Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die jeweils erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Gesetzentwurfs zur Änderung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Bundesanstalt für Arbeit und des Gesetzentwurfs zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zu erweitern. Die beiden Gesetzentwürfe sollen am Freitag nach Beendigung der Aussprache zur Regierungserklärung mit einer jeweils einstündigen Beratung aufgerufen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dies ist so beschlossen.
Ich habe gestern dem Abgeordneten Dr. Briefs für einen Zwischenruf einen Ordnungsruf erteilt. Ausweislich des inzwischen vorliegenden stenographischen Protokolls kann der Zwischenruf „Heim ins Reich! " nicht dem Abgeordneten Dr. Briefs zugeordnet werden; er ist nicht verzeichnet. Ich nehme daher den Ordnungsruf zurück.
({0}) - Ich halte mich an die Ordnung.
Wir setzen den Tagesordnungspunkt 1 fort: Aussprache zur Erklärung der Bundesregierung.
Hierzu liegen zwei Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD auf den Drucksachen 12/40 und 12/60 vor. Weitere Entschließungsanträge sind angekündigt.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache elf Stunden, für die Aussprache morgen drei Stunden vorgesehen. Die Aussprache wird heute gegen 21 Uhr enden. Für 13 bis 14 Uhr ist eine Mittagspause vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf die Hoffnungen, die unser Volk und viele andere Bewohner des europäischen Hauses, ja weite Teile der Menschheit im vergangenen Jahr erfüllten, sind dunkle Schatten
gefallen. Damals schien es uns, als habe ein neues Zeitalter begonnen, als sei ganz Europa auf dem Wege zu einer neuen Gemeinsamkeit in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung. Und wir hofften, der irakische Diktator könne von der Völkergemeinschaft ohne Krieg gezwungen werden, dem internationalen Recht Genüge zu tun und Kuwait zu räumen.
Inzwischen sprechen am Golf seit 14 Tagen die Waffen. Eine uns nicht bekannte Zahl von Menschen hat bereits ihr Leben verloren; keiner weiß, wie viele noch folgen werden. Israel wird trotz seiner bewundernswerten Besonnenheit von irakischen Raketen heimgesucht und ist noch immer der Gefahr eines Gasangriffs ausgesetzt, bei dem viele Menschen in grausamster Weise zu Tode kommen würden.
Durch die arabische Welt geht gleichzeitig eine Welle des Fundamentalismus. Durch den Persischen Golf treibt ein gewaltiger Ölteppich, ein zweiter ist offenbar im Entstehen, und die Gefahr weiterer substantieller Umweltschäden ist keineswegs gebannt.
Ein Ende von alldem ist ungeachtet aller Anstrengungen der Anti-Saddam-Koalition zur Stunde nicht abzusehen. Der irakische Diktator droht sogar mit dem Einsatz bisher unbekannter Waffen, die dem Krieg - so sagt er mit widerwärtigem Zynismus -eine neue Qualität geben würden.
Im Baltikum sind, wie seinerzeit in Prag, Panzer aufgefahren und Menschen bedroht und getötet worden, weil sie für ihre demokratischen Institutionen und ihr Recht auf Selbstbestimmung eintreten. Dort, aber auch sonst in der Sowjetunion, erheben von neuem Kräfte ihr Haupt, von denen wir alle gehofft hatten, sie seien endgültig überwunden. Offenbar wittern sie eine Chance, im Schatten des Golf-Krieges das alte System der Unfreiheit und Unterdrückung wiederherzustellen und der Reformpolitik Michail Gorbatschows einen entscheidenden Schlag zu versetzen.
Diese weltpolitische Situation gibt der heutigen Aussprache über die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers einen besonderen Charakter. Das bedeutet nicht, daß wir die Unterschiede und Gegensätze, die zwischen uns in wichtigen Fragen bestehen, verschweigen oder als Opposition dort auf Kritik verzichten, wo wir sie aus unserer Verantwortung heraus für geboten halten. Im Gegenteil, es kann gerade jetzt noch notwendiger sein, sie mit Nachdruck zu äußern.
Aber wir alle in diesem Hause - die SPD eingeschlossen - sind gut beraten, in dieser Situation zu unterscheiden, was jetzt wirklich wichtig und was weniger wichtig ist, und dort, wo Übereinstimmung besteht, diese auch auszusprechen.
({0})
Wir waren zu Beginn des deutschen Einigungsprozesses zur Kooperation bereit. Wir glaubten, die Größe der Herausforderung erfordere dies. Es war in unseren Augen ein gravierender Fehler, daß Sie das damals abgelehnt haben. Viele Fehlentwicklungen in den neuen Bundesländern, die den Menschen dort schwer zu schaffen machen, haben auch hier ihre Wurzel. Der Fehler sollte jetzt nicht wiederholt werden.
({1})
Die Folgen könnten für unser Volk und seine Stellung in der Welt und in Europa noch gravierender sein.
({2})
Zum Golfkonflikt sage ich: Die Gründe, aus denen wir uns vor Ablauf des Ultimatums gegen militärische Aktionen und für die Fortdauer der Sanktionen ausgesprochen haben, sind bis zur Stunde nicht widerlegt. Die Gefahren und die Risiken, die mit militärischen Aktionen voraussehbar verbunden waren und sind und vor denen kaum jemand so überzeugend gewarnt hat wie Paul Nitze, einer der erfahrensten amerikanischen Konflikt- und Abrüstungsexperten überhaupt, sind keineswegs gebannt. Im Gegenteil: Einige seiner Befürchtungen - es sind auch die unseren - , so die Zunahme des Fundamentalismus in der arabischen Welt, von Mauretanien bis in die Golfregion, und die Zerstörung der Umwelt durch die Ölkatastrophe, sind bereits eingetreten, und die Euphorie, ja vielerorts Kriegsbegeisterung, der ersten 24 Stunden
({3})
- Entschuldigung, ich spreche nicht von Ihnen;
({4})
aber wenn Sie eine gewisse Berichterstattung und gewisse Zeitungskommentare gelesen haben, dann werden Sie festgestellt haben, daß das die Wahrheit ist! ({5})
hat inzwischen starker Ernüchterung und tiefer Sorge Platz gemacht.
Dabei, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wird das ganze Grauen des Krieges erst sichtbar werden, wenn die Kämpfe auf dem Boden wirklich beginnen. Und wenn an die Stelle einer Berichterstattung, die den Krieg als eine Art chirurgischen Eingriff erscheinen lassen will, die ungeschminkte Darstellung der Wirklichkeit tritt.
Die Entscheidungen sind nach dem 15. Januar anders gefallen, als wir das gewünscht und befürwortet haben, und auch eine Opposition kann dann nicht in der Vergangenheit verharren, sondern muß sich der neuen Situation stellen. Darum sage ich: Jetzt muß es darum gehen, daß der Krieg so rasch wie möglich ein
Ende findet. Ich füge hinzu: Das kann nicht allein der Anwendung militärischer Mittel überlassen bleiben;
({6})
vielmehr muß zu diesem Zweck jede Möglichkeit genutzt werden, damit erneut die Politik eine Chance erhält, das Recht mit gewaltlosen Mitteln wiederherzustellen.
({7})
Die Vereinten Nationen sollten deshalb eine Initiative für einen Waffenstillstand, zumindest für eine Feuerpause, ergreifen.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß es keinen einseitigen Waffenstillstand geben kann.
({8})
- Meine Damen und Herren, ich will nicht auf das gestrige Verfahren zurückgreifen. Ich bin durchaus mit Zurufen und auch mit Zwischenrufen einverstanden.
({9})
Aber ich würde vorschlagen, daß wir uns heute in einer Art und Weise auseinandersetzen, wie es der gegebenen Situation entspricht.
({10})
Wir wissen, daß es keinen einseitigen Waffenstillstand geben kann. Wir wissen auch, daß Saddam mit seiner andauernden Weigerung, Kuwait zu räumen, und seinen andauernden Drohungen die Chance für einen solchen Waffenstillstand minimiert. Aber wir glauben, daß die politische Vernunft der vermeintlichen Logik des Krieges, von der in diesen Tagen so viel die Rede ist, nicht einfach das Feld überlassen darf.
({11})
Sie muß immer wieder versuchen, diese sogenannte Logik zu durchbrechen.
Es ermutigt uns - ich glaube, es ermutigt uns alle - , daß der amerikanische und der sowjetische Außenminister vorgestern in einer gemeinsamen Erklärung ausdrücklich von der Möglichkeit einer Einstellung der Feindseligkeiten gesprochen haben.
Der Einsatz deutscher Soldaten im Golfkrieg kommt nicht in Frage. Das wollen wir nicht, und das läßt unsere Verfassung nicht zu. Auch Sie, Herr Bundeskanzler, haben diese Auffassung gestern in Ihrer Regierungserklärung vertreten.
Eine ähnlich präzise Äußerung hätten wir uns zu der Frage gewünscht, ob die Situation in der Türkei und die Entscheidungen der dortigen Regierung zur Bejahung des Bündnisfalls führen können, so präzise - nämlich: nein - , wie es beispielsweise die spanische Regierung und auch Herr Kollege Stercken als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses formuliert haben. Sie, Herr Bundeskanzler, haben - das erkenne ich an - allerdings auch nichts gesagt, was unserem Nein widerspricht.
Deutlicher, als Sie das getan haben - und ich gebe zu: vielleicht tun konnten -, möchte ich in diesem Zusammenhang die unangemessene Kritik des türkischen Staatspräsidenten an der Bundesrepublik Deutschland zurückweisen.
({12})
Der türkische Staatspräsident täte besser daran, auf die Mahnungen der türkischen Opposition und der türkischen Armee zu hören und den Anschein zu vermeiden, es gehe ihm in dieser kritischen Situation in erster Linie um die Vergrößerung seines Einflußbereichs. Das Wort von der „Ordnungsmacht" in der Region läßt da aufhorchen.
Deshalb sage ich klipp und klar - und das auch an die Adresse von Herrn Wörner - : Ob sich die Bundesrepublik an militärischen Maßnahmen auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen beteiligen kann und will, entscheidet allein sie, und nicht an ihrer Stelle der türkische Staatspräsident oder der Generalsekretär der NATO.
({13})
Und in der Bundesrepublik, so füge ich hinzu, entscheidet über Krieg und Frieden und folglich auch über den Bündnisfall, anders als in Diktaturen und ebenso wie zuletzt in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, in Frankreich und in Italien die Volksvertretung.
({14})
Zur Wahrung dieser Position, bei der es sich um ein Kernprinzip der parlamentarischen Demokratie handelt, müssen wir uns erneut alle geeigneten Schritte vorbehalten. Ich anerkenne, daß inzwischen auch durch Ihre briefliche Bestätigung sichergestellt ist, daß, wenn - was keiner hier hofft - eine entsprechende Entwicklung eintreten sollte, der Bundestag seine politische Willensbildung auf jeden Fall vorher vornehmen kann.
Die Entsendung von Einheiten der Bundeswehr in die Türkei halten wir angesichts dieser von mir soeben erläuterten Sach- und Rechtslage und auch in Anbetracht dessen, was ich an die Adresse des türkischen Staatspräsidenten gesagt habe, für politisch falsch.
({15})
Sie bringt uns der Gefahr näher, daß die Bundesrepublik in solche militärischen Aktivitäten verwickelt wird, an denen teilzunehmen uns das Grundgesetz nicht erlaubt.
({16})
Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung mit der Frage finanzieller und anderer Hilfen im Zusammenhang mit dem Golfkrieg beschäftigt. Dazu sage ich, daß wir humanitäre Hilfen jeder Art, die geeignet sind, das Leid der vom Krieg Betroffenen zu lindern und Leben zu retten, uneingeschränkt befürworten.
({17})
Dazu gehört jedenfalls für mich - das sage ich aus aktuellem Anlaß - selbstverständlich auch die Pflege verwundeter und verletzter Soldaten, wenn darum ersucht wird.
({18})
Ebenso befürworten wir materielle Hilfen für die von dem Embargo und den Kriegsfolgen in Mitleidenschaft gezogenen Länder.
Außerdem - wir sind Realisten - können sich aus unserer Integration in die NATO-Strukturen - diese Integration hat sich in der Vergangenheit durchaus auch zu unseren Gunsten ausgewirkt - gewisse Zwangsläufigkeiten ergeben. Die von Ihnen angekündigten Zusagen, Herr Bundeskanzler, die sich inzwischen offenbar auch auf Großbritannien erstrekken, werden wir unter diesen Gesichtspunkten prüfen, sobald wir wissen, wofür welche Summen verwendet werden sollen. Ich sage allerdings: Die Erhebung einer Kriegssteuer und die Einführung eines Umlage- und Abruf- - ({19})
- Ich bitte um Entschuldigung. Die Einführung einer solchen Steuer und die Einführung eines Umlage- und Abrufverfahrens
({20})
für finanzielle Beiträge lehnen wir ab. Ein solches Recht könnte unseres Erachtens allenfalls von den Vereinten Nationen als Institution in Anspruch genommen werden.
({21})
Die Solidarität mit Israel
({22})
haben wir vor wenigen Tagen gegenüber dem israelischen - ({23})
Darf ich bitten, jetzt zuzuhören. Ich wiederhole das von gestern: Wir sind in der Aussprache. Wir werden unsere Stellungnahmen abgeben. Versuchen wir, einander anzuhören!
({0})
Meine Damen und Herren, ich habe von der besonderen Situation gesprochen, in der diese Debatte stattfindet. Wenn es Ihnen hilft - ich will hier durchaus meinerseits einen Beitrag leisten -, dann sage ich: die Erhebung einer Steuer aus diesem Grund und in diesem Zusammenhang.
({0})
Die Bewertung, ob der Ausdruck, den ich vorhin verwendet habe, die Sachlage trifft oder nicht, können wir dann den Menschen draußen überlassen. Ich sage das nur, damit wir hier zu einer Entspannung kommen.
({1})
Ich bitte jetzt um Aufmerksamkeit, weil ich einen Punkt behandeln will, in dem ich große, breite Übereinstimmung in diesem Hause feststelle. Dabei geht es um die Solidarität mit Israel. Die Regierung, die Koalition und die Opposition haben die Solidarität mit Israel vor wenigen Tagen in Jerusalem gegenüber dem israelischen Staatspräsidenten gemeinsam bekräftigt. Die Gerechtigkeit gebietet es übrigens, darauf hinzuweisen, daß zwei Mitglieder dieses Hauses, nämlich Konrad Weiß und Freimut Duve, dies schon einige Tage vorher an Ort und Stelle getan haben.
({2})
- Ich spreche von den Mitgliedern dieses Hauses.
Diese Solidarität hat ihre Wurzeln in dem dunklen Kapitel unserer Geschichte, an das zu erinnern wir gerade jetzt immer wieder Anlaß haben. Diese Solidarität ist jetzt in besonderem Maße gefordert, weil sich die Angriffe und Drohungen Saddams gegen ein Land richten, das sich selbst mit einer unglaublichen Disziplin an Kampfhandlungen nicht beteiligt und das Saddam deshalb existentiell bedrohen kann, weil Deutsche ihm dazu Hilfe geleistet haben - übrigens, wie wir seit wenigen Tagen wissen, nicht nur bei der Gasproduktion, sondern auch bei der Veränderung der Raketen, damit sie eine Reichweite von 800 km haben.
In Anbetracht dieser besonderen, so nur im Fall Israels gegebenen Situation sind wir damit einverstanden, daß Israel auf sein Ersuchen hin aus den Beständen der Bundeswehr solche Geräte zur Verfügung gestellt werden, die wie die Partiot-Raketen geeignet sind, bemannte oder unbemannte Flugkörper zu zerstören, bevor diese ihrerseits tödliche Zerstörungen bewirken, oder die geeignet sind, Giftgas aufzuspüren. Auf die Lieferung von U-Booten kann sich allerdings aus den dargelegten Gründen unsere Zustimmung nicht erstrecken.
Die Solidarität, von der ich spreche, schließt Meinungsverschiedenheiten - etwa in der PalästinenserFrage oder in der Frage einer internationalen Konferenz - nicht aus. Sie schließt aber aus, daß die Bundesregierung ihren bisherigen Kurs in der Frage der Rüstungsexporte und der Behandlung von Verstößen gegen die Exportverbote fortsetzt.
({3})
Es ist leider die Wahrheit, wenn ich feststelle: Die Bundesregierung und die Koalition haben auf diesem Gebiet bisher Falsches getan und Notwendiges unterlassen.
({4})
Sie haben unsere immer wieder erneuten Vorstöße
und Vorschläge Mal für Mal abgelehnt und - ich
bedauere, das sagen zu müssen - unseren Kollegen
Gansel, der für uns unermüdlich auf die schlimmen Folgen dieser Haltung hingewiesen hat, sogar persönlich diffamiert.
({5})
Nicht wenigen Repräsentanten der Koalition lag es in diesem Zusammenhang offenbar mehr am Herzen, die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und die Freiheit des Handels gegen, wie es immer wieder hieß, nicht akzeptable Einschränkungen zu verteidigen, als dem Geschäft mit dem Tod einen wirksamen Riegel vorzuschieben.
({6})
Manch einer wäre heute wahrscheinlich froh, wenn das, was er dazu früher gesagt hat, aus den Protokollen gelöscht und getilgt wäre. Wollen Sie denn bestreiten, - ({7})
- Auch Sie, Herr Zwischenrufer! ({8})
- Das ist der Herr, der sich nicht in die Regierung abschieben lassen wollte, wie ich heute gelesen habe. Ja, Herr Gerster!
({9})
Wollen Sie denn bestreiten, daß im Fall Rabta erst amerikanischer Druck und der Aufstand der öffentlichen Meinung zu Reaktionen geführt haben? Wollen Sie bestreiten, daß die Vorlage, die Ihre Regierung nach Rabta eingebracht hat, in der zweiten und dritten Lesung an wesentlichen Stellen verbessert worden ist? Ist es nicht die Wahrheit, daß erst im Bundesrat die sozialdemokratisch geführten Länder, die damals über eine Mehrheit verfügten, wenigstens einen Teil der Verschärfungen, die die Bundesregierung unter dem Eindruck von Rabta der amerikanischen Regierung versprochen hatte, wiederhergestellt haben?
({10})
Außerdem - ich sage das ganz ruhig, um dadurch die Bedeutung zu unterstreichen - : Die Meldung, daß noch 1989 die Ausfuhr von Raketenteilen in den Irak bewilligt und zum Teil sogar mit Hermes-Bürgschaften abgesichert wurde, ist ja inzwischen sogar vom Bundeswirtschaftsministerium im wesentlichen bestätigt worden.
({11})
Die Tragweite dieses Vorgangs bedeutet, daß, jedenfalls - ich drücke mich vorsichtig aus - unter Befassung von Bundesbehörden, deutsche Firmen sogar noch mit Hermes-Bürgschaften daran mitgewirkt haben, die Reichweite dieser Raketen - darum geht es nämlich - so zu verlängern, daß sie Israel erreichen können. Diese Tragweite ist uns allen noch nicht vollständig bewußt.
({12})
Inzwischen ist offenbar ein Sinneswandel eingetreten. Aber es genügt nicht, wenn jetzt alle unserer Forderung zustimmen, die Exporteure des Todes, insbesondere diejenigen, die Gas, Israelis, also Juden, und Deutsche wieder in einen furchtbaren Zusammenhang gebracht haben, wie Schwerverbrecher zu behandeln. Es muß in kürzester Zeit entschieden werden. Der Antrag, den wir vorgelegt haben, gibt dazu schon morgen erneut Gelegenheit. Die notwendigen Gesetzesbeschlüsse müssen sofort folgen.
Als einer, der damals Justizminister war, sage ich: Wenn es möglich war - ich stehe bei aller Skepsis nach wie vor dazu - , ein Kontaktsperregesetz innerhalb einer Woche durch die Gesetzgebungsorgane zu bringen, dann muß es möglich sein, auf diesem Gebiet in einer vergleichbar kurzen Zeit zu einer Entscheidung zu kommen.
({13})
Die bestürzende Äußerung des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, daß es sich bei diesen Exporten - ich zitiere jetzt wörtlich - um ganz normale Geschäfte gehandelt habe, zeigt, wie skandalös unzulänglich das geltende, von der Mehrheit zu verantwortende Recht ist. Ich hoffe im übrigen zugunsten des genannten Präsidenten, daß er sich der Tragweite dessen, was er für normal erklärt, bei dieser Äußerung nicht bewußt war.
({14})
Ich verstehe, daß die Verwicklung deutscher Firmen in solche Geschäfte auch im Ausland kritisiert wird. Wir sind die letzten, die die Berechtigung solcher Kritik bestreiten, insbesondere wenn sie von Israel geübt wird. Diese Kritik unserer ausländischen Freunde wäre - das füge ich hinzu - allerdings noch überzeugender, wenn unsere Freunde und Verbündeten auch ihre eigene Politik auf diesem Gebiet einer sorgfältigen Prüfung unterziehen würden;
({15})
denn Saddams Waffen stammen nun wahrlich nicht nur aus der Bundesrepublik. Mancher Soldat am Golf wird sich seine eigenen Gedanken darüber machen, daß er mit Waffen bekämpft und bedroht wird, die aus seinem eigenen Land geliefert wurden. Wahrscheinlich wäre es gut, jetzt diese Erkenntnis und das starke Engagement der Öffentlichkeit zu nutzen, daß dieser ganze Komplex nach Ende des Krieges zum Gegenstand einer internationalen Untersuchung und einer internationalen Aktivität gemacht wird.
({16})
Ich kann jedenfalls zwischen dem internationalen Drogenhandel, der ja mit zunehmender Entschiedenheit bekämpft wird, und dem internationalen Waffenhandel keinen Unterschied erkennen,
({17})
höchstens den, daß der Waffenhandel noch gefährlicher ist als der Drogenhandel.
({18})
Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung mit der Friedensbewegung beschäftigt. Ich sage freimütig: Mir hat auch nicht alles gefallen, was in den letzten Wochen von Anhängern der Friedensbewegung gesagt oder geschrieben worden ist. Auch die Frage, warum wir alle - nicht nur die Friedensbewegung - nicht schon bei früheren Gelegenheiten protestiert haben, kann man gewiß nicht einfach beiseite schieben. Aber es ist nicht fair, die Frage, warum z. B. gegen den iranisch-irakischen Krieg, bei dem eine Million Menschen, darunter viele Kinder, ums Leben gekommen sind, nicht lauthals protestiert wurde, nur an die Friedensbewegung zu richten;
({19})
die müssen wir an alle, auch an Sie, auch an uns, richten.
({20})
Was diese kritischen Bemerkungen angeht, so stimme ich ausdrücklich der Kritik des Kollegen Konrad Weiß aus der Friedensbewegung zu. Auch Joschka Fischer hat sich in ähnlicher Weise geäußert.
({21})
Die generellen Verurteilungen, die in den letzten Tagen zu hören waren und denen Sie sich, wenn ich es richtig verstanden habe, in der Regierungserklärung gestern leider angeschlossen haben, und insbesondere die Kritik an der Demonstration am letzten Samstag hier in Bonn muß ich für die deutsche Sozialdemokratie jedoch entschieden zurückweisen.
({22})
Man kann ja alles das, was diese Menschen sagen, für falsch halten. Aber wer Krieg für etwas Furchtbares hält und ihn für seine Person nicht mehr als Mittel der Politik akzeptiert, wer dafür eintritt, daß an die Stelle eines schlimmen Übels nicht ein noch schlimmeres gesetzt wird, der ist weder ein Feind Israels noch ein Feind Amerikas,
({23})
sondern einer, der seine respektable Meinung zur Kenntnis bringt;
({24})
der spricht aus - ich glaube, auch die, die anderer Meinung sind, müssen das zur Kenntnis nehmen -, was viele Menschen bewegt.
Weil von der Sorge um das deutsche Ansehen die Rede war, sage ich: Das deutsche Ansehen ist durch die Giftgas- und Waffenlieferanten und durch die beschädigt worden, die ihnen nicht rechtzeitig das Handwerk gelegt haben, nicht aber durch junge Men100
schen, die auf ihre Weise dem Frieden zu dienen versuchen.
({25})
Das sage ich auch gegenüber ausländischen Kritikern bei allem Verständnis für rasche Bewegungen in den letzten Tagen.
Auch unsere ausländischen Freunde müssen sich daran erinnern lassen, daß sie zum Teil noch vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit der deutschen Einigung davor gewarnt haben, daß hier wieder eine - wie soll ich mich ausdrücken? - sehr militante, dem Krieg zugeneigte Stimmung entstehen könnte. Unsere ausländischen Freunde müssen uns sagen, was sie eigentlich kritisieren wollen. Ich bitte unsere ausländischen Freunde, auf der Grundlage unserer Geschichte zu verstehen, daß sie vor Deutschen, die sich - wenn mitunter auch mit falschen Parolen - für den Frieden äußern, weniger Sorge zu haben brauchen als vor dem, was in der Vergangenheit schon einmal war.
({26})
Vielleicht kann das die Oppositon - es gibt ja auch in anderen Ländern ein Zusammenwirken - noch deutlicher aussprechen, als es anderen möglich ist; das wäre auch eine sinnvolle Aufgabenverteilung.
Jetzt noch ein Wort zum deutsch-amerikanischen Verhältnis. Wir fühlen uns dem amerikanischen Volk freundschaftlich verbunden.
({27})
Wir haben nicht vergessen
({28})
- Sie haben leider zuviel vergessen; ich habe Ihnen gerade im Zusammenhang mit dem Waffenexport ein Kapitel vorgetragen -,
({29})
was Amerika zusammen mit anderen getan hat, um uns und Europa von der Gewaltherrschaft Hitlers zu befreien. Wir haben auch nicht vergessen, wie uns nach dem Krieg geholfen wurde.
Wir bejahen das Bündnis. Es bedrückt uns, daß amerikanische Soldaten und Soldaten anderer Nationen ihr Leben auch deswegen einsetzen und verlieren, weil der Diktator über ein Potential gebietet, das ihm ohne Mithilfe von Deutschen so nicht zur Verfügung stünde.
Uns steht auch klar vor Augen, welche Last gerade die Vereinigten Staaten auf sich genommen haben. Aber unsere Verbündeten wußten und wissen, wo nach unserer Verfassung die Grenzen unserer Beteiligung an UNO-Maßnahmen liegen. Und niemand hat das Recht, denen Antiamerikanismus vorzuwerfen, die Argumente verwenden und Ansichten äußern, die auch in Amerika - selbst bis in den Kongreß hinein;
Paul Nitze habe ich zitiert - tagtäglich geäußert werden.
({30})
Zu den Vorgängen im Baltikum hat sich der Bundestag am 14. Januar 1991 in einer nahezu einstimmigen Entschließung geäußert. Ich bekräftige die dort ausgesprochene Verurteilung militärischer Gewaltanwendung, und ich wiederhole den Appell an alle Verantwortlichen, die Konflikte durch friedliche Verhandlungen zu lösen. Niemand könnte es verantworten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergießen käme. Ich füge übrigens in Parenthese hinzu: Unser Blick richtet sich nur auf das Baltikum. Es gibt aber auch andere Republiken im Süden der Sowjetunion, wo sich ähnliche Entwicklungen vollziehen.
Ich sage noch einmal: Niemand könnte es verantworten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergießen käme, die Sowjetunion auf die alten Formen der Machtausübung zurückgeworfen würde und Europa in die Zeiten der Konfrontation zurückfiele.
Michail Gorbatschow weiß - da stimme ich dem Bundeskanzler zu - , daß dabei alles auf dem Spiel steht, was er bisher bewirkt hat. Ich glaube nach wie vor nicht, daß dieser Mann sein eigenes Werk zerstören will. Wir - und nicht nur wir - sollten alles tun, um Gorbatschow zu helfen, damit er stark genug bleibt, um andere an solchen zerstörerischen Aktivitäten zu hindern. Der Teilabzug sowjetischer Truppen aus dem Baltikum, von dem gestern und heute als Folge des Treffens in Washington berichtet wird, ist immerhin ein Zeichen der Ermutigung.
Ihren Darlegungen zur weiteren Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, zu unserem Verhältnis gegenüber den osteuropäischen Ländern und zur Nord-Süd-Problematik können wir in einer ganzen Reihe von Punkten zustimmen. In der Tat ist unsere Verantwortung, die Verantwortung der Bundesrepublik, auf diesen Gebieten durch die Ereignisse der letzten Jahre noch größer geworden. Wir werden allerdings sorgfältig darauf achten - das ist unsere Aufgabe als Opposition - , daß den Worten und den Ankündigungen jeweils auch die Konsequenzen, die Taten folgen.
Am Anfang jeder neuen Legislaturperiode stehen Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung. Die Koalitionsverhandlungen - das ist mir von Teilnehmern bestätigt worden - waren quälend.
({31})
- Sie waren nicht dabei. Sie kann ich ausnahmsweise nicht nennen.
({32})
Nachdem er dabei war, hat er gesagt, er wolle nicht Parlamentarischer Staatssekretär werden. Da will er nicht reingehen. Das hat er gesagt.
({33})
Die Koalitionsverhandlungen - ich muß es wiederholen - waren quälend und in der Beliebigkeit, mit der immer neue Vorschläge präsentiert und auch
- ich muß es leider so nennen - Schaukämpfe aufgeführt worden sind, keine Werbeveranstaltung. Und das vor allem vor dem Hintergrund der bedrohlichen Entwicklung am Golf und im Baltikum. Der Eindruck, jedenfalls Teilen der Koalitionsparteien seien parteipolitische Streitereien auch in dieser Zeit wichtiger als die Befassung mit Krisen, die der Welt den Atem verschlugen, wird Ihnen noch einige Zeit anhaften.
Inzwischen gehen diese Streitigkeiten aber offenbar munter weiter. Die Art und Weise, in der das offizielle Organ der Christlich-Sozialen Union gestern über Herrn Genscher hergefallen ist, läßt für die Zukunft noch einiges erwarten. Ich verhehle nicht
- auch wenn es da und dort Stirnrunzeln verursachen sollte - , auf welcher Seite in dieser Auseinandersetzung meine persönlichen Sympathien liegen.
({34})
Ich füge nun mit einem etwas größeren Ernst hinzu, meine Damen und Herren: Mir ist wohler, daß in dieser Situation ein Mann Außenminister ist, der von der Seite in der Weise angegriffen wird, als wenn dort ein Mann militanter Auffassungen zwar den Beifall des „Bayernkurier", aber nicht den hier im Hause hätte.
({35})
Die Regierung, die Sie, Herr Bundeskanzler, soeben gebildet haben, zeichnet sich - das wird Sie selbst nicht überraschen - eher durch Quantität aus. Sie zählt insgesamt 19 Mitglieder und bis zur Stunde
- wir kommen mit dem Zählen gar nicht so schnell nach - insgesamt 58 Parlamentarische und beamtete Staatssekretäre. Nach den jüngsten Wasserstandsmeldungen sind es also 77 Regierungspersonen. Diese Aufblähung und wunderbare Vermehrung verursacht einen Mehraufwand in zweistelliger Millionenhöhe, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie von der Notwendigkeit von Einsparungen an anderer Stelle und sogar von Steuererhöhungen reden.
Als ärgerlich empfinden es viele auch, daß die Präsenz der Frauen im Kabinett nur durch einen Trick verstärkt worden ist, nämlich durch die Dreiteilung eines Ressorts, dessen Zuständigkeiten schon bisher eher kärglich waren.
({36})
Wenn gerade die Frauen in dieser Dreiteilung einer „Lehr-Einheit" eine Geringschätzung sehen
({37})
und fragen, ob so etwas auch mit Männern gemacht worden wäre, dann kann ich das gut verstehen.
({38})
Von den personellen Entscheidungen - auch dies zu würdigen ist die Pflicht der Opposition - sind sicherlich die Berufung des Herrn Kollegen Möllemann zum Wirtschaftsminister und seine Betrauung mit der Bekämpfung des Rüstungsexports die originellste Entscheidung.
({39})
In diesem Punkt stimme ich nun wieder dem „Bayernkurier" zu.
Hinsichtlich der Qualifikation des Herrn Möllemann verweise ich auf die Bekundung eines sachverständigen Zeugen, der heute leider nicht anwesend ist, aber auf den ich mich gelegentlich berufen kann, nämlich die des Grafen Lambsdorff.
({40})
- Ich muß sagen: Ihre geistigen Anstrengungen überschreiten heute morgen wirklich das bisher Gewohnte. ({41})
Der sachverständige Zeuge Graf Lambsdorff hat nämlich im Zusammenhang mit dieser Personalentscheidung, als er sie noch bekämpfte, - ({42})
- Beim Grafen ändert sich das ja manchmal. Wenn er Rechtsauskünfte bekommt, dann ändert sich das ja auch gelegentlich.
Als er sie noch bekämpfte, hat er der Öffentlichkeit mitgeteilt - das Zitat steht hier zur Abholung gerne zur Verfügung - , daß bei ihm, also dem Grafen, vor allem von seiten kleiner und mittlerer Unternehmen massenhaft Protest eingegangen sei und die Frage aufgeworfen worden sei: Ist die FDP verrückt geworden? Offenbar hat der Graf keinen Grund gesehen, diese Frage zu verneinen.
({43})
In die weitere Entwicklung dieser vom Grafen aufgeworfenen Frage mischen wir uns nicht ein; aber zitieren dürfen wir sie.
Originell ist auch, Herr Bundeskanzler, die Berufung des Herrn Kollegen Spranger zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
({44})
- Nein, ich gehe nur bis ins protestantische Franken, Herr Bötsch. - Welche Überlegungen zu dieser Berufung geführt haben, wird Ihr Geheimnis bleiben. Ich bin im Zweifel, ob die Länder der Dritten Welt diese Ernennung als Beweis dafür ansehen, daß der NordSüd-Problematik besondere Bedeutung beigemessen wird.
({45})
Meine Damen und Herren, gefreut haben wir uns ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten darüber, daß Herr Kollege Schäuble sein Amt fortführt.
({46})
Das setzt ein beachtliches Beispiel und wird viele, die
sich in vergleichbaren Situationen befinden, ermuti102
gen, diesem Beispiel zu folgen und nicht aufzugeben.
({47})
Zum innenpolitischen Teil der Regierungserklärung werden sich meine Kollegen und Kolleginnen im einzelnen äußern. Ich konzentriere mich auf vier Punkte: erstens auf die Art und Weise Ihres Umgangs mit den Versprechen, die vor der Bundestagswahl gemacht wurden, zweitens auf das Fehlen eines schlüssigen Konzepts für die gesellschaftliche Einigung Deutschlands, die jetzt der staatlichen Einigung folgen muß, drittens auf die Frage nach der ökologischen Erneuerung unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft und viertens auf die Frage nach dem, was in den nächsten vier Jahren geschehen muß, um das tägliche Wohlergehen der Menschen zu sichern, die uns ja gerade auch deshalb gewählt haben.
Vor der Wahl - ich kann das nicht ausklammern - haben Sie den Menschen in den neuen Bundesländern gesagt, es werde niemandem schlechtergehen als zuvor; Sie selber kennen das Zitat. Den Wählerinnen und Wählern in den alten Bundesländern haben Sie gesagt - wörtliches Zitat - : „Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen."
({48})
- Entschuldigung, vielleicht können Sie sich nachher das Zitat in Fotokopie von mir geben lassen. Aber ich lese es Ihnen auf Grund Ihres Zwischenrufes auch gerne noch einmal vor.
({49})
Das Zitat steht im Bulletin der Bundesregierung - das ist sicherlich keine Fehlmeldung - :
Und für die Menschen der Bundesrepublik gilt: Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen.
({50})
- Würden Sie vielleicht etwas Geduld haben?
({51})
Graf Lambsdorff hat für seine Partei das gleiche erzählt. Er hat sogar vor wenigen Tagen, am 13. Januar, diesmal kurz vor der Wahl in Hessen, noch einmal wörtlich beteuert:
Es bleibt dabei, daß Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit nicht notwendig sind.
({52})
In aller Ruhe sage ich: Das war nicht redlich. Sie haben diese Versprechen ja auch nicht halten können; Sie haben sie gebrochen.
({53})
- Hören Sie doch in Ruhe zu; es kommt ja alles.
({54})
- Entschuldigung, Herr Gerster, ich bitte, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich meine Rede so halte, wie es mir paßt, und nicht so, wie es Ihnen paßt.
({55})
Sie haben sich mit allerlei Spitzfindigkeiten und Wortklaubereien über den angeblichen Unterschied zwischen Steuern, Abgaben und Gebühren oder die Gründe für die Steuererhöhungen herauszureden versucht.
({56})
Wie wäre es eigentlich gewesen, wenn Sie vor der Wahl im Herbst folgendes gesagt hätten: Wir sind dankbar, daß die staatliche Einheit gelungen ist und die Zustimmung unserer Nachbarn, Verbündeten und Partner gefunden hat. Aber - so hätte man fortfahren können - ihre gesellschaftliche Vollendung wird noch große Anstrengungen erfordern.
({57})
Jede und jeder in der ehemaligen DDR wird den Übergang von dem bisherigen System und seiner schlimmen Hinterlassenschaft zur neuen Ordnung spüren, und vielen wird zunächst an Umstellung und an Veränderung der Lebensgewohnheiten sowie an existentiellen Unsicherheiten eine ganze Menge zugemutet werden, bevor es dann wirklich aufwärtsgeht.
({58})
Die Menschen in den alten Bundesländern - so hätte man weiter sagen können - werden Verzichte leisten müssen; denn die Teilung kann nun einmal nur durch Teilen überwunden werden. Dafür - so hätte man fortfahren können - sind große Summen erforderlich. Wir werden sie in sozial gerechter Weise nicht nur durch Einsparungen, sondern auch durch Steuererhöhungen aufbringen. Zu diesem Zweck wird zunächst die im Grundgesetz vorgesehene Ergänzungsabgabe erhoben.
({59})
Das haben wir gesagt. Sie haben das nicht gesagt. Sie haben uns und vor allem Oskar Lafontaine deswegen kritisiert.
({60})
Sie haben die Größe der Aufgabe beschönigt. Ich glaube, das war ein kardinaler Fehler. Denn die Geschichte zeigt: Die solidarischen Kräfte eines Volkes weckt man nicht, indem man die Lage verschleiert. Man weckt die Kräfte zu gemeinsamer Anstrengung, indem man den Menschen die Wahrheit sagt und sie dann an der Anstrengung teilnehmen läßt.
({61})
Jetzt hat Sie die Wirklichkeit eingeholt. Die Menschen in den neuen Bundesländern sind desillusioniert. Schlimme Parolen, die unter die Menschen gebracht werden, finden leider nicht sofort und hundertprozentig Ablehnung. Vor allem die Arbeitslosigkeit
bedrückt sie. Unter Einschluß der Kurzarbeit sind jetzt schon fast 2,5 Millionen Männer und Frauen in den neuen Bundesländern davon betroffen. Und wir alle wissen: Wenn am 31. März 1991 die Übergangszahlungen für diejenigen auslaufen, die in großer Zahl aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden mußten - das geben wir zu - , dann wird die Arbeitslosigkeit noch einmal steigen.
Die Defizite der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden sind von Ihnen stets zu niedrig angesetzt worden. Ich erinnere mich an die Gespräche von damals, als es um den Einigungsvertrag ging. Herr Kollege Waigel, als Walter Romberg, der sozialdemokratische Finanzminister der damaligen DDR, die Defizite im Sommer 1990 mit rund 90 Milliarden DM bezifferte, haben Sie ihn als Defätist bezeichnet und seine Ablösung gefordert. Heute sprechen Sie selber schon von 115 Milliarden DM. Das ist aber immer noch zuwenig. Sonst würden doch die Ministerpräsidenten von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die Herren Biedenkopf und Gomolka, und der anderen Bundesländer nicht fast täglich vor der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit ihrer Länder und Gemeinden warnen.
Herr Romberg hat sehr viel mehr Recht gehabt als Sie, und Sie haben seine Ablösung gefordert. Ich will diese gedankliche Logik nicht weiterführen, weil ich nicht für solche Forderungen bin.
({62})
Aber das, was Sie heute sagen, Herr Waigel, wird doch von den Herren Biedenkopf, Gomolka, Kühbacher, Stolpe usw. als weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibend beschrieben.
Inzwischen sind Sie übrigens natürlich auch dabei, die Steuern zu erhöhen - ich meine nicht die gestrige Erklärung, sondern die von vorher - , und zwar - das beklagen wir zusätzlich - unter Mißachtung der Gebote der sozialen Gerechtigkeit. Was ist denn die Verteuerung des Telefonierens anderes als eine Telefonsteuer,
({63})
die vor allem Menschen trifft, die auf das Telefonieren angewiesen sind, weil sie sonst vereinsamen? Herr Schwarz-Schilling hat doch mit jeder wünschenswerten Deutlichkeit gesagt, daß er das Geld nicht für die Zwecke der Post braucht, etwa dafür - was wir befürworten würden - , um in den neuen Bundesländern noch rascher bessere Leitungen zu bauen, sondern weil ihm höhere Ablieferungen auferlegt worden sind. Man kann darüber streiten wie ein Advokat, aber das ist eine Telefonsteuer. Sie sollten das zugeben.
({64})
Das ist nun eine der Erläuterungen, die Herr Gerster haben wollte.
({65})
Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden um rund 60 % erhöht. Dies ist die reale Steigerung. Es ist immer ein bißchen täuschend, wenn von 2,5 Prozentpunkten die Rede ist. Die Beiträge werden um 60 % erhöht. Das ist im Ergebnis, in der Wirkung eine Steuer. Denn die Milderung und Überwindung der Arbeitslosigkeit, die sich aus der notwendigen Aufarbeitung der schrecklichen Hinterlassenschaft und der Umstellung ergibt, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die uns alle angeht und die deshalb von uns allen, von unserem Gemeinwesen insgesamt finanziert werden müßte. Sie ziehen allein die Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber heran. Warum eigentlich? Warum bleiben denn alle übrigen, etwa die Selbständigen, die Beamten oder die Besitzer großer Vermögen, verschont?
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Wo bleiben diesmal die Krokodilstränen, die Graf Lambsdorff sonst immer vergießt, wenn von der Erhöhung der Lohnnebenkosten die Rede ist?
Gestern sind Sie einen Schritt weitergegangen und haben selbst erklärt, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Steuern erhöhen wollen. Sie sagen, diese Steuererhöhungen seien jetzt wegen des Golfkrieges notwendig geworden.
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Herr Bundeskanzler, ich drücke mich vorsichtig aus: Ich sehe darin eine Fortsetzung der Vernebelung.
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Sie wissen doch genauso gut wie wir, daß der Finanzbedarf zur Vollendung der deutschen Einheit den in- folge des Golfkrieges um ein Vielfaches übertrifft. Da ist es doch geradezu peinlich, daß nun der Golfkrieg als eine Art Ausrede herhalten soll.
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Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Die Wählerinnen und Wähler sind nicht mit der Wahrheit bedient worden.
({70})
Nach dem 2. Dezember 1990 ist das Gegenteil von dem geschehen, was Sie vorher versprochen haben. Das Wahlergebnis in Hessen - keiner weiß das besser als Kollege Dregger - war dafür eine erste Quittung.
({71})
- Sie meinen, Herr Wallmann war schuld an dem Wahlergebnis? Ich bin eher anderer Meinung. Ich kann mich täuschen. Ich bin sicher: Weitere Quittungen werden folgen. Übrigens spricht vieles dafür, daß der starke Rückgang der Wahlbeteiligung und die Verdrossenheit auch hier ihre Wurzel haben könnte.
({72})
Was ich soeben ausgeführt habe, zeigt, daß die Koalition kein schlüssiges Konzept für die Vollendung des deutschen Einigungsprozesses besitzt. Unklar ist aber nicht nur die Finanzierung dieses Prozesses. Ebenso unklar ist auch nach Ihrer gestrigen Regierungserklärung, was nun konkret geschehen soll. Der
Eindruck ist, daß die Hilferufe aus den neuen Bundesländern und gerade auch Ihrer Parteifreunde verhallen und daß die Menschen in den neuen Bundesländern den Eindruck gewinnen, zu vieles bliebe offen und in zu vielem blieben sie sich selbst überlassen. Unser Konzept versucht klare und realistische Antworten. Ich will die wichtigsten Elemente vortragen.
Erstens: bessere finanzielle Ausstattung der neuen Bundesländer und Gemeinden. Wir halten das für eine Kernfrage.
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Herr Waigel, in aller Ruhe: Wir haben die 70 Milliarden DM, die Sie - zugegebenermaßen in einer schwierigen Situation - errechnet haben, schon damals für absolut unzureichend gehalten. Deswegen sagen wir: bessere Ausstattung. Wo finden Sie denn eine Opposition, die sagt, zu diesem Zweck ist sie bereit, der Erhebung der Ergänzungsabgabe zuzustimmen und sozial gerecht Steuererhöhungen mitzutragen?
({74})
Aber dazu bedarf es auch des Verzichts auf Steuersenkungen. Herr Bundeskanzler, die geplante Aufhebung - Sie haben diesen Punkt gestern übergangen, aber so steht es in den Koalitionsvereinbarungen - der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer auch in den alten Bundesländern mit einem Volumen von 6 bis 8 Milliarden DM im Jahr ist in Anbetracht dieses Finanzbedarfes und der angekündigten Steuererhöhungen geradezu absurd. Es darf doch nicht Steuererhöhungen geben, damit jetzt die Vermögensteuer oder die Gewerbekapitalsteuer wegfallen kann.
({75})
Es mag auf der Bundesratsbank mit gemischten Gefühlen gehört werden, aber ich sage für die Opposition ausdrücklich: Neben dem Bund müssen sich auch die alten Bundesländer stärker engagieren,
({76})
und zwar die A-, B-, C- und D-Länder. Das ist keine parteipolitische Frage.
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Meine Damen und Herren, ich habe immer gedacht, Sie haben die äußerste Höhe Ihrer geistigen Möglichkeiten schon erreicht. Aber es geht immer noch höher.
({78})
- Bei mir sind Zwischenrufe erlaubt. Nur zu!
({79})
- Lieber Kollege Dregger, ich bin mit meinen inzwischen höheren Jahren gerne für mein Gesicht verantwortlich.
({80})
Ich finde es nicht sehr hilfreich, daß wir uns gegenseitig unsere Gesichter vorhalten. Mir würde zu manchem Gesicht hier auch eine Menge einfallen.
({81})
Der besonderen Situation Berlins muß bei all dem Rechnung getragen werden. Alle Probleme des Zusammenwachsens treten hier in geradezu exemplarischer Weise auf. Deshalb braucht Berlin in der nächsten Zeit, was das Volumen angeht, eher mehr als weniger Hilfe. Die Zielrichtung dieser Hilfe muß sich allerdings den veränderten Verhältnissen anpassen.
Ich glaube, es ist gut, daß Sie, Herr Bundeskanzler, die Frage des Regierungssitzes und Parlamentssitzes nicht angesprochen haben. Ich will Ihrem Beispiel folgen. Aber ich glaube, eine sich anbahnende Verständigung darüber feststellen zu können - und darum will ich das aussprechen - , daß die Entscheidung bis zur Sommerpause getroffen und nicht auf unabsehbare Zeit weiter hinausgeschoben werden sollte. Darauf haben beide Städte einen Anspruch.
({82})
Zweitens. Spätestens sobald das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, müssen die bodenrechtlichen Regelungen des Einheitsvertrages präzisiert und die Verfahren gestrafft werden. Es ist unerträglich, daß Rückgabeansprüche den wirtschaftlichen Aufschwung auf Jahre verzögern können und ihn schon jetzt verzögern.
({83})
Auch da wird mit falschen Alternativen gearbeitet: Die einen seien für das Recht, und die anderen verteidigten das Unrecht, das die SED und die damals Regierenden zu verantworten hätten. Das ist nicht wahr; es geht um eine Abwägung. Die Abwägung muß in all den Fällen, in denen der wirtschaftliche Aufschwung betroffen ist, dazu führen, daß Entschädigung an die Stelle der Rückgabe tritt.
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Den entscheidenden Gemeinden und Landräten muß Mut gemacht werden, indem die neuen Bundesländer die finanzielle Haftung dafür übernehmen, wenn sie eine solche Entscheidung treffen. Und es muß mit Sofortvollzug gearbeitet werden.
Drittens. Die Verwaltung in den neuen Bundesländern muß so rasch wie möglich voll handlungsfähig werden. Dafür bedarf es wirksamerer Anreize für Verwaltungskräfte aus den alten Bundesländern, vorübergehend oder für immer in die neuen Bundesländer überzuwechseln. Dem Dank, den Sie ausgesprochen haben, schließe ich mich an. Aber wir wissen, daß materielle Dinge hier eine Rolle spielen. Mir ist es lieber, wir geben mehr Geld aus, und die Verwaltungen drüben werden endlich handlungsfähig; denn handlungsfähige Verwaltungen sind auch eine unabDr. Vogel
dingbare Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung.
Außerdem glaube ich, wir kommen überhaupt nicht darum herum: Die Vergütung muß auch für diejenigen erhöht werden, die im Verwaltungsdienst der neuen Bundesländer tätig sind. Diese 35 To sind auch eine Bremse.
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Viertens: absoluter Vorrang für die Finanzierung der Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur.
Fünftens: Auflegung umfassender Programme zur Qualifizierung, Fortbildung und Umschulung sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Beschäftigung derer, denen Arbeitslosigkeit droht oder die schon arbeitslos sind. Wir können doch wohl übereinstimmen, wenn ich sage: Jede Mark, die hier eingesetzt wird, bewahrt Menschen vor Hoffnungslosigkeit und steigert auch bereits kurzfristig die Produktivität.
Sechstens: Erarbeitung eines längerfristigen Programms zum Abbau der ökologischen Altlasten in der Reihenfolge, die sich aus dem Maße ihrer Gefährlichkeit für Mensch und Natur ergibt. Wir wissen, daß die schlimme Hinterlassenschaft des SED-Regimes auf diesem Gebiet nicht von heute auf morgen bewältigt werden kann.
Siebtens. Das gilt auch für die noch schlimmeren Zerstörungen, die das Regime mit seinem menschenverachtenden Stasi-Praktiken hinsichtlich des wechselseitigen Vertrauens in die Gesellschaft und der Selbstachtung derer angerichtet hat, die ihm in die Hände gefallen sind. Hier sollten wir aus den alten Bundesländern uns zurückhalten und uns von denen raten lassen, die das selbst über Jahrzehnte am eigenen Leib erfahren haben. Ich folge denen aus den neuen Bundesländern, die uns sagen: Die Rehabilitation der Opfer muß an erster Stelle stehen; die bisherigen Rehabilitationsvorschriften sind ungenügend.
({86})
Auch muß verhindert werden, daß ehemalige StasiOffiziere - ob im besonderen Einsatz oder nicht im besonderen Einsatz, ob gesellschaftliche Kräfte oder andere Kräfte - ihre destruktive Arbeit unverändert fortsetzen können, indem man ihren Denunziationen Gehör schenkt oder ihnen angebliches Material abkauft, um es zu innenpolitischen Zwecken nutzen zu können.
({87})
Wir in den alten Bundesländern sollten uns bei all dem vor pharisäerhaften Urteilen hüten,
({88})
insbesondere auch über diejenigen, die mit den Staatsorganen der ehemaligen DDR in Kontakt standen, weil sie nur so etwas bewirken und Bedrängten helfen konnten.
({89})
Ich möchte, daß wir in diesem Punkt möglichst dicht beieinander bleiben.
Achtens. Ein breiter Dialog in Gesamtdeutschland ist bisher nur in Ansätzen in Gang gekommen. Wir halten den Prozeß, der im Einklang mit dem Einigungsvertrag aus dem Grundgesetz die endgültige Verfassung der größeren Bundesrepublik werden lassen soll, für ein wichtiges Mittel, diesen Dialog zu verbreitern und zu verstärken. Meine Damen und Herren, die intensive Mitwirkung gerade der Menschen in der ehemaligen DDR und die abschließende Inkraftsetzung der Verfassung durch eine Volksabstimmung können bewirken, daß sich diese Menschen nicht mehr allein als Aufgenommene verstehen, die zu etwas schon Fertigem und nicht mehr Beeinflußbarem hinzutreten, sondern als Bürgerinnen und Bürger, die mit uns gemeinsam die deutsche Einigung vollenden und die Konstitution dieses neuen Deutschland mitgestalten und ihre Erfahrungen in diese Konstitution einbringen.
({90})
Dazu gehört aber, daß man diesen Prozeß ernst nimmt und nicht nur als eine von jenen Grundgesetzänderungen ansieht, wie sie immer wieder einmal vorkommen. So aber klang es gestern in der Regierungserklärung.
Was ich über das Verfassungsrecht sagte, gilt auch für die Erneuerung des Schwangerschaftsrechtes, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens nicht mit strafrechtlichen Mitteln, sondern mit Rechtsansprüchen auf Hilfe und Beratung und einer Veränderung des Bewußtseins in unserer Gesellschaft erreichen will.
({91})
Auch hier ist ein breiter, die Menschen in den neuen Bundesländern einschließender Dialog die Voraussetzung dafür, daß eine breit akzeptierte Lösung gefunden wird.
Herr Bundeskanzler, Sie haben auf der Grundlage der Entspannungs-, Ost- und Deutschlandpolitik Ihrer sozialdemokratischen Vorgänger ihren Beitrag zur Herstellung der staatlichen Einheit geleistet. Ich halte es für ein Gebot der Fairneß, das hier an dieser Stelle auszusprechen. Gerade deshalb appelliere ich aber an Sie, sich persönlich für eine ungehinderte und breite Verfassungsdiskussion einzusetzen. Niemand muß doch im Ernst befürchten, daß dabei die großen und wichtigen Errungenschaften des Grundgesetzes, zu denen wir alle beigetragen haben, angetastet werden oder sogar auf der Strecke bleiben.
({92})
Im übrigen besteht unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei der Vollendung der deutschen Einheit auch in anderen damit zusammenhängenden Fragen fort. Es liegt an Ihnen, ob eine solche Kooperation zustande kommt. Wenn nicht bereits andere Motive dafür ausreichen, sollte jedenfalls ein Blick auf die
Zusammensetzung des Bundesrates die richtige Antwort nahelegen.
Jeder versteht, daß die Sorge um den Golfkrieg und um die Entwicklung im Baltikum und in der Sowjetunion die politische Aufmerksamkeit fast vollständig beansprucht. Schon die Probleme der deutschen Einigung treten dahinter im Augenblick stärker zurück, als es ihrer Bedeutung für Millionen von Menschen entspricht. Deshalb habe ich diese Probleme ausführlicher angesprochen. Wir dürfen aber auch die anderen innenpolitischen Aufgaben nicht vergessen, von deren Bewältigung das Wohlergehen unseres Volkes in besonderem Maße abhängt. Wir dürfen auch nicht so tun, als ob es in den alten Bundesländern nicht auch zu verbessern, zu verändern und zu reformieren gäbe.
