenkosten an. Wir sind gemeinsam in der Tat stolz, daß es uns gelungen ist, gerade in diesem Sektor eine Stabilisierung mit sehr positiven Effekten für die Wirtschaft und für den Aufschwung zu betreiben, an dem wir alle im Grunde auch partizipieren und auf den wir stolz sind.
Wir sind uns einig, daß wir eine Pflegeversicherung einführen wollen. Was die FDP immer wieder zu sagen versucht, ist: Es gibt einen anderen Weg, der die Gefahren vermeidet. Warum gehen Sie darauf also nicht ein? Warum müssen wir mit falschen Methoden ein richtiges Ziel erreichen?
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Darauf haben Sie nicht geantwortet. Bei dem einheitlichen Beitrag, den Sie immer wieder hinterfragen, ist mittlerweile akzeptiert, daß es geht; die Versicherungen bestätigen das, und es ist ein Stück Solidarität zwischen alt und jung im System. Diese Solidarität mahnen Sie ununterbrochen an. Wir haben den einheitlich kalkulierten Beitrag zur Diskussion gestellt, und wir denken, es ist ein guter Vorschlag. Warum findet er bei Ihnen keinen Respekt?
Eine letzte Bemerkung, die sich allerdings auf das bezieht, was Herr Kollege Andres gesagt hat, nämlich zur Sozialquote. Ich höre das immer wieder, auch von Ihnen, Herr Bundesarbeitsminister, wenn auch nicht heute.
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Das ist eine abenteuerliche Argumentation. Die Sozialquote kann man doch nicht isoliert sehen. Sie steht im Zusammenhang mit anderen Daten. Wie sah das denn 1981/1982 aus? Wir hatten ein sinkendes Bruttosozialprodukt. Wir hatten steigende Arbeitslosigkeit. Wir hatten steigende Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung. Da war die Sozialquote im Verhältnis relativ hoch.
Jetzt ist es uns gelungen, mit mehr Arbeitsplätzen das Bruttosozialprodukt zu steigern. Damit sinkt im Verhältnis die Sozialquote, ein Tatbestand, der uns
stolz machen sollte, aber nicht bedenklich, meine Damen und Herren.
({2})
Da kann doch nicht bei Ihnen die Forderung kommen: Wir wollen die Sozialquote wieder steigern. Das hieße ja, das Bruttosozialprodukt soll sinken, was Folgen hat. Ich sage Ihnen: Sie stehen sozusagen am Scheidewege, mit der Pflegeversicherung beides zu erreichen, nämlich die Sozialquote zu steigern und das Bruttosozialprodukt zu senken. Das kann doch wohl nicht der richtige Weg sein.
Ich bedanke mich.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den Drucksachen 12/1156 ({0}) und 12/1712 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16a bis 16d und die Zusatzpunkte 18 bis 21 auf:
a) Vereinbarte Debatte zur Menschenrechtspolitik
b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Festhalten an den Beschlüssen des Deutschen Bundestages vom 15. und 23. Juni 1989 zu China
- Drucksache 12/1536 -
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Verfolgung der Baha'i im Iran
- Drucksache 12/1706 -
d) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Freiheit für Daw Aung San Suu Kyi und Verwirklichung der Menschenrechte in Myanmar
- Drucksache 12/1707 ZP 18 Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN VN-Menschenrechtsgerichtshof und Hochkommissar für Menschenrechte
- Drucksache 12/1715 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
ZP 19 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung für die 11. Legislaturperiode
- Drucksache 11/6553, 12/1735 Berichterstattung:
Abgeordnete Heribert Scharrenbroich Freimut Duve
Ulrich Irmer
ZP 20 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und FDP
Lage der Kurden im Irak
- Drucksache 12/1748 ZP 21 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Menschenrechte
- Drucksache 12/1753 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({2}) Rechtsausschuß
Zur vereinbarten Debatte über die Menschenrechtspolitik liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen, unser Freund Helmut Schäfer, um das Wort gebeten.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, Sie rufen mir zu: „Das ist kein guter Stil. " Ich muß Sie daran erinnern, daß trotz der Bitten der Koalitionsfraktionen diese Debatte von ursprünglich 9 Uhr auf 11 Uhr verschoben worden ist. Das heißt, daß bei dem derzeitigen Empfang des Bundeskanzlers für das gesamte Diplomatische Korps das Auswärtige Amt zum Teil nicht teilnehmen kann. Darüber hinaus ist die Debatte um eine weitere Dreiviertelstunde verschoben worden. Es geht für mich um eine Verpflichtung. Ich bitte um Verständnis.
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- Herr Kollege Scharrenbroich, ich habe bisher immer diese Regel eingehalten. Ich bitte um Verständnis, da heute so von der Regel abgewichen worden ist, daß ausnahmsweise auch Rücksicht genommen werden muß.
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Meine Damen und Herren, der Kernsatz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte „Alle Menschen sind von Geburt an frei und gleich an Würde und Rechten" aus dem Jahre 1948 ist Bekenntnis und
Verpflichtung zugleich. Unser Grundgesetz hat diese beiden Elemente aufgegriffen und alle staatlichen Organe auf den Schutz der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte verpflichtet. Diese Aufgabe steht auch im Zentrum deutscher Außenpolitik.
Die Bundesregierung ist einer Aufforderung des Deutsche Bundestages nachgekommen und hat im Februar 1990 einen Menschenrechtsbericht für die 11. Wahlperiode vorgelegt. Sie begrüßt, daß der Deutsche Bundestag heute auf der Grundlage dieses Berichtes über Menschenrechte debattiert. Der Menschenrechtsbericht legt Ziele, Grundsätze und Schwerpunkte der auf dem Grundgesetz basierenden Menschenrechtspolitik der Bundesregierung ausführlich dar. Ich kann mich deshalb jetzt auf einige wichtige Elemente beschränken und auf eine Reihe aktueller Fragen eingehen.
Menschenrechte sind kein Geschenk des Staates. Sie können nicht nach Beblieben gewährt oder entzogen werden. Der Staat hat sie vielmehr zu schützen. Es ist die Staatengemeinschaft, die einzelne Staaten zur Achtung der Menschenrechte anzuhalten hat.
Im Rahmen ihrer Außenpolitik informiert sich die Bundesregierung über die menschenrechtliche Lage in allen Regionen der Welt und berücksichtigt diese Informationen bei der Gestaltung ihrer auswärtigen Beziehungen. Auch für die Vergabe unserer Entwicklungshilfe ist die Beachtung der Menschenrechte ein wesentliches Kriterium. Die Bundesregierung hat sich stets für eine klare Verankerung der Menschenrechte im Völkerrecht engagiert.
Der völkerrechtliche Schutz der Menschenrechte ist seit Gründung der Vereinten Nationen deutlich besser geworden. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte war ein Meilenstein. Er führte zu den beiden Pakten über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die das Kernstück des völkerrechtlichen Schutzes der Menschenrechte bilden. Ihre Verabschiedung jährt sich in diesem Jahr zum 25. Mal. Inzwischen ist die überwiegende Zahl der Staaten diesen Pakten beigetreten und hat die hier verankerten Menschenrechte als geltendes Recht anerkannt. Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck dafür ein, daß alle Staaten diesen und anderen wichtigen Menschenrechtsübereinkommen beitreten. Menschenrechte haben universale Gültigkeit, und kein Staat kann sich bei Menschenrechtsverletzungen auf den Vorrang seiner Staatsideologie oder auf besondere kulturelle Traditionen berufen.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Kodifizierung der Menschenrechte weitgehend abgeschlossen ist. Heute sollte daher weniger die Erarbeitung neuer Übereinkommen, als vielmehr die Umsetzung und Beachtung der bestehenden Übereinkommen im Mittelpunkt der Politik stehen. In Zusammenarbeit der internationalen Gemeinschaft müssen deshalb vor allem die Kontrollmechanismen gestärkt werden. Die Verletzung von Menschenrechten darf nicht als innerstaatliche Angelegenheit abgetan werden. Sie geht die Staatengemeinschaft insgesamt an. Bereits 1971 hat daher der internationale Gerichtshof festgestellt: Die Menschenrechte sind eine Angelegenheit aller Staaten. Alle Staaten haben an ihrem Schutz ein rechtliches Interesse.
Besonders erwähnen möchte ich die deutsche Initiative zur Abschaffung der Todesstrafe im Rahmen der Vereinten Nationen, die im Dezember 1989 zur Verabschiedung des 2. Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte durch die Generalversammlung geführt hat. Besondere Erwähnung verdient auch der Einsatz der Bundesregierung im Bereich der „Beratenden Dienste auf dem Gebiet der Menschenrechte" und ihre Förderung des Instruments der länderbezogenen und thematischen Sonderberichterstatter im Rahmen der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen.
Die Bundesregierung wirkt in ihrer Menschenrechtspolitik eng mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und mit Partnern und Freunden in anderen Teilen der Welt zusammen. Im Zuge der politischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa sind in dieser Region große Fortschritte bei der Gewährung der Menschenrechte erzielt worden. Das Zusammenwirken der westlichen Staaten im KSZE-Prozeß hat dazu beigetragen. Diese Zusammenarbeit bei der Verbesserung der Menschenrechte hat sich bewährt. Die Bundesregierung wird sie engagiert fortsetzen.
Lassen Sie mich nunmehr Stellung nehmen zu den Anträgen, die hier im Plenum zur Beschlußfassung vorliegen.
Die Bundesregierung wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen den fortdauernden Hausarrest der diesjährigen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Die Bundesregierung hat international als erste in einer bilateralen Demarche die Möglichkeit des Zugangs zu Frau San Suu Kyi gefordert. Das Auswärtige Amt hat bereits am 25. Oktober dieses Jahres den Botschafter Myanmars einbestellt und im Namen des Bundesministers des Auswärtigen dagegen protestiert, daß die Friedensnobelpreisträgerin seit über zwei Jahren in ihrem Haus in Rangun festgehalten und ihr jeder Kontakt nach außen verwehrt wird.
Am 28. November 1991 wurde erstmals im 3. Ausschuß der 46. VN-Generalversammlung eine Resolution zur Menschenrechtslage in Myanmar verabschiedet. In dieser Resolution werden die Beachtung der Menschenrechte, die Einführung der Demokratie sowie die Aufhebung des Hausarrests der Friedensnobelpreisträgerin gefordert. Deutschland war Miteinbringer der von Schweden vorgelegten Resolution. Ich hoffe, daß die ASEAN-Staaten, die bei der Abfassung der Resolution konstruktiv mitgewirkt haben, jetzt auch durch ihre praktische Politik dazu beitragen werden, daß sich die Menschenrechtslage in Myanmar nachhaltig verbessert.
Die Bundesregierung hat sich in den vergangenen drei Jahren bilateral und multilateral immer wieder für die Einhaltung der Menschenrechte in Myanmar eingesetzt. Nach dem brutalen Militärputsch vom September 1988 hat die Bundesrepublik Deutschland die Entwicklungszusammenarbeit mit Myanmar eingefroren.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung nutzt jede Möglichkeit, um die Regierung der islamischen Republik Iran zu drängen, jedwede Verfolgung und diskriminierende Behandlung der Baha'i Religionsgemeinschaft einzustellen.
Seit einiger Zeit sind Verbesserungen in der Menschenrechtslage dieser Religionsgemeinschaft festzustellen. So erhalten Baha'i wieder Gewerbeerlaubnisse und dürfen Geschäfte eröffnen. Nach wie vor sind die Baha'i allerdings an der Ausübung ihrer Religion gehindert. Auch können sie als Angehörige einer nicht offiziell anerkannten Religion keine Erbscheine erhalten; wenngleich ihre Kinder zu den Schulen zugelassen werden, so wird ihnen der Zugang zu Universitäten systematisch verweigert. Dieser Zustand ist nicht befriedigend. Wir werden uns deshalb weiter ganz entschieden für die Rechte der Baha'i einsetzen.
Auf Grund der Bemühungen der Bundesrepublik und anderer westlicher Länder hat die iranische Regierung zugesichert, daß der Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission, Herr Galindo Pohl, erneut in den Iran reisen kann und die iranischen Behörden ihm volle Kooperation gewähren werden. Die Bundesregierung ist überzeugt, daß dies der wichtigste Ansatz ist, um auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage im Iran im allgemeinen und der Baha'i-Religionsgemeinschaft im besonderen hinzuwirken.
Durch Bundestagsbeschlüsse vom 16. und 23. Juni 1989 wurden politische Kontakte und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China faktisch eingestellt. Das geschah unter dem unmittelbaren Eindruck der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989 und den folgenden Repressionen.
Es war aber nicht die Absicht des Deutschen Bundestages, dem chinesischen Volk die weitere Unterstützung für eine vernünftige wirtschaftliche Entwicklung zu entziehen. Der Bundestag hat deshalb in seiner Entschließung vom 30. Oktober des vergangenen Jahres festgestellt, daß die chinesische Regierung erneut eine Politik der Öffnung im wirtschaftlichen Bereich und in den außenpolitischen Beziehungen verfolgt. Er stellte ferner fest, daß diese Entwicklung Voraussetzungen schafft, um durch eine begrenzte und gezielte Ausweitung der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit auch auf eine Verbesserung der Menschenrechte in der Volksrepublik China und zur Unterstützung politischer Reformbestrebungen hinzuwirken. Das war der Beschluß des Deutschen Bundestages.
An dieser Bewertung hat sich aus Sicht der Bundesregierung nichts geändert. Es war richtig, mit dem genannten Bundestagsbeschluß die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der entsprechenden Einschränkung wieder aufzunehmen. Es war auch richtig, nach dem EG-Ministerratsbeschluß vom 22. Oktober 1990 ebenso wie unsere Partnerstaaten politische Kontakte auf Ministerebene wieder aufzunehmen. Menschenrechte stehen jedenfalls in allen politischen Gesprächen mit China an der Spitze unserer Themenliste. Wir fordern von der chinesischen Regierung Amnestie für alle politischen Gefangenen, denen keine Gewaltanwendung vorgeworfen wird.
Ich darf wiederholen, daß elementare Menschenrechte eben keine innere Angelegenheit eines Staates sind. Wir bemühen uns mit unseren europäischen Partnern, die chinesische Regierung zur Einhaltung universeller Rechtsnormen anzuhalten. Aber auch dazu bedarf es des politischen Dialogs.
Trotz mancher bedauerlicher Rückschläge gewinnt die Anerkennung der Menschenrechte weltweit an Boden. Angesichts der wachsenden internationalen Aufmerksamkeit nimmt das Unrechtsbewußtsein oder zumindest der Zwang zur Rechtfertigung in den Ländern zu, die dazu Veranlassung haben. Solange es aber noch Opfer von Menschenrechtsverletzungen gibt, bleibt unser Kampf für die Durchsetzung und Stärkung der Menschenrechte ein wesentliches Element unserer Außenpolitik.
Die Bundesregierung hat daher dem Generalsekretär der Vereinten Nationen angeboten, die Weltkonferenz über Menschenrechte 1993 in Berlin abzuhalten. Diese Konferenz soll einen wichtigen Beitrag dazu leisten, daß die Menschenrechte weltweit anerkannt und verwirklicht werden.
Meine Damen und Herren, ich bin sicher, daß sich der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung auch zukünftig gemeinsam mit allem Nachdruck für dieses Ziel einsetzen.
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Ich erteile dem Abgeordneten Rudolf Bindig das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum bevorstehenden Tag der Menschenrechte können wir feststellen, daß die politische Diskussion über die Bedeutung der Menschenrechte als Grundlage der Politik im letzten Jahr erhebliche Fortschritte gemacht hat. Leider können wir nicht feststellen, daß sich die konkrete menschenrechtliche Situation in der Welt gleichermaßen verändert hat. Der schreckliche Bürgerkrieg in Jugoslawien zwischen Serben und Kroaten fordert in grausamer Weise Opfer und verbreitet Furcht, Not und Tod. Die Vertreibung und Verfolgung der Kurden im Irak, das Elend am Horn von Afrika, die andauernden Kriege im Sudan und in Afghanistan, das Massaker in OstTimor, die andauernden schweren Menschenrechtsverletzungen im Iran, in Burundi, in Peru, in Kolumbien - um nur einige Beispiele aus allen Erdteilen zu nennen - holen uns schnell auf den Boden der Realität zurück.
Auf der einen Seite gibt es bereits ein beachtlich ausgebautes System von Abkommen, Konventionen und Vereinbarungen zum Schutz der Menschenrechte im internationalen System. Auf der anderen Seite gibt es in vielen Ländern die davon weit abweichende brutale Praxis.
Wie können wir das Normengefüge weiter festigen? Vor allem: Wie können wir ihm Geltung verschaffen?
- Dies sind die Kernfragen, die uns zum Tag der Menschenrechte zu beschäftigen haben.
Angesichts des Mißverhältnisses zwischen Anspruch und Realität wird uns schmerzlich bewußt, daß der internationalen Gemeinschaft für die Durchsetzung der Menschenrechte und die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen noch immer ein anerkannter und verbindlicher Mechanismus fehlt. Wir sind gewiß auch alle der Auffassung, daß die internationale Gemeinschaft das Instrumentarium fortentwickeln muß, das die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen über staatliche Grenzen hinweg ermöglicht.
Diese Forderung enthält auch ein uns hier vorliegender Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen. Eine solch allgemeine, weite Formulierung ist allerdings viel zuwenig. Ebensowenig wie es schon Sicherheitspolitik ist, wenn allgemein die Forderung erhoben wird, es müsse eine Friedensordnung geschaffen werden, so ist es schon konkrete Menschenrechtspolitik, wenn ein wirksamer Mechanismus zur Durchsetzung der Menschenrechte gefordert wird.
Es gilt zu sagen, wie ein solcher Mechanismus aussehen könnte. Einige denken bei einem solchen Mechanismus in erster Linie an eine Eingreiftruppe. Andere setzen mehr auf die Stärkung der Verantwortung der Vereinten Nationen und dort zu schaffender Einrichtungen.
Wir sind der Auffassung, daß die Vereinten Nationen für die Ahndung auch individueller Menschenrechtsverletzungen verantwortlich werden sollten. Dabei geht es vor allem um die Schaffung von zwei neuen Institutionen: ein Menschenrechtsgerichtshof bei den Vereinten Nationen entsprechend dem Vorbild der Europäischen Menschenrechtskonvention und ein Hoher Kommissar für Menschenrechte, der von sich aus Menschenrechtsverletzungen vor den Menschenrechtsgerichtshof bringen kann.
Dem Hohen Kommissar sollten zur Unterstützung seiner Arbeit regionale Dienststellen zur Verfügung stehen. Unter dem Dach des UN-Menschenrechtskommissariats sollten alle bisherigen Menschenrechtsausschüsse und -kommissionen, die beratenden Dienste und die Sonderberichterstatter zusammengefaßt werden. Es sollte der Versuch unternommen werden, die jeweiligen Kompetenzen auszubauen. Insbesondere müssen die Verfahren der Tatsachenermittlung gestärkt werden.
Außerdem sollten brutale Menschenrechtsverletzungen, wie z. B. die Unterdrückung von Minderheiten, vom Sicherheitsrat als Friedensgefährdung eingestuft werden können, die operatives Handeln der UNO verlangt.
Es ist bekannt, daß auch der Außenminister die Forderungen nach einem UN-Menschenrechtskommissar und einem Menschenrechtsgerichtshof schon in Reden vor der UN-Vollversammlung vorgetragen hat. Es reicht aber keinesfalls aus, wenn der Außenminister dies gelegentlich einmal in einer Rede vor der Generalversammlung der UN fordert oder wenn ein deutscher Diplomat dies in einer Diskussion in einem
Ausschuß der UN erwähnt. Das ist Menschenrechtsrhetorik, aber noch keine Menschenrechtspolitik.
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Schon seit Jahren hätte die Bundesregierung einen detailliert ausgearbeiteten Entwurf für die Schaffung eines UN-Menschenrechtskommissariats ausarbeiten und im UN-System einbringen müssen. Ebenso steht es um den Vorschlag zur Schaffung eines Menschenrechtsgerichtshofs im UN-System. Wo ist die konkrete, einbringungsreife Vorlage zur Schaffung dieser wichtigen Einrichtung?
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich endlich an die Ausarbeitung von konkreten Vorschlägen zu machen, diese mit dem Bundestag und den Nichtregierungsorganisationen des Menschenrechtsbereiches zu diskutieren, den Vorschlag im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit zu erörtern und weitere Unterstützung bei Mitgliedern der Vereinten Nationen zu suchen. Spätestens bei der Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen im Sommer 1993 in Berlin sollte die Bundesregierung diese Vorschläge so weit vorangetrieben haben, daß sie dort behandelt werden können.
Wichtig ist es auch, die Idee der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes weiterzuverfolgen und an der Kodifizierung eines internationalen Strafrechts mitzuwirken. Auf Initiative von Costa Rica hat die internationale Rechtskommission hier bereits beachtliche Vorarbeit geleistet.
Der Entwurf für einen Kodex von Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit enthält Straftatbestände der Aggression, der Androhung von Aggression, der Intervention, der Errichtung einer Kolonialherrschaft, des Genozids, der Apartheid, der Kriegsverbrechen, des Söldnereinsatzes, des internationalen Terrorismus, des Drogenhandels und den Tatbestand der willkürlichen und schweren Zerstörungen der Umwelt. Unabhängig von der Chance einer schnellen Realisierung kann die Vorlage und Diskussion eines solchen Kodex bereits das Bewußtsein über Recht und Unrecht im internationalen System voranbringen.
Konkrete Aktivitäten der Bundesregierung auf diesem Sektor sind uns leider bisher nicht bekanntgeworden. Unserer Botschaft bei den Vereinten Nationen ist kaum die Existenz dieser Vorarbeiten bekannt. Dies zeugt nicht gerade vom Einsatzwillen der Bundesregierung. Genaugenommen ist die Lahmheit der Bundesregierung auf diesem Sektor beschämend.
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Wichtig ist, daß wir bei der Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte nicht nur Forderungen an andere Länder richten, sondern auch auf uns sehen. Hier ist die Art, wie wir mit der Asylproblematik umgehen, ein wichtiger Gradmesser unseres Menschenrechtsbewußtseins.
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Oder um es mit den Worten der Hohen Kommissarin
der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Frau Sadako
Ogata, zu sagen: „Das Maß an Schutz, das Flüchtlingen gewährt wird, ist der adäquate Ausdruck der Situation der Menschenrechte im Asylstaat."
Die Art und Weise, wie im vergangenen Jahr in der öffentlichen Diskussion von der Bundesregierung und insbesondere von der CDU und der CSU mit dem Asylrecht umgegangen worden ist und wie einige von Ihnen versucht haben, das Asylrecht zu diskreditieren, auszuhöhlen und parteipolitisch zu instrumentalisieren,
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zeigt, wie nötig es ist, daß sich die Bundesregierung am Tag der Menschenrechte selbstkritisch besinnt.
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Das Asylrecht in unserer Verfassung ist kein Schmuddelkind der Verfassung, sondern ein Edelstein, und so sollten wir es nicht nur am Tag der Menschenrechte behandeln.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Heribert Scharrenbroich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Bindig, wir wollen jetzt keine Asyldebatte führen.
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- Dann möchte ich dazu folgendes sagen: Wer für qualitativ hochstehende Menschenrechte und deren Einhaltung kämpft, der muß auch dafür Sorge tragen, daß die Zahl der Asylbewerber von der Bevölkerung bewältigt werden kann. Das ist unser Ziel, um die Qualität zu verbessern und den Frieden zwischen den Deutschen und den Asylbewerbern herzustellen. Deshalb wäre es erfreulich, wenn Sie unsere Bemühungen unterstützten.
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Meine Damen und Herren, der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Ich bedanke mich, daß alle Fraktionen die Auffassung vertreten, daß es richtig ist, heute die Debatte zu führen und einen Rückblick auf die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung sowie auf die Bemühungen dieses Parlamentes zu tun. Uns liegt der Bericht der Bundesregierung vor, allerdings vom Januar 1990. Seitdem hat sich viel verändert. Der Kommunistische Ostblock ist zerfallen, die deutsche Einheit ist hergestellt, und mit dem Untergang des kommunistischen Systems ist eine wichtige Quelle für Menschenrechtsverletzungen versiegt. Diese Entwicklung hat ihre Auswirkungen bis hin nach Lateinamerika. Sie hat die Wende in Nicaragua ermöglicht, und ich hoffe, dies wird bald auch in Kuba der Fall sein. Wir wissen aber auch, daß neue, schwierige Situationen entstanden sind. Es ist vielen Menschen zu danken, die diese revolutionären Veränderungen unserer Welt auf friedliche Weise ermöglicht haben, angefangen beim Friedensnobelpreisträger
Michail Gorbatschow bis hin zu den Bürgerinnen und Bürgern in der früheren DDR, die durch mutigen Protest schon lange vor der Wende und durch eine friedliche Volksbewegung dem 40jährigen Unrechtsstaat ein Ende bereitet haben. Stellvertretend danke ich den Kolleginnen und Kollegen aus der Friedens- und Oppositionsbewegung der früheren DDR, die jetzt in diesem Parlament in allen Fraktionen und in der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vertreten sind.