({93})
Dazu gehören die ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft und die substantielle Verminderung des Energieverbrauches. Die Golfkrise hat die Notwendikgeit, unsere Abhängigkeit vom Öl zu verringern, übrigens noch zusätzlich unterstrichen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch.
Weiter gehören dazu aber auch das Zuwanderungsproblem, dessen Lösung - wenn ich es richtig verstanden habe - bei den Koalitionsverhandlungen eher ausgeklammert wurde, und die Pflegeproblematik, deren Regelung Sie vertagt haben, obwohl die Zahl der Pflegebedürftigen ständig steigt und der Pflegenotstand andauert. Wir sind ja bereit, der Einladung zu folgen, an einer erneuten Diskussion teilzunehmen. Aber, Herr Bundeskanzler, auf diesem Sektor fehlt es doch nicht an der breiten Diskussion, sondern daran, daß es für die vernünftige Lösung deshalb keine Mehrheit gibt, weil sich Ihre Koalition auf diese vernünftige Lösung bisher nicht einigen konnte.
({94}) Trotzdem sind wir zur Diskussion bereit.
Ich nenne die Wohnungsnot, die den Menschen im Osten und im Westen unseres Landes zunehmend zu schaffen macht und die durch Fehlentscheidungen in den vergangenen Jahren zusätzlich verschärft worden ist. Auch hier laufen die halbherzigen Außerungen der Koalitionsvereinbarungen und der Regierungserklärung im Ergebnis auf eine Vertagung und damit eher auf ein Laufenlassen hinaus. Denn diese 20-Prozent-Entscheidung ist ja nun wirklich auch nicht Fisch und nicht Fleisch.
Dann erwähne ich den drohenden Verkehrsinfarkt, der sich durch immer häufigere und umfassendere Verkehrszusammenbrüche ankündigt und schon jetzt Millionen von Menschen täglich das Leben vergällt!
Auch die Gleichstellung der Frauen ist noch immer weit von ihrer Realisierung entfernt.
Wir werden dabei vor allem auch für die soziale Gerechtigkeit kämpfen. Sie konfrontieren uns immer wieder mit schlimmen Verstößen gegen diese Gerechtigkeit. Einige habe ich schon genannt. Ein weiteres schlimmes Beispiel ist die Ausweitung der Steuervergünstigung für Hilfen in Privathaushalten. Sie werden niemandem klarmachen können, Herr Bundeskanzler, es sei gerecht, daß jemand mit 240 000 DM im Jahr
für eine Kinderhilfe im Hause vom Staat über 9 500 DM erstattet bekommt, während der Normalverdiener noch nicht einmal die Kindergartenbeiträge für den Kindergartenplatz von der Steuer abziehen kann. Das ist doch ungerecht!
({95})
Ich will noch etwas ansprechen - ich weiß, wie schwierig das ist, und man kann das auch nicht schwarzweiß darlegen - : Es geht darum, wer die wegen der Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetrages zuviel gezahlten Steuern zurückbekommt. Ich klage Sie wegen der Verfassungswidrigkeit gar nicht an. Ich weiß ja, wann das Gesetz gemacht worden ist. Ich spreche von der Rückerstattung. Nur der bekommt die zuviel gezahlten Steuern zurück, der sich einen Steuerberater leisten kann oder eben, weil er dem Staat mißtraut, in jedem Fall von vornherein Einspruch einlegt. Das ist doch nicht das letzte Wort. Das kann doch nicht so bleiben. Sie laufen nämlich auch Gefahr, Herr Finanzminister, daß jeder Steuerzahler in Zukunft vorsorglich alle Rechtsmittel ausschöpft, weil er dann bei Rückerstattungen dabei ist, während der Gesetzesgläubige der Dumme ist.
({96})
Sie Herr Bundeskanzler, haben gestern auf solche Feststellungen einmal mehr mit dem Vorwurf geantwortet, hier äußere sich der Sozialneid. Herr Bundeskanzler, meine Kritik geht von einem aus, der ja von diesen unmöglichen Bestimmungen begünstigt wird. Ich könnte ja, wenn ich wollte, von der Steuerbegünstigung Gebrauch machen. Ich habe natürlich auch einen Steuerberater, der dafür sorgt, daß die Dinge berücksichtigt werden. Das ist doch nicht Sozialneid. Ich spreche doch für andere, nicht für mich.
({97})
Lassen Sie sich bitte sagen: Wer das Streben nach Gerechtigkeit als Neid herabsetzt, der läßt erkennen, daß er ein Grundelement unseres Zusammenlebens geringer achtet, nämlich eben die Gerechtigkeit,
({98})
von der übrigens schon Augustinus gesagt hat - damit Sie sich nicht wieder aufregen: ich zitiere ihn -, die Staaten seien Räuberbanden, wenn sie der Gerechtigkeit entbehrten. Und deswegen kämpfen wir für Gerechtigkeit!
({99})
Die Koalitionsvereinbarungen und der Start der Bundesregierung sind auf breite Kritik gestoßen, und zwar bis hin zu Zeitungen, in denen wir das üblicherweise nicht feststellen können: „Niederschmetternd mittelmäßig", „Der Start ist mißglückt", „Mit Geburtsfehlern - Kabinett ohne Glanz", „Ohne Phantasie und Mut", „Auf langer Talfahrt" gehören dabei noch zu den milderen Urteilen. Es wird niemanden
verwundern, daß wir Sozialdemokraten zu keinem anderen Ergebnis kommen.
({100})
Unsere Konsequenz ist aber, daß wir unsere Alternativen noch sorgfältiger entwickeln.
({101})
- Nun kümmern Sie sich mal nicht um unsere Führungsstruktur. Wir machen so etwas in zehn Tagen. Gucken Sie einmal, wie das anderswo zugeht!
({102})
Kümmern Sie sich mal nicht um alles, Herr Bohl!
({103})
Schauen Sie mal, daß Ihre Leute an der richtigen Stelle klatschen und nicht immer die Zurufe erst kommen müssen, also bitte!
({104})
Es wird niemanden verwundern, daß wir zu keinem anderen Ergebnis kommen. Unsere Konsequenz ist, daß wir unsere Alternativen noch sorgfältiger entwikkeln und noch nachdrücklicher vertreten werden. Unsere Aufgabe - die Aufgabe und Funktion der Opposition - ist noch wichtiger geworden. Wir können nicht an Stelle der Regierung oder der Mehrheit handeln, aber wir haben vielfältige Möglichkeiten, auf die Meinungsbildung und den Entscheidungsprozeß Einfluß zu nehmen. Immer wieder erleben wir ja auch, daß uns Dinge, die wir gegen Ihren Widerstand vorschlagen, nach einiger Zeit als Mitteilungen, als alte Bekannte, in der Regierungserklärung begegnen, zum Beispiel das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer. Das ist ein alter Bekannter; er sei herzlich begrüßt!
({105})
Wir werden all diese Möglichkeiten nutzen, damit die Politik korrigiert wird, damit Schaden von unserem Volk abgewendet wird und damit Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität die zentralen Grundwerte unseres Gemeinwesens bleiben - im Streit, wo immer notwendig, im Zusammenwirken, wo immer möglich. Als die älteste demokratische Partei Deutschlands kennen wir unsere Verantwortung. Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden.
({106})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, es gab Feststellungen in Ihrer Rede, denen ich zustimmen kann,
und einige Passagen, denen ich mit Vergnügen zugehört habe.
({0})
- Das steht auch nicht im Widerspruch dazu. Ich möchte feststellen, daß Sie es nicht leicht haben. Ich nehme an, daß Sie dieser Feststellung zustimmen.
({1})
Sie sollen die Opposition anführen mit einer Partei im Rücken, die in allen existentiellen Fragen der deutschen Nation zerstritten ist.
({2})
„SPD in der Bewertung des Golfkriegs heillos zerstritten" ,
({3})
so eine aktuelle Überschrift in einer der heutigen Tageszeitungen.
Was für die Bewertung des Golfkriegs gilt, galt auch für die Bewertung der Chancen, die sich nach dem 9. November 1989 für die Verwirklichung der deutschen Einheit boten. Es lag gewiß nicht an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Bundesregierung, von der Sie gesprochen haben, wenn die SPD in dieser historischen Stunde der deutschen Geschichte keine einheitliche Position gefunden hat und nicht mit Nachdruck für die Verwirklichung der Einheit zu dem Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem sie möglich war.
({4})
Herr Dr. Vogel, Sie sollen die Opposition gegen eine Regierung anführen, die sich zwar von Zeit zu Zeit von der deutschen oder internationalen Presse in die Mangel nehmen läßt - daß der Zeitpunkt der Koalitionsverhandlungen dafür besonders geeignet ist, wissen wir auch noch aus einer Zeit, in der die SPD an solchen Koalitionsverhandlungen beteiligt war -, von der sich dann aber immer schnell herausstellt, daß sie die erfolgreichste Regierung in Europa ist.
({5})
Nach acht Jahren der Kanzlerschaft von Helmut Kohl ist Deutschland wiedervereinigt.
({6})
- Das haben wir nicht durch Gelächter geschafft, sondern durch aktive Politik für die deutsche Einheit! Nach acht Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl ist die Wirtschaft im Westen Deutschlands in bester Verfassung, haben die neuen Bundesländer trotz aller Schwierigkeiten eine gute Chance eines wirtschaftlichen Aufschwungs, ist das soziale Netz wieder gefestigt und sind wir Vorreiter des Umweltschutzes in Europa. Auf diese und andere Erfolge sind wir stolz. Wir werden unsere bewährte Politik fortsetzen.
({7})
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers weist den Weg.
Wir leben in einer schwierigen Phase der internationalen Politik. Die Gewaltanwendung sowjetischer Truppen gegen die baltischen Republiken und der Krieg in der Golfregion sollten auch der Opposition die Augen geöffnet haben. Recht und Sicherheit, Freiheit und Einheit werden den Völkern nicht geschenkt. Sie müssen in der politischen Praxis erarbeitet und gegen alle negativen Einflüsse verteidigt werden. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, der sich niemand entziehen kann oder entziehen sollte.
Die deutsche Politik in der vor uns liegenden Legislaturperiode steht daher unter einem zentralen Gebot: dem Gebot der Solidarität. Der Bundeskanzler hat das gestern in seiner eindrucksvollen Regierungserklärung im einzelnen begründet.
Meine Damen und Herren, in der Tat geht es in der deutschen Politik um Solidarität: Solidarität in Deutschland, Solidarität in Europa und Solidarität in der Welt.
({8})
Zur Solidarität in Deutschland: Viele Menschen in Deutschland sind verunsichert. Zu lange hat es am parteiübergreifenden Gesamtwillen zur Einheit gefehlt. Die SPD im Westen hat den Einigungsprozeß des Jahres 1990 mehr erlitten als miterkämpft.
({9}) Darunter leidet die SPD noch heute.
({10})
Sie, meine Damen und Herren der SPD, hatten - wie viele Äußerungen Ihres Kanzlerkandidaten und seiner Mitstreiter zeigten ({11})
nicht begriffen, daß unsere nationale Frage für 16 Millionen Menschen zugleich die soziale Frage gewesen ist.
({12})
Ihnen hat es daher damals nicht nur an politischem Weitblick gefehlt, sondern ein Stück weit auch an der Solidarität mit den Unterdrückten.
({13})
Oder ging es der SPD und anderen Kritikern zu schnell? Heute sehen doch wohl alle, daß das Fenster zur deutschen Einheit nur für kurze Zeit offenstand. Dafür, daß Helmut Kohl die unwiederbringliche Gunst der Stunde genutzt hat, sollten wir alle ihm dankbar sein.
({14})
Die Solidarität muß auch - und damit greife ich eine Forderung von Jochen Vogel auf - das Verhältnis zwischen den alten und den neuen Bundesländern bestimmen. Die alten haben dazu auch deshalb Anlaß, weil sie in mancherlei Hinsicht von der Wiedervereinigung profitieren. Nahezu überall in der westlichen Welt gibt es Anzeichen nachlassender Konjunktur, ja der Rezession. Im alten Bundesgebiet
setzt sich der wirtschaftliche Aufschwung dagegen fort - nicht trotz, sondern wegen der Wiedervereinigung. Die deutsche Einheit ist das beste Konjunkturprogramm, das sich denken läßt.
({15})
Die westlichen Bundesländer haben ihretwegen Steuermehreinnahmen, weit über die bisherigen Schätzungen hinaus. Sie sollten diese Mehreinnahmen mit den neuen Bundesländern teilen, und zwar sofort und nicht erst 1994.
({16})
Herr Kollege Schauerte hat im Landtag von Nordrhein-Westfalen bemerkenswerte Ausführungen zum Verhältnis von Steuermehreinnahmen der westdeutschen Länder und Gemeinden zu ihren Aufwendungen für die deutsche Einheit gemacht. Danach übersteigen nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in anderen Bundesländern die einigungsbedingten Mehreinnahmen erheblich die einigungsbedingten Mehrausgaben.
Ich sage das ohne Vorwurf, aber mit der deutlichen Aufforderung an Länder und Gemeinden in Westdeutschland, sich nun zu einer großen und wirkungsvollen solidarischen Leistung an die Länder und Gemeinden im Gebiet der bisherigen DDR zu entschließen.
({17})
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein, daß in den alten Bundesländern noch die letzte Stadt ihr sogenanntes modernes Spaßbad bekommt, während Dresden und die Ostseestädte zerfallen.
({18})
Wir sind ein Volk und ein Land; Wohlstandsunterschiede im jetzigen Ausmaß sind nur auf sehr begrenzte Zeit erträglich. Ich unterstreiche, was der Bundeskanzler gestern gesagt hat - ich zitiere ihn - : „ ... müssen wir in dieser Legislaturperiode zu einer Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen kommen, die ... auch die neuen Bundesländer voll einschließt" .
Auch die Sozialpartner sind gefordert. Sie sollten bei ihren Tarifverhandlungen auf zwei Gefahrenpunkte Rücksicht nehmen. Erstens. Der Abstand der Realeinkommen zwischen Ost und West darf sich nicht vergrößern; er muß abgebaut werden. Sonst laufen wir Gefahr, daß immer mehr Arbeitnehmer aus den neuen Bundesländern in die alten abwandern. Zweitens. Die Einkommensentwicklung in der ehemaligen DDR muß sich im Rahmen der Produktivitätsentwicklung halten. Geschieht das nicht, dann werden die Konkurse und die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern zunehmen.
Ich nenne nur die Stichworte „Erfolgsbeteiligung", „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand" und „Solidaritätspakt aller gesellschaftlich wichtigen Gruppen", um deutlich zu machen, daß die von mir geforderte Rücksichtnahme durchaus in sozial verträglicher Weise verwirklicht werden kann. Das muß auch bei den jetzigen Tarifverhandlungen für den öffentliDr. Dregger
chen Dienst berücksichtigt werden. Die Finanzwirtschaft der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden ist auf das äußerste angespannt. Wer das alles ignoriert, handelt unsolidarisch und gefährdet den Einigungsprozeß,
({19})
indem er den noch nicht sehr leistungsfähigen Unternehmen und Verwaltungen in den neuen Bundesländern die Grundlage entzieht.
Daß wir in den Bereichen der Sozialversicherung, Herr Kollege Vogel, in denen Überschüsse erzielt werden, z. B. in der Rentenversicherung, die Beiträge senken, hatten Sie zu erwähnen vergessen.
({20})
Daß wir dort, wo wegen der schlechten Wirtschaftslage in den neuen Bundesländern Defizite entstehen, nämlich in der Arbeitslosenversicherung, die Beiträge anheben, ist systemgerecht und, wie ich meine, auch angemessen.
({21})
Erfreulich ist die Tatsache, daß die Neuverschuldung des Bundes im Jahre 1990 nicht, wie bisher erwartet, 67 Milliarden DM, sondern 50 Milliarden DM beträgt. Aber auch 50 Milliarden DM sind für die Bundesrepublik Deutschland eine große Summe, die das Einstehen des Bundes für den Bedarf der neuen Bundesländer deutlich macht. Um einen Vergleich zu haben: die Nettoneuverschuldung des Bundes ist von 1989 bis 1990 immerhin von 19 Milliarden DM auf ca. 50 Milliarden DM gestiegen.
Die Opposition erweckt seit Monaten den Eindruck, daß sie Steuererhöhungen geradezu herbeisehnt. Man kann die Steuerpolitik auch zum Anfachen des Sozialneids mißbrauchen. Wer den Sozialneid hier wie in der alten DDR anheizt, nützt niemandem, am wenigsten dem sogenannten kleinen Mann. Sozialneid lähmt; zur solidarischen Hilfe, auf die es ankommt, motiviert er nicht. Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, noch einmal den Beitrag nachzulesen, den Ihr Mitglied Professor Karl Schiller bei der Anhörung vor dem Ausschuß Deutsche Einheit am 7. November 1990 geleistet hat. Es war auch eine eindrucksvolle Warnung vor dem Sozialneid im Gewand der Steuerpolitik.
({22})
Ich meine, auch für 1991 sollten der Bund, die westdeutschen Bundesländer und ihre Gemeinden alles tun, um ihre Ausgaben und die damit verbundene Neuverschuldung in Grenzen zu halten. Daß Nordrhein-Westfalen für 1991 Mehrausgaben von nahezu 7 % plant,
({23})
ist, wie ich meine, in dieser Situation absolut unangemessen.
({24})
Steuererhöhungen sind nicht das erste, sondern das letzte Mittel, um den Haushaltsausgleich herbeizuführen. Wir begrüßen es daher, daß der Bundesfinanzminister für 1991 einen Haushaltsentwurf ohne Steuererhöhungen vorlegen will. Erst wenn wir Dauer und Kosten des Golfkrieges sowie unsere Beiträge für die Entwicklung in Ostmitteleuropa, in Südosteuropa und in der Sowjetunion einigermaßen übersehen, können wir eine verantwortbare Entscheidung zur Steuerpolitik treffen.
({25})
Die politische Teilungsgrenze ist gefallen. Jetzt geht es darum - auch darin stimme ich mit Herrn Vogel überein - , die vielen Barrieren zu überwinden, die uns immer noch trennen. Das gilt für die Verkehrsbarrieren ebenso wie für die Barrieren im Kommunikationswesen, einem Bereich, in dem die Deutsche Bundespost bzw. das Unternehmen Telekom zur Zeit Hervorragendes leistet. Das gilt noch mehr für die geistigen Barrieren in unseren Köpfen. Um sie abzubauen, sind Einfühlungsvermögen und Takt, auch Mut auf beiden Seiten gefragt.
Für die Deutschen in den alten Bundesländern besteht kein Anlaß zu Überheblichkeit und Besserwisserei. Wäre die Geschichte anders verlaufen, wäre nicht Mitteldeutschland, sondern Westdeutschland in die Hand der Kommunisten gefallen, dann wären heute die Westdeutschen auf die Hilfe der Mitteldeutschen angewiesen.
(
Sehr gut!)
Daß es heute so ist, wie es ist, sollte die Westdeutschen freuen; denn Hilfe zu leisten ist gewiß schöner, als auf Hilfe angewiesen zu sein.
({0})
Herr Engholm hat in einem Gespräch mit der Mainzer „Allgemeinen Zeitung", nachzulesen in der Ausgabe vom 17. Januar, zur Berufung des Kollegen Ortleb zum neuen Bundesminister für Bildung und Wissenschaft gesagt - ich zitiere -, ob jemand dieser Aufgabe gewachsen sei, der 40 Jahre lang in einem völlig anderen System gelebt habe, müsse sich erst noch erweisen. Ich frage Sie: Wie sollen wir nach 40 Jahren zueinander finden, wenn allein die Herkunft aus der ehemaligen DDR Grund genug ist,
(
Sehr gut!)
einem Kollegen aus Rostock die Kompetenz abzusprechen?
({0})
Das war ein schlimmer Mißgriff des designierten SPDVorsitzenden. Deswegen habe ich ja so viel Mitgefühl, Herr Kollege Vogel, zu Beginn meiner Rede zum Ausdruck gebracht.
({1})
Die deutsche Einheit auch sozial und ökonomisch zu vollenden, das ist die große innenpolitische Aufgabe der nächsten Jahre. Aber wir vernachlässigen deshalb nicht andere drängende Reformaufgaben. Ich nenne: Hilfen für Familien und Alleinstehende mit Kindern, die weitere Verbesserung unserer Umwelt und die Einführung einer Pflegeversicherung. Diese Reformen kommen den Deutschen in beiden Teilen Deutschlands zugute.
Zur Familienpolitk: Wir werden das Erziehungsgeld zum 1. Januar 1993 um weitere sechs Monate auf zwei Jahre verlängern.
({2})
Der Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie wird zum 1. Januar 1992 auf drei Jahre ausgeweitet. Hinzu kommen wesentliche Verbesserungen beim Kindergeld und bei den Kinderfreibeträgen.
Im Umweltschutz ist Westdeutschland der Vorreiter in Europa. Ich nenne drei Beispiele: Der Ausstoß von Schwefeldioxid ging von 3,5 Millionen t im Jahre 1979 auf 0,9 Millionen t im Jahre 1990 zurück. Fast alle neuen Autos mit Benzinmotor haben inzwischen den von uns eingeführten geregelten Katalysator.
({3})
Wurden in Spraydosen 1989 nur 2600 t Fluorchlorkohlenwasserstoffe verwendet, so waren es 1976 noch 50 000 t.
In den fünf neuen Bundesländern fand Umweltschutz bis 1989 nicht statt. Heute ist die Umweltsanierung dort bereits in vollem Gange. Durch die vom Bundesumweltminister bereitgestellten Fördermittel werden in den neuen Bundesländern Investitionen in den Umweltschutz in Höhe von 2,3 Mrd. DM ermöglicht.
Eine dritte große innenpolitische Aufgabe - Herr Vogel, Sie haben das angesprochen - möchte ich hervorheben. Wir werden das letzte große Problem der Sozialpolitik anpacken, das noch ungelöst ist: die Pflege. Wer heute pflegebedürftig wird, hat vielfach keine ausreichende Absicherung. Das wollen wir ändern.
({4})
Die Bundesregierung wird dem Deutschen Bundestag, so steht es in der Koalitionsvereinbarung, bis Mitte nächsten Jahres dazu einen Gesetzentwurf vorlegen,
({5})
und zwar nicht nur vielleicht; das wird so sein. Bisher haben wir unsere Versprechungen gehalten.
({6})
Nun zur Solidarität in Europa. Unsere Solidaritätspflicht beschränkt sich nicht auf Deutschland. Sie erstreckt sich wie unser Einfluß und unsere Interessen auf Europa und die Welt. Der Golfkrieg ist der erste Krieg der Weltgemeinschaft UNO gegen einen Aggressor seit dem Koreakrieg. Doch im Unterschied zu
diesem wird dieser mit Zustimmung der Sowjetunion geführt.
({7})
Das ist das Neue, seitdem der Ost-West-Konflikt - ich will es einmal vorsichtig ausdrücken - gedämpft ist.
Die Welt ist jedenfalls nicht mehr geprägt von der bipolaren Spannung zwischen den beiden Supermächten. Das hat die Vereinten Nationen handlungsfähig gemacht. Deshalb konnte der Sicherheitsrat Beschlüsse fassen, während er früher vom Veto blockiert wurde. Deshalb konnten die USA nach dem Überfall des Irak auf Kuwait zusammen mit Europäern, Arabern, mit asiatischen Staaten, mit Kanada und Australien im Auftrage der UNO eine strategische Gegenkonzentration gegen Saddam Hussein organisieren. Damit hat er leider nicht gerechnet. Sonst hätte er den Krieg gegen Kuwait möglicherweise nicht begonnen.
Welche Schlüsse sollen wir daraus ziehen? Ich meine, gegen den Aggressor frühzeitig Front zu machen - frühzeitig! - ist die Lehre, die aus dieser Erfahrung zu ziehen ist.
({8})
Der Golfkonflikt macht die Kräfteverhältnisse in der Welt und die Sicherheitserfordernisse Europas deutlich. Zunächst: Wir brauchen weiter eine enge Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Wir brauchen sie aus zwei Gründen: erstens, weil wir auf dem alten Kontinent das Gewicht der Weltmacht Sowjetunion ohne die USA nicht austarieren können. Rußland - in welcher Gestalt auch immer - wird Weltmacht bleiben. Die gegenwärtige Krise der Sowjetunion ändert daran nichts.
Zweitens. Wir brauchen die USA auch, weil unsere Sicherheit von weltweiten Entwicklungen abhängig ist und die USA als einzige westliche Macht zu weltweitem Handeln in der Lage ist.
Dieser Golfkonflikt hat uns aber auch drastisch vor Augen geführt, was uns Europäern fehlt: eine europäische Sicherheitsunion und ihre Fähigkeit, weltweit zu handeln. Erst eine solche Sicherheitsunion bildet die Basis, auf deren Grundlage europäische Außenpolitik möglich wird.
({9})
Der Außenminister Saddam Husseins hat die Europäische Gemeinschaft bei ihren" Vermittlungsversuchen in keiner Weise ernstgenommen. Ich füge hinzu: Auch der amerikanischen Administration fiel es schwer, zu einer anderen Einschätzung zu kommen.
Das war schon bei den Mittelstreckenraketenverhandlungen in Reykjavik 1986 so, an denen Europa nicht beteiligt war, obwohl Europa davon in besonderer Weise betroffen war. Daran hat sich nichts wesentliches geändert. Die europäischen Außenminister selbst haben vor Weihnachten daraus die Konsequenz gezogen, eigene Initiativen hintanzustellen, um der amerikanischen Politik den Vortritt zu lassen. Das war vernünftig. Aber es hat auch gezeigt, daß Europa bisher ein seiner ökonomischen Bedeutung entsprechenDr. Dregger
des außenpolitisches Gewicht nicht besitzt und daher in internationalen Fragen nur sehr begrenzt handlungsfähig ist. Zwölf Prinzen ohne Kleider, meine Damen und Herren, machen eben noch keinen Kaiser.
Die Konsequenz: Die Europäer müssen sich endlich auch sicherheitspolitisch zusammenschließen. Die Römischen Verträge müssen einen militärischen Beistandsvertrag einschließen nach der Art und Qualität dessen, was einmal im WEU-Vertrag vereinbart wurde.
Wenn wir einmal von der Unfähigkeit der Europäer, ihre Ziele und Mittel in Übereinstimmung zu bringen, absehen, dann stehen wir ja im Unterschied zu den 80er Jahren glänzend da. Auch Osteuropa wendet sich heute nach Westen. Es sind die Ideen des Westens, die sich durchgesetzt haben. Damit das Bestand hat, damit Europas politischer Einfluß seinem ökonomischen Gewicht entspricht und damit sich Europa in der Welt behaupten kann, müssen wir die Politische Union schaffen. Europäische Politische Union heißt: gemeinsamer Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung in gemeinsamer Sicherheit. Das ist unser Ziel.
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Alles, was wir allein nicht mehr machen können, gehört in die supranationale europäische Kompetenz. Auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Währungs-, Finanz- und Sozialpolitik zum Beispiel kann noch viel im nationalen Rahmen gemacht werden, im Bereich der Sicherheitspolitik dagegen nicht. Daß ausgerechnet dieser Bereich aus der europäischen Einigungspolitik ausgespart blieb, kann man zwar erklären, aber nicht begründen.
Es kann auch in Zukunft nationale Truppenverbände geben, was ich wegen des inneren Zusammenhalts für zweckmäßig halte. Aber Logistik, Transport, Aufklärung und Operation müssen wir in Zukunft gemeinsam, d. h. natürlich im Rahmen der NATO, europäisch machen. Geschieht das, dann wird die NATO ein Bündnis unter Gleichen, ein Bündnis zwischen Amerika und Europa, das gemeinsam und arbeitsteilig handeln kann.
Dazu brauchen wir hochbewegliche, teilweise lufttransportfähige und - um der Solidarität und der Abschreckungsfähigkeit willen - multinationale europäische Verbände mit einer gemeinsamen Strategie. Diese Verbände müssen ihre Wirkung in alle Himmelsrichtungen entfalten können. Unsere Chance, auf diese Weise eine Krise zu bewältigen und dabei den Krieg zu vermeiden, wird umso größer sein, je größer der Zusammenhalt dieser Verbände im Bündnis ist und je flexibler sie operieren können.
Die beiden Regierungskonferenzen, die Ende des letzten Jahres ihre Arbeit begonnen haben, geben die Möglichkeit, beide Ziele zu verwirklichen: die Wirtschafts- und Währungs- sowie die Sicherheitsunion. Die Notwendigkeit der Parallelität beider Regierungskonferenzen ist gestern vom Bundeskanzler mit Recht hervorgehoben worden. Die in diesen beiden Konferenzen liegende Chance sollten wir in gutem Kontakt mit unseren europäischen Freunden, insbesondere mit Frankreich, das in dieser Frage eine Schlüsselrolle hat, nutzen.
Lassen Sie mich nun noch einiges zur Solidarität in der Welt sagen. So wichtig Europa für uns Deutsche bleiben wird, Frieden und Freiheit können wir nicht allein in Europa finden. Wir brauchen eine Weltfriedensordnung, da wir auch mit den anderen Nationen der Welt nicht nur wirtschaftlich aufs engste verflochten sind. Das gilt besonders für den Nahen und Mittleren Osten, für die Welt des Islam, in deren Mitte Israel sein Existenzrecht behaupten muß. Wir können dieser Welt nicht den Rücken kehren. Wir müssen auch im eigenen Interesse die Vereinten Nationen stärken und sie mit den anderen Friedensmächten in die Lage versetzen, Freiheit und Recht gegen Aggressoren zu verteidigen. Das geht nicht mit Demonstrationen allein. Sie sind sogar schädlich, wenn sie unkritisch den Aggressor Irak, das Opfer Kuwait und die Friedensstreitkräfte der UNO auf eine Stufe stellen. Unsere Solidarität muß den Angegriffenen gelten, in diesem Falle insbesondere Kuwait.
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Unsere Solidarität muß dem Bedrohten gelten, also Israel, das am Krieg nicht beteiligt ist, das aber der Aggressor in seinen Krieg hineinziehen möchte. Unsere Solidarität muß den arabischen Staaten gelten, die sich zu Recht fürchten, von Saddam Hussein unterjocht zu werden.
Ich werde jetzt etwas sagen, was möglicherweise auf Widerspruch stößt; aber es ergibt sich aus dem vorher Gesagten: Wer in dieser Situation in den Ruf „Kein Blut für Öl" einstimmt, der verdunkelt die Wahrheit und besorgt - ob gewollt oder ungewollt - das Geschäft des Aggressors.
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Zur Solidarität gehört auch, daß das UNO-Embargo gegen den Irak von uns und allen anderen Ländern strikt eingehalten wird. Verletzungen dieser Pflicht müssen, selbstverständlich in einem rechtsstaatlichen Verfahren, hart bestraft werden. Wer aus Gewinnsucht Waffenexportverbote bricht, muß nicht nur bestraft, sondern er muß - ich unterstreiche das, was der Bundeskanzler gestern gesagt hat - geächtet werden,
({13})
auch weil er dadurch die Interessen unseres Landes aufs schwerste verletzt.
Ebenso deutlich sage ich: Wir Deutschen sind nicht gewinnsüchtiger als andere. Der Anteil der kriminellen Elemente ist bei uns wohl nicht größer als anderswo. Kollektivbeschuldigungen der Bundesrepublik Deutschland oder der deutschen Wirtschaft lehnen wir daher ab.
({14})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet von der Regierung, daß sie jedem Verdacht weiterhin sorgfältig nachgeht
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und bei der Wahl der einzusetzenden Instrumente
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wirklich bis an die Grenze des verfassungsmäßig Zulässigen geht.
Nicht nur die Handhabung des Embargos, auch die gesamte Rüstungsexportpolitik bedarf der Überprüfung bei uns und allen anderen Waffenproduzenten. Auch darin stimme ich mit Herrn Vogel überein. Nur wenn für alle die gleichen Maßstäbe gelten und wenn deren Einhaltung international kontrolliert wird, wird sich die Lage grundlegend verbessern. Ich begrüße daher jedenfalls trotz der von Herrn Vogel kritisierten Äußerungen des Präsidenten des BDI, die ich nicht kenne, daß der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Industrieverband in den USA diese Ansicht teilen und eine gemeinsame Initiative zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit von Regierungen und Wirtschaft bei militärstrategisch notwendigen Exportkontrollen beschlossen haben.
Wir Deutschen sind selbstverständlich bereit, gemeinsame Rüstungsexportregeln, z. B. der EG, der NATO oder der UNO, zu akzeptieren und uns ihrer Kontrolle zu unterwerfen.
Herr Bundeskanzler, wir begrüßen es ganz besonders, daß die Bundesregierung Israel die gewünschten Defensivwaffen liefert. Dazu gehören die Patriot-Abwehrraketen, die es nicht gäbe, wenn nicht Präsident Ronald Reagan das SDI-Programm in Auftrag gegeben hätte.
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Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat damals - Sie erinnern sich - den amerikanischen Präsidenten mit Nachdruck unterstützt - das können nicht alle Fraktionen dieses Hauses in gleicher Weise von sich sagen - , weil SDI ein Abwehrsystem ist.
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Ich nutze die Gelegenheit, Ronald Reagan, der in den nächsten Tagen seinen 80. Geburtstag begeht, unseren Dank und unsere Glückwünsche auszusprechen.
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Wir begrüßen es ferner, daß sich die Bundesregierung entschlossen hat, unsere in der Türkei stationierten Bundeswehrsoldaten mit Waffensystemen auszustatten, die sie zur Abwehr eines Angriffs benötigen. Wir sehen darin eine Bestätigung unserer Entschlossenheit, unsere Bündnispflichten gegenüber der Allianz - in diesem Falle gegenüber dem NATOLand Türkei - ebenso zu erfüllen, wie wir als Deutsche in den hinter uns liegenden Jahrzehnten die Bündnissolidarität der NATO jederzeit in Anspruch nehmen konnten.
({20})
Meine Damen und Herren, Handeln ist besser als Reden. Konkrete Hilfeleistungen für Israel, Bündnissolidarität gegenüber der Türkei und konkrete Maßnahmen zur Kontrolle von Rüstungsexporten sind besser als Betroffenheits- und Schamgesten mancher deutscher Politiker, die ohnehin nicht selten den Eindruck erweckten, sie wollten vom Thema ablenken, um es sich zu ersparen, klar gegen den Aggressor und
ebenso klar für die UNO und den Einsatz ihrer Streitkräfte Stellung zu beziehen.
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Herr Dr. Dregger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmude?
Bitte!
Herr Kollege Dregger, wenn Sie das Engagement in der Türkei begrüßen, frage ich Sie: Schließt das auch die Entsendung von Wehrpflichtigen ein, die dorthin gezwungen werden sollen?
Ich bin dafür, daß wir Wehrpflichtige einsetzen, die freiwillig dazu bereit sind, und es sind nicht wenige, die dazu bereit sind.
Meine Damen und Herren, Lafontaine und andere Vorstandsmitglieder der SPD haben es noch in den letzten Tagen - zum Leidwesen von Herrn Vogel - für richtig gehalten, die UNO, die USA und unsere am Golf eingesetzten Verbündeten darüber zu belehren, daß der Kampf gegen den Aggressor - den die UNO-Allianz führt und nicht wir - falsch sei und daß es besser sei, ihn durch einen Waffenstillstand zu beenden. Meine Damen und Herren, daß ein solcher Waffenstillstand, und was diese Forderung von Lafontaine angeht, so enthielt sie nicht die Forderung nach einem Rückzug des Aggressors aus Kuwait
({0})
- ja, das ist wirklich das Traurige -, in der gegenwärtigen Lage politisch wie militärisch nur dem Aggressor und niemand anderem nutzen würde, liegt auf der Hand.
Meine Damen und Herren der SPD, Sie haben im vergangenen Jahr in der deutschen Frage in schlimmer Weise versagt. Sie laufen Gefahr, nun auch in der Frage der internationalen Solidarität gegenüber der UNO zu versagen.
({1})
Im Gegensatz zu Ihnen stehen alle anderen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien Europas eindeutig an der Seite der UNO. Soweit diese sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in der Opposition sind, unterstützen sie ihre Regierung, um das ganze Gewicht ihrer Länder gegen den Aggressor zur Geltung zu bringen. Herr Vogel, Sie erinnern sich daran, daß ich am 17. Januar den britischen Oppositionsführer Kinnock zitiert habe - ich will das nicht wiederholen -, und ich habe Sie gebeten zu überlegen, ob Sie nicht seinem Beispiel folgen könnten.
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Meine Damen und Herren, Kollege Brandt hat vor einigen Tagen eine Solidaritätsadresse an die Vereinigten Staaten unterschrieben. Schon in der Deutschlandpolitik hat sich Brandt von der Verweigerungshaltung seiner Partei abgesetzt. So sehr ihn das persönlich ehrt - vor dem Hintergrund der Haltung seiner Partei wirkt das wie eine Doppelstrategie, die
nicht nur die SPD, sondern uns alle ins Zwielicht zu bringen droht. Wo steht Deutschland in diesem Konflikt: auf der Seite der UNO oder auf der Seite des Aggressors?
({3})
Diese Frage muß von uns Deutschen klar beantwortet werden.
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Ich wiederhole, was ich bereits am 17. Januar in diesem Hause dazu gesagt habe,
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und ich wiederhole es heute nicht nur für meine Fraktion, sondern auch - davon bin ich überzeugt - im Namen der großen Mehrheit unseres Volkes: Wir standen immer und stehen auch heute an der Seite der UNO,
({6})
an der Seite Israels und an der Seite unserer Verbündeten.
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Ich füge hinzu: Wir wünschen, daß der Krieg bald und mit möglichst geringen Opfern auf allen Seiten mit einem Sieg der UNO über den Aggressor Saddam Hussein endet.
Herr Dr. Dregger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Heuer?
Nein, jetzt nicht mehr. - Wir wissen, daß der Krieg den Aggressor nur in die Schranken weisen, nicht aber die Probleme der Golfregion und des Nahen Ostens lösen kann. Das muß nach Beendigung der Kampfhandlungen tatkräftig angepackt werden.
Zur Abwehr der Aggression in Kuwait und zum Aufbau einer gerechten Friedensordnung im Nahen Osten, die allen Menschen und Völkern dieser Region ihre freie Existenz sichert, im Rahmen unserer Möglichkeiten beizutragen, dazu sind wir, die CDU/CSUBundestagsfraktion bereit, auch wenn uns diese Beiträge noch mehr als bisher in Anspruch nehmen. Denn es geht in der Tat um den Frieden, um den Frieden in Freiheit: für die Golfregion, für uns und für die Welt.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Solms.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte, die sich eigentlich mit den Aufgaben für die nächsten vier Jahre befassen soll, wird zu unserem großen Bedauern vom Krieg am Golf und von den Entwicklungen im Baltikum sowie darüber hinaus in der ganzen Sowjetunion überschattet.
Die Opposition wirft uns und unseren Verbündeten vor - Herr Vogel hat das anklingen lassen - , daß die Möglichkeiten der Verhandlungen und der Diplomatie nicht ausreichend genutzt worden seien. In Wahrheit - das ist unsere Überzeugung - sind alle Möglichkeiten der Verhandlungen, alle Möglichkeiten der diplomatischen Initiativen bis zur letzten Minute eingesetzt worden, um die kriegerische Auseinandersetzung zu verhindern.
Heute muß man feststellen: Der irakische Diktator Saddam Hussein wollte den Krieg. Er war durch nichts zu bewegen, seine Kriegsbeute vom 2. August letzten Jahres wieder herauszurücken;
({0})
denn begonnen hat dieser Krieg schon mit dem Eingreifen und Einrücken der irakischen Kräfte in Kuwait.
Ich glaube, in dieser Frage doch nationaler Tragweite könnte man von der großen Oppositionspartei, der SPD, eindeutige - nicht mehrdeutige - Erklärungen zu dem Handeln der Alliierten und zu dem Verhalten der Bundesrepublik Deutschland erwarten.
({1})
Es stimmt mich traurig, daß dieses eindeutige Verhalten, wie es sozialistische Oppositionsparteien in anderen europäischen Länder zeigen, hier nicht herzustellen ist. Ich glaube, es ist kein Zeichen von Regierungsfähigkeit, wenn man nicht auch die Verantwortung in teils unpopulären Fragen übernimmt, Position zu beziehen.
Das erinnert mich an 1982. Wenn die SPD damals den NATO-Nachrüstungsbeschluß bestätigt hätte und wenn sie die Wende in der Finanzpolitik mitgetragen hätte, hätte sie die Regierungsfähigkeit nicht verloren.
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Wenn Sie regierungsfähig werden wollen, müssen Sie nun endlich die Lehren daraus ziehen.
({3})
Der Krieg am Golf kann nur durch Saddam Hussein selber unterbrochen und beendet werden. Ein Wort der Bereitschaft zum Rückzug aus Kuwait, und der Waffenstillstand wäre möglich. Als Deutsche sollten wir aus unserer eigenen Geschichte wissen, daß ein Diktator, der entschlossen ist, mit kriegerischen Mitteln die Ausdehnung seiner Macht zu erreichen, von dieser Absicht durch nichts, aber auch durch gar nichts abzuhalten ist.
Wenn er darüber hinaus ankündigt, er wolle den Staat Israel vernichten, dann sind gerade wir Deutschen zu entschlossener Hilfe verpflichtet.
({4})
Der zweite Vorwurf richtet sich gegen die mangelnde Bereitschaft der Bundesregierung zur Unterstützung der alliierten Kräfte. Dieser Vorwurf ist ungerechtfertigt. Die Bundesregierung hat nämlich bereits Leistungen in Höhe von mehr als 5 Milliarden DM erbracht. Sie hat der amerikanischen Regierung allein für das erste Quartal dieses Jahres weitere Leistungen in Höhe von mehr als 8 Milliarden DM zugesagt. Hinzu kommen finanzielle Unterstützungen in Höhe von rund 800 Millionen DM, die Großbritannien gestern vom Bundesaußenminister zugesichert worden sind. Das zeigt, daß die Bundesregierung zu einem solidarischen Beitrag bereit ist.
Es mag sein, meine Damen und Herren, und es ist zu vermuten, daß all diese Lasten nicht aus dem vorhandenen Etat zu finanzieren sind. Dann müssen Einnahmeverbesserungen beschlossen werden. Ich weise nur darauf hin - das ist der entschiedene Wille der FDP-Fraktion -, daß vor einer solchen Entscheidung, die im übrigen auch erst dann getroffen werden könnte, wenn der Bundesfinanzminister seinen Haushalt Ende Februar vorgelegt haben wird, noch einmal alle Einsparungsmöglichkeiten überprüft werden; denn sonst ginge die Disziplin verloren.
({5})
Darüber hinaus ist die Bundesregierung bereit, dem Staat Israel Verteidigungswaffen und -systeme zur Verfügung zu stellen, obwohl dies der traditionellen Waffenexportpolitik der Bundesregierung widerspricht. Die besondere deutsche Verantwortung für die Existenz des Staates Israel und seiner Bewohner rechtfertigt diese Maßnahme jedoch.
Die FDP-Fraktion hat auch der Verlegung der Einheiten der Abwehrsysteme Roland und Hawk in die Türkei zugestimmt. Dies gilt insbesondere dem Schutz der dort stationierten italienischen, belgischen und deutschen Verbände.
Ich habe den Eindruck, daß genau die gleichen Leitartikler der „Welt", die noch vor wenigen Monaten vor dem Zu-stark-Werden Deutschlands gewarnt hatten, uns jetzt vorwerfen, daß wir uns nicht als stark genug erweisen könnten. Das zeigt auch die Doppelzüngigkeit dieser Argumentation in der internationalen Presse.
({6})
Den kritischen Anmerkungen in unseren Bündnisländern muß darüber hinaus entgegengesetzt werden, daß wir zur Verbesserung der Sicherheit in ganz Europa gewaltige Leistungen erbringen. Allein die Bereitstellung von mehr als 14 Milliarden DM zur Ermöglichung des Abzugs von mehr als 300 000 Soldaten der Roten Armee aus Ostdeutschland ist ein einzigartiger Beitrag zur Sicherheit Europas und des Bündnisses.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Scham erfüllt uns allerdings, daß die Vorwürfe, daß sich deutsche Firmen und Fachleute an der Aufrüstung des Irak beteiligt hätten und daß gerade durch ihre Hilfe ein Angriff mit ABC-Waffen erst möglich geworden sei, offenbar berechtigt sind. Auch die Reichweite der Scud-Raketen soll durch Mithilfe deutscher Spezialisten so erhöht worden sein, daß Israel getroffen werden kann. Zwar haben die jeweiligen Bundesregierungen seit 30 Jahren keine Waffenlieferungen in den Irak genehmigt, gleichwohl sind teils legale, teils illegale Lieferungen und Leistungen erfolgt.
({8})
Trotz der Verschärfung der Gesetze konnte dem kein Einhalt geboten werden.
Meine Damen und Herren, jetzt muß alles Menschenmögliche getan werden, um zu einer rechtlichen und - was vielleicht noch wichtiger ist - darüber hinaus auch zu einer moralischen Ächtung solcher Taten wie auch der Verantwortlichen zu kommen. Deutsche, die sich an solchen Machenschaften beteiligen, sollten ihren Fuß in Zukunft nicht wieder guten Gewissens auf deutschen Boden setzen können.
({9})
Gerade weil die deutsche Wirtschaft mehr als die Wirtschaft anderer Länder auf Exporte angewiesen ist, muß sie für solche Entwicklungen besonders sensibel sein. Wo bleibt ein Verhaltenskodex verbunden mit der dazugehörigen Selbstkontrolle der deutschen Wirtschaft? Noch habe ich nicht gehört, daß der Aufsichtsrat eines Konzerns, dessen Tochtergesellschaft der Mittäterschaft bezichtigt wird, den Gesamtvorstand zur Rede und gegebenenfalls zur Verantwortung gezogen hätte. Ich meine, hier sind sichtbare Maßnahmen dringend notwendig.
({10})
Dies möchte ich gerade als Vertreter einer Partei sagen, die der Wirtschaft nicht fernsteht. Deshalb will ich das entschieden anmahnen.
({11})
Meine Damen und Herren, es ist für mich eine schöne und ehrenvolle Aufgabe, an dieser Stelle für die FDP-Bundestagsfraktion zu Ihnen sprechen zu dürfen. Besonders freue ich mich, daß ich die zahlenmäßig größte FDP-Fraktion in der Geschichte dieses Hauses vertreten darf.
({12})
In der Größe der Fraktion sehe ich das Ergebnis des gewachsenen Vertrauens der Wähler in die FDP. Ausschlaggebend war sicherlich das Vertrauen in die erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik wie in die verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik der Freien Demokratischen Partei und der sie repräsentierenden Personen.
({13})
Dieses Vertrauen bedeutet Anerkennung und Ansporn zugleich. Dieses Vertrauen bedeutet aber vor allem Verantwortung. Wir - übrigens wir alle Dr. Solms
müssen durch unser politisches Handeln das Vertrauen unserer Wähler rechtfertigen. In vier Jahren müssen wir unseren Wählern Rede und Antwort stehen. Dies ist im Interesse unserer Glaubwürdigkeit durchaus wörtlich zu nehmen. Das gilt für alle Seiten dieses Hauses.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß zugeben, in der Zeit zwischen dem 2. Dezember und dem 15. Januar hat die Führungsmannschaft der FDP ein anderes Bild geboten. Doch ich kann Ihnen versichern - manche mögen enttäuscht sein - , das Schauspiel ist beendet. Unser personalpolitisches Angebot steht; der Generationenwechsel ist vollzogen; die FDP-Bundestagsfraktion wird sich nun in großer Geschlossenheit den Aufgaben zuwenden, die sich der deutschen Politik stellen. Wir werden diese Geschlossenheit vier Jahre durchhalten.
({14})
Ihre spöttischen Bemerkungen, Herr Kollege Vogel, über den Kollegen Möllemann möchte ich in folgender Weise kommentieren: „Respice finem. " Am Anfang der letzten Legislaturperiode hat man, als der Kollege Möllemann Bundesbildungsminister geworden war, ähnliche Worte gehört. Diese sind zum Schluß verstummt. Man soll immer auf das Ende warten.
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Ich sagte, wir müssen dem Wähler Rede und Antwort stehen. Denn Sprache ist nun einmal, wie es mein hessischer Landsmann Jacob Grimm im letzten Jahrhundert ausdrückte, das Gedächtnis eines Volkes. Wie richtig und wichtig diese Grimmsche Erkenntnis ist, zeigt sich bei dem fundamentalen Problem, im vereinten Deutschland zu einer gemeinsamen Sprache zu finden. Die meisten Menschen, die von der politischen Vergangenheit der früheren DDR geprägt sind, werden noch lange brauchen, um sich von der Last der Worte dieses Regimes zu befreien.
Schon Grimm hat vor der formelhaften Erstarrung der Sprache, vor der Aneinanderreihung beliebig versetzbarer Begriffe, mit denen man alles, aber auch gar nichts sagen kann, gewarnt. Vor dieser Gefahr sind übrigens auch wir im Westen nicht gefeit. Erst wenn sich mit den gleichen Begriffen hier wie dort gleiche Vorstellungen verbinden, wird die Einheit im Denken wirklich vollzogen sein.
Zunächst einmal müssen wir für das Erreichte dankbar sein, das noch vor zwei oder drei Jahren kaum einem von uns erreichbar schien: die politische Verwirklichung der deutschen Einheit. Unser Dank gilt in diesem Zusammenhang sowohl dem Herrn Bundeskanzler, der die Verantwortung für die schnelle Entwicklung übernommen hat und trägt, als auch dem Bundesaußenminister, der durch seine Beharrlichkeit und sein diplomatisches Geschick das angeblich Unmögliche möglich gemacht hat.
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Meine Damen und Herren, sie haben beide den historischen Augenblick erkannt.
Es kommen nun Kommentare aus dem „Bayernkurier" . Ich weiß nicht, ob man ihn überhaupt zitieren sollte. Dazu kann ich nur sagen: Was stört es den Mond, wenn ihn die Hunde anbellen.
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Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister haben verstanden, daß Eile geboten war, weil die plötzlich von außen aufgestoßene Tür zur deutschen Einheit ebenso plötzlich wieder ins Schloß fallen konnte. Heute wissen wir, daß auf Grund der Entwicklung in der Sowjetunion die Tür bereits wieder ins Schloß gefallen wäre.
Die Kritiker, auch auf seiten der Opposition, denen alles zu schnell gegangen ist, sollten so ehrlich sein, endlich zu bekennen, daß die Politik der Bundesregierung die einzig richtige war.
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Die deutsche Einheit wird erst dann vollzogen sein, wenn in beiden bisherigen Teilen Deutschlands einheitliche Lebensverhältnisse herrschen. Dies zu erreichen ist das vorrangige Ziel unserer gegenwärtigen Politik. Auf dem Weg dorthin ist allerdings noch eine Vielzahl von großen Problemen zu lösen. Diese Probleme, meine Damen und Herren, sind unser aller Probleme. Es kommt ausnahmsweise einmal nicht darauf an, welche Partei sich mit ihren Lösungsvorschlägen durchsetzt, sondern es kommt darauf an, daß das Notwendige schnell geschieht. Die politische Einheit Deutschlands ist hergestellt. Jetzt kommt es darauf an, die ökonomischen und sozialen Trennungen zu überwinden und zu einer Gemeinschaft zusammenzuwachsen.
Notwendig ist es, in den neuen Bundesländern durch Investitionen neue Arbeitsplätze zu schaffen und damit Einkommen und soziale Sicherheit herzustellen. Dafür sind Investitionen die fundamentale Voraussetzung. Investiert wird jedoch nur dort, wo die Eigentumsverhältnisse gesichert sind. Klare Eigentumsregeln sind Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit einer Marktwirtschaft. Nur Eigentum schafft persönliche Verantwortung. Die FDP bekennt sich zur Garantie des privaten Eigentums. Aber offene Eigentumsfragen dürfen keine Investitionen be- oder verhindern.
({19})
Deshalb ist es richtig, daß im Zweifelsfall der mögliche Eigentümer entschädigt und einem konkreten Investitionsprojekt der Vorrang eingeräumt wird.
({20})
Für die unrechtmäßigen Enteignungen in der DDR zwischen 1945 und 1949, für die der Einigungsvertrag wegen des Drucks der Regierung der damaligen DDR und der Sowjetunion keine Rückgabe vorsieht, müssen durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber möglichst bald Ausgleichsleistungen beschlossen werden. Nach unserer Überzeugung können angemessene Ausgleichsleistungen nicht nur in Geldzahlungen, sondern auch in Vorkaufsrechten, Pachtrechten, Rückgaben an und von Grund und Boden und ande116
ren Gegenständen bestehen, wo immer das technisch möglich ist und wo immer keine gutgläubig erworbenen Nutzungs- und Eigentumsrechte Dritter verletzt werden.
({21})
Die FDP ist trotz der erzwungenen Vereinbarung im Einigungsvertrag nicht bereit, die Enteignungen in den Jahren vor 1949 als rechtmäßig zu akzeptieren.
({22})
Die enteigneten Familien haben mit ihrem Besitz die Basis und die Wurzeln ihrer Existenz, wenn nicht gar ihr Leben verloren. Dieses Unrecht ist nicht wiedergutzumachen.
Die unzulänglichen Eigentumsregeln sind für die Arbeit der Treuhandanstalt eine schwere Belastung. Die Bundesregierung wird in Kürze Entscheidungen treffen, damit die Treuhandanstalt ihren Aufgaben besser gerecht werden kann.
Die Privatisierung der Betriebe ist die zentrale Aufgabe der Treuhandanstalt. Jede Verzögerung zerstört die wirtschaftliche Basis. Eile ist geboten.
({23})
Alle Maßnahmen, die geeignet sind, Investitionen anzureizen, müssen ausgeschöpft werden. Im vergangenen Jahr hat die Koalition mit den ERP-Programmen, der Investitionszulage und den Sonderabschreibungsregeln einen Grundstock geschaffen. In den Koalitionsvereinbarungen haben wir Zusätzliches erreicht: die rückwirkende Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer für die fünf neuen Bundesländer. Aus welcher Substanz sollten denn die Unternehmen und Betriebe dort diese Steuer bezahlen, meine Damen und Herren? Die Substanz ist doch gar nicht da.
({24})
Die Gemeinden in den fünf neuen Bundesländern, die von diesen Maßnahmen betroffen sind, brauchen zusätzliche Unterstützung, so z. B. durch die Ausweitung des Gemeindekreditprogramms, die in diesen Tagen erfolgt. Weiter wurden zusätzliche Sonderabschreibungen im Ausmaß der bisherigen Zonenrandförderung beschlossen. Außerdem wird ein Freibetrag bei der Lohn- und Einkommensteuer in Höhe von 600 bzw. 1 200 DM bei Verheirateten gewährt. Der Freibetrag war ein Kompromiß. Das will ich ganz offen gestehen. Er sorgt dafür, daß die Arbeitnehmer in Ostdeutschland erst später in die Steuerprogression hineinwachsen. In unseren Augen ist jedoch die Absenkung bei der Lohn- und Einkommensteuer nicht ausreichend, um auch westdeutsche Arbeitnehmer zur Übersiedlung in den Osten und zum dortigen Tätigwerden zu veranlassen. Das technische und kaufmännische Wissen sowie wirtschaftliche Erfahrung und Praxis der Westdeutschen werden dort jedoch dringend gebraucht.
({25})
Das Konzept des Niedrigsteuergebiets muß also gegebenenfalls weiter ausgebaut werden.
({26})
In der Familienpolitik hat die Koalition in den vergangenen Jahren große Fortschritte erzielt. Diese Politik wird fortgesetzt. Der Familienlastenausgleich wird erheblich verbessert, und das auf der Grundlage des Verfassungsgerichtsurteils vom letzten Jahr.
({27})
Die Kinderfreibeträge werden stufenweise angehoben. Das Kindergeld wird entsprechend den Notwendigkeiten der Steuergerechtigkeit ausgebaut. Die FDP stimmt der Verlängerung der Zahlung von Erziehungsgeld auf zwei Jahre zu. Der Erziehungsurlaub wird auf drei Jahre ausgedehnt.
Durch eine Reihe von weiteren Maßnahmen soll es den Frauen ermöglicht werden, den Wunsch nach Kindern mit dem Wunsch nach beruflicher Tätigkeit zu verbinden.
Herr Kollege Vogel, Ihre Bemerkungen zu der Haushaltshilfe gehen nun wirklich in die falsche Richtung. Die Steuerbegünstigung trifft ja nicht die direkt Begünstigten, sondern die bei ihnen Beschäftigten. Denn nur im Falle sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse wird diese Steuerbegünstigung gewährt.
({28})
Damit erreichen Sie zumindest, daß Tausende von Schwarzarbeitsverhältnissen, die es heute gibt, in legale, sozialversicherungs- und steuerpflichtige Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden.
({29})
Ich meine, das ist gerade für Familien, in denen die Frauen
({30})
den Wunsch nach Berufstätigkeit mit dem Wunsch verbinden wollen, Kinder zu haben und aufzuziehen, ein ganz wesentlicher Beitrag.
({31})
Herr Abgeordneter Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Wenn sie nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.
Herr Kollege, habe ich die Koalitionsvereinbarungen richtig nachgerechnet, wenn ich zu dem Ergebnis komme, daß eine Anhebung des nicht zu versteuernden Betrags auf 6 000 DM für die Haushaltshilfe für Sie und mich und andere, die wir bei einem Grenzsteuersatz von etwa 40 Prozent liegen, eine jährliche Einsparung von 2 400 DM bedeutet, während meine Sekretärin für ihr Kind zwölfmal 20 DM, also 240 DM im Jahr bekommt, d. h. ein ZehnConradi
tel von dem, was Sie uns zugebilligt haben? Habe ich das richtig gerechnet?
({0})
Ihre Rechnung ist richtig, dem Sinn nach aber falsch.
({0})
Denn Sie gehen davon aus, daß das Geld frei zu Ihrer eigenen Verfügung wäre. In Wirklichkeit sind das Mittel, die Sie einsetzen, um eine Arbeitskraft zu beschäftigen, und die dieser Arbeitskraft zufließen. Das ist eben keine besondere Begünstigung.
({1})
Durch eine Reihe von weiteren Maßnahmen wird die Familienpolitik verbessert. Zur Schaffung einer kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft sind noch eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen erforderlich. Insbesondere die Kinder brauchen die notwendige Geborgenheit, um gerechte Chancen für ein erfolgreiches Leben zu erhalten.
({2})
In beiden Teilen Deutschlands gab es unterschiedliche rechtliche Grundlagen zum Schutz des werdenden Lebens. Es geht jetzt darum, möglichst bald eine in Gesamtdeutschland einheitliche rechtliche Grundlage zu schaffen, die dem Schutz des ungeborenen Lebens dient und der Frau eine verantwortungsvolle Gewissensentscheidung ermöglicht.
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Nach Meinung der FDP ist das nur durch eine Ausgestaltung als modifizierte Fristenregelung mit obligatorischer Beratung zu erreichen.
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Der schwangeren Frau wollen wir wirksame Hilfen anbieten, die die Entscheidung zugunsten des Kindes erleichtern. Denn das werdende Leben kann am besten mit den Müttern und nicht gegen sie geschützt werden.
({5})
Meine Damen und Herren, wir werden einen Gesetzentwurf vorlegen. Wir werden Sie auffordern, mit uns darüber zu beraten. Wie Sie wissen, gibt es zu diesem Thema keine Koalitionsabsprache, sondern hier soll jeder Abgeordnete frei und nur seinem Gewissen verpflichtet entscheiden.
({6})
Deutschland galt vor etwa 150 Jahren als das Land der Dichter und Denker. Das ist übrigens ein Gedanke, den der Herr Bundeskanzler vor kurzem in einem Koalitionsgespräch ebenfalls geäußert hat.
({7})
Infolge der Vollendung des Nationalstaats hat es seine kulturelle Vielfalt vergessen und sich der Machtentfaltung verschrieben. Als Land der Kugeln und Kanonen hat es die Welt mit zwei schrecklichen Kriegen überzogen. Nach dem Zusammenbruch begann die Phase der politischen Abstinenz. Als Land der Krämer und Kaufleute - ich meine das nicht abwertend; ich bin selbst Kaufmann ({8})
haben sich die Deutschen der Steigerung ihres Wohlstandes hingegeben. Auch diese Phase ist jetzt vorüber. Mit der deutschen Einheit sind wir zur Gesamtverantwortung in Europa und darüber hinaus aufgerufen.
Es wäre erfreulich, wenn wir zu unseren Anfängen zurückkehren könnten und als Kulturnation im weiteren Sinne diese Verantwortung übernähmen, nicht nur für unser Land, sondern für den Zustand in der ganzen Welt.
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Wir können uns nicht länger aus den internationalen Konflikten heraushalten. Unsere Schonzeit, die Nachkriegszeit, ist seit Erreichung der Souveränität, also der Mündigkeit, vorbei. Das mag für manchen schmerzlich sein - wie die Vertreibung aus einem Paradies. Doch wir müssen von nun an als vollwertige Mitglieder der Staatengemeinschaft agieren, wir müssen Verantwortung übernehmen. Wir müssen vor allem daran mitwirken, daß die Organisation der Vereinten Nationen als Weltordnungs- und -friedensmacht den großen Aufgaben der Zukunft gewachsen ist. Andernfalls wird sie bald so bedeutungslos werden wie ehedem der Völkerbund.
Dem vergrößerten Deutschland kommt - natürlich immer im Rahmen seines Rechtssystems - auch größere Verantwortung zu. Unsere Verantwortung liegt allerdings vor allem in Europa. Wir brauchen ein einiges, starkes Europa. Die FDP setzt sich deshalb voll und ganz für die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes bis zum Ende des kommenden Jahres ein. Wir unterstützen den Plan einer europäischen Währungsunion mit einer stabilen gemeinsamen europäischen Währung und einer unabhängigen, auf das Ziel der Geldwertstabilität festgelegten europäischen Währungsbehörde. Ziel ist die Schaffung der politischen Union in ganz Europa. Die Gemeinschaft muß allen europäischen Ländern offenstehen.
({10})
Wir Deutschen wollen dabei eine besondere Verantwortung für Osteuropa übernehmen. Wir müssen diesen Ländern, die sich gerade vom Joch der kommunistischen Zwangsherrschaft befreien, beim Aufbau einer sozialen und marktwirtschaftlichen Ordnung helfen, damit sie die noch jungen freiheitlichen und demokratischen Strukturen befestigen können.
Viele Probleme sind heute national nicht mehr zu lösen; sie müssen grenzübergreifend angepackt werden. Wie Luft, Regen oder Wind nehmen sie ihrerseits auf Grenzen keinerlei Rücksicht. Dies gilt natürlich vor allem für die Probleme des Umweltschutzes. Die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen ist auf Dauer
nur international zu gewährleisten. Die Umweltbeschlüsse der Koalitionsvereinbarung scheinen uns eine gute Grundlage für weitere ökologische Fortschritte zu bieten. Die FDP besteht auf der konsequenten Anwendung des Verursacherprinzips und dem gezielten Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente.
({11})
Um das ehrgeizige nationale Ziel der Reduzierung der CO2-Emissionen um 25 % bis zum Jahr 2005 zu erreichen, setzen wir insbesondere auf das Konzept einer europäischen Klimaschutzsteuer.
Ohne eine florierende Wirtschaft ist übrigens eine erfolgreiche Umweltpolitik nicht zu verwirklichen. Diese wiederum kann nur in einem freiheitlichen System gedeihen, weil nur dort der persönliche Einsatz aller Bürger zum Tragen und zum Wirken kommt. Deshalb ist es in unserem eigenen Interesse, allen Ländern zu helfen, die - sei es nun in Ost oder West, in Nord oder Süd - den Weg zu einer freiheitlichdemokratischen Ordnung eingeschlagen haben und auf unsere Hilfe angewiesen sind. Die höchsten Werte der Freien Demokratischen Partei sind nun einmal Freiheit und Demokratie. Wir Freien Demokraten wissen, daß die Freiheit anderer Nationen auch unsere Freiheit ist, daß Freiheit und Demokratie nicht nur unzertrennlich, sondern auch unteilbar sind.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Modrow das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Debatte findet in einer Zeit statt, in der die Menschheit durch den Krieg am Golf an den Rand eines vernichtenden Weltbrandes gestoßen wird. Aber es ist auch an der Zeit, auf die Bedrohung des inneren Friedens zu achten. Im Osten Deutschlands wird die Wirtschaft zerstört, werden Millionen Bürgerinnen und Bürger ihrer sozialen Existenzgrundlage beraubt.
({0})
Im Westen unseres Landes werden die sozialen und finanziellen Folgen der Anschlußpolitik von Woche zu Woche deutlicher.
({1})
In einer solchen Zeit ist die Regierung in besonderem Maße verpflichtet, für den äußeren und inneren Frieden unseres Landes zu wirken. Dieser hohen Verpflichtung wird die Regierungserklärung leider nicht gerecht.
Nach der Herausbildung einer Zweidrittelgesellschaft in den alten Bundesländern ist die Politik der Bundesregierung auf dem besten Wege, in den ostdeutschen Bundesländern sogar eine Eindrittelgesellschaft zu Ungunsten von zwei Dritteln der Bevölkerung zustande zu bringen, was natürlich seine negativen Rückwirkungen auf die anderen Bundesländer hätte.
Die „Frankfurter Allgemeine" überschreibt am 17. Januar ihren Leitartikel zur Entwicklung in den ostdeutschen Ländern mit folgenden Worten: „Auf langer Talfahrt" und stellt fest:
Die Stimmung ist gedrückt, der große Geldstrom nach der Währungsunion verebbt, Produktion und Beschäftigung sinken weiter, die Zukunft besteht vorwiegend aus Verheißungen, deren Realitätsgehalt schwer zu prüfen ist.
Meine Damen und Herren, wenn die PDS im Bundestagswahlkampf so etwas gesagt hat, beschuldigten Sie uns stets der Schwarzmalerei.
({2})
Aber wie man sieht: Nach den Wahlen dürfen auch diejenigen, die den Regierungsparteien nahestehen, die Realitäten zur Kenntnis nehmen.
({3})
Nun haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, für diese Misere immer eine sehr einfache Erklärung zur Hand:
({4}) die vierzigjährige Kommandowirtschaft.
({5})
Diese Formel kennzeichnet schon eine wesentliche Ursache. Aber sie gibt keine Antwort darauf, warum es nicht gelungen ist, in den ostdeutschen Ländern den für die Zeit nach der Währungsunion versprochenen, dann für die Zeit nach dem Beitritt zur BRD zugesicherten und schließlich aber ganz bestimmt für die Zeit nach den Bundestagswahlen vorausgesagten Wirtschaftsaufschwung zustande zu bringen.
({6})
Da muß man doch die Frage stellen - sie muß erlaubt sein - , ob das bewußt falsche Versprechungen waren oder ob die Regierung diesen Aufschwung nicht zustande bringen konnte.
Wenn man immer davon spricht, man habe den Wunsch, die Weichen richtig zu stellen, muß ich Sie fragen: Wer hat denn bisher überhaupt die Strecke dafür gelegt?
Herr Abgeordneter Dr. Modrow, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Da auch der PDS vorhin Zwischenfragen abgewiesen wurden, werden wir es gleichermaßen so halten.
Realität ist jedenfalls, daß trotz Boom im Westen des Landes die Talfahrt im Osten weitergeht. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Man kann sich schwer des Eindrucks erwehren, daß dahinter Absicht steht. Die einen verdienen, die anderen verlieren.
({0})
Alles, was aus der ehemaligen DDR stammt, ob schlecht oder gut, alles, was an sie erinnert, soll gründlich beseitigt werden. Kurz und leider nicht gut: Die Regierungserklärung ist ein Programm der FörDr. Modrow
derung der Reichen, deren Interessen diese Koalition vertritt - der letzte Redner hat es noch einmal bestätigt - , und sie ist, was die Außenpolitik angeht, auch das Programm einer so gut wie nicht veränderten NATO, mit deren Hilfe eine besondere Rolle des vereinigten Deutschlands in Europa angestrebt wird.
({1})
Mit der Vereinigung ist Deutschland objektiv zu einer Großmacht geworden. Welche Chance für unser Volk und die Weltgemeinschaft, wenn sich dieses größere Deutschland zu einer aktiven Neutralitäts- und Friedenspolitik bekannt hätte! Doch wie wurde diese Chance vertan! Nichts zeigt dies deutlicher als die Haltung der Bundesregierung zum Golfkrieg. Sie hat diesen Krieg zwar ohne Zweifel offiziell bedauert, was sie aber nicht davon abhält, ihn mitzufinanzieren, deutsche Soldaten und Kriegsgerät in die Türkei zu schicken. Dabei war doch absehbar, daß die USA den sogenannten Bündnisfall für das NATO-Mitglied Türkei selbst auslösen und damit Deutschland unmittelbar in den Konflikt hineinziehen könnten.
({2})
Mit alledem wird die Gefahr eines dritten Weltkrieges immer mehr heraufbeschworen. Die UNO hat keine Pflicht, sondern die Möglichkeit zu diesem Einsatz erklärt.
Wir bekräftigen unsere Verurteilung der Aggression des Irak und fordern:
Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland scheidet sofort aus der Golfkriegskoalition aus.
({3})
Sie setzt sich für die unverzügliche Beendigung der Kampfhandlungen, den Abzug der Interventionstruppen und die Einberufung einer Nahost-Friedenskonferenz ein.
({4})
Zweitens. Deutsche Soldaten und Waffen werden sofort aus der Türkei und dem gesamten Konfliktgebiet zurückgezogen.
Drittens. Waffenexporte deutscher Rüstungsfirmen werden verboten und wirksam unterbunden. Die rechtswidrigen Waffenlieferungen werden geahndet.
({5})
Viertens. Jede Unterstützung für den Golfkrieg, ob mit Geld, Waffen, Munition oder Logistik, wird sofort eingestellt.
Fünftens. Es werden rechtliche Regelungen geschaffen, die für alle Zukunft den Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb des Hoheitsgebietes der DDR
({6})
- der BRD ausschließen. - Die DDR ist darin mit einbezogen, aber leider bisher immer noch nicht genügend konsequent.
({7})
Es darf insbesondere keine Änderung des Grundgesetzes geben, die einen solchen Einsatz zulassen würde.
({8})
Sechstens. Verabschiedung eines konkreten Abrüstungsprogramms durch den Deutschen Bundestag, das die Abschaffung der Wehrpflicht einschließt.
({9})
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir hörten heute wiederum: Ein Glück, daß die Vereinigung so schnell gekommen ist. Bei der jetzigen Krisenlage der Sowjetunion hätten wir sie nicht bekommen. - Daran ist nur eines richtig, daß nämlich die Sowjetunion die Vereinigung vorbehaltlos toleriert hat.
Ich hatte Gelegenheit, darüber am 30. Januar - wohlgemerkt, am 30. Januar! - mit Michail Sergejewitsch Gorbatschow eine sehr gründliche Aussprache zu führen; alle Grundprobleme, die auf diesem Gebiet lagen, sind zwischen uns zu diesem Zeitpunkt beraten worden. Am 1. Februar 1990 habe ich dazu meine Positionen erklärt.
({10})
Aber was haben die Deutschen aus dem gemacht, was im Kaukasus vereinbart worden ist?
({11})
Wäre nicht die Situation von Präsident Gorbatschow, dessen Perestroika die Bundesregierung angeblich so inständig unterstützt, und deren Erfolg gewünscht wird, besser, wenn die vereinbarten Vertragsbeziehungen von der Bundesregierung zielstrebiger ausgestaltet würden? Auch notwendige Kritik am Baltikum gehört dazu.
Aber das ändert nichts an pharisäerhaften Eindrükken, die hervorgerufen werden,
({12})
wenn man den Kopf über den so gewandelten Gorbatschow schüttelt und philosophiert, aber die vereinbarten wirtschaftlichen Beziehungen nur sehr langsam vorankommen, was übrigens Hunderttausenden in den östlichen Ländern den Arbeitsplatz kostet. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag ist im Obersten Sowjet noch nicht verhandelt worden. Wir sollten dagegen keine falschen Zeichen und Herausforderungen setzen.
Das deutsch-sowjetische Verhältnis wird künftig daran gemessen werden, wie der Partnerschaftsvertrag mit seinen Nichtangriffsverpflichtungen erfüllt und in den Dienst des europäischen Friedens gestellt wird.
Meine Damen und Herren, die PDS-Fraktion hat dem Einigungsvertrag in der Volkskammer ihre Zustimmung verweigert, vor allem weil er den ökonomischen und sozialen Niedergang in Ostdeutschland vorprogrammiert hat.
({13})
Jetzt stehen wir vor der Notwendigkeit, selbst die minimalen Möglichkeiten dieses Vertrages einzuklagen, der immer mehr ausgehöhlt werden soll.
({14})
Wo bleiben z. B. die in Art. 28 dieses Vertrages beschworenen konkreten Maßnahmenprogramme zur Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums und des Strukturwandels für die neuen Bundesländer? Tatsache ist, daß fast drei Millionen um eine sinnvolle Tätigkeit gebracht wurden
({15})
und soziale Ängste sie belasten. Für das laufende Jahr geht es allein in den neuen Bundesländern um rund 50 Milliarden DM, die für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit eingesetzt werden müssen oder als Steuereinnahmen wegen fehlender Erwerbstätigkeit ausfallen. Wenn weiterhin vorwiegend Arbeitslosigkeit finanziert wird, geht das auch zu Lasten der Steuerzahler in den alten Bundesländern. Drastisch zeigt sich, daß die ungelösten Wirtschaftsprobleme in den neuen Bundesländern auch auf die Lohnabhängigen im Westteil unseres Landes zurückschlagen.
Während in der Koalitionsvereinbarung nur eine bescheidene Umlenkung von Investitionen in die neuen Bundesländer vorgesehen ist, wird der Treuhandanstalt eine klare Aufgabe gestellt, nämlich die Privatisierung so rasch und so weit wie möglich voranzutreiben. Zu diesem Konzept gehört, die ganze ostdeutsche Wirtschaft marode zu reden und die Filetstücke möglichst zum Nulltarif westdeutschen Unternehmern zu übergeben.
({16})
Erst wenn die Betriebe übernommen sind, hört man plötzlich von den neuen Besitzern: Die technische Ausrüstung ist gar nicht so schlecht; Gewinne kann man damit ganz gut machen.
({17})
Anstatt die bestehenden Betriebe bei der Strukturanpassung zu unterstützen, werden viele durch Verweigerung von Entschuldung und Exportförderung zu Produktionsstillegungen und in den Konkurs getrieben.
Auch die Träume von über 500 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen noch 1990 im Mittelstand sind vom Winde verweht. Analoges vollzieht sich im Bereich von Wissenschaft, Bildung, Kultur und Gesundheitswesen der ehemaligen DDR. Was hier unter dem Stichwort „Abwicklung" läuft, spricht allen Ansprüchen der Grundordnung der BRD auf Freiheit, Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Hohn.
({18})
Die DDR hatte vom November 1989 bis Oktober 1990 zwei Ministerpräsidenten. Auch sie sollen wohl
abgewickelt werden. Was mich anlangt, so galt ich vor der Wende als Reformer. Mancher Politiker der BRD wollte mich darin in vielfachen Gesprächen bestärken. In meiner Amtszeit als Ministerpräsident waren solche Gespräche von nationaler Verantwortung getragen. Wer das vergessen machen will, muß es mit sich selbst austragen.
Ich sage es ohne Wertung: Auch manche der hier anwesenden und andere Politiker der BRD sollten nicht verdrängen, daß es für sie im vergangenen Jahrzehnt wichtig war, vom langjährigen ersten Mann der DDR empfangen zu werden, lange und intensive Gespräche mit ihm zu führen,
({19})
was mir - das muß ich sagen - nicht zuteil wurde.
Zu Toleranz, Achtung und Vertrauen fordert uns der Bundespräsident bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf. Wir sollten eines nicht überhören und nicht vergessen: Es gibt nur einen Weg zum inneren Frieden:
({20})
Wo das Recht zur Anwendung kommen muß, soll das geschehen. Andersdenkende sollen sich gegenseitig ertragen und tolerieren. Ich muß das mit vielen von Ihnen auch.
({21})
Machen Sie sich deshalb dieses Prinzip auch zu eigen. Damit könnte der Bundestag in dieser Frage im Lande hunderttausendfach ein Beispiel geben.
Meine Damen und Herren, bereits bei der Beratung des Einigungsvertrages hatte die PDS nachdrücklich erklärt, daß die vorgesehenen Finanzausstattungen der Länder und Kommunen Ostdeutschlands völlig unzureichend sind. Das Leben hat es bestätigt. Die Finanzlage in den neuen deutschen Ländern hat sich dramatisch zugespitzt. Das bestätigt auch Ministerpräsident Stolpe mit der Feststellung, daß die für das erste Quartal 1991 bereitgestellten Mittel nur bis Ende Februar reichen werden. Wir erinnern uns sehr wohl daran, wie Finanzminister Waigel den ehemaligen SPD-Finanzminister Romberg der DDR abkanzelte, als dieser forderte, das gesamte Steueraufkommen auf dem Gebiet Ostdeutschlands diesen Ländern bis 1994 zu belassen. Heute stehen die Länder vor fast unlösbaren Problemen.
Nach den Festlegungen des Einigungsvertrags sollten die Mieten in den neuen Bundesländern nur unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung erhöht werden. Nun sollen sie noch in diesem Jahr rigoros bis auf das Dreifache erhöht werden.
({22})
Sieht man noch die rapide Erhöhung der Energiepreise, der Verkehrstarife und anderer Gebühren, dann wird immer offensichtlicher: Die Gewinne der Einheit Deutschlands werden privatisiert, und ihre
Kosten werden auf die Bevölkerung abgewälzt. Der innere Frieden wird damit auf das höchste belastet.
({23})
Den deutschen Steuerzahlern und den Menschen in der ehemaligen DDR wäre viel erspart geblieben, Herr Bundeskanzler, wenn der Solidarbeitrag zur Ankurbelung der ostdeutschen Wirtschaft zustande gekommen wäre. Ich hoffe, Sie erinnern sich an unsere Willenserklärung von Dresden. Von Schritt- und Augenmaß war damals noch die Rede. Der überstürzte Anschluß fordert nun einen immens hohen Preis.
Jetzt wird sichtbar, daß die damaligen Argumente, daß man sehr schnell handeln müsse, um den Massenexodus aus der DDR stoppen zu können, auch nur die halbe Wahrheit waren. Die Tatsachen haben dies eindeutig widerlegt. Von Januar bis Ende Oktober 1990 sind 255 000 Menschen in die Altbundesländer übergesiedelt, davon allein 73 000 nach der Währungsunion. Wir alle wissen: Dieser Strom hält weiter an.
Mit Sorge sehen wir, daß nicht nur der Einigungsvertrag ausgehöhlt, sondern auch am Zwei-plus-VierVertrag gerüttelt wird, nunmehr auch an den unwiderruflich festgeschriebenen Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage der Jahre 1945 bis 1949. Die PDS fordert im Interesse der ohnehin in ihrer Existenz bedrohten ostdeutschen Bäuerinnen und Bauern
({24})
und im Geiste der Vertragstreue gegenüber der UdSSR, jegliche Angriffe auf die Bodenreform zurückzuweisen und den Einigungsvertrag strikt einzuhalten. Ich appelliere an Sie, Herr Bundeskanzler: Beenden Sie sofort die unsinnige Diskriminierung der Genossenschaften in den ostdeutschen Ländern. Es ist doch gegen jegliche wirtschaftliche Vernunft entgegen dem mehrheitlichen Willen der ostdeutschen Bäuerinnen und Bauern, ihr Potential an wettbewerbsfähigen, zukunftsorientierten landwirtschaftlichen Betrieben aus politischen Gründen zu zerstören, statt sie zu rekonstruieren.
({25})
Es entspricht auch dem Auftrag der Wählerinnen und Wähler Ihrer Partei, die Kosten der Einheit durch eine vernünftige Nutzung alles Entwicklungsfähigen in der ehemaligen DDR zu begrenzen.
Man sollte sich auch, meine Damen und Herren von der Koalition, an ein Wort mit Aufmerksamkeit erinnern, das jetzt immer häufiger in den östlichen Ländern ausgesprochen wird, nämlich: So, wie es jetzt läuft, haben wir es nicht gewollt.
({26})
Meine Damen und Herren, angesichts der sehr ernsten wirtschaftlichen und sozialen Lage in den neuen Bundesländern sind Maßnahmen für einen wirtschaftlichen Aufschwung besonders dringlich. Er ist nicht nur durch einen anhaltenden Finanztransfer von West
nach Ost zu erreichen; er muß möglichst durch eine eigene wirtschaftliche Entwicklung geschaffen werden.
Unseres Erachtens sind dafür vor allem notwendig: erstens eine durchdachte und nach Prioritäten geordnete Strukturpolitik. Bestandteil eines solchen gesamtdeutschen Konzepts muß ein beschäftigungsorientiertes Förderprogramm sein.
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
({0})
Dann ein letztes Wort. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, gestern erklärten, daß es darum geht, Millionen Menschen in den neuen Bundesländern ermutigende Zukunftsperspektiven zu geben, dann kann man Ihnen nur zustimmen. Aber mit der Zerstörung der Wirtschaft und der Existenzgrundlagen von Millionen, mit Intoleranz, „Abwicklung" und hunderttausendfachen Ausgrenzungen ist diese Perspektive nicht zu schaffen, weder im Osten noch in der gesamten Bundesrepublik. Halten Sie ein auf diesem Weg, die von den Bürgerinnen und Bürgern zu tragenden Lasten werden zu groß sein!
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nein, Herr Modrow, bei allem ehrlichen Bemühen um eine neue Identität, Sie und Ihre Partei, die wie ein Phoenix aus der Asche der SED entstanden ist, täten, glaube ich, besser daran, sie würden sich voll und ganz der Vergangenheitsaufarbeitung stellen, als sich hier in flotten Schuldzuweisungen zu üben.
({0})
- Ich denke, Sie haben das erstmal zu bringen.
Wir stehen vor der Jahrhundertaufgabe, die Einheit Deutschlands zu verwirklichen, also gleiche Lebenschancen im Osten wie im Westen herzustellen, und gleichzeitig befindet sich Deutschland am Rande eines Krieges. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn die Bundesregierung ist dabei, weitere Truppen und Ausrüstungen an den Rand des Golfkrieges zu verlegen. Schon jetzt ist dieser Krieg außer Kontrolle. Die Bilder vom sauberen Telekrieg haben uns nur ein paar Tage blenden können. Wenn die Militärs beweisen wollen, daß ein Krieg führbar ist, demonstrieren sie doch eher das Gegenteil. Der Krieg ist nicht begrenzbar, nicht auf strategische Ziele, nicht auf konventionelle Waffen, nicht auf den Irak. Saddam Hussein ist in diesem Krieg der Aggressor, und der Irak muß Kuwait umgehend freigeben.
Dennoch war die Entscheidung der USA und ihrer Alliierten für eine militärische Lösung, sofern es eine
Schulz ({1})
solche überhaupt gibt, falsch und verhängnisvoll. Dieser Krieg muß so schnell wie möglich beendet werden, und deutsche Politik darf nicht den militärischen Sieg, sie muß einen baldigen Waffenstillstand zum Ziel haben. Frieden ja, nur Krieg um jeden Preis darf es nicht geben.
Die jetzt beginnende Hatz auf einen grausamen und fanatischen Diktator in seinem bombensicheren deutschen Betonbunker ist es nicht wert, daß dafür unzählige Menschen sterben, eine Region zerstört, Ressourcen vernichtet werden und unabsehbare Umweltschäden eintreten.
Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Dregger, haben kein Recht, die Friedensbewegung zu tadeln.
({2})
Es sind Bürgerinnen und Burger, die es mit der Bewahrung der Schöpfung ernst meinen und sich nicht hinter Lippenbekenntnissen verstecken. Das ist kein Antiamerikanismus, sondern die Überzeugung, daß Krieg, egal von welcher Seite er begonnen wird, kein Mittel der Politik sein darf.
({3})
Es geht um die politische Beilegung des Golfkonfliktes, die Einberufung einer Nah-Ost-Konferenz, den Wiederaufbau einer Region, sichere Grenzen für Israel ebenso wie für einen palästinensischen Staat.
Wir sind nicht bereit, den Golfkrieg durch die Zustimmung zu Steuererhöhungen zu unserem Krieg zu machen. Andererseits wissen wir, daß dieser Krieg mit jedem Tag mehr Leiden und größere Schäden hervorruft. Um diese Schäden soweit wie möglich zu beseitigen oder zu mindern, für humanitäre Hilfe zur Eindämmung der ökologischen Katastrophe, sollten wir Deutsche bereit sein, finanzielle Opfer zu bringen.
Aber eine Kriegssteuer - ich weiß, Sie werden sie anders nennen, das war heute schon der Fall - lehnen wir ab. Die Bundesrepublik und auch die DDR haben bei der Aufrüstung des Irak von Anfang an kräftig mitgeholfen. Die Bundesregierung hat immer wieder die Verhältnisse im Irak verharmlost, und die deutsche Industrie mehr oder weniger direkt ermutigt, dorthin waffenfähige Technologien zu liefern. Jetzt erleben wir, wie lebensbedrohend es ist, wenn Schwerter nicht umgeschmiedet, sondern verkauft werden.
Heute vergießt die Bundesregierung Krokodilstränen angesichts der Tatsache, daß Saddam Hussein diese Technologie gegen Israel einsetzt. Die angekündigten deutschen Lieferungen von Abwehrwaffen an Israel, auch wenn sie heute unausweichlich erscheinen, bewegen sich doch auf der tödlichen Spirale des Waffenexports. Wir unterstellen ausdrücklich nicht, daß dies Ihre Absicht ist. Dennoch macht sich die Aufrüstung des Irak heute für bestimmte deutsche Unternehmen doppelt bezahlt.
Die Bundesregierung kündigt jetzt verschärfte Maßnahmen zur Rüstungskontrolle an. Das wirkt wie eine Frisch-Adaption von „Biedermann und die Brandstifter" . Schließlich ist das Problem doch seit
Jahren wohlbekannt. Die GRÜNEN haben in den letzten beiden Wahlperioden wiederholt darauf hingewiesen und sind immer wieder auf taube Ohren gestoßen. Jetzt, wenn es brennt, kündigt der Wirtschaftsminister, Herr Möllemann, Maßnahmen an. Wir können nur hoffen, daß er nicht nach Herrn Töpfer zum zweiten Ankündigungsminister des Kabinetts Kohl wird.
({4})
Wir werden in den nächsten Tagen Anträge in den Bundestag einbringen, in denen wir erste Antworten auf das Scheitern der Politik am Golf geben wollen. Wir werden ein Gesetz einbringen, das es den Bürgern und Bürgerinnen ermöglichen soll, sich gegen die zwangsweise Veranlagung zur Rüstungsfinanzierung zur Wehr zu setzen und die Zweckbindung ihrer Steuerzahlung für friedliche Zwecke zu erreichen. Wir haben bereits jetzt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt, der das Gebaren der Bundesregierung im Hinblick auf Waffenexporte und den Export von waffenfähigen Technologien untersuchen soll. Wir kündigen außerdem jetzt schon eine Initiative an mit dem Ziel, den Export von Kriegswaffen radikal zu beschränken und dies auch im Grundgesetz zu verankern.
Im Schatten des Golf-Krieges hat sich die Lage in der Sowjetunion, insbesondere im Baltikum, zugespitzt. Wir dürfen dem verschärften Druck Moskaus auf die baltischen Republiken nicht untätig zusehen. Sowjetisches Stillhalten gegenüber dem Golf-Krieg mit westlichem Stillhalten gegenüber den sowjetischen Militäraktionen zu verbinden - dieses Kalkül darf nicht aufgehen. Auf die flagrante Verletzung der Menschenrechte - so hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats den Eingriff der Sowjetarmee in den Ostseerepubliken jüngst zu Recht bezeichnet - hat der Westen noch keine angemessene Antwort gefunden. Bisher haben, mit unterschiedlichen Akzenten, alle im Bundestag vertretenen Parteien die Auffassung vertreten, daß der Prozeß der Perestroika durch vielfältige Unterstützungsmaßnahmen für die Sowjetunion nach Kräften gefördert werden sollte. Doch eine pauschale Unterstützung der Sowjetunion, nur um die Position Gorbatschows nicht zu gefährden, das kann heute nicht mehr ausreichen. Jetzt ist vor allem praktische Solidarität mit denen notwendig, die unter Berufung auf die Menschenrechte demokratische Entfaltungsmöglichkeiten suchen, wie dies die baltischen Republiken tun, und zwar sowohl Litauer, Letten, Esten als auch dort lebende Russen und Polen.
Außenpolitik, so scheint es, ist in dieser Regierung nicht eine Angelegenheit der Koalition, sondern die persönliche Sache des Außenministers. So hat es sich wohl erübrigt, in der Koalitionsvereinbarung Festlegungen hierfür zu treffen. Das ist bedauerlich. Gern hätten wir erfahren, ob die Bundesregierung konzeptionell auf die dramatischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa reagieren wird, ob sie aus dem Zerfall des Warschauer Paktes Schlüsse auf die Sicherheitspolitik zu ziehen gedenkt. Dann müßte sie z. B. etwas sagen über die politische Zukunft der NATO und über die Rolle der KSZE, der gegenwärtig einzigen gesamteuropäischen Organisation.
Schulz ({5})
Nach jüngsten Meinungsumfragen fühlen sich fast zwei Drittel der Westdeutschen durch den Golf-Krieg bedroht, während sich die Mehrheit der Ostdeutschen vor allem auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern besorgt zeigt. Das charakterisiert die gespaltene Bewußtseinslage der Nation.
Die Koalitionsvereinbarung vermittelt den Eindruck, die Dramatik der deutschen Vereinigung liege Jahre zurück oder es habe sie überhaupt nie gegeben. Es ist ein Trugschluß zu glauben, einem großen Wahlsieg müsse große Politik folgen. Alles läuft wie gehabt. Es ist die 12. Legislaturperiode des Bundestags und nicht die 1. eines gesamtdeutschen Parlaments.
Die Koalition hat für ihr Programm, die Einheit ohne Steuererhöhung zu ermöglichen, eine klare Mehrheit erhalten. Ein Konzept dafür ist sie schuldig geblieben. Wo ist das Aufbauprogramm, das Zukunftsprogramm für die deutsche Integration, das den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern Perspektiven eröffnet, die kommenden Jahre zu bestehen?
Ständig ist - um einen Ihrer Allgemeinplätze zu verwenden - von Weichenstellung die Rede, ohne daß - um in der Metapher zu bleiben - die finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Schienen erkennbar sind. Die Situation wird mit den 50er Jahren verglichen. Aber wo bleibt der Marshallplan, wo ist der Lastenausgleich? Offensichtlich wollen Sie vergessen, daß die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland 45 Jahre lang ihren Rücken hingehalten haben, um gemeinsame Geschichtsverantwortung abzutragen. Jetzt fällt, wenn wir nicht aufpassen, endgültig auseinander, was doch zusammengehören soll.
Just am Tag Ihrer hoffnungsvollen Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, stellt das „Handelsblatt" kühl und sachlich fest, daß sich die Hoffnungen auf einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung in Ostdeutschland zerschlagen haben.
Die deutsche Vereinigung ist kein sich selbst finanzierender Prozeß. Die Dezember-Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit weisen 642 000 Arbeitslose, 1,8 Millionen Kurzarbeiter für Ostdeutschland aus. Umgerechnet auf Vollzeit-Arbeitslose entspricht das etwa 1,5 Millionen Arbeitslosen. Das heißt mit anderen Worten: Die wirkliche Arbeitslosenquote liegt vermutlich bei mehr als 15 %.
Die Länder und die Kommunen in Ostdeutschland befinden sich in einem beklagenswerten Zustand. Ihre eigene Steuerkraft ist noch nicht entwickelt; der Einigungsvertrag schließt sie vom Länderfinanzausgleich aus. Die Zuweisungen aus dem Fonds Deutsche Einheit decken nicht einmal den geringsten Bedarf.
Dabei sind die Herausforderungen, die auf die neuen Länder zukommen, ungleich größer, als sie von den alten Bundesländern zu bewältigen sind. Denken Sie nur an die Schaffung einer leistungsfähigen Infrastruktur, an die Neustrukturierung und den Aufbau des Schul- und Hochschulwesens, an die Gesundheitsversorgung. An allen Stellen muß gleichzeitig angepackt, müssen neue Orientierungen geschaffen werden, müssen die Probleme gleichzeitig schnell und wirksam gelöst werden. Es ist keine Zeit. Wenn sich die Verhältnisse nicht rasch bessern, werden von
den Leistungsfähigen, die zwischen Rostock, Erfurt und Görlitz dringend gebraucht werden, noch mehr in den Westen abwandern. Diese Abwanderung hält unbegrenzt an. Auch der beabsichtigte Steuerfreibetrag wird daran nichts ändern.
Je länger der Aderlaß der fünf ostdeutschen Länder anhält, desto schlechter sind die Ausgangssituationen für einen baldigen Aufschwung und desto höher wird auch der Bedarf an personellen und finanziellen Hilfen aus den alten Bundesländern. Nur schnelle Hilfe ist auch wirksame Hilfe. Ohne massive Unterstützung, die über das bisher angekündigte Maß deutlich hinausgeht, haben die Landesregierungen, gleich welcher Couleur, keine reelle Chance, der Abwärtsentwicklung gegenzusteuern.
Schon der Aufbau leistungsfähiger Verwaltung wird ihnen schwer genug gemacht. Wer für doppelte Arbeit und dreifache Schwierigkeiten nur ein Drittel des Gehalts bei schlechterer Einstufung anbieten kann, wird nicht die Leute bekommen, die er braucht.
({6})
Das Bedrückende dabei ist: Die Misere ist Ihnen bestens bekannt. Ihre eigenen Parteifreunde, Herr Bundeskanzler, allen voran der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf, haben deutlich vernehmbar Alarm geschlagen, haben eine bessere Finanzausstattung der Länder auch um den Preis von Steuererhöhungen gefordert. Die Antwort Ihrer Regierung und ihrer Koalitionsvereinbarung ist mehr als mager. Auf der einen Seite stehen Wirtschaftsboom, volle Auftragsbücher, Steuermehreinnahmen und neue Arbeitsplätze; auf der anderen Seite, im Osten, schließen die Betriebe, und die öffentlichen Kassen sind leer. Es wird Zeit, nach der Abwicklung der DDR und ihrer Institutionen nun den westdeutschen Egoismus abzuwickeln.
({7})
Über die unzureichenden Regelungen des Einigungsvertrages hinaus haben Sie den ostdeutschen Ländern nicht viel anzubieten. Die sofortige uneingeschränkte Einbeziehung dieser Länder in den Länderfinanzausgleich ist aus materiellen wie aus verfassungsrechtlichen Gründen dringend geboten. Zusätzliche Mittel müssen nach unserer Auffassung durch eine Solidarabgabe der deutschen Wirtschaft bereitgestellt werden. Aber auch Wohlhabende und Besserverdienende müssen ihren Beitrag leisten.
({8})
Und was machen Sie? Sie wollen die Vermögensteuer abschaffen. Sie haben Recht, wenn Sie die Kostenbelastung der Unternehmen in den fünf neuen Ländern niedrig halten wollen. Das hilft auch den Betrieben, die nur wenig oder gar nicht investieren können. Aber in einer Zeit, in der die Solidarität der Wohlhabenden gefordert ist, können Sie nicht die Vermögensteuer streichen und gleichzeitig von den
Schulz ({9})
Arbeitnehmern höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung kassieren.
({10})
Abschließend einige Bemerkungen zur Wirtschaftspolitik:
Erstens. Die Bundesrepublik schätzt die Dimension der Aufgabe, die ostdeutschen Länder wirtschaftlich wieder in Gang zu bringen, offenbar falsch ein. Was hier an Förderungsmaßnahmen vereinbart ist, würde nicht ausreichen, westdeutsche strukturschwache Gebiete auf den Bundesstandard zu bringen.
Zweitens. Die Bundesregierung verkennt den notwendigen Zusammenhang von wirtschaftlichem Aufbau und ökologischem Umbau in den ostdeutschen Ländern. Sie setzt auf wirtschaftliche Expansion zu Lasten der Umwelt und verschreibt sich erneut dem Teufelskreis von Umweltzerstörung und Umweltreparatur. Ein deutlicher Hinweis darauf ist die geplante Einschränkung der Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Planung von Infrastrukturmaßnahmen.
Drittens. Der Glaube an die Segnung des uneingeschränkten Wirkens der Marktkräfte und an den unbedingten Sinn der Privatisierung von Staatseigentum und Staatsaufgaben ist ungebrochen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier ideologisches Denken an die Stelle sachgerechter Abwägung getreten ist.
({11})
Viertens. Die Hoffnung auf die Aufrechterhaltung und sogar den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit den bisherigen RGW-Staaten ist unrealistisch. Dieser Handelsaustausch ist schon vor der Umstellung des Handels auf konvertible Währung drastisch zurückgegangen. Viele der ostdeutschen Unternehmen haben kein besonderes Interesse an Importen aus dem RGW-Raum, weil sie westlichen Standards meist nicht genügen. Nach dem Auslaufen der großzügigen Exportregelung des Staatsvertrages sind sie auch in Osteuropa gegenüber westlichen Firmen zumeist nicht mehr konkurrenzfähig. Die anfänglich erhoffte Stütze der ostdeutschen Wirtschaft ist bereits zusammengebrochen.
Schon im vergangenen Sommer war für Kurt Biedenkopf klar - ich zitiere - :
Wir haben den Deutschen in der DDR zuviel versprochen. Wir haben gesagt, es gebe ein Wirtschaftswunder. Wir haben gesagt, die Einheit koste nichts. Wir haben hohe Wachstumsraten vorausgesagt. Namhafte Bonner Politiker gingen sogar so weit, die DDR-Bürger zur Dankbarkeit darüber aufzufordern, daß wir ihnen die D-Mark als das Kostbarste, das wir haben, auf dem Silbertablett präsentieren. Mit solchen Reden haben wir unerfüllbare Erwartungen geweckt.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Regierungserklärung verstärkt die Ernüchterung.
({12})
Das Wort hat der Herr Bundesfinanzminister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schulz, Sie haben gesagt, wir hätten nicht das Recht zur Kritik an der Friedensbewegung. So kann es doch wohl nicht sein, daß Sie das Recht haben, uns überall zu kritisieren, aber daß wir nicht das Recht haben, Sie zu kritisieren!
({0})
Ein Zweites. Sie haben dieser Bundesregierung unterstellt, sie habe mit dazu beigetragen, daß hier dieser Waffenexport erfolgt sei.
({1})
Das ist eine Unterstellung, die Sie niemandem in dieser Regierung und in früheren Regierungen zumuten können. Das ist eine Unterstellung, die ich zurückweise.
Wenn wir hier unsere Empörung äußern, dann sind das keine Krokodilstränen. Auch diese Unterstellung gegenüber dieser Bundesregierung weisen wir zurück.
({2})
Das Aufbaukonzept, ein umfangreiches Förderinstrumentarium zum Aufbau in den neuen fünf Bundesländern, liegt vor. Es wurde schon vor den Koalitionsvereinbarungen festgelegt und ergänzt. Alle denkbar möglichen Instrumentarien der bewährten und erprobten Steuer- und regionalen Wirtschaftspolitik haben wir hier angewendet in einer, wie ich meine, guten Kombination der Investitionszulage, der Abschreibungsverbesserungen, der entsprechenden Programme und allem, was es in der regionalen Strukturpolitik gibt. Wenn Sie hier schon jetzt wieder versuchen, in Sachen Vermögensteuer so etwas wie eine Neiddiskussion aufzubauen, dann frage ich: Macht es eigentlich Sinn, eine Steuer zu erheben, für die ich vorher die Einheitswerte, die es kaum gibt, feststellen müßte, wofür ich Tausende von Finanzbeamten benötigen würde? Ich meine, es ist sehr sinnvoll, auf die Erhebung dieser Steuer und auch der Gewerbekapitalsteuer zu verzichten. Wenn wir das übrigens dann auch in der ersten Stufe der Unternehmenssteuerreform in ganz Deutschland tun, steht dabei auch die Gegenfinanzierung über eine Verringerung der Abschreibungsbedingungen zur Debatte. Ich bitte, das nicht zu übersehen. Auch das gehört zu dem Gesamtkonzept, auf das wir uns verständigt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich - weil man das einfach nicht so stehenlassen kann - ein paar Bemerkungen zu Herrn Modrow machen. Ein Mann, der vorher und vor allen Dingen in seiner Zeit als Ministerpräsident so versagt hat und die Zeit nicht genützt hat, hat kein Recht, hier anderen Vorwürfe zu machen.
({3})
Er und die anderen SED-Machthaber, die damals nach dem Sturz von Honecker angetreten sind, haben offensichtlich mehr Zeit und Kraft für die Strukturerhaltung der SED und ihres Vermögens verbracht, als
sich um die Menschen in der früheren DDR zu kümmern.
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Wir hätten schon ganz gerne einmal Auskunft darüber erhalten, was Herr Modrow früher als Bezirkssekretär der SED alles gewußt hat, was er getan hat und wofür er Verantwortung trägt.
({5})
Wenn er von „pharisäerhaft" gesprochen hat, frage ich ihn einmal: Wo war er 1968, als die Tschechoslowakei überfallen wurde, und wo hat er gegen Waffenlieferungen protestiert, die von der DDR offiziell nach Afrika und überall in die Welt hinausgegangen sind?
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Dieser Mann, der sich gerne als Biedermann ausgab und ausgibt, ist ein Brandstifter in der Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte gewesen.
({7})
Nach wie vor stehe ich dazu: Diesem Mann und seiner Umgebung konnte man damals im Januar 15 Milliarden DM nicht anvertrauen.
({8})
Ich möchte mich nun mit einigen Bemerkungen des Kollegen Vogel beschäftigen, aber dies in einer anderen Weise als der, die jetzt notwendig war, weil ich dem Kollegen Vogel trotz einiger Attacken und Kritiken, die zum Ritual gehören, einen sachlichen Beitrag in dieser ernsten Situation bestätigen möchte.
Aber von Ihnen als einem guten Juristen, Herr Vogel, hätte ich erwartet, daß Sie den Unterschied zwischen Abgabe und Steuer etwas genauer ausführen, als Sie das zu tun beliebt haben.
({9})
Darf ich Sie, Herr Kollege Vogel, daran erinnern, daß in einer SPD-geführten Bundesregierung in den Jahren 1979 und 1980 eine Sonderablieferung stattgefunden hat, eine Erhöhung der Abgabe um 50 % , nämlich von 6 2/3 auf 10 %, und daß dies ab 1981 insgesamt ein Volumen von etwa 18,8 Milliarden DM ergeben hat?
Wir haben das auf 2 Milliarden DM begrenzt und - temporär - auf nur vier Jahre. Ich meine, das ist vertretbar und auch der Normalfamilie durchaus zumutbar. Dazu stehen wir. Das ist keine Telefonsteuer, sondern eine temporär begrenzte stärkere Ablieferung der Bundespost an den Bundeshaushalt in einer schwierigen Situation.
({10})
Was übrigens den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung anbelangt, habe ich davon von dieser Stelle aus vor der Bundestagswahl gesprochen. Ich habe ausdrücklich gesagt, daß die Kosten, die durch die Arbeitslosigkeit entstehen, dort gedeckt werden müssen, wo sie entstehen, und nicht dem Bundeshaushalt aufgelastet werden können. Insofern ist diese Maßnahme systemkonform; sie ist marktkonform. Sie kann dann wieder reduziert werden, wenn die Probleme in den neuen fünf Bundesländern gelöst sind.
({11})
Herr Kollege Vogel, ich will auch ganz offen zu dem Stellung nehmen, was Sie zur Rückerstattung im Falle der bestandskräftigen Bescheide im Zusammenhang mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes gesagt haben: Natürlich wäre es mir - und ich glaube, jedem anderen auch - lieber, wir könnten diese Rückerstattung auf alle Betroffenen ausdehnen. Ich habe auch von dieser Stelle aus gesagt: Es ist schwer zu vermitteln, daß nur diejenigen etwas zurückbekommen, die Einspruch eingelegt haben, und andere nicht.
({12}) Ich habe das hier gesagt.
Nur meine Damen und Herren: Bei den Kosten, die insgesamt entstehen, nämlich in der Größenordnung von 14 Milliarden DM bis 17 Milliarden DM, bei den Problemen, die dadurch entstehen, daß etwa 11 Millionen Fälle neu aufgerollt werden müßten, und angesichts der Tatsache, daß, was den Lohnsteuerjahresausgleich angeht, zum Teil die entsprechenden Lohnsteuerkarten nicht mehr zur Verfügung stehen, glaube ich es vertreten zu können, daß wir für die Zukunft den Familienlastenausgleich entscheidend verbessern, nachdem wir schon in den letzten Jahren, was die Freibeträge anbelangt, in eine Größenordnung gekommen sind, die das Bundesverfassungsgericht angemahnt hat. Ich glaube, das ist eine vertretbare Lösung, mit der die große Mehrheit auch der Betroffenen einverstanden ist. Wichtiger ist es, für die Zukunft das Notwendige und Mögliche zu tun, als für die Vergangenheit das korrigieren zu wollen, was uns das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht aufgegeben hat.
({13})
Lieber Kollege Solms, ich verbinde mit Ihrem ersten Auftritt als Fraktionsvorsitzender die Hoffnung und die Zuversicht auf eine gute Zusammenarbeit. Ihre Sachlichkeit und Ihre Fairneß bieten dazu eine gute Voraussetzung.
({14})
- Ich pflege es so zu machen: zunächst das Lob.
({15})
Ich möchte noch etwas hinzufügen - ich glaube, auch das ist angebracht - und Ihrem Vorgänger, Kollegen Mischnick, unsere große Hochachtung und unseren Dank für die großartige Zusammenarbeit mit ihm aussprechen.
({16})
Das gilt menschlich, das gilt persönlich, und das gilt politisch.
Was nun den „Bayernkurier" anbelangt, so hat auch der das Recht auf Kritik. Sogar die FDP hat sich in vergangenen Zeiten herausgenommen, den Bundeskanzler zu kritisieren, sogar den Finanzminister zu kritisieren.
({17})
Der Kollege Weng hat dies damals, zwei Tage, bevor ich den ersten Haushalt vorgelegt habe, getan. Das ist damals in der Koalition trotzdem nicht als unbotmäßig bezeichnet worden.
Was nun die Erwähnung anbelangt: Wir sind immer für Auflagensteigerung, selbstverständlich.
({18})
Dazu haben auch Sie in dieser Debatte beigetragen.
({19})
- Ich nehme an, der Kollege Lambsdorff will danach fragen, wann bei ihm nun endlich die Exemplare einlaufen, weil wir ihm ja ein Freiexemplar zugesagt haben.
({20})
Das Beispiel mit dem Mond und dem Hund trifft nicht zu. Wir müssen uns all der Kritik stellen, Herr Kollege Solms, die es in den letzten Tagen gegeben hat, in deutschen Zeitungen, im „Wall Street Journal" , in der „Times" und in vielen anderen Zeitungen. Wenn Sie die dann auch mit „Mond und Hund" vergleichen würden, wäre das, glaube ich, nicht gut für die weitere Diskussion auch im Ausland.
({21})
Herr Bundesminister, sind Sie bereit, noch die Frage zu hören, die Sie offenbar schon beantwortet haben?
Herr Minister, in dieser Beantwortung war schon wieder eine Minimierung enthalten. Darf ich Sie deswegen korrekterweise an das erinnern, was Sie mir zugesagt haben, nämlich ein freies Jahresabonnement des „Bayernkurier"
({0})
und nicht nur ein Freiexemplar, und darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß das immer noch nicht angekommen ist, und darf ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß Sie in der Einhaltung Ihrer finanzpolitischen Zusagen zuverlässiger sind als in dieser Frage?
({1})
Sie können sich erstens darauf verlassen, daß wir in der Finanz- und Steuerpolitik noch zuverlässiger sind als Sie und Ihre Partei.
({0})
Zum zweiten bestand da ja immer mehr Übereinstimmung, als das manchmal nach außen hin in Erscheinung trat. Drittens bekommen Sie natürlich ein Jahresabonnement. Die Exemplare, die bisher bei Ihnen noch nicht eingegangen sind, werden Ihnen nachgeschickt.
({1})
Graf Lambsdorff, so wie ich Sie keime, sind Sie bereit, ihn ab nächstem Jahr - bei diesen großartigen Beiträgen, die Sie dann vor allem auch von mir lesen können - selber zu bezahlen.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das gestern vom Bundeskanzler vorgetragene und begründete Regierungsprogramm ist eine umfassende Antwort auf die gewaltigen Herausforderungen, die sich uns in den kommenden vier Jahren stellen. Dieses Programm baut auf den Fundamenten einer seit mehr als acht Jahren erfolgreichen Politik auf, die jetzt allen Deutschen in Ost und West Vorteile bringt.