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Wenn wir heute auch die Anhänger der Diktatur des Proletariats in diesem Parlament haben, ist das auch Ausdruck unseres Rechtsstaates.
Diese Revolution in der früheren DDR hat den größten Erfolg der Bundesregierung im Kampf um die Verbesserung der Menschenrechte ermöglicht. Die schnelle Herbeiführung der Einheit Deutschlands eröffnete den Menschen nicht nur, wie man so leicht dahersagt, den Weg zur D-Mark, sondern, was historisch sicher noch bedeutungsvoller ist, den Weg in das Schutzgebäude der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung unseres Rechtsstaates.
Die Welt hat sich revolutionär verändert. Wir haben neue Erfahrungen gemacht und neue Hoffnungen geschöpft, daß das Regime der Menschenrechte auf Dauer nirgendwo zu verhindern ist. Die Erfahrung der Menschheit in den letzten drei Jahren sollte, so meine ich, die Demokraten ermuntern und die Tyrannen und ihre Folterknechte zur Besinnung rufen. Aber ich glaube, daß das, was passiert ist, auch uns ermutigen sollte, Einhalt zu gebieten und uns zu fragen, was wir vielleicht falsch gemacht haben.
Wir können die Augen nicht davor verschließen, daß Verfolgung verlängert wird, wenn man Unterdrückung und Unterdrückte nicht beim Namen nennt. Die Verzweiflung der Unterdrückten und der Verfolgten - das hat uns die Geschichte unseres Vaterlandes gezeigt - wird weiter gesteigert, wenn Scheinparlamente, die sich die Tyrannen halten, von demokratischen Parlamenten durch offizielle Beziehungen aufgewertet werden. Die Lage der Unterdrückten wird weiter geschwächt, wenn demokratisch gewählte Gewerkschafter Scheingewerkschaften hofieren, die ja Teil des Unterdrückungsapparates sind.
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Da es in diesem Parlament gute Tradition ist, daß man sich gegenseitig den Spiegel vorhält, damit man nicht zu arrogant wird, möchte ich einen Satz sagen, ohne die Stimmung anheizen zu wollen, weil wir bei diesem Thema erfreulicherweise gut zusammenarbeiten. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß Oppositionsbewegungen moralisch geschwächt werden, wenn demokratische Parteien mit großer Tradition Ideologiepapiere gemeinsam mit einer totalitären Partei verfassen, in denen die Unterdrückten lesen müssen:
Sozialdemokraten und Kommunisten berufen
sich beide auf das humanistische Erbe Euro5576
pas ... Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen.
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Soweit das Zitat.
Meine Damen und Herren, Sie werden und können uns Fehler aus der Vergangenheit nachweisen. Aber ich will damit einmal ganz klar sagen: Menschenrechte sind links nicht besser aufgehoben als in der Mitte.
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Das sollte damit gesagt werden. Ich füge dem hinzu: Die Mitte ist auf keinem Auge blind.
Herr Bindig, Sie haben soeben - zu Recht; ich bin Ihnen dafür dankbar - mehrere Länder genannt, in denen weiter Menschenrechtsverletzungen praktiziert werden. Aber mir fehlt ein Land - und dieses Landes werden wir uns in Zukunft verstärkt annehmen müssen - , nämlich Kuba. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen.
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- Nein! Ich halte es für sehr bezeichnend, daß Sie zu Recht alle möglichen Länder aufzählen, aber Kuba nicht, und auch nicht erwähnen, welche Menschenrechtsverletzungen es früher in dem Land gab, dessen Regierung von der Sozialistischen Internationale massiv unterstützt wurde, nämlich Nicaragua.
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Gemäß Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes bekennt sich das deutsche Volk zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten". Damit trägt es uns, den politisch Verantwortlichen, die Pflicht auf, für die Wahrung, Förderung und Stärkung der Menschenrechte in Deutschland, aber auch in der Welt Sorge zu tragen.
Es zeichnet dieses Parlament aus, daß die Fraktionen und die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE - auch sie möchte ich hier erwähnen - zu streiten wissen und in der Frage wetteifern, mit welchen Initiativen wir Menschenrechtsverletzungen am besten abwehren können, aber daß wir uns gleichzeitig darauf verstehen, uns auf die Durchsetzung dieser Initiativen zu verständigen. Die heute vorliegenden Initiativen und Beschlußempfehlungen sind dafür ein äußerer Beleg.
Für unsere Politik, für die Politik der Bundesregierung, möchte ich aus der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 besonders einen Satz in Erinnerung rufen - ich zitiere -:
Es ist wesentlich, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letztem Mittel gezwungen wird.
Von daher werden wir gemeinsam mit der Opposition arbeiten, um diese Initiativen, die Herr Kollege
Bindig angesprochen hat und die ich nicht weiter aufgreifen muß, zu prüfen und weitgehend umzusetzen.
Der heute zur Debatte stehende Menschenrechtsbericht der Bundesregierung belegt, daß die Regierung sich nicht zuletzt von dieser Feststellung aus der Präambel hat leiten lassen. Namentlich nenne ich - das betone ich jetzt besonders, weil Sie eben von der lahmen Politik gesprochen haben, Herr Bindig, obwohl Sie die Leistungen der Bundesregierung in diesem Zusammenhang kennen - jetzt einige Initiativen, die von der Bundesregierung ergriffen worden sind, zum einen zur Verabschiedung des 2. Fakultativprotokolls, in dem die Todesstrafe geächtet wird.
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Wir werden über den Ratifizierungsgesetzentwurf der Bundesregierung in Kürze zu entscheiden haben.
Besonders hervorheben möchte ich das Engagement der Bundesregierung im Bereich der „beratenden Dienste" des Menschenrechtszentrums der Vereinten Nationen. Die Bundesregierung geht zu Recht davon aus, daß vielen Ländern im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit Hilfestellung bei bestimmten menschenrechtlichen Vorhaben zur Stärkung und Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes gewährt werden müsse.
Ich nenne auch die Unterkommission für Diskriminierungsverhütung und Minderheitenschutz, für deren Straffung und größere Wirksamkeit sich die Bundesregierung erfolgreich eingesetzt hat.
Da wir alle wissen, wie wichtig und wirksam Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen sind, möchte ich ebenfalls hervorheben, daß die Initiative der Bundesregierung zum besseren Schutz der Sonderberichterstatter bis hin zur Klärung ihrer Immunität vor dem Internationalen Gerichtshof die Wirkungsmöglichkeiten dieser Persönlichkeiten erheblich verbesserte.
Der Bericht der Bundesregierung beschreibt aber auch die Initiativen anderer Länder, die sie maßgeblich unterstützt hat. Das gleiche gilt für die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung in der Europäischen Gemeinschaft. Ich kann wegen der Kürze der Zeit darauf nicht eingehen.
Da nichts so gut ist, daß es nicht noch weiter verbessert werden kann, möchte ich aber auch kritisch hinzufügen, daß wir mit der Ratifizierung internationaler bzw. europäischer Menschenrechtskonventionen etwas mehr Eile an den Tag legen sollten, als dies manchmal der Fall ist. So mahnen alle Fraktionen gemäß der heute zu beratenden Beschlußempfehlung bei der Regierung an, das 9. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu zeichnen und sodann alsbald einen Gesetzentwurf zur Ratifizierung einzubringen. Unerwähnt lassen möchte ich auch nicht die beiden noch nicht ratifizierten Fakultativprotokolle zum Internationalen Pakt. Auch das gehört zur Diskussionslage.
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Abschließend möchte ich noch einmal positiv die Kriterien wenigstens erwähnen, die der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Kollege Spranger, für die Entwicklungspolitik genannt hat, vor allen Dingen die in diesem Zusammenhang wichtigen Kriterien: demokratische Strukturen, Beachtung der Menschenrechte und Gewährleistung von Rechtssicherheit. Das Parlament wird - alle Fraktionen, so glaube ich - darüber wachen, daß diese Kriterien auch Anwendung finden, auch wenn hier nicht von einer automatischen Konditionierung die Rede ist.
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- Auch Herr Möllemann kennt dies. Er hat gerade deswegen gegenüber der chinesischen Regierung sehr deutlich gemacht, welche Menschenrechtsverletzungen es in China gibt.
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Schließlich möchte ich. der Bundesregierung danken, daß sie sich den Interventionen zugunsten einzelner verfolgter Menschen nicht verschließt, und zwar unabhängig davon, ob es sich um prominente oder um weniger prominente Opfer handelt. Es ist aber auch richtig, daß wir uns besonders für Verfolgte, die Symbolfiguren im Freiheitskampf eines Volkes sind, einsetzen. Oft gehen die Anregungen dazu vom Parlament aus oder werden vom Parlament unterstützt.
In diesem Zusammenhang möchte ich heute namentlich die Generalsekretärin der kubanischen Oppositionsgruppe „Criterio alternativo'' , Maria Elena Cruz Varela, nennen, die am 27. November dieses Jahres in einem Schnellprozeß zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Gestern wurde die Berufung abgelehnt. Mit ihr wurden drei weitere Mitglieder verurteilt: Jorge Pomar zu zwei Jahren, Gabriel Aguia zu 18 Monaten und Pastor Herrera zu 16 Monaten. Genauso wie die Bundesregierung am 2. dieses Monats deswegen den Botschafter Kubas ins Auswärtige Amt einbestellte, genauso erklären wir unsere Besorgnis über die Zunahme der Menschenrechtsverletzungen in Kuba.
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Die von mir Genannten haben sich nach unserer Auffassung im Rahmen dessen gehalten, was in einem demokratischen Rechtsstaat zu den Rechten des Bürgers gehört. Deswegen fordern wir ihre Freilassung. Ich füge hinzu: Wir werden uns der Menschenrechtsverletzungen in Kuba verstärkt annehmen müssen. Es besteht Anlaß zur Sorge, daß Kuba ein zweites Rumänien wird, und das gilt es zu verhindern.
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Aus Anlaß des Tages der Menschenrechte fordert der Deutsche Bundestag mit gleicher Deutlichkeit: Verwirklichung von Menschenrechten und Demokratie in Myanmar sowie Freiheit für die Nobelpreisträgerin, Schutz der Kurden im Irak vor Verfolgung, Respektierung der Religionsfreiheit und der bürgerlichen Rechte der Baha'i im Iran. Dazu haben alle Fraktionen des Deutschen Bundestages und die Gruppe
Bündnis 90/DIE GRÜNEN gemeinsame Entschließungsanträge eingebracht. Wir empfehlen, den Antrag der Koalitionsfraktionen zur Durchsetzung der Menschenrechte an die entsprechenden Ausschüsse zu überweisen.
Ich glaube - das sage ich abschließend - , daß der Antrag der Koalitionsfraktionen ebenso wie auch der Antrag vom Bündnis 90/DIE GRÜNEN ein guter Anlaß für uns sind, darüber zu diskutieren, wie der Mechanismus zum besseren Schutz der Menschenrechte in der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt werden kann, was Anliegen dieses Parlamentes ist.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erwartungen, die im Vorfeld an die heutige Debatte geknüpft wurden, waren vielleicht etwas zu hoch geschraubt. Zwar liegt der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung für die 11. Legislaturperiode vor; auf die Ratifizierungsgesetze zu den beiden Fakultativprotokollen des Zivilpaktes der Vereinten Nationen müssen wir jedoch weiter warten.
Auf der heutigen Tagesordnung steht eine Reihe von Einzelanträgen mit überwiegend berechtigten Anliegen, wobei es erfreulich ist, daß diese Anträge zum Teil fraktionsübergreifend zustande kamen.
Wenn wir uns heute gemeinsam für die Baha'i im Iran, für die Kurden im Irak und für die Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi einsetzen, so zeigt sich darin ein hohes Maß an parlamentarischer Gemeinsamkeit in Menschenrechtsfragen. Andererseits machen vielleicht gerade diese Einzelanträge einen Mangel deutlich: das Fehlen einer konsistenten, ressortübergreifenden, alle Politikbereiche erfassenden Menschenrechtspolitik, die ihre Zielstellungen nach dem Wegfall der ideologischen Barrieren des Ost-West-Konfliktes ganz neu bestimmen muß.
Der Zusammenbruch des poststalinistischen Systems seit 1989 hat das ganze Ausmaß der Menschenverachtung offengelegt, die jenes System geprägt hat. Es ist aber auch deutlich geworden, daß damit die Menschenrechtsprobleme in jenem Teil der Welt nicht nur nicht gelöst, sondern teilweise sogar neu entstanden sind.
Mit den Unabhängigkeitsbestrebungen verbindet sich die Unterdrückung von Minderheiten. Mit der Neuformierung der Gesellschaften entstehen neue soziale Spannungen. Mit dem Ende der Abschottung wächst die Fluchtbewegung.
Mit dem Verschwinden des durch die Blockkonfrontation geprägten Status quo hat sich aber auch der Blickwinkel auf die anderen Regionen der Erde verändert. Der völkerrechtlich akzeptierte Universalitätsanspruch der Menschenrechte läßt sich nicht mehr im Sinne des alten Freund-Feind-Schemas instrumentalisieren.
Schließlich ist die sogenannte Dritte Welt nähergerückt. Wir erkennen, daß wir zunehmend auf elementare und unmittelbare Weise von dem betroffen werden, was anderen Völkern geschieht, so weit entfernt von uns sie auch leben mögen.
Ein solcherart gewachsenes Problembewußtsein in allen politischen Lagern feststellen zu können ist zwar begrüßenswert, kann uns aber nicht die Augen verschließen lassen vor der Tatsache, daß wir mit der eigentlichen Arbeit erst ganz am Anfang stehen. Was fehlt, ist eben eine stimmige und überzeugende Gesamtkonzeption von Menschenrechtspolitik, die sich auf Innen-, Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik gleichermaßen bezieht.
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Der Bericht der Bundesregierung leistet diese Arbeit nicht, wenngleich er auch der bemerkenswerte Beginn einer Bestandsaufnahme ist. Er berücksichtigt die veränderte Weltlage nicht hinreichend; er kann dies auch auf Grund seines lange zurückliegenden Entstehungszeitraums nicht tun. Deswegen ist der heute zu fassende Beschluß, der die Unterrichtung alle zwei Jahre vorsieht, ein wichtiger Schritt. Ebenso können die der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses beigefügten Ergänzungen der SPD-Fraktion und des BMZ zur Verbesserung beitragen.
Es genügt aber nicht mehr, Menschenrechtspolitik allein als integralen Bestandteil der Außenpolitik zu definieren, wie das in der Stellungnahme des Unterausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe noch geschieht. Ein wichtiges Signal dafür, daß sich der Bundestag ein umfassenderes Verständnis der Menschenrechte anzueignen anschickt, könnte dadurch gegeben werden, daß der genannte Unterausschuß in einen ordentlichen Ausschuß des Deutschen Bundestages umgewandelt wird.
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- Vielleicht können auch Sie sich dazu äußern. -Proporzüberlegungen, wie es sie bei der Einrichtung des Unterausschusses noch gab, sollten kein Hindernis für eine solche Aufwertung sein.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierungen haben - das gilt auch für die derzeitige - bei der Erarbeitung von Menschenrechtsstandards und -instrumenten auf europäischer Ebene und bei den Vereinten Nationen immer eine besondere Rolle gespielt. Gleichzeitig haben sie sich aber nicht selten bei der verbindlichen Vereinbarung von notwendigen Mechanismen zur praktischen Durchsetzung des internationalen Menschenrechtsschutzes zögerlich gezeigt. Das hat vermutlich mit den unterschiedlichen Interessenlagen in den jeweiligen Gremien zu tun, wohl aber noch mehr mit der Inkonsequenz der eigenen politischen Praxis. So wird - um ein aktuelles Beispiel zu nennen - das deutsche Engagement in Menschenrechtsfragen unglaubwürdig, wenn man es mit der gegenwärtigen Haltung gegenüber China vergleicht.
Während die chinesische Führung unverändert die individuellen Freiheitsrechte mißachtet, seit Jahrzehnten das tibetische Volk unterdrückt und in jüngster Zeit Tausende von Chinesen ihres grundsätzlichsten Rechts, des Rechts auf Leben, beraubt, sich dabei die unwürdigsten Inszenierungen leistet, sogar noch die von den iranischen Mullahs veranstalteten Massenhinrichtungen überbietet, reist der deutsche Wirtschaftsminister zu den Hauptverantwortlichen für dieses Geschehen, um ihnen neue Angebote zu machen und ganz nebenbei eine Namensliste von Verfolgten zu übergeben.
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Währenddessen ignorieren deutsche Unternehmen, durch eben diesen Minister ermuntert, weiterhin alle Boykottforderungen. Gleichzeitig wiederum treiben die Beamten des Auswärtigen Amtes in New York die internationale Ächtung der Todesstrafe voran und sind sich die Abgeordneten des Bundestages weitgehend einig über die Ratifizierung des zweiten Fakultativprotokolls. Parallel dazu verkündet der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, daß die Gewährung von Entwicklungshilfe von der Einhaltung der Menschenrechte abhängig gemacht wird. Wem soll man nun glauben? Wen können wir auf so zwiespältige Weise von unseren hochgesteckten Zielen überzeugen? Ist das vielleicht konsequent?
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich möchte Sie dringend bitten, Ihren diesbezüglichen Entschließungsantrag entweder umzuformulieren oder ihn zurückzuziehen. In Anbetracht der tatsächlichen Zustände in China wirkt der zaghafte Wortlaut des Antrags auf mich eher wie eine Verhöhnung der Opfer. Der Anspruch auf Universalität der Menschenrechte darf nicht mehr selektiv nur noch dort vertreten werden, wo wirtschaftliche Interessen dem nicht im Wege stehen.
Schließlich müssen wir diesem Anspruch auch im eigenen Land gerecht werden. Unser zukünftiges Verhalten gegenüber Flüchtlingen aus aller Welt wird zum Prüfstein für die Glaubwürdigkeit unseres Engagements für die allgemeine Durchsetzung der Menschenrechte werden. Die derzeitigen Überlegungen zur angestrebten sogenannten Harmonisierung des Flüchtlingsrechts in Europa stehen im krassen Widerspruch zu unseren Ansprüchen an die Einhaltung der Menschenrechte durch andere. Die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte verträgt sich nicht mit der Aufstellung einer Liste sogenannter verfolgungsfreier Staaten. Ich versuche mir vorzustellen, ob beispielsweise die DDR zum Zeitpunkt des Honekker-Besuchs 1987 in der Bundesrepublik die Chance gehabt hätte, auf eine derartige Liste zu kommen.
({3})
- Ich habe sie sehr wohl gehört. Ich habe festgestellt,
wie zurückhaltend gerade in diesen Jahren alle politischen Parteien und die Regierung der BundesrepuGerd Poppe
blik Deutschland gegenüber den Oppositionsbewegungen in der DDR und in Osteurpa gewesen sind.
({4})
- Nein, das ist die Wahrheit, Herr Schäuble. Ich habe es am eigenen Leib oft genug verspürt.
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Zurufe sind zulässig, Herr Professor Hauchler.
({0})
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Bitte.
Herr Kollege Poppe, glauben Sie wirklich, daß wir die Chancen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation in der Welt vergrößern, wenn wir uns ständig Fehler und Fehleinschätzungen der Vergangenheit vorhalten?
({0})
Ich denke, es geht vor allem um die aktuelle Situation. Ich habe das an einem Fall deutlich gemacht. Ich meine, es ist aber auch gut, sich an vergangene Fehler zu erinnern, damit man sie nicht wiederholt.
({0})
Meine Damen und Herren, den vom Bündnis 90/ GRÜNE eingebrachten Antrag zur Einsetzung eines Hochkommissars und zur Schaffung eines Gerichtshofes für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen verstehen wir als Anstoß für eine fraktionsübergreifende Initiative zur Verbesserung der Durchsetzungsmechanismen internationaler Menschenrechtspolitik. Manchem von Ihnen werden diese Vorschläge wohlvertraut sein. Der Kollege Bindig hat dankenswerterweise die Begründung unseres Antrages schon vorweggenommen. So hoffen wir auf Ihre Mitwirkung.
({1})
- Richtig. Wir sagen ja auch nicht, daß wir hier ein Urheberrecht für uns beanspruchen.
Herr Kollege Poppe, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Ich bin gleich am Ende.
Nicht „gleich". Wenn der Präsident ermahnt, gibt es noch einen Schlußsatz.
Ich bitte doch, die Unterbrechungen zu berücksichtigen, die hier vorgekommen sind.
Das ist abgezogen worden.
Ein Wort noch zur Menschenrechtskonferenz 1993: Wir begrüßen, daß diese Konferenz in Berlin stattfindet und müssen schon jetzt dafür Sorge tragen, daß sie zu einem Erfolg im Sinne des verbesserten Schutzes der Menschenrechte führen kann, indem wir uns für die aktive Beteiligung aller Ebenen der Menschenrechtsarbeit, insbesondere auch der Nicht-Regierungsorganisationen
Herr Poppe, das ist ein Absatz, das ist kein Satz.
- das geht immer noch mit Kommas - , einsetzen, wie das schon auf dem diesjährigen KSZE-Expertentreffen in Genf möglich gewesen ist. Ich denke, daß Bundestag und Bundesregierung mit der guten Vorbereitung dieser Konferenz -
Herr Kollege Poppe!
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- Es macht Sinn, daß dieses Parlament Regeln hat. An die haben Sie sich ebenso zu halten wie alle anderen.
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Wenn ich Sie ganz höflich darauf hinweise, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist, können Sie nicht noch einen ganzen Absatz vorlesen. Es gibt manche, die glauben, sie könnten sich unter Verweis auf besondere Rechte etwas herausnehmen. Das geht nicht.
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Als nächster hat unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das hätte ja einmal eine Debatte sein können, bei der wir nicht mit Fingern aufeinander zeigen, sondern bei der wir versuchen, uns an positiven Ideen jeweils zu überbieten.
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Wenn wir uns Rechenschaft darüber ablegen, welche Entwicklung die Menschenrechte seit unserer De5580
batte von vor über einem Jahr genommen haben, dann ist sowohl völlige Resignation wie größter Optimismus begründbar. Dabei haben uns die modernen Medien die Probleme aller Herren Länder so nahegerückt, daß jede Distanzierung unzulässig erscheint.
Für Deutschland kann man mit Befriedigung feststellen, daß die grundlegenden Menschenrechte in allen Teilen unseres Landes nun rechtlich garantiert sind und zudem nicht nur auf dem Papier stehen. Aber gefeit sind wir nicht. Die pogromartige Kriminalität gegen Ausländer ist zugleich immer auch eine Verletzung grundlegender Menschenrechte. Da kann niemand, der unsere freiheitliche Verfassung erhalten will, mit klammheimlicher Zufriedenheit zusehen. Hier müssen wir Partei ergreifen.
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Sie können sicher sein, daß auch das Asylrecht nicht verletzt werden wird.
Menschenrechte sind Individualrechte; sie stehen dem einzelnen zu. Darum muß er die Möglichkeit haben, sie vor einem Gericht wirksam zu vertreten. Wir haben deshalb wenig Verständnis für die Schwierigkeiten, die die Bundesregierung bei der Unterzeichnung und Ratifizierung des 9. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention über den individuellen Zugang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu überwinden hat.
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Wir wünschen uns, daß die Ratifizierungsverfahren unterzeichneter Menschenrechtsabkommen in Zukunft unverzüglich eingeleitet werden,
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damit die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung nicht in das Zwielicht der Unentschlossenheit gerät. Es bleibt den Bundesländern ja unbenommen, ihre Wünsche und Vorbehalte während des Ratifizierungsverfahrens geltend zu machen.
Die internationale Lage bei der Durchsetzung von Menschenrechten, ohne die es keinen Frieden gibt, zeigt Licht und Schatten.
In Europa haben sich in den Staaten des früheren Warschauer Paktes demokratische Regierungsformen weitgehend durchgesetzt. Aber dieser Prozeß ist nicht ungefährdet. Die Erlangung demokratischer Rechte geht einher mit dem Aufbrechen ethnischer Konflikte, die über Jahrzehnte unterdrückt waren und die nun - bis hin zu Bürgerkriegen - erbarmungslos und sinnlos ausgetragen werden.
In Afrika hat sich eine Reihe von Staaten immerhin dem Mehrparteiensystem zugewendet. In Südafrika sind wichtige rechtliche Schritte zur Aufhebung der Apartheid beschlossen worden, die es in der sozialen Wirklichkeit - das muß festgehalten werden - jedoch unverändert gibt.