Wie in den Koalitionsvereinbarungen der Jahre 1983 und 1987 ist auch diesmal die Handschrift der Christlich-Sozialen Union deutlich erkennbar. Wir arbeiten in dieser Koalition und in dieser Regierung konstruktiv mit.
Im Mittelpunkt unserer Aufgaben und Ziele steht die Vollendung der Deutschen Einheit. Aber die Koalitionsvereinbarungen reichen wesentlich weiter. Wir haben nicht nur gespart und umgeschichtet, sondern wir haben die Voraussetzungen für ein umfassendes Zukunftsprogramm entwickelt.
Diese Bundesregierung hat im historischen Jahr 1990 Stehvermögen unter Beweis gestellt. Wir haben die Wiedervereinigung innerhalb kürzester Fristen erreichen können, weil die wirtschafts- und finanzpolitischen Fundamente stabil waren. Schon heute zeigt sich, wie richtig es war, die wohl einmalige historische Chance zur Vollendung der Einheit mutig zu ergreifen und nicht - wie es der gescheiterte Kanzlerkandidat der SPD wollte - zu zögern. Wer würde heute noch für das Prinzip Langsamkeit eintreten? Alle Stufenpläne, die es damals gegeben hat, wären heute längst steckengeblieben, ohne daß wir das positive Ende in der Zeit erreicht hätten.
({3})
Auch angesichts der Dominanz der deutschlandpolitischen Aufgaben war die Solidität unserer Finanz- und Haushaltspolitik zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Statt den seit Frühjahr 1990 immer wieder erhobenen Forderungen nach Steuererhöhungen nachzugeben, haben wir alle Spielräume für Ausgabenbegrenzungen ausgenützt.
({4})
Bereits im Nachtragshaushalt 1990 und im ursprünglichen Entwurf für den Bundeshaushalt 1991 wurde der Ausgabenrahmen um 12,5 Milliarden DM reduziert.
Im Ergebnis ist der Finanzierungssaldo im Bundeshaushalt 1990 um rund 17 Milliarden DM unter dem ursprünglichen Ansatz geblieben. Insgesamt haben die öffentlichen Haushalte im letzten Jahr statt 120 Milliarden DM nur rund 95 Milliarden DM an Krediten aufgenommen. Mit einem Anteil des Finanzierungssaldos von rund 3,5 % am Bruttosozialprodukt blieb die Belastung der Finanzmärkte in engen Grenzen.
({5})
- Auch mir wäre es lieber, wenn die Belastung niedriger wäre. Nur muß in einem Jahr der Einheit, das es nur einmal in einem Jahrhundert gibt, auch diese Kraftanstrengung geleistet werden. Wir belasten den Kapitalmarkt weniger als andere Länder durch strukturelle Defizite den nationalen oder internationalen Kapitalmarkt.
({6})
Die vorsorglich aufgenommenen Kredite des letzten Jahres stehen für die Haushaltsfinanzierung dieses Jahres zur Verfügung. Das ist ein wichtiges Signal für die Finanzmärkte, die wie bisher auf die Solidität der deutschen Finanzpolitik vertrauen können.
Der günstige Haushaltsabschluß 1990 zeigt auch folgendes: Es liegt nicht in erster Linie am Mangel an finanziellen Mitteln, wenn Verzögerungen bei Infrastrukturinvestitionen in den neuen Bundesländern auftreten. Noch wichtiger ist es, die administrativen Voraussetzungen zu schaffen, damit die ausreichend bereitgestellten Mittel auch dort investiert werden können, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Bei allem Verständnis für die Sorgen der finanzpolitisch Verantwortlichen in den Ländern und Gemeinden, vor allem in den neuen Bundesländern, möchte ich sagen: Es gibt keinen Grund, die Situation der öffentlichen Haushalte zu dramatisieren. Die westlichen Bundesländer haben im letzten Jahr wachstumsbedingte Steuermehreinnahmen von über 1 Milliarde DM erzielen können. Die Defizite der Länder und Gemeinden im ursprünglichen Bundesgebiet werden mit insgesamt rund 20 Milliarden DM deutlich niedriger ausfallen als ursprünglich erwartet.
Die Finanzausstattung der neuen Bundesländer liegt natürlich noch unter dem Niveau im ursprünglichen Bundesgebiet. Sie erreicht aber schon 1991 gut 72 % dieses Niveaus, viel mehr, als es der relativen Wirtschaftskraft entspricht. Der Bund leistet einen erheblichen Finanztransfer an diese Länder. 76 Milliarden DM sind es allein im Jahre 1991.
Ich freue mich auch über die grundsätzliche Bereitschaft der westlichen Bundesländer, einen höheren Anteil am Umsatzsteueraufkommen der Länder bereitzustellen. Ich hoffe, daß wir im Februar bei den Gesprächen der Finanzminister und dann auch beim Gespräch des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsidenten zu einer Lösung kommen werden. Es wird höchste Zeit. Dieser Weg ist der beste. Eine weitere Aufstockung des Fonds über Kreditfinanzierung kann für uns aus geldpolitischen Gründen nicht in Frage kommen.
({7})
Der Haushaltsabschluß 1990 ist eine gute Ausgangsbasis für die noch größer werdenden Anforderungen der kommenden Monate, auf die der Bundeskanzler gestern eingegangen ist. Das Bundeskabinett hat vorgestern entschieden, zusätzlich zu den bereits geleisteten 5,3 Milliarden DM weitere 8,3 Milliarden DM zur Finanzierung der multinationalen Golftruppen zur Verfügung zu stellen. Wir sind zur Finanzierung dieses zusätzlichen Engagements bereit. Wären wir im Jahre 1990 statt des steinigen Pfades zur Ausgabenbeschränkung allerdings den breiten Weg zur Steuererhöhung gegangen, dann hätten wir schon die zweite oder dritte Steuererhöhung hinter uns und hätten nun nicht die Möglichkeit, auf diese neue Herausforderung hin - und zwar nicht nur im Nahen Osten, sondern auch zum Aufbau der Demokratien und der Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa - das Notwendige und Sinnvolle zu tun.
({8})
Angesichts der absehbaren und möglicher weiterer Anforderungen aus dem Golfkonflikt und der Entwicklung im östlichen Teil Europas werden Steuererhöhungen nicht zu vermeiden sein. Es wird allerdings keinen steuerpolitischen Schnellschuß geben. Wir werden die künftigen Belastungen sorgfältig kalkulieren und die Finanzierungsoptionen genau prüfen. Und: Es muß bei allen Sparbeschlüssen bleiben, die wir in der Koalition und in der Regierung vereinbart haben. Es darf kein Abweichen von dieser Linie für die Jahre 1991 bis 1994 geben.
({9})
Das deutsche Unterstützungspaket läßt keinen Zweifel an unserer Bereitschaft zur Verantwortung. Die Bundesregierung hat sich in der gegenwärtigen Situation nicht auf ein kleinliches Feilschen um finanzielle Solidarität denjenigen gegenüber eingelassen, die uns gegenüber im letzten Jahr und in den letzten Jahrzehnten ebenfalls nicht kleinlich gewesen sind.
({10})
Die Schuld am Golfkrieg trägt einzig und allein der Irak durch seinen Überfall auf Kuwait. Nahezu ein halbes Jahr lang wurde auf diplomatischem Weg von US-Präsident Bush über den UNO-Generalsekretär bis hin zu Michail Gorbatschow der Versuch einer friedlichen Lösung unternommen. Alle diese Initiativen waren ebenso erfolglos wie die Gespräche von Willy Brandt. Ich beziehe das nur auf den Frieden, nicht auf die Bemühungen um die Freilassung.
Wir müssen jetzt unsere Solidarität mit den Alliierten unter Beweis stellen, die die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland 40 Jahre lang garantiert und entscheidende Beiträge zur Vollendung der Einheit unseres Vaterlandes geleistet haben.
Wer in diesen Tagen aber wie Teile der SPD die Amerikaner und ihre Verbündeten wegen ihres Gegenschlages kritisiert, der handelt verantwortungslos. Er trägt damit - ob gewollt oder ungewollt - zu einem Antiamerikanismus bei. Der Art. 5 des NATO-Vertrages gilt für alle, auch für uns. Wer in diesen Tagen und Wochen die Bündnistreue Deutschlands leichtfertig in Frage stellt, der darf sich nicht wundern,
wenn er die Bündnisfähigkeit mittelfristig verlieren könnte.
({11})
Das, was die Amerikaner bisher getan haben, darf nicht als Provokation bezeichnet werden, sondern sie haben das getan, was die Völkerfamilie beschlossen hat. Das ist nicht eine Provokation. Die Provokation hat der irakische Diktator vorgenommen und sonst niemand.
({12})
Die Situation am Golf zeigt: Wir benötigen auch in Zukunft eine leistungsfähige Bundeswehr und eine NATO, die über ein glaubwürdiges Maß an nuklearer Abschreckung verfügen und in der Lage sind, die sicherheitspolitischen Belange des Westens weltweit durchzusetzen.
({13})
Wer die europäische Integration bejaht, muß auch bereit sein, die sicherheitspolitischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Wer wie Oskar Lafontaine und seine Freunde die heutigen Nationalstaaten Europas als Provisorien bezeichnet und für die Zukunft auf die europäische politische Union setzt, hat den Anspruch auf Glaubwürdigkeit verloren, wenn er gleichzeitig den Einsatz der Franzosen, Briten, Italiener und Niederländer am Golf ablehnt.
Ich danke dem Kollegen Klose für seinen mutigen Beitrag in seinem bekanntgewordenen Brief, mit dem er die innere Zerrissenheit der SPD in dieser existenziellen Frage dargelegt hat.
({14})
Meine Damen und Herren, als Deutsche haben wir eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Die Solidarität mit diesem Land muß sich gerade jetzt bewähren. Wir haben deshalb Israel umfassende Unterstützung angeboten.
Wer als Gesinnungspazifist für den Frieden demonstriert, verdient unseren Respekt. Aber mit gesinnungsethischen Haltungen kann weder die Freiheit Kuwaits hergestellt noch die äußere Sicherheit Israels garantiert werden. Die sogenannte Friedensbewegung demonstriert zum falschen Zeitpunkt, am falschen Platz und gegen die falschen Ziele.
({15})
Ein bedingungsloser Waffenstillstand würde es dem irakischen Diktator nur erlauben, neue militärische Kraft zu schöpfen. Dies liegt nicht in unserem Interesse. Wir können doch keine Politik betreiben nach dem Motto: Stoppt den Golfkrieg; freie Hand für Saddam Hussein!
Wer heute auf Äquidistanz zum Irak und zu den Alliierten gehen will, der gerät in die Gefahr einer weltweiten Selbstisolierung. Schon heute befinden sich die deutschen Sozialdemokraten in der Sozialistischen Internationale in der Rolle eines alleinstehenden Außenseiters. Der Schlüssel zum Frieden am Golf
liegt einzig bei Saddam Hussein, der seine Besatzungstruppen aus Kuwait abziehen muß.
({16})
Meine Damen und Herren, wir sind uns sicher alle einig in den Bemühungen, alle noch vorhandenen Möglichkeiten zur Verschärfung der Kontrolle von Waffenexporten auszuschöpfen. Daß bei der Bekämpfung nicht genehmigter, illegaler Exporte die bloße Verschärfung von Strafrechtsbestimmungen erfolgversprechend ist, wage ich zu bezweifeln. Es spricht auch nicht für die Glaubwürdigkeit, wenn jahrelang über die COCOM-Liste in der Art und Weise diskutiert und strittig debattiert wurde, wie es hier ja auch immer wieder von der SPD erfolgt ist.
({17})
Deutschland hat durch die friedliche Wiedervereinigung, durch die Hilfe für die ehemaligen RGW- Staaten und die Finanzierung des sowjetischen Truppenabzugs aus Mitteleuropa entscheidend zur Beendigung des Kalten Krieges beigetragen. Über unser unmittelbares nationales Interesse hinaus haben wir insgesamt an direkten und indirekten Leistungen 37 Milliarden DM für die Staaten des ehemaligen Ostblocks bereitgestellt. Fast die Hälfte des westlichen finanziellen Engagements in unseren östlichen Nachbarstaaten entfällt auf Deutschland.
Meine Damen und Herren, ein Rückfall der Sowjetunion in die Politik der Konfrontation würde uns und die Sowjetunion teuer zu stehen kommen. Es ist viel wichtiger, die vernünftige wirtschaftliche Kooperation fortzusetzen.
Aber wir dürfen gegenüber Moskau auch keine Zweifel an unserer entschiedenen Verurteilung der Militäraktion im Baltikum lassen.
({18})
Diese Aktion ist ein Schlag gegen das neue Denken und den Frieden in Europa. Man kann nicht eine freie Marktwirtschaft und ein marktwirtschaftliches System aufbauen wollen, ohne daß dem freiheitliche Demokratie, Willensbildung und Pluralismus gleichzeitig folgen.
({19})
An der Einhaltung unserer vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion darf es keinen Zweifel geben. Die weiteren Hilfen der Europäischen Gemeinschaft zur Unterstützung der Wirtschaftsreformen in der UdSSR müssen allerdings den Vorgängen in Litauen und Lettland auf geeignete Weise Rechnung tragen. Das haben der EG-Ministerrat und die übrigen Räte ebenfalls zum Ausdruck gebracht.
Auch nach Anerkennung der polnischen Westgrenze tragen wir, meine Damen und Herren, Verantwortung für unsere Landsleute jenseits von Oder und Neiße. Ein deutsch-polnischer Grundlagenvertrag muß deshalb umfassende Volksgruppen- und MinBundesminister Dr. Waigel
derheitenrechte für die Deutschen in Polen enthalten.
({20})
Meine Damen und Herren, das große Engagement Deutschlands im östlichen Teil Europas findet auch international zunehmende Anerkennung, zuletzt beim Treffen der Finanzminister und Notenbankpräsidenten der größten Industrienationen in New York und in der letzten Woche beim Rat der Finanzminister in Brüssel. Wir haben einen ganz wichtigen Beitrag zum weltweiten wirtschaftlichen Wachstum erbracht. Wir sind Wachstumsexporteur. Wir bauen unsere Überschüsse ab. Wenn andere Partner in Europa in diesem Zeitraum ihre Exporte uns gegenüber erhöhen, z. B. Spanien um 310/e, Italien um 16 %, Frankreich um 14 %, andere um über 20 %, dann tritt genau das ein, was unsere Partner immer von uns gefordert haben. Wir schaffen damit auch zusätzliches Wachstum, zusätzliche Produktion und zusätzliche Arbeitsplätze bei unseren Handelspartnern.
({21})
Wir sind uns mit unserer Haushaltspolitik der Verantwortung für die internationale Zinsentwicklung bewußt. Nur, meine Damen und Herren, die weltweit hohe Nachfrage nach Kapital, auch in vielen Ländern mit einem geringeren Sparaufkommen, ist keine Konsequenz der deutschen Wiedervereinigung. Im Gegensatz zu den meisten anderen bedeutenden Industrieländern deckt die Bundesrepublik Deutschland auch nach der Vereinigung nicht nur ihren Kapitalbedarf vollständig aus eigener Ersparnis, wir leisten darüber hinaus immer noch erhebliche Beiträge, im letzten Jahr rund 70 Milliarden DM, zur Finanzierung von Wachstum und Investitionen in anderen Ländern.
Das ausgewogene „policy mix" zwischen Geld- und Finanzpolitik in Deutschland ist nicht in Gefahr. Die Verpflichtung der Bundesbank zur Stabilitätssicherung wird durch die Finanzpolitik der Bundesregierung nicht in Frage gestellt. Die vorübergehend höhere Kreditaufnahme der öffentlichen Haushalte in diesem Jahr ist kein Anzeichen struktureller Schwäche oder ungezügelten Ausgabenwachstums. Im Gegenteil: Wir haben den Ausgabenpfad für die kommenden Jahre im Bundeshaushalt auf nur 2 % jährlich festgeschrieben. Wir bleiben bei dem Eckwertebeschluß, den wir bereits vor den Wahlen dem deutschen Volk mitgeteilt haben.
({22})
Neben dem Beitrag, der die Arbeitnehmer und Betriebe trifft, muß es auch zu einem Solidarbeitrag aller anderen, die nicht unter die Bemessungsgrenze fallen, im Rahmen der Tarifverträge, aber auch im Rahmen des Subventionsabbaus kommen.
({23})
Diesem zumutbaren und begrenzten Opfer stehen Verbesserungen gegenüber: Vorrang für die Familie , Familienlastenausgleich, Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, ein tragfähiger Mietrechtskompromiß, auf den wir stolz sind, Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft,
({24})
Verzahnung mit der Umweltpolitik, wichtige Fortschritte in der Rechts- und Innenpolitik, eine Steuerpolitik für Wachstum und Beschäftigung und eine Steuerentlastung der Betriebe und Arbeitsplätze in dieser Legislaturperiode mit der Gegenfinanzierung, die wir ebenfalls in Gang setzen werden. Das alles ist ein konkludentes, in sich geschlossenes Programm für diese Legislaturperiode, das an die großen steuerpolitischen Leistungen und Erfolge anknüpft, die in der letzten Legislaturperiode erreicht worden sind.
({25})
Meine Damen und Herren, wir haben vom Wähler den Auftrag erhalten, ein einiges Deutschland zu schaffen. Wir werden darüber hinaus die Position unseres freien Vaterlandes in einem zusammenwachsenden Europa und in der Welt neu bestimmen. Wir haben zusätzlichen Gestaltungsspielraum im nationalen wie im internationalen Bereich gewonnen. Zugleich tragen wir zusätzliche Verantwortung in der internationalen Gemeinschaft der Völker. Wir wollen und können die Erfahrungen der Geschichte, vor allem die Verantwortung für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, nicht zu den Akten legen. Aber niemand in der Welt würde verstehen, wenn wir unsere Vergangenheit als Grund für eine Sonderrolle Deutschlands in der internationalen Völkergemeinschaft anführten. Deutschland ist keine Großmacht. Aber wir gehören zu den führenden Ländern eines Europas, das zunehmend Verantwortung auf der Weltbühne übernehmen muß. Vom französischen Dichter Molière stammen die Worte:
Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.
({26})
- Ich bedanke mich für den Beifall, der nur ein Vorschuß für den Endbeifall ist, den ich dann von Ihnen ebenfalls erwarte.
In diesen Wochen und Monaten entscheidet sich, welche Rolle Deutschland in der Welt spielen wird und welches Ansehen es gewinnen kann. Wir werden nicht straucheln, sondern unseren Platz in der solidarischen Gemeinschaft der freien, demokratischen und friedliebenden Völker einnehmen.
Ich danke Ihnen.
({27})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Selten ist eine wiedergewählte Bundesregierung so schnell nach der Wahl vom Alltag eingeholt worden wie die jetzige. Das ist nicht allein die Sicht der Opposition, sondern das allgemeine Urteil, wie einige Zitate aus großen Zeitungen zeigen. „Der Fehlstart" schreibt die „FAZ". „Koalition ohne Konzept" schreibt die „Frankfurter Rundschau", „Steuerschnickschnack" die „Süddeutsche", „Fal130
sche Signale" die „Welt". „Ein kläglicher Neubeginn" , so schreibt die „Zeit".
({0})
Besonders bedrückend war es, mitzuerleben, wie die Bundesregierung nur eine Woche nach der Bundestagswahl ganz ungeniert daran ging, ihre Versprechen von vor der Wahl zu brechen. Dafür nur drei Beispiele.
Erstens. Wir haben noch im Ohr, wie die Redner von Union und FDP versichert haben, man wolle sparen; Steuererhöhungen werde es nicht geben, jedenfalls nicht für die deutsche Einheit. Schon unmittelbar nach der Wahl wollte die Koalition von ihrem Versprechen nichts mehr wissen. Da wurde in der Art von Winkeladvokaten zwischen Steuererhöhungen, gegen die man sei, und Abgabenerhöhungen, die man nicht ausgeschlossen habe, feinsinnig unterschieden. Statt zu sparen, begann eine fieberhafte Suche nach Einnahmeerhöhungen. Erst sollten es die Autobahngebühren sein. Dann entschied man sich für die Anhebung der Telefongebühren um 2 Milliarden DM im Jahr. In Wahrheit ist das nichts anderes als eine Telefonsteuer, da dieser höheren Belastung des Bürgers keine zusätzlichen Leistungen der Post gegenüberstehen.
({1})
Deshalb gehört diese neue Telefonsteuer in das Kapitel Steuerlüge, vor der viele, auch aus Ihren eigenen Reihen, Sie vor der Wahl gewarnt haben. Meine Damen und Herren, diese Telefonsteuer trifft ganz besonders die kleinen Leute, die Schwachen, die Behinderten und die Rentner. Sie ist ungerecht. Mit uns Sozialdemokraten wird es diese Verteuerung des Telefonierens nicht geben.
({2})
Zweites Beispiel: die Anhebung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Als im Oktober hier im Bundestag der Verdacht geäußert wurde, Sie wollten diese Beiträge um zwei Punkte anheben - ({3})
Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. - Meine Damen und Herren, wichtige Gespräche können auch in der Wandelhalle geführt werden.
({0})
Ich darf Sie wirklich bitten, Platz zu nehmen und der Kollegin zuzuhören.
Als wir vermuteten, Sie würden die Arbeitslosenversicherungsbeiträge um zwei Punkte anheben, wurde das heftig dementiert. Jetzt werden sie um zweieinhalb Punkte angehoben. Das ist schlecht für die Arbeitnehmer. Das ist auch für die kleinen und mittleren Unternehmen schlecht, denn dadurch erhöhen sich die Lohnnebenkosten. Dieser Anhebung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge werden wir Sozialdemokraten nicht zustimmen.
({0})
Drittes Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht hat im letzten Sommer festgestellt, daß alle Familien mit Kindern in den Jahren 1983 bis 1985 zuviel Steuern zahlen mußten. Die Wahlkämpfer der Union haben vor der Bundestagswahl landauf, landab versichert, daß nicht nur die Familien eine Rückzahlung bekommen, die Einspruch eingelegt haben, sondern auch die, die kein Rechtsmittel eingelegt haben.
({1})
- Ich habe es selber mit mehreren von Ihnen im Fernsehen gesehen. Jetzt, nach der Wahl, gilt das alles nicht mehr. Jetzt bekommen nur die etwas, die durch ihren Steuerberater rechtzeitig Einspruch eingelegt haben, und das sind nun leider überwiegend nur Unternehmer und Freiberufler. Hier wird Steuerpolitik nach dem Motto betrieben: Wer rechtzeitig und brav seine Steuern zahlt, ist selber schuld.
({2})
Wir Sozialdemokraten werden uns dafür einsetzen, daß auch die Familien berücksichtigt werden, die keinen Einspruch eingelegt haben. Das gebieten die Gerechtigkeit und die politische Glaubwürdigkeit.
({3})
Dieser klare Bruch von Wahlversprechen bedrückt mich sehr weit über die Parteipolitik hinaus. Denn damit beschädigen Sie die politische Kultur und verursachen einen Glaubwürdigkeitsverlust von Politik und Politikern insgesamt.
({4})
Viele Bürger fragen schon fast resignierend, was man denn dagegen tun könne; man sei doch machtlos. - Dies ist falsch. Wer als Wahlbürger folgenlos hinnimmt, daß Politiker lügen, daß Politiker nach der Wahl etwas anderes tun, als sie vor der Wahl versprochen haben, der gibt den Politikern einen Freibrief, auch in Zukunft so zu handeln. Nein, meine Damen und Herren, gegen Wählertäuschung gibt es eine wirksame Selbstverteidigung und nur eine, und das ist die Quittung mit dem Stimmzettel. Die haben Sie in Hessen schon erhalten, und ich nehme an, das geht in Rheinland-Pfalz weiter so.
({5})
Gestern hat der Bundeskanzler nun hier bekanntgegeben, daß er die Steuern erhöhen will. Jetzt ist die Katze also aus dem Sack. Steuererhöhungen für den Golfkrieg, heißt es, aber nicht für die deutsche Einheit. Diese Argumentation macht nun sehr betroffen. Was ist denn das für ein Ausdruck von Solidarität mit den Menschen in den neuen Bundesländern,
({6})
wenn man sagt: für die viel größere finanzielle Herausforderung des Aufbaus in den neuen BundeslänFrau Matthäus-Maier
dern keine Steuererhöhungen, wohl aber welche für den Golfkrieg! Da hat doch wohl die „Stuttgarter Zeitung" recht, die in diesen Tagen schreibt:
Als es um die deutsche Einheit ging, haben Kohl, Waigel und Lambsdorff Steuererhöhungen zum Tabu erklärt. Lassen sich nun Steuern für Bomben auf Bagdad plausibler begründen als Steuern für Straßen, Städtebau und Arbeitsplätze in Ostdeutschland?
({7})
Und dann fährt die „Stuttgarter Zeitung" fort:
Wohl kaum. Der Verdacht, der Krieg werde genutzt, um sich endlich über ein lästiges Wahlversprechen hinwegzusetzen, ist so leicht nicht von der Hand zu weisen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die „Stuttgarter Zeitung" hat recht. Das Tempo, mit dem die Koalition wenige Stunden nach der amerikanischen Bitte um finanzielle Unterstützung auf Steuererhöhungen hüpfte und nur noch darüber diskutierte, welche Steuer, wann, wie lange und mit welchem Ziel, zeigt, daß die Koalition nun durch die Hintertür des Golfkrieges die Steuererhöhungen durchführen will, die sie längst vor der Bundestagswahl ins Auge gefaßt hatte.
({8})
Um es klar zu sagen: Wir Sozialdemokraten sagen ja zu einem finanziellen Beitrag im Rahmen der internationalen Solidarität, um die UNO-Resolution zum Golf durchzusetzen. Wir Deutschen sind auch deshalb dazu verpflichtet, weil es nicht nur, aber in besonderem Maße auch deutsche Unternehmen waren, die Saddam Hussein aus reiner Gewinnsucht durch verbrecherische Waffenexporte aufgerüstet haben und deshalb am Golfkrieg mitschuldig sind. Diese GolfHilfe gebietet auch unsere besondere Verpflichtung gegenüber Israel.
Die Art und Weise, mit der die Bundesregierung das Thema Hilfe der Bundesrepublik Deutschland behandelt hat, war allerdings außerordentlich unglücklich. Das internationale Ansehen ist in den letzten Tagen rapide gesunken.
({9})
Die Bundesregierung versucht, die Verantwortung dafür auf die Friedensdemonstrationen abzuschieben.
({10}) Das überzeugt nicht.
({11})
Friedensdemonstrationen gab es in diesen Tagen in fast allen westlichen Ländern. Gerade der Ablauf und das Erscheinungsbild der großen Friedensdemonstration vom letzten Samstag war dem internationalen Ansehen der Bundesrepublik Deutschland nicht abträglich.
({12})
Daß Deutsche, die in diesem Jahrhundert zweimal Unglück über ihre Nachbarn gebracht haben, einen Waffengang nicht mit Säbelrasseln begleiten, sondern immer wieder Friedensbemühungen fordern und vor I Krieg und seinen schlimmen Folgen warnen, wird doch gerade von denen im Ausland positiv gesehen, die bei der deutschen Einheit vor einem Jahr noch Angst hatten vor einem Wiedererstarken deutscher Großmannssucht.
Das heißt nicht, daß wir Sozialdemokraten uns mit allen Forderungen identifizieren, die auf dieser Demonstration erhoben worden sind. Wir ziehen aus der Geschichte des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges die Lehre, daß der Satz „Wir wollen nie mehr Täter sein" auch bedeutet: Die Völkergemeinschaft darf nicht zulassen, daß andere zu Tätern werden. Das heißt für uns: Saddam Hussein muß gestoppt werden, er muß Kuwait verlassen, er ist der Verantwortliche für den Krieg, der am 2. August und nicht am 17. Januar begonnen hat.
({13})
Wir sind solidarisch mit der UNO und ihren Resolutionen und tragen auch durch finanzielle Hilfe zu ihrer Verwirklichung bei.
({14})
Nein, meine Damen und Herren, die Kritik des Auslandes richtet sich nicht gegen Friedensdemonstranten, sie richtet sich gegen diese Bundesregierung.
Die „Bonner Rundschau" schreibt zu Recht:
Zu verantworten haben den rapiden Verlust an internationalem Ansehen und gelegentlich fast schon peinlicher Häme aus dem Ausland die neue Bundesregierung und die Koalitionsparteien insgesamt; denn während die Menschen in aller Welt sorgenvoll auf die Entwicklung der Golfkrise und das ablaufende Ultimatum der UN- Resolution gegen den Irak starrten, waren CDU/ CSU und FDP mit Koalitionsverhandlungen beschäftigt, feilschten die Koalitionäre um Posten und Positionen.
Meine Damen und Herren, das ist der Grund für das gesunkene Ansehen.
({15})
Der Bundeskanzler hat seinem Vorgänger Helmut Schmidt einmal Mangel an geistiger Führung vorgeworfen.
({16})
Helmut Schmidt hatte nie den Anspruch erhoben, geistig führen zu wollen. Aber er hätte - das weiß hier jeder - in dieser Krisensituation politisch geführt. Sie, Herr Bundeskanzler, haben weder geistig noch politisch geführt. Und das haben die Menschen gespürt.
({17})
Während am Golf geschossen wurde, waren Sie vollauf damit beschäftigt, aus Proporzgründen das Familienministerium zu dritteln und jede Menge neue Staatssekretäre einzustellen.
({18})
Ihr Postengeschacher war der Bundesregierung wichtiger, als unseren internationalen Freunden und Partnern klarzumachen, wo die Bundesrepublik bei der Golfkrise steht. Es war diese Unterlassung und nicht die Friedensdemonstration, die die Bundesrepublik in der westlichen Solidargemeinschaft international ins Abseits gebracht hat.
({19})
Statt berechtigte deutsche Interessen wahrzunehmen, ist die Bundesregierung deshalb, um den Schaden zu begrenzen, in überstürzten Aktionismus verfallen. Es war diese Position der selbstverschuldeten Schwäche, in der der Bundeskanzler die finanziellen Nachforderungen der USA in Höhe von mehr als 8 Milliarden Dollar ohne weitere Diskussionen binnen Stunden akzeptiert hat.
({20})
Das Parlament, das die Mittel bereitstellen muß, und die Opposition hat er nicht einmal gefragt. Es war dieses Wegtauchen, die Sprachlosigkeit der Bundesregierung, die sie daran gehindert hat, die guten Argumente in der internationalen Diskussion vorzutragen, daß die Bundesregierung, die Bundesrepublik Deutschland, bereits einen erheblichen Anteil an der internationalen Lastenteilung erbringt.
Meine Damen und Herren, ich vermisse ein deutliches Wort des Bundeskanzlers, daß sich die arabischen Ölstaaten, die durch die gestiegenen Ölpreise riesige zusätzliche Einnahmen haben, stärker als bisher an den finanziellen Lasten beteiligen.
({21})
Ich habe auch vermißt, daß Sie unsere Partner davon überzeugen, daß der Vergleich mit Japan nicht stimmt, daß Deutschland allein 14 Milliarden DM für den Abzug der sowjetischen Truppen und damit für die militärische Entspannung in Europa erbringt. Dadurch ist es übrigens erst möglich geworden, Ressourcen freizumachen, ohne die es zu den UNO-Resolutionen wahrscheinlich gar nicht gekommen wäre. Der Vergleich mit den Leistungen der Japaner zieht auch schon deswegen nicht, weil diese im Unterschied zu uns nicht von Jahr zu Jahr einen Verteidigungsetat von über 53 Milliarden DM haben.
Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wir sind bereit, unseren Beitrag zu leisten. Wir sind aber nicht bereit, jede Forderung unbesehen zu akzeptieren. Auch Deutschland muß für sich das Recht in Anspruch nehmen, sich die Höhe seines Beitrages und den Verwendungszweck genau anzusehen.
({22})
Die Bundesregierung sagt, ohne Steuererhöhungen gehe es nicht, es sei kein Geld da. Das glaubt Ihnen keiner. Wenn an der gestrigen Rede des Herrn Bundeskanzlers etwas auffällt, dann das: Der Bundeskanzler hat in den zweieinhalb Stunden seiner Rede das Wort Sparen nicht ein einziges Mal über seine Lippen gebracht.
({23})
Das ist kein Zufall; denn die Bundesregierung hat beim Sparen bisher kläglich versagt.
({24})
Wie wollen Sie den Bürgern eigentlich klarmachen, daß Steuererhöhungen nötig sind, wenn Sie gleichzeitig Geld aus dem Fenster werfen für die Dreiteilung eines Ministeriums und für viele neue Staatssekretäre?
({25})
Was ist mit den Kosten der Teilung? Herr Bundesfinanzminister Waigel, Sie haben doch im letzten Jahr ununterbrochen die Kosten der Teilung auf 40 Milliarden DM beziffert, aus denen man Gelder für die Einheit freimachen könnte. Tatsächlich haben Sie hiervon bisher nur 2 Milliarden DM Einsparungen in diesem Jahr vorgesehen. Die Bundesregierung muß daran erinnert werden, daß sie hier ein von ihr selbst genanntes Einsparvolumen bisher fast ungenutzt gelassen hat.
({26})
Auch beim Subventionsabbau hat die Koalition wieder einmal versagt. Die Bundesregierung will nun eine Kommission einsetzen, die Vorschläge zum Abbau von Subventionen mit einem Volumen von rund 5 Milliarden DM bis zum Sommer vorlegen soll. Selbst bei diesem bescheidenen Subventionsabbauziel ergäben sich zusätzliche Mittel, die an die Stelle von Steuererhöhungen treten können. Nach unserer Auffassung muß dringend Subventionsabbau erfolgen. Ich habe Ihnen mehrfach Vorschläge gemacht,
({27})
nämlich bei der zivilen Nutzung der Kernenergie, beim Schnellen Brüter, bei der industriellen Agrarproduktion, beim Flugbenzin, beim Dienstmädchenprivileg, bei den Bewirtungsspesen, beim betrieblich benutzten Pkw und, und, und. Ich kann Ihnen die Listen geben, meine Damen und Herren.
({28})
Sagen Sie nicht, Herr Waigel, Sie hätten bereits genug eingespart. Von den 35 Milliarden DM Haushaltsentlastungen, welche die Koalition für 1991 beschlossen hat, sind tatsächlich nur 4 Milliarden DM Einsparungen. Mehr als 20 Milliarden DM sind dagegen reine Abgabenerhöhungen bei der Telefonsteuer und bei der Arbeitslosenversicherung.
Über Ihre angebliche Einsparung beim Verteidigungshaushalt von, wie Sie immer sagen, 7,6 Milliarden DM hatte selbst die konservative Presse nur noch Vokabeln wie „Augenwischerei" und „Luftbuchung" übrig. Die Rechnung ist einfach. Der Verteidigungshaushalt betrug im letzten Jahr etwas über 53 Milliarden DM. In diesem Jahr wird er knapp unter 53 Milliarden DM liegen. Das ist fast die gleiche Höhe.
({29})
Ich bin der Meinung, in der aktuellen Lage müßten doch wirklich alle Anstrengungen unternommen werden, um Mittel aus dem Verteidigungsetat in einen Solidarbeitrag für den Golf umzulenken.
({30})
- Vielleicht möchten Sie auch Zwischenfragen stellen, wenn Sie immer so rufen?
Entschuldigung, ich folge der Anregung der Kollegin Matthäus-Maier in der Tat und frage, ob denn jemand, der so viele Zwischenrufe macht, die Gelegenheit nutzen möchte, eine Zwischenfrage zu stellen.
({0})
Frau Matthäus-Maier, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Faltlhauser zu beantworten?
Frau Kollegin, wenn ich von Ihnen so freundlich aufgefordert werde, eine Zwischenfrage zu stellen, dann tue ich das gerne. Ist Ihnen denn entgangen, daß im Etat für die Bundeswehr die ganze Nationale Volksarmee integriert ist und daß auf diese Weise tatsächlich unter dem Strich 7,6 Milliarden eingespart sind? Haben Sie den Umstand übersehen, daß wir mittlerweile die ehemals zwei deutschen Staaten und damit auch die beiden Armeen integriert haben?
Herr Faltlhauser, Sie werden mir nicht unterstellen, daß ich das nicht weiß. Das ist richtig.
({0})
Wir haben aber international vereinbart, unsere Sollstärke auf 370 000 Mann zu reduzieren. Damit kann man doch sehr gut anfangen. Dann muß der Verteidigungshaushalt nicht eine Höhe von 53 Milliarden DM haben.
Sie wollen als Einsparungen verkaufen, was einfach Nicht-Mehrausgaben sind. Demnächst werden Sie sagen: Statt 53 Milliarden DM wollten wir eigentlich 15 Milliarden mehr ausgeben. Das tun wir nicht; folglich haben wir 15 Milliarden DM gespart.
({1})
- Herr Kollege, das ist eine Einsparung, wie eine Zeitung schrieb, nach dem Modell des netten Schottenwitzes, den Sie hoffentlich kennen: Ein kleiner Schottenjunge hat den Bus verpaßt. Er läuft hinter dem Bus her. Als er nach Hause kommt, sagt er zu seiner Mutter: Ich habe einen Penny gespart, weil ich hinter dem Bus hergelaufen bin. Seine Mutter sagt: Du bist dumm. Warum bist du nicht hinter dem Taxi hergelaufen? Dann hättest du ein Pfund gespart. So rechnen Sie.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? Dr. Faltlhauser ({0}): Frau Kollegin, ich will ja nicht annehmen, daß Sie die Zwischenfrage provoziert haben, um diesen Witz loszuwerden, den Sie sich aufgespart haben.
({1})
Ich darf mit Ihnen darin übereinstimmen, daß Sie uns diese Milchmädchendarlegungen vorgetragen haben, damit wir besser beweisen können, daß Sie den Gesamtzusammenhang in sachlicher Weise überhaupt nicht zur Kenntnis genommen haben.
({2})
Es geht nicht um die Finanzierung desselben Sachverhaltes, sondern um die Finanzierung zweier großer Einheiten, nämlich der Bundeswehr und der NVA. Das kostet unter dem Strich jetzt genausoviel. Ich bitte Sie, sachlich und ohne Witze darauf einzugehen.
({3})
Erstens habe ich Ihnen das alles vorgerechnet. Witze erhellen aber manchmal einen Sachverhalt besser als ernste Ausführungen.
Zweitens halte ich es nicht für gut, daß Sie durch den Ausdruck „Milchmädchenrechnung" die Milchmädchen beleidigen. Das, was Herr Waigel hier vorlegt, ist schon eher in der Art eines Milchmännchens.
({0})
Meine Damen und Herren, weil diese Bundesregierung keine Kraft zum Sparen hat, greift sie lieber den Bürgern erneut in die Tasche. Die erste Runde - bitte nicht zu vergessen - war die Erhöhung der Sozialabgaben und der Telefongebühren. Wer es nicht glaubt: Der einzige Gesetzentwurf, den wir in dieser Woche behandeln, ist eben dieser Gesetzentwurf zur Anhebung der Sozialabgaben. Jetzt soll offensichtlich in
der zweiten Runde eine kräftige Erhöhung der Mineralölsteuer folgen.
({1})
Sie benutzen die zeitlich befristete Belastung durch den Golfkrieg für eine dauerhafte Steueranhebung. Das kennen wir doch schon aus der Geschichte. Kaiser Wilhelm benutzte Anfang des Jahrhunderts die Sektsteuer zur Finanzierung der deutschen Kriegsflotte. Seine Kriegsflotte ist längst untergegangen, aber die Sektsteuer gibt es immer noch, meine Damen und Herren.
Wozu Sie Ihre Steuererhöhung benutzen wollen, ergibt sich sonnenklar aus den Koalitionsvereinbarungen. Es ist gerade zwei Wochen her, daß die Regierungskoalition milliardenschwere Steuervergünstigungen für die wenigen Spitzenverdiener und Großunternehmen in unserem Lande beschlossen hat. Sie wollen die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer abschaffen. Das bedeutet Steuerausfälle von etwa 9 Milliarden DM im Jahr. Das ist für die Länder und Gemeinden ein völlig unakzeptabler Steuerausfall, denn das sind Gemeinde- und Ländersteuern. Das ist etwa soviel, wie die Bundesregierung jetzt für den Golf zugesagt hat. Allein damit läßt sich die Golfhilfe ohne Steuererhöhungen finanzieren.
({2})
Von diesen 9 Milliarden DM fließen etwa 8 Milliarden DM an Unternehmen und Spitzenverdiener in Westdeutschland. Diese Maßnahme ist also auch völlig ungeeignet, den Aufbau in den neuen Bundesländern zu fördern. Die westdeutsche Wirtschaft boomt. Da gibt es keine Notwendigkeit für Steuersenkungen. Das wissen Sie auch, und deswegen werden wir unseren entschiedenen Widerstand dagegen ankündigen, daß Sie einerseits Steueranhebungen unter dem Deckmantel Golf wollen und andererseits damit Steuersenkungen für Spitzenverdiener finanzieren.
({3})
Ein besonders bedrückender Mangel der Koalitionsvereinbarung ist es, daß für Sie der Aufbau der neuen Bundesländer und die Angleichung der Lebensverhältnisse unserer Mitbürger im Osten an die im Westen nicht tatsächlich eine zentrale Aufgabe ist. Ministerpräsident Biedenkopf hat das vor einer Woche in der „Süddeutschen Zeitung" deutlich gesagt:
Die zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode, die Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands, ist in ihr kaum behandelt. Soweit sie darin angesprochen ist, steht dies in keinem Verhältnis zu dem, was hier eigentlich geleistet werden muß.
Hans-Jochen Vogel hat heute morgen unsere Einzelkritik vorgetragen und zugleich unsere detaillierten Vorschläge, die wir zum Teil seit Monaten - leider vergeblich - äußern.
({4})
Meine Damen und Herren, in der Finanzpolitik bleiben in dieser Koalition leider auch die Familien mit Kindern wieder auf der Strecke. Nichts geschieht für sie im Jahre 1991. Erst 1992 soll das Kindergeld angehoben werden, und zwar um ganze 20 DM für das erste Kind. Dies ist mehr als kläglich. Dabei ist Geld für eine sehr viel stärkere Anhebung des Kindergelds vorhanden.
({5})
- Wir haben nach der Bundestagswahl 1980 Kürzungen vorgenommen. Daraus, Herr Kollege, habe ich gelernt - ich habe damals dazu auch gesprochen -, daß man vor der Wahl nie Dinge ankündigen darf, bei denen man nachher das Wort bricht, wie Sie das jetzt getan haben.
({6})
Wir haben Geld für eine stärkere Anhebung des Kindergelds, meine Damen und Herren. Ich muß den Sachverhalt hier noch einmal vortragen, weil insbesondere viele Menschen in den neuen Bundesländern ihn nicht kennen werden. Wie wollen Sie, Herr Waigel, den Menschen eigentlich erklären, daß ein Spitzenverdiener, der eine nicht erwerbstätige Frau heiratet - oder umgekehrt - , dafür im Monat eine Steuerentlastung von 1 900 DM erhält, den sogenannten Splittingvorteil?
Diese Entlastung tritt Monat für Monat ein, auch wenn überhaupt kein Kind vorhanden ist, während Otto Normalverbraucher für das erste Kind ein Kindergeld von 50 DM und dann in einem Jahr von 70 DM erhalten soll. Es gibt eine Menge Menschen, vor allem in den neuen Bundesländern, aber auch in den alten, die nicht einmal diese 1 900 DM verdienen, die Sie Spitzenverdienern im Monat für die pure Eheschließung zur Verfügung stellen.
({7})
Ich weiß doch, daß viele in Ihren eigenen Reihen diesen Zustand als skandalös ansehen. Wann können wir uns denn endlich gemeinsam hinsetzen und diesen maßlosen Splittingvorteil zugunsten der Familien mit Kindern zurückführen?
({8})
Dann erhöhen Sie weiter die ungerechten Kinderfreibeträge. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Ihre ungerechten Kinderfreibeträge führen dazu, daß ein Spitzenverdiener mit einem Jahreseinkommen von über 240 000 DM für sein Kind heute 86 DM mehr bekommt als ein Geringverdienender für sein Kind. Das kommt dadurch zustande, daß derjenige mit dem kleinen Einkommen eine Entlastung aus dem Steuerfreibetrag von monatlich 48 DM hat, während der Spitzenverdiener eine Entlastung von 134 DM hat. Die Differenz beträgt 86 DM.
Diese krasse Ungerechtigkeit wird durch Ihre Entscheidung, die Kinderfreibeträge aufzustocken, noch weiter vergrößert.
({9})
- Ich warne Sie, Herr Faltlhauser! Wollen Sie es noch einmal versuchen?
({10})
Durch die Aufstockung der Kinderfreibeträge - ({11})
- Doch!
Frau Kollegin, sind Sie zur Beantwortung einer weiteren Zwischenfrage bereit?
Bitte.
Darf ich Sie, Frau Kollegin, an dieser Stelle nur an den Wortlaut des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 29. Mai letzten Jahres hinweisen, in dem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß es zur Herstellung der horizontalen Gerechtigkeit notwendig ist, eine abgewogene Regelung im Verhältnis zwischen Familien mit Kindern und Familien ohne Kinder sicherzustellen -
Die Frage, Herr Kollege!
- - ich habe gefragt, Herr Präsident - , und daß die horizontale Gerechtigkeit nicht über die vertikale Gerechtigkeit zu stellen ist.
Herr Faltlhauser, die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur vertikalen und horizontalen Gerechtigkeit habe ich sehr sorgfältig studiert. Wenn Sie das auch getan haben, müßten Sie eigentlich auch die Sätze des Karlsruher Gerichts gelesen haben, das für die Entscheidung, ob die Steuerfreiheit des Existenzminimums durch Kinderfreibeträge oder durch Kindergeld oder durch ein duales System gewährleistet ist, der Politik ausdrücklich Gestaltungsfreiheit gibt.
({0})
Das ist der Unterschied zwischen uns beiden.
Sie wählen bewußt den Weg der Kinderfreibeträge, weil die Menschen bei dem komplizierten Steuerrecht nicht merken, was sich hinter den Kinderfreibeträgen versteckt.
({1})
Ich habe hier einmal eine Diskussion geführt, und da sagte Frau Süssmuth zu mir, damals noch Familienministerin: Frau Matthäus - ich hatte das Gefühl, sie war davon überzeugt -, warum regen Sie sich auf; der Kinderfreibetrag ist doch für jedes Kind gleich hoch. Dies ist allerdings zutreffend; aber die Auswirkungen sind eben so ungerecht, wie ich das dargestellt habe.
({2})
Lassen Sie mich in meinen Zahlen fortfahren. Durch die von Ihnen geplante Anhebung der Kinderfreibeträge sollen für das Kind eines Spitzenverdieners 178 DM im Monat Steuerentlastung gewährt werden, aber für das Kind eines Geringverdienenden nur 64 DM, d. h. in Zukunft sollen Spitzenverdiener im
Monat sogar 114 DM mehr Entlastung bekommen als die „kleinen Leute" für ihre Kinder. Wenn Sie das in ein offenes Zuschußgesetz schreiben und nicht hinter dem komplizierten Steuerrecht verbergen würden, dann hätten Sie hier zu Recht einen Aufstand, weil die Menschen das nicht akzeptieren würden.
({3})
Wir haben ein Konzept vorgelegt, das solide finanziert und gerecht ist. Wir sind der Ansicht: 200 DM Kindergeld vom ersten Kind an mindestens, für jedes Kind gleich hoch. Denn wir sind der Ansicht, daß die Kinder eines jeden Menschen, ob reich oder arm, dem Staat gleich lieb und damit auch gleich wert sein sollen.
Meine Damen und Herren, Ihre Interessenpolitik für Spitzenverdiener setzt sich auch in der übrigen Familienpolitik fort, indem Sie das sogenannte Dienstmädchenprivileg ausweiten wollen. Diejenigen, die sich eine Haushaltshilfe privat leisten können - Voraussetzung sind zwei Kinder unter zehn Jahren -, sollen dabei bis zu 18 000 DM von der Steuer abziehen können. Das bringt Spitzenverdienern im Jahr einen Vorteil - bar - von über 9 500 DM.
({4})
Ich muß Ihnen sagen, dies führt zu einem ganz schizophrenen Zustand. Die meisten Kinder - jedenfalls hoffen wir das - zwischen drei und sechs Jahren sind in einem Kindergarten. Da muß man einen Kindergartenbeitrag zahlen. Dieser Kindergartenbeitrag ist nicht von der Steuer absetzbar.
({5})
Wenn aber reiche Leute am Nachmittag die Kindergärtnerin vom Vormittag privat für ihre beiden Kinder einstellen, dann kann man da im Jahr 18 000 DM absetzen und 9 500 DM vom Staat zurückbekommen. Nein, meine Damen und Herren, das gab es nicht mal bei Kaiser Wilhelm, daß man sich sein Dienstpersonal vom Staat bezahlen ließ. Das werden wir rückgängig machen.
({6})
Allein dieses Privileg kostet fast 600 Millionen DM im Jahr. Dieses Geld würde ausreichen, um jährlich 35 000 neue Kindergartenplätze zu schaffen. Auch diese Zahlen zeigen: Der Koalition geht es nicht um die Familien mit Kindern, sondern um die Begünstigung ihrer Klientel.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die „Zeit" schrieb in der letzten Woche: „Noch nie zuvor stand der Ertrag von Koalitionsverhandlungen in einem derart krassen Mißverhältnis zur politischen, wirtschaftlichen und psychologischen Herausforderung des Augenblicks. " - Recht hat sie. Steuererhöhungen sind jetzt unter dem Denkmantel des Golfkrieges vorgesehen. Interessenpolitik und Umverteilung von unten nach oben werden in fast allen Bereichen der Finanzpolitik durchgeführt. Die Koalitionsvereinbarungen zeigen ein beschämendes Desinteresse an den exi136
stentiellen Sorgen und Nöten unserer Mitbürger in den neuen Bundesländern.
({7})
Das entspricht nicht dem Auftrag, den Ihnen die Wähler gegeben haben. Unsere Bürger und unser Land haben Anspruch auf eine bessere Politik, als sie der Herr Bundeskanzler gestern hier vorgetragen hat. Stellen Sie sich endlich den großen Herausforderungen unserer Zeit und werden Sie endlich Ihrer Verantwortung für die Zukunft unseres Landes gerecht!
({8})
Wir Sozialdemokraten sind zu konstruktiver Zusammenarbeit bereit.
({9})
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Aussprache wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir fahren mit der Aussprache zur Regierungserklärung fort. Ich erteile dem Minister des Auswärtigen, Herrn Dr. Genscher, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin, nachdem Sie mich promoviert haben, möchte ich Ihnen zu Ihrer Wahl herzlich gratulieren.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nach dem Ende des West-Ost-Gegensatzes richten sich die Hoffnungen der Menschheit auf eine neue Weltordnung der Freiheit, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit. Der Krieg am Golf, die Krise in der Sowjetunion, vor allem in den baltischen Staaten, werfen einen dunklen Schatten auf diese Hoffnungen. Dennoch, diese neue Weltordnung wird kommen. Präsident Bush hat es vor dem amerikanischen Parlament eindrucksvoll bekräftigt.
Deutschland stellt sich nach seiner Vereinigung der neuen und der größeren Verantwortung in der Welt.
Am Golf steht Recht gegen Unrecht, steht die Weltgemeinschaft gegen einen Aggressor, der zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts einen Nachbarn überfallen hat - ein Aggressor, der weder vor Geiselnahme noch vor Umweltkriegsverbrechen zurückschreckt, ein Aggressor, der mit dem Einsatz von Giftgas droht.
Saddam Hussein hat alle Möglichkeiten zur Vermeidung des Krieges ausgeschlagen. Er will die Vorherrschaft im Nahen und im Mittleren Osten, und er will die Vernichtung Israels. Damit hat die irakische Aggression eine neue schreckliche Dimension bekommen. Völkermord wird als politisches Ziel propagiert, Völkermord gegen dasselbe Volk, das schon einmal Opfer war.
Historische und moralische Verantwortung verbindet uns Deutsche in dieser tödlichen Bedrohung Israels in besonderer Weise mit dem jüdischen Volk. Wir stehen in dieser existenzbedrohenden Lage ohne jede Einschränkung an der Seite Israels.
({1})
Die Abwehrwaffen, die es braucht, um sich zu schützen, stellen wir im Rahmen des uns Möglichen zur Verfügung. So habe ich das bei dem Besuch in Israel mit den Kollegen Spranger und Rühe zugesagt. Wir konnten uns übrigens auch auf die Meinung der Kollegen von der SPD stützen. So geschieht dies jetzt.
Die Einmaligkeit unserer historischen Verantwortung und die Einmaligkeit und Schwere der akuten Gefährdung Israels können allerdings diese Unterstützung Israels nicht zum Berufungsfall für eine Ausweitung unserer Waffenexportpolitik machen.
({2})
Deutschland hat seit 30 Jahren keine Waffenexporte in den Irak genehmigt. Deutsche haben aber unter Bruch unserer Gesetze, unter Täuschung der Behörden an der Giftgasproduktion Saddam Husseins mitgewirkt. Sie zu ächten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Ich begrüße sehr, daß Sie, Herr Kollege Solms, vorgeschlagen haben, die deutsche Wirtschaft möge auch durch einen Verhaltenskodex dazu beitragen, das Bewußtsein der Verwerflichkeit eines solchen Handelns zu stärken.
Dies alles ist geschehen nach dem, was Juden in der Vergangenheit durch Deutsche angetan wurde. Das ist eine Last, an der wir alle tragen, die deutsche Außenpolitik zuallererst.
Um so wichtiger ist es, daß wir durch eine weitere Verschärfung der Gesetze alle Schlupflöcher für illegale Waffenexporte und für die Mitwirkung von Deutschen schließen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Golf ist Krieg, und wir sind Partei in diesem Krieg an der Seite der Koalition zur Durchsetzung der Entschließung des Sicherheitsrates, auf der Seite des Völkerrechts und der Selbstbestimmung. Wir sind solidarisch mit den USA, Großbritannien und Frankreich sowie mit allen, die mit ihren Soldaten die Last dieser Aktion der Völkergemeinschaft zur Wiederherstellung des Rechts und zur Abwendung einer letztlich die ganze Welt bedrohenden Gefahr tragen. So haben es der Herr Kollege Stoltenberg und ich am Tag nach Beginn der Kampfhandlungen mit der Westeuropäischen Union erklärt.