In Südamerika und in vielen Ländern Asiens klaffen gewaltige Unterschiede zwischen dem kulturellen und politischen Anspruch auf der einen und der sozialen Wirklichkeit und der Verfassungswirklichkeit auf der anderen Seite. Insbesondere Nordkorea, Burma, die Volksrepublik China, aber auch der Iran unterdrücken - merkwürdigerweise mit ganz unterschiedlicher öffentlicher Aufmerksamkeit - rücksichtslos alle Formen der politischen und geistigen Abweichung.
Insgesamt muß man feststellen, daß auch in diesem Jahr viele Tausende Menschen der Verletzung von Menschenrechten, der Unterdrückung von Minderheiten und dem Rassismus zum Opfer gefallen sind. Darum können wir die Menschenrechte nicht als gesichert betrachten. Die Arbeit an ihrer Verwirklichung muß fortgesetzt werden.
Dabei spielt die Behandlung von Minderheiten eine immer größere Rolle, also die Frage, ob sie anerkannt, welche Autonomien und welche Sicherheiten ihnen gewährt werden. Viele neu entstandenen Staaten haben keinerlei Erfahrung im Umgang mit Minderheiten. Andere unterdrücken sie gemeinsam, weil sie, wie z. B. die Kurden, Minderheiten in allen Nachbarländern sind.
Die Entwicklung und Durchsetzung einer Minderheitenkonvention gehören darum zu den wichtigsten Aufgaben, die vor uns stehen. Darauf zielt die eine der von uns vorgelegten Resolutionen ab.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zur Türkei machen, einem Land, das uns auf Grund vielfältiger geschichtlicher Beziehungen und auch deswegen nahesteht, weil aus ihm die größte Ausländergruppe stammt, die zur Zeit bei uns lebt. Die Türkei hat die Augen lange Jahre davor verschlossen, daß die Kurden eine völkische und kulturelle Minderheit sind, deren Forderung nach Anerkennung ihrer kulturellen Identität insbesond ere dann berechtigt ist, wenn sie dem Staat loyal gegenübersteht.
Ich habe es aber immer als etwas unfair betrachtet, daß wir das Kurdenproblem von hier aus so beurteilen, als ob es die terroristischen Taten der PKK nicht gäbe.
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Ich frage mich manchmal, was eine deutsche Regierung oder eine westeuropäische Regierung machen wurde, wenn sich irgendeine Gruppe - mit welcher Begründung auch immer - auch nur annähernd in der Weise verhalten würde, wie es in weiten Teilen Anatoliens geschieht. Das geht nicht.
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Herr Kollege Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bindig?
Natürlich.
Herr Kollege Hirsch, war und ist es denn nicht so, daß die türkische Regierung die Existenz der Terrorgruppe PKK immer auch benutzt hat, um die Kurden allgemein in ihrem Land zu drangsalieren?
Ich kann Ihnen das in dieser Form nicht bestätigen. Ich glaube, daß die Verhältnisse sehr viel komplizierter sind. Aber es ist sicherlich richtig - das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen - , daß auch die Türkei über Jahrzehnte überhaupt keine Minderheitenpolitik betrieben hat, auch nicht wußte, wie sie mit einer Minderheit umgeht, die sie für sich als bedrohlich betrachtet hat. Nur, wogegen ich mich wende, Herr Kollege Bindig, ist der Versuch der einseitigen Bewertung der Vorgänge, die sich dort abspielen; das geht nicht.
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In diesen Wochen hat sich in der Türkei eine neue Regierung gebildet. Sie hat wesentliche Schritte zur Wahrung der Menschenrechte eingeleitet, die zu Hoffnungen berechtigen. Sie hat ein Menschenrechtsministerium eingerichtet. Sie hat das Gesinnungsstrafrecht abgeschafft, das sie einst aus dem faschistischen Italien übernommen hatte. Sie hat das Verbot der kurdischen Sprache aufgehoben und ist bereit, kulturelle Identitäten zu akzeptieren. Wir sollten dieser Regierung eine Chance geben
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und in den kommenden Monaten ernsthaft prüfen, ob die Haushaltssperre, die wir im Bundeshaushalt beschlossen haben, unverändert fortbestehen muß. Ich will überhaupt nicht verniedlichen, was in der Türkei in den letzten Jahrzehnten geschehen ist. Nichts davon wird verniedlicht. Aber ich glaube, wir müssen neuen Entwicklungen unter einer neuen Regierung eine faire Chance geben;
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wir haben ein Interesse daran.
Menschenrechte sind universal geworden. Die vielfältigen Abkommen, Konventionen, Kommissionen, Konferenzen bieten teilweise ein verwirrendes Bild. Seit der Bill of Rights of Virginia vor über 200 Jahren hat sich ein Geflecht menschenrechtlicher Strukturen entwickelt, dem sich kein Staat ungestraft entziehen kann.
Darum muß gesichert werden, daß die Völkerrechtsgemeinschaft bereit ist, die Durchsetzung von Völkerrechten auch in widerstrebenden Staaten zu sichern.
Die Durchsetzung der Menschenrechte sollte jedoch nicht gleichzeitig dazu führen, daß nun nach dem Zeitalter der überspitzten Souveränität der Nationalstaaten ein neues Zeitalter der ungehemmten Interventionen einträte. Friedlicher wäre die Welt auch dann nicht.
Entscheidend ist, daß eine internationale Autorität die Aufgabe übernehmen kann, auf die Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen mit internationalen Reaktionen zu antworten, wenn sie friedensgefährdend ist oder wenn ein Staat sich weigert, eingegangene Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten oder gegenüber seinen eigenen Staatsbürgern zu erfüllen. Dazu könnten gerichtsförmige Verfahren ebenso dienen wie die Isolierung des Rechtsbrechers.
Ich glaube, Herr Kollege Bindig, daß einseitige Aktionen der Bundesregierung oder der Bundesrepublik die Weiterentwicklung des Völkerrechts nicht so sichern könnten, wie wir es gemeinsam wollen, nämlich mit dem Ziel, die Mehrheit der 165 Mitglieder der Vereinten Nationen für solche Pläne zu gewinnen, von denen sich ja ein nicht unerheblicher Teil selber berührt fühlen müßte. Das ist der Punkt.
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- Ich glaube, daß die Bundesregierung, daß der Bundesaußenminister nicht nur Reden dazu hält, sondern in unermüdlicher Arbeit ohne viel öffentliches Getöse sich - wie wir hoffen: erfolgreich - bemüht, die dafür erforderlichen Mehrheiten zu gewinnen.
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Verheerende Fehlentwicklungen, wie sie dieses Jahrhundert gekennzeichnet haben, kann sich die zivilisierte Welt nicht mehr leisten. Darum hat die Bundesregierung bei der Formulierung und Durchsetzung von Menschenrechten unsere volle und uneingeschränkte Unterstützung.
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Das Wort hat die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste unterstützt alle vorliegenden Anträge zur Menschenrechtssituation nachdrücklich. Wir bezweifeln allerdings, daß mit zwar nötigen, aber letztlich nur schönen Worten die Menschenrechtssituation in den angesprochenen Ländern verbessert wird, wenn gleichzeitig die Politik der Bundesregierung die proklamierten Ziele konterkariert. Solange die vorliegenden Resolutionen in eine Regierungspolitik eingebettet sind, die Menschenrechte erst an nachrangiger Stelle behandelt und nach Nützlichkeitserwägungen vorgeht, werden die Ziele der vorliegenden Resolutionen nicht erreicht werden können.
Wie widersprüchlich die Politik der Bundesregierung im Bereich der Menschenrechte ist, will ich hier kurz am Beispiel der Streitigkeiten um die kürzlich erfolgte Chinareise des Bundeswirtschaftsministers darstellen. Bereits die Vorverhandlungen des Staatssekretärs Lengl boten einen Hinweis darauf, daß bei entsprechend massiven Wirtschaftsinteressen auf deutscher Seite die Menschenrechte durchaus relativierbar sind. Minister Möllemann übertraf seinen Boten jedoch noch an Unverfrorenheit. Vorbei an Bundestagsbeschlüssen, Empfehlungen und Anträgen des Parlaments sollten die Geschäfte in üblicher Manier abgewickelt werden, als hätte es nie eine Unterdrückung der Opposition in China gegeben, und als hielte sie nicht weiterhin an. Dem Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist es hoch anzurechnen, die aus dieser Vorgehensweise entstandenen Gefahren für die neue Entwicklungspolitik seines Hauses erkannt zu haben. Zumindest verbal versucht er, seinen vorgepreschten Kabinettskollegen Möllemann noch zu bremsen.
Ich frage mich ernsthaft, ob es nicht an der Zeit wäre, in diesem Hause auch eine Debatte über die Lage der Menschenrechte in der Bundesrepublik zu führen. Die Ergebnisse einer solchen Debatte würden manchem von uns, der die Debatte über Menschenrechte in anderen Ländern vor allem für das positive Selbstbild führt, wohl nur wenig gefallen. Selbst wenn wir die Grund- und Menschenrechte für Personen mit deutschem Paß nicht berücksichtigen, so ist doch auch der Umgang mit dem Asylrecht ein deutlicher Indikator für den Umgang eines Staates mit den Menschenrechten.
An dieser Stelle hat die Bundesrepublik keinerlei Grund, mit erhobenem Zeigefinger auf andere Länder zu zeigen. Ich erinnere nur daran, wie lange es gedauert hat und welches Gezerre es gegeben hat, bis die Jesiden hier anerkannt worden sind. Bis heute sind sie nicht sicher vor einer Abschiebung.
Wie notwendig eine umfassende Menschenrechtsdebatte wäre, wird auch an der Tatsache ersichtlich, daß der Bundestag seine Beschlüsse über die Menschenrechtssituation in China aus den Jahren 1989 und 1990 ausdrücklich bestätigen will. Offenbar hat die in der Vergangenheit praktizierte Politik nicht mit dem erklärten Willen des Bundestages übereingestimmt. So hat das BMI entschieden, den Abschiebestopp für Chinesen zum 31. Dezember 1991 aufzuheben, obwohl es meiner Ansicht nach keine spürbare Verbesserung der Menschenrechtssituation in China gegeben hat. Menschenrechtsverletzungen werden durch eine derartige Abschiebepolitik der Bundesrepublik im nachhinein verharmlost oder gedeckt.
Die Aufhebung des Abschiebestopps für Chinesen wirft für mich die Frage auf, ob denn die Friedensnobelpreisträgerin dieses Jahres, inhaftiert in ihrem Heimatland, politisches Asyl in der Bundesrepublik erhalten würde. Zwar beklagen wir lautstark die Verfolgung der Baha'i im Iran, doch läßt das Mitgefühl der Bundesregierung rapide nach, wenn diese Menschen hier Schutz vor Verfolgung suchen.
Das ständige Insistieren auf der Asylfrage ist beileibe keine Marotte von mir. Amnesty international stellt in einem Brief, der zur heutigen Debatte allen Fraktionsvorsitzenden zuging, ausdrücklich fest, daß - ich zitiere - „die humane Ausgestaltung der Asylpolitik der Prüfmaßstab ist, mit dem eine Menschenrechtspolitik in besonderem Maße zu bewerten ist".
Amnesty international zitiert die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen: „Das Maß an Schutz, das Flüchtlingen gewährt wird, ist der adäquate Ausdruck der Situation der Menschenrechte im Asylstaat. "
Meine Damen und Herren, im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung sind u. a. die Ziele und Grundsätze der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung dargestellt. Dort wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich das Menschenrechtsverständnis der Bundesregierung an den völkerrechtlich kodifizierten Menschenrechten orientiert. Danach müßte sich die gesamte deutsche Politik an den Normen des Zivil- und Sozialpakts der Vereinten Nationen messen lassen - wohlgemerkt: die gesamte deutsche Politik, d. h. Innen-, Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Wer diesen Anspruch ernst nimmt, stößt unweigerlich auf Widersprüche mit der Politik der Bundesregierung. Da wäre z. B. die Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe der Bundesregierung zu nennen. Die Türkei erhält 5 Millionen DM. Es heißt, dort habe sich die parlamentarische Demokratie gefestigt, es seien beachtliche Fortschritte im Bereich der Menschenrechte erzielt worden.
Diese angeblich beachtlichen Fortschritte im Menschenrechtsbereich erstrecken sich jedoch offenbar nicht auf die systematische Folterung von Gefangenen, auf den Krieg gegen die Kurden, auf deren Bombardierung im Irak und in der Türkei, die Ermordung von Oppositionellen und die Außerkraftsetzung bürgerlicher Rechte durch das Antiterrorgesetz.
Diese Bereiche werden in der Begründung der Bundesregierung für die Fortsetzung der Ausstattungshilfe für die Türkei als noch bestehende Defizite aufgeführt, die erkannt und berücksichtigt werden müßten. Immerhin ist die CDU/CSU nach langen Jahren mit ihrem vorliegenden Antrag inzwischen wenigstens zu der Erkenntnis gelangt, daß es sich bei den Kurden um ein eigenes Volk und nicht um einen türkischen Stamm handelt. Die Erkenntnis ändert jedoch leider nichts daran, daß die Unterdrückung der Kurden weitergeht. Sie ändert auch nichts an der anhaltenden Unterstützung der Bundesregierung für die Regierung der Türkei. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Vorsichtshalber wurde eine Menschenrechtsklausel formuliert, die in jeden Vertrag aufgenommen werden soll. Danach soll das Auswärtige Amt künftig auch bei der Ausstattungshilfe darauf Wert legen, daß die Partnerländer, mit denen die BRD zusammenarbeitet, grundsätzlich die Menschenrechte achten, ihre Rüstungsausgaben in angemessenen Grenzen halten und Demokratisierungsbestrebungen nicht unterdrücken. Wie gesagt, 5 Millionen DM für die Türkei - trotz dieser Klausel.
Meine Damen und Herren, die Ausstattungshilfe ist das eine, legaler und illegaler Waffenhandel das andere. Wir erinnern uns sogleich daran, daß der BND unter seinem damaligen Chef Kinkel vitale Waffengeschäfte mit dem Irak pflegte. Laut der Zeitschrift „Konkret" wurde der Waffenhandel durch den BND nicht kontrolliert, sondern koordiniert. Seit Anfang August ist es UN-offiziell, daß die Deutschen Hauptlieferanten für das irakische Chemiewaffenprogramm waren.
Heute, da der Irak international als Bösewicht gebrandmarkt worden ist, fordert der Antrag von CDU/ CSU, SPD und FDP dort Menschenrechte für die Kurden ein. Die Türkei aber ist NATO-Verbündeter. In ihrem Fall wird geschwiegen. In biblischen Worten kann ich nichts anderes tun, als die Bundesregierung mit dem berühmten Pharisäer zu vergleichen.
Gehörte eigentlich auch die polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit mit dem Irak Saddam Husseins zur Menschenrechtspolitik der Bundesregierung?
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So kann man in den LKA-Vernehmungsprotokollen lesen, daß der damalige Münchener Polizeichef zugeUlla Jelpke
ben mußte, daß bundesdeutsche Sicherheitsbehörden ihre Computer dazu benutzten, um auf Anfrage den irakischen Behörden Informationen über in der BRD lebende Kurden weiterzugeben. Das ist Ihre Menschensrechtspolitik.
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- Ach, Herr Hirsch, ich finde Ihre Beiträge auch nicht besonders ermunternd.
Die von mir angesprochenen Beispiele Irak und Türkei lassen für die einvernehmliche Lösung, die zwischen beiden Ministerien ausgehandelt werden soll, nichts Gutes ahnen, auch dann nicht, wenn sie durch eine Menschenrechtsklausel eingeleitet werden wird. Abzuwarten bleibt, wie letztlich die einvernehmliche Lösung aussehen wird, die zwischen den beiden Ministerien ausgearbeitet werden soll.
Glaubwürdiger als die Bundesregierung in Sachen Menschenrechtspolitik ist für mich allemal eine Organisation wie amnesty international. Zwei Forderungen aus dem bereits zitierten Brief dieser Gruppe an den Deutschen Bundestag zur heutigen Menschenrechtsdebatte möchte ich hier abschließend vortragen. Ich zitiere:
Erstens. Die Bundesregierung soll dem Deutschen Bundestag künftig einen Menschenrechtsbericht vorlegen, der Rechenschaft über ihre konkrete Arbeit zur Förderung der Menschenrechte in den Vereinten Nationen, im europäischen Bereich sowie gegenüber einzelnen Staaten abgeben soll. Dieser jährliche Menschenrechtsbericht bedarf der ausführlichen kritischen Diskussion im Deutschen Bundestag, um mehr Öffentlichkeit für die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung zu schaffen.
Zweitens. Der bisherige Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestags soll den Status eines ordentlichen Bundestagsausschusses erhalten, um der Bedeutung der Menschenrechte für alle politischen Bereiche und Fragen gerecht zu werden. Die Menschenrechte sind keine Neben- oder Unterfunktionen der Außenpolitik.
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Diesen Eindruck erweckt der Status des Unterausschusses für Menschenrechte im Verhältnis zum Auswärtigen Ausschuß. Vielmehr fundieren die Menschenrechte eine wohlverstandene auswärtige Politik.
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit ein gutes Stück überschritten.
Meine Gruppe wird demnächst diese Forderungen im Rahmen eines Antrags einbringen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Hans-Peter Repnik, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dankbar, daß ich aus der Sicht der Entwicklungspolitik und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu diesem Thema einige Anmerkungen machen darf. Vielleicht gelingt es mir sogar, meine Vorrednerin zu überzeugen.
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- Ich versuche es. Man sollte keinen Versuch unterlassen, mit sachlichen Argumenten auch die Opposition, selbst wenn sie von der PDS kommt, vielleicht doch von der Richtigkeit unserer Politik zu überzeugen. Geben Sie mir die Zeit für diesen Versuch; vielleicht gelingt es mir.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir von Menschenrechten und Entwicklungspolitik sprechen, dann glaube ich - dies ist dieser Debatte, wie sie zumindest über weite Strecken geführt wurde, durchaus angemessen - , daß auch ein selbstkritischer Ansatz durchaus angezeigt ist. In der Vergangenheit blieb nämlich die internationale Diskussion über Menschenrechtsverletzungen auf Grund des Prinzips der Nichteinmischung, das quer durch alle politischen Lager in bestimmter Weise verstanden wurde, in die inneren Angelegenheiten von Staaten in der internationalen Politik häufig ohne konkrete Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit betroffenen Staaten, insbesondere im Hinblick auf die Vergabe von Entwicklungshilfe.
Nicht zuletzt - ich glaube, auch dies sollte man der Ehrlichkeit halber einführen - haben die Veränderungen in Osteuropa eine vertiefte und vor allen Dingen auch eine offenere Diskussion über die Notwendigkeit ausgelöst, politische Kriterien zu berücksichtigen. Von daher hat der Wegfall des Ost-West-Konflikts - jene ideologischen Spannungen haben auch weit in die Länder des Südens hineingereicht - uns eine völlig neue Chance eröffnet, gerade auch bei diesem Thema eine neue Qualität der Politik auch in bezug auf die Menschenrechte im Zusammenhang mit der Entwicklungszusammenarbeit zu bekommen, und wir nutzen diese Chance.
Die Überwindung von Korruption, von Patronage, von fehlender Rechtssicherheit, von Repression, Bereicherung einer kleinen gesellschaftlichen Elite und fehlender Beteiligung von breiten Bevölkerungsschichten erfordert nicht nur - wie in der Vergangenheit immer wieder umgesetzt - ökonomische Veränderungen in unseren Partnerstaaten, sondern auch politische Veränderungen. Dies heißt auch Beachtung und Wahrung der Menschenrechte. Dies wird - dies ist ein Novum in der internationalen Diskussion - auch von den Partnerländern im Süden zunehmend weniger bestritten.
Auch der Rat der Europäischen Gemeinschaften hat, von uns initiiert, in der letzten Woche, am 29. No5584
vember, eine Resolution hierzu beschlossen, in der es u. a. heißt: Menschenrechte und Demokratie sind Voraussetzungen, um gerechte und nachhaltige Entwicklungen zu erzielen. - Ich glaube, daß gerade die Strukturanpassungsprogramme der letzten zehn Jahre immer wieder gezeigt haben, daß wirtschaftliche Reformen ohne die Veränderung politischer Strukturen nicht nachhaltig greifen können. Auch hier wird der Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Entwicklung deutlich.
Dringend nötige politische Reformen in vielen unserer Partnerländer müssen von außen unterstützt und beschleunigt werden, wozu auch die Entwicklungszusammenarbeit beitragen soll. Anderenfalls - ich glaube, es ist wichtig, daß wir auch hierauf hinweisen; die Erfahrungen der Vergangenheit belegen dies - stabilisiert die Hilfevergabe auch repressive Regime. Die zukünftige Entwicklungszusammenarbeit muß auch dahin gehend wirken, daß eine verantwortlichere Regierungsführung die Respektierung der Menschenrechte gewährleistet.
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Diese Einsicht über den Zusammenhang von Demokratie und Entwicklung wächst zunehmend auch in den Entwicklungsländern. Stellvertretend mag hier Julius Nyerere, der frühere tansanische Präsident und Vorsitzende der Südkommission, zitiert werden. Er sagte wörtlich: „Afrikas Demokratiedefizit ist heute von größerer Bedeutung als sein Devisendefizit."
Bei allem muß jedoch klar sein: Alle politischen Reformen müssen aus dem Inneren einer Gesellschaft herauswachsen. Jegliche Einflußnahme von außen, auch über die Entwicklungszusammenarbeit, kann lediglich unterstützenden oder beschleunigenden Charakter haben, und diese Unterstützung besteht keineswegs nur in der Konditionierung von Hilfe. Sie umfaßt auch Positivmaßnahmen, z. B. Hilfe bei der Organisation von demokratischen Wahlen oder der Entwicklung von Rechtssystemen.
Andauernde und schwerwiegende Verletzungen der Menschenrechte in einzelnen Ländern erfordern dagegen restriktive Maßnahmen, bis hin zur Einstellung der Zusammenarbeit von Regierung zu Regierung. Dabei gilt es nach unserer Erfahrung, die negativen Auswirkungen auf die von einer repressiven Politik betroffenen Bevölkerungsgruppe soweit irgend möglich zu begrenzen. Rahmenbedingungen und Eigenanstrengungen eines Empfängerlandes sind daher nicht nur für den Umfang, sondern vor allem auch für die Art der Zusammenarbeit entscheidend. Dort, wo es von Staat zu Staat nicht geht, sollten wir uns womöglich der NichtRegierungsorganisationen bedienen, um die Menschen nicht für die Fehler zu bestrafen, die ihre Regierungen jeweils machen.
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Die Kritik mancher Entwicklungsländer, dies widerspreche der völkerrechtlichen Souveränität, müssen wir zurückweisen.
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Eine menschenrechtsorientierte Entwicklungszusammenarbeit ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten, und staatlicher Terror und staatliche Folter können nicht mit Verweis auf nationale Souveränität von der Tagesordnung abgesetzt werden.
Es ist in der völkerrechtlichen Diskussion unumstritten, daß die Menschenrechtskonvention einen universellen Geltungsanspruch besitzt und somit als höchster Maßstab für das politische Handeln, auch für das entwicklungspolitische Handeln, zu gelten hat.
Das BMZ hat deshalb Kriterien erarbeitet - auf sie wurde schon hingewiesen - , die bei der Planung für Entwicklungshilfe ab sofort - bereits für das Jahr 1992 - berücksichtigt wurden. Dies sind insbesondere - ich darf das noch einmal betonen - Beachtung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß, die Gewährleistung von Rechtssicherheit, marktfreundliche Wirtschaftsordnung und die eigenen Entwicklungsanstrengungen eines Landes im Interesse der armen Bevölkerungsmehrheit. Ich möchte hier nur das Stichwort der Militarisierung einführen.
Dabei verbietet sich - auch hier haben wir aus der Erfahrung der vergangenen Jahre unsere Lehren gezogen - eine automatische Koppelung der Hilf evergabe an mathematisch quantifizierbare Kriterien. Deutlich werden muß, daß die Kriterien zur Fassung und Bewertung der Rahmenbedingungen keineswegs vorrangig den Umfang bilateraler Hilfe bestimmen. Sie sind noch wichtiger für die Beantwortung der Frage, wie angesichts offensichtlicher Defizite bei einzelnen Rahmenbedingungen mit einem Land zusammengearbeitet werden kann. Das heißt, die Einstellung von Entwicklungshilfe kann immer nur die letzte Konsequenz sein. Denn wir wollen die arme Bevölkerung nicht doppelt bestrafen.