Unsere Solidarität und unser Dank gelten den Soldaten unserer Verbündeten am Golf in besonderer Weise, und ihren Familien gilt unsere Verbundenheit. Sie sichern hier bei uns seit Jahrzehnten zusammen mit den Soldaten unserer Bundeswehr den Frieden in Europa. Wir werden auch nicht vergessen, daß es Soldaten dieser Verbündeten waren, die in den Monaten der höchsten Bedrängnis, der Blockade Westberlins,
mit der Luftbrücke für das Überleben Westberlins gesorgt haben.
({3})
Daß bei uns wie in vielen anderen Staaten Menschen für den Frieden auf die Straße gehen, sollte niemanden wundern.
({4})
Unsere Straßen haben schon Aufmärsche ganz anderer Art erlebt.
({5})
Die Sorge um den Frieden ehrt die Deutschen. Wir sollten dabei nicht vergessen, daß auch diejenigen für den Frieden eintreten, die ihre Solidarität mit Israel und den Staaten, die es auf sich genommen haben, dem Aggressor Einhalt zu gebieten, bekunden.
({6})
Niemand darf vergessen, daß Saddam Hussein es war, der den Frieden gebrochen hat. Wir alle müssen uns fragen, warum es nicht schon damals Demonstrationen gab. Er ist der Aggressor; nicht diejenigen, die ihm entgegentraten. Der Krieg am Golf hat am 2. August mit dem brutalen Überfall auf Kuwait und nicht am 16. Januar 1991 mit der bewaffneten Aktion der Staatengemeinschaft begonnen.
Zu den Lehren aus unserer eigenen Geschichte gehört, daß Nachgiebigkeit gegenüber dem Aggressor schließlich einen weit höheren Preis an Opfern und Zerstörung abverlangt als Festigkeit.
Unsere Solidarität drückt sich nicht nur in Worten aus. Schon vor der Entscheidung des Kabinetts vom Dienstag dieser Woche hatte sich Deutschland mit fast sechs Milliarden DM - finanzielle Leistungen und Sachleistungen - an den Lasten des Golfkonflikts beteiligt. Die Bundesregierung wird auch weiterhin einen angemessenen Teil der gemeinsamen Lasten übernehmen.
Es hat niemand an der Verläßlichkeit Deutscher und Deutschlands als Bündnispartner zu zweifeln. Das gilt auch für die Türkei, und das gilt für uns. Einen Automatismus für das, was man den Bündnisfall nennt, gibt es deshalb nicht. Jedes Land muß an der Entscheidung mitwirken, ob der Bündnisfall eintritt. Wir haben vorgesehen, daß dazu auch das Parlament seine Entscheidung zu treffen hat.
Wir begrüßen es, daß der türkische Präsident Özal nun auch öffentlich festgestellt hat, daß die Türkei keine Gebietsansprüche gegen den Irak hat. Nach manchen Diskussionen in der Türkei war das eine begrüßenswerte Klarstellung.
({7})
Die Entsendung des deutschen Luftwaffenanteils an der AMF in die Türkei ist Ausdruck unserer Solidarität im Bündnis. Der Schutz der deutschen Soldaten und der anderen Verbündeten auf dem zweiten Flugplatz gegen Luftangriffe durch Entsendung von Luftabwehreinheiten sollte die Unterstützung des
ganzen Hauses finden. Niemand kann die Verantwortung dafür übernehmen, daß unsere Soldaten ohne Schutz ihren Solidaritätsdienst in der Türkei versehen.
({8})
Die Weltordnung, nach der sich die Menschheit sehnt, kann nur entstehen, wenn die Weltgemeinschaft der Aggression und dem Streben nach Vorherrschaft keine Chance läßt. Deutschland ist Mitglied der Weltgemeinschaft. Wir sind bereit, unsere Verantwortung in der Weltgemeinschaft zu erfüllen.
Die noch bestehende verfassungsrechtliche Einschränkung unserer militärischen Mitwirkung bei UNO-Aktionen ist ganz gewiß nicht Ausdruck von Verantwortungsmangel oder gar Drückebergerei. Diese Beschränkung war als Konsequenz aus unserer Geschichte und für ein geteiltes Land wohlbegründet.
Sie hatte übrigens auch Erfahrungen und auch Ängste unserer Nachbarn berücksichtigt. Bis in das letzte Jahr hinein reichte in manchen Ländern die Sorge vor einem - auch militärisch - übermächtigen Deutschland, das mit der Vereinigung entstehen könnte.
Es hat für uns gleichwohl nicht des irakischen Angriffs auf Kuwait bedurft, um zu erkennen, daß wir Deutschen, eingebettet in die Weltgemeinschaft, in das westliche Bündnis und die Europäische Gemeinschaft, künftig auf der Grundlage von Entschließungen des Sicherheitsrates an der Sicherung des Friedens und der Durchsetzung des Völkerrechts auch militärisch mitwirken müssen. Die dafür notwendige Ergänzung der Verfassung sollte die Zustimmung des ganzen Hauses finden.
Wenn der Krieg am Golf mit der Erreichung der Ziele des Sicherheitsrates beendet ist, gilt es, dort den Frieden zu gewinnen. Der bewaffnete Konflikt wird vieles in der Region verändern. Diese Zäsur muß als Chance und Ausgangspunkt für eine grundlegende und umfassende Friedensregelung für den Nahen und den Mittleren Osten genutzt werden. Das Existenzrecht Israels gehört genauso dazu wie dasjenige der arabischen Staaten und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes.
Die Zurückhaltung Israels ist in einer lebensbedrohenden Lage angesichts der täglichen Angriffe ein wichtiger Beitrag zu zukünftiger Vertrauensbildung. Wir sollten diese Zurückhaltung nicht vergessen.
Mit ihrer gewiß nicht leichten Entscheidung für die Teilnahme an der Anti-Irak-Koalition stellen Ägypten und Syrien ein hohes Maß an Verantwortung unter Beweis, das auch für die Zukunftsgestaltung der Region wirksam genutzt werden kann.
({9})
Es geht um Frieden und Sicherheit, um Stabilität durch Vertrauensbildung, um Abrüstung, um politischen Interessenausgleich und um wirtschaftliche Zusammenarbeit am Golf wie im Nahen Osten. Was in Europa erreicht wurde, kann zum Modell des friedlichen Zusammenlebens auch im Nahen und Mittleren Osten werden.
Das setzt aber auch voraus, daß überall im Nahen und Mittleren Osten wirtschaftliche Stabilität und soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden. Ich denke, es ist Zeit, daß der Reichtum einiger arabischer Staaten nicht mehr für Aufrüstung,
({10})
sondern für die Entwicklung der ganzen Region verwendet wird.
({11})
Die Milliarden, die in der Vergangenheit für die Aufrüstung der Region, vor allem auch des Irak, ausgegeben wurden, könnten die Region zu einem blühenden Weltteil machen.
Die gewachsene Verantwortung Deutschlands wird in Zukunft für die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa mit Blick auf die Dritte Welt und für den Wiederaufbau in der nah- und mittelöstlichen Region zum weltweiten Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen von uns noch größere Beiträge verlangen. Ich warne vor der vereinfachenden Ansicht, erhöhte Verantwortung drücke sich vor allem in militärischem Einsatz aus. Die Notwendigkeit dafür wird - wie ich hoffe - die Ausnahme bleiben.
Gewachsene Verantwortung verlangt von uns aber politische und materielle Beiträge. Dem wollen und dem müssen wir gerecht werden. Die Bürger unseres Landes sollen wissen, daß diese materiellen Beiträge des vereinigten Deutschlands für europa- und weltweite Aufgaben zusätzliche Lasten für jeden einzelnen bedeuten werden. Dies offen zu erklären ist die Verantwortung der politischen Führung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist falsch, die vom Bundeskanzler angekündigten Steuererhöhungen allein im Zusammenhang mit dem Golfkrieg zu sehen. Das vereinigte Deutschland wird auch nach Abschluß des Golfkrieges Aufgaben zu erfüllen haben - bei der Entwicklung der Dritten Welt, beim weltweiten Umweltschutz, bei der Hilfe für Mittel- und Osteuropa - , die wir aus den gegenwärtigen Beträgen nicht werden aufbringen können. Das muß ausgesprochen werden, und das muß auch begründet und politisch vor der Öffentlichkeit vertreten werden.
({12})
Wir nehmen an den internationalen Lasten entsprechend unserer Leistungsfähigkeit teil. Wir müssen bei uns darauf achten, daß diese Lasten auch bei unseren Bürgern sozial gerecht verteilt werden.
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- Frau Kollegin, da werden Sie noch Ihre Wunder erleben. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie unsere Vorschläge, die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern bei der Steuer stärker zu entlasten, unterstützt anstatt kritisiert hätten.
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Das bedeutet aber: Dann, wenn wir über diese Lastenverteilung bei uns sprechen, nicht zu vergessen, daß die Deutschen in den neuen Bundesländern noch lange die Lasten der Teilung zu tragen haben werden.
Erhöhte Verantwortung, und zwar weltweit, bedeutet für uns übrigens auch, daß wir Anwälte eines freien Welthandels sein müssen. Hier geht es um zentrale weltwirtschaftliche Fragen mit einer großen außenpolitischen Bedeutung. Um in letzter Minute einen erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde zu ermöglichen, müssen alle Verhandlungspartner jetzt Flexibilität und Erfolgsorientierung zeigen.
({15})
In den baltischen Staaten und in anderen Teilen der Sowjetunion macht sich der Selbstbestimmungswille geltend, der durch ein diktatorisches System über Jahrzehnte unterdrückt wurde. Die Schlußakte von Helsinki und die Charta von Paris geben auf diese Fragen die Antwort: Das legitime Streben nach nationaler Selbstbestimmung muß sich in dem Rahmen, den die Charta gesetzt hat, entwickeln können. Der Einsatz von Gewalt gegen Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmungsrecht ist damit unvereinbar.
Die schwierigen inneren Probleme der Sowjetunion können nur durch Dialog und Verständigungsbereitschaft gelöst werden. Niemand im Westen kann ein Interesse daran haben, daß dieses riesige Land in seinen inneren Gegensätzen versinkt. Als Europäer wünschen wir uns, daß die Sowjetunion Gorbatschows, von der so viel für die Freiheit der Völker in Mittel- und Osteuropa ausgegangen ist, diesen Weg bewahren kann, daß sie Kurs halten kann.
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Die geschichtliche Erfahrung zeigt: Rückschläge und Fehlentwicklungen werden nicht immer vermeidbar sein. Eduard Schewardnadse hat bei seinem Abschied erklärt: „Niemand im Westen will die Schwierigkeiten der Sowjetunion ausnutzen, um ihr zu schaden. " Ich wünsche mir, daß diese Erkenntnis alle Kräfte in der Sowjetunion haben. Wenn sie am Reformkurs festhalten, setzen sie den Westen, uns, in die Lage, so zu helfen, wie wir das wollen. Das „neue Denken" in der Politik, das die Abrüstung, die Demokratisierung Mittel- und Osteuropas und die deutsche Einheit ermöglicht hat, muß im gemeinsamen Interesse Europas bewahrt werden.
Die besorgniserregende Entwicklung in der Sowjetunion mindert die Bedeutung der Pariser Charta nicht. Sie ist auch kein Anlaß, die Grundlagen unserer Politik zu korrigieren. Diese Charta hat die Zukunft des Kontinents untrennbar mit den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie, der Marktwirtschaft und der sozialen Verantwortung verbunden.
Weder die Entwicklungen am Golf noch die Verwerfungen in Mittel- und Osteuropa sind Anlaß, zu den alten Denkmustern zurückzukehren. Die KSZE-Staaten dürfen sich nicht abhalten lassen, ihren Weg konkret weiterzugehen. Die instabile Entwicklung in Mittel- und Osteuropa verlangt im Gegenteil eine Beschleunigung des Ausbaus eines gesamteuropäischen Stabilitätsrahmens; und das ist der KSZE-Prozeß.
Es bleibt unsere Verantwortung, zusammen mit den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas sowie der Sowjetunion weiter am europäischen Haus zu bauen. Die Charta von Paris bleibt dafür der Bauplan.
Das neue West-Ost-Verhältnis, das wir Deutsche maßgeblich mitgestaltet haben, hat uns nicht nur in einer Sternstunde der europäischen Geschichte die Einheit gebracht, sondern es hat auch die Vereinten Nationen in der Golfkrise handlungsfähig gemacht.
Auch heute wieder haben wir Kritik gehört, die Einheit sei übereilt herbeigeführt worden. Das kann nur jemand sagen, der sie eigentlich nicht wollte; denn heute wäre sie nicht mehr zu haben.
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Ohne das neue Verhältnis stünden wir am Golf vor der Gefahr eines neuen Ost-West-Weltkrieges. Heute aber kann kein Aggressor mehr hoffen, unter Ausnützung des Ost-West-Konflikts ungehindert und ungestraft seinen Eroberungsplänen nachzugehen.
({18})
Hier zeigen sich die Konturen einer neuen Weltordnung. Aus guten Gründen sind die USA und die Sowjetunion um die Bewahrung und Entwicklung ihres strategischen Verhältnisses bemüht. Wir müssen uns von dem gleichen Interesse leiten lassen.
Wir müssen dabei wissen, daß die Stabilität Europas, die Stabilität im Norden der Weltkugel, wesentlich von der Funktionsfähigkeit des westlichen Bündnisses und seinem Bestand abhängt. Es ist heute nicht mehr ein Bündnis gegen ein anderes, sondern es ist ein Faktor weltweiter Stabilität geworden; eine Einsicht, die auch die sowjetische Führung nicht in Frage stellt.
Wir müssen erkennen, daß es heute um so dringlicher ist, die europäische Einheit durch Schaffung der Politischen Union zu vollenden. Niemand kann sich mit den Mängeln, die in Europa angesichts des Golfkonflikts aufgetreten sind, aus seiner Verantwortung herausreden, die Politische Union zu schaffen. Das, was wir jetzt an mangelnder europäischer Handlungsfähigkeit zu beklagen haben, ist in Wahrheit ein zusätzlicher Grund, möglichst schnell diese Politische Union mit einer politischen, einer sicherheitspolitischen, einer finanz- und wirtschaftspolitischen Dimension herbeizuführen.
({19})
Wir Deutschen wissen, daß wir in diesem Prozeß europäischer Einigung eine besondere Verantwortung dafür haben, daß die Staaten östlich von uns erkennen: Sie gehören dazu, wenn von Europa gesprochen wird. Nur diese Perspektive kann die notwendigen Energien mobilisieren und die Kraft geben, schwierige Übergangszeiten durchzustehen.
Der polnische Präsident Lech Walesa hat Deutschland als Tor der Freundschaft zu Europa bezeichnet. Ja, das wollen wir sein. Wir wollen es sein in einer engen Verbindung mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft, im westlichen Bündnis, mit den Vereinigten Staaten.
Europa trägt heute eine größere Verantwortung - nicht nur wir Deutschen. Aber wir Deutschen stehen an der Schwelle dieses Jahres vor einem Zeitabschnitt unserer Geschichte mit einer größeren Verantwortung. Wir wollen sie allerdings nicht in einem nationalstaatlichen Sinne. Wir wollen diese größere Verantwortung nicht in einem Alleingang ausüben, sondern wir wollen sie ausüben als gute Europäer.
Ich danke ihnen.
({20})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Gansel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister! Die Bundesrepublik befindet sich heute als Folge von Rüstungsexporten in einer schweren außenpolitischen Krise. Sie hat auch ihre innenpolitische Seite.
Wir Sozialdemokraten haben wie Sie, wie Herr Spranger, wie Herr Rühe vor wenigen Tagen bei einem Besuch in Israel die Wut und auch die Verachtung der Menschen erlebt, die von Saddam Hussein mit Giftgas und Raketen bedroht werden. Daß wir Sozialdemokraten die Bundesregierung vor diesen Gefahren seit Jahren gewarnt haben, machte das Erlebnis für uns nicht leichter. Die Vorwürfe trafen uns ja als Deutsche. Es gibt eben wieder Anlaß zu Kollektivscham. Ich finde es gut, daß Sie, Herr Solms, es genauso empfunden haben wie wir.
Wir haben uns in Israel nicht mit Angriffen auf die Bundesregierung verteidigt. Die innenpolitische Auseinandersetzung soll nach Möglichkeit nicht im Ausland geführt werden. Aber hier im Deutschen Bundestag muß sie geführt werden.
({0})
Da geht es um die Klärung von Sachverhalten und um Konsequenzen. Es geht aber auch um die politische Verantwortung der Mitglieder der Bundesregierung. Ich beginne deshalb mit einem Zitat aus der Rabta-Debatte vom 18. Januar 1989. Sie werden sich erinnern. Damals versuchte die Bundesregierung , die Berichte amerikanischer Zeitungen über die Beteiligung deutscher Firmen beim Bau einer Giftgasfabrik in Libyen als eine antideutsche Pressekampagne wegzuwischen. Das war Antiamerikanismus, Herr Bundeskanzler; denn die Wirklichkeit, der wir durch den sogenannten Schäuble-Bericht im Bundestag näher kamen, übertraf jede Reportage.
Ich beginne mit einem Zitat; denn wir haben es mit einem Wiederholungsfall zu tun, also auch mit Wiederholungstätern, und zwar in der Bundesregierung. Was haben Sie gewußt, und wann haben Sie es gewußt?
({1})
So lautet die Frage in einem berühmten Kommentar eines amerikanischen Journalisten, der überschrieben war: „Auschwitz im Wüstensand?"
Inzwischen ist ein Teil dieser Horrorvision Wirklichkeit geworden. Die Überlebenden der Gaskammern Nazideutschlands, ihre Kinder und Enkelkinder flüchten sich in die versiegelten Schutzräume und legen Gasmasken an, weil sie Angst haben müssen in ihrem Land vor Raketen und Giftgas, an denen deutsche Firmen und Deutsche mitgewirkt haben, aus der Bundesrepublik und aus der ehemaligen DDR, aus kapitalistischer Profitgier und im Auftrage des Stasireiches.
Gewiß, niemand hat das gewollt. Wer aber Warnungen in den Wind geschlagen hat, wer Gefahren verharmlost hat und wer nicht alle Mittel des Rechtsstaates mobilisiert hat, der hat versagt.
({2})
Er hat auch die Lehre aus der deutschen Geschichte vergessen, die Willy Brandt nicht zufällig am 9. November 1988 in dem Satz zusammengefaßt hat: „Nie mehr wegschauen, wenn Unrecht geschieht. "
({3})
„Was haben Sie gewußt, und wann haben Sie es gewußt?" Seit 1984, dem ersten Giftgaseinsatz durch Saddam Hussein im Krieg gegen den Iran - ihm folgten weitere Giftgaseinsätze gegen die Kurden - , besaß die Bundesregierung Hinweise auf die Beteiligung Deutscher bei der Giftgasproduktion im Irak. Seit 1984 haben Sozialdemokraten und die GRÜNEN im Bundestag in Debatten und in parlamentarischen Anfragen, mit Anträgen und Gesetzentwürfen auf die Gefahren hingewiesen und Gegenmaßnahmen verlangt.
({4})
Der Bundesaußenminister war noch nicht einmal bereit, den Irak beim Namen zu nennen, als er Giftgas verwendet hatte. Vielmehr haben Sie, Herr Minister, die Verwendung von Giftgas im Krieg allgemein verurteilt. Es reicht aber nicht aus, nur das Verbrechen zu bezeichnen, wenn der Täter identifiziert und in aller Brutalität auch noch geständig ist wie Saddam Hussein.
({5})
Wegen der Beteiligung Deutscher an der Giftgasentwicklung im Irak wurde seit 1984 durch eine Oberfinanzdirektion ermittelt, als ob es sich dabei um den Schmuggel von Zigaretten handelte. Erst 1987 wurde eine Staatsanwaltschaft eingeschaltet. 1990 wurden die ersten Manager in Untersuchungshaft genommen. Das war vier Tage nach dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait. Welch ein Zufall!
Wir wissen nicht genau, seit wann die Bundesregierung vom Export deutscher Raketentechnologie in den Irak weiß. In der Bundestagssitzung vom 18. Mai 1988 ist die Bundesregierung jedenfalls von uns zu nachrichtendienstlichen Hinweisen befragt worden. Ich habe seinerzeit gefragt - ich zitiere aus dem Bundestagsprotokoll -, ob die Bundesregierung die Hinweise des Geheimdienstes eines mit ihr befreundeten Landes nicht aufgenommen hat,
daß diese - deutschen Raketentechniker im Irak die sowjetischen ScudRaketen so modernisiert haben, daß diese nun
mit einer Reichweite von 900 km nicht nur Teheran, sondern auch Jerusalem und Tel Aviv erreichen können.
Staatssekretär Riedl antwortete damals, daß es sich nach seinen Informationen - ich zitiere wiederum offensichtlich um Raketen zur Luftverteidigung Bagdads handle.
Im übrigen wies er bezüglich der Reisetätigkeit deutscher Raketentechniker in den Irak darauf hin - ich zitiere wieder -,
daß Bürger der Bundesrepublik Deutschland eine völlige Bewegungsfreiheit haben und von der Ausreisefreiheit, die durch das Grundgesetz gewährt wird, natürlich ungebrochen Gebrauch machen.
Immer wieder haben wir nach den Scud-Raketen im Bundestag gefragt, und wir haben schnelle Maßnahmen angemahnt. Beschleunigt wurde die Gesetzgebungsarbeit des Bundestages aber erst durch einen Mahnbrief der amerikanischen Regierung vom Mai 1990 an die Bundesregierung. Welch eine Souveränität!
Dann ging es etwas schneller. Aber die Verordnung, die die Tätigkeit deutscher Raketentechniker unter Genehmigungspflicht stellt, trat erst eine Woche nach dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait in Kraft. Welch ein Zufall!
Die Bundesregierung meint, das seien alles Zufälle; sie habe alles ihr Mögliche getan. Aber wir wollen die Aufklärung dieser Vorgänge nicht auch noch dem Zufall überlassen.
({6})
Deshalb beantragen wir heute, daß dem Bundestag wie im Falle Rabta ein schriftlicher Bericht zum irakischen Raketen- und Giftgaskomplex vorgelegt wird. Wir werden die von der Bundesregierung angekündigten Gesetzesinitiativen auf der Grundlage dieses Berichtes sorgfältig prüfen. Dann werden wir entscheiden, ob die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses erforderlich ist.
({7})
Wir haben auf diesem Gebiet nämlich Spezialisten und ein gutes Gedächtnis.
Der Bundeskanzler hat gestern gesagt - ich zitiere - , auch die Verantwortlichen der Wirtschaft müßten das Ihrige tun, um diejenigen zu ächten, die in illegale Rüstungsgeschäfte verwickelt seien. Dabei fällt mir jetzt zufällig der Auftritt des Bundeskanzlers im U-Boot-Untersuchungsausschuß ein. Ich erwarte vom Bundeskanzler keine Selbstächtung, aber eine Entschuldigung könnte nicht schaden; denn verwikkelt war er in ein illegales Rüstungsgeschäft allemal,
({8})
übrigens in ein Rüstungsgeschäft, das mit dem Bruch des UN-Embargos gegen Südafrika zu tun hatte, eines Rüstungsembargos, das die gleiche Qualität hatte wie das Rüstungsembargo gegen den Irak. Im Bundeskanzleramt haben Staatssekretäre und Chefberater monatelang die Frage geprüft, ob ein ganzes U-Boot wohl eine Kriegswaffe sei, die unter ein Rüstungsembargo fallen könnte.
({9})
Das Versagen der Bundesregierung in der Rüstungsexportkontrolle zwingt die Sozialdemokratie heute dazu, von ihrer ständigen Forderung „Keine Rüstungsexporte in den Nahen Osten" abzuweichen. Wir bekennen uns zu diesem Widerspruch.
Seit Tagen und Nächten ist Israel Ziel von Raketenangriffen Saddam Husseins und Adressat von Drohungen mit Giftgas. Die Bundesrepublik Deutschland muß Israel bei seinem Schutz und bei seiner Verteidigung helfen. Das ergibt sich aus der besonderen Verpflichtung Deutschlands gegenüber Israel und zusätzlich daraus, daß die Bundesregierung durch ihre verantwortungslose Rüstungsexportpolitik die gegenwärtige Notlage mit verursacht hat.
Das vereinigte Deutschland trägt nicht nur die Bürde der deutschen Vergangenheit. Es haftet auch für die Fehler seiner Regierung aus der jüngsten Gegenwart. Und wir haften mit, auch mit unseren Grundsätzen.
Unser Vorschlag, ein Rüstungsexportverbot in Staaten außerhalb des eigenen Bündnisses im Grundgesetz zu verankern, bleibt bestehen. Aber es muß klar sein, daß die Verteidigungshilfe für Israel nicht dazu führt, daß nun auch die Schranken für Waffenexporte in andere Länder des Nahen Ostens geöffnet werden: erst Israel, dann Saudi-Arabien, Ägypten, Syrien und in zwei Jahren wieder der Irak. Man kennt die Methoden der deutschen Rüstungsexportlobby.
({10})
Solidarität mit Israel wird übrigens auch zu finanziellen Hilfen führen müssen. Das öffentliche und wirtschaftliche Leben Israels ist durch die tägliche Bedrohung gefährdet und gestört. Da reicht die peinliche Präsentation von wohltätigen Schecks auf Pressekonferenzen nicht aus.
({11})
Die deutschen Banken können übrigens auch einiges tun, um den angeschlagenen Ruf der deutschen Wirtschaft wiederherzustellen, indem sie die normalen Geschäftsbeziehungen in dieser Situation nicht dadurch erschweren, daß sie unter Berufung auf das Kriegsrisiko in Israel zusätzliche Sicherheiten verlangen. Herr Kollege Dregger, wenn Sie schon bei den Rüstungsexporten und ihren Wirkungen keine Scham empfinden - wie Herr Solms und ich das tun -, dann bitte ich Sie: Nutzen Sie Ihre Schneidigkeit wenigstens dazu, die Herren in den Vorstandsetagen der Banken dazu zu bringen, daß Israel in dieser Situation nicht noch zusätzliche Schwierigkeiten kriegt.
({12})
Lassen Sie mich, weil es dazugehört, an dieser Stelle sagen - ich wiederhole das, was ich in einer anderen Debatte des Bundestages ein Jahr nach dem Beginn des Intifada-Aufstandes in den besetzten Gebieten gesagt habe - : Unsere Aufgabe muß es sein, eine Politik zu machen, die proisraelisch und propalästinensisch ist.
({13})
Deshalb ist das, was wir jetzt zu leisten haben, keine Parteinahme gegen das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung.
({14})
In der Presse gibt es Spekulationen über die Haltung der SPD zum Golf-Krieg.
({15})
Herr Dregger hatte das heute morgen ausgebreitet. Es gebe Meinungsunterschiede, die Haltung sei nicht klar.
({16})
Politik beginnt damit, daß man sagt, was ist und was man will. Es ist Krieg. Wir wollen Frieden. Wer will von all denen, die uns jetzt zuhören, nicht auch den Frieden? Wir sind unsicher in der Frage, wie wir zu einem sicheren Frieden baldmöglichst kommen können, zur Einstellung der Kampfhandlungen, zum Ende des Tötens und des Sterbens, das mit anzusehen die Zensur der Kriegsberichterstattung uns nicht erlaubt.
Der Krieg schafft jeden Tag neue Fakten und neue Bedrohungen. Täglich werden politische Optionen zerstört. Der französische Staatspräsident hat schon vor Monaten vor der Logik zum Kriege gewarnt. Jetzt scheint die Logik des Krieges zu herrschen. Wenn wir dieser furchtbaren Logik nicht widerstehen, dann besteht die Gefahr, daß sich das politische Handeln endgültig den vermeintlichen militärischen Sachzwängen unterordnet. Das können wir nicht mitmachen.
({17})
Die Bundesrepublik Deutschland ist an der Kriegführung nicht beteiligt. Noch nicht? Die SPD ist in der Opposition.
({18})
Aber wir ringen so um unsere Position, als ob wir voll in der Verantwortung wären.
({19})
Ich meine, das ehrt meine Partei, und das stärkt sie, solange es sie nicht zerreißt.
({20})
Am 7. August 1990, wenige Tage nach dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait, hat die SPD- Bundestagsfraktion erklärt - ich zitiere - :
({21})
Niemand darf sich der Täuschung hingeben, daß Saddam Hussein durch die Eroberung Kuwaits gewissermaßen saturiert sein könnte. Wer aus der Geschichte lernen will, muß wissen, daß Saddam Hussein sich nach einem internationalen Arrangement über Kuwait nicht anders verhalten würde als Hitler nach dem Münchener Abkommen.
({22})
Wir haben deshalb die Sanktionsbeschlüsse des UN-Sicherheitsrates begrüßt und am selben Tag erklärt - ich zitiere - :
... von der Bereitschaft, diese Sanktionen dauerhaft bestehenzulassen und sie vor allen Dingen lückenlos einzuhalten, wird es abhängen, ob es gelingt, eine militärische Eskalation des Krieges zu verhindern.
Heute quält mich die Frage, ob die Eskalation des Krieges nicht deshalb erfolgte, weil sich der Westen ein länger dauerndes Embargo nicht durchzuhalten traute.
Ein Arrangement mit Saddam Hussein kann es heute weniger denn je geben, nachdem er die kriegerische Eskalation willentlich herausgefordert hat, sie mit einer Kette von Völkerrechtsverstößen begleitet und versucht, auf das an der UN-Aktion nicht beteiligte Israel das Kriegsgeschehen auszudehnen.
Wir sind gleichwohl für eine Feuerpause, damit jetzt nach zwei Kriegswochen erneut der Politik Raum gegeben wird. Es müssen alle Chancen für einen Frieden genutzt werden, auch wenn sie noch so gering erscheinen mögen; denn von der Forderung nach dem Abzug von Kuwait können wir, dürfen wir nicht abgehen.
({23})
Es muß auch gewährleistet sein, daß Saddam Hussein eine Feuerpause nicht mißbraucht, um sich neue militärische Optionen zu eröffnen und Israel erneut anzugreifen.
({24})
Aber ich sage Ihnen: Das Wagnis einer Feuerpause, einer Besinnungspause für eine politische Lösung kann unter den Bedingungen der alliierten Luftherrschaft eingegangen werden. Der Versuch muß doch gewagt werden.
({25})
Für diesen Versuch hat sich mein Partei- und Fraktionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel mit einem erneuten Appell an die UNO eingesetzt. Es geht schlicht und einfach darum, die Logik des Krieges zu durchbrechen,
({26})
so wie Willy Brandt noch am 14. Januar 1991 mit seinem beschwörenden Appell den Versuch gemacht hat, die Logik zum Krieg zu durchbrechen.
Die Bundesrepublik Deutschland ist an den Kampfhandlungen des Golfkrieges mit Soldaten nicht beteiligt.
({27})
- Graf Lambsdorff, wenn Sie satisfaktionsfähig wären, würde ich Sie für diesen Zwischenruf fordern.
({28})
Die Bundesrepublik Deutschland ist an den Kampfhandlungen des Golfkrieges mit Soldaten nicht beteiligt.
({29})
Da rief Graf Lambsdorff dazwischen: Deswegen können Sie hier auch so reden.
Verteidigungsminister Stoltenberg hat sich gestern in einem Fernsehinterview auf unsere Verfassungsbestimmungen berufen. Damit auch das klar ist: Wir verstecken uns nicht hinter dem Grundgesetz nach der Devise: Wir wären gerne dabei, aber wir dürfen nicht.
({30})
Denn das Grundgesetz ist schließlich eine Lehre daraus, daß unsere Nachbarvölker in diesem Jahrhundert zweimal Opfer deutscher Armeen geworden sind. Ob wir in den letzten 40 Jahren für die neuen Pflichten des geeinten Deutschlands in den Vereinten Nationen dazugelernt haben, bedarf einer ernsthaften Selbstprüfung.
Der NATO-Vertrag ist ein regionales Verteidigungsbündnis, das ausschließlich der Verteidigung bei Angriffen dient. Es ist kein Instrument zur Kriegsführung außerhalb des Bündnisbereiches. Es ist auch nicht dazu da, militärische Rückendeckung für kriegerische Operationen außerhalb des Bündnisbereiches zu geben, auch wenn diese durch das Völkerrecht und jetzt durch die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates gedeckt sind.
({31})
Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einem gerechten Krieg. Im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel kommt es auf den Unterschied zwischen dem gerechten und dem ungerechten Krieg nicht mehr an.
({32})
Es geht darum, ob ein Krieg vermeidlich oder unvermeidlich ist.
({33})
Unvermeidliche Kriege dürfen auch nicht als Schicksal oder als Verhängnis hingenommen werden. Es wäre das Ende unserer Welt.
({34})
Ich bin nicht sicher, ob dieser Krieg vermeidbar war. Hätte das Embargo mehr Zeit gehabt, hätte es seine strangulierende Wirkung erzielen können - übrigens auch Gewalt -, so wäre nicht ausgeschlossen gewesen, daß Saddam Hussein zu einem militärischen Verzweiflungsschlag ausgeholt hätte.
({35})
Mich quält die Frage, ob ihm ein langdauerndes Embargo nicht möglicherweise die Zeit gegeben hätte, die Atombombe zur Einsatzreife zu bringen, bei der auch Deutsche mitgeholfen haben.
({36})
Aber falsch war es, ihm ein Ultimatum zu setzen, weil sich die UNO-Koalition dadurch selbst unter militärischen Zugzwang setzte.
({37})
Das ist Geschichte, und sie ist nur noch so viel wert, wie wir daraus für die Zukunft lernen können. Deshalb frage ich die Bundesregierung: Wo waren Sie, als diese Entscheidung in den Vereinten Nationen fiel?
({38})
Der Herr Bundeskanzler hat gestern gesagt - ich zitiere - : „Ich habe Verständnis für die Angst, die manchen bei uns angesichts der Entwicklung am Golf erfaßt." Es ist gut, daß er das gesagt hat. Besser wäre es gewesen, er hätte auch Verständnis für die Menschen gezeigt, die in diesen Tagen zu hunderttausenden gegen den Krieg demonstriert haben.
({39})
Warum sagt er nicht ein Wort der Entschuldigung dafür, daß Sprecher der Bundesregierung und seiner Partei die Demonstrationen als antiamerikanisch und antiisraelisch diffamiert hatten, bevor diese überhaupt stattfanden?
({40})
Antiamerikanisch und antiisraelisch war im Ergebnis eine Rüstungsexportpolitik, die es zugelassen hat, daß Saddam Hussein so stark wurde, daß ihm jetzt amerikanische Soldaten und israelische Zivilisten zum Opfer fallen.
({41})
Sie haben das gewiß nicht gewollt, und ich bin auch überzeugt, daß Sie das Entsetzen über die Folgen von Unterlassung und Verharmlosung ergriffen hat. Aber die Friedensbewegung hat seit vielen Jahren davor gewarnt, und das kann durch bösartige Antikampagnen nicht verdrängt werden.
({42})
Ich habe in diesen Tagen - wahrscheinlich wie Sie auch - viele nachdenkliche und besorgte Stimmen aus der Bundeswehr gehört. Da war kein Ton von Hurra-Gefühl oder gar von Kriegslüsternheit.
({43})
Daß sich Soldaten zu dieser besorgten Nachdenklichkeit öffentlich bekennen, ist die Zivilcourage des Bürgers in Uniform, und ich finde das gut.
({44})
Die Sozialdemokratie, die sich zur Landesverteilung bekennt, hat immer für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gekämpft. Das ist eine individuelle Gewissensentscheidung und muß es bleiben. Für manchen Soldaten mag sich diese Gewissensentscheidung jetzt eindringlicher stellen als je zuvor. Schon im Vorfeld solcher Entscheidungen - das fordere ich aus ganz aktuellem Anlaß - sollte die Bundesregierung wenigstens keine Wehrpflichtigen ohne deren ausdrückliches Einverständnis in die Türkei schicken.
({45})
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Dregger, Sie haben das auch so gesehen.
({46})
Vielleicht können wir helfen, daß es so geschieht.
Meine Damen und Herren, die Gefahr des Krieges und das Erlebnis des Krieges führen zu existentiellen Situationen, in denen übrigens auch mancher Kriegsdienstverweigerer zum Kriegsfreiwilligen geworden ist. Mancher Emigrant, der von Hitler seines Pazifismus wegen verfolgt wurde, hat in einer Armee gegen Hitler gekämpft, als es keine andere Alternative mehr zum Appeasement gab.
Die individuelle Gewissensentscheidung muß respektiert werden, in jedem Fall. Sie darf nicht organisiert werden. Die SPD wird sich an keiner Kampagne zur Kriegsdienstverweigerung oder Desertion beteiligen.
({47})
Wir werden deshalb den sich abzeichnenden Verfassungskonflikt auch nicht auf den Schultern der Soldaten austragen. Wir bleiben bei unserer Auffassung, daß über den Bündnisfall und den damit verbundenen Einsatz deutscher Streitkräfte der Bundestag mit Zweitdrittelmehrheit entscheiden muß.
({48})
In dem Fall, der hoffentlich nicht eintritt, muß gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht eine juristische Entscheidung vor der parlamentarischen treffen. Aber der Klarheit wegen stelle ich fest: Der Streit über die Verfassung und über die richtige Politik darf nicht Soldaten gegenüber zum Anlaß für eine Verweigerungskampagne genommen werden. Für die Soldaten der Bundeswehreinheiten, die jetzt verlegt werden, ist die Belastung ernst genug. Wir wünschen für sie und
ihre Familien, daß sie bald gesund und heil zurückkommen, und die gleichen Wünsche gelten für die britischen und amerikanischen Soldaten aus der Bundesrepublik.
({49})
Die SPD hat es als eine Fehlentscheidung bezeichnet, daß Flugzeuge und Soldaten der Bundesluftwaffe im Rahmen eines NATO-Verbandes Anfang Januar in die Türkei entsandt worden sind. Eine Bedrohung durch irakische Übergriffe gab es für die Türkei nicht. Wenn es sie gegeben hätte, dann hätte man multinationale Bodenstreitkräfte schicken müssen.
({50}) Das hat die Türkei ausdrücklich nicht gewollt.
Jetzt gibt es Anlaß zur Sorge über manche Äußerungen türkischer Politiker, ob die Türkei durch eine Beteiligung an der UNO-Aktion nicht auch eigene Interessen verfolgen sollte. Dazu darf die NATO nicht mißbraucht werden.
Mit der Entsendung weiterer Bundeswehreinheiten - jetzt zur Flugzeugabwehr - in die Türkei setzt die Bundesregierung die Kette ihrer Fehlentscheidungen fort. Die eine ist die Konsequenz der anderen. So beginnt die Logik zum Kriege. Wo hört sie auf?
Die Entscheidungen der Bundesregierung sind hastig und unter Druck von außen getroffen worden. Das ist nicht die Souveränität, die Deutschland braucht. Wir halten die Entscheidungen der Bundesregierung für falsch. Sie können sich verhängnisvoll auswirken. Saddam Hussein will eine Ausweitung des Konflikts. Die nächste Dimension des Krieges ist nach seiner Strategie der revolutionäre und militärische Flächenbrand im Nahen Osten. Diese Dimension kann auch durch eine Beteiligung der NATO erreicht werden. Aus einem Krieg der UNO-Koalition gegen den Irak würde dann ein Konflikt zwischen westlichen und arabischen Staaten werden. Aber es geht nicht um West gegen Ost, es geht nicht um Nord gegen Süd, es geht nicht um Abendland gegen Orient, es geht um die Befreiung Kuwaits und die Wiederherstellung des Völkerrechts.
({51})
Deshalb ist die Eindämmung des Krieges jetzt das erste Ziel. Die Bundesregierung kann dazu einen Beitrag leisten, wenn sie sich nicht weiter in ein militärisches Engagement hineinziehen läßt.
({52})
Ich weiß, daß die Verbündeten in der NATO diese Sicht nicht teilen. Wir nehmen die Bundesregierung aber vor ungerechtfertigter ausländischer Kritik in Schutz.
({53})
Daß sich die Bundesrepublik nicht militärisch am
Golfkrieg beteiligt, berührt nicht die Zuverlässigkeit
der Bundesrepublik als Bündnispartner für die Bündnisfälle, für die die NATO geschaffen ist. Diese Zuverlässigkeit gilt auch für die Pflichten, die sich nicht aus dem Bündnisvertrag sondern aus der faktischen Verbindung der Bündnispartner ergeben. Einen provozierten Bündnisfall aber, wie der FDP-Fraktionsvorsitzende Solms in einem Presseinterview gesagt hat, darf es in der Türkei nicht geben.
({54})
Meine Damen und Herren, die Sorgen über den Krieg und über die Gefahren seiner weiteren Eskalation versperren den Blick auf die Zeit danach und auf andere Probleme der Gegenwart, die ja nicht schon dadurch gelöst sind, daß mit dem Krieg ein noch größeres Problem dazugekommen ist. Dazu hätte ich gerne im einzelnen noch etwas gesagt. Bei anderen Debatten wird dazu Gelegenheit sein.
({55})
Aber ich möchte doch sagen, daß wir auch in dieser Stunde an die Menschen in der Sowjetunion denken, die für ihr Recht auf Selbstregierung und auf Selbstbestimmung kämpfen.
({56})
Wir sind am Zusammenhalt der Sowjetunion interessiert. Wir ermuntern keine Republik zur Sezession, aber im gemeinsamen Haus Europa darf es niemanden geben, der in einen Seitenflügel eingesperrt wird.
({57})
Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute im Bundestag das erste Mal im geeinten Deutschland über das Programm einer Bundesregierung, die aus gemeinsamen Wahlen hervorgegangen ist. Diesen gemeinsamen Grund zur Freude - bei allen Gegensätzen zwischen Regierung und Opposition - wollen wir uns durch die Sorgen über den Golfkrieg nicht nehmen lassen. Unsere gemeinsame Verantwortung ist gewachsen. Ihr müssen wir auch in der öffentlichen Debatte des Bundestages gerecht werden.
({58})
Es gibt auch Situationen, Herr Bundesaußenminister, in denen Konsultationen erforderlich sind. Es gibt Konflikte, die außen- und innenpolitisch Schaden anrichten, die aber hätten vermieden werden können, wenn man rechtzeitig Informationen und Meinungen ausgetauscht hätte.
({59})
Die Opposition wird sich von der Bundesregierung durch Vertraulichkeit nicht vereinnahmen lassen. Der Platz der Entscheidung ist das Plenum des Bundestages. Wo Gemeinsamkeit helfen kann, den Frieden zu bewahren, sind wir zur Zusammenarbeit bereit. Wo aber kriegerische Gefahren in Kauf genommen werGansel
den oder Chancen zur Friedensstiftung vertan werden, da werden Sie auf unseren entschlossenen Widerstand stoßen.
({60})
Herr Bundesaußenminister, es sind schwere Zeiten. Wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand. Das sind Wünsche einer Partei, die in ihrer langen internationalen Geschichte nie vor Diktaturen kapituliert hat und die doch immer ihr Gewicht - mal größer und mal weniger groß - für den Frieden in die Waagschale geworfen hat.
({61})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat Graf Lambsdorf.
({0})
- Graf Lambsdorff, darf ich bitten: Die Kurzintervention findet im Regelfall vom Saal aus statt.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gansel, Sie haben einen Zwischenruf von mir nicht beantwortet und als Begründung dafür angegeben, wenn ich denn satisfaktionsfähig wäre, dann würden Sie dies tun. Die beleidigende Absicht in dieser Formulierung ist nicht zu übersehen.
({0})
Sie haben ganz offensichtlich zwei Zwischenrufe nicht verstanden. Sie haben ausgeführt, daß Sie für einen Waffenstillstand im Irak-Krieg seien. Sie wissen, daß es darüber unterschiedliche Meinungen in Ihrer Partei gibt. Sie brauchen ja nur Ihren rechten Nachbarn und Parteivorsitzenden anzusehen.
Ich bin der Auffassung, daß ein Waffenstillstand Saddam Hussein Anlaß und Möglichkeit gibt, sich neu zu formieren, und habe den Zwischenruf „Ihr Vorschlag kostet amerikanische Soldaten das Leben!" gemacht.
({1})
Dann kam Ihre Bemerkung: „Deutsche Soldaten sind nicht dabei." Ich habe weiter zwischengerufen: „Deswegen können Sie so reden, weil deutsche Soldaten nicht betroffen sind! Aber amerikanische und alliierte Soldaten sind betroffen von Ihren Vorschlägen! "
({2})
Ich erteile dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Herrn Professor Biedenkopf, das Wort.
Ministerpräsident Dr. Biedenkopf ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Deutschen im östlichen Teil Deutschlands sind von den Problemen, die wir heute in der Debatte bisher vorwiegend behandelt haben, genauso bewegt und getroffen wie die Menschen im Westen. Sie haben in der gleichen Weise Angst und Sorge; Angst und Sorge, die sich - in vielen Friedensgebeten ist dies deutlich geworden - auch mit der Bereitschaft mischen, darüber nachzudenken, welchen Beitrag man selbst zu dieser Entwicklung geleistet hat.
({1})
Aber die Menschen im Osten beschäftigt auch ein anderes großes Problem. Ich meine, daß in der Debatte über die Regierungserklärung bei aller Bedeutung des alles überschattenden Krieges am Golf auch dieses Problem behandelt werden muß. Der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung als die Aufgabe bezeichnet, die innenpolitisch absolute Priorität hat, nämlich die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse für die Menschen in ganz Deutschland. Dieses Ziel ist nur gemeinsam zu erreichen; das hat der Bundeskanzler zu Recht festgestellt. Er hat gefordert, daß sich die Solidarität und die gesamtstaatliche Verantwortung aller deutschen Bürger dieser Aufgabe zuwenden. Denn, so wörtlich: Es geht um eine Aufgabe aller Deutschen.
Diese Tatsache ist von großer Bedeutung für die Menschen, etwa im Freistaat Sachsen, aber auch in allen anderen ostdeutschen Bundesländern; denn, meine Damen und Herren, unbeschadet der großen Anstrengungen, die im Grunde genommen seit über einem Jahr, aber vor allem in den Monaten seit der Herstellung der deutschen Einheit für die Menschen und den Wiederaufbau im östlichen Teil Deutschlands geleistet wurden, ist die Aufgabe, die noch vor uns liegt, gigantisch.
Herr Modrow, der Sie ja vorhin von der zu schnellen Einheit und dem, wie Sie meinten, Herunterwirtschaften der Wirtschaft gesprochen haben,
({2})
erst jetzt entdeckt sich uns langsam und allmählich die ganze Dimension der katastrophalen Lage im Osten Deutschlands.
({3})
Erst jetzt entdeckt sich uns allmählich nicht nur der wirtschaftliche und der ökologische Schaden,
({4})
sondern vor allem der ungeheure Schaden, der von einer sozialistischen Zwangsherrschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet worden ist,
({5})
der Schaden, der etwa bei jungen Studenten dadurch angerichtet wurde, daß man sie in der Rechtswissenschaft dazu erzogen hat zu glauben, das Recht diene nicht als herrschendes, sondern als Instrument der Macht, und man dürfe das Recht brechen, wenn die
Ministerpräsident Dr. Biedenkopf ({6})
Macht der Arbeiter- und Bauernklasse dies erforderlich mache.
({7})
Die unglaubliche Zerstörung all dessen, was zur Kultur, zur Rechts- und Wirtschaftskultur eines freiheitlichen Landes gehört - das ist der eigentliche Schaden.
({8})
Der Schaden besteht auch darin, daß aus dem östlichen Teil Deutschlands in den letzten 40 Jahren über 4 Millionen Menschen vertrieben wurden, die alle ihr Land nicht freiwillig verlassen haben, die ihre Heimat nicht deswegen zurückgelassen haben, weil sie sich dort nicht mehr zu Hause fühlten, sondern weil man ihnen ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen und in Freiheit unmöglich gemacht hatte. Wir sehen heute, welche Lücken diese Abwanderung gerissen hat.
Meine Damen und Herren, es geht um die Aufgabe aller Deutschen. Das heißt, daß es eine Gemeinschaftsaufgabe ist, den Osten Deutschlands wieder aufzubauen und gleiche Lebenschancen und Lebensverhältnisse für alle Deutschen zu gewinnen.
({9})
Eine Gemeinschaftsaufgabe bedeutet nach unserem Verfassungsrecht und nach unserem politischen Verständnis - ich glaube, da gibt es keine Meinungsverschiedenheit -, daß sich alle daran beteiligen müssen,
(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: So ist es!
Sehr gut!)
und zwar alle nach ihrer Leistungsfähigkeit.
({0})
So halten wir es in der Europäischen Gemeinschaft, so halten wir es im Verhältnis der Bundesländer untereinander in der alten Bundesrepublik, und so müssen wir es auch im geeinten Deutschland halten.
({1})
Dazu gehört, daß man sich Maßstäbe setzt oder verschafft, wie man diese Beiträge mißt. Hier ist es mir ein wichtiges Anliegen, daß wir nicht nur das Geld als Maßstab nehmen, sondern insbesondere auch das mit einbeziehen, was die Deutschen im östlichen Teil Deutschlands an politischen und menschlichen Leistungen erbringen und auch erbringen müssen, wenn das Werk der Einheit gelingen soll.
({2})
Die Einheit wird - das ist die Beobachtung vieler - zu sehr als ein rein ökonomisches und finanzpolitisches Problem diskutiert.
(Zustimmung bei der SPD -
Sehr gut!)
Meine Damen und Herren, alles Geld das der wohlhabende Teil Deutschlands dem neuen Teil Deutschlands zur Verfügung stellt, wäre nutzlos zur Verfügung gestellt, wenn dort nicht Millionen von Menschen bereit wären, unter sehr viel schlechteren Lebensbedingungen, mit sehr viel geringeren Gehältern, in einer zum Teil ökologisch verwüsteten Landschaft, in sehr viel schlechteren Wohnungen und mit einer sehr viel schlechteren Infrastruktur Leistungen, auch politische Anpassungsleistungen zu erbringen, die im Westen schlicht als politisch undurchsetzbar und deshalb politisch unmöglich gekennzeichnet würden.
({0})
Man muß sich klarmachen, was von den Menschen verlangt wird, die sich nun in einer völlig neuen Rechtsordnung, in einer neuen Wirtschaftsordnung, in einer neuen Wirtschafts- und Finanzstruktur zurechtfinden sollen. Die Bürgermeister - im Freistaat Sachsen 1 600 an der Zahl - , die vor einem knappen Jahr durch die Kommunalwahl in ihr Amt kamen, werden plötzlich mit administrativen Aufgaben überschüttet, die zu erledigen jede Gemeinde und jeder Kreis in der Bundesrepublik sich schlicht weigern würden, weil diese Aufgaben zusätzlich auf sie zukämen. Diese Bürgermeister erledigen diese Aufgaben dennoch, und das bei einem Einkommen von 1200 oder 1 300 DM im Monat; bei einem Oberbürgermeister sind es 2 200 oder 2 500 DM im Monat. Dieselben Leute lesen morgens in der Straßenbahn oder im Auto im Anzeigenblatt die Stellenangebote aus dem Westen, in denen das Drei- bis Vierfache geboten und zusätzlich eine Wohnung versprochen wird. Trotzdem bleiben die Leute dort und bauen Deutschland im Osten auf!
({1})
Dies ist eine Leistung, die in unsere Leistungsbilanz zur Bewertung der Beiträge zur Erfüllung der Gemeinschaftsaufgabe eingehen muß, wenn die ganze Sache nicht von vornherein wieder ungerecht sein soll.
Deshalb ist es ein großes Anliegen von uns allen - das möchte ich hier in der Debatte über die Regierungserklärung für diese Legislaturperiode ausdrücklich sagen - , daß diese Leistungen im Zusammenhang mit der Entwicklung der nächsten Monate und Jahre, in denen die Weichenstellungen für die gesellschaftliche Einheit - wie Herr Vogel es genannt hat - oder die innere Einheit der Deutschen - wie wir es nennen - erfolgen, mit bewertet werden.
Die Menschen werden immer wieder gefragt: Was bringt ihr in diesen Prozeß ein? Sie bringen, meine Damen und Herren, sich selbst ein, und zwar mit einer Leistungsbereitschaft, an der man sich im Westen ein Vorbild nehmen kann.
({2})
Damit kommen wir zum Beitrag im Westen. Auch hier werden wichtige menschliche, persönliche Beiträge geleistet. Wir könnten in allen ostdeutschen Bundesländern die Arbeit des Aufbaus ohne die Unterstützung aus dem Westen nicht mit Erfolg bewältigen, ohne die Unterstützung von Frauen und Männern, die bereit sind, für Monate oder Jahre eine neue Aufgabe zu übernehmen, und zwar unter sehr viel
Ministerpräsident Dr. Biedenkopf ({3})
schwierigeren Bedingungen, als sie es zu Hause gewohnt sind, unter Inkaufnahme einer Menge Einschränkungen und Widrigkeiten, die sie aber - das ist meine Erfahrung mit Mitarbeitern - in wenigen Monaten vergessen, weil sie sich mit der neuen Aufgabe identifizieren.
({4})
Ich möchte meine Rede vor diesem Hohen Hause nutzen, um den Männern und Frauen, die nach Osten kommen und mithelfen, ausdrücklich zu danken.
({5})
Ich möchte auch allen denen danken, die mit der echten Bereitschaft kommen, zu investieren und mit ihrem Kapital Mitbürger im Osten Deutschlands zu werden. Das macht eine wirkliche Investition aus; nicht nur ein schneller Einmarsch, um schnelles Geld zu verdienen.
Aber der dritte und wichtigste Beitrag - das kann angesichts der ökonomischen und der zahlenmäßigen Verhältnisse nicht anders sein - ist der Beitrag zur Finanzierung. Meine Damen und Herren, es ist viel über die Finanzen gesprochen worden. Ich sehe meine Aufgabe jetzt hier nicht darin, Einzelheiten zur Bewältigung der finanziellen Dimension dieser Aufgabe vorzutragen, sondern ich möchte die Dimension selbst kurz vortragen. Denn wenn es so ist, daß wir ein geeintes Deutschland sind, dann gibt es zur Bewältigung dieser finanziellen Aufgabe keine Alternative, so daß im Unterschied zu vielen anderen Fällen in diesem Fall die Notwendigkeiten, nicht die Bereitschaften oder die politischen Entschlossenheiten das Volumen bestimmen.