Vor einem solchen Schritt sind der Zielsetzung unserer Entwicklungshilfe entsprechend alle Instrumente der Zusammenarbeit daraufhin zu überprüfen, ob sie uns Möglichkeiten bieten, einen Beitrag zur Armutsbekämpfung zu leisten und/oder die Umwelt zu schützen. Denn Menschenrechtspolitik hat eine elementare soziale Dimension gerade in der Entwicklungszusammenarbeit. Sie ist Dienst am Menschen.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren - auch das zeigt uns die Erfahrung - , erfordert Sensibilität und politisches Gespür im Dialog mit unseren Partnern. Gravierende Menschenrecht verletzungen werden dabei nicht ignoriert. Keineswegs finden wir uns mit entwicklungswidrigen Rahmenbedingungen ab. Allerdings werden wir das Handlungspotential unserer Partnerregierungen sorgsam abschätzen. Die Erfahrungen gerade der letzten Monate ermutigen uns, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten.
Ich möchte mich sehr herzlich bei Ihnen, beim gesamten Parlament bedanken, daß Sie uns auf diesem Weg zum Schutz der Menschenrechte im Sinne der Menschen, denen wir helfen wollen, begleiten.
Herzlichen Dank.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Ingomar Hauchler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, mir hat Ihre Rede gefallen, nur klafft tatsächlich eine große Kluft zwischen dem, was Sie hier gesagt haben, und dem, was die Bundesregierung zur Zeit in der praktischen Menschenrechtspolitik tut.
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Besonders seit der neue Entwicklungshilfeminister nicht müde wird zu erklären, Menschenrechte, Demokratisierung und Abrüstung seien unverzichtbare Konditionen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern, zeigt sich der Widerspruch zwischen Propaganda und Wahrheit besonders kraß. Derweil nämlich Carl-Dieter Spranger - wie ich bisher meine: ehrlich - vor der Presse über Menschenrechte doziert, machen seine Kabinettskollegen fröhlich weiter Geschäfte mit Diktatoren, die ihren Völkern Rechtssicherheit, Meinungsfreiheit und gesellschaftliche Beteiligung verweigern und das Volksvermögen in New York, Tokio und Frankfurt für sich selbst arbeiten lassen.
Nach der früheren Männerfreundschaft von FranzJosef Strauß mit Pinochet und Botha kommt es heute zur Reverenz von Seiters für Suharto, zum Scheck von Genscher für Assad, zur NVA-Waffenlieferung Stoltenbergs für wer weiß wen
({1})
und zu Sonderkonditionen und Subventionen Minister Möllemann für Li Peng.
Jedoch nicht nur die Kollegen am Tisch des Kanzlers decken Waffengeschäfte und forcieren Kredite mit autoritären Regimen, auch im eigenen Haus kann sich der Entwicklungsminister nicht durchsetzen. Sein eigener Staatssekretär Lengl läßt nicht nur nicht ab von seinem freundschaftlichen Umgang mit den Mobutus und Eyademas, dieser Siegfried Lengl konspiriert auch ohne Hemmungen gegen einen Beschluß des Deutschen Bundestages und belügt das deutsche Parlament.
({2})
Das Drehbuch dazu: Nach dem Massaker in Peking 1989 beschließt der Bundestag, deutsche Leistungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit unverzüglich einzustellen. Wenig später, im Januar 1990, schreibt Lengl an seinen Kollegen im Wirtschaftsministerium von Würzen, deutsche Schiffsbaukredite an China zu Sonderkonditionen seien entwicklungspolitisch förderungswürdig. Das Wirtschaftministerium lehnt mit Verweis auf die Sperre durch den Bundestag ab. Lengl aber pflegt weiter seine engen Kontakte mit
China. Am 23. Oktober 1990 faßt der Bundestag dann, gegen die Stimmen meiner Fraktion, einen neuen Beschluß. Entwicklungspolitische Leistungen an China werden nunmehr wieder zugelassen, jedoch nur, wenn sie der Bevölkerung, dem Umweltschutz und Reformen direkt zugute kommen. Wiederum verfolgt Lengl weitere Projekte, die diesem Parlamentsbeschluß diametral entgegenstehen. Es folgt der peinliche Bruderkuß mit Li Peng am zweiten Jahrestag des Massakers auf dem Tiananmen-Platz. Von der SPD dazu im Ausschuß befragt, belügt der oberste Beamte im Entwicklungsministerium das deutsche Parlament
- wahrlich ein Skandal!
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- Wenn Sie hier lieber Zeitung lesen, dann nehmen Sie die ganze Menschenrechtsdebatte, so glaube ich, nicht ernst.
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Ich frage: Was muß über Siegfried Lengl noch ans Tageslicht, bis er entlassen wird oder er selbst den Anstand hat zurückzutreten?
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Wenn Sie, Herr Scharrenbroich, Ihre Wortmeldung in dieser Debatte ernst nehmen, sollten Sie dafür eintreten, daß das realisiert wird, was Sie selbst gesagt haben: daß das Parlament ein Wächteramt in der Frage einnimmt, ob die Regierung das tut, was sie verspricht.
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Offenbar nehmen Sie Ihr eigenes Wort nicht ernst.
Die SPD jedenfalls fordert Minister Spranger auf, gegen seinen obersten Beamten unverzüglich ein Disziplinarverfahren wegen Amtsmißbrauchs einzuleiten. Gleichzeitig muß der Bundesrechnungshof mit einer Sonderuntersuchung über die Amtsführung Lengls betraut werden. In dieser soll geklärt werden, in welchen Fällen der Staatssekretär entgegen den Beschlüssen des Bundestages, der Bundesregierung und des Ministeriums selbst sowie entgegen öffentlicher Vergaberichtlinien und Grundsätze sparsamer Haushaltsführung gehandelt hat - durch Reisen, durch hausinterne Anweisungen, durch Initiativen gegenüber anderen Ressorts, durch Zusagen gegenüber Regierungen und Unternehmungen - und wer in solchen Fällen in welcher Weise begünstigt worden ist. Das alles muß auf den Tisch, wenn Sie eine Menschenrechtsdebatte wirklich ernst nehmen.
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Ich hoffe, daß Staatssekretär Repnik Minister Spranger diese Forderung der SPD unverzüglich vorträgt, der sich seltsamerweise an dieser Debatte über Menschenrechte offenbar nicht beteiligen möchte, genauso wie sich die eigens zur Sonderbeauftragten
für Menschenrechte ernannte Staatssekretärin, Frau Michaela Geiger, dieser Diskussion nicht stellt.
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Ist das Interesse des Ministers an den Menschenrechten doch nicht so groß, oder drückt ein schlechtes Gewissen?
({9})
Das Parlament jedenfalls kann es nicht zulassen, daß es von einem Regierungsbeamten an der Nase herumgeführt wird. Und der Minister sollte es nicht zulassen, daß er von seinem Staatssekretär ins Zwielicht gebracht und seine Autorität untergraben wird. Denn noch muß der Widerspruch aufgeklärt werden,
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daß der Minister Spranger behauptet, die Leitung seines Ministeriums habe nichts vom Sonderschiffsbaukredit an China gewußt, obwohl dies doch der Fall war; denn Lengl war erwiesenermaßen in dieser Sache selbst tätig.
Die Bundesregierung hat selbst - das hat sie auch heute wieder getan - sehr hohe Standards für die künftige wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern gesetzt. Wir fordern den Bundeskanzler und seinen Entwicklungshilfeminister auf, diesem Standard in der Praxis endlich wirklich gerecht zu werden und jeglichem Anschein von realpolitischem Zynismus entgegenzutreten. Deshalb müssen alle Vorgänge um Siegfried Lengl lückenlos aufgeklärt werden. Dazu gehören übrigens auch die auffällig vielen Reisen, die der Staatssekretär bevorzugt zu afrikanischen Diktatoren unternommen hat, und die wiederholte Inanspruchnahme eines privaten Flugzeugs, das ihm Tiny Roland, der Chef des britischen Unternehmens Lonrho, für afrikanische Reisen und wohl auch Impressionen zur Verfügung gestellt hat. Siegfried Lengl - die bayerische Taschenbuchausgabe von Lothar Späth?
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- Das stammt von mir, lieber Kollege Hornhues!
Die SPD-Bundestagsfraktion besteht darauf, daß die entwicklungspolitischen Leistungen in Zukunft wirklich konsequent an Menschenrechten und Demokratisierung orientiert werden. In diesem Grundsatz sind wir mit Ihnen einig. Länder, die demokratisch orientiert sind und sich der Demokratie öffnen, sollen großzügiger als bisher unterstützt werden. Dagegen sollen Diktaturen und Länder, in denen demokratische Prozesse gestoppt werden, allenfalls noch eine Förderung erhalten, die direkt der breiten Bevölkerung, dem Umweltschutz und Reformen zugute kommt.
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Dementsprechend hat die SPD - versöhnlicher Schluß - in den Haushaltsberatungen eine Umschichtung in Höhe von 500 Millionen DM gefordert; dieser Forderung sind die Regierungsfraktionen nicht gefolgt. Zum Beispiel sollen die Mittel für China, Indonesien und Marokko mindestens halbiert, die Förderung für afrikanische und mittelamerikanische Länder, die sich der Verwirklichung der Menschenrechte und dem Frieden öffnen, aber entsprechend aufgestockt werden.
Zusammen mit wirtschaftlichen und sozialen Reformen, Abrüstung und Umweltschutz bilden politische Reformen die Voraussetzung dafür, daß eine wirtschaftlich produktive, ökologische und sozialverträgliche Entwicklung in der Dritten Welt und in Osteuropa wirklich eine Chance hat. Mit dem bloßen Setzen und Erklären von entwicklungspolitischen Konditionen, wie es bisher geschieht, ist es allerdings nicht getan.
Eine nicht nur glaubwürdige, sondern auch wirksame Umsetzung in die Praxis setzt voraus, daß mindestens zwei zusätzliche Voraussetzungen erfüllt werden: Erstens. Maßnahmen der Entwicklungspolitik müssen von einem gleichgerichteten Verhalten der Bundesregierung in der Außenpolitik und in der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik begleitet werden. Es geht nicht an, daß sich der Wirtschaftsminister für einen Kredit von 600 Millionen DM mit einem Subventionsanteil von mehr als 100 Millionen DM an China in einer Zeit einsetzt, in der der Entwicklungshilfeminister China 30 Millionen DM an Entwicklungshilfe nimmt. Man nimmt 30 Millionen, und man gibt über 100 Millionen DM. Das ist wirklich eine gepflegte Kooperation für Menschenrechte und Geschäft zugleich. Dies muß aufhören.
({13})
Die zweite Bedingung ist folgende: Die Förderung von Reformen soll grundsätzlich eher durch positive Anreize geschehen denn durch Diskriminierung.
({14})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb in den Haushaltsberatungen gefordert - hören Sie gut zu, was wir gefordert haben, und schließen Sie sich dem an -, dafür zusätzlich schnell verfügbare Mittel aus einer neu zu schaffenden Demokratisierungsreserve zur Verfügung zu stellen, und zwar 200 Millonen DM schon in 1992, 500 Millionen DM dann ab 1993. Wenn man das tut, kann man schnell Staaten helfen, die sich der Demokratie und den Menschenrechten öffnen. Dagegen soll bei Sanktionen eine von Fall zu Fall angemessene Abstufung erfolgen, statt daß in solchen Fällen weiter eine undifferenzierte Stop-and-Go-Politik zum Schaden der Ärmsten praktiziert wird.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
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- Daß Ihnen das nicht gefallen hat, ist mir schon klar.
Die Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik darf sich nicht in Erklärungen erschöpfen, sondern muß endlich konkret das Recht, die Freiheit und die Selbstbestimmung der Menschen in den Entwicklungsländern fördern. Die Politik der konservativ-liDr. Ingomar Hauchler
beralistischen Regierung war jedoch oft von Doppelmoral und Doppelstandards für große und kleine Länder, für Freund und Feind, für willfährige und widerspenstige Potentaten geprägt. Dies muß sich ändern. Gleiches Menschenrecht für alle!
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Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Rainer Eppelmann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine Lust zu leben. Es ist vielleicht provozierend, mit diesem Satz von Ulrich von Hutten einen Beitrag zum Thema Menschenrechte im Spätherbst 1991 zu beginnen. Ja sicher, provozierend, aber nicht nur; denn ich gehöre der Gruppe von Menschen an, für deren Menschenrechte jahrelang, auch von diesem Hause aus, gekämpft wurde.
Jahrelang wurde ich in der ehemaligen DDR verfolgt und bespitzelt. Zum Glück aber gab es einige Journalisten, mutige Journalisten, wie z. B. Dieter Bub vom „Stern", Ulrich Schwarz vom „Spiegel" oder Ingo Schwelz von „ap", und engagierte Politiker, wie Norbert Blüm, Ulf Fink, Gert Weisskirchen, Petra Kelly, Stefan Schwarz und Rita Süssmuth, die uns DDR-Bürgerrechtler massiv und regelmäßig besuchten und unterstützten.
Wir, ein paar tausend Bürgerrechtler, waren seit Ende der 70er Jahre selber darum bemüht, daß die UNO-Charta der Menschenrechte wenigstens schrittweise auch bei uns in der DDR verwirklicht wird. Die wichtige gezeigte Unterstützung und unser eigenes geduldiges und gewaltigfreies Bemühen haben zum Erfolg geführt. Die Menschenrechte sind für mich, die Menschenrechte sind für uns jetzt nicht mehr Traum, sondern Alltag. Darüber bin ich ungeheuer froh, und dafür bin ich ungeheuer dankbar.
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Dank den Journalisten, den Politiken - es war nicht die Mehrheit - , die auch schon zu Zeiten, als man bei Erich Honecker noch Schlange stand, zu uns kamen. Ohne sie wäre ich heute nicht hier. Sie verstehen: Meine Situation wie die vieler ehemals verfolgter, bespitzelter und entwürdigter DDR-Bürger ist ganz anders geworden. Das ist wunderschön, bei allen heutigen menschlichen und sozialen Problemen des Zusammenwachsens der beiden deutschen Volksteile.
Darum gilt dieses Wort Ulrich von Huttens für mich im vollsten Sinne des Wortes: Es ist eine Lust zu leben.
Aber dennoch würde ich, wäre es erlaubt, hier laut schreien wollen. Wir Deutschen in der ehemaligen DDR, zu denen ich gehörte, waren ja nicht das einzige Volk, das unterdrückt wurde. Wir waren nicht die einzigen, denen wichtige Menschenrechte verweigert wurden. Ich war doch nicht der einzige, der darunter litt, wenn sich die Regierungen der Demokratien von den Diktatoren mit dem Hinweis „keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates" abhalten ließen. Ich war doch nicht der einzige, der zornig wurde, wenn mir Menschen aus dem Westen - Regierende, Friedenskämpfer, Künstler und Intellektuelle - in schöner Übereinstimmung rieten: Haben Sie doch Geduld und Verständnis für die Lage in der DDR! Der Frieden in der Welt ist doch wichtiger als die Beseitigung der Menschenrechtsverletzungen bei Ihnen. Im Osten geht es Ihnen doch noch ganz gut.
Diese Aufforderungen zum Stillhalten haben mich deswegen so zornig gemacht, weil diejenigen, die so redeten, meist in der warmen Stube saßen und nicht wußten, wie das ist, wenn man ständig im Dunkeln und in der Kälte steht, Angst hat und kalte Füße.
Darum möchte ich uns als Parlamentarier eines vereinten Volkes und eines Staates nachdrücklich auffordern: Tun wir endlich noch wirkungsvoller etwas für die Kroaten, notfalls auch als erste, auch wenn nicht alle Verbündeten gleich mitmachen! Tun wir endlich wirkungsvoll auch etwas für die Kurden in fünf Ländern, die sich auch nationale Selbständigkeit wünschen; nicht nur wir haben uns das gewünscht. Tun wir besonders etwas dafür, daß unser NATO-Verbündeter Türkei den Kurden in seinem Land Selbstbestimmung gibt und entscheidend dazu beiträgt, daß das auch geteilte Zypern endlich wieder ein Staat werden kann! Tun wir endlich etwas für die grundsätzliche Einhaltung der Menschenrechte wenigstens in unserem Hause, in Europa! Wie sollten wir sonst glaubwürdig die Einhaltung der Menschenrechte in der Zweidrittelwelt einklagen? Tun wir endlich etwas dafür, daß international verbindlich anerkannt wird: Menschenrecht geht vor Staatsrecht!
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Tun wir endlich etwas dafür, daß Regierungsterror und Menschenrechtsverletzung gegen das eigene Volk oder gegen einzelne Menschen von der Völkergemeinschaft nicht mehr geduldet werden! Nutzen wir dabei die großen Chancen, die uns die Beendigung des Ost-West-Konfliktes bietet!
Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch mit dieser Debatte Hoffnung für die im Dunklen und im Kalten sein! Seien wir im Warmen wenigstens so mutig und engagiert wie die, die ihre Zukunft, ihre Sicherheit, ihr Leben riskieren! Machen wir uns gemeinsam noch engagierter, noch mutiger, noch sensibler für die Verfolgten auf dem Weg, damit auch diese die Hoffnung haben, einmal sagen zu können: Es ist eine Lust zu leben!
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Kollegin Ingrid Walz.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich will nicht allgemein zur Menschenrechtspolitik sprechen; für unsere Fraktion hat dies Herr Kollege Hirsch in vorzüglicher Weise getan. Ich möchte nur zu Ihrem Ansinnen sprechen, die Beschlüsse vom 15. und 23. Juni 1989 noch einmal aufleben zu lassen. Sie wissen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, daß diese Beschlüsse durch Beschluß des Bundestages vom 30. Oktober 1990 geändert wurden. Nach den drei Kriterien, die wir damals vorgegeben haben, sind Projekte der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit China verwirklicht worden und der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat diese Projekte abgesegnet. Von einem privaten Deal des Herren Lengl kann deshalb überhaupt nicht geredet werden.
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Ich möchte Sie allerdings an einen Fall erinnern, bei dem Sie mitgestimmt haben, und da möchte ich Sie nun der Doppelzüngigkeit zeihen. Es geht um die indonesischen Fährschiffe. Sie wissen, daß Indonesien nicht gerade ein Musterbeispiel für die Einhaltung von Menschenrechten ist, und trotzdem haben Ihre Haushaltsexperten diesem Deal zugestimmt.
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- Herr Esters hat zugestimmt.
Und nun zu China! Mit der Unterdrückung der chinesischen Protestbewegung am 4. Juni 1989 hat China der Welt gezeigt, daß der Ruf nach Demokratie nicht nur eine Angelegenheit von wenigen Intellektuellen, Studenten und privatwirtschaftlich organisierten städtischen Bürgern war, sondern daß Millionen Menschen sich von der Demokratie berührt fühlten. Das Vorgehen der chinesischen Regierung auf dem Tiananmen-Platz hat aber auch gezeigt, daß Opposition nicht geduldet wird, daß der Weg Chinas in die Demokratie ein weiter sein wird.
Wie stark heute das demokratische Bewußtsein nach den Ereignissen von damals in der chinesischen Bevölkerung ist, weiß niemand. Es darf die vorsichtige Vermutung geäußert werden, daß die Furcht vor Instabilität nach osteuropäischem Muster, die damit verbundene Furcht, bescheidenes wirtschaftliches Wachstum zu verlieren, den Demokratiebestrebungen keinen weiteren Auftrieb verliehen hat. Die chinesische Janusköpfigkeit läßt keine sicheren Prognosen zu, wobei eine friedliche politische Veränderung der Machtverhältnisse im Wege der wirtschaftlichen Evolution als wahrscheinlich gilt. Dieser Weg ist deshalb um so wahrscheinlicher, weil bei über einer Milliarde Menschen nicht städtische Eliten das politische Bewußtsein verändern werden, sondern erst die allmähliche Besserstellung der Menschen durch wirtschaftliches Wohlergehen und bessere Bildung vor allen in den Weiten Chinas. Wir sollten das klarer als bisher erkennen und vor allem uns selbst mit Erwartungen nicht überfordern.
Meine Damen und Herren, wir müssen dieses real sehen; denn in der breiten Bevölkerung Chinas gibt es nach wie vor wenig Wissen um Demokratie, um Menschenrechte und um Rechtsbewußtsein. Der einzige Weg zu mehr Demokratie in China ist das Offenhalten der Tore, ist der Weg Chinas in die Völkergemeinschaft und sind Begegnungen zwischen Menschen, zwischen Kulturen und zwischen Volkswirtschaften.
Die Marktwirtschaft, also unternehmerische Freiheit, beinhaltet immer den Wunsch nach persönlicher
Freiheit und wird sich auch in China als politischer Sprengsatz erweisen. Die Demokratien, die Marktwirtschaften dieser Welt müssen deshalb ein erhebliches Interesse daran haben, daß sich das Riesenreich weiter marktwirtschaftlich orientiert.
Wir sollten bei Reformen, die China fortsetzen will
- wie der dreistufige Umstrukturierungsplan für Wirtschafts- und Sozialreformen belegt - , behilflich sein. Wie wichtig diese Hilfe bei Reformen ist, zeigt eine kluge Analyse des Leiters des Goethe-Instituts in Peking, Kahn-Ackermann, die ich zitieren möchte:
Noch heute denkt der größte Teil der Bevölkerung und der politischen Führung in Kategorien wie:
- jeder, der China besucht hat, kann das bestätigen Die Welt besteht aus ,der Welt' und ,China', das Ausland einerseits und China auf der anderen Seite. Ich glaube: Alles, was diesen Vernetzungsprozeß befördert und die Selbstverständlichkeit eines solchen geistigen und materiellen Austausches, ist langfristig gesehen erfolgreicher als irgendwelche Sanktionen.
Demokratisierungshilfen sind deshalb angesagt, auch in Form von Besuchen, wie sie unser Bundeswirtschaftsminister Möllemann unlängst gemacht hat. Auch Baker und andere Repräsentanten wichtiger Demokratien sind in Peking aufgetreten.
({2})
Meine Damen und Herren, ein weiterer Gesichtspunkt: China wird innerhalb kürzester Zeit nicht nur eine beherrschende Wirtschaftsmacht im pazifischen Raum sein, sondern auch die Neugestaltung Ostasiens wesentlich mitprägen. Bei der Neugestaltung oder Zuordnung der asiatischen Republiken der UdSSR sind die Wirtschaftsform und die Stabilität des größten Partners in dieser Region von entscheidender Bedeutung, nicht nur was die Lebensfähigkeit dieser Republiken betrifft, sondern auch im Hinblick auf ihre Eigenstaatlichkeit.
Wir meinen deshalb, daß die Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China in unser aller Interesse weitergeführt werden sollte, und zwar in den Bereichen, die existentiell für die Menschen, aber auch im Hinblick auf die Fortentwicklung der Region sind.
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Richtig ist jedoch, daß weitere Schritte dieser Zusammenarbeit davon abhängig gemacht werden sollten, wie China seine Menschenrechtsfrage löst. Es ist zu erwarten, daß die Chinesen diese Entscheidung zu ihrem eigenen Vorteil treffen werden. Sie werden diese Entscheidung aber zu einem Zeitpunkt treffen, der ihrem eigenen Verständnis entspricht. Sie werden diese Entscheidung vermutlich bald treffen. Alles deutet darauf hin.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Klaus Kübler das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Zeitpunkt der jetzigen Debatte zum Menschenrechtsbericht selbst, der uns vorliegt, nur zwei, drei Anmerkungen machen. Er ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Wir haben das bekommen - das sage ich jetzt in Richtung der Bundesregierung -, was der Bundestag als Auftrag an die Bundesregierung gegeben hat. Dafür sind wir dankbar. Wir unterstützen die einstimmige Beschlußempfehlung des Unterausschusses und des Auswärtigen Ausschusses.
Lassen Sie mich drei ergänzende, für mich wesentliche Punkte hier erwähnen.
Der erste Punkt ist: Der zweite Menschenrechtsbericht sollte über die konkrete Menschenrechtspolitik der Bundesregierung in einzelnen Ländern, z. B. China, in Zukunft Stellung nehmen.
Der zweite Punkt ist: Ein künftiger Menschenrechtsbericht sollte auch den Menschenrechtsverletzungen z. B. indigener Völker auch am Amazonas durch umweltzerstörende nationale und internationale Wirtschaftpolitik Raum geben. Ich sage dies deshalb, weil sich auch der Bundeskanzler in besonderer Weise um Umweltfragen im Amazonas-Gebiet kümmert.
Ich sage als dritten Punkt, daß sich der nächste Bericht der Bundesregierung zur Menschenrechtspolitik auch in bezug auf die tausendfachen Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien äußern muß.