Die Notwendigkeiten werden nicht durch Parteipolitik, sondern durch die Wirklichkeit bestimmt. Die Wirklichkeit sagt, daß die ostdeutschen Bundesländer in den nächsten Jahren nur mit sehr geringen Steuereinnahmen rechnen können. Es gibt aus dem Dezember Steuerschätzungen, die den ostdeutschen Ländern und den Gemeinden zusammen für das Jahr 1991 etwa 16 Milliarden DM, für das Jahr 1992 etwa 20 Milliarden DM, für das Jahr 1993 etwa 26 Milliarden DM und für das Jahr 1994 etwa 30 Milliarden DM Einnahmen voraussagen.
Dazu kommen die Einnahmen bzw. die Zuschüsse aus dem Fonds Deutsche Einheit. Bei der Anlage des Fonds Deutsche Einheit ist man offenbar davon ausgegangen, daß die Steuereinnahmen der ostdeutschen Länder sehr viel schneller steigen würden, als sie nach den jüngsten Steuerschätzungen voraussichtlich steigen. Deshalb hat man den Fonds so angelegt, daß die größten Zahlungen 1991 und die geringsten 1994 kommen. Das war, wenn ich so sagen darf, weil es auch die Diskussion über die Korrektur dieser Lösung erleichert, ein überparteilicher Konsenz, der vor allem auch von den Ländern, und zwar von den CDU- und den SPD-Ländern, als Voraussetzung für deren Zustimmung zum Einigungsvertrag nachhaltig gefordert wurde.
Die Wirklichkeit wird nun voraussichtlich anders verlaufen; zumindest müssen wir uns darauf einrichten. Voraussichtlich werden die aggregierten Einnahmen, also Steuereinnahmen der Länder und Gemeinden und Leistungen aus dem Fonds Deutsche Einheit, zwischen 1991 und 1994 insgesamt nicht zunehmen, sondern abnehmen. Wenn man die Steuerschätzungen vom Dezember zugrunde legt, dann werden die ostdeutschen Länder im Jahre 1991 - einschließlich Fonds Deutsche Einheit - rund 46 Milliarden DM und im Jahre 1994 rund 39 Milliarden DM einnehmen. Das heißt, obwohl die Aufgaben wachsen, obwohl die Gehälter notwendigerweise steigen, obwohl die Investitionsansprüche zunehmen, nehmen die projektierten Einnahmen ab.
Dies hat die Finanzminister der ostdeutschen Länder bereits im Dezember zu der Feststellung veranlaßt - ich möchte sie mir hier zu eigen machen - , daß wir einen Fall des Art. 7 des Einigungsvertrages vor uns haben. Art. 7 des Einigungsvertrages erlaubt den Parteien, eine Neuverhandlung mit Hinweis auf eine nachhaltig veränderte Grundlage des Vertrages zu fordern.
So, wie die Projektionen jetzt sind, werden die ProKopf-Einnahmen in den neuen Bundesländern im Verhältnis zu den Pro-Kopf-Einnahmen in den alten Bundesländern 1991 61 %, 1992 55 %, 1993 50 % und 1994 43 % betragen. Es ist offensichtlich - ich will Sie nicht weiter mit Zahlen langweilen -, daß aus diesen Zahlen keine Perspektive erwachsen kann. Wir brauchen diese Perspektive aber, wenn wir die Menschen für die Aufgabe gewinnen wollen, wenn wir die Investoren gewinnen wollen, wenn wir Wissenschaft und Kultur erhalten und sichern wollen und wenn wir damit das Erbe sichern wollen, das in großem Umfang auch als historisches Erbe durch die Wiedervereinigung mit den ostdeutschen Ländern wieder nach Deutschland gekommen ist.
({6})
Dieses kulturelle, geistige und wissenschaftliche Erbe muß erhalten und gemehrt werden, die Infrastruktur muß erneuert werden, und es darf nicht zugelassen werden, daß die ostdeutschen Länder und Gemeinden bereits in zwei Jahren höher als die westdeutschen Länder verschuldet sind und daß sie in drei Jahren praktisch nicht mehr leistungsfähig sind, auch was die Kreditaufnahme betrifft, weil sich dann ein Teufelskreis in Gang setzt. Den müssen wir vermeiden! Der Teufelskreis wird dadurch ausgelöst, daß Investoren in hochverschuldete und sich ständig weiter verschuldende Länder nicht gehen und daß diejenigen, die eine zukunftsweisende, das Land erneuernde unternehmerische Arbeit leisten wollen, eine solche Region verlassen. Indem sie sie aber verlassen, tragen sie zur weiteren Verzögerung der Entwicklung bei, was wiederum eine Verzögerung der Investitionen zur Folge hätte, usw.
Ich möchte deshalb zusammenfassend sagen: Die Weichenstellung für die innere Einheit Deutschlands wird in den nächsten Monaten stattfinden, und sie wird geprägt sein durch die Kraft dieses hohen Hauses und der Bundesländer, in Änderung und Weiterentwicklung der bisherigen Grundlagen soviel Mittel in diesem Jahr zur Verfügung zu stellen, daß die Dinge in Gang kommen, d. h. daß nicht diese Negativspirale
Ministerpräsident Dr. Biedenkopf ({7})
einsetzt und wir nicht die wertvollsten Menschen verlieren, die wir haben.
({8})
Meine Damen und Herren, ich habe im Februar 1990 als Mitglied des Deutschen Bundestages in diesem Hohen Hause gesagt, daß wir für die Finanzierung der deutschen Einheit voraussichtlich den Zuwachs des Bruttosozialprodukts in den nächsten Jahren brauchen würden. Der Zuwachs des Bruttosozialprodukts im Jahr 1990 war sehr eindrucksvoll. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß ein wesentlicher Teil dieses Zuwachses aus dem Prozeß der deutschen Einheit resultiert. Ich unterstreiche seine Feststellung, daß dieser Zuwachs dorthin gehört, wo er eigentlich entstanden ist.
({9})
Dies gilt aber auch für die weitere Entwicklung. Andernfalls wird es in diesem Jahr und in den kommenden Jahren eine nachhaltige Verschiebung der wirtschaftlichen Aktivitäten von Ost nach West geben mit der Folge, daß das, was wir im Osten brauchen, nämlich der Aufbau der Produktion, dort nicht stattfindet.
Ein letzter Punkt zu den Ländern. Die Länder, aber auch der Bund müssen ein Interesse daran haben, daß die ostdeutschen Bundesländer 1995 in der Lage sein werden, sich reibungslos in den horizontalen Finanzausgleich nach unserer Verfassung einzufügen.
({10})
Wenn sie das nicht können, entstehen für die Altbundesländer Verteilungsforderungen bzw. -verpflichtungen, die sie in ihren Haushalten zwischen 1994 und 1995 überhaupt nicht verkraften können. Das heißt, wir würden in einem solchen Fall sehenden Auges nicht nur auf eine Finanz-, sondern sogar auf eine Verfassungskrise zumarschieren, weil nämlich die Altbundesländer nicht in der Lage wären, ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht zum horizontalen Finanzausgleich zur Sicherung gleicher Lebensverhältnisse zu entsprechen.
Wenn das aber voraussehbar 1995 so sein wird und praktisch 1994 schon abgewickelt werden müßte, dann liegt es im Interesse aller Beteiligten - auch der westdeutschen Bundesländer - , bereits in diesem Jahr einen Prozeß mit zu befördern bzw. in Gang zu setzen, der diese Einfädelung 1995 in reibungsloser Weise gestattet. Genau das wäre die Perspektive, die die Menschen im Osten dazu bewegen würde, dort zu bleiben, die Ärmel aufzukrempeln und das große Werk der deutschen Einheit, von dem wir hier sprechen, vor Ort zu leisten.
({11})
Das Wort hat der Minister der Finanzen des Landes Brandenburg, Herr Kühbacher.
Minister Kühbacher ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute stehe ich als Anwalt der Bürger Brandenburgs vor
Ihnen, gestützt durch eine Landtagsentschließung, die gestern einstimmig von allen Parteien beschlossen wurde und mit der ich die Bundesregierung und die Öffentlichkeit auffordern will, uns zu helfen. Um Ihnen zu erläutern, in welcher Situation wir uns tatsächlich befinden, lese ich Ihnen das Telegramm eines im Besitz des Bundes befindlichen Betriebes vor:
Auf Grund der durch schriftliche Informationen von der Kraftverkehr Fürstenwalde/Spree GmbH
- ein Treuhandbetrieb angekündigten Stillegung des ÖPNV
- öffentlicher Personennahverkehr mit Bussen und Straßenbahnen bei ausbleibender Subventionszahlung beruft die Geschäftsleitung ... den Aufsichtsrat zum 31. Januar 1991, 17 Uhr
- also heute abend in Fürstenwalde ein. Thema: ausgebliebene Subventionszahlungen, Stillegung des ÖPNV ab 31. 01. 91, 24 Uhr; Kurzarbeit für 322 Arbeitnehmer als Folge.
Davon habe ich noch eine ganze Reihe von Telegrammen dabei.
Die Situation, mit der wir es in Brandenburg zu tun haben, ist, daß 22 der Bundesrepublik Deutschland gehörende Betriebe, nämlich Betriebe der Treuhand, die Zahlung deshalb einstellen, weil der Zentralstaat, vertreten durch den Bundesverkehrsminister, ab 1. Januar seine Zahlung, die er bis dahin aus dem Bundeshaushalt 1990 geleistet hat - da waren die Mittel vorhanden - , nicht mehr leistet. Die Geschäftsführer sind nach der Rechtslage verpflichtet, zum Konkursrichter zu gehen, wenn sie sich nicht strafbar machen wollen. Es sind aber Geschäftsführer der Treuhand und damit Geschäftsführer des Bundesfinanzministers. Das ist die Lebenswirklichkeit.
Aber was haben die Menschen davon? Sie erreichen ihre Arbeitsplätze nicht mehr; denn die Menschen in Brandenburg, in Fürstenwalde, sind dabei auf diese Busse und Straßenbahnen angewiesen.
Wie sollen wir denn weiterhin verfahren? Ich habe die herzliche Bitte, daß wir uns dieser wirklichen Lebenslage zuwenden. Wie gesagt: 22 von 25 Betrieben im Land Brandenburg sind bundeseigene Betriebe, die vom Bund selber - ich sage: durch unkoordiniertes Regierungshandeln - in den Konkurs getrieben werden. Das ist die Lebenswirklichkeit.
({1})
Herr Bundeskanzler, ich bin zum Streiten aufgelegt, weil es die Sache wert ist. Diesmal geht es mir nicht nur, wie ich es in früheren Reden hier immer vertreten mußte, um Sparen, ich möchte vielmehr, daß nicht an der falschen Stelle gespart wird, wie ich das eben beschrieben habe, und daß dies mit dem normalen Menschenverstand gelöst wird und nicht nach irgendMinister Kühbacher ({2})
welchen Passagen im Einigungsvertrag, die hin und her geschoben werden.
({3})
Ich möchte die Bundesregierung, aber auch Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten hier in Bonn, an die Lebenswirklichkeit in den neuen Ländern erinnern. Für die Menschen in den neuen Ländern, gestützt auf eine einstimmige Beschlußlage der sechs Ostfinanzminister und meines Parlaments, das mich hierher geschickt hat, erkläre ich: Mit der Koalitionsvereinbarung, die die Grundzüge der Regierungspolitik der nächsten vier Jahre festlegt, können die neuen Länder und die Gemeinden nicht leben.
({4})
Diese Koalitionsvereinbarung ist unverbindlich, wo die Menschen konkrete Wegweisungen erwarten. Sie ist halbherzig, wo eindeutiges Einstehen und Stellungnahme zu unseren Problemen gefordert ist. Sie bürdet zusätzliche Belastung auf, wo wir ganz im Gegenteil dringend auf Entlastung und materielle Unterstützung angewiesen sind. Dieses Telegramm beweist es.
Herr Bundeskanzler, besser waren da schon einige aktuelle Passagen Ihrer gestrigen Regierungserklärung. Aber, Herr Bundeskanzler, worauf sollen sich denn die Menschen in Frankfurt an der Oder stützen? Auf die dort jetzt vorgelegte schriftliche Koalitionsvereinbarung, die Sie als Parteivorsitzender der CDU unterschrieben haben, oder auf Ihre besseren Passagen in der gestrigen Regierungserklärung? Ich hoffe auf das Gestrige.
(
Mit Recht!)
Herr Bundeskanzler, ich setze da meine Hoffnungen auf Sie.
Meine Damen und Herren, diese Koalitionsvereinbarung zementiert im Kern den derzeitig unhaltbaren Zustand gespaltener Lebensverhältnisse. Sie behandelt die neuen Länder nicht fair, sondern wie lästige Kostgänger. Das ist inakzeptabel.
({0})
Die Koalitionsparteien haben den Vertrauensvorschuß, den die Mehrheit der Menschen im Osten ihnen am 2. Dezember eingeräumt haben, enttäuscht. Ihr Finanzminister, Herr Dr. Waigel, betreibt fortwährend Beschwichtigungspolitik, wenn er wie am 19. Januar im „Handelsblatt" erklärt, in den neuen Ländern sei Geld da, es bestünde nur die Scheu, sich zu verschulden; er müsse die indifferenten Forderungen nach mehr Geld deshalb zurückweisen.
Ist das, was Herr Biedenkopf als Ministerpräsident vorgetragen hat, indifferent, Herr Finanzminister? Ich kann Sie persönlich nur herzlich einladen: Besuchen Sie uns einmal in Brandenburg. Sehen Sie sich ein oder zwei Tage an, mit welchen Problemen die Menschen ringen, wie groß die Unsicherheit über die eigene wirtschaftliche Zukunft, um den Erhalt des Arbeitsplatzes ist. Tauchen Sie ein in den Alltag einer brandenburgischen Kleinstadt. Lösen Sie sich, Herr Finanzminister, einmal von dem Bild Ihrer reichen
Gemeinden in Bayern, die wie in Ottobrunn an dem in den Irak Verschifften von MBB glänzend verdient haben.
({1})
- Ja, das ist so.
({2})
Wer etwas anderes hören möchte, den bitte ich, den Einkommensteueranteil der Gemeinde Ottobrunn mit ihren Einwohnern mit dem Einkommensteueranteil der Stadt Frankfurt an der Oder zu vergleichen. Das ist der Punkt.
({3})
Auch wenn es Ihnen nicht paßt: Das ist die Lebenswirklichkeit, meine Damen und Herren.
Die Lebenswirklichkeit ist es auch, daß die Berechnungen des Bundesfinanzministers selbst die Behauptung widerlegen, es sei genug Geld da und wir scheuten vor einer Verschuldung zurück. Das Zahlentableau Ihres eigenen Hauses weist aus, Herr Finanzminister, daß die neuen Bundesländer 22 Milliarden DM neue Schulden aufnehmen müssen gegenüber - wie Sie selbst geschätzt haben - 13 Milliarden DM eigenen Steuereinnahmen, die, wie ich befürchte, für unseren Teil der Länder noch geschönt sind.
Zum Vergleich: Die Neuverschuldung der Bundesrepublik, die Sie mit diesem Haushalt wohl beschließen wollen, soll 70 Milliarden DM betragen. Diesem Betrag stehen aber immerhin 300 Milliarden DM eigene Steuereinnahmen gegenüber. Bei den Altländern - ich sage das quer über die Bahn - ist es noch besser: 18 Milliarden DM Schuldenaufnahme bei 210 Milliarden DM eigenen Steuereinnahmen. Während die Steuereinnahmen bei uns in den Ostländern 70 % niedriger sind als unsere geplante Verschuldung, sind die Steuereinnahmen bei den Altländern zehnmal so hoch wie die geplante Neuverschuldung. Das ist Gleichheit der Lebensverhältnisse? Ich denke, dieser einfache Vergleich, den Sie mitrechnen konnten, rückt einiges zurecht. Allerdings sind das nur die offiziellen Statistiken des Bundesfinanzministers und nicht einmal die halbe Wahrheit. Die Wirklichkeit ist doppelt so schlimm, weil Sie und ich - ich beziehe mich da ein - beim Einheitsvertrag die Gemeinden schlichtweg vergessen haben.
({4})
Wir werden im Land Brandenburg und in den neuen Bundesländern zusammen mit den Gemeinden über 50 Milliarden DM neue Schulden machen. Das sind 3 000 DM pro Kopf der Bevölkerung. Das ist die Summe auf einen Schlag, die in der alten Bundesrepublik von 1949 bis 1982 insgesamt aufgelaufen ist. Das muten Sie uns mit dem Einheitsvertrag und den Folgen innerhalb eines Jahres zu. Das kann doch wohl nicht angehen. So wollen Sie einheitliche Lebensverhältnisse schaffen?
({5})
Minister Kühbacher ({6})
Nun zu der von Ihnen bejubelten Koalitionsvereinbarung. Dort heißt es: Aus dem Bundeshaushalt werden keine Ausgleichszahlungen an die Länder und Gemeinden geleistet. Der Bund empfiehlt jedoch den Ländern und Gemeinden, diese Preisstützungen unter Berücksichtigung der zu erwartenden Einkommensentwicklung in Stufen bis 1994 abzubauen.
({7})
Sie halten die Gemeinden fest - inzwischen sind ja alle Wohnungsgesellschaften auf die Gemeinden übertragen worden - bei einer Miete, die keine Miete ist, die nicht einmal die Nebenkosten deckt. Ich habe eine Wohnungsgesellschaft untersuchen lassen. Die Mieteinnahmen der GeWoBau in der Stadt Potsdam beträgt nach Ihrer Festlegung mit den in der Koalitionsvereinbarung angegebenen Sprüngen für dieses Jahr 28 Millionen DM. Diesem Betrag stehen Forderungen einer größeren Gesellschaft allein für Fernwärme in Höhe von 35 Millionen DM gegenüber, die natürlich kostendeckende Preise verlangen muß, wenn sie nicht selbst in Konkurs gehen will.
({8})
- Nein, ich rede jetzt nur von dem Bezug der Fernwärme. Lieber Herr Kollege Schmitz, nach der Koalitionsvereinbarung - das wird ja hoffentlich korrigiert - dürfen wir die Fernwärme erst zum 1. Oktober umlegen. Das steht in Ihrer Koalitionsvereinbarung. Haben Sie sie noch nicht gelesen?
({9})
Das steht da genau drin.
({10})
- Ich habe hier doch die Wahrheit an den Tag zu bringen, Herr Kollege Schmitz.
({11})
Ich setze das noch fort: Diese Wohnungsbaugesellschaft mit einer geschlossenen Miete von 28 Millionen DM bezahlt neben den 35 Millionen DM für den Fernwärmebezug auch noch 21 Millionen DM für das bezogene Frischwasser. Das kann sie auch nicht mehr bezahlen. Sie soll der Stadt Potsdam auch noch das Abwasser bezahlen, das vernünftig ökologisch verrieselt wird. Wie soll das denn gehen? Auch dieser Geschäftsführer muß zum Konkursrichter. Denn der Bundesfinanzminister hat es der Frau Bundeswohnungsbauministerin untersagt, die bis zum 31. Dezember gezahlten Stützungen weiterhin zu gewähren. Auch diese Wohnungsbaugesellschaften müssen zum Konkursrichter. Wollen Sie das wirklich, Herr Finanzminister? Das ist die Lebenswirklichkeit, die ich Ihnen schildern muß. Das ist nur die nackte Wahrheit. Ich dramatisiere das gar nicht. Ich bin nur im Ton etwas aufgeregt, Herr Kollege Schmitz, weil Sie das im Haushaltsausschuß offensichtlich nicht sehen wollen. Ich bringe keine Übertreibungen.
Wir wollen, daß die Subventioniererei aufhört. Wir wollen gerechte Lebensbedingungen. Wir wollen den wirklich Bedürftigen über Wohngeld und Sozialhilfe helfen, aber nicht über diesen getürkten Weg.
({12})
Die Bundesregierung blockiert zur Zeit eine zukunftsweisende Reform. Sie nimmt den Ländern und Gemeinden damit das Geld, das dringend für Infrastrukturmaßnahmen und Wirtschaftsförderung gebraucht wird, wenn wir in diese Subventionen einspringen müssen, wie Sie es offensichtlich vorhaben; denn wir können jede Mark nur einmal ausgeben. Bei 50 Milliarden DM Schulden und nur 13 Milliarden DM erhoffter eigener Steuereinnahmen ist es heute schon so, daß von jeder Mark, die wir aus eigenen Mitteln in den Ländern aufbringen, 74 Pfennig geborgt sind; 74 Pfennig der eigenen Mittel; die wir für Investitionen und konsumtive Ausgaben ausgeben, sind geborgt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmitz ({0})?
Minister Kühbacher ({1}): Lassen Sie mich diesen Punkt noch zu Ende bringen.
Die neuen Länder und Gemeinden werden auf diese Weise schon im ersten Jahr ihres Bestehens von der Schuldenlast erdrückt. Wir müssen im ersten Jahr unseres Bestehens mit über 3 000 DM pro Kopf soviel zusammen Schulden machen wie die alten Länder 1982 nach insgesamt 33 Jahren. Bei den Gemeinden wird die Pro-Kopf-Verschuldung noch schlimmer kommen. Dahin treibt uns die Koalitionsvereinbarung.
Herr Kollege.
Herr Kollege Kühbacher, ich kann es Ihnen nun leider nicht ersparen: Sie wissen sehr genau, daß der Bundeskanzler gestern in der Regierungserklärung gesagt hat
({0})
- das kommt gleich - , daß die einigungsbedingten Mehreinnahmen aller Länder übertragen werden sollten. Wie beurteilen Sie dann eigentlich die Situation des Landes Nordrhein-Westfalen, das zwischenzeitlich 1,2 bis 1,3 Milliarden DM einigungsbedingte Mehreinnahmen hat, sich aber weigert, sich an diesen Kosten zu beteiligen? Das gleiche gilt auch für Schröder in Niedersachsen. Wie ist da Ihre Polemik zu verstehen?
Minister Kühbacher ({1}): Herr Kollege Schmitz ({2}), ich vertrete hier die Interessen der Menschen aus Brandenburg. Weil ich das beantworten will, lege ich die Seiten, die ich vorbereitet habe, beiseite.
({3})
- Das muß ich eben nicht, Herr Kollege Scharrenbroich! Ich bin Brandenburger, und Sie sortieren mich bitte im Interesse der Menschen von Brandenburg nicht in die reichen Bundesländer A oder B ein.
({4})
Minister Kühbacher ({5})
Damit es völlig klar ist: Ich vertrete die Interessen der Menschen im Lande Brandenburg und nicht diejenigen der reichen oder armen Bundesländer.
Herr Minister Kühbacher, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Minister Kühbacher ({0}): Entschuldigen Sie, Frau Matthäus-Maier, ich muß jetzt noch auf diesen Gedankengang eingehen, weil er offenkundig ist. Wenn Sie noch einen Moment Zeit haben, gerne.
Wir sind es leid: Die Menschen in Brandenburg oder in Frankfurt an der Oder - damit Sie eine genaue Ortbestimmung haben - haben nichts davon, wenn der reiche Bund - so empfinden wir das - seine Verantwortung an die reichen Länder - alt - abschiebt,
({1})
die reichen Länder - alt - ihre Verantwortung an den Bund schieben, dieser Ball also dauernd wie auf einer Bank hin- und hergeschoben wird und wir dabei in Konkurs gehen.
({2})
Herr Minister, gestatten Sie nunmehr eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Minister Kühbacher ({0}): Nein, ich will den Gedanken zu Ende führen.
Die Antwort auf dieses offenkundige Dilemma, diese Schiebetaktik, die dem Bundeskanzler ja Gott sei Dank auch zuwider ist, kann nur im Teilen bestehen. Sie - ich sage das prononciert - , die Reichen im Westen, der Bund und die reichen Länder, müssen etwas für die Armen im Osten tun.
({1})
Wir brauchen schnellstens eine Verbesserung der - ({2})
- Können Sie jetzt mal bitte mit dieser Schreierei aufhören! Wir können ja nachher unten noch einen trinken.
({3})
Wir brauchen schnellstens eine Verbesserung der Finanzausstattung der neuen Länder und ihrer Gemeinden, wobei es uns im Grunde egal ist, ob das über eine Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit, über eine Veränderung des Finanzausgleichs, der kommen muß, oder über eine Steuererhöhung geht. Deshalb erinnere ich Sie, Herr Bundeskanzler, an Seite 9 Ihrer Regierungserklärung. Ich könnte das alles vorlesen. Da steht bei mir: „Bitte wiederholen - eine sehr gute, hilfreiche Passage". Ich bitte die Presse ausdrücklich: Lesen Sie das doch mal nach, was der Bundeskanzler
dort ausgeführt hat. Herr Bundeskanzler, wir nehmen Sie beim Wort.
Herr Kollege Kühbacher, es sollen noch zwei Zwischenfragen gestellt werden. Lassen Sie die noch zu oder nicht?
Minister Kühbacher ({0}): Nein, die lasse ich im Moment nicht zu, weil ich den Gedankengang zu Ende bringen muß. Herrn Krause plagt ohnehin das schlechte Gewissen.
({1})
Herr Minister Krause, ich erwarte von Ihnen konkrete Hilfen und nicht Zwischenfragen von der Bank aus. Machen Sie Ihre Arbeit als Minister!
({2})
Herr Bundeskanzler, auf der Seite 10 Ihrer Regierungserklärung haben Sie gesagt: Die Bundesregierung wird entsprechende Vorschläge für die notwendigen Steuererhöhungen vorlegen. - Wir, Herr Bundeskanzler, die Finanzminister der sechs Ost-Länder, die gestern unter der Federführung von Herrn Pieroth getagt haben, fordern Sie auf: Beenden Sie die kunstvollen Rechenkunststücke zwischen dem Bund, vertreten durch den Bundesfinanzminister Waigel, und den reichen Ländern, vertreten durch Baden-Württemberg und Hessen - kein Widerspruch; ist wichtig -,
({3})
und bringen Sie endlich ein Instrument ins Spiel, das wirklich trägt! Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie auf: Erhöhen Sie die Steuerart Umsatzsteuer, und die 12 Milliarden DM, die dabei zu erzielen sind, lenken Sie, Herr Bundeskanzler, entsprechend Ihren Zusagen als Mehrertrag bitte nur in die neuen Länder und deren Gemeinden! - Herr Bundeskanzler, ich wiederhole, weil Sie abgelenkt worden sind: Erhöhen Sie die Steuerart Umsatzsteuer, erzielen Sie 12 Milliarden DM Mehrertrag, und lenken Sie diese 12 Milliarden DM durch Verrechnung in die neuen Bundesländer und deren Gemeinden!
({4})
Die Zustimmung der sechs Finanzminister aus Ostdeutschland haben Sie.
Meine Damen und Herren, da Sie hier ja so schnell Gesetzgebung machen können, wenn Sie es denn wollen, ist es für Sie auch machbar, dieses Umsatzsteuergesetz innerhalb von 14 Tagen ins Parlament einzubringen, so daß es zum 1. April greifen kann. Nicht reden hilft; der Gesetzgeber - das sind Sie, meine Damen und Herren - ist sofort gefordert.
({5})
Die Zustimmung, meine Damen und Herren, werden Ihnen die Menschen bringen. Denen muß geholfen werden; denn wir müssen die Infrastruktur modernisieren und auf westdeutschen Standard bringen.
Minister Kühbacher ({6})
Wir müssen die völlig heruntergekommenen Wohnungen und Städte wieder bewohnbar machen.
({7})
Deshalb muß die Subventionierung - so sage ich einmal - dieser Kostenblöcke durch den Wohnungsbauminister bestehenbleiben. Wir müssen die vergiftete und verseuchte Umwelt sanieren. Wir müssen das Gesundheits- und Bildungssystem mit Milliardenaufwand renovieren.
({8})
Wir müssen mit dieser SED-Mißwirtschaft, die über einen Zeitraum von 30 Jahren bis 40 Jahren betrieben worden ist, endgültig aufräumen und damit Schluß machen.
({9})
Herr Minister, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Minister Kühbacher ({0}) : Ich komme gleich zum Schluß. - All das müssen wir tun, damit die Leute, die so lange so viel erdulden mußten, ein Jahr nach der Vereinigung nicht doch noch aufgeben und ihre Koffer packen. Wir müssen hier handeln und dürfen nicht theoretische Diskussionen führen.
Meine Damen und Herren, ich muß es bitter nennen, daß die Finanzierung des Golfkriegs als Grund für die Erhebung einer Steuer offenbar auch bei der Bevölkerung als einleuchtender angesehen wird als die Erzielung zusätzlicher Einnahmen zum Aufbau eines geeinten, sozial gerechten und ökologisch wie ökonomisch blühenden Deutschlands.
({1})
Wenn Sie denn für diesen letzten Teil auch Steuererhöhungen brauchen, dann empfehle ich Ihnen solche, die in jedem Falle ziehen: Erhöhen Sie die Körperschaftsteuer, erhöhen Sie die Vermögensteuer, und erhöhen Sie die Gewerbekapitalsteuer! Es trifft die Unternehmen und die Banken, die am Golfkrieg schon prächtig verdient haben.
({2})
Herr Minister, denken Sie bitte an Ihre Redezeit!
Minister Kühbacher ({0}): Meine Damen und Herren, noch läßt sich alles korrigieren, aber die Zeit drängt. Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat sind zu einer gemeinsamen Anstrengung aufgefordert, das bisher Versäumte wiedergutzumachen. Ich bitte Sie, liebe frühere Kolleginnen und Kollegen sowie liebe neue Kollegen des Deutschen Bundestages, um der Menschen willen in den ostdeutschen Ländern: Helfen Sie uns!
({1})
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin eben mit Recht persönlich angesprochen worden. Deswegen will ich die Reihenfolge der Redner kurz unterbrechen und nur wenige Bemerkungen machen. Herr Kollege Kühbacher, ich will auf das antworten, was Sie hier mit Leidenschaft vorgetragen haben, und ich will ein paar Bemerkungen auch zu dem machen, was Kurt Biedenkopf gesagt hat.
Ich will nicht auf Ihre Empfehlungen eingehen, welche Steuern erhöht werden sollen und wer nach Ihrer Philosophie, Herr Kollege Kühbacher, bestraft werden soll. Das nützt überhaupt niemandem und ist, wie Sie sehr genau wissen, sachlich auch nicht begründet.
Mir geht es darum, noch einmal festzustellen, daß für die Bundesregierung die Regierungserklärung gilt, die ich gestern hier abgegeben habe, - und zwar Seite für Seite. Sie haben die Freundlichkeit gehabt, einiges zu erwähnen. Ich sage noch einmal: Diese Regierungserklärung gilt.
Kurt Biedenkopf hat mit Recht darauf hingewiesen, daß auch ich das Problem - weit über das Materielle hinaus; ich habe das gestern ausgeführt - darin sehe, wie die Menschen in Deutschland zueinanderkommen. Das hängt zusammen mit der Erblast des SED- Regimes, der Stasi-Hinterlassenschaft etwa, um nur eines der Stichworte zu nennen. Es hängt aber vor allem auch damit zusammen, daß wir jetzt mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen in einem vereinten Vaterland zusammenleben. Da gibt es auf der einen Seite jene, die vierzig Jahre das Glück hatten nicht nur in Frieden und Freiheit, sondern auch in einem beachtlichen Wohlstand zu leben. Daran haben sie sich gewöhnt - auch diejenigen, die dem Wohlstand sozialkritisch begegnen.
({0})
Auf der anderen Seite müssen wir nicht nur die materiellen, sondern auch die psychologischen Voraussetzungen schaffen, um die innere Einheit des Landes zu verwirklichen. Nach dem Bankrott des SED-Regimes ist die Frist verständlicherweise kurz bemessen; wir haben keine Zeit zu verlieren; ich stimme Ihnen da ausdrücklich zu.
({1}))
- Ich verstehe nicht, daß Sie dazwischenrufen. Wir setzen uns im Moment mit Ihrer Erblast auseinander.
({2})
Ohne das unselige Regime, das Sie vierzig Jahre einem Teil unseres Vaterlandes aufgezwungen haben, hätten wir heute doch nicht diese Diskussion.
({3}))
Aber wir sollten bei der Sache bleiben und nicht besonders beachten, was hier dazwischengerufen wird.
Es muß uns jetzt darum gehen, den Menschen in den neuen Bundesländern, in der bisherigen DDR, zu erklären, wenn sie in einer Notsituation sind, wenn sie arbeitslos werden oder sich in einer Umstellungssituation am Arbeitsplatz, befinden - wir reden so einfach von Qualifizierung und müssen immer bedenken, was das im Einzelfall heißt; Sie haben Beispiele aus der praktischen Kommunalpolitik gebracht -, daß ein solcher Prozeß nicht über Nacht abläuft. Im übrigen müssen wir auch erklären, daß der Wohlstand auf dem bisherigen Gebiet der Bundesrepublik ebenfalls nicht über Nacht entstanden ist, sondern daß es seine Zeit gebraucht hat. Das ist das eine.
({4})
- Sie wissen doch genau, daß es so ist.
Das andere ist, daß die Deutschen im Westen unseres Landes - ich sage bewußt: alle, die das Glück hatten, in den vergangenen Jahrzehnten in der bisherigen Bundesrepublik zu leben - sowohl im Psychologischen als auch im Materiellen jetzt auf unsere Landsleute zuzugehen haben und daß wir fähig sein müssen, zu teilen. Das ist das richtige Wort; ich habe das gestern mit anderen Begriffen umschrieben.
({5})
- Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie im Moment wirklich wissen, wovon Sie sprechen.
({6})
- Sie wissen so gut wie ich, denn Sie waren sogar beteiligt: Wir führen z. B. mit Blick auf die Probleme der Kommunen in den alten und den neuen Bundesländern Gespräche, um das zu tun, was jetzt getan werden muß - auch was den Bund angeht. Das muß ohne Zweifel mehr sein, Herr Finanzminister des Landes Brandenburg, als das, was bisher erörtert worden ist. Das sieht angesichts einer Reihe von Fakten inzwischen jeder ein.
({7})
Es bringt aber nichts - ich nehme Ihnen ja Ihr Engagement ab - , wenn Sie die Verhältnisse von Gemeinden in Brandenburg mit denen einer Gemeinde in Bayern vergleichen. Die Realität in dieser Gemeinde in Bayern ist zutreffend beschrieben. Realität ist aber auch das, was Sie über Gemeinden in Brandenburg gesagt haben. Was wir erreichen müssen
- um es einmal vereinfacht bildlich auszudrücken -, ist, daß die Schere nicht weiter auseinander-, sondern immer weiter zusammengeht. Das ist doch - auf einen knappen Nenner gebracht - das Problem.
({8})
Das setzt - das wissen Sie doch auch - in einer föderalen Verfassungsordnung die Mitwirkung aller Beteiligten voraus. Ich kann Sie nur dazu einladen, das, was Sie hier eben gesagt haben, so auch einmal Ihrem Kollegen - den Finanzministern der Bundesländer - vorzutragen. Ministerpräsident Biedenkopf war vor ein paar Tagen Zeuge, wie im Gespräch zwischen den Ministerpräsidenten aller Bundesländer und der Bundesregierung bis spät in die Nacht hinein miteinander gerungen worden ist. Wer dort dabei war, der weiß genau, welches meine Position ist. Deswegen halte ich mich an das, was ich gestern hier gesagt habe.
({9})
Herr Bundeskanzler - Dr. Kohl, Bundeskanzler: Nein, danke.
({0})
- Ich bin der Meinung, daß zum Parlamentarismus eine direkte Antwort gehört. Hier wurden leidenschaftliche Appelle von zwei Verantwortlichen aus den neuen Bundesländern vorgetragen. Nach meinem Verständnis gehört es sich, daß ich darauf jetzt sofort antworte.
({1})
Mir geht es überhaupt nicht um irgendeinen polemischen Unterton. Mir geht es - ich sage Ihnen das auch bewußt als Bundeskanzler - vielmehr darum: Ich weiß genau wie Sie, daß wir wenig Zeit haben, daß wir jetzt und in den nächsten Monaten handeln müssen. Wir wußten alle, daß wir eine Talsohle erreichen würden, aber wir haben eine gute Chance, den Weg aufwärts zu finden, wenn jetzt die Weichen richtig gestellt werden.
Kurt Biedenkopf - das ist das letzte, was ich sagen will - hat eben noch einmal ein ganz wichtiges Argument angeführt, das auch ich gestern schon vorgebracht habe. Wer in der Bundesrepublik jetzt auch immer in der Verantwortung steht - ob im Bund oder in den Ländern; letztlich gilt das auch für die Gemeinden - , der muß wissen: Wenn wir die Weichen nicht jetzt im Jahre 1991 richtig stellen, dann werden nicht nur die neuen Bundesländer nahezu unlösbare Probleme haben, sondern dann müßte auch der Finanzausgleich des Jahres 1995 zu einem Verfassungsnotstand führen. Ich finde, das ist - auch wenn man sonst gar kein Argument anerkennt - ein Tatbestand, den eigentlich jeder begreifen muß. Wer jetzt nicht handelt, der wird erleben, daß auch die westlichen Bundesländer im Jahre 1995 keines der anstehenden Probleme werden lösen können.
Deshalb sage ich Ihnen, was ich auch gestern schon gesagt habe: Sie können darauf rechnen, daß ich und die Bundesregierung das Menschenmögliche tun werden. Wenn Sie dabei auch noch im Gespräch mit Ihren Kollegen in den westlichen Bundesländern behilflich sein werden, wenn in den Kommunen unseres Landes die Erkenntnis wächst, daß diese oder jene Investition - so nützlich sie auch sein mag - vielleicht auch erst im Jahre 1994 begonnen werden kann, dann kommen wir ein gutes Stück weiter. Ich habe Ihre Intervention und die Intervention des Kollegen Biedenkopf - bei allen Zwischentönen - als eine Intervention empfunden, die uns darauf ein154
stimmt, daß dies eine Stunde zum gemeinsamen Handeln ist. Ich bin dazu bereit.
({2})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Krause.
Frau Präsidentin! Herr Kollege, Sie haben mich direkt mit Namen angesprochen. Es freut mich, daß Sie sich als Brandenburger fühlen. Allerdings wäre es wohltuend gewesen, wenn Sie in Ihrer Eigenschaft, die Sie hier in der vorigen Legislaturperiode hatten, nämlich als Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, seinerzeit bei den Vertragsverhandlungen den Länderfinanzausgleich ebenso unterstützt hätten. Sie wissen, daß wir damals als DDR-Regierung den Länderfinanzausgleich durchsetzen mußten, weil ein erheblicher Teil der damaligen Bundesländer den Länderfinanzausgleich nicht wollte. Insofern freue ich mich, daß wir jetzt insgesamt erkannt haben, daß der Weg des Länderfinanzausgleichs der einzig gangbare ist.
Danke schön.
({0})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention hat die Frau Kollegin MatthäusMaier.
Herr Bundeskanzler, ich finde es gut, daß Sie nach den bewegenden Reden von Herrn Biedenkopf und von Herrn Kühbacher hier das Wort ergriffen haben. Aber ich glaube, das, was Sie gesagt haben, läßt die beiden Kollegen mit leeren Händen zurückgehen. Das ist traurig.
({0})
Sie sprachen die Bereitschaft der alten Bundesländer zur Hilfe an. Da muß zweifellos mehr getan werden.
({1})
Ich weiß von Ministerpräsidenten - z. B. vom Ministerpräsidenten des Landes, aus dem ich komme, Herrn Rau - daß sie dazu bereit sind.
({2})
Aber, Herr Bundeskanzler, können Sie denn nicht verstehen, daß die alten Bundesländer sehr zögerlich sind, Ihnen auch nur eine Mark in die Hand zu geben, wenn Sie gleichzeitig in die Koalitionsvereinbarungen hineinschreiben, daß die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft werden,
({3})
mit der Folge, daß Sie sich, da das eine eine Landes-und das andere eine Kommunalsteuer ist, zu Lasten Dritter bereichern und daß davon nicht eine müde Mark in die neuen Bundesländer geht. Stellen Sie sich hierhin und sagen Sie: Darauf verzichten wir. - Dann werden Sie uns an Ihrer Seite haben, wenn es um
aktive - auch finanzielle - Hilfe für die neuen Bundesländer geht.
({4})
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Möllemann.
Vorher möchte ich Sie vorsorglich darauf hinweisen, daß es infolge der Bauarbeiten um 16.00 Uhr eine Sprengung in der Gronau geben wird. Das sage ich nur, damit Sie keinen Schrecken bekommen.
({0})
Herr Möllemann, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin, ich bin Ihnen dankbar dafür.
({0})
Es ist zwar erheiternd; trotzdem hat jetzt der Herr Bundeswirtschaftsminister das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne, anknüpfend an das, was der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen und der Kollege Kühbacher angesprochen haben, zunächst ein paar Bemerkungen zu der großen nationalen Herausforderung machen, vor der wir in dieser Legislaturperiode in wirtschaftspolitischer Hinsicht stehen, auch wenn auf Grund der aktuellen Ereignisse am Golf der Eindruck entsteht, als könne diese Herausforderung auch in unserem Bewußtsein in den Hintergrund geschoben werden. Insofern waren die Beiträge der Vertreter der verschiedenen Landesregierungen sicher geeignet, unser Augenmerk auch wieder etwas zu einem Themenbereich zurückzuführen, der uns gewiß über die nächsten Jahre nachhaltig beschäftigen wird.
Wir stehen vor der Aufgabe, eine Strategie „Aufschwung Ost" für die neuen Bundesländer auszugestalten und umzusetzen. Wir brauchen dazu ein breit angelegtes Konzept, um die Wachstumskräfte in allen Wirtschaftsbereichen der neuen Länder zu fördern. Eine ungeschminkte Beschreibung der Ausgangslage zeigt uns, wo die Aufgaben liegen.
Erstens. Die Wirtschaft im Osten befindet sich in einer tiefen Strukturkrise. Die Industrieproduktion der ostdeutschen Wirtschaft ist trotz massiver Liquiditätshilfen der Treuhandanstalt erheblich geschrumpft. Hinzu kommt, daß sich die Nachfrage der Bürger in den neuen Ländern überwiegend auf westliche Produkte richtet, auf die sie jahrzehntelang verzichtet haben.
Mit der Umstellung des Osthandels auf eine konvertible Währung sind die Lieferbeziehungen zu den Ostmärkten weitgehend zusammengebrochen. Das war zum Teil auch auf die internen Umstellungsschwierigkeiten dort, vor allem in der Wirtschaft der Sowjetunion, zurückzuführen. Die dramatischen Rückgänge der Exportzahlen stellen besonders ehemalige volkseigene Betriebe vor erhebliche Probleme. Schon mit
der Öffnung der Märkte im Westen und der Einführung der D-Mark konnte niemand mehr an der Tatsache vorbeisehen, daß die meisten ehemaligen Kombinate nicht wettbewerbsfähig sind. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsprüfung hält 1991 einen Rückgang der Exporte auf etwa ein Drittel gegenüber dem Vorjahr für wahrscheinlich.
Zweitens. Die Aufgabe, eine in 40 Jahren sozialistischer Kommandowirtschaft ruinierte Wirtschaft in eine funktionierende Marktwirtschaft zu überführen, ist eben weder in Monats- noch Jahresfrist zu lösen. Die Hypothek planwirtschaftlicher Verzerrungen muß abgebaut werden, damit die Marktkräfte wirksam werden können. Trotz massiver Unterstützung aus der bisherigen Bundesrepublik ist der Wiederaufbau in den neuen Bundesländern schwieriger als in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, weil sich insbesondere marktwirtschaftliches Denken und Handeln auf breiter Basis erst wieder neu entwickeln müssen und eine funktionierende Privatrechtsordnung verwirklicht werden muß.
Drittens. Es gibt natürlich nach wie vor das Problem der alten Seilschaften, die in den Betrieben und Verwaltungen ihr Unwesen treiben. Das Problem wird sich für die Betriebe am ehesten mit der Veräußerung an neue private Eigentümer lösen. Auch deshalb muß die Treuhandanstalt die Privatisierung weiter vorantreiben. Mit „Privatisierung", meine Damen und Herren - das sei an die Adresse von Herrn Modrow gerichtet - , meinen wir natürlich nicht jene Verschiebungen von Betrieben und Firmen an Altgenossen, die es auch gegeben hat.
({0})
Im Bereich der öffentlichen Verwaltungen müssen die Städte und Gemeinden darum kämpfen, daß nicht der Geist von gestern überlebt und der marktwirtschaftlichen Erneuerung entgegenläuft. Das Festhalten an überholten Vorstellungen von der Notwendigkeit öffentlichen Eigentums widerspricht dem Ziel, neue Arbeitsplätze zu schaffen, und schadet damit den Gemeinden selbst. Hier treten Investitionshindernisse zutage, die sich nicht per Gesetz oder Anordnung von heute auf morgen beseitigen lassen. Ich begrüße deshalb die Aufbauhilfe, die die Länder mit der Entsendung von Verwaltungsfachleuten leisten, aber sie muß noch verstärkt werden.
Die Bundesregierung wird ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, die Bedingungen für Unternehmensinvestitionen weiter zu verbessern. Die vielen eingeleiteten Fördermaßnahmen müssen zu einem Gesamtpaket für die neuen Länder gebündelt werden. Es ist wahr, Herr Biedenkopf und Herr Kühbacher, die Investitionsmittel zur Modernisierung der Infrastruktur müssen gezielt und stärker in die neuen Bundesländer umgelenkt werden. Ich hoffe sehr, daß die Entschlossenheit, die im Beifall bei der entsprechenden Passage vorhin zum Ausdruck kam, auch aufrechterhalten bleibt, wenn es denn dann bei der Aufstellung des Haushalts um das Umverteilen geht. Ich hoffe sehr, daß die alten Bundesländer bei der kommenden Konferenz beim Bundeskanzler auch mitziehen werden.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Vorrang muß der Aus- und Aufbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur haben, damit Engpässe bei der Entfaltung neuer wirtschaftlicher Aktivitäten schnell beseitigt werden. Aber bei allem, was wir im Interesse der Menschen an Aufbauhilfe für die neuen Bundesländer leisten, werden wir um Einsichten in unbequeme Wahrheiten nicht herumkommen. Dazu sind die Probleme zu zahlreich und zu vielfältig. Wir vergeben uns ja nichts, wenn wir einräumen, daß wir in diesem Prozeß - jedenfalls zu Beginn - die Dimension der Probleme vielleicht etwas unterschätzt haben. Sie treffen uns alle: in der Politik und in den Betrieben, die Tarifpartner ebenso wie die Steuerzahler.
Die Stillegung unrentabler Produktion und die Belebung der Wachstumskräfte, die Überwindung bürokratischer Hindernisse, der Aufbau einer modernen und leistungsfähigen Infrastruktur sowie der Wiederaufbau in den Städten fordern den Einsatz aller gesellschaftlichen Kräfte. Deshalb schlage ich erneut vor, die Erarbeitung der Strategie für den Aufschwung Ost mit einem Dialog für den Aufschwung Ost zu verbinden. Vertreter der Gewerkschaften und der Spitzenverbände der Wirtschaft werden zu einem regelmäßigen Gedankenaustausch über die Fragen eingeladen, die für die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung maßgebend sind. Die gemeinsame Erklärung von DGB bzw. DAG und BDA vom Herbst vergangenen Jahres könnte ein Anknüpfungspunkt für solche Gespräche sein. In diesen Dialog möchte ich die wirtschaftspolitischen Absichten und Konzepte für die neuen Bundesländer einbringen und sie mit den Beteiligten diskutieren. Angesichts der Dramatik der Probleme, von denen wir hier sprechen, bin ich zuversichtlich, daß diese Einladung zum Strategiedialog Aufschwung Ost angenommen wird.
({2})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Hinterlassenschaft der Planwirtschaft im Osten hat uns allen deutlich gemacht, wohin Verschwendung auf wirtschaftlichem und ökologischem Gebiet führt. Die Marktwirtschaft hat ihre Überlegenheit gezeigt, wenn es um die effiziente und sparsame Nutzung der Güter geht. Die dauerhafte Überlegenheit im Vergleich der Systeme schließt aber die Lösung der Umweltfrage ein. Ohne sie hätte Marktwirtschaft keine Zukunft. Versöhnung von Ökologie und Ökonomie muß deshalb die entscheidende Orientierung für die Weiterentwicklung unserer Sozialen Marktwirtschaft sein. Unsere Wirtschaftsordnung ist offen für die Gestaltung und Ergänzung der ökologischen Dimension. Marktorientierte Umweltpolitik und das Vorsorgeprinzip zur Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen sind eben kein Widerspruch. Es geht um die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen unserer Kinder und Enkel. Arbeitgeber, Arbeitnehmer und das Management der Unternehmen müssen ihre technischen Fähigkeiten und ihre Kreativität noch stärker als bisher in den Dienst der Umwelt stellen. Die deutsche Industrie muß sich noch stärker als bisher bei Forschung und Entwicklung dem Gedanken öffnen, daß die Vermeidung künftiger Umweltlasten
sinnvoller ist, als hinterher der Allgemeinheit die kostenträchtige Beseitigung zu überlassen.
({3})
Meine Kolleginnen und Kollegen, Voraussetzung für weitere Fortschritte ist allerdings, daß wir Umweltpolitik nicht primär und mit dem moralischen Zeigefinger glauben betreiben zu können. Wir müssen sie mit marktwirtschaftlichen Instrumenten besser kombinieren, d. h. Preis- und Kostensignale setzen. Umweltbelastungen müssen sich in den Gewinnrechnungen und Kalkulationen der Wirtschaft, aber auch im Verbraucherverhalten niederschlagen. Zur Durchsetzung dieser Ziele sind auch Steuern und Abgaben sinnvoll, wenn sie auf Bereiche mit gravierenden Umweltproblemen konzentriert werden.
Frau Präsidentin, meine Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Prozesse der europäischen Einigung und die Genfer Verhandlungen für ein freiheitliches Welthandelssystem weiter voranbringen. Die Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion im Dezember hat uns gezeigt, daß marktwirtschaftliche Orientierung in der Europäischen Gemeinschaft überall an Boden gewinnt.
({4})
Ich sehe darin eine Bestätigung des Kurses, den die Bundesregierung seit langem beharrlich verfolgt. Ich werde mich dafür einsetzen, daß wir uns zu einer echten Stabilitätsgemeinschaft weiterentwickeln. Große Erwartungen - das konnte man in diesen Tagen immer wieder auch an den Erklärungen der Interessierten nachvollziehen - richten sich auf die EG, wenn es um die Neuauflage der Charta eines freien Welthandels in Genf geht. Die Länder in Mittel- und Osteuropa und in der Dritten Welt brauchen ein klares Signal, das sie in ihrem Kurs der beginnenden marktwirtschaftlichen Reformen weiter stärkt.
({5})
Die Bundesrepublik verdankt ihre Stellung als Exportnation Nummer 1 wie kein anderes Land einem liberalen Welthandelssystem mit offenen Märkten. Sie hat diese Chancen für die Entwicklung einer international wettbewerbsfähigen und arbeitsteiligen Wirtschaft seit über 40 Jahren konsequent genutzt. Deshalb müssen wir mit aller Entschlossenheit den Rückfall in Protektionismus und Abschottung verhindern.
({6})
Wir Deutschen dürfen uns dieser Verantwortung nicht entziehen. Ein Scheitern der Verhandlungen in Genf hätte erhebliche Turbulenzen für die deutsche Exportwirtschaft zur Folge.
({7})
Jeder dritte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik hängt davon ab. Vor allem in der EG müssen und werden wir daher mit aller Kraft dafür eintreten, die Beratungen über die noch offenen Themen in Genf abzuschließen. Die Kommission muß offensiv die Reformbestrebungen in den Mitgliedstaaten aufnehmen und den Verhandlungspartnern ein deutliches Bekenntnis der EG zu einem liberalen Welthandel geben.
({8})
Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jens zuzulassen?
Ich möchte den Gedanken erst abschließen.
Die Grundlagen unseres Gemeinwohls und unseres Wohlstandes stehen auf dem Spiel. Ich werde deshalb mit aller Kraft dafür kämpfen, daß es bald zum erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde und zur Bestätigung des GATT kommt.
({0}) Bitte schön, Herr Jens.
Herr Minister, bisher hatte ich das Gefühl, daß es auch an der Bundesregierung liegt, daß die Verhandlungen über die GATT-Fragen nicht vorankommen. Plädieren Sie denn jetzt dafür, daß endlich die Exportsubventionen für die Agrarwirtschaft ein- für allemal aufgehoben und beseitigt werden?
Ich plädiere dafür und setze mich dafür ein, daß es zu einer Einigung kommt, die das GATT bestätigt. Daß dabei die von Ihnen angesprochene Frage geregelt werden muß, ist klar, und daß die bestehende Regelung nicht unverändert bestehenbleiben kann, weiß auch jeder.
({0})
Wir stehen darüber in Verhandlungen mit Partnerstaaten, unmittelbaren Nachbarstaaten, und ich hoffe, daß diese Verhandlungen ein Ergebnis bringen.
({1})
- Na immerhin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte gern
- ich hoffe, daß Herrn Kollegen Gansel das überbracht wird; ich fände es gut, wenn er da wäre, nachdem er Attacken gegen die Bundesregierung gerichtet hat - - Entschuldigung, er kommt jetzt. Ich möchte gern auf das eingehen, was der Kollege Gansel hier vorgetragen hat. Herr Kollege Gansel, Ihr Beitrag war ein erneuter Beleg dafür, daß moralischer Rigorismus eine besonnene und konsequente außenpolitische Konzeption nicht ersetzen kann.
({2})
Er gibt Ihnen auch nicht das Recht und die Rechtfertigung dafür, politisch Andersdenkende in eine unmoralische Ecke zu drängen. Ich möchte das an drei Beispielen belegen.
Sie haben diejenigen, die wie die Bundesregierung den Befreiungskrieg der Allianz, die Kuwait wieder befreien will, unterstützen und die Ihre Forderung
nach einem Waffenstillstand ablehnen, einer gewissen moralischen Unbedenklichkeit geziehen.
({3})
- Das klang so. Ich möchte hier in aller Klarheit sagen: Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob Sie die gleiche These im Rahmen der Sozialistischen Internationale vertreten würden, wo Felipe Gonzalez und François Mitterrand nur zwei promimente Sozialisten sind, die sich an der Aktion beteiligen und jede Unterbrechung nachdrücklich ablehnen, und ob Sie dort auch so wie in diesem Saal hier argumentiert hätten. Ich glaube, daß der Hinweis von Graf Lambsdorff außerordentlich begründet war: Alles, was Saddam Hussein an Verhaltensweisen in den letzten Wochen an den Tag gelegt hat, läßt die Vermutung sehr begründet erscheinen, daß er jede Atempause zu nichts anderem nutzen würde, als Verwüstung, Tod und Zerstörung anschließend um so intensiver zu betreiben. Deswegen finde ich Ihre Forderung nicht logisch.