Viele asiatische, afrikanische, mittel- und südamerikanische Länder sehen sich insbesondere seit dem gewaltlos gelösten Ost-West-Konflikt teilweise erstmals - und jetzt kommt es mir darauf an, dies zu betonen - und verstärkt in ihrer Menschenrechtspolitik durch die großen Industrieländer, durch die Europäer und die USA, kritisiert und herausgefordert.
Zu zurückhaltend - ich möchte dies hier durchaus sagen - , beinahe abseits bei Menschenrechtsfragen steht Japan. Ich glaube, man sollte so etwas auch in einer solchen Menschenrechtsdebatte durchaus ansprechen.
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Der neue UN-Generalsekretär Ghali spricht von einem neuen Eisernen Vorhang zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern, der niedergegangen sei. Er begründet es damit, daß sich seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes in Europa für ihn die weltweiten Frontstellungen verschoben hätten. Nach seiner Meinung stehen sich nicht mehr NATO und Warschauer Pakt gegenüber, sondern die hochentwickelten Industriestaaten stehen gegen die unterentwickelten Staaten und werfen ihnen die Verletzung der Menschenrechte sowie zahlreiche Umweltsünden vor, die in vielen Fällen auch als Menschenrechtsverletzungen zu werten sind.
Wir haben - mit anderen Worten - eine neue Situation, eine neue Form, wenn ich die Worte werte, eines Nord-Süd-Konflikts. Insbesondere asiatische Länder - ich muß hier auch Japan einbeziehen - argumentieren gegenüber dieser intensivierten Menschenrechtspolitik westlicher Industrienationen vor allem mit zwei Gegenargumenten:
Erstens. Das Menschenrechtsverständnis der Asiaten in Asien sei ein anderes als das der Europäer.
Zweitens. Die westliche Menschenrechtspolitik gegenüber diesen Ländern habe Formen des Neokolonialismus, mindestens neuer politischer Bevormundung angenommen.
Unabhängig davon, daß die Mehrzahl der Länder Mitglieder der UNO sind und damit auch die UNO-Charta unterschrieben haben, stelle ich fest, daß offensichtlich das Menschenrechtsverständnis chinesischer Dissidenten, birmanischer Oppositioneller, von Millionen von Wählern in Myanmar, der Opposition im indischen Kaschmir, der Ahmadi in Pakistan, der gefolterten Bauern in Peru, der abgeschlachteten Jugendlichen in Togo nicht sehr unterschiedlich gegenüber meinem eigenen und dem in der UN-Charta vorausgesetzten Verständnis von Menschenrechten ist. In allen diesen Ländern - ich sehe überhaupt keine Unterschiede - wird Folter, wird das Verschwinden von Menschen, wird gewaltsame Unterdrückung politischer Opposition, werden willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren, menschenunwürdige Haftbedingungen und vieles andere genauso gesehen - von den Menschen in Myanmar, von den Menschen in China, von den Menschen in Togo, von den Menschen in Indonesien - wie bei uns. Deshalb hat dies nichts mit westlicher Überheblichkeit oder mit Überlegenheitsgefühl zu tun.
Aber auch der Vorwurf, das Anprangern von Menschenrechtsverletzungen sei Neokolonialismus, ist falsch. Menschenrechtspolitik ist die Unterstützung chinesischer, birmanischer, togoischer Menschen.
({1})
Sie bleibt Einmischung, aber nicht Einmischung - dies ist der entscheidende Punkt - für deutsche oder amerikanische Macht- der Wirtschaftsinteressen, sondern Einmischung auf der Grundlage der auch von diesen Ländern unterzeichneten UN-Charta für die Menschen in diesen Ländern.
Die erstmalige Kodifizierung - auch auf Initiative der Bundesregierung - einer viel intensiveren Form der Einmischung auf der KSZE-Konferenz für Menschenrechte in Moskau im September dieses Jahres bestätigt dies - leider nur für einen Teilbereich, die Mitgliedstaaten der KSZE.
Die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte und demokratischer Entwicklung ist auf dem afrikanischen Kontinent weiter und besser vorangeschritten. Dies ist an sich angesichts der Rückschläge in Togo und vielen anderen Ländern ein beachtliches Ergebnis. Frankreich hat daran einen maßgeblichen Anteil, auch die USA - Beispiel Äthiopien -, in ge5590
ringerem Umfang aber auch Deutschland, z. B. in Namibia, in der Westsahara, in Kamerun und vielleicht auch in Benin und Togo.
In Asien scheinen die Hauptkonflikte der nächsten Zukunft bei Fragen der Menschenrechte und der Demokratieentwicklung zu liegen. Ich nenne die massiven, teilweise extensiven Menschenrechtsverletzungen in China, in Tibet, in Myanmar, in Birma, im Irak, im Iran, in Pakistan, in Indien und in Indonesien.
Wenn man Menschenrechtspolitik betreibt, muß man sie meiner Meinung nach so lange wie möglich kooperativ - dies gilt insbesondere auch für den asiatischen Raum - betreiben. Ich verstehe darunter
- ich sehe im Moment keine Alternative dazu -, daß sie mit den Regierungen oder mit liberalen Kräften in den Regierungen versucht werden muß. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß eine rein deklamatorische Menschenrechtspolitik zuwenig erfolgreich ist. Die Regierungen in den asiatischen Ländern - ich betone, ich sehe die Hauptproblematik in der näheren Zukunft fast im gesamten asiatischen Raum - müssen in den Prozeß der Verbesserung der Menschenrechtssituation einbezogen und eingebunden werden. Ich bezweifle, daß dies bei einigen Regierungen überhaupt möglich ist. Aber es scheint daneben keinen weiteren Weg zu geben.
Menschenrechtspolitik ist integraler Bestandteil der Außenpolitik. Sie muß auch integraler Bestandteil der Wirtschaftspolitik in dem Sinne sein, daß wirtschaftlich besonders starke Länder, z. B. die Bundesrepublik, die wirtschaftlichen Beziehungen und deren Ausbau einsetzen, um massiven Druck in bezug auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation auszuüben.
Von generellen wirtschaftlichen Sanktionen im Wirtschaftsbereich - ich spreche nicht von der Entwicklungspolitik - halte ich nicht viel: sie scheinen mir leider nicht besonders wirksam zu sein.
({2})
- Es bedeutet nicht Subventionen, um das sehr deutlich zu sagen.
Wer Menschenrechtspolitik betreiben will, der muß auch den Mut haben, mit Freunden, z. B. mit Indien
- ich habe viele freundschaftliche Beziehungen zu Indien - , über Menschenrechtsverletzungen zu sprechen. In diesen Dialog müssen sich Indien oder auch Pakistan einbeziehen lassen.
Das Profil der Bundesrepublik in der Menschenrechtspolitik ist für mich - dies möchte ich klar sagen; das stelle ich auch fest, wenn ich mit vielen Kollegen aus anderen Parteien spreche - nicht deutlich genug. Während Major oder Baker international wahrnehmbar die Menschenrechtssituation in China offensiv anprangern und nach Meinung des US-Kongresses dies von Baker immer noch nicht deutlich genug getan wurde, ist die deutsche Menschenrechtspolitik gegenüber China zahm und unsicher. Ich bedauere wirklich, dies sagen zu müssen.
Während Major den Dalai-Lama jetzt am 2. Dezember empfangen hat, reiste der Bundeskanzler bei seinem Staatsbesuch in China nach Tibet und dokumentierte damit überdeutlich und wirklich völlig unnötig, daß er Tibet als einen Teil Chinas betrachtet. Ich halte deshalb auch den interfraktionellen Ansatz zur Gründung einer Arbeitsgruppe zu Tibet für eine Chance, die Tibet-Politik der Bundesrepublik Deutschland erneut zu überprüfen.
({3})
Während sich die USA intensiv um eine internationale Verurteilung der iranischen Menschenrechtsverletzungen bemühen, ist die Haltung der Bundesregierung abwartend und nicht initiativ; sie ist allenfalls bereit - aber, wie Sie wissen, ist dies zuwenig - , sich am Vorgehen anderer zu beteiligen.
Ich bedauere, daß das Menschenrechtsprofil der Bundesrepublik noch zu unscharf ist. Es wäre gut, wenn dieses große Land seine internationale Verantwortung insbesondere auf dem Gebiet des Schutzes der Menschenrechte wahrnehmen würde. Es reicht auf Dauer nicht aus, daß die Bundesrepublik Deutschland international nur in Wirtschaftsfragen profiliert ist. Deutschland ist auch auf Grund seiner großen historischen Schuld auf dem Sektor der Menschenrechtsverletzungen - auch noch in jüngster Zeit - meiner Ansicht nach verpflichtet, seine internationalen Aufgaben auf dem Gebiet der Menschenrechte wahrzunehmen.
Ich fordere ein wesentlich deutlicheres und weit offensiveres Menschenrechtsprofil der Bundesrepublik Deutschland von dieser Bundesregierung ein.
Ich bedanke mich herzlich.
({4})
Noch einen Schlußsatz, Herr Kollege.
Herr Kollege Hirsch, wer die Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik gegenüber China verfolgt, muß feststellen, daß wir eine Menschenrechtspolitik des Parlamentarischen Staatssekretärs im Entwicklungshilfeministerium haben, eine sehr zu begrüßende, eine Menschenrechtspolitik in anderen Teilen des Entwicklungshilfeministeriums auch eines Staatssekretärs, eine Menschenrechtspolitik des Bundeswirtschaftsministers und eine Menschenrechtspolitik des Auswärtigen Amtes. Ich könnte, wenn ich Zeit hätte, spielend die Unterschiede herausstellen.
({0})
- Ich hätte gerne, daß der Bundeskanzler oder andere Besucher in China - ich bin nicht gegen diese Besuche, um das deutlich zu sagen - genauso deutliche Aussagen machen wie Major oder Baker. Bei den BeDr. Klaus Kübler
suchen von Major und Baker sind die massiven Menschenrechtseinforderungen weltweit übergekommen. Über die Wirtschaftsbeziehungen kam fast nichts in der internationalen Presse. Beim Besuch des Bundeswirtschaftsministers kamen praktisch nur die Wirtschaftsbeziehungen über, fast nichts von der Verurteilung der Menschenrechtssituation.
({1})
Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt. Ich glaube, wir sollten uns in dieser Frage mindestens so verhalten wie die Amerikaner und die Briten.
({2})
Das war ein längerer „Satz", aber zur Klärung der Frage von Herrn Dr. Burkhard Hirsch vielleicht ganz wichtig.
Jetzt hat zu einer Zwischenintervention unser Kollege Jürgen Möllemann das Wort. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu drei Bemerkungen, die hier gefallen sind, eine Kurzintervention vornehmen.
Erstens. Ich habe im Auftrag der Bundesregierung die Volksrepublik China besucht und dort in allen Gesprächen mit zwei stellvertretenden Ministerpräsidenten, dem Außenminister, dem Wirtschaftsminister und dem Ministerpräsidenten auch die Menschenrechtsfrage angesprochen.
({0})
Ich habe dort eine Liste mit 903 Namen, die mir hier in Deutschland von chinesischen Studenten, die aus China geflohen sind, übergeben wurde, überreicht, mit der Bitte, dem Schicksal dieser Leute nachzugehen und, wenn sie in Haft sind, sie freizulassen. Vor zwei Tagen hat mich der chinesische Botschafter in diesem Land wissen lassen, daß die chinesische Regierung die mir dort gegebene Zusage einhalten und Aufklärung vornehmen wird. Ich warte auf diese Antwort.
Ich habe in einer gemeinsamen Pressekonferenz vor der versammelten chinesischen und internationalen Presse in Peking die gleichen Forderungen erhoben. Mir ist eine solche gemeinsame Pressekonferenz wie mit den chinesischen Gastgebern mit keinem der von Ihnen erwähnten internationalen sonstigen Gäste geläufig.
Man kann nicht mehr als bei jedem Gespräch und vor der Öffentlichkeit diesen Punkt ansprechen. Das ist geschehen.
Zweitens. Ich fand den Beitrag unseres Kollegen Eppelmann wohltuend, weil er von dem Ansatz geprägt war, der die Leitlinie sein sollte.
({1})
Was mich irritiert, ist, daß selbst dieses Thema einigen
Kollegen nicht zu schade ist, nicht eigentlich über
Menschenrechte zu sprechen, sondern darüber, wie man Kollegen diskreditieren kann.
({2}) Das finde ich einigermaßen enervierend.
Zum Thema China, Herr Kollege Hauchler, habe ich das Notwendige gesagt. Mir ist nicht geläufig, daß die zwischen dem August 1989 und heute in der Volksrepublik China gewesenen Sozialdemokraten - davon gab es eine ganze Reihe; die Dokumentation kann ich Ihnen übergeben ({3})
respektive diejenigen Sozialdemokraten wie der niedersächsische Ministerpräsident Schröder, die hier die stellvertretenden Ministerpräsidenten Chinas empfangen haben, das Thema auch nur einmal öffentlich angesprochen oder Listen mit Namen übergeben hätten.
({4})
Es ist keine Rede davon. Diese Art der Auseinandersetzung hilft nicht weiter.
Drittens. Ich empfinde es auch als einigermaßen schlicht, daß Sie hier in einem Augenblick, in dem das BMZ durch zwei Parlamentarische Staatssekretäre vertreten ist, glauben sagen zu sollen, die Regierung, das BMZ, nehme die Menschenrechtsfrage nicht ernst, während niemand von der Führung der SPD, weder der Fraktionsführung noch der Parteiführung, anwesend ist.
({5})
Was soll das eigentlich? Sollen wir uns so weiterhin die Anliegen selbst kaputt machen? Ich finde, das hilft niemandem weiter.
Eine letzte Bemerkung, die ich machen wollte, richtet sich an die Kollegen von der PDS/Linke Liste. Wenn es überhaupt eine Gruppierung in diesem Haus gibt, die allen Anlaß hätte, beim Thema Menschenrechtsverletzungen mindestens gar nichts zu sagen,
({6})
dann ist es Ihre Gruppe der PDS. Es ist doch bedrükkend, Ihren Beitrag zu hören und den des Kollegen Eppelmann. Der Unterschied besteht nur darin, daß er derjenige ist, dessen Menschenrechte verletzt wurden, während Sie in der Rechtsnachfolge der Verletzer sind.
({7})
Meine Damen und Herren, zu einer Zwischenintervention gebe ich dem Kollegen Ingomar Hauchler das Wort.
({0})
Herr Minister, ich freue mich sehr, daß Sie zu diesem Sachverhalt Stellung genommen haben. Wenn Sie nun das, was bei Ihren Verhandlungen in China in Rede stand, und das, was zwischen chinesischen Stellen und Sozialde5592
mokraten in Rede stand, vergleichen, frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, daß seitens der niedersächsischen Landesregierung Subventionen für Geschäfte mit China in Rede standen? Ich denke, das können Sie hier nicht bestätigen.
Worauf es uns ankommt, Herr Minister, ist folgendes: Es geht natürlich nicht an, daß der Entwicklungshilfeminister - zu Recht - Menschenrechte einklagt als Kondition für Entwicklungshilfe, konsequenterweise Entwicklungshilfemittel für China kürzt und zur gleichen Zeit über einen Kredit und Subventionen von über 100 Millionen DM für China gesprochen wird. Wie muß das auf die Länder der Dritten Welt wirken?
Sie sagen erstens: China ist ein großes Land. Hier mißt man mit unterschiedlichem Maß. Sie sagen zweitens: Man gibt mehr, als man nimmt. - Also kann das ja wohl nicht ernst gemeint gewesen sein.
Nehmen Sie bitte meine Rede ernst.
({0})
Bedenken Sie, daß sich die chinesische Regierung wie andere Regierungen letzten Endes nicht fragt: aus welchem Topf kommt irgend etwas?, sondern daß sie einfach registriert: Was wird uns gegeben, wie werden wir unterstützt?
Im übrigen habe ich eingeklagt, daß ein Chefbeamter eines Ministeriums das Parlament belügt hat.
({1}) Das darf ich hier, glaube ich, anmahnen.
Meine Damen und Herren, in weiter Auslegung der Geschäftsordnung bekommt unser Kollege Jürgen Möllemann noch einmal das Wort zu einer Zwischenintervention.
({0})
Herr Präsident, ich bin Ihnen für diese Großherzigkeit dankbar. Da ich so unmittelbar angesprochen worden bin, möchte ich einige wenige Sätze sagen.
Herr Kollege Hauchler, ich habe unmittelbar nach meiner Reise in die Volksrepublik den zuständigen Ausschuß unterrichtet. Ich habe ihn auch darüber unterrichtet, daß das von Ihnen hier schon zweimal angesprochene Projekt einer möglichen Lieferung von Containerschiffen an die Volksrepublik China bei meinem Besuch mit keinem Wort erwähnt worden ist. Ich habe darüber weder Verhandlungen noch Gespräche geführt. Es hat null Rolle gespielt. Das ist auch von niemandem in Zweifel gezogen worden. - Ich habe angenommen, daß diese Unterrichtung des Ausschusses auch an Sie weitergegeben worden wäre.
Ich habe im Gegenteil dort auf Befragen erklärt, daß für mich eine Entscheidung über dieses Projekt im Augenblick nicht aktuell ist, sondern dann getroffen wird, wenn wir alle Fakten auf dem Tisch haben. Auch das ist eigentlich bekannt. Deswegen wundere ich mich um so mehr, daß trotz der Unterrichtung Ihrer Kollegen im Ausschuß unablässig weiter so argu mentiert wird, als hätte ich diese Unterrichtung nicht gegeben.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir fahren in der Debatte fort. Das Wort erhält jetzt unser Kollege Alois Graf Waldburg-Zeil.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zu der Menschensrechtsdebatte zurückkehren. Ich finde es eigentlich schade, sich in einer solchen Debatte an einem Staatssekretär zu reiben. Das kann man im Ausschuß tun.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin mit Interesse, Herr Bindig, Ihren großen gedanklichen Schritten von einer völkerrechtlichen Auffassung gefolgt, nach der es strikte Nichteinmischung in innere Angelegenheiten zu wahren gilt, zu einer Ordnung, in der die Intervention zugunsten von Menschenrechten gerade zur Pflicht wird.
Natürlich, Herr Kollege Hirsch, sehe ich auch Ihre Bedenken gegenüber diesem Weg. Die humanitäre Intervention im letzten Jahrhundert ist ziemlich in Verruf geraten. Aber allein diese zwei Positionen zeigen, daß diese Schritte - so schnell man sie gedanklich tun kann - viel Zeit brauchen werden, bis sie in die Wirklichkeit umgesetzt sind. Während dieser Zeit werden ungezählte Menschen gefoltert werden und sterben, weil diese Instrumente noch nicht zur Verfügung stehen.
Deshalb möchte ich nochmals gern über ein ganz wichtiges Instrument sprechen, das uns heute zur Verfügung steht: Das ist das Instrument des Politikdialogs in der Entwicklungspolitik. Dieses Instrument ist deshalb wichtig, weil es nicht das Instrument des erhobenen Zeigefingers der reichen Nationen sein kann und darf, die - weil sie rechtsstaatlich leben können, weil es den Menschen gut geht - auf die zeigen, bei denen es schwieriger ist, weil es ihnen unendlich schlecht geht.
Schon das Argument, in den Politikdialog die Menschenrechte einzubringen, ist ein Sachargument. Bürgerkriege, Sezessionskriege sind meist die Folge von Menschenrechtsverletzungen. Aber Regionen, in denen Bürgerkriege, in denen Sezessionskriege herrschen, braucht man gar keine Entwicklungshilfe zu geben; da ist alles verloren, da ist alles umsonst. Und dieses Sachargument, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß man eine erfolgreiche Entwicklungspolitik betreiben kann, ist nichts Verletzendes, das ist nicht Neokolonialismus, sondern ein Gespräch auf Sachebene.
Nun hat der Parlamentarische Staatssekretär Repnik zu diesem Instrument bereits ausführlich gesprochen; deshalb brauche ich das nicht zu vertiefen. Aber eines möchte ich gerne tun, nämlich deutlich machen, daß dieses Instrument nicht nur ein Instrument für einige Beamte, für Staatssekretäre oder auch für den Minister eines Ministeriums sein kann, sondern daß
dieses Instrument auf breiterer Ebene gehandhabt werden muß.
Ich darf versuchen, es Ihnen an einem Beispiel zu erläutern: Mit auf meine Anregung hat vom 18. bis 20. November in der Katholischen Akademie in Hohenheim eine Tagung über die Problematik Burundis stattgefunden. Sie alle kennen die schwierige Situation dieses Landes, in dem in den letzten 20 Jahren schwere und schwerste Menschenrechtsverletzungen geschehen sind. Übrigens, die Nachrichten dieser Tage lassen befürchten, daß so etwas noch einmal passieren kann. Aber der Präsident dieses Landes, Buyoya, bemüht sich um eine Entwicklung zum Frieden und um eine Entwicklung zur Demokratie, weil beides zusammengehört. Denn nur dann, wenn es gelingt, Konflikte in den demokratischen Streit zu kanalisieren und von dem Aufeinanderschießen wegzukommen, kann ein solches Projekt gelingen.
Nun war es das Ziel dieser Tagung, Menschen zusammenzubringen, die eine solche Angst voreinander hatten, daß sie nicht miteinander gesprochen haben. Die Organisation hat Frau Brigitte Erler mit übernommen. Als frühere Vorsitzende von amnesty international hat sie das Vertrauen der Flüchtlinge gehabt. Der neutrale Boden Baden-Württembergs, das eine große Freundschaft zu Burundi unterhält, hat die Gespräche möglich gemacht. Hier sind erstmals etwa 80 Personen, 40 aus dem Exil, 40 aus Burundi selbst - die Botschaft war vertreten, Regierungsvertreter waren da -, in ein Gespräch gekommen, das in dieser Intensität bisher, glaube ich, noch nicht stattgefunden hat.
Ich möchte dies nur als Beispiel für die Plattformen anführen, die wir schaffen müssen - weit über den Regierungsdialog hinaus - , um streitende Parteien zusammenzubringen.
({0})
Wir müssen in Zukunft nicht nur darauf achten, diejenigen Regierungen und diejenigen Oppositionsbewegungen zu ächten, die gegen Menschenrechte verstoßen, sondern müssen - umgekehrt - diejenigen ermutigen, die Schritte von solchen Verletzungen wegtun und Schritte hin auf die Demokratie tun.
({1})
Wir müssen Öffentlichkeit schaffen; denn nichts ist schlimmer, als wenn Verbrechen im verborgenen geschehen. Für mich ist es ein tiefer Kummer, zu sehen, daß das, was sich im Sudan an Menschenrechtsverletzungen abspielt, in der Öffentlichkeit fast keinen Widerhall findet.
Wir müssen versuchen, Gruppen zusammenzubringen, so wie ich es vorhin angesprochen habe.
Auch müssen wir natürlich versuchen, mit entwicklungspolitischen Mitteln die Ursachen von Konflikten dort auszuräumen, wo sie jeweils liegen, etwa in Bildungsunterschieden.
Dies war das eine: in die Breite wirken.
Ich möchte noch ein anderes - ich habe nur noch eine Minute - wenigstens ansprechen dürfen: Wir müssen versuchen, in die Tiefe zu wirken. Der Beirat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat eine Ausarbeitung über islamische Bewegungen und Entwicklungspolitik gemacht. Ich glaube, man sollte dieses Papier sehr ernst nehmen. Denn nur wenn wir verstehen, was in den islamischen Bewegungen vor sich geht, nur wenn wir begreifen, daß es dort eine alte Tradition zur Toleranz und auch moderne, aufgeklärte Sichtweisen gibt, und nur wenn wir diese Bewegungen ermutigen, kann es gelingen, schwere Konflikte zu vermeiden, die im Hinblick auf die Menschenrechte aus dem Fundamentalismus auf uns zukommen.
Ich bedanke mich.
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Meine Damen und Herren, zur Geschäftslage: Die Aktuelle Stunde über die Stahlpolitik beginnt nach den vorliegenden Wortmeldungen frühestens um 14.20 Uhr.
Als nächstem Redner in dieser Debatte erteile ich unserem Kollegen Volker Neumann ({0}) das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir haben Anlaß, Herrn Waldburg-Zeil und besonders Herrn Bindig und Herrn Eppelmann für ihre Beiträge in dieser Menschenrechtsdiskussion zu danken.
({0})
Solche Beiträge bringen uns in unserer Diskussion hier weiter.
Herr Waldburg-Zeil hat darauf hingewiesen, daß es eine der Aufgaben unserer Arbeit ist, Öffentlichkeit herzustellen. Er hat über den Sudan gesprochen.
Ich möchte über zwei andere Länder sprechen, zu denen wir Anträge vorliegen haben. Ein Antrag befaßt sich mit der Situation der Baha'i im Iran, und ein Antrag, der nicht erst aus aktuellem Anlaß, sondern schon seit Jahren hier hätte vorliegen müssen, betrifft die konkrete Situation in Birma. Die Situation im Iran wird uns in einem später zu behandelnden Antrag der SPD-Fraktion zu beschäftigen haben.
Wir befassen uns heute nur mit einem Teilaspekt der Situation im Iran, nämlich mit den Baha'i. Die Situation der Baha'i war bereits 1981 hier Gegenstand einer Debatte und einer einstimmigen Entschließung, in der wir die Verfolgung der Baha'i im Iran verurteilt haben.
Seitdem hat sich einiges verbessert. Seit 1989 gab es keine Hinrichtungen mehr, und die Zahl der willkürlichen Verhaftungen hat abgenommen. Dies ist nach meiner Einschätzung ein deutlicher Hinweis darauf, daß nicht nachlassender intensiver Druck von Parlamenten und der Weltöffentlichkeit letztlich seine Wirkung nicht verfehlt und daß die Mitverantwortung der Völkergemeinschaft für verletzte Menschenrechte mit steter Beharrlichkeit vorangetrieben werden sollte.
Volker Neumann ({1})
Indes, die Verfolgung der Baha'i und die Diskriminierung dieser Minderheit im Iran hält an. Die Baha'i haben eine selbständige Religion; sie umfassen fünf Millionen Mitglieder in etwa 150 Ländern. Ihre besondere Verfolgung im Iran liegt daran, daß sie in der dortigen Landesverfassung nicht als schutzwürdige religiöse Minderheit anerkannt sind und daher für sie die staatsbürgerlichen Rechte einer anerkannten Religionsgemeinschaft nicht gelten. Dies führt zu ihrer Diskriminierung.
Mit dem heutigen interfraktionellen Antrag schließen wir uns einer weltweiten Aktion zur Verurteilung der Verfolgung der Baha'i an. Auch dies ist ein Novum, daß neben dem US-Kongreß eine Reihe von Parlamenten in der Welt fast Bleichlautende Anträge beschließen werden, um den Iran an seine Menschenrechtsverpflichtungen zu erinnern. Wir hoffen, daß sich die iranische Regierung diesen Forderungen nicht verschließt.
({2})
Lassen Sie mich zu dem zweiten Land kommen. Birma ist - so hat amnesty international die Lage dieser 40 Millionen Menschen beschrieben - ein Staat des geheimen Terrors. In der Tat, wer hat vor dem Paukenschlag der Vergabe des Nobelpreises an Daw Aung San Suu Kyi Genaueres über die Situation in diesem Land gewußt? Mit seiner Entscheidung durchbricht das Nobelpreiskomitee nicht nur die Mauern des Vergessens um Birma, sondern es hat der Preisträgerin, die seit zwei Jahren unter Hausarrest steht, mit dem Preis die längst notwendige Unterstützung zuteil werden lassen.
Auch den Menschen in dem Staat, der seine Bevölkerung zu Gefangenen im eigenen Land macht, wird diese Preisvergabe neue Hoffnung geben. Endlich vollzieht sich in Birma, was schon länger hätte geschehen müssen. Es werden Zeichen gesetzt, es wird internationale Solidarität bekundet, es wird aufgerüttelt und, wenngleich in beschränktem Umfang, Öffentlichkeit erzeugt.
Die Wahl von Daw Aung San Suu Kyi, deren Kampf und Leid stellvertretend für den Kampf und das Leid der Mitbürger in unser Bewußtsein getreten ist, ist eine gute Wahl des Nobelpreiskomitees.
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Über dieses außergewöhnliche Beispiel von Zivilcourage hinaus bedeutet die Preisverleihung auch eine Unterstützung für die vielen Völker in aller Welt, die mit friedlichen Mitteln nach Demokratie, Menschenrechten und ethnischer Versöhnung streben. So hat es das Nobelpreiskomitee bei der Preisverleihung beschrieben.
Für die internationale Völkergemeinschaft ist Birma „weitab vom Schuß". Birma berührt nicht die Interessen der Großmächte. Aber dürfen wir deshalb tatenlos mit ansehen, wie in diesem Land die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ein gewähltes Parlament zersetzt wird, den Leitfiguren politischer Oppositionsgruppen jegliche freie Meinungsäußerung verboten
wird und sie der brutalsten Verfolgung ausgesetzt sind?
Wieder einmal werden wir mit der Frage konfrontiert: Wo haben die inneren Angelegenheiten eines Landes ihre Grenzen, und wo beginnt unsere Pflicht? Meine und unsere Antwort ist eindeutig: Die Aufforderung zur Einhaltung von Menschenrechten ist keine Einmischung in innere Angelegenheiten, sondern eine moralische und humane Pflicht und - wie ich in verfolg dessen, was Rudolf Bindig gesagt hat, hoffe - irgendwann einmal auch eine rechtliche Pflicht.
Am 27. Mai 1990 gab sich Birma nach demokratischen Wahlen eine verfassunggebende Versammlung. Dies war seit 1988 der erste Hoffnungsschimmer nach der brutalen, blutigen, gewaltsamen Machtübernahme des Militärs, die als Gegenschlag auf wochenlange friedliche Demonstrationen und Forderungen nach Einführung einer demokratischen Staatsform erfolgte. Sieger dieser unter legalen Bedingungen durchgeführten Wahl waren die NLD, die Oppositionspartei, und deren Führer Auung San Suu Kyi und U Tin U mit über 80 % der Parlamentsmandate. Bis heute hat die Militärregierung unter Saw Maung das Zustandekommen einer freien Regierung verhindert. Mehr noch: Außergerichtliche Hinrichtungen, Folter an Mitgliedern ethnischer Minderheiten, brutale Unterdrückung, Erpressung von Politikern, vollständige Kontrolle und Überwachung der Bürger sind die Folge dieses Kriegsregimes.
Zwar reagierte die internationale Völkergemeinschaft auf den Putsch: Die USA, die Bundesrepublik, andere Nationen und die EG stoppten ihre Entwicklungshilfeprogramme, beschlossen teilweise Handelsembargos. Es ist sogar davon auszugehen, daß dies, wenn es durchgehalten würde, die Überlebenschance der Militärmachthaber mindern würde.
Aber die ASEAN-Staaten, insbesondere Thailand, aber auch China und Japan, die die Zusammenarbeit mit Birma nicht aufkündigen wollen, haben neue Entwicklungsprogramme beschlossen. Einige dieser Staaten übersehen stumm und ungerührt, was in Birma passiert. Mehr noch: Sie haben verhindert, daß eine Resolution, die in der Generalversammlung der Vereinten Nationen eingebracht werden sollte, beschlossen werden kann.
China ist inzwischen zum wichtigsten Handelspartner Birmas geworden und Hauptquelle für Importwaren. China liefert Panzer, Kampfflugzeuge und sonstige militärische Ausrüstung für 1,3 Milliarden USDollar; so Schätzungen des State Departments. Auch Singapur und Pakistan unterstützen Birma mit Waffen. Thailands Militärmachthaber pflegen politische Kontakte mit der Militärregierung in Birma und schikken Flüchtlinge, die aus Birma nach Thailand flüchten, brutal zurück. Birmesisches Militär durchquert Thailands Norden, um Minderheiten auf thailändischem Gebiet zu verfolgen.
Die Gegenleistung besteht darin, daß thailändische Firmen die Erlaubnis erhalten, Fischfang in Birma zu betreiben und enorme Mengen von Edelhölzern zu schlagen, deren Abholzung in Thailand selbst verboten ist. Aus Mangel an Devisen machen sich die
Volker Neumann ({4})
Militärs Birma, dessen Wirtschaft brachliegt, zur freiwilligen Beute derjenigen, die es seiner Rohstoffe und Ressourcen berauben wollen. Der Ausverkauf der knappen Ressourcen wird von ihnen willig in Kauf genommen, um die Rüstungskosten zu bezahlen.
Wie skrupellos Birmas Diktatoren sind, zeigt darüber hinaus der Anstieg des Drogenhandels. Seit dem Putsch der Generäle vor drei Jahren ist die Produktion von Opium um das Doppelte, nämlich 2 000 Tonnen, gewachsen. Es vergiftet nicht nur die asiatische Nachbarschaft, sondern die Abhängigen in der ganzen Welt.
Japan - ich habe bereits darauf hingewiesen - scherte inzwischen aus der Reihe derjenigen aus, die Birma den Geldhahn zudrehen wollten. Mit der zweifelhaften Begründung, man wolle mehr Einfluß auf das Land nehmen, hat man wieder mit Entwicklungsprojekten begonnen.
Was bleibt, sind Ratlosigkeit und Hilflosigkeit der Völkergemeinschaft. Unsere einzige Chance ist zu versuchen, unsere Nachbarn und befreundeten Regierungen zu bitten, einen härteren Kurs gegenüber Birma zu fahren.
Die Achillesferse der birmesischen Regierung ist ihre Legitimität. Wenn es uns gelingt, die Legitimität von Birmas Regierung zu bestreiten und die Oppositionsführung als frei gewählte Regierung anzuerkennen, haben wir eine Chance, daß in Birma die Menschenrechte wieder ihre Geltung erlangen.
Lassen Sie mich mit einem Zitat enden:
Solange es Regierungen gibt, deren Autorität auf Zwangsherrschaft statt auf dem Mandat des Volkes gründet, und solange es Interessengruppen gibt, die ihre kurzfristigen Vorteile über die langfristigen Ziele von Frieden und Wohlstand stellen, so lange wird jedes gemeinschaftlich internationale Handeln zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte bestenfalls ein Teil des Kampfes bleiben. Es wird weiterhin regionale Arenen geben, wo die Opfer von Unterdrückung auf ihre eigenen Mittel zurückgreifen müssen, um ihre unteilbaren Rechte als Mitglieder der menschlichen Familie zu verteidigen. Dabei ist es beileibe nicht genug, nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechten zu schreien. Es bedarf der gemeinsamen Entschlossenheit, den Kampf durchzustehen, im Namen der gültigen Wahrheit Opfer zu erbringen und der Korruption durch Mißgunst, Unwissenheit und Furcht zu widerstehen.
Das sind die Worte der Nobelpreisträgerin Aung San Suu. Es gibt nicht viele Menschen, deren Worte in einer derart unzweifelhaften Übereinstimmung mit ihren Taten stehen.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Hartmut Koschyk das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Fast am Ende einer
Menschenrechtsdebatte des Deutschen Bundestages möchte ich noch einige Worte zu einem, wie ich meine, sehr wichtigen Feld sagen, über das heute nicht soviel gesprochen wurde, nämlich zum Schutz von Minderheiten und Volksgruppen.
Ich glaube, ein Blick nach Jugoslawien und in die zerfallende Sowjetunion sowie auf ihre Nationalitäten- und Minderheitenprobleme zeigt, daß eine wirkliche Friedensordnung in Europa ohne wirksamen Minderheiten- und Volksgruppenschutz nicht möglich sein wird.
({0})
Ich kann in diesem Punkt Herrn Staatsminister Schäfer und der Bundesregierung nicht zustimmen, daß wir bei der Kodifizierung der Menschenrechte am Ende angelangt sind. Denn im Bereich des Minderheiten- und Volksgruppenschutzes haben wir überhaupt keine Kodifizierung und stehen erst am Beginn.
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Grenzänderungen, von denen jetzt in Jugoslawien und in der Sowjetunion soviel die Rede ist - auch im Zusammenhang mit Minderheitenproblemen - werden Minderheitenprobleme nicht lösen. Was sie ändern, ist lediglich das Verhältnis von Mehrheit zu Minderheit. Aber sie schaffen nicht die Rechtsrahmenbedingungen, und - was viel wichtiger ist - sie schaffen nicht die Toleranz, die notwendig ist, damit Völker und Volksgruppen in einem Staat und - worum es ja meistens geht - auf historisch belastetem Boden gesichert und friedlich zusammenleben.
Sicherlich - auch das soll man anerkennen - wurde in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und im Westen Europas vieles erreicht, was einen Rechtsschutz für Minderheiten und Volksgruppen anbelangt. Es ist heute viel vom Fingerzeig die Rede gewesen. Ich meine, die Europäer haben keinen Anlaß, auf die jungen Demokratien in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa mit dem Finger zu zeigen, was Rechtsschutz für Minderheiten und Volksgruppen anbelangt. An dem Gesetzentwurf für ein Minderheitenrecht in Ungarn, der uns jetzt bekannt geworden ist und der noch in diesem Jahr oder Anfang des nächsten Jahres verabschiedet werden soll, können sich viele westeuropäische Regierungen, was ihren Bereich des Minderheitenschutzes anbelangt, nicht messen.
({2})
Deshalb ist es sehr wichtig, daß auch im Rechtsausschuß des Europäischen Parlaments versucht wird, eine Charta der Volksgruppenrechte zu entwickeln und zu verabschieden. Dieser Entwurf zielt letztendlich darauf, auch eine Gemeinschaftszuständigkeit für den Minderheitenschutz zu schaffen. Ich glaube, die Bundesregierung sollte diese Frage, eine Gemeinschaftszuständigkeit für Minderheiten- und Volksgruppenschutz zu schaffen, auch in die Diskussion über die Vergemeinschaftung der Innen- und Rechtspolitik einbeziehen. Denn es kann auf Dauer nicht befriedigen, daß bei den Diskussionen über die europäischen Einigungsbemühungen und auch über die Vergemeinschaftung von Rechts- und Innenpolitik
der Minderheitenschutz nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auch hier hat die Europäische Gemeinschaft eine Leitfunktion, um krisenhafte Zuspitzungen ungelöster Minderheiten- und Grenzprobleme bis hin zu gewaltsamen Konflikten zu vermeiden.
Sehr wertvoll, wichtig und, wie ich meine, entscheidend sind die Bemühungen des Europarates. Ich bedauere eigentlich, daß auch die Bundesregierung auf die Empfehlung 1143 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom Oktober des vergangenen Jahres, was die Verabschiedung einer Minderheitenkonvention oder eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention anbelangt, noch nicht reagiert hat. Wir sollten der österreichischen Regierung sehr danken, die jetzt den Entwurf eines Zusatzprotokolls zur Menschenrechtskonvention verabschiedet hat.
Wir sollten auch Überlegungen unterstützen, die darauf abzielen, etwa die Frage einer weiteren Vertiefung des Minderheitenschutzes im Bereich der KSZE eventuell an den Europarat zu delegieren, weil wir alle wissen, daß es schwierig ist, im Bereich der KSZE zu einer völkerrechtlichen Verbindlichkeit zu gelangen.
Wir sollten auch beobachten, begleiten und unterstützen, was an wertvollen Initiativen derzeit im Bereich der Vereinten Nationen stattfindet. Zur Zeit arbeitet eine Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in Genf an einem Rechtskatalog, was Minderheitenrechte anbelangt. Die Menschenrechtskommission will diesen Katalog im Februar des nächsten Jahres verabschieden. Wir verdanken den Vereinten Nationen auch sehr wichtige Grundlagen für die weitere Diskussion um den Minderheitenschutz, etwa zu dem sehr schwierigen Thema: Was ist Minderheit? Das ist eine Definition, die die Vereinten Nationen geliefert haben, wo sie auch deutlich gemacht haben - auch das sollten wir sagen - , daß sich die Rechte angestammter Minderheiten und Volksgruppen von denen von Wanderarbeitnehmern, die auch zu schützen sind, unterscheiden.
Ich möchte schließen mit einem guten Satz aus dem Bericht von Gudmündur Alfredsson vom Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen in Genf - im September dieses Jahres vorgelegt bei einem Symposion des Europarates - , in dem er geschrieben hat, Loyalität dürfe keine Einbahnstraße sein. Wenn der Staat zu seinen Bürgern loyal sei, dann ermutige er sie, und zwar alle Bürger, auch zum Staat loyal zu sein. Dann schaffe er auch die Loyalität von Minderheiten, die oft genug Grund hätten, sich über Diskriminierung in ihren Staaten zu beschweren.
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Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich unserem Kollegen Friedrich Vogel das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zum Schluß der heutigen Debatte drei Anmerkungen machen.
Meine erste Anmerkung: Im Vorblatt der Beschlußempfehlung zum Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist noch einmal in nüchternen Worten beschrieben, welches die Aufgaben, die Ziele, die Einbettung der Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland sind.
Ich möchte das etwas einfacher sagen, und das auch mit Blick auf den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1991. Was wir in der Menschenrechtspolitik der Welt zu geben haben, ist eine Botschaft. Das ist die Botschaft von der Unantastbarkeit der Menschenwürde und von den aus dieser Unantastbarkeit der Menschenwürde abgeleiteten unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechte.
Das ist genau das, was bei den Diktatoren, den Regimen in dieser Welt Anstoß erregt, was den Vorwurf des Neokolonialismus mit der Behauptung auslöst, das sei ja westliches Denken, westliches Kulturgut, und in anderen Kulturkreisen sei das eben anders. Wir haben das bei den Kommunisten ja auch erlebt. Sie haben versucht, dem universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte ein eigenes Menschenrechtsverständnis entgegenzusetzen. Das hat sie nicht davor bewahrt, daß der Bazillus der Freiheit ihr kollektivistisches Menschenrechtsverständnis ausgehöhlt hat und wir heute in der glücklichen Situation sind, die so eindrucksvoll von unserem Kollegen Eppelmann beschrieben worden ist.
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Ich bin ganz sicher, daß auch in anderen Teilen der Welt, wo anderes Denken vorgeschoben wird, der Bazillus der Freiheit die gleiche Wirkung haben wird. Deshalb ist es unsere Aufgabe, den Bazillus der Freiheit überall hinzutragen. Dies ist die Botschaft, die wir am Tag der Menschenrechte zu verkünden haben.
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Wir werden heute einige Resolutionen verabschieden. Es hat ja heute auch eine ganze Reihe von rhetorischen Übungen gegeben. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß letztlich nicht die Resolutionen, die Beschlüsse, die wir fassen, maßgeblich sind, sondern daß maßgeblich ist, was wir dort, wo Menschenrechte verletzt werden, an realen Veränderungen herbeiführen können. Darauf gibt es nicht immer nur eine Antwort und nicht immer nur die eine klare Antwort. Unser Ziel muß sein, die Menschenrechtslage real zu verbessern, sie alltagswirksam zu machen für die Menschen, die dort leben.
Lassen Sie mich eine letzte Anmerkung machen und fragen: Sind wir - auch der Deutsche Bundestag - in unserer Menschenrechtspolitik effektiv genug? Das Thema ist einige Male angesprochen worden. Ich will jetzt gar nicht darüber sprechen, wie wir international an der Verbesserung der Instrumentarien zur Durchsetzung unserer Ziele arbeiten können. Wir wissen, wenn wir den Menschenrechtsgerichtshof verlangen, wenn wir den Hohen Kommissar für Menschenrechte verlangen, wie weit der Weg zur Verwirklichung sein wird. Nein, wir sollten fragen: Was können wir, der Deutsche Bundestag, verbessern?
Wir haben den Unterausschuß für Menschenrechte eingerichtet. Ich darf mich bei dieser Gelegenheit bei
Friedrich Vogel ({2})
allen Kolleginnen und Kollegen, die dort mitarbeiten, herzlich bedanken. Dort ist wirklich eine fraktionsübergreifende hervorragende Zusammenarbeit zustande gekommen. Ob es sehr viel mehr bringen wird, wenn wir diesen Unterausschuß zu einem Vollausschuß weiterentwickeln, weiß ich nicht.
Trotzdem sollten wir überlegen: Was können wir effektiver tun? Hier denke ich an das, was uns unsere amerikanischen Kollegen bei dem Besuch in Washington angeboten haben: eine Zusammenarbeit der Parlamente, der amerikanischen Demokratien, der europäischen Demokratien, um möglichst koordiniert, möglichst konzertiert in Fragen der Menschenrechte dort, wo es notwendig ist, tätig zu werden.
Das Beispiel der Baha'i ist von Herrn Kollegen Neumann hier angeführt worden. Nur, um dies leisten zu können - ich wäre sehr dafür, daß wir uns darum bemühen -, müssen wir uns überlegen, ob wir dazu nicht auch ein Instrument im Deutschen Bundestag brauchen. Wir sollten überlegen, ob wir nicht den früher schon behandelten, in der Zwischenzeit nicht weiter verfolgten Vorschlag erneut aufgreifen, einen Menschenrechtsbeauftragten des Deutschen Bundestages zu bestellen, dem auch die Aufgabe obliegen könnte, eine solche Abstimmung mit anderen Parlamenten herbeizuführen, damit wir, wenn wir konzertiert vorgehen, um so effektiver unsere Menschenrechtspolitik verwirklichen können.
Wir haben heute über die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung, über den Menschenrechtsbericht gesprochen. Wir müssen uns natürlich auch intensiv um die Menschenrechtspolitik des Deutschen Bundestages kümmern.
Vielen Dank.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 12/1756 zur Federführung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Zum Tagesordnungspunkt 16b wird interfraktionell vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion der SPD zum Festhalten an den Beschlüssen des Deutschen Bundestages vom 15. und 23. Juni 1989 zu China auf Drucksache 12/1536 ebenfalls an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und an den Rechtsausschuß zu überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 16c. Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE zur Verfolgung der Baha'i im Iran auf Drucksache 12/1706 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Frage nach Gegenstimmen und Enthaltungen erübrigt sich; denn diesem Antrag haben alle zugestimmt.
Wir stimmen unter Tagesordnungspunkt 16d jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/1707 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch bei diesem Antrag kann ich Einstimmigkeit im Hause feststellen.
Zum Zusatztagesordnungspunkt 18: Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE - VN-Menschenrechtsgerichtshof und Hochkommissar für Menschenrechte - auf Drucksache 12/1715 an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Ich höre und sehe, daß das nicht der Fall ist. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Zusatztagesordnungspunkt 19, und zwar zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Menschenrechtsbericht der Bundesregierung für die 11. Wahlperiode auf Drucksache 12/1735. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ich kann auch hier feststellen, daß das ganze Haus dieser Beschlußempfehlung zugestimmt hat.
Zum Zusatztagesordnungspunkt 20: Wir stimmen über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP zur Lage der Kurden im Irak auf Drucksache 12/1748 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Stimmenthaltungen? - Gegenstimmen? - Bei einigen Stimmenthaltungen aus der Gruppe PDS/Linke Liste ist auch dieser Antrag angenommen.
Wir kommen zum Zusatztagesordnungspunkt 21: Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zu den Menschenrechten auf Drucksache 12/1753 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Interfraktionell wird weiter vorgeschlagen, den Antrag zur Mitberatung auch an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überweisen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Ich höre und sehe, daß das nicht der Fall ist. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 22 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Zur Politik der Treuhandanstalt in bezug auf die Stahlindustrie in den neuen Bundesländern
Die Aktuelle Stunde wurde von der PDS/Linke Liste beantragt.
Ich möchte Sie bitten, zuzustimmen, daß die Kollegen Volker Jung, Dr. Hans-Hinrich Knaape, Dr. Heinrich Leonhard Kolb, Dr. Ruprecht Vondran und Dietrich Austermann ihre Reden zu Protokoll geben. Kann ich Übereinstimmung feststellen?
({0})
- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß
Sie daran erinnern, daß ich Einmütigkeit im Hause
brauche, wenn dies beschlossen werden soll. Sollen
Vizepräsident Helmuth Becker
die Reden nicht zu Protokoll gegeben werden, gilt dies für alle Fälle.
Ich möchte noch einmal fragen: Kann ich Übereinstimmung feststellen, daß die Reden der genannten Kollegen zu Protokoll gegeben werden? - Ich stelle also fest, das ist der Fall. * )
Dann können wir mit der Aussprache beginnen. Als erster hat unser Kollege Dr. Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedauere es sehr, daß der Bundestag eine wesentliche Chance verpaßt hat, nämlich in die ernsten Kämpfe und Verhandlungen, die in diesem Bereich stattgefunden haben, durch eine Aktuelle Stunde rechtzeitig einzugreifen, und daß das so verschoben worden ist, daß das erst heute nachmittag, also dann, wenn sich die meisten schon im Wochenende befinden und ihre Reden deshalb zu Protokoll geben, zur Sprache kommt. Ich halte das für eine verfehlte Chance des Deutschen Bundestages; denn hier geht es unter anderem um die konkrete Verwirklichung eines Menschenrechts hinsichtlich der Würde des Menschen, nämlich des Rechts auf Arbeit und die damit verbundene Chance, den Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten.
({0})
- Ich finde, Sie sollten sich etwas beherrschen. Wir können ja einmal schauen, was Sie so in den letzten 40 Jahren betrieben haben. Da wird wesentlich mehr Negatives als bei mir herauskommen; davon bin ich überzeugt.