({4})
Herr Minister, der Abgeordnete Gansel möchte eine Zwischenfrage stellen.
Natürlich. Bitte!
Herr Kollege Möllemann, können Sie sich vorstellen, daß diejenigen, die seit Beginn des irakisch-iranischen Krieges darauf hingewiesen haben, daß Saddam Hussein diesen Krieg begonnen hat, die darauf hingewiesen haben, daß er der brutalste und gleichzeitig intelligenteste Diktator im Nahen Osten ist, daß also diejenigen, die so analysiert haben wie ich zum Beispiel, Saddam Hussein vielleicht realisitischer beurteilen als diejenigen, die sich wie Sie auch während des irakisch-iranischen Krieges immer für besonders gute Wirtschaftsbeziehungen mit dem System eingesetzt haben? Wenn ich mich nicht irre, waren Sie oder wollten Sie doch im Sommer 1986 nach Bagdad fahren. War das nicht so? Haben Sie auf dem Höhepunkt des iranisch-irakischen Städtekrieges, als Raketen und Giftgas eingesetzt wurden, als Sie Staatsminister im Auswärtigen Amt waren, jemals eine Protestnote überreicht?
Herr Kollege verwechseln Sie nicht zufällig die Zwischenfrage mit der Kurzintervention? - Ich würde Sie bitten, die Antwort auf die Frage stehend entgegenzunehmen, wie das im Hause üblich ist.
Auch das war wieder ein Beispiel für das, was ich mit dem untauglichen Versuch meinte, moralischen Rigorismus an die Stelle vernünftiger Politik zu setzen.
({0})
Ich will das erklären. Es gab in den 80er Jahren eine
ganze Reihe von Gesprächen von Politikern aller
Fraktionen, aller Parteien, auch mit Saddam Hussein.
({1})
- Natürlich! Ich bin ganz sicher. Wenn Sie sich der Mühe unterziehen, ein intensives Gespräch mit HansJürgen Wischnewski zu führen, dann wird er Ihnen bestätigen können, daß es in den 80er Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten auch Gespräche von Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses mit der irakischen Führung gegeben hat
({2})
- auch mit Saddam Hussein - , so wie es sie auch mit Leonid Breschnew in der Zeit gegeben hat, als die Sowjetunion Afghanistan überfallen hatte, und zwar doch wohl nicht zu dem Zwecke, ihn in seiner Politik zu bestärken, sondern um ihn davon abzubringen. Ich glaube nicht, daß Sie mit dem Hinweis: Mit dem kann man nicht reden, durfte man nicht reden! und der Argumentation, die Sie daran angeschlossen haben, sehr überzeugend wirken. Nein, das beeindruckt mich nicht.
Sie haben ein zweites Beispiel dafür gebracht, daß sie außenpolitisch nicht konsequent argumentieren. Sie haben erklärt, die Bemühungen der Bundesregierung um eine stärkere Bekämpfung des illegalen Rüstungsexports seien aus Ihrer Sicht nicht zureichend. Was erforderlich sei, sei eine Begrenzung jeglichen Rüstungsexports auf die NATO-Mitgliedstaaten. - Am selben Tag haben Sie hier - ich stimme Ihnen darin ausdrücklich zu - gebilligt, daß wir an Israel zu dessen Verteidigung Waffen liefern. Am selben Tag, an dem Sie ein vermeintlich konsequentes Konzept vorstellen, geben Sie ein Beispiel dafür, daß es aus außenpolitischen Gründen zweckmäßig sein kann, von dieser Linie abzuweichen.
({3})
- Doch! Sie werden doch zugeben, daß es eine Friktion ist, zu sagen: nur an NATO-Staaten, es sei denn ... - und dann kommt die Ausnahme, wobei ich ausdrücklich sage: Ich begrüße es, daß die SPD diese Ausnahme mitträgt.
({4})
- Nein, ich habe hier gesagt, daß es nicht logisch ist, wie Sie argumentiert haben.
Meine Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zu einem dritten Punkt, der hier immer wieder unterschwellig von Ihnen, Herr Kollege Gansel, eingebracht worden ist, etwas klarstellen: Diese Bundesregierung hat sowenig wie Ihre Vorgängerinnen auch nur einen einzigen Export nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz an den Irak genehmigt.
({5})
Was wir erleben, ist, daß Mitarbeiter von Unternehmen oder gar Unternehmen als Ganze gegen gelten158
des Recht, an den Behörden vorbei Export von Kriegswaffen oder kriegswaffenähnlichen Gütern betrieben haben. Wir haben sofort nach Beginn unserer Amtszeit, ich selber als Bundesminister für Wirtschaft unmittelbar nach Antritt meines Amtes, deswegen eine Gruppe von Staatssekretären gebeten, einen Maßnahmenkatalog auszuarbeiten, der eine wirkungsvollere Bekämpfung solcher Praktiken ermöglicht.
({6})
Das ist innerhalb der ersten Woche meiner Amtszeit geschehen, und am nächsten Mittwoch wird das Kabinett die Entwürfe für die notwendigen Gesetzesnovellen und Verordnungen vorgelegt bekommen und beschließen. Dann kann das Parlament ebenfalls, so wie angemahnt, beraten und beschließen.
({7})
Niemand wird behaupten können, daß dies ein verzögerndes Tempo sei.
({8})
- Innerhalb einer Woche finde ich schon angemessen.
({9})
Ich bitte Sie hier im Hohen Haus um Unterstützung für die Hauptanliegen.
Diese Hauptanliegen sind: erstens eine Erhöhung der strafrechtlichen Abschreckung durch Strafvorschriften für Verstöße bei Embargobeschlüssen mit einem Strafrahmen bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe, zweitens ein Strafrechtsänderungsgesetz, mit dem die Abschöpfung aller Erlöse aus illegalen Rüstungsgeschäften ohne Gegenrechnung von Kosten ermöglicht wird - das heißt unmittelbar damit verbunden die Existenzgefährdung illegal handelnder Firmen -, drittens die konsequente Einsetzung des bestehenden Sanktionsinstruments der Gewerbeuntersagung gegen unzuverlässige Unternehmen in besonders schweren Fällen, viertens neue Genehmigungspflichten besonders für Exporte von nicht auf den Listen stehenden und nicht besonders für die Rüstung konstruierten Waren, wenn der Exporteur vom Einsatz in einem Rüstungsprojekt oder Einbau in eine Waffe weiß, fünftens eine Einzeleingriffsermächtigung für den Bundesminister für Bildung,
({10})
- für den Bundesminister für Wirtschaft - man muß sich doch noch an die neue Aufgabe gewöhnen.
Sechstens. Das Bundesamt für Wirtschaft, das ja nicht für die Verfolgung illegaler Exporte, sondern für die Ausstellung von Ausfuhrgenehmigungen zuständig ist, wird umgebaut. Die bisherige Kontrollabteilung soll zu einem Exportkontrollamt ausgebaut werden. Es sollen Möglichkeiten geschaffen werden, besonders kompetente Mitarbeiter auch einstellen zu können.
Daneben soll ein Versuch unternommen werden, der wohl dringend notwendig ist. Ich will dazu nicht mehr sagen. Wenn man sich die Realitäten der Bewaffnung der irakischen Streitkräfte anschaut, ist es notwendig, über einen restriktiven Kurs in der Exportpolitik auch mit unseren westlichen Partnern zu sprechen, das Thema auch zum Gegenstand in der KSZE zu machen.
({11})
Natürlich macht es Sinn, wenn wir mit einer restriktiven Exportpolitik beginnen, wenn wir eine Politik des guten Beispiels betreiben. Aber wirkungsvoller ist es natürlich, wenn andere nachziehen.
({12})
Ich hoffe, daß alle diejenigen nachziehen, deren Presse in diesen Tagen mit besonderem Genuß immer nur den Blick auf die Bundesrepublik Deutschland richtet.
Einen letzten Punkt in diesem Zusammenhang. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist notwendig, daß neben allen Anstrengungen im Bereich von Gesetzesänderungen, von Verordnungen die Wirtschaft mitspielt. Es ist notwendig, daß sich die Verbände der Wirtschaft, aber auch die Unternehmen an einer Kampagne der Ächtung derer beteiligen, die gegen geltendes Recht Rüstung exportieren und damit unser Ansehen in aller Welt schwer beschädigen und darüber hinaus natürlich auch die Interessen der Wirtschaft beeinträchtigen.
Ich hoffe sehr, daß es hier zu einer kooperativen Haltung kommt. Äußerungen wie etwa die von Herrn Stihl, dem Präsidenten des DIHT, stimmen mich da hoffnungsfroh. Ich hoffe, sie werden auch in der Breite angewandt.
Zum Schluß wollte ich mich für die sehr spezielle Form des Glückwunsches bedanken, die Jochen Vogel heute morgen für meinen Amtsantritt gewählt hat. Ich verspreche ihm, daß ich seine Bemerkungen wie die anderer sehr verdienter Staatsmänner, die mich tief beeindruckt und ermutigt haben, als Ansporn nutzen werde, meine Arbeit erfolgsorientiert und um Durchsetzung bemüht fortzusetzen.
Vielen Dank.
({13})
Nun hat der Abgeordnete Rühe das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Entschuldigung, die Debatte verläuft thematisch etwas erratisch. Ich muß auf das zurückkommen, was die Kollegen Gansel und Vogel heute gesagt haben.
({0})
- Ja, nächstes Mal vielleicht zur Wirtschaft.
Hans-Jochen Vogel hat heute morgen eine besonnene Rede gehalten, auch mit dem Angebot zur Gemeinsamkeit. Man fragt sich: Was ist diese Rede wenige Stunden später noch wert, wenn man dann die Angriffe von Herrn Gansel gehört hat?
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Insofern spiegeln beide Reden ganz eindeutig wider, daß es wirklich schwer ist zu entscheiden, wer das Sagen in dieser Sozialdemokratischen Partei hat: die besonnenen Kräfte oder diejenigen, die wie Herr Gansel in diesem Punkt eine wilde und unverantwortliche Polemik gegen die Bundesregierung gestartet haben.
Ich habe in Israel und auch hier in den letzten Tagen Hans-Jürgen Wischnewski in Schutz genommen. Ich bin nicht einfach bereit, in ihm im nachhinein einen unmoralischen Menschen zu erkennen. Ich habe gesagt: Es nützt uns überhaupt nichts, wenn wir den Parteienstreit über die Frage dieser illegalen
({2})
Ausfuhr von Waffen und dieser illegalen Technologie-Söldner führen. Es nützt uns überhaupt nichts. Es wird uns allen gemeinsam angerechnet Herr Gansel.
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Ich könnte ja sagen, weil es stimmt, daß die Regierung des Bundeskanzlers Kohl das Außenwirtschaftsgesetz verschärft hat, daß sie das Kriegswaffengesetz verschärft hat - es ist schärfer als das seines sozialdemokratischen Vorgängers - , bloß nützt es uns international gar nichts, das zu sagen.
({4})
Deswegen ist es töricht, wenn Sie solche Angriffe auf die Bundesregierung richten.
Im übrigen, ich könnte auch sagen, Herr Gansel, daß es zwar keinen Kriegswaffenexport gegeben hat, aber im März 1982 zuletzt einen Auftrag in einer Größenordnung von 200 bis 300 Millionen DM für gepanzerte Fahrzeuge in den Irak. Aber ich sage: Es nützt nichts, das zu sagen und zu sagen, das sei unter sozialdemokratischer Verantwortung gemacht worden. Es wird uns allen zugerechnet. Deswegen ist es so töricht, wenn Sie den Versuch machen, die Schuld auf andere abzuschieben.
({5})
Das nützt auch den Israelis überhaupt nichts, die von den Scud-Raketen bedroht werden. Die fragen sich: Was unternimmt dieses deutsche Parlament
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- ich stelle jetzt gleich zwei Fragen an Sie -, um mit aller Konsequenz dafür zu sorgen, daß in Zukunft die Schlupflöcher noch enger gemacht werden. Das kann nicht alles an der Grenze durch Zollbeamte geschehen.
Deshalb lautet meine Frage an Sie, Herr Gansel, an die Sozialdemokraten: Sind Sie bereit, durch die Vorfeldkontrolle, zum Beispiel durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, gegen diese Leute vorzugehen? Wer den Schaden sieht, der für Deutschland angerichtet wird, darf vor solch konsequenten Maßnahmen nicht zurückschrecken.
({7})
Ich frage Sie auch: Sind Sie bereit, beim Datenschutz so vorzugehen, daß die Zusammenarbeit zwischen Behörden erleichtert wird? Sind Sie bereit, eine Politik zu korrigieren, die den Datenschutz zum Täterschutz, auch in diesem Feld, gemacht hat?
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- Wir sollten uns auf die Dinge konzentrieren, die jetzt und in Zukunft getan werden können. Der parteipolitische Streit hat wenig Sinn.
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Jetzt noch einmal zum Thema Golfkrise! Hans-Jochen Vogel hat dazu gesagt, daß die politische Vernunft eine neue Chance haben müsse.
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Für die politische Vernunft brauchen Sie aber einen Partner, und den sehe ich nicht. Im Präsidium der Sozialdemokratischen Partei wurde gesagt, man müsse einen Waffenstillstand ohne Bedingungen fordern.
Ich möchte Sie an Gespräche erinnern, die wir gemeinsam in Israel geführt haben. Sie waren dabei; jedermann weiß, welches gemeinsame Gespräch das war. Unser israelischer Gesprächspartner wurde gefragt: Was passiert bei einem Waffenstillstand, wenn es nicht vorher zu einem Abzug aus Kuwait und zu einer Zerstörung der Angriffsmittel des Irak gekommen ist? Ich glaube, auch Ihnen ist bekannt, daß die Scud-Raketen nicht von Kuwait abgeschossen werden, sondern aus dem Irak selbst. Der israelische Gesprächspartner hat darauf geantwortet: Wer in dieser Situation einen Waffenstillstand ohne Bedingungen fordert, der trifft Israel und seine Existenz auf das härteste.
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Deswegen muß ich Ihren Freunden sagen: Gefordert ist eine konkrete Friedenspolitik. Sie müssen ganz konkret die Frage beantworten: Wie finden die Menschen in den Straßen, in den Wohnungen von Tel Aviv wieder ihren Frieden? Nicht durch die Beschlüsse Ihres Präsidiums, sondern nur, wenn Sie sich ohne Vorbehalte hinter die internationale Koalition stellen, Herr Gansel.
({12})
Zur Türkei: Hans-Jochen Vogel hat zu Recht Angriffe von Özal auf uns zurückgewiesen, die völlig unangemessen waren. Ich muß auch sagen, es hat zunächst auf der türkischen Seite osmanische Töne gegeben. Ich bin froh, daß das beseitigt worden ist.
Herr Gansel, ich muß Ihnen auch sagen, daß ich bei den Einlassungen von Ihnen und von Hans-Jochen Vogel den Eindruck habe, daß Sie zwar 40 Jahre lang akzeptiert haben, daß die NATO eine Ostgrenze hat und wir dort Schutz gefunden haben, aber daß Sie erst
jetzt zu Ihrem Schrecken entdecken, daß die NATO auch eine Südgrenze hat.
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie abschrecken wollen - eine wesentliche Aufgabe der NATO ist natürlich auch die Abschreckung von Gegnern, aus welcher Himmelsrichtung sie auch immer kommen - , dann müssen Sie in der jetzigen Situation sagen: Ein Angriff auf die Türkei wäre ein Angriff auf dieses Bündnis.
({13})
Dann hat der Außenminister hier zu Recht gesagt, daß es keinen Automatismus gibt. Das ist natürlich richtig; die Bundesregierung ist ja auch kein Automat, sondern es gibt die Entscheidung im Bündnis, die Entscheidung der Bundesregierung und noch davor eine Beratung des Parlaments. Es darf aber kein Zweifel daran entstehen - denn das wäre eine Einladung für einen Aggressor - , daß, wer die Türkei angreift, das Bündnis angreift und damit uns alle miteinander. Das sollte ein klares Signal sein.
({14})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gansel?
Er kommt gleich dran.
Jetzt noch ein Wort zu den deutschen Soldaten, die dort sind: Hans-Jochen Vogel - ich habe mir das aufgeschrieben - hat hier einfach, nüchtern und lieblos erklärt, die Entscheidung sei falsch, unsere Soldaten jetzt in die Türkei zu schicken,
({0})
obwohl deutlich geworden ist, daß die Soldaten, die jetzt mit „Roland" oder „Hawk" dorthin gehen, die Luftwaffensoldaten schützen sollen, auch die Belgier und Italiener. Ich muß Ihnen sagen: Wenn der englische Oppositionsführer - Herr Dregger hat das immer wieder angesprochen - ganz konkret gesagt hat, unsere Soldaten stärken den Frieden in der Welt, sie machen die Welt sicherer, und wir sind stolz auf sie, dann möchte ich nicht aus dieser Debatte herausgehen ohne ein Wort der Zuwendung - auch von seiten der Opposition - an die Soldaten, die jetzt in die Türkei gehen werden.
({1})
Auch als Opposition schulden Sie das unseren Soldaten, die dort in unser aller Auftrag tätig sind, um die Welt sicherer zu machen. Wir sind stolz auf sie.
({2})
Es ist hier über Demonstrationen gesprochen worden. Es wird gesagt, es sei besser, daß die Deutschen für den Frieden demonstrieren und daß es keine Aufmärsche für den Krieg gibt. Das ist eine solche Selbstverständlichkeit, daß man sich darüber wirklich nicht viel unterhalten muß.
Aber man sollte sich die Demonstration in Bonn schon ein bißchen genauer anschauen. Wenn ein deutscher Bischof wie Bischof Forck Präsident Bush und Saddam Hussein gleichsetzt
({3})
- Beifall von kommunistischer Seite, Herr Bischof Forck! -, wenn er wörtlich von der Fahrlässigkeit der amerikanischen Politik und der UNO spricht, die - so wörtlich - ein Unrecht mit einem noch größeren Unrecht beantwortet hat, dann möchte ich Bischof Forck fragen, ob er vergessen hat, daß es alliierte Soldaten waren, die die Gewaltherrschaft Hitlers beseitigt haben, die das Morden in den KZs in Deutschland gestoppt haben und die uns dennoch die Möglichkeit gegeben haben, wieder ein freies Gemeinwesen aufzubauen.
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Das waren nicht Antikriegsdemonstranten in London, in Paris oder New York oder wo auch immer, sondern es waren alliierte Soldaten, die das gemacht haben. Das sollte man nicht vergessen.
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- Einschließlich der kommunistischen Roten Armee; das ist richtig. Aber das, was die in den nächsten 40 Jahren gemacht haben, das unterscheidet sich grundlegend von dem, was unsere Alliierten hier im Westen gemacht haben. Unter den Folgen haben wir ja noch zu leiden.
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- Ich bedanke mich sehr, daß Sie das ansprechen. Ich muß Ihnen sagen, die Deutschen sind nicht feige, wie das manche behaupten.
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- Ich weiß nicht, was daran böse ist.
Sie hassen den Krieg, sie lieben den Frieden, aber sie wissen eben auch, daß es wirklichen Frieden nicht ohne Freiheit und Gerechtigkeit gibt. Deswegen bin ich auch überzeugt, daß viele Mitbürger in den neuen Bundesländern wissen, worum es jetzt geht. Sie haben sich nämlich 40 Jahre nicht mit dem Frieden, den es ja gab, abgefunden. Das war ja Frieden. Aber es war Frieden ohne Freiheit und ohne Gerechtigkeit. Das war der Stacheldrahtfrieden, Herr Modrow, an den ich Sie gerne einmal erinnern möchte.
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Deswegen bin ich ganz sicher, daß sie uns verstehen und daß sie die Auffassung teilen, daß zum Frieden Freiheit und Gerechtigkeit gehören.
Im übrigen: In dieser Situation müssen wir die Vereinten Nationen doch stärken. Seit 40 Jahren können sie erstmals richtig arbeiten, weil der Ost-West-Konflikt überwunden ist.
({9})
Auch hier gibt es einen Zusammenhang mit der deutschen Frage. Wie kann man denn da auf die Idee kommen, in einer Situation, in der die Vereinten Nationen eine Autorität haben, wie sie sie 40 Jahre nicht gehabt haben, weil es nicht mehr das ständige Njet gibt, die Vereinten Nationen anzugreifen und zu sagen, sie hätten sich noch schlimmer benommen als Saddam Hussein. Das ist doch geradezu unglaublich. Wir müsRühe
sen sie nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts doch stärken.
({10})
Hier ist schon zu Recht zurückgewiesen worden, was aus einigen befreundeten Ländern an Kritik gekommen ist. Da ich nächste Woche mit dem Kollegen Lamers in Paris und London sein werde, will ich schon jetzt sagen: Es gab einige Leute, die haben im Sommer dem Deutschen die Pickelhaube und jetzt die Schlafmütze aufgesetzt. Dann fügen sie noch hinzu: Wir haben es ja immer gesagt. Sie merken gar nicht, welch inkonsequente Position sie vertreten. Das müssen wir uns nicht gefallen lassen.
({11})
Aber natürlich müssen wir schon analysieren, warum wir in eine relativ schwierige Diskussionslage gekommen sind. Man kann auch nicht so tun, als ob das alles nur ungerecht wäre, was uns dort an internationaler Diskussion widerfährt. Richtig ist natürlich, daß es im letzten Jahr immer nur aufwärts gegangen ist, in Richtung deutscher Einheit, Frieden und Freiheit, so daß wir geglaubt hatten, wir hätten länger Zeit, um das wiedervereinigte Deutschland psychologisch auf die gewachsene weltpolitische Verantwortung einzustellen. Und diese Zeit haben wir eben nicht.
Aber ist es nicht auch richtig, daß wir in der Diskussion hier in Deutschland selektiv an den Beschluß der Vereinten Nationen herangegangen sind, daß wir nur den Verhandlungsteil betont und die Menschen nicht darauf vorbereitet haben, daß auch der andere Teil dazugehört, notfalls mit dem Mandat und der Autorität der Vereinten Nationen auch Gewalt anzuwenden, um die internationale Rechtsordnung wiederherzustellen? Ich glaube, daß das zu unseren Schwierigkeiten beigetragen hat.
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Es ist ja so, daß Mitterrand hier große Unterstützung gefunden hat, der bis in die letzte Minute eine Friedensinitiative gestartet hat, und auch noch darüber hinaus. Das ist richtig. Aber der Mitterrand, der dann am nächsten Tage seinen Truppen den Einsatzbefehl gegeben hat, der hat in der deutschen Politik nicht stattgefunden, jedenfalls nicht lobend.
({13})
Deswegen glaube ich, daß, wenn man versucht, zu analysieren, wie es aussieht, wir nicht darum herumkommen, zu sagen, wo auch Schwächen in unserer eigenen Diskussion gelegen haben.
Nach der Wiedervereinigung ist immer wieder gesagt worden, die Deutschen würden keine größere Macht haben, sondern größere Verantwortung. Ich glaube, das Wort „Verantwortung" muß jetzt ausgefüllt werden, es darf keine leere Worthülse bleiben. Verantwortung kann man nicht nur mit Geld wahrnehmen, das ist überhaupt keine Frage.
Deutschland - so schrieb vor wenigen Tagen die „Financial Times" - ist die stärkste Wirtschaftsmacht in Europa, und es ist auch die größe Demokratie in Europa. Ich glaube, es war sehr, sehr wichtig, was der
Bundeskanzler hier gestern über die zukünftige internationale Rolle Deutschlands gesagt hat. Wir alle sollten parteiübergreifend versuchen, darauf hinzuwirken, daß wir eine Akzeptanz in unserer Bevölkerung erreichen, daß es eben keine weltpolitische Idylle für uns geben kann, keine Nische in der Weltpolitik. Das ist eine Aufgabe, die sich über die Parteien hinweg stellt.
Die Europäische Gemeinschaft - ich bin da etwas freimütiger in der Analyse, ich bin ja auch etwas freier als Diplomaten - hat in der Krise nicht stattgefunden, nur solange verhandelt wurde, und dort auch als Trittbrettfahrer, wenn ich das etwas undiplomatisch sagen darf. Ich finde, daß man auch zu kurz springt, wenn man sagt, strukturell hätte die Europäische Gemeinschaft Defizite, und sie wäre nicht in der Lage, mit einer solchen Krise fertigzuwerden.
({14})
Wenn wir also nur die richtigen Organisationen schaffen, dann werden wir das schon hinkriegen. Ich glaube, daß man da zu kurz tritt.
Ich frage mich wirklich, wie man eine europäische Schicksalsgemeinschaft schaffen will, in der sich alle Welt darum kümmert, eine gemeinsame Währung zu schaffen, und die Erregung ganz hoch ist - schon jetzt beim Europäischen Währungssystem - , wenn die Bandbreite der Währung ein bißchen zu sehr schwankt. Aber wenn ich dann sehe, wie die Bandbreite des Empfindens der Menschen oder der Abgeordneten hier in diesem Bundestag im Vergleich zur Kammer in Paris oder zum Unterhaus in London in einer Schicksalsfrage schwankt, dann sage ich, wir würden zu kurz springen, wir würden zu technokratisch an dieses Europa herangehen, wenn wir nicht auch umfassender unseren Beitrag leisten würden, und da müssen sich vor allem die Deutschen bewegen.
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Man kann nicht sagen: Ihr müßt eine so stabile Währung schaffen, wie wir das wollen, und die Europäische Zentralbank muß genauso aussehen wie die Deutsche Bundesbank, und in den anderen Feldern sagen: wir unterscheiden uns von euch, und das müßt ihr halt zur Kenntnis nehmen.
Ich sehe eigentlich nur einen Weg, psychologisch schneller und besser zusammenzufinden - der Kollege Lamers hat das schon seit längerem vorgeschlagen - , daß wir, wenn deutsche Verbände für die Vereinten Nationen tätig werden - ich hoffe, daß es dafür in der Zukunft einen Weg gibt - , man das nicht rein national macht, sondern wirklich multinationale Verbände in Europa schafft, daß sich Europäer Schulter an Schulter wirklich diesen Herausforderungen stellen können. Dann wird ein gemeinsames Bewußtsein - ich glaube, auch hier in Deutschland - wachsen, und dann werden die Debatten im Deutschen Bundestag vielleicht ähnlich wie die in Paris und London verlaufen, und in diese Richtung sollten wir alle miteinander wirken.
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Gefragt sind jetzt von uns Deutschen Verantwortung, Eindeutigkeit - das an die Sozialdemokraten - und Solidarität; gefragt sind vor allem auch Taten. Natürlich ist es auch richtig, daß wir schon jetzt über eine möglichst dauerhafte Friedensordnung im Nahen Osten nachdenken müssen. Aber zunächst müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, indem der Aggressor auch militärisch besiegt wird.
Ich hoffe, daß die Vorbereitungen für den Frieden mindestens so intensiv betrieben werden wie die Vorbereitungen, die für den Krieg dort betrieben worden sind. Simon Perez - Sie sehen, ich zitiere Sozialisten aus Israel - hat ein gutes Wort gefunden: Nach diesem Krieg können die Reichen nicht einfach wieder in ihre Paläste zurückkehren und die Armen in ihre Hütten. - Das ist richtig.
({17})
Das gilt für die Reichen in Kuwait und in Saudi-Arabien, aber das gilt natürlich auch für diesen superreichen Irak. Das ist ja der eigentliche Skandal: nicht nur, daß er diese Region mit Krieg überzogen hat und den Frieden verhindert, sondern auch, daß er Millionen von Menschen gezwungen hat, aufs ärmlichste in den Hütten zu leben, weil der Reichtum, der durch das Öl erarbeitet wurde, in Waffen gegossen worden ist. Das ist doch der Skandal, über den wir alle uns aufregen und für den wir keine Entschuldigung finden sollten.
({18})
Das muß man doch auch den Demonstranten sagen.
({19})
Die zwischen den Staaten bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze müssen abgebaut werden. Im Augenblick ist es angesichts des Fundamentalismus, den es dort gibt, wie eine Utopie, trotzdem muß man es sagen: Es muß auch wieder einen Dialog zwischen den Religionen und den Kulturen geben. Deswegen brauchen wir soziale und wirtschaftliche Veränderungen; wir brauchen aber auch den wirklichen Versuch, endlich eine Sicherheits- und Friedensbalance herzustellen.
Deswegen möchte ich am Ende noch einmal sagen: Der Besuch in Israel, den der Außenminister, mein Kollege Spranger und ich sowie die Kollegen von der Opposition durchgeführt haben, war weiß Gott nicht einfach für uns. Dem, was wir dort gesagt haben, müssen jetzt auch konkrete Taten folgen. Die Scud-Raketen halten Sie nicht auf mit Demonstrationen hier. Wenn man die Scuds mit Demonstrationen aufhalten könnte, dann wären schon alle Israelis auf den Straßen, um gegen die Scuds zu demonstrieren. Sie können sie auch nicht mit Geld aufhalten.
Deswegen sind wir wirklich zu konkreten Schritten gefordert, wie sie die Bundesregierung vorgeschlagen hat. Ich hoffe, daß diese Maßnahmen und auch die Maßnahmen, die zum Schutz unserer Soldaten in der Türkei dienen und die signalisieren: „Das ist das Bündnis, und die Abschreckung wird funktionieren", auch über die Parteien hinweg Zustimmung finden.
({20})
Zu einer kurzen Intervention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Gansel.
Herr Präsident! Ein Teil der Rede von Herrn Rühe hätte unter der Überschrift „CDU: für soziale Gerechtigkeit in Saudi-Arabien" stehen können.
({0})
Mich hat sehr überrascht, daß Sie erst auf Grund des Golf-Krieges feststellen, welche soziale Ungerechtigkeit dort herrscht, was für ein feudales System das ist.
({1})
Ich habe nie gehört, daß das in Ihrer Einschätzung Saudi-Arabiens bisher eine Rolle gespielt hat.
({2})
Nun möchte ich dem Kollegen Möllemann hinsichtlich der Beziehungen zu anderen Staaten nicht unrecht tun; er ist ja Staatsminister im Auswärtigen Amt gewesen. - Natürlich können wir unsere Beziehungen nicht auf demokratische Staaten beschränken, und natürlich haben wir es immer wieder mit Staaten zu tun, in denen es Menschenrechtsverletzungen gibt; aber eine Außenpolitik, die auf Menschenrechtsverletzungen in den Ländern, mit denen sie Beziehungen pflegt, nicht reagiert, kann zur Kumpanei werden.
({3})
Das ist mein Vorwurf, daß in all den Jahren, in denen zwischen dem Irak und dem Iran ein schrecklicher Krieg tobte, in dem der Irak Giftgas einsetzte und diesen Krieg auf die eigene Bevölkerung, auf die Kurden, ausdehnte, bei allem, was die Bundesregierung im wirtschaftlichen und im außenpolitischen Bereich gemacht hat, wir nie haben feststellen können, daß die Menschenrechtssituation im Irak oder die Völkerrechtswidrigkeit des Krieges eine Rolle gespielt hat.
({4})
Ich sage Ihnen, Herr Möllemann, genau diese Politik war eine Form von Appeasement, die Saddam Hussein stark gemacht hat, die ihn in die psychische Verfassung gebracht hat zu glauben, er könne sich alles leisten, auch noch den Überfall auf Kuwait, und der Westen würde nicht reagieren. Es bedurfte ja auch mehr als einer Schrecksekunde, bis eine Reaktion kam.
Ich frage mich manchmal, ob die dann einsetzende Reaktion wirklich so entschlossen gewesen wäre, wäre Kuwait nicht ein Land mit soviel 01 gewesen.
Ich erinnere mich, Kollege Möllemann, daß, als wir 1982 über die Frage debattierten, ob der Leo-2-Panzer nach Saudi-Arabien geschickt werden sollte oder nicht -
Herr Abgeordneter Gansel, der Präsident kann - er muß nicht - das Wort zur Kurzintervention erteilen.
({0})
Zwei Minuten darf sie aber nicht überschreiten. Ich wäre dankbar, wenn Sie sich daran hielten.
Herr Kollege Möllemann, als wir 1982 die Problematik von Panzer-Exporten nach Saudi-Arabien diskutierten - Leo 2 für Saudi-Arabien - , haben Sie das mit dem Hinweis begründet, Leo lese sich von rechts nach links: Öl!, und darum ginge es. Ich sage Ihnen: Wer so argumentiert hat, der hat jedes Recht verloren, die Schüler, die unter den Plakaten „Kein Blut für Öl" demonstrieren, zu kritisieren.
({0})
Herr Abgeordneter Gansel, bringen Sie mich nicht in Verlegenheit.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Genscher zu einer Kurzintervention das Wort.
Herr Abgeordneter Gansel, Sie sind gut genug informiert, um zu wissen, daß in der Zeit, in der wir eine gemeinsame Koalition hatten, der Export von Leopard-Panzern nach Saudi-Arabien an meinem Widerstand gescheitert ist und nicht an Ihren Kollegen im Kabinett.
({0}) Herr Kollege Gansel - Ich möchte gerne erst dann sprechen, wenn der Kollege Gansel mir seine Aufmerksamkeit schenken kann, auf die ich in diesem Fall besonderen Wert lege, Herr Präsident.
Herr Kollege Gansel, Sie wissen auch, daß sich die Bundesregierung fast allein geweigert hat, in der Zeit des Krieges des Irak gegen den Iran den Irak als das kleinere Übel gegenüber dem Iran zu unterstützen. Das erklärt, daß wir Kriegswaffenexporte in den Irak nicht genehmigt haben. Es kann keine Rede davon sein, daß unsere Politik den Irak in die Lage versetzt hätte, seine Aggression gegen Kuwait zu begehen und andere zu bedrohen. Ich habe mich damals erheblicher internationaler und auch innenpolitischer Kritik ausgesetzt, als ich als einziger Außenminister eines westlichen Staates den Irak als den Aggressor im Krieg gegen Iran bezeichnet habe.
({1})
Nun erteile ich dem Abgeordneten Möllemann das Wort; denn der Präsident soll nach einer Kurzintervention dem Angesprochenen die Möglichkeit zur Erwiderung geben. Das möchte ich damit tun.
Herr Präsident, der Kollege Gansel hat soeben den dritten Beleg in Reihe dafür geliefert, daß er aus seinem moralischen Rigorismus das Recht ableitet, andere, die anderer Meinung sind, in eine bestimmte Ecke zu drängen. Er hat das mit dem Begriff „Kumpanei" versucht.
Ich weise das hier auf das Entschiedenste zurück. Ich halte es für legitim, auch mit solchen Politikern zu sprechen, die eine andere Position einnehmen,
({0})
wenn man dabei für den eigenen Standpunkt wirbt. Das ist so geschehen. So wie ich Ihnen zubillige, daß Sie bei Ihren Gesprächen mit kommunistischen Machthabern gewiß nicht für deren Politik eingetreten sind, so nehme ich es für mich in Anspruch, daß ich bei meinen Gesprächen für eine liberale menschenrechtsorientierte Politik eintrete.
Es ist unbestritten richtig - aber ich verbitte mir, daß das in einen bestimmten Zusammenhang gebracht wird - , daß ich öffentlich auf einem Landesparteitag meiner eigenen Partei abweichend von der Meinung meines damaligen Bundesvorsitzenden, Hans-Dietrich Genscher, in der Frage des Exports nach Saudi-Arabien dafür plädiert habe - so, wie damals auch Helmut Schmidt. Ich nehme an, die Versuche, Helmut Schmidt moralisch in eine bestimmte ' Ecke zu setzen, die ein anderer in Ihrer Partei schon exzellent praktiziert hat, werden Sie auf mich nicht weiter anwenden wollen. Ich verbitte mir das.
({1})
Nun hat das Wort die Abgeordnete Lederer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst kurz zu dem Hin und Her, das gerade an den Mikrophonen ablief. Vor dem, was da als moralischer Rigorismus bezeichnet wurde, kann ich nur meinen Respekt bekunden. - Das vorweg.
Herr Rühe, wenn Sie davon reden, was viele Menschen in den neuen Bundesländern wollen, kann ich Ihnen versichern: Aus meiner Kenntnis sind es Arbeit, soziale Sicherung und keine Kriegsbeteiligung.
Frieden um jeden Preis kann und darf es nicht geben:
({0})
Das war gestern der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers zu entnehmen, und das in einer Situation, in der der Krieg im Nahen Osten täglich, ja stündlich eskaliert wird,
({1})
ein Krieg, für den vermutlich bereits Hunderttausende mit ihrem Leben bezahlen mußten,
({2})
in einer Situation, in der die aktive Beteiligung der Bundeswehr an diesem Krieg immer wahrscheinlicher wird. Was letzte Woche noch nur zu vermuten war, wird jetzt Gewißheit: Die entfachte Spekulation um den möglichen Bündnisfall, die Entsendung bundesdeutscher Waffen und Soldaten in einen multinationalen Krieg soll als Wahrnehmung deutscher Verantwortung gerechtfertigt werden. In der Tat, es gibt eine besondere deutsche Verantwortung. Diese besteht
allerdings ausschließlich in der Pflicht, alles für ein sofortiges Ende dieses Krieges zu tun,
({3})
jede militärische Unterstützung sofort einzustellen und die Bündnispartner unter Druck zu setzen, damit diese Katastrophe ein Ende findet.
Statt dessen beteiligt sich die Bundesrepublik mit weit mehr als 15 Milliarden DM am Krieg gegen den Irak. Die Präsenz deutscher Truppen in einem multinationalen Krieg soll offenbar anerkennenswert sein. Deutsche Rüstungsgüter werden entgegen dem eindeutigen Verbot nicht nur in Spannungs-, sondern in Kriegsgebiete exportiert. Da reibt sich die Rüstungsindustrie die Hände. Die Aktien steigen, wie wir wahrnehmen konnten. Gegen im Irak stationierte und von deutschen Firmen gelieferte oder modernisierte Waffen sollen ebenfalls deutsche Waffen in der Türkei zum Einsatz kommen. Für dieses Geschäft mit dem Tod soll, wie gestern dankenswert offen angekündigt wurde, die Bevölkerung in der Bundesrepublik höhere Steuern zahlen. Ich scheue mich nicht davor, zu benennen, was außerhalb dieses Parlaments wahrgenommen wird, was diese Steuern bedeuten: Es handelt sich um eine Kriegssteuer.
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In einer Situation, in der sich auf dem internationalen Parkett niemand mehr dem US-amerikanischen Präsidenten Bush entgegenstellt, solidarisieren jedenfalls wir, die Fraktion der PDS/Linke Liste, uns mit denen, die den Kriegsdienst verweigern und sich gegen Waffenexporte und -transporte engagieren.
Präsident Bush hat in seiner Erklärung zur Lage der Nation gesagt, worum es geht. Makaber genug bezeichnet er den Krieg als Chance, die Grundlagen einer neuen Weltordnung zu schaffen, wobei selbstredend die Führung der USA in dieser neuen Weltordnung unverzichtbar sei. Für eben diese führende Rolle der USA und ihrer westlichen Verbündeten wird dieser Krieg gegen den Irak geführt.
„Kein Blut für Öl! " - das sage ich insbesondere zu Herrn Dregger - ist noch immer die Parole, die das eigentliche Interesse treffend beschreibt, aus dem heraus dieser Krieg geführt wird.
({5})
Es geht hierbei nicht um die Durchsetzung des Völkerrechts. Wo waren denn die empörten Aufschreie, als die irakische Führung Tausende Kurden mit deutschem Giftgas ermorden ließ,
({6})
und wo waren die Rufe nach Embargos gegen die USA, als diese Vietnam zerbombten, Grenada und Panama überfielen? Da haben es die Menschen, die gegen diesen Krieg am Golf auf die Straße gehen, nicht nötig, sich von dem Herrn Bundeskanzler als lautstarke Minderheit diffamieren zu lassen. Diese
Menschen haben nämlich offensichtlich die Realität erkannt. Sie lassen sich auch nicht von diffamatorischen Unterstellungen beirren, wonach sie mit Nussein paktierten oder etwa die Angriffe gegen Israel - die scharf zu verurteilen sind - rechtfertigten. Es war beispielsweise gerade die Friedensbewegung, die schon seit Jahren keinen Zweifel an ihrer Ablehnung des irakischen Regimes und seiner Völkerrechtsverletzungen gelassen hat.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wenn Sie meinen, mit dem Schlagwort vom Antiamerikanismus die Antikriegsaktionen diskreditieren zu können, dann lassen Sie sich gesagt sein: Soweit Sie unter Amerikanismus die Politik des Pentagon verstehen, kann ich mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus gut leben. Denn diese Politik bedeutet jedenfalls zur Zeit offensichtlich blutigen Krieg. Gegen die Bevölkerung der USA richtete sich die Friedensbewegung zu keinem Zeitpunkt, sondern immer gegen die Feldherrn, die jetzt beispielsweise die berüchtigten B-52-Bomber gegen die irakische Zivilbevölkerung einsetzen.
Das Argument, die Bundesrepublik müsse ihre Sonderrolle vor dem Hintergrund der deutschen Einheit und einer damit gewachsenen außenpolitischen Verantwortung aufgeben, zieht nicht; denn wenn Mitmachen Kriegführen bedeutet und das Eintreten für eine sofortige Beendigung des Krieges und eine friedliche innerarabische Lösung eine Sonderrolle begründen soll, dann sehen wir die Bundesrepublik allerdings gerne in einer solchen Sonderrolle.
Welche Logik in solchen militärischen Einsätzen liegt, zeigt sich ganz konkret an der Verlegung von Bundeswehreinheiten in die Türkei. Da sind erst Minensuchboote im Mittelmeer, dann sind es deutsche Teile der AMF-Truppe, die Alpha-Jets, die in die Türkei verlegt werden. Jetzt werden - angeblich zum Schutz dieser Jets und ihrer Piloten - weitere Waffen und Soldaten in die Türkei, aber nicht einmal nur nach Erhac, sondern an einen weiteren türkischen Ort verlegt.
Am Ende dieses Eroberungskrieges wird sich der NATO-Einflußbereich auf die Golfregion ausgeweitet haben.
Wenn Sie, die Kolleginnen und Kollegen von der SPD, inzwischen die Verlegung der Alpha-Jets für eine politische Fehlentscheidung halten, können doch nicht etwa weitere Waffenlieferungen diese Fehler korrigieren. Konsequenz muß also dann auch für Sie sein, daß alles, was an militärischem Material bis jetzt in die Türkei verbracht worden ist, wieder zurückbeordert wird. Ringen Sie sich bitte deshalb endlich auch zu dieser Forderung, die wir bereits in einem Entschließungsantrag formuliert haben, durch!
({7})
In diesem Kontext ist die entstandene Diskussion um eine Grundgesetzänderung fatal, die den Einsatz bundesdeutscher Soldaten außerhalb des NATO-Gebietes ermöglichen soll. Manche von den Damen und Herren der SPD-Fraktion haben ihre Bereitschaft zu einer solchen Änderung signalisiert, wenn damit Bundeswehr im UNO-Rahmen zum Einsatz kommt. Aber auch was das bedeutet, bekommen wir heute täglich vor Augen geführt: Vor dem Hintergrund der deutFrau Lederer
schen Einheit ist eine Grundgesetzänderung auch in dieser Richtung keinesfalls Ausdruck besonderer Verantwortung. Wir lehnen jeglichen Einsatz von Bundeswehr ab. Wir werden uns mit allen Mitteln gegen eine solche Grundgesetzänderung zur Wehr setzen, jeden und jede respektieren, die sich diesem Ansinnen widersetzen.
Schließen Sie sich der Forderung nach einer sofortigen Beendigung dieses Krieges an, damit überhaupt die Voraussetzungen, damit überhaupt ein Spielraum geschaffen wird, der eine friedliche Lösung möglich macht und nicht nur eine Pause; denn „Pause" impliziert begrifflich, daß sie irgendwann vorbei ist. Das würde dann bedeuten: Der Krieg geht weiter. Es muß aber um eine Beendigung dieses Krieges gehen. Nach dem Ende des Kalten Krieges kann nur die vollständige Entmilitarisierung die Antwort sein.
Wir machen kein Hehl daraus: So begrüßenswert eine Verankerung des Verbotes des Rüstungsexportes im Grundgesetz ist, so begrüßenswert auch ein Untersuchungsausschuß ist, wie er gestern beantragt worden ist: Diese Debatte genügt nicht, diese Maßnahmen genügen nicht, weil sie sich nur auf illegale Rüstungsexporte konzentrieren. Das kann einfach nicht ausreichen. Es kann nicht nur um illegale Rüstungsexporte gehen, die zu unterbinden sind, sondern Rüstungsexporte müssen generell verboten werden als ein Anfang zur Beendigung von Rüstungsproduktion und mit dem Ziel der Konversion auf friedliche Produktion.
({8})
Auch die Rüstungsexporte in die Türkei und nach Israel werden keinen Krieg beenden, geschweige denn auch nur ein einziges Problem in dieser Region lösen, und zwar auch nicht die Bedrohung Israels durch die scharf zu verurteilenden Angriffe des Irak. Schutz und Sicherheit für Israel kann die Bundesregierung nur dadurch schaffen, daß sie sich bei ihrem Bündnispartner Bush für eine sofortige und bedingungslose Beendigung des Krieges einsetzt.
({9})
Die Gefahr einer Einbeziehung Israels in den Krieg war den USA bei ihrer Entscheidung, am 16. Januar den Krieg zu beginnen, bewußt.
({10})
Heute wird ganz deutlich: Die Mitgliedschaft in der NATO führt in den Krieg. Die Fraktion der PDS/Linke Liste fordert daher den Austritt der BRD aus der NATO als ersten Schritt zu deren Auflösung und die Abschaffung der Wehrpflicht.
({11})
Nun hat der Abgeordnete Roth das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte mich ganz gern mit dem Wirtschaftsminister unterhalten; vielleicht kommt er ja noch.
({0})
- Ich finde, Zwischenrufe sind da nicht am Platze. Übrigens steht hier: 9 Minuten Redezeit. Das ist völlig
falsch.
Herr Abgeordneter, nun warten Sie einmal ab! Das wird eingestellt, und das wird auch korrekt eingestellt. Vertrauen Sie auf die Objektivität derjenigen, die einstellen! - Nun haben Sie das Wort.
Meine altmodische Vorstellung von Debatte ist die, daß ein Minister dann, wenn er geredet hat, wenigstens noch den Oppositionssprecher zu diesem Thema anhört.
({0})
Dehalb werde ich, solange er nicht anwensend ist,
({1}) ein paar Worte zu Herrn Rühe sagen.
Meine Damen und Herren, wie Herr Rühe die Demonstration vom vergangenen Wochenende behandelt hat, ist absolut unangemessen.
({2})
Die Behauptung, diese jungen Leute, die da demonstriert haben, seien in ihrer Versammlung antiamerikanisch gewesen, ist eine böse, eine böswillige Unterstellung.
({3})
Ich schildere einmal - vielleicht ist das eine ganz lebendige Darstellung - , das wir, meine Tochter mit ihren 18 Jahren, die an der Demonstration teilgenommen hat, und ich, diskutiert haben, über verschiedene Transparente usw. Sie hat gesagt: Wir haben demonstriert in Richtung auf die Vereinigten Staaten von Amerika.
({4})
- Herr Minister, Sie können nicht wissen, daß das Fernsehen nicht mehr da ist. Der Gag kommt gar nicht mehr in die Medien.
({5})
- Danke. Aber ich freue mich, daß Sie jetzt da sind.
Meine Tochter hat also gesagt: Wir wenden uns an die amerikanische Politik, den Kongreß, den Senat und das Repräsentantenhaus. Wir haben gesehen, daß dort von 100 Senatoren etwa 47 unserer Meinung waren und gegen den jetzigen Krieg gestimmt haben.
- Sie hat weiter gesagt: Mir ist völlig klar, daß der Diktator seine Politik nicht verändern wird, aber ich bin der Auffassung, daß nur ein verbranntes Land,
eine verbrannte Region übrigbleibt, wenn wir nicht unsere Stimme gegen diesen Krieg erheben.
({6})
Jetzt sage ich aus meiner eigenen Erfahrung etwas dazu. Es ist ja nicht so, daß ich nicht demonstrationserfahren wäre. Ich bin stolz darauf, daß ich in den Jahren 1965/66 und folgende gegen den Vietnamkrieg demonstriert habe. Ich bin froh darüber, daß der ein Ende gefunden hat.
({7})
Ich muß hinzufügen - deshalb bin ich auch gegen diesen Krieg im Nahen Osten - : Ich habe beim Vietnamkrieg gelernt, Jahr für Jahr - ich war ursprünglich ein Bewunderer nicht zuletzt von John F. Kennedy und anderen seiner Administration - , daß dieser Krieg eine verbrannte, moralisch, sozial, wirtschaftlich, politisch verbrannte Region hinterließ, die sich bis heute noch nicht erholt hat. Meine große Angst ist die: Im Nahen Osten wird eine verbrannte, zerstörte Region übrigbleiben, die nichts von den Kriegszielen erreicht, die jetzt bekundet werden. - Deshalb bin ich an der Seite der Demonstranten.
({8})
Noch ein Wort dazu, was die moralische Verantwortung anbetrifft. - Es zeichnet unsere parlamentarisch-politische Demokratie ja gerade aus, daß wir nicht nur in diesem Saal hier reden, sondern auch in vielfältiger Weise unterstützt werden durch die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Argumenten, mit ihren Aktionen, mit ihren Hinweisen. Herr Rühe, ich bin nicht gerade abonniert auf Beschimpfungen oder negative Bewertungen - ich tue das selten in diesem Hause -,
({9})
aber ich muß sagen: Die Art und Weise, die Arroganz, mit der Sie über die jungen Leute gesprochen haben, die macht mich in der Tat atemlos. Man müßte doch darüber nachdenken, warum sich 200 000 ganz Junge plötzlich in dieser Weise mobilisieren und über Zukunft nachdenken.
Meine größte Angst, meine Damen und Herren von der Koalition, ist die, daß wir zwei, drei, vier Generationen in den arabischen Ländern bekommen, die in voller Konfrontation, in voller Leidenschaft gegen das, was sie „Westen" nennen, aufwachsen. Das ist vielleicht die bitterste Folge dieses Krieges.
Die junge Generation denkt darüber nach und hat Ängste; sie redet miteinander in den Schulen über diese Ängste. In manchen Schulen in der Bundesrepublik Deutschland war tagelang kein Unterricht mehr möglich, weil die 17-, 18-, 19jährigen so bewegt waren.
({10})
- So ist Ihr Menschenbild! Wenn Sie mit 17-, 18jährigen einmal diskutieren würden, dann wüßten Sie,
daß es sich nicht um manipulierende Lehrer handelt,
sondern daß es die Empfindungen der jungen Menschen sind.
({11})
Ein Wort zu Ihnen, Minister Möllemann, bezogen auf die Waffenexporte. Erster Punkt: Ich bin froh, daß Sie bei den zehn Punkten in etwa acht Punkten in unsere Vorschläge eingeschwenkt sind. Wir haben noch mehr Vorschläge zu machen. Wir werden entweder einen eigenen Gesetzentwurf oder eine Ergänzung zu Ihren Vorschlägen bringen; das ist auch in Ordnung. Es wird dann im Wirtschaftsausschuß und im Parlament darüber lebhafte Auseinandersetzungen geben.
Nur, eines kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Möllemann. Ich sage noch einmal den Satz, auf den Gansel rekruriert hat. Sie haben im Juni 1982, als es die Auseinandersetzung über das Thema Leopard II für Saudi-Arabien gab, folgenden Satz geschrieben - ich habe die Presseerklärung in meinem Büro; wörtliches Zitat - :
Leo - das lautet von rechts nach links gelesen Oel.
Genau dieser Zynismus beim Waffengeschäft ist der Krebsschaden der Versäumnisse der letzten Jahre ursächlich gewesen - genau dieser Zynismus!
({12})
Daß wir alle uns in dieser Frage nicht Leichttun, das sieht man; ich bin da kein Pharisäer. Obgleich wir in der SPD-Fraktion den Grundsatz haben, außerhalb des Bündnisses nicht zu liefern, entscheiden wir uns in dieser bedrohlichen Situation jetzt dafür, Sie darin zu unterstützen, daß Abwehrwaffen nach Israel geliefert werden dürfen. Das zeigt das Dilemma, in dem wir in kritischen schwerwiegenden Fragen stehen. Das gilt aber nicht für die Frage, daß man im reichsten Exportland der Welt gerade mit diesen Waffen Geschäfte machen muß. Das ist der Punkt, und genau bei diesem Punkt haben Sie nach meiner Auffassung damals der Moral einen großen Schaden zugefügt. Dieser Zynismus hat lange fortgewirkt.
({13})
Herr Abgeordneter Roth, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Möllemann zu beantworten?
Ja, natürlich.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Möllemann.
Herr Kollege Roth, könnten Sie sich vorstellen, daß das Motiv Helmut Schmidts, in die Koalitionsverhandlungen 1980 - an dieser Sitzung war ich beteiligt - den Vorschlag einzubringen, den Leopard an Saudi-Arabien zu liefern, mit der strategischen Rolle dieses Landes im Zusammenhang mit der Energieversorgung begründet war? Oder könnten Sie mir erklären, welche andere als genau jene Begründung Helmut Schmidt gehabt haben könnte?
Es geht hier darum, daß wir damals in unserer Fraktion - auch das gehört zur Wahrheit - über diese Frage schwer gerungen haben und mit überwältigender Mehrheit im Juni 1982 nein zum Leopard II gesagt haben.
({0})
Das zeigt, daß es auch bei uns Diskussionen gegeben hat. Aber wir haben uns zuletzt richtig entschieden.
Übrigens erinnere ich mich lebhaft an die Diskussionsbeiträge von Helmut Schmidt. Daß Helmut Schmidt aus regionaler Sicht, aus energiepolitischer Sicht und auf Grund vieler anderer Faktoren sich eine andere Entscheidung vorstellte, als sie die SPD-Bundestagsfraktion letztlich getroffen hat, ist zutreffend. Ich erinnere mich an die Ausführungen von Schmidt. Sie waren nicht von diesem Zynismus geprägt, man müsse „Oel" von rechts lesen, dann komme „Leo" heraus. Vielmehr hat er sich diese Entscheidung weiß Gott schwer gemacht, und er hat sie nach der lebhaften Auseinandersetzung in unserer Partei auch korrigiert.
Meine Damen und Herren, ich wollte mich vor allem - das wird jetzt in dem beabsichtigten Umfang aber nicht mehr möglich sein - mit den neuen Bundesländern und der wirtschaftlichen Entwicklung dort auseinandersetzen. Mich hat schon bewegt, wie unser früherer verehrter Kollege Biedenkopf, der jetzt Ministerpräsident von Sachsen ist, und unser früherer Kollege Kühbacher, der jetzt Finanzminister von Brandenburg ist, die Lage auf dem Gebiet der neuen Bundesländer dargestellt haben.