({1})
Aber lassen Sie mich auf etwas anderes eingehen. Das Feuer brennt noch vor dem Stahlwerk in Hennigsdorf. Ich hoffe sehr, daß die Verhandlungsergebnisse, die erzielt worden sind, nun auch die politische Bestätigung, insbesondere hinsichtlich der Abfindungszahlung, seitens des Bundeskanzlers finden werden. Das wird dringend erforderlich sein; sonst, glaube ich, stehen uns große Auseinandersetzungen bevor.
Nach Sitzungsmarathons - der Betriebsrat stand in pausenlosen Verhandlungen mit der Treuhandanstalt; die IG Metall-Vertreter auch - ist es letztlich gelungen, einen wichtigen Kompromiß zu erzielen. Ich frage mich nur, warum nicht von Anfang an eine solche beschäftigungs- und sanierungspolitische Orientierung der Treuhandanstalt möglich war.
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Das Wichtigste ist, daß jetzt eine Hennigsdorfer Strukturgesellschaft geschaffen worden ist, die die Arbeitsplätze bis 1993 sichert. Ich glaube, daß ist ein
*) Anlage 2
wichtiges Ergebnis. Wir werden in diesem Bereich in Hennigsdorf keine Arbeitslosen haben. Dabei geht es auch um Qualifizierung, um Umschulung, um Erstausbildung, um Maßnahmen des AFG. Außerdem werden die Servicebereiche und Tochterunternehmen bis zur Privatisierung fortgeführt.
Damit erhält der Restbetrieb mit fast 4 000 Beschäftigten - wie ich meine, ein Großunternehmen - die Chance, über zwei Jahre eine Überlassungsperspektive zu entwickeln. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, daß der Restbetrieb, also die HSG, berechtigt ist, das für die Kernproduktion nicht notwendige Industriegelände zu vermarkten. Hierin besteht das für die Existenz notwendige Betriebskapital der neuen Gesellschaft; denn ansonsten würde sie die Beschäftigten in Unternehmen, die das Gelände kaufen, nicht unterbringen können.
Das Beispiel Hennigsdorf zeigt, daß die Abwicklungspolitik der Treuhandanstalt durchbrochen werden kann, wenn ein Gegenkonzept durch die betroffenen Belegschaften entwickelt wird und mit allen Beteiligten auch darum gekämpft wird. Der Arbeitskampf in Hennigsdorf - einschließlich der Betriebsbesetzung - hat sich gelohnt und, ich hoffe, Beschäftigten in anderen Betrieben auch Mut gemacht. Diesen Mut werden sie auch brauchen; denn ein wirklicher Wandel in der Treuhandpolitik ist bislang nicht zu erkennen. Nach wie vor geht es darum, in den neuen Bundesländern Industrie- und Produktionsstandorte zu vernichten, anstatt sie zu erhalten und effektiv und produktiv zu gestalten.
({3})
- Ich sage Ihnen: Schauen Sie sich doch einmal das Beispiel Hennigsdorf an.
({4})
Jetzt werden Sie sich sehr wundern: Es gab ein sehr gutes oder auf jeden Fall wesentlich besseres Angebot als vom Konzern Riva, nämlich vom Konsortium Badische Stahlwerke, Thyssen Stahl und Saarstahl. Dieses Angebot ist trotz der wesentlich günstigeren Bedingungen hinsichtlich der Beschäftigung und hinsichtlich des Kaufpreises abgelehnt worden. Die Gründe sind mir bis heute noch schleierhaft.
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Ich nehme an, es wird der Tag kommen, an dem wir auch noch erfahren, was letztlich dahinter steckt.
Den Beschäftigten dann in diesem Zusammenhang Ausländerfeindlichkeit vorzuwerfen, ist wohl das größte Stück an Demagogie, was ich diesbezüglich je erlebt habe.
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- Sehen Sie, es ist doch sehr merkwürdig, daß ich mich auf die Seite des Konsortiums Badische Stahlwerke, Thyssen Stahl und Saarstahl stelle, Sie sich aber dagegen.
({7})
Da sehen Sie intererssante Wandlungen in dieser Bundesrepublik Deutschland. Sie sollten einmal den Brief dieses Konsortiums lesen, der an alle Fraktions- und Gruppenvorsitzenden gerichtet wurde; dann wird Ihnen wahrscheinlich einiges klarer werden.
Gleichwohl glaube ich - das ist das Wichtigste -, daß hier ein Beispiel dafür geschaffen worden ist, daß man die Linie der Treuhandanstalt durchbrechen kann, daß die Beschäftigten, wenn sie sich einig sind und in ihrem Kampf auch nicht so ohne weiteres nachlassen, eine Umkehr in der Politik erreichen können. Selbstbestimmung, Emanzipation ist das, was gefordert ist, nicht kleinliches und schnelles Nachgeben, wie es sich die CDU/CSU wünscht.
Danke schön.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß doch noch einmal eine Bemerkung zur Abwicklung unserer Tagesordnung machen. Es gibt in den verschiedenen Gremien, in Fraktionen, Gruppen und Ausschüssen, immer den Wunsch, daß man „seinen" Tagesordnungspunkt möglichst zwischen 10.30 und 11.30 Uhr behandelt, weil das offenbar der einzige Zeitraum ist, in dem die deutsche Öffentlichkeit zuhört; so wird jedenfalls häufig berichtet.
Aber da wir das nicht können, muß ich sagen: Der Ältestenrat muß entscheiden, wie der Ablauf der Tagesordnung gestaltet wird. Er hat so entschieden. Ich sage das noch einmal, weil hier auch gestern abend gegen die Plazierung von Tagesordnungspunkten Unwillen laut geworden ist. Wir können uns nur gemeinsam darauf verständigen, daß wir Punkt für Punkt abhandeln und darauf Rücksicht nehmen, wie wichtig wir diese Punkte einschätzen. Der Ältestenrat versucht das.
Als nächster hat unser Kollege Michael Wonneberger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Ihre Rede so höre, Herr Gysi, habe ich den Eindruck, daß Sie über die einvernehmliche Lösung recht unglücklich sind, die jetzt in Brandenburg für die Stahlkocher gefunden wurde.
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Der Zündfunke, der dort auch von der PDS gelegt worden war, wurde gelöscht.
({1})
Nach der Stahl-Konferenz am 27. Mai diesen Jahres, zu der der brandenburgische Ministerpräsident
Manfred Stolpe eingeladen hatte, wurde eine wichtige Chance verpaßt, gemeinsam mit den Stahlunternehmen, den Kommunen, der Treuhandanstalt und dem Wirtschaftsministerium an einem brandenburgischen Konzept zur Umstruktierung und Privatisierung der Stahlindustrie zu arbeiten.
Die Zusicherung des Ministerpräsidenten zur Durchführung von Regionalkonferenzen zu dieser Thematik wurde durch die defensive Haltung der Landesregierung unterlaufen. Dadurch trat ein gefährlicher Zeitverzug ein, der in der Brandenburger Stahlindustrie zu den bekannten Problemen führte.
Obwohl ich mich als Brandenburger auf die Darstellung der besonderen Situation der Stahlindustrie in meinem Land beschränken werde, beziehe ich dennoch 70 % der Gesamtkapazität dieses Wirtschaftszweiges in den neuen Bundesländern mit ein.
Mit einer Diskussion zur ostdeutschen Stahlindustrie aber eine Generaldebatte zur Arbeit der Treuhand zu führen, wie es die Fragestellung der PDS/ Linke Liste nicht nur vermuten läßt, halte ich jedoch für gänzlich verfehlt.
({2})
Über die Unzufriedenheiten mit der Treuhand muß, vor allem bei der Tragweite der dort zu fällenden Entscheidungen, möglichst sachlich und emotionslos beraten werden. Dazu ist die aufgeheizte und stark politisierte Atmosphäre in Brandenburg wahrlich nicht geeignet.
Dennoch hat sich meine Fraktion in Fraktionsgesprächen sowohl am vergangenen Mittwoch als auch am Donnerstag im Beisein des Bundeskanzlers mit der Führungsspitze der Treuhandanstalt über die unterschiedlichen Standpunkte verständigt.
Zur konkreten Situation in Brandenburg muß unter Einbeziehung der Treuhandentscheidung allerdings die Frage erlaubt sein: Was ist eigentlich so schlimm am beabsichtigten Zuschlag der Stahlwerke Brandenburg und Hennigsdorf an den italienischen Riva-Konzern? Denn nach Angaben der IG Metall ist die Privatisierung beider Stahlstandorte jetzt sozial abgesichert. Zudem sei es gelungen, den betroffenen Arbeitnehmern eine faire Chance für die berufliche Zukunft zu geben,
({3})
doch wohl kaum gegen den ausdrücklichen Willen der Treuhand, wie Sie ihr das hier unterstellen wollen.
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Ist es nicht vielleicht eher so, daß Emotionen, die von außen - auch und vor allem von der PDS - in die Belegschaft hineingetragen wurden, den Zorn und die Gereiztheit der Stahlkocher schürten und damit eine dreizehntägige Betriebsbesetzung, sicherlich nicht zum Nutzen dieses Betriebes in Hennigsdorf, verursacht haben?
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Es hat beispielsweise die Brandenburger Arbeitsministerin, Frau Regine Hildebrandt, am 26. November aufgebrachte Arbeiter aufgefordert, sie sollten weiter „friedlich Krawall schlagen". Auch hat laut einer Berliner Zeitung und mehreren anwesenden Ohrenzeugen der aus der gleichen Regierung stammende Staatssekretär Sund
({6})
einen Tag später den vor dem Landtag protestierenden Stahlwerkern gesagt - ich zitiere bis auf ein Wort - : „Ich kann aus Schei . " - jetzt setze ich kurz aus - „auch keine Zwerge backen". Das, vermute ich, trägt wohl kaum zur Beruhigung der Gemüter und zur Wiederherstellung des Arbeitsfriedens bei. Es ist für mich ein Herumstochern im Nebel der eigenen Verantwortung durch die Landesregierung.
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Meine Damen und Herren, wir alle wissen um die ausgeprägte nationalistische Denkweise - jetzt versuche ich Ihnen eine Antwort auf die Frage zu geben, warum der Riva-Konzern den Zuschlag bekommen hat - gerade in den Stahlindustrien in Europa. Doch im Hinblick auf die angestrebte Wirtschaftsunion der EG und den drohenden Verlust internationaler Glaubwürdigkeit der Treuhand - immerhin sind noch rund 4 000 problembeladene Betriebe zu privatisieren - kann ich das Votum für die italienische Unternehmensgruppe, wenn es denn in der morgigen Sitzung des Treuhandverwaltungsrates dabei bleibt, eigentlich nur begrüßen.
Herr Kollege, Sie haben noch einen Schußsatz!
Wenn hier nationalistischen Egoismen nachgegeben würde, könnten fatale Retourkutschen aus Brüssel folgen. Schließlich werden auch die deutschen Stahlquoten von der EG-Kommission festgelegt und die Sozialpläne im Stahlsektor zu einem Drittel von Brüssel finanziert. Die Auswirkungen hätten auch die Brandenburger Stahlwerker zu tragen.
({0})
Ich erteile das Wort jetzt unserem Kollegen Karl-Heinz Schröter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst, Herr Kollege Wonneberger, möchte ich auf Ihre Ausführungen eingehen. Sie sprachen von der passiven Haltung unserer Landesregierung in Brandenburg. Ich muß Ihnen sagen, ich war auf dieser Stahlkonferenz. Wenn dort von leitenden Treuhandangestellten die berechtigten Hinweise zur Flächenherausgabe, um endlich Strukturpolitik betreiben zu können - diese Ausführungen wurden von der Frau Ministerin Hildebrandt gemacht -, mit der Bemerkung „Zwergenaufstand" abqualifiziert werden, kann man auch als Landesregierung keine aktive Politik betreiben, denn diese bedarf der Zusammenarbeit mit der Treuhand.
({0})
- Ich habe Ihnen gesagt, warum nicht. - Fünf Minuten sind eine sehr kurze Redezeit; deshalb gestatten Sie mir bitte, daß ich fortfahre.
Wenn auch in Hennigsdorf wieder gearbeitet wird und wenn auch in Brandenburg eine Einigung erzielt wurde, so ist das noch lange kein Anlaß, hier in Euphorie zu verfallen, denn Hennigsdorf ist überall in Ostdeutschland, und zwar nicht nur im Stahl, sondern auch überall dort, wo es gilt, Großbetriebe in ihrem gesunden Kern zu privatisieren und dann den großen Teil freiwerdender Arbeitskräfte sozialverträglich aufzufangen bzw. die Arbeitsplätze in eine vernünftige Struktur förderfähiger Einheiten zu bringen.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle keinen Zweifel aufkommen lassen: Ich bin sehr dafür, daß auch ausländische Bieter in die Ausschreibungsverfahren mit einbezogen werden, und ich möchte die Treuhand an dieser Stelle beglückwünschen, daß es ihr endlich gelungen ist, einen vernünftigen, solventen ausländischen Bieter zu interessieren. Das ist ja die eigentliche Leistung der Treuhand. Aber wenn dennoch in Hennigsdorf und in Brandenburg im Laufe der Verkaufsverhandlungen eine solche Eskalation entstanden ist, dann liegt das daran - leider nicht zum erstenmal - , daß die Verkaufspraktiken der Treuhand noch sehr zu wünschen übriglassen.
Was wollten denn die Stahlwerkskumpel eigentlich? Sie hatten doch nur sehr geringe Forderungen. Sie wollten nur in all die Verkaufsverhandlungen mit einbezogen werden.
({2})
Sie wollten, daß die nicht betriebsnotwendigen Flächen in förderfähiges Eigentum der Kommune überführt werden, und sie wollten natürlich, daß das außerhalb des Kerngeschäftes freiwerdende Personal vernünftig aufgenommen und abgefedert wird.
({3})
Ich bin mir sicher, meine Damen und Herren, daß die Ereignisse von Hennigsdorf und Brandenburg die Bundesregierung wachgerüttelt haben.
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Es reicht eben nicht, mit salbungsvollen Wahlversprechen zu operieren, sondern hier müssen endlich Konzepte für die Privatisierung von Großbetrieben greifen.
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- Diese Konzepte für Großbetriebe gibt es überhaupt
noch nicht, lieber Kollege. Ich kann Ihnen nur sagen,
daß wir hier mit immer neuen Drahtseilakten operieKarl-Heinz Schröter
ren müssen, weil ganz einfach Konzeptlosigkeit in der Treuhand vorherrscht. Es reicht tatsächlich nicht, bestimmte Filetstücke zu verkaufen. Man muß sich insbesondere um den Bereich kümmern, der hintansteht und wo die Masse der Beschäftigten arbeitet.
({6})
Ich meine, es müssen endlich neue Prämissen in der Treuhandarbeit gesetzt werden. Es geht nicht darum, daß die maximalen Bodenpreise erzielt werden oder daß die Treuhand weiter Bodenspekulation betreibt. Der Boden, vor allen Dingen der nicht betriebsnotwendige, muß endlich in förderfähige Eigentumsformen umgewandelt werden. Ich denke insbesondere an kommunales Eigentum, weil nämlich dieses Eigentum förderfähig ist und weil viele Städte und Gemeinden innerhalb von 40 DDR-Jahren durch sogenannte unentgeltliche Rechtsträgerwechsel ihr Eigentum an Betriebe abgeben mußten.
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Es gilt ferner, daß endlich Transparenz in die Arbeit der Treuhand einzieht und daß Betriebsräte und natürlich auch kommunale Vertreter in Verkaufsverhandlungen einbezogen werden, und zwar in alle, und nicht zum Schluß lakonisch informiert werden. Hier hilft keine Geheimhaltung, sondern nur Transparenz.
Meine Damen und Herren, Sie sind mit mir sicherlich einer Meinung, wenn ich sage: Die Kontrolle der Treuhand muß weit stärker als bisher auch durch dieses Parlament erfolgen.
({8})
Nicht maximaler Preis, sondern maximale Schaffung oder Erhaltung von Arbeitsplätzen muß - auch das will ich hier sagen - in Zukunft die höchste Priorität bei der Privatisierung haben.
Hennigsdorf ist erst der Anfang der Abarbeitung von Problemfällen. Ich glaube, daß nur durch ein wirkliches Vertrauen der Werktätigen zur Treuhand, also auch zur Bundesregierung, diese Privatisierung ohne großen politischen Schaden, vor allen Dingen ohne soziale Härten möglich wird. Deshalb, glaube ich, muß die Treuhand - genau wie die Bundesregierung - endlich eine Einheit zwischen Wort und Tat bilden. Das heißt, man muß sich an das halten, was man gesagt hat.
Ich möchte in diesem Zusammenhang zum Abschluß noch kurz zwei Zitate bringen, und zwar zunächst eines von Frau Breuel. Sie hat mir am 30. Oktober dieses Jahres geschrieben:
Die rechtzeitige Information der Kommunen über Verkaufsabsichten der Treuhandanstalt, soweit kommunale Belange anstehen, ist dem Vorstand ein besonderes Anliegen. Wie mir berichtet wurde, kann die Zusammenarbeit insbesondere in Brandenburg als gut bezeichnet werden.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
In der Zeitung vom 4. Dezember 1991 lese ich unter der Überschrift „Vom Zuschlag per Zufall erfahren" : In Bötzow - Bötzow liegt 5 km von Hennigsdorf entfernt - wurde ein Betrieb der Metallurgie an allen Zuständigen vorbei - entgegen der Aussage von Frau Breuel - privatisiert.
Meine Damen und Herren, wie soll ein Werktätiger Vertrauen zu dieser Anstalt und zu dieser Bundesregierung haben, die nicht einmal ihre Abgeordneten richtig informiert? In dieser Woche ist von einem Staatssekretär die Konsequenz aus seinem Handeln gezogen worden. Ich verlange nicht ähnliche Konsequenzen von Frau Breuel; ich verlange vielmehr, daß sie endlich auf unsere Forderungen eingeht.
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Herr Kollege, ich muß Ihnen das Wort entziehen.
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Türk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Wonneberger aus Cottbus - auch ich bin aus Cottbus -, ich muß Ihnen sagen: Über das Verhältnis zwischen Treuhand und Landesregierung müssen wir noch sprechen, und zwar eingehender, als das heute hier möglich ist. Ich glaube, wir machen es uns zu einfach, wenn wir den Schwarzen Peter der Landesregierung zuschieben. Das Sagen hat nämlich noch die Treuhand. Genau über diesen Punkt müssen wir reden.
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Wenn wir heute von Stahlindustrie sprechen, so sind das auch und vor allen Dingen Standorte im Land Brandenburg. Sie sollten erhalten bleiben, und zwar in dem Umfang - das sage ich ganz klar - , wie die Vermarktung und die Rentabilität gesichert ist; denn natürlich sind nur effiziente Arbeitsplätze Dauerarbeitsplätze.
Das ist ein Grund dafür, daß nur ein Teil der Stahlarbeitsplätze erhalten bleiben kann. Damit besteht aber auch die Chance zur Erweiterung bei Marktöffnung; denn beispielsweise Baustahl wird künftig in erheblichen Größenordnungen gebraucht werden, nicht nur in Brandenburg, sondern in ganz Ostdeutschland und darüber hinaus auf dem östlichen Markt.
Doch sollten neben dem Standbein „Stahl" weitere aufgebaut werden. Man muß von den Monostrukturen wegkommen; wir wissen ja, was in denen passiert. Wir brauchen komplette Industriestandorte, die in diesen Gebieten dann natürlich auch eine Stahlkomponente haben. So sollte es auch in Eisenhüttenstadt sein: Die Ansiedlung alternativer Industrien darf nicht ausgeschlossen werden.
Es müssen also, wie es immer so schön heißt, vor der Privatisierung bzw. zusammen mit den Erwerbern ganzheitliche Konzepte entwickelt werden.
Bei den Standorten Hennigsdorf und Brandenburg ist das jetzt durch die aktive Einflußnahme - genauso sehe ich das, und so bin ich informiert - des Ministe5602
riums Hirche, also des Landeswirtschaftsministeriums, gelungen, allerdings erst im nachhinein. Es wird also Dauerarbeitsplätze und Übergangsbetriebe geben, die sanieren und nicht genutzte Anlagen und Betriebsflächen für Gewerbe- und Industrieansiedlung vorbereiten, und das ist vernünftig. Es wird als Übergangsinstrument auch Arbeits-, Beschäftigungs- und Strukturentwicklungsgesellschaften, also ABS, geben. Ich betone: Das darf natürlich nur ein Übergangsinstrument bleiben.
Das bedeutet, es werden die Konsequenzen aus der notwendigen Privatisierung gezogen und bewußt Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze geschaffen. Hier wird von der Landesregierung endlich mit regionaler Strukturpolitik begonnen. Damit werden gezielte Hilfen des Bundes möglich, und die brauchen wir - also keine Gießkanne!
Warum aber war es notwendig, so viele Arbeitnehmer erst zu verunsichern - die Frage stelle ich mir auch - , indem die Treuhand nur die Privatisierung gesehen hat und nicht deren Auswirkungen? Warum wurden die Betriebsräte nicht in die Gespräche einbezogen? Diese Frage muß man schon stellen. Diesen Arger und diese Aufregung hätte man sich ersparen können. Den Arbeitnehmern geht es auch nicht darum, ob ein deutscher oder ein ausländischer Bieter den Zuschlag erhält, sondern es geht ihnen natürlich um Arbeitsplätze, um Dauerarbeitsplätze.
Es bleibt also festzustellen: Privatisierung ist richtig und notwendig. Privatisierung bedeutet aber immer - auch und besonders jetzt bei uns - , daß 40 bis 60 % der vorhandenen Arbeitsplätze wegbrechen, z. B. in der Region Brandenburg und natürlich auch in Lauchhammer, Senftenberg usw. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Schaffung von Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze einschließlich Übergangslösungen. Zwischen beiden besteht eine enge Wechselwirkung; das betone ich hier.
Natürlich wäre die Treuhand mit dieser erweiterten Aufgabe überfordert. Das sehe ich auch so. Das ist sie aber ohnehin. Von Berlin aus kann man eben nicht ganz Ostdeutschland exakt überblicken. Das hatte schon einmal die Staatliche Plankommission der DDR versucht, und wir wissen, daß sie das in keinem Fall geschafft hat.
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- Darüber kann man ja reden.
Daraus folgt also: Die Leitung dieser Umstrukturierungsprozesse muß einerseits in einer Federführung liegen und andererseits natürlich auch überschaubar sein. Da Appelle an gute Zusammenarbeit immer fromme Wünsche bleiben müssen, sind jetzt endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Die Leitung dieser komplexen Aufgabe müssen die Länderwirtschaftsminister übernehmen. Das schlage ich hier vor.
Das schließt ein, daß die Treuhandniederlassungen in den jeweiligen ehemaligen Bezirken den Länderwirtschaftsministerien zugeordnet werden, nachdem sie die Betriebe der Berliner Treuhandzentrale übernommen haben. Damit wird auf vorhandenen Strukturen aufgebaut. Wir fangen damit also nicht bei Null an; die Strukturen haben wir.
Voraussetzung für die neue Zuordnung ist natürlich die Entlassung aus Altschulden. Das muß vorher geklärt werden. Das muß aber ohnehin erfolgen, weil Altschulden, wie wir immer wieder sehen, Investoren abschrecken und damit entwicklungshemmend sind. Effiziente Betriebe und funktionierende Kommunen tragen durch Steuerabgaben viel eher zur Verringerung der Staatsverschuldung und damit zur DM-Stabilisierung bei.
Herr Kollege Türk, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Letzter Satz: Dieser Gedanke schließt natürlich ein, daß wir auch freie Flächen der Treuhandbetriebe bis zu 100 % verbilligt abgeben.
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Damit könnte man sich die Errichtung vieler neuer Gewerbegebiete und damit einen großen Teil öffentlicher Mittel ersparen.
Ich muß Sie bitten, wirklich nur noch einen Schlußsatz zu sagen, Herr Kollege Türk.
Die Zuordnung der Treuhand zu den Länderwirtschaftsministerien verlangt eine Änderung des Treuhandgesetzes, und das sollten wir schnellstens tun. Übrigens bin ich bereit, darüber zu diskutieren, wie wir das am besten machen.
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Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, ich will noch einmal daran erinnern: In der Aktuellen Stunde - das kann jeder in der Geschäftsordnung nachlesen - gibt es Redebeiträge bis zu fünf Minuten und nicht darüber; und jetzt fangen hier alle an, sechs Minuten zu reden.
Meine Damen und Herren, noch eine Zwischenbemerkung möchte ich gern machen: In der Aktuellen Stunde sind keine Zwischenfragen zugelassen. Das wollte ich dem Herrn Kollegen Wonneberger sagen.
Nächster Redner ist unser Kollege Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Brandenburg und Hennigsdorf arbeiten die Stahlkocher wieder. Als ich vor vier Tagen dort war, waren die Hochöfen kalt. Aus dem letzten Stahl hatten die Hennigsdorfer ein Kreuz gegossen, das von einem brandenburgischen Künstler zum Lebensbaum gestaltet wurde. Seit gestern arbeiten die Stahlwerker wieder. Ein Grund zum Jubeln ist das aber nicht. Was dort geschehen ist, diese Kette von Skandalen, darf und wird nicht einfach abgehakt werden.
Konrad Weiß ({0})
Ein Skandal ist, daß sich der Bundeskanzler zugunsten eines Unternehmens ausgesprochen hat, zudem eines Unternehmens, das eindeutig das schlechtere Angebot unterbreitet hatte.
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Brandenburgische Stahlarbeitsplätze als KanzlerGastgeschenk, das wird, davon bin ich überzeugt, in Brandenburg nicht so schnell vergessen.
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Ein Skandal ist, daß die Treuhand ganz offenbar nicht die von der Bundeshaushaltsordnung vorgeschriebenen Ausschreibungsmodalitäten eingehalten hat. Nach Informationen, die mir soeben zugegangen sind, hatte sich die Treuhand bereits am 8. Oktober, also fast drei Wochen vor dem festgesetzten Angebotstermin am 25. Oktober, durch feste Zusagen gebunden. Mit dem deutschen Anbieterkonsortium sind nach Aussagen der beteiligten Unternehmen zu keinem Zeitpunkt Verhandlungen geführt worden.
Ein Skandal sind die zutage getretenen Unkorrektheiten im Ausschreibungs- und Auswertungsverfahren bis hin zur Unterschlagung und Fälschung von Unterlagen gegenüber dem Verwaltungsrat der Treuhand.
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Ich fordere die Bundesregierung auf, das abgelaufene Verfahren durch eine neutrale Institution überprüfen zu lassen.
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- Das wird von der Belegschaft gemacht.
Bezeichnenderweise hat die Treuhand trotz der Zusage dem Betriebsrat der HSG die Protokolle der Verhandlungen mit Riva bis zur Stunde nicht zugestellt. Was hat die Treuhand zu verbergen?
Ein Skandal sind schließlich die Verhandlungsergebnisse selbst. Zwar ist für eine Übergangszeit eine befriedigende Lösung für die Belegschaft gefunden worden; aber eine ganze Reihe von Konditionen sind nach wie vor dubios. Zwei Beispiele:
Erstens. Riva übernimmt 3,7 Millionen Quadratmeter Betriebsgelände. Davon sind 2 Quadratkilometer nicht bewertet. Sie übernimmt diese also für Null Komma nichts. Für dieses sogenannte Inselreich, ein Halden- und Kippengelände, gibt es aber überzeugende wirtschaftliche Sanierungskonzepte. In zehn Jahren wird dieses Land am Rande von Berlin Gold wert sein. Eigentlich sollte es der Kommune und dem Land gehören. Die Stadt Hennigsdorf hat es zum Stadtentwicklungsgebiet erklärt. Der deutsche Anbieter wäre bereit gewesen, dieses Gelände der Kommune und dem Land für einen Gewerbepark zu überlassen und sich dort aktiv zu engagieren.
Zweitens. Riva strebt eine Tonnage von 2,4 bis 3 Millionen Tonnen pro Jahr an. Das ist in zwei Jahren technisch sicherlich zu leisten. Aber das Ganze ist ein Bluff; denn der Markt ist für solche Mengen nicht aufnahmefähig, es sei denn, auf Kosten der Stahlwerker
in Westdeutschland. Aber das will auch in Brandenburg niemand.
Ein letzter skandalöser Vorgang, von dem ich soeben Kenntnis erhalten habe: Gestern um 17 Uhr erging telefonisch von einem Vorstandsmitglied der Treuhand das Angebot an den Betriebsrat, einen Teil des Verhandlungsergebnisses, nämlich hinsichtlich Ziffer 10, gegen Zahlung von 12 Millionen DM seitens der Riva aufzugeben. Hiergegen wird der Betriebsrat gerichtliche Schritte einleiten.
Aber das kann nicht genügen. Ich fordere die Bundesregierung nachdrücklich auf, in die hier angesprochenen dunklen Aktivitäten und Fehlentscheidungen der Treuhand Licht zu bringen und dem Deutschen Bundestag umgehend darüber zu berichten, welche Konsequenzen sie daraus für die weitere Arbeit der Treuhand zu ziehen gedenkt. Ich hoffe, daß wir diesen Bericht noch vor Weihnachten, also in der nächsten Woche, erhalten. Ich erwarte auch von Bundeskanzler Kohl eine Stellungnahme dazu, was ihn bewogen hat, nicht dem deutschen Stahlkonsortium mit dem besseren Angebot, sondern Riva den Zuschlag geben zu lassen. Für den, der nicht glaubt, daß es das bessere Angebot war,
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habe ich hier eine Synopse, in der beide Angebote gegenübergestellt sind.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Bernd Henn das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es steht mir natürlich nicht an, die Verabredungen des Ältestenrates zu kritisieren. Ich will nur sachlich feststellen: Es wäre objektiv und sachlich besser gewesen, wenn diese Aktuelle Stunde zu einem Zeitpunkt stattgefunden hätte, wo die Kolleginnen und Kollegen dort noch im Kampf waren. Denn am Beispiel AEG/Olympia Wilhelmshaven hat man festgestellt, daß parteiübergreifende Bündnisse möglich sind, wenn es um eine Region geht. Vielleicht hätte es auch eine Unterstützung für die Stahlarbeiter geben können. Das war leider nicht möglich.
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Ich will mich auch nicht lange bei der abgelaufenen Auseinandersetzung aufhalten, sondern einige andere Bemerkungen machen.
Umstrukturierung und Arbeitsplatzverluste sind auch uns in Westdeutschland in der Stahlindustrie überhaupt nicht fremd. Die Stahlindustrie ist von 380 000 Beschäftigten auf jetzt rund 180 000 Beschäftigte zurückgefahren worden. Aber das war ein Prozeß von zehn bis fünfzehn Jahren. In der ostdeutschen Stahlindustrie soll es innerhalb von ein bis zwei Jahren von 80 000 auf schätzungsweise 10 000 bis 15 000 Beschäftigte heruntergehen. Wer das durchsetzen
will, der kalkuliert soziale Notstandsgebiete von vornherein mit ein.
Nachdem einige Stahlstandorte schon kaputt sind - ich denke an Riesa -, nachdem in Hennigsdorf und Brandenburg dieser Kompromiß gemacht worden ist, bleibt nach wie vor die Ungewißheit: Was ist mit Eisenhüttenstadt, mit Eberswalde-Finow, mit Gröditz, mit Freiberg, Unterwellenborn, Ilsenburg und anderen Standorten? Alles das hängt noch in der Luft.
Was den Kompromiß in Hennigsdorf angeht: Wenn man darüber nachdenkt, in Riesa ein Elektrostahlwerk zu bauen, um Baustahl für Sachsen zu produzieren, stellt sich natürlich die Frage, was für Rückwirkungen das auf Hennigsdorf hat. Insofern kommen wir überhaupt nicht weiter, wenn wir jeden Standort für sich allein betrachten. So, wie jetzt jeder Standort für sich allein abgewickelt wird, wird unter Umständen jeder für sich allein sterben.
Ich habe eine andere große Sorge. Wir haben in der westdeutschen Stahlindustrie offensichtlich einen neuen Konzentrationsschub. Die Übernahme von Hoesch durch Krupp ist ja kein Zufall.
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- Okay; ich will es auch hoffen. - Es gibt Verkaufsgespräche im Zusammenhang mit Klöckner. Alles das deutet an, daß wir vor einem neuen Konzentrationsschub auch der westdeutschen Stahlindustrie stehen. Ich fürchte einfach, daß die ostdeutsche Stahlindustrie zur Manövriermasse wird und geopfert wird.
Ich glaube, dem könnte man nur mit einem Branchenkonzept begegnen, wo sich Arbeitgeber, Stahlindustrie, IG Metall und öffentliche Hand an einem Tisch zusammenfinden. 1982/83 ist mit dem Moderatorenmodell schon einmal ein solcher Versuch gemacht worden. Ich denke, es ist hohe Zeit, daß versucht wird, ein Gesamtkonzept für die deutsche Stahlindustrie auf die Beine zu bringen. Dazu muß natürlich der Standortegoismus überwunden werden. Ich bin auch nicht so ganz sicher, ob die Kolleginnen und Kollegen an Rhein und Ruhr ihre Situation nicht auch sehr egoistisch betrachten. Aber nur wenn der Standortegoismus überwunden werden kann, läßt sich ein Maximum an Arbeitsplätzen und ein fairer Anteil an Stahlproduktion in den sogenannten neuen Bundesländern retten.
Ich danke.
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Ich erteile jetzt dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen Dr. Joachim Grünewald das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den ebenso unglaublichen wie unhaltbaren Vorwürfen des Kollegen Weiß möchte ich zur Pflege und zum Erhalt der freundschaftlichen Kollegialität dem Beispiel von Kollegen folgen und mein Redemanuskript zu Protokoll geben. * )
*) Anlage 2
Ich möchte allerdings ganz kurz fünf Feststellungen treffen:
Erstens. Bei der Privatisierung der Stahlwerke Brandenburg und Hennigsdorf hat die Treuhandanstalt ein ordnungsgemäßes Bietverfahren durchgeführt, wovon wir uns heute morgen im Unterausschuß Treuhandanstalt umfänglich überzeugen konnten. Wir haben also keine Gelegenheit vertan, Herr Gysi. Allenfalls haben sie es verabsäumt, sich von Ihrem Kollegen Briefs über das Ergebnis dieser Sitzung unterrichten zu lassen.
Zweitens. Das im EGKS-Vertrag festgeschriebene Diskriminierungsverbot wurde in gleicher Weise wie das Höchstbietergebot beachtet.
Drittens. Keinem der beiden Interessenten, Herr Weiß, wurde in den Vorgesprächen verbindliche Exklusivität zugesichert. Ich habe das zuständige Vorstandsmitglied, Herrn Dr. Krämer, im Ausschuß heute morgen ausdrücklich danach gefragt. Er hat dies verneint und eine Absichtserklärung vorgelegt, die in der Tat am 8. Oktober abgeschlossen worden ist, aber keinerlei Verbindlichkeiten enthält.
Viertens. Morgens wird der Verwaltungsrat der Treuhandanstalt in eigener Verantwortung über das vorliegende Angebot entscheiden.
Fünftens. Für den wirtschaftlichen Aufbau im Beitrittsgebiet sind der Treuhandanstalt, der Bundesregierung und, ich hoffe, uns allen miteinander in - und ausländische Investoren in gleicher Weise willkommen. Jede Diskriminierung ausländischer Investoren würde die Glaubwürdigkeit unserer Privatisierungspolitik untergraben und uns allen einen großen Schaden zufügen.
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Schönen Dank.
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Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Kurt Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sollten dankbar sein, daß es zu dieser Lösung gekommen ist, daß gestern eine Einigung erzielt werden konnte. Wir sollten jetzt nicht weiter Emotionen schüren, indem wir auch noch an dieser Stelle Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit der Auswahl des Käufers dieser Werke in Hennigsdorf und Brandenburg vornehmen.
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Ich glaube, es ist wichtig, daß wir diese Aktuelle Stunde dazu nutzen, grundsätzliche Themen anzusprechen, z. B.: Wie kann ich auch in traditionellen Industrieregionen die Standorte sichern? Was ist zu unternehmen, von uns allen, auch im Parlament? Was können wir als Verantwortliche für diese Bereiche unternehmen, um diese Standorte zu sichern? Was
können wir tun, damit diese Standorte in den neuen Bundesländern nicht nur als Verlängerung von Standorten aus den westlichen Bundesländern gesehen werden?
Erhalten - darüber müssen wir uns auch im klaren sein - kann natürlich nicht heißen, daß die Unternehmen dort in ihrer bestehenden Form unter allen Umständen und letztendlich unter Mitwirkung der öffentlichen Hand, sprich mit Dauersubventionen, weitergeführt werden können.
Ich sage das - auch Sie haben das angesprochen - , weil das auch auf dem Hintergrund der Konkurrenzsituation innerhalb der Bundesrepublik Deutschland so gesehen werden muß. Ich darf hier z. B. an die Maxhütte in Bayern erinnern, die sich diesem Konkurrenzkampf auch ohne öffentliche Mittel zu stellen hat. Hier darf es kein Ungleichgewicht innerhalb unserer Bundesrepublik Deutschland geben. Wir haben schon Probleme im europäischen Rahmen.
Deshalb ist für mich ordnungspolitisch ganz klar, daß wir die Privatisierung zügig fortführen und der Treuhand helfen müssen. Natürlich haben wir als Parlament, als Unterausschuß Treuhand und als Haushaltsausschuß die Kontrolle über die Treuhand auszuüben. Das kann aber nicht bedeuten, daß jede anstehende Entscheidung der Treuhand zunächst im Parlament behandelt werden muß, um sie erst dann treffen zu können.
Ich stimme Ihnen aber in der Frage der Transparenz zu, insbesondere auch Ihnen, Herr Kollege Schröter. Hennigsdorf und Brandenburg sind geradezu ein Paradebeispiel, daß es weniger Emotionen gegeben hätte, wenn es seitens der Treuhand gerade für den Betriebsrat mehr Transparenz gegeben hätte. Diese Kolleginnen und Kollegen des Betriebsrates sind doch in einer wahnsinnig schwierigen Situation. Sie stehen einmal der Geschäftsführung gegenüber und dann auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich hätte mir also in diesem Fall wesentlich mehr Transparenz gewünscht.
Es kann aber nicht angehen, daß man Entscheidungen danach fällt, ob ein ausländischer oder ein inländischer Interessent für ein Werk vorhanden ist. Gerade weil wir das nicht allein mit der westdeutschen Industrie schaffen können, gerade weil wir auch ausländisches Kapital, ausländische Investitionen benötigen, darf dieser Gedanke gar nicht erst nach außen dringen. Es hat doch keinen Wert, wenn Bundesminister Möllemann in die USA, nach Japan, in Europa reist und sagt: Bitte helft uns, investiert in den neuen Bundesländern, und wir entscheiden, daß nicht der ausländische Bieter den Zuschlag erhalten darf, sondern ein inländischer Bieter. So darf es nicht gehen.
Ein letzter Satz: Natürlich muß darauf geachtet werden, daß Dauerarbeitsplätze geschaffen werden und daß für die Kolleginnen und Kollegen, die dort nicht unterkommen können, Alternativen in dem regionalen Bereich geschaffen werden. 400 Millionen DM werden im Haushalt 1992 für die neuen Bundesländer im Rahmen der regionalen Wirtschaftsförderung zusätzlich ausgeschüttet. Für Hennigsdorf und für Brandenburg laufen bereits entsprechende Mittel, werden bereits Arbeitsplätze geschaffen.
Das ist das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, worauf wir uns konzentrieren sollten. Das ist das, woran wir mitarbeiten sollten. Wir stehen mit in der Verantwortung. Es genügt nicht, nur Kritik zu üben, sondern hier ist aktive Mitarbeit, aktives Handeln, insbesondere von uns, gefragt.
(Beifall bei der CDU/CSU]
Meine Damen und Herren, als nächster hat das Wort der Kollege Weiermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei aller Zufriedenheit über die nach dem Streik der Arbeitnehmer getroffenen Abschlüsse muß man doch sagen: Die nahe Zukunft eines Teils der Stahlwerker von Hennigsdorf und Brandenburg scheint durch die Übernahme durch den Riva-Konzern zwar gesichert. Ohne eine kontinuierliche Industriepolitik durch die Bundesregierung ergeben sich jedoch Zweifel an der Dauer dieser Sicherheit.
Für jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch den Konzern Riva nicht übernommen werden und die für eine Übergangsphase durch Kostenübernahme der Treuhand für Beschäftigungs- und Umschulungsmaßnahmen abgesichert sind, ist die weitere Zukunft über die Übergangsphase hinaus leider noch ungewiß.
Was außerdem noch gesagt werden muß: Auch die weiteren Standorte in Sachsen und Thüringen, die dort beschäftigten Frauen und Männer, erwarten von der Bundesregierung endlich eine vernünftige Industriepolitik. Statt dessen scheint sie ihre politische Verantwortung der Treuhand übertragen zu haben.
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Die Unvernunft läßt schön grüßen, meine Damen und Herren!
Hinzu kommt: Es ist möglicherweise zu befürchten, daß der Mailänder Konzern die wegen der Nähe zu Berlin als sehr attraktiv geltenden Restflächen zu Gewinn- und Spekulationszwecken verwerten könnte. Deswegen kann es nur einen Beschluß geben, der dann heißt: Nutzung aller nicht betriebsnotwendigen Grundstücke für die Ansiedlung weiterer Unternehmen und Arbeitsplätze in Zusammenarbeit mit dem Land und der Kommune;
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befriedigende Sozialplanregelungen zur Flankierung der weiteren Umstrukturierung der Betriebe. Dafür muß Geld lockergemacht werden, meine Damen und Herren.
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Hierzu stelle ich fest: Die Treuhand - besser gesagt: die verantwortliche Bundesregierung - hat die Aufsichtsräte trotz gesetzlicher Mitbestimmung in den letzten Wochen der Entscheidungsfindung nicht in die Beratungs- und Entscheidungsprozesse einbezogen. Sie hat die betroffenen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer damit als Menschen zweiter Klasse behandelt. Das ist die Wahrheit!
({3})
Nun zu Riva: Nach Ankauf der - mit anderen Kapitalanlegern - Siderurgica Sevillana im spanischen Sevilla wurde die europäische Strategie der Brüder Riva mit dem Kauf der Mehrheit des nordfranzösischen Stahlproduzenten Iton-Steine und - 1990 in der zweiten Etappe - des Stahl- und Walzdrahtwerks Gargenville bei Paris fortgesetzt. Diese europäische Strategie wurde weiter fortgesetzt durch den Teilkauf von Cockerill-Sambre in Belgien. Mit einem Anteil von 10 % sind die Riva-Brüder im Bereich des Betonstahls in Europa inzwischen führend. Dieser Anteil vergrößert sich mit Hennigsdorf auf 14 %.
„Die gefräßigen Brüder aus Mailand" , wie die „Frankfurter Rundschau" schrieb, haben ihr Imperium in Europa allmählich erweitert. Sie schicken sich nun an, in Mexiko den Einstieg bei dem zur Privatisierung anstehenden Stahlriesen Sicartra zu verwirklichen. - Ich sage das nur, damit Sie endlich einmal begreifen, welche weitreichenden Verbindungen es hier letzten Endes gibt. Aber das scheint Ihnen total egal zu sein. - Es entsteht ein wahrlich kaum noch zu kontrollierendes Unternehmensgebilde, das sich, wie die Erfahrung zeigt, von unattraktiv gewordenen Firmenanteilen schnellstens zu trennen pflegt.
Dies alles ist keine auf den zukünftigen Wettbewerb, ist keine auf Überlebensfähigkeit ausgerichtete Industriepolitik. Wo ist der Wille der Bundesregierung, deutsche Stahlunternehmen im internationalen Wettbewerb zu begleiten?!
Sie hat vor der Sommerpause dem Zuschuß von 2,6 Milliarden DM öffentlicher Mittel für das italienische Stahlunternehmen Finsider/ILVA im Ministerrat diskussionslos zugestimmt. Und sie schweigt dazu, daß die französische Regierung dem Stahlunternehmen Usinor/Sacilor auf dem Umweg über eine Staatsbank 735 Millionen DM öffentliche Mittel zukommen läßt.
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Diese Aufwendungen dienen offensiven unternehmerischen Zielen europäischer Unternehmen. Von Chancengleichheit deutscher Unternehmen kann hier keine Rede mehr sein.
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Bundeswirtschaftsminister Möllemann muß deutlich machen, wie er in diesem Umfeld den deutschen Stahlunternehmen Wettbewerbsgleichheit sichern will. Der Minister, der bislang beide Augen verschlossen hielt, muß alle Mittel gegen solche Wettbewerbsverzerrungen einsetzen. Dieses Nicht-in-die-Diskussion-Eingreifen, dieses Nicht-Verhindern solcher, ich sage einmal, Subventionen von gewaltigem Ausmaß für andere Stahlbereiche in Europa wird eine Kette anderer Maßnahmen in Skandinavien, in Spanien, wie ich schon gehört habe, nach sich ziehen - zum
Nachteil der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wie wollen nicht - das ist mein letzter Satz - daß unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein weiteres Mal für diese Politik den Buckel hinhalten müssen.
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Ich sage ein herzliches Glückauf für eine gute Zukunft der Frauen und Männer in dem betroffenen Bereich.
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Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich unserem Kollegen Arnulf Kriedner das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es muß, Herr Kollege Weiermann, etwas verwundern, daß ausgerechnet der Vertreter der Sozialdemokratie hier auf nationalistische Stahlpolitik macht, und das angesichts der Situation, daß wir 1993 vor einer ganz neuen europäischen Situation stehen und - ich sage das ganz deutlich, Herr Weiermann - angesichts der Situation, daß die deutsche Stahlindustrie, was ihre europäische Politik betrifft, wirklich nicht nur aus Waisenknaben besteht. Ich glaube also, das sollten Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen. Aber offensichtlich interressiert Sie das sehr wenig.
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Sie haben uns hier, möchte ich einmal sagen, in Form einer Gewerkschaftsversammlung belehrt.
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Ich fand es nicht sonderlich beeindruckend, was Sie hier geboten haben
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Etwas, wozu hier bisher überhaupt niemand Stellung genommen hat, möchte ich ganz gern noch in die Debatte einführen: Es ist der Hintergrund, vor dem sich das alles vollzieht. Wir tun ja so, als hätte es 40 Jahre lang im Gebiet der ehemaligen DDR eine ganz normale Stahlindustrie gegeben. Das hatten wir leider nicht.
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- Das haben Sie nicht behauptet; um Gottes willen; ich will Ihnen nichts Falsches unterstellen.
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- Das ist ein guter Zuruf.
Ich will nur darauf hinweisen, was Stahlindustrie in den jetzt neuen Bundesländern einmal geheißen hat. Es hat geheißen: Einbindung in den RGW mit wahnsinnigen Produktionsmethoden. Da wurde aus Sibirien Roherz in eines der Stahlwerke nach Brandenburg oder sonstwohin gefahren. Dort wurde ein relativ minderwertiger Stahl erzeugt. Der wurde zurückgefahren. Die Kosten sind zum großen Teil denen, die den Stahl gemacht haben, auferlegt worden.
Vor diesem Hintergrund einer aberwitzigen Stahlpolitik sind diese Werke nicht konkurrenzfähig. Das ist die Situation, vor der wir hier stehen und die wir mit betrachten müssen, wenn wir so etwas besprechen.
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- Mir gibt das die Gelegenheit zu dem Hinweis, daß Herr Gysi nach seiner Rede, die er eingangs gehalten hat und die im Grunde nur den Versuch gemacht hat, das Ganze noch einmal hochzukochen, nicht mehr hier ist. Das ist bezeichnend. Vielleicht muß er irgendwoanders jemanden aufhetzen. Ich weiß es nicht. Anders kann ich seine Abwesenheit nicht interpretieren.
({6})
- Ja gut, Sie waren ja heute im Ausschuß, Herr Briefs.
({7})
Ihnen, Herr Briefs, mache ich die Vorwürfe nicht. Ihnen mache ich einen einzigen Vorwurf: daß Sie in einer Fraktion sitzen, in der heute noch hohe Funktionäre und Minister sind, die für diese Stahlpolitik mit verantwortlich waren.
({8})
Diesen Vorwurf mache ich Ihnen; nicht den, Sie seien beteiligt gewesen.
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Hier ist etwas zur Transparenz des TreuhandUnterausschusses gesagt worden. Wir werden sie gewährleisten.
Ich muß noch eines sagen, Herr Weiß. Sie haben mich mit Ihrem Beitrag ganz besonders enttäuscht. Denn wer sich hier hinstellt und die Argumente einer einzigen Firma, die, ich sage es noch einmal, ebenfalls nicht zu den Waisenknaben gehört, als das Richtige darstellt und nicht einmal relativierend sagt, wie es bei den anderen aussieht - Ihre Gegenüberstellung kommt ja aus derselben Ecke -, der kann hier nicht glaubwürdig auftreten, Herr Weiß.
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Ihr heutiger Auftritt erinnert mich ganz lebhaft an eine Stelle aus Goethes „Faust" : „Es tut mir lang schon weh, daß ich dich in der Gesellschaft seh! "
Vielen Dank.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Dezember 1991, 14 Uhr ein.
Ich wünsche ein angenehmes, nicht zu arbeitsreiches Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.