Meine Damen und Herren, jetzt hilft es nichts mehr, wenn wir sagen: Was dort ist, ist das Ergebnis von 45 Jahren Mißwirtschaft. Das stimmt auch. Jetzt aber sind wir gefordert.
Wie haben Sie im letzten Jahr hier in diesem Hause noch von einem an der Schwelle stehenden Wirtschaftswunder geredet? Sie haben gesagt, noch im Jahre 1990 gebe es einen Umschwung. Man müsse nur die D-Mark bringen, und dann sei ein wirtschaftliches Aufleben auf dem Gebiet der neuen Bundesländer schnell zu erwarten. So haben Sie geredet. Ich habe andere Reden gehalten. Ich habe gesagt: Ich halte es für unvermeidlich, daß wir die Währungsunion durchführen. Darüber gab es bei uns ja eine Diskussion. Für mich war klar: Ohne harte Währung gibt es dort überhaupt keinen Start. Mir war aber auch sehr bewußt, daß diese Maßnahme für die damalige DDR-Industrie einen Streß mit sich bringen wird, der eine ganz entschlossene und entschiedene Industrie- und Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer verlangt.
Daraufhin hat der damalige Wirtschaftsminister Haussmann, der ja zum Teil auch deshalb jetzt nicht mehr auf seinem Posten sitzt, gesagt, das sei die Aussage von Kassandra, das sei Schlechtmachen, das sei Runtermachen. Wenn nur einmal die Unternehmer aus dem Westen hineinfahren könnten, dann würde sich das schnell bewegen. - Die Wahrheit ist: Wir haben recht behalten. Ich muß ehrlich sagen: Ich bin traurig, daß ich recht behalten habe. Es wäre viel schöner, wenn es anders gekommen wäre.
Nun hätte ich allerdings erwartet, daß in dieser Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklärung ganz konkret gesagt wird, wie es für die sich in einer wirklichen Krisenspirale befindenden Regionen der neuen Bundesländer industriepolitisch weitergehen soll. In welchen Punkten? Nur ein Fall: Wenn ich höre, daß das auf dem Gebiet der früheren DDR angesiedelte viel gerühmte Industrieunternehmen Carl Zeiss, Jena, von 29 000 Beschäftigten 19 000 entlassen muß und nur 10 000 übrig bleiben, dann bedeutet das, daß der beste Teil der früheren DDR-Wirtschaft in dieser Weltwirtschaft überhaupt nicht überlebensfähig ist. Nun ist das so. Man kann nicht auf der einen Seite ja sagen zur Weltwirtschaft und sich auf der anderen Seite anschließend aber wundern, wenn man nicht wettbewerbsfähig ist. Meine Damen und Herren, wir haben auch im Westen nach der Währungsreform in den Jahren 1948/49 eine handfeste Industriepolitik betrieb en, um derartige selbstzerstörerische Prozesse aufzufangen, die im marktwirtschaftlichen Wettbewerb - insbesondere dann, wenn er international ist - durchaus vorkommen können.
Ich nenne jetzt nur ein einfaches Beispiel, um einmal diesen Punkt verständlich zu machen. Die Region Braunschweig/Wolfsburg östlich von Hannover hätte nie eine Erholungsphase bekommen, wenn der Staat damals nicht gesagt hätte: Wir finanzieren und aktivieren VW in Wolfsburg und die Firma Salzgitter in Salzgitter durch staatliche industriepolitische Maßnahmen. Das ist übrigens durch Ludwig Erhard geschehen; um daran einmal zu erinnern. Ludwig Erhard hat damit auch die Idee verbunden, daß sich der Staat schrittweise zurückzieht, wenn sich eine marktwirtschaftliche Belebung dieser Region ergibt. Das ist geschehen. Das Dreieck Hannover, Salzgitter, Wolfsburg ist heute keine Armutsregion mehr. VW wurde privatisiert; im letzten Schritt noch Teile von Salzgitter. Meine Damen und Herren, warum gönnen Sie diese industriepolitische Strategie eigentlich den neuen Bundesländern nicht? Warum diese chaotische Entscheidungssituation in der Treuhand? Die Treuhand ist ein großer Klotz.
Schlau ist er ja, der Bundeskanzler. An die Spitze hat er einen Sozialdemokraten gesetzt in der Hoffnung, dann könnten wir ihn nicht kritisieren. Mir geht es nicht um Rohwedder; mir geht es darum, daß man mit diesem Körper nicht einmal einen mittelständischen Betrieb leiten könnte. Dieses Versäumnis haben Sie zu verantworten, seit dem letzten Jahr.
({1})
Oder nehmen wir die Frage des Bodenrechts und des Eigentumsrechts. Es ist ja auch seltsam, daß zu einem Sozialdemokraten, zu mir da oben im Büro, viele Industrielle kommen und fragen: Können Sie uns nicht helfen und nicht ein gutes Wort bei Rohwedder und anderen einlegen? Wir kommen nicht zurecht. Wir haben etwas vor, und wir kommen nicht an geschlossene Industriegrundstücke.
Ich habe Sie letztes Jahr bei der Debatte über den Staatsvertrag gewarnt. Ich habe nämlich einmal in Berlin eine Erfahrung gemacht; diese ist ganz schlicht. Das Haus, in dem ich wohnte, hatte auf Grund von Erbfällen vier Eigentümer. Ein Eigentümer war in Tel Aviv, ein anderer Eigentümer - es war eine jüdische
Familie - war in Südamerika, ein dritter war in New York und ein vierter in London. Die Eigentumsverhältnisse waren ungeklärt. Das Haus, ein herrliches Gründerzeithaus, eigentlich ein Baudenkmal, ist verkommen, weil sich die vier nie über Investitionen und Entscheidungen einigen konnten. Sie haben eine derartige Situation im Staatsvertrag geradezu festgeschrieben.
Wir mußten für bessere Lösungen für die neuen Bundesländer kämpfen. Herr Krause hat unter dem Einfluß von Herrn Kinkel an dieser Stelle die Ideologie des Liberalismus umgesetzt. Er war in der Auseinandersetzung nicht wirklich an unserer Seite. Wir haben dann letztlich einen Kompromiß akzeptiert, damit es überhaupt fertig wurde. Aber es hat nicht funktioniert. Dafür gibt es Beispiele.
Ein schlimmes Beispiel ist, daß Sie die Gemeinden auf dem Gebiet der neuen Bundesländer so schlecht ausstatten; Kühbacher hat es gesagt. Ich meine, jedermann von uns weiß, daß die Infrastruktur und die Leistungsfähigkeit der Gemeinde die wichtigste Voraussetzung ist, wenn man Mittelstand will. In welcher komischen Welt lebe ich zur Zeit?
Da treten auf Verbandskongressen in allen möglichen Bereichen, im Metallbereich und im Chemiebereich, Geschäftsführer als Redner auf das Podium und erklären, das schlimmste Investitionshemmnis auf dem Gebiet der neuen Bundesländer sei, daß die Verwaltung nicht funktioniere. Na, vor Tische haben wir es anders gehört. Vor Tische haben wir gehört, daß wir viel zuviel Staat haben. Jetzt sagen sie: Uns fehlt der Staat mit seiner ordnenden Macht. Das Geheimnis der westdeutschen Sozialen Marktwirtschaft war ja immer, daß staatliche Leistungsfähigkeit, schnelle Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung und auch Voraussetzungen der öffentlichen Verwaltung für private Investitionen, für den marktwirtschaftlichen Prozeß gegeben waren. Aber diese Bundesregierung hat sich aus irgendwelchen ideologischen Gesichtspunkten heraus gar nicht dazu bereit gefunden, das Fundament der öffentlichen Verwaltung und der Einzelentscheidung für Investoren, nämlich die Gemeinden, so auszustatten, daß es funktioniert.
Meine Damen und Herren, ich komme noch einmal zu meiner Aussage - dazu stehe ich auch - : Natürlich war das Ergebnis der letzten 45 Jahre verheerend. Niemand von Ihnen hat zu verantworten, daß Zeiss ({2}) so viel schlechter ist als Zeiss ({3}). Das ist völlig richtig. Aber darüber hatten wir uns verständigt. Statt daß Sie jetzt Förderungsvorsprünge für die neuen Bundesländer schaffen, die einen westdeutschen Unternehmer geradezu zwingen, im Osten zu investieren, haben Sie eine minimale Differenz zwischen dem Zonenrand und anderen regional benachteiligten Gebieten im Westen und den neuen Bundesländern.
({4})
- Graf Lambsdorff, ich habe vorgeschlagen - dazu stehe ich - , erstens eine Sofortabschreibung in den neuen Bundesländern zuzulassen. Dann wäre jeder Finanzchef in jedem Industrieunternehmen gezwungen, neu nachdzudenken, ob eine Neuinvestition nicht im Osten gewagt wird. Würde er es nicht tun, müßte er hier mehr Steuern zahlen.
({5})
Zweitens habe ich vorgeschlagen eine pauschale Investitionszulage von 25 % ohne Versteuerung zu geben - Sie besteuern ja immer noch die I-Zulage - und, wenn das nicht ausreicht, noch etwas dazuzugeben. Sie machen hier Rechentricks. Es ist nicht viel mehr als im Westen. Meine Meinung ist, Sie müssen an dieser Stelle umdenken, und zwar auch im Interesse der westdeutschen Bevölkerung.
Herr Abgeordneter Roth, dies veranlaßt den Grafen Lambsdorff, eine Frage zu stellen, die Sie sicherlich beantworten werden.
({0})
Graf Lambsdorff!
So schwierig ist die Prognosetätigkeit in diesem Fall nicht, Herr Kollege Roth.
Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir über die steuerfreie I-Zulage aus meiner Sicht gern miteinander sprechen können - das ist nur eine Frage, wie das vom Finanzaufkommen her gesehen werden kann - , daß ich aber erhebliche Bedenken habe, eine Sonderabschreibung, gar eine volle Abschreibung auf Investitionen in den fünf neuen Bundesländern in den Bilanzen der westdeutschen Firmen zuzulassen? Das, Herr Roth, würde dazu führen, daß Sie westdeutschen Investoren einen totalen Wettbewerbsvorteil im Vergleich zu japanischen, belgischen oder englischen Investoren einräumen würden. Dies hielte ich allerdings für falsch.
Verehrter Graf Lambsdorff! Es gibt auf der Welt einige Steuersysteme mit Sofortabschreibungen. Dort ist dasselbe Problem vorhanden. Ich würde das aber nicht auf Dauer machen. Ich würde das zeitlich befristen, auf vier, fünf Jahre. Das ist eine Situation, die mit der aller anderen Länder unvergleichbar ist, daß nämlich eine Region in eine andere Region integriert wird, die 40 % der Produktivität und der Leistungsfähigkeit der anderen Region hat. Meine Damen und Herren, das bedeutet doch, wenn ich nicht mit drastischen Instrumenten herangehe, daß die Leute abwandern. Ihr Gerede von den niedrigen Löhnen ist doch die beste Droge zum Abwandern. Die sagen sich: Auch in einigen Jahren verdiene ich noch so viel weniger für dieselbe Leistung.
Im Nordschwarzwald, woher ich komme, gibt es zur Zeit keinen Arbeitskräftebedarf mehr im Gastronomiegewerbe. Vor zwei, drei Jahren konnten sie kaum offenhalten, weil sie keine Leute fanden. Woher kommen sie jetzt? Alle sprechen entweder thüringisch oder sächsisch oder, noch schöner, sie sprechen wie die von der Küste. Als Schwabe darf ich „noch schöner" sagen.
Die ganze Philosophie, daß wir dort nicht so handfest mit Förderungsmaßnahmen herangehen dürften,
geht doch an der Wirklichkeit vorbei. Die Menschen sind mobil. Sie, Graf, sind ja auch einer: Vor drei, vier Jahren haben Sie immer gesagt, daß die von der Küste in den Süden ziehen und mobil werden sollten. Jetzt haben wir Mobilität, und jetzt wundern Sie sich über die Mobilität. Wir wollen keine Mobilität, sondern wir wollen Menschen, die in ihrer Heimat Arbeit und Lohn sowie gute soziale Verhältnisse finden. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung und der Opposition.
({0})
Graf Lambsdorff, das Ende der Rede bestimmt der Redner selbst. Wenn Sie eine Kurzintervention machen wollen, selbstverständlich!
Herr Präsident! Herzlichen Dank. So ist es.
Lieber Herr Roth, ich wundere mich nicht über Mobilität. Ich beklage diesen Umfang von Mobilität. Ich bestreite Ihre Feststellung, wir hätten es in den fünf neuen Bundesländern mit einer unvergleichlichen Situation zu tun. Sie haben das im Zusammenhang mit anderen Ländern so gesagt. Andere Länder, die Sie genausogut kennen wie ich - nehmen Sie Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei -, haben es unvergleichlich schwerer als die fünf neuen Bundesländer.
Das Thema niedrige Löhne, Herr Roth, ist nicht der entscheidende Punkt. Es ist auch ein wichtiger Punkt, daß Löhne und Produktivität einigermaßen in Einklang stehen. Aber eine niedrige personale Besteuerung, für die Sie uns Ihre Unterstützung leider versagt haben, hätte dem natürlich nachhelfen können.
Zu einer Erwiderung der Abgeordnete Roth!
Herr Präsident! Graf Lambsdorff! Der Unterschied zwischen der CSFR und den neuen Bundesländern ist folgender: Die CSFR ist ein einigermaßen geschlossenes Wirtschaftssystem mit hohen Wanderungsschwellen. Wir haben zum Glück keinerlei Grenze zwischen Ost und West in Deutschland. Das war übrigens genau der Grund, Graf Lambsdorff, weshalb ich mich trotz gewisser Bedenken, was die industriepolitische Entwicklung anbetrifft, für die Währungsunion ausgesprochen habe. Denn in einem Land ohne Grenzen gibt es nicht zwei Währungen. Das wäre absurd.
Vielleicht können wir uns einigen. Wir gehen wie Herr Möllemann hinunter und diskutieren dort weiter.
Nun hat das Wort der Minister Dr. Krause.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zu drei Schwerpunkten Stellung nehmen. Erster Schwerpunkt: die unterschiedlichen Beiträge, die heute in Sachen Einigungsvertrag/Währungsunion
schon diskutiert worden sind. Zweiter Schwerpunkt: Fragestellung, inwieweit die Aufbauprozesse zu organisieren sind. Dritter Schwerpunkt: zur Verkehrspolitik.
Zum ersten. Herr Kühbacher, Sie haben mich aufgefordert, Platz zu nehmen, um meiner Aufgabe nachzukommen. Ich habe die Aufgabe aber bereits mitgebracht: in Sachen ÖPNV. Ich zitiere nur den Einigungsvertrag und würde das Land Brandenburg bitten, nach dem Einigungsvertrag zu verfahren. Dann hätten Sie einige Probleme weniger. Beispielsweise ist in Art. 15 Abs. 3 geregelt, daß in allen Fällen, wo Sie selbst nicht in der Lage sind, die Verwaltungsleistungen im Land zu realisieren, die Verwaltungsleistungen durch den Bund übernommen werden. Mit Schreiben vom Bundeswirtschaftsministerium und vom Bundesverkehrsministerium haben wir Sie darauf hingewiesen, wie wir Ihnen die Organisation der Subventionen vorschlagen. Das Land Thüringen beispielsweise hat für diese Aufgabe 250 Millionen DM im Landeshaushalt berücksichtigt. Nach unseren Rechnungen fehlen 8,3 Millionen DM. Das Land Sachsen-Anhalt hat diese Aufgabe ebenfalls berücksichtigt, auch die Länder Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Das Land Brandenburg hat diesen Haushaltstitel einfach nicht aufgenommen, hat auch nicht um die Verwaltungshilfe nachgesucht. Ich denke, bei aller Polemik, die den Schauspieleinstand in einer solchen Debatte erhöht, sollten wir ganz ruhig, sachlich und informativ die Probleme klären.
Zum Punkt 2. Ich sage noch einmal deutlich zum Art. 7 des Einigungsvertrages die unterschiedlichen Prämissen, die man beachten muß. Der Grundsatz der damaligen DDR-Regierung war, einen Einigungsvertrag nur mit einem Länderfinanzausgleich abzuschließen. Ich würde mich freuen, wenn die SPD-Politiker, die seinerzeit am Verhandlungstisch gegen einen Länderfinanzausgleich argumentiert haben, heute die Ehrlichkeit besäßen, zuzugeben, daß die Erfahrungen, die sie in der DDR gesammelt haben, diesen Weg jetzt als richtig charakterisieren.
({0})
Ich kann nachweisen: Wir haben in unserem Entwurf zum Einigungsvertrag mit 130 Prozent begonnen und wollten diesen Betrag degressiv abbauen, weil wir prognostiziert haben, daß die Mehreinnahmen in den westdeutschen Ländern auf Grund des KonsumNachholens im Osten am Anfang größer sein werden und dann über die im Vertrag vereinbarten Instrumentarien auslaufen werden. Wir haben als Notbremse darauf bestanden, daß nach Art. 7 Abs. 6 grundsätzlich zu verhandeln ist, wenn die Nichtfinanzierbarkeit eines Landes gegeben ist. Wir haben dann in Rechtsnachfolge der bisherigen DDR jedem Land das Instrumentarium in Art. 44 in die Hand gegeben, die Möglichkeit zu arbeiten auch einklagen zu können. - Das zur sachlichen Darstellung, wer zu welchem Zeitpunkt wann was für die ostdeutschen Länder geleistet hat. Es ist ja sehr schön, daß im Prozeß des Zusammenwachsens der Deutschen immer mehr den Eindruck gewinnen, daß wir schon damals einiges richtig eingeschätzt haben.
Etwas zu den Vorstellungen meines ehemaligen Kollegen Romberg. Die Finanzvorstellungen des Kol170
legen Romberg waren in der Sache völlig andere. Seine Vorstellung war eine weitere Erhöhung der Nettokreditaufnahme des Bundes. Die Theorie war nämlich, den Fonds Deutsche Einheit auf 230 Milliarden DM zu verdoppeln, ohne die Geldmengenpolitik zu beachten. Wir wollen „Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden" jetzt schrittweise gemeinsam durchsetzen. Ich bin dankbar, daß uns das der Vorsitzende Ihrer Fraktion heute morgen angeboten hat.
({1})
- Ich bin von anderen Politikern als Laienspieler diffamiert worden. Das gehört wahrscheinlich zu Ihrem Stil. Wir gehen üblicherweise menschlicher miteinander um. Vielleicht lernen Sie das noch dazu.
({2})
Es wäre schön, wenn Sie das lernen könnten. Ich brauche mich da nicht zu schämen.
({3})
In der Sache - ich sage es deutlich - gab es einen Streit darüber, welches Modell der Finanzierung durchgesetzt wird: entweder das Modell, das wir jetzt gemeinsam anstreben - Teilung wird durch Teilen überwunden - , oder ein Modell der unerträglichen Nettokreditaufnahme. Das hat sich jetzt als falsch erwiesen. Deshalb meine ich, unsere Beiträge waren schon richtig. Auch wenn es wehtut, kann man ja in einem halben Jahr einmal etwas dazulernen.
Der Aufbau und die Organisation des Aufbaus müssen mit Zahlen fundiert begründet werden. Ich stimme in einem Punkt zu: Es ist falsch, nur immer über die Mißwirtschaft zu reden und keine Zahlen zu nennen. Ich nenne zwei Zahlen, die wir am 18. März von der Vorgängerregierung in der damaligen DDR geerbt haben. Die erste Zahl: Von vier Produkten war am 19. März nur eines marktfähig: drei Produkte waren nicht marktfähig. Die zweite Zahl: Mit der Grenzöffnung am 9. November 1989 ist für die damaligen DDR-Bürger auch im Konsumangebot aus einem kontrollierten Binnenmarkt ein normaler, weltoffener Markt geworden. Das sind die beiden Sachverhalte, die wir bei aller Diskussion darüber berücksichtigen sollten, wie das Wirtschaftssystem umzustrukturieren ist.
Nächster Sachverhalt: Es ging den DDR-Bürgern, Herr Kollege Roth, nicht nur darum, schnell die D-Mark einzuführen, sondern darum, ein Wirtschaftssystem einzuführen, welches nach einer Aufbauphase auch lohnende Ergebnisse bringt. Es wundert mich, weshalb Sie nicht einmal die Vergangenheit Westdeutschlands anführen. Beispielsweise mußte sich in den ersten sieben Jahren bis 1955, im Umstrukturierungsprozeß, jeder zweite Arbeitnehmer in Westdeutschland einen anderen beruflichen Weg suchen.
({4})
- Natürlich mußte das sein. Von etwas anderem reden wir doch jetzt auch nicht. Wir sind jetzt im siebenten Monat der Marktwirtschaft und nicht im zehnten Jahr.
({5})
Wir sollten doch die Verhältnisse nicht verwechseln. Die Nutzung der Währungsunion hat den Deutschen im Osten Geldwertstabilität gebracht. Es ist bedauerlich, daß die anderen osteuropäischen Länder diesen Vorzug nicht haben. So sollten wir diesen Umstrukturierungsprozeß einschätzen und nicht anders.
({6})
Über die Förderungsmaßnahmen im Rahmen der Währungsunion und des Einigungsvertrages müssen wir weiter diskutieren. Dabei sollten wir aber fair miteinander umgehen. Beispielsweise müssen wir zugeben, daß die Zahl von 300 000 Existenzgründungen, die nachweisbar ist, und die Zahl von 500 000 neuen Arbeitsplätzen, die die damalige DDR-Regierung noch für das Jahr 1990 prognostiziert hat - ich darf Sie an heute morgen erinnern, Herr Modrow - , gar nicht so weit auseinanderliegen. Denn bei diesen Existenzgründungen sind häufig Beschäftigungsverhältnisse mit mehreren Arbeitnehmer begründet worden. Daher verstehe ich nicht, warum Sie davon reden, daß etwas nicht stimmt.
Die andere Seite sind die Umschuldungsmaßnahmen. Hier möchte ich eine Zahl nennen, damit wir uns gemeinsam der Größenordnung der Aufgabe bewußt werden: In den nächsten Jahren müssen wir etwa 2,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer umschulen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, da gebe ich Ihnen recht.
({7})
Wir dürfen nicht nur über Kurzarbeit reden, sondern wir müssen verstärkt über ABM-Maßnahmen reden. Hier muß ich deutlich sagen, daß die ABM-Mittel im letzten Jahr eben nicht genutzt worden sind.
({8})
Wir sind gern bereit, analog dem Art. 15 des Einigungsvertrages Verwaltungshilfe für die Länder zu leisten. Sie können sicher sein, daß ich in meiner neuen Aufgabe als Verkehrsminister das Mittel der ABM-Maßnahmen für die sechs neuen ostdeutschen Länder in Abstimmung mit dem Arbeitsministerium nutzen werde.
({9})
Ich möchte in den noch verbleibenden vier Minuten kurz etwas zur Verkehrssituation des Ostens sagen. Die Verkehrssituation des Ostens repräsentiert die Wirtschaftsschwäche, repräsentiert den Rückstand, repräsentiert aber zugleich auch die Hoffnung. Ich möchte daran erinnern, daß trotz im Westen gemachter Fehler in der Wirtschaftsstruktur die relativ zum Osten gut entwickelte Verkehrsinfrastruktur des Westens einen der entscheidenden Vorzüge für die gesamte Wirtschaft, vor allem für den Mittelstand, darBundesminister Dr. Krause
stellt. Deshalb werden wir, wenn wir über die Entwicklung des Verkehrs reden, auch daran denken müssen, die Verkehrsträger im Osten insgesamt zu entwickeln, während es im Westen darum geht, wesentlich umweltfeundlicher als bisher unterschiedliche Verkehrsträger zu nutzen.
({10})
Ich möchte es einfach ausdrücken: Die Entwicklung des Verkehrs im Osten ist in zweifacher Hinsicht Motor. Wir werden durch den Aufbau eines modernen Verkehrsnetzes einen aktiven Beitrag zum Beginn der Konjunktur leisten. Das kann ich an dieser Stelle belegen. Als die Währungsunion am 1. Juli eingeführt wurde, habe ich immer darauf hingewiesen, daß wir den Tiefpunkt erst nach sechs bis zwölf Monaten durchschreiten würden.
({11})
Ich weiß nicht, woher es stammt, daß wir gesagt hätten, daß es nach der Einführung der D-Mark und der Umstellung sofort anders werde.
({12})
- Jetzt stehe ich hier am Rednerpult. Ich bin heute von einigen Kollegen genannt und von einem ehemaligen Mitglied Ihrer Bundestagsfraktion zum Setzen aufgefordert worden. Wie ich meine, habe ich die Zeit gut genutzt, um ihm praktische Hinweise für seine Arbeit im Land Brandenburg mitzugeben.
({13})
Wir werden weitaus mehr, als es bisher der Fall war, darauf achten, in den Mittelpunkt unserer Bemühungen die Eisenbahn in Deutschland zu stellen. Wir sind auch der Meinung, daß es aufhören muß, die Identität der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, für die Probleme direkt verantwortlich zu machen. Deshalb werde ich mich bewußt und engagiert dafür einsetzen, daß der Beruf des Eisenbahners wieder einer wird, der mit Anstand und Würde verbunden wird.
({14})
Das ist der erste Weg, um Motivation und Durchsetzungskraft zu realisieren.
({15})
- Daß Sie im menschlichen Umgang Probleme haben, das ist mir völlig klar.
({16})
Ich lege großen Wert darauf, daß die zwischenmenschlichen Beziehungen funktionieren.
({17}) Gewiß ist auch das Verkehrspolitik.
Ein dritter Schwerpunkt: Wir werden dafür sorgen
- hoffentlich auch mit der Unterstützung der Opposition -, daß wir in möglichst kurzer Zeit mindestens für das Beitrittsgebiet zu einer Fristenverkürzung bei Genehmigungsverfahren kommen. Ich hoffe, daß Sie uns dabei unterstützen, damit die Konjunktur beginnen kann; denn Genehmigungsverfahren von 10 bis 15 Jahren würden den wirtschaftlichen Aufschwung von vornherein verhindern.
({18})
Wir werden uns dafür einsetzen, wesentlich stärker als bisher vernetzte Strukturen im Verkehr zu nutzen. Ich bin der Meinung, daß der Verkehrswegeplan nicht kurzsichtig nur aus der Sicht der vollzogenen deutschen Einheit zu sehen ist, sondern von der Perspektive her Deutschland als Transitland im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft berücksichtigen muß.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hoffen, daß wie hier im Parlament gemeinsam aktiv darüber streiten können, wenn der Verkehrswegeplan vorliegt, daß auch die westdeutschen Länder aktiv einen Beitrag leisten, um Umschichtungsaufgaben im Bundeshaushalt in Richtung Osten zu unterstützen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Zu einer kurzen Erwiderung gebe ich dem Finanzminister des Landes Brandenburg, Herrn Kühbacher, das Wort.
Minister Kühbacher ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jetzt passiert hier etwas, was sicherlich auch neu in diesem Bundestag ist. Der Landesminister des Landes Brandenburg bedankt sich ganz ausdrücklich beim Bundesminister für Verkehr der Bundesrepublik Deutschland, bei Herrn Krause.
({1})
Herr Krause, da Sie ja auf beiden Seiten des Einigungsvertrages im besten Sinne des Wortes gesessen haben, nehme ich Ihre Belehrung hier ausdrücklich dankend an. Ich habe hier einen Brief, den ich Ihnen jetzt sofort überreiche:
Land Brandenburg an die Bundesregierung
Unter der Voraussetzung, daß die vom Bund hier mündlich angebotene Verwaltungshilfe nach Artikel 15 des Einigungsvertrages auch die erforderliche Finanzierungshilfe beinhaltet, beantrage ich diese für die Komplexe 1. ÖPNV - Öffentlicher Personennahverkehr -, 2. Bewirtschaftung des öffentlichen Wohnungsbestandes bei Gesellschaften, Genossenschaften und Kommunen.
Für das Land Brandenburg
Kühbacher, Finanzminister
Herr Präsident, ich hinterlasse Ihnen dieses Dokument, weil ich denke, das ist ein Punkt, den man einklagen muß.
({2})
Herr Minister, Sie kennen ja noch die alten Sitten des Hauses. Es ist unzu172
Vizepräsident Cronenberg
lässig, daß Sie diesen Teil des Plenums betreten. Ich muß Sie formal darauf aufmerksam machen.
Minister Kühbacher ({0}): Ich habe dies heute schon einmal gehört. Ich denke, ich muß das seitens des Bundesrates sagen: Wenn die Bundesregierung durch den Bundesrat nur über die Toilette zu erreichen ist, muß ich diesen Weg wählen.
({1})
Damit ist die Zulässigkeit keinesfalls bewiesen. Im übrigen werde ich den Brief selbstverständlich zusätzlich noch einmal übermitteln.
Nun hat der Abgeordnete Dr. Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stehe vor einer doppelten Schwierigkeit. Einerseits beschleichen mich die Gefühle des Grafen Lambsdorff hinsichtlich der Mobilität der Abgeordneten, und die Abgeordneten-Damen sind ja auch sehr mobil. Die, mit denen man gerne diskutieren möchte, sind alle gar nicht mehr da.
({0})
Aber Herr Krause ist da. Da muß ich mich nun wieder sehr bezähmen, daß ich nicht lange gehegte Dispute aus der Volkskammer fortsetze.
({1})
- Ja, es betrifft also alle.
({2})
Zwei Dinge muß ich nun doch in Richtung auf Herrn Minister Krause bemerken.
Erstens. Es wäre gut gewesen, Herr Krause, wenn Sie bei jener Auseinandersetzung in der Volkskammer, als Sie Minister Romberg, Ihren damaligen Kollegen, in rüdester Weise angriffen, davon gesprochen hätten, daß es sich um eine sachliche Auseinandersetzung gehandelt habe und nicht um persönliches Versagen von Minister Romberg, so wie Sie das jetzt klargestellt haben. Ich bin natürlich froh, daß es vor der Öffentlichkeit des Bundestages nunmehr geschehen ist.
Zweitens. Zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen! Da muß ich mich volkstümlich ausdrücken und sagen, das ist einer der ältesten Hüte. Frau Dr. Hildebrandt hat mehr als einmal öffentlich erklärt, warum das nicht funktioniert, so wie das heute auch demonstriert worden ist.
Nun komme ich zu meinen Punkten. Ich habe zweierlei zur Debatte zu stellen. Beides bezieht sich auf Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung. Mein Eindruck ist, daß die Regierung, vor allen Dingen der Herr Bundeskanzler, so wie er das heute getan hat, auch zu meiner Genugtuung, sehr viel Richtiges gesagt hat. Nur, er hat es unkonkret gesagt und hat uns völlig im unklaren gelassen, was denn die Konsequenzen seiner richtigen Ankündigungen sein möchten.
Nun ein Wort zur sehr ernsten außenpolitischen Lage, in der wir uns befinden. Ich gehöre auch zu den Demonstrierern. Ich fühle mich auch beschwert, wenn den Demonstraten ungeheuerliche Motive unterstellt werden. Ich möchte aber eines sagen. Ich habe mit zwei Kolleginnen aus diesem Grunde einen Besuch im Bundeskanzleramt gemacht. Ich hatte den Eindruck, daß die Regierung dieses Landes die Sorgen der Demonstranten sehr viel besser versteht als diejenigen, die heute gesprochen und unter anderem über Bischof Forck gesprochen haben, der ja vielleicht nicht immer recht hat,
({3})
aber gewiß nicht darüber belehrt werden muß, wer in seinem Soldatendienst uns Hilfe geleistet und uns befreit hat. Das war nun wirklich eine Tonart, die ich als unangemessen ansehen muß.
({4})
Nun will ich drei Dinge ansprechen. In der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers steht folgender Satz - das hängt noch mit den Dingen zusammen, von denen ich soeben gesprochen habe - , der mich sehr nachdenklich und sogar unruhig gemacht hat: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. "
({5})
- Bitte bedenken Sie, was ich jetzt hinzufügen muß. Ich füge nämlich hinzu: Wenn sich irgendwo in dieser Welt, vor allen Dingen in der jetzigen Sowjetunion, Juden bedroht fühlen, dann ist die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland, koste es, was es wolle. Bitte denken Sie darüber nach, ob man in diesem Fall den Satz aus der Regierungserklärung in dieser Form aufrechterhalten kann!
Nun zu dem, was der Herr Bundeskanzler vorhin gesagt hat. Ich fand sehr gut, daß er vom Teilen gesprochen hat. Ich finde ebenfalls gut, was auf den Seiten 9 und 10 seiner Erklärung steht. Der Herr Bundespräsident hat zum Teilen aber nun schon mehr als einmal aufgefordert. Die Regierung muß dazu etwas mehr sagen als der Bundespräsident: Erstens: Wer teilt? Zweitens: Wie teilt man? Drittens: Wem wird was zugeteilt?
Ich könnte jetzt lange Geschichten darüber erzählen, was das Bündnis 90 alles in Richtung auf die damalige CDU-Koalition in der alten DDR warnend gesagt hat. Wir hatten unter anderem die Kommunen nicht vergessen. Wir hatten einen Gesetzesvorschlag gemacht, der sogar angenommen wurde, der freilich inzwischen angesichts der Zustände, die Minister Kühbacher geschildert hat, völlig unwirksam ist. Die Bürgerbewegung hat nicht ohne Grund darauf gedrängt, daß die Treuhandanstalt eingerichtet wurde. Meine Damen und Herren, wir haben allerdings im Februar 1990 dazu einen Gesetzentwurf eingebracht, der vorsah, daß die Treuhandanstalt auf Landesebene vorzubereiten sei, weil wir davon ausgingen, daß die DDR nicht mehr lange existieren würde. Dieser Entwurf ist nie angenommen worden. Jetzt haben wir eine Situation, wir Herr Roth sie vorhin geschildert hat.
Ich will konkret zu zwei Punkten der Treuhandanstalt Stellung nehmen; der eine ist die Rechtslage. Es ist unerträglich, zu sehen, was alles hier von seiten der Regierung unterbleibt, wenn man weiß, worin die Schwierigkeiten liegen. Sie liegen einmal darin, daß die Eigentumsverhältnisse nicht nur in der ehemaligen DDR, sondern auf dem ganzen Gebiet des ehemaligen Reiches so verworren sind, weil es Arisierungsgesetze der nationalsozialistischen Regierung gibt, die immer noch nicht außer Kraft gesetzt worden sind. Das ist schleunigst durchzuführen,
({6})
damit man überhaupt erst durchgreifende Maßnahmen einer neuen Eigentumsordnung anstoßen kann.
Zum zweiten Punkt: Ich muß nun auf die SED-Zeit zu sprechen kommen. Wir haben die Treuhandanstalt einrichten lassen, weil wir uns dessen bewußt waren, daß es ein schwer abschätzbares Ausmaß der Verschuldung des ehemaligen SED-Staates gegenüber seinen Bürgern gab, die über vier Jahrzehnte hinweg den Ertrag ihrer Arbeit durch zu niedrige Löhne und Renten nicht bekommen haben.
({7})
Der Ertrag ihrer Arbeit ist in eine krebsartig wuchernde, parasitäre Bürokratie geflossen:
({8})
Das war für uns der Anlaß, die Errichtung dieser Anstalt zu betreiben.
({9})
- Es geht mir von meiner Redezeit ab, wenn ich jetzt unterbreche. Bitte hören Sie zu, denn das ist wichtig.
({10})
Damit dieses der Bevölkerung entfremdete Eigentum ihr zurückgegeben werden kann, haben wir die Errichtung der Treuhandanstalt betrieben. Sowohl im ersten Staatsvertrag als auch in der Präambel des Treuhandgesetzes vom 17. Juni und zuletzt noch im Einigungsvertrag sind diese Rechte der Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich anerkannt worden.
Ich frage nun: Wann endlich erfahren wir von der Regierung bzw. vom Finanzminister, der zuständig ist, wie es mit diesen Rechten steht? Ich weiß natürlich sehr wohl, daß gegen unseren Widerstand diese Rechte nur in Form einer Kann-Bestimmung, die an bestimmte Bedingungen geknüpft worden ist, in die Vertragstexte eingegangen sind. Aber es kann doch nicht sein, daß diese Rechte, auf die die Bürgerinnen und Bürger im Gebiet der ehemaligen DDR Anspruch haben, aus einem Gesetzestext in den anderen weitergeschrieben werden. Wenn das Geld bei der Treuhandanstalt nicht mehr vorhanden ist, was ich fast befürchte, dann hat die Regierung hier eine Erklärungspflicht gegenüber diesen Bürgerinnen und Bürgern, denen gegenüber sie sich verpflichtet hat, wenn auch in einer sehr schwachen Form.
Ich frage die Bundesregierung, ob sie hier abermals wortbrüchig werden will, sogar gegen ihre eigenen Gesetzestexte.
Meine Zeit ist abgelaufen, Herr Präsident.
({11})
Nicht ganz, Herr Abgeordneter Dr. Ullmann, aber fast.
Dann erlauben Sie mir, noch auf eine Passage der Koalitionsvereinbarung einzugehen, über die ich mich sehr wundere. Da geht es um Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes. Die Koalitionspartner sind übereingekommen, Bundestag und Bundesrat sollen aus ihrer Mitte ein paritätisch zusammengesetztes Gremium berufen, das gemeinsam darüber beraten soll, welche Verfassungsänderungen den gesetzgebenden Körperschaften vorgeschlagen werden. Der Beschlußvorschlag ist Grundlage für Initiativen zur Verfassungsänderung nach Art. 76 des Grundgesetzes.
Ich wundere mich maßlos, weil die Passage über Grundgesetzänderungen in meinem Grundgesetz unter Art. 79 steht. Das sage ich nicht zum Zweck der Schulmeisterei, sondern ich frage die Koalitionspartner: Was haben Sie sich bei diesem Minimalismus eigentlich gedacht? Wir haben heute gehört, wie das Verhältnis von Bund und Ländern aussieht. Wir haben gehört, wie die Finanzverfassung des Bundes ist.
Der Herr Bundeskanzler hat ausdrücklich gesagt: Hier muß vor 1995 etwas geschehen. Er hat in seiner Regierungserklärung etwas sehr Einleuchtendes vorgeschlagen, nämlich einen sozialen Dialog aller gesellschaftlich wichtigen Kräfte. Wenn der Bundeskanzler einen so einleuchtenden Vorschlag macht, dann wundere ich mich, wieso die Koalitionsvereinbarung dann nicht das Verfahren wählt, das in jeder Demokratie für einen solchen sozialen Dialog aller gesellschaftlich relevanten Kräfte gewählt wird.
({0})
- Jetzt erkläre ich, Herr Bötsch.
({1})
Herr Abgeordneter Bötsch, ich wäre dankbar, wenn Sie den Redner, der seine Zeit jetzt ohnehin überschritten hat, nicht noch in Versuchung führten, längere Ausführungen zu machen.
({0})
Das drohe ich Ihnen an. - Ich frage Sie: Sie sind christliche Demokraten; woher dieses Mißtrauen gegenüber der Demokratie, das sich in diesem Minimalismus ausdrückt?
({0})
Ist dieser Kleinglaube denn christlich, Herr Bötsch?
({1})
Und bei den Liberalen! Da wundere ich mich überhaupt, daß Sie das unterschrieben haben. Die Partei von Frau Hamm-Brücher! Das verstehe ich nicht.
({2})
Herr Dr. Ullmann, jetzt bringen Sie den Präsidenten aber ernsthaft in Verlegenheit.
Ich sage noch ein letztes. Dieses Hohe Haus hat schon 1951 in einem Beschluß auf die Frage geantwortet, was man in einem solchen Fall macht: Man macht ein Gesetz über die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung. - Bitte schön, da haben Sie die Antwort.
({0})
Graf Lambsdorff, es tut mir leid, zunächst muß ich dem Abgeordneten Dr. Krause zu einer Kurzintervention das Wort geben.
Ich möchte der Sachlichkeit halber und vielleicht auch der Information wegen präzise darauf hinweisen, was im Einigungsvertrag vereinbart ist. Im Einigungsvertrag ist vereinbart - ich zitiere - :
Auf Ersuchen der Ministerpräsidenten der in Artikel 1 Abs. 1 genannten Länder leisten die anderen Länder und der Bund Verwaltungshilfe bei der Durchführung bestimmter Fachaufgaben, und zwar längstens bis zum 30. Juni 1991. Soweit Stellen und Angehörige der Länder und des Bundes Verwaltungshilfe bei der Durchführung von Fachaufgaben leisten, räumt der Ministerpräsident ihnen insoweit ein Weisungsrecht ein.
Ich denke - bei aller Polemik - , es ist einfach häufig vergessen worden, von dieser Regelung des Einigungsvertrages Gebrauch zu machen, und ich würde mich freuen, wenn die im Aufbau befindlichen Länder häufiger mit diesen Forderungen an die westdeutschen Länder und an den Bund heranträten.
Danke.
Nun zu einer Kurzintervention Graf Lambsdorff.
Herr Präsident, der Herr Abgeordnete Dr. Ullmann hat die ungeheuerliche Behauptung aufgestellt, Frau Hamm-Brücher gehöre der CSU an. Ich muß sie gegen diese kränkende Zuweisung in Schutz nehmen.
({0})
Nach dieser Klarstellung erteile ich dem Abgeordneten Michael Glos das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich namens der CSU ausdrücklich bei Graf Lambsdorff bedanken, daß er klargestellt hat, daß diese Dame nicht unserer Partei angehört.
({0})
Ich freue mich, daß ich hier Gelegenheit habe, mit Herrn Dr. Ullmann zu diskutieren. Herr Dr. Ullmann, wir haben das - das ist jetzt fast ein Jahr her - beim Westdeutschen Fernsehen tun können. Da muß ich sagen: Viele Ihrer Kassandrarufe damals sind Gott sei Dank nicht Wirklichkeit geworden.
({1})
Frau Matthäus-Maier hatte seinerzeit behauptet - Herr Roth, wider besseres Wissen -, wir würden die Steuern zur Finanzierung der deutschen Einheit erhöhen.
({2})
Auch das haben wir nicht getan. Wenn wir jetzt an die Steuern denken müssen, dann wegen anderer Probleme.
({3})
Ich möchte in anderen Sachen noch Herrn Dr. Ullmann antworten. Herr Dr. Ullmann, auch ich habe am Sonntag das erste Mal in meinem Leben demonstriert. Ich hatte mich nie an Demonstrationen beteiligt. Ich habe dies getan auf einer Sympathiekundgebung für Amerika, auf einer Sympathiekundgebung für die Sache der Freiheit und damit auch auf einer Sympathiekundgebung für Israel.
({4})
Damit komme ich zu Ihrer nächsten Frage, wenn Sie mir bitte freundlicherweise zuhören. Herr Dr. Ullmann, Sie haben im Zusammenhang mit „Einwanderungsland" gesagt: Was soll denn mit den vielen Juden in der Sowjetunion geschehen, wenn die möglicherweise immigrieren wollen? Da kann ich nur sagen: Es muß die Aufgabe unserer Politik sein, daß wir Israel in Unversehrtheit erhalten und daß Israel das Einwanderungsland für die Juden in aller Welt bleibt, die sich bedroht fühlen. Das ist die Aufgabe unserer Politik.
({5})
Ich möchte auch sehr gern auf den Kollegen Roth eingehen, der über die Ängste gesprochen hat. Lieber Herr Roth, wir sind uns ja in wenigen Fragen einig. Aber ich glaube, wir sind uns einig in der Kritik an der deutschen Wirtschaft, und zwar nicht an der Wirtschaft pauschal, sondern an einzelnen Unternehmern,
Vorstandsmitgliedern großer Konzerne usw., die ungeheuer phantasiebegabt sind, wenn es darum geht, bestehende Gesetze zu umgehen. Interessanterweise scheint es ja so zu sein, daß es sich bei allem, was in den Irak ausgeführt worden ist, um Tarngeschäfte handelte und daß im Grunde die bestehenden Gesetze durch geschickte Hintertüren umgangen worden sind, weil man bestimmte Teile für die verschiedensten Verwendungszwecke einsetzen kann.
Nun ist es für mich ganz interessant - ich bin in dieser Woche ein paarmal geflogen - zu sehen, wie mutig die gleiche deutsche Wirtschaft ist, wenn es darum geht, auch für die Folgen einzustehen. Da hat man Angst, ein Flugzeug zu benutzen. Die Lufthansa hat die Zahl der Flüge fast um die Hälfte reduzieren müssen, weil dieselben Leute der Wirtschaft dann Angst haben und Konzernzentralen ihren Mitarbeitern verbieten zu fliegen, weil möglicherweise durch ihr Tun irgendwo ein Konflikt ausgebrochen ist, der auch uns bedroht. Das finde ich schon ein bißchen schäbig.
({6})
Jetzt möchte ich zu dem kommen, was ich eigentlich sagen wollte. Es ist ja vorgesehen, daß wir über Wirtschaftspolitik debattieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir den neuen Bundesländern - wir haben ja heute von der dramatischen Situation gehört; Herr Krause hat viel richtiggestellt - helfen wollen, dann müssen wir das Fundament der Wirtschaft hier bei uns in Ordnung halten. Nur dann kann es drüben in den neuen Bundesländern aufwärts gehen.
Gott sei Dank haben wir derzeit eine gute wirtschaftliche Situation. Unsere Wirtschaft steht auf einem soliden Fundament. Die Perspektiven für eine Fortsetzung des kräftigen Wirtschaftsaufschwungs in den alten Bundesländern sind ausgesprochen günstig.
({7})
Das kommt nicht zuletzt daher, daß die Nachfrage aus den neuen Bundesländern zu einer Ausweitung der Produktion bei uns im Westen geführt hat, was Schubkraft für die Konjunktur allgemein war. Das bestreitet niemand.
Diese Entwicklung ist um so bemerkenswerter, als die Golfkrise weltweit zu Belastungen des Wirtschaftsklimas führt und sich die Konjunktur in einigen wichtigen Industriestaaten abgeschwächt hat. Wir sind durch diese Situation Gott sei Dank Konjunkturmotor für die gesamte Welt geworden.
Mit rund 4,5 % ist das reale Bruttosozialprodukt 1990 kräftiger gestiegen als in allen Jahren seit 1976. Ausschlaggebend für dieses kräftige Wachstum ist die Dynamik der Investitionen, die um mehr als 8 % über dem Vorjahresstand liegen. Dadurch müssen die Unternehmen bei uns erweitern. Wir würden es begrüßen - und wollen alles tun, was an Förderungstatbeständen vernünftig ist, damit dies geschieht - , wenn diese Erweiterungen in den neuen Bundesländern vorgenommen würden, damit auch die Menschen dort mit Arbeit ihr Geld verdienen können. Sie wollen im Grunde ja nicht die Unterstützung des Staates, und sie möchten nicht auf Dauer Kurzarbeitergeld beziehen, sondern sie möchten ihr Geld mit ehrlicher, ordentlicher Arbeit verdienen.
({8})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bedauerlicherweise wird sehr oft das kritisiert, was wir jetzt in den Koalitionsvereinbarungen beschlossen haben,
({9})
nämlich diese bewährte Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik, die zu diesem guten Zustand bei uns geführt hat, fortzusetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben auch geschaut, daß es im Beitrittsgebiet günstige Voraussetzungen gibt und daß dort Investitionen gefördert werden. Graf Lambsdorff, wir haben zwar nicht das Niedrigsteuergebiet geschaffen, das da immer so gefordert worden ist und das viele Leute schon veranlaßt hat, darüber nachzudenken, wie man Gewinne verlagern kann und wie man möglicherweise zu neuen Vergünstigungen kommt, ohne zu investieren; aber wir haben die Verbesserung von Investitionen beschlossen.
Wenn wir das, was im bisherigen Zonenrandgebiet möglich war, jetzt auf das gesamte Beitrittsgebiet übertragen, dann ist das eine angemessene Wirtschaftsförderung. Das alles sind bewährte Instrumente. Damit hat die Verwaltung Erfahrung. Damit kann man so gut wie keinerlei Mißbrauch treiben. Es führt zu Investitionen, es führt zu Arbeitsplätzen, und es führt zu Wirtschaftskraft. Die Situation im bisherigen Zonenrandgebiet hat dies wohl eindeutig bewiesen. Das war der Grund dafür, warum wir dieses Mittel gern angewendet haben.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser für uns nicht leichten Situation mit einer sehr großen finanziellen Anspannung zahlt sich aus, daß die Koalition durch Förderung von Privatinitiative, durch Konsolidierung der Staatsfinanzen und durch eine Politik der Steuersenkungen die Grundlagen für wirtschaftliche Dynamik gelegt hat. Wir brauchen diese wirtschatliche Dynamik in Zukunft verstärkt; denn die wirtschaftliche Dynamik ist auch der beste Motor, um die Steuerkassen entsprechend sprudeln zu lassen.
({11})
Nur wenn wir diese Politik fortsetzen, schaffen wir auch künftig die Basis dafür, daß die öffentliche Hand die enormen Lasten aus dem Zusammenwachsen Deutschlands tragen kann und daß die Mittel für die notwendige Stärkung der Wachstumskräfte im Osten Deutschlands bereitgestellt werden.
Wir müssen aber auch daran denken, daß trotz der Probleme, die wir mit der wirtschaftlichen Integration der neuen Bundesländer haben, der gemeinsame europäische Binnenmarkt auf uns zukommt und daß wir die Weichen richtig stellen müssen, damit die starke deutsche Wirtschaft auch in Zukunft in diesem größeren Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt stark bleibt.
Deswegen haben wir entscheidende Weichenstellungen beschlossen und in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt, daß wir die Steuerreform, die uns diese Wachstumskräfte gebracht hat, fortsetzen und fortführen, damit es bei uns weiterhin günstige Investitions- und Standortbedingungen gibt.
({12})
- Ich glaube, der Kollege Walther, möchte gerne etwas fragen. Ich kann ihn so schwer verstehen.
({13})
Lieber Kollege Walther, Herr Vorsitzender des Haushaltsausschusses, ich stehe gerne zu einer Zwischenfrage bereit.
({14})
Wir liegen so weit in der Zeit zurück, daß es wirklich nicht erforderlich ist, daß der Redner nun auch noch die Kollegen auffordert, Zwischenfragen zu stellen. Verhindern kann ich das allerdings nicht. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Walther.
Da ich weiß, Herr Präsident, daß der Kollege Glos in der Lage ist, frei zu reden, frage ich ihn, wann er einmal etwas Originelles und nicht etwas Abzulesendes vorträgt.
({0})
Ich kann das dem lieben Kollegen Rudi Walther gerne beantworten. Auch ich habe hier eine Mixtur zwischen einer freien Rede und wichtigen Dingen, die einfach in einer solchen Debatte gesagt werden müssen, vorzunehmen. Das Wichtige ist aufgeschrieben. Das dient der Gedächtnisstütze. Das stört eine Debatte nicht, sondern erleichtert sie. Ich hatte gedacht, der Kollege Walther werde eine Sachfrage stellen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Zusammenhang mit der Finanzierung der Verpflichtungen, die jetzt zusätzlich auf uns zukommen, ist natürlich die Frage zu stellen, wie wir Einnahmeverbessungen erzielen können, damit wir den Finanzrahmen nicht überdehnen.
({1})
Hier will ich in keiner Weise den Koalitionsvereinbarungen oder den Überlegungen des Bundesfinanzministers vorgreifen. Ich bin aber der Meinung, daß wir auch bei Einnahmeverbesserungen, die sein müssen, z. B. für den deutschen Beitrag im Golfkonflikt, natürlich die Lehren aus der Vergangenheit beachten müssen und daß wir bei den Maßnahmen, die wir zu treffen haben, darauf achten müssen, daß wir nicht die Wachstumsquellen zuschütten und berufliche und unternehmerische Leistungen nicht wieder so stark besteuern, daß diese Quellen möglicherweise nicht mehr so gut sprudeln wie jetzt. Ich glaube, das muß
die Maxime sein, unter der wir diese Frage angehen.
({2})
Die Koalitionsvereinbarungen haben auch dafür gesorgt, daß wir zu Ausgabenbegrenzungen kommen und eine Konsolidierungspolitik fahren. Diese Konsolidierungspolitik hat beim Bund, wie ich meine, sehr gut gegriffen. Der Bundesfinanzminister konnte einen Haushaltsabschluß vorlegen, der bedeutend besser als das Vorgesehene war. An Krediten mußte der Bund statt 67 Milliarden DM „nur" 50 Milliarden DM aufnehmen. Insofern hat sich auch gezeigt, daß Pessimismus - manchmal war es Zweckpessimismus - der Opposition nicht angebracht ist, sondern daß es im Gegensatz zu früher gelingt, im Haushaltsvollzug die Haushalte besser zu fahren, als es z. B. unter Regierungszeiten der SPD möglich war.
({3})
Was ich etwas bedauern muß und was ich - das ist ganz aktuell - ein bißchen schade finde, ist, daß der Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank anscheinend diese Konsolidierungsbemühungen nicht so ausreichend anerkannt hat, wie sie beim Bund laufen, und heute den Diskont- und den Lombardsatz erhöht hat.
({4})
Ich habe mir erzählen lassen, daß man damit für bestimmte Bundesländer, wo man Ausgabenanstiege von 6 und 7 % im Landeshaushalt fährt, ein Zeichen setzen wollte, während wir uns beim Bund auf einen Ausgabenanstieg von 2 % verbindlich festgelegt haben. Ich hoffe auch, daß unter diesem Gesichtspunkt die Bundesländer - und das können ja nur die alten Bundesländer sein - Solidarität mit dem Bund üben; denn wenn die Zinsen bei uns dramatisch weiter steigen, ist niemandem gedient.
Herr Kollege Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
Ja. Ich habe noch eine Minute. In der wird sich das abwickeln lassen.
({0})
Herr Roth, bitte.
Verehrter Kollege! Ich habe eine schlichte Frage. Halten Sie die Reaktion des Bundesfinanzministeriums - vielleicht hat es ja der Herr Waigel nicht gesehen; zu seinen Gunsten nehme ich das an - , das sei ausschließlich eine technische Reaktion und habe mit der Finanzpolitik überhaupt nichts zu tun, für angemessen?
({0})
Ich halte das natürlich für ein Signal. Ich hoffe, daß dieses Signal von den internaGlos
tionalen Finanzmärkten nicht allzu sehr mißverstanden wird
({0})
und daß dadurch bei uns nicht ein weiterer starker Zinsauftrieb erfolgt. Wir wissen, daß die Zinsen am Markt sowieso über den Diskontsätzen und auch über den Lombardsätzen liegen, so daß sich dadurch nicht automatisch eine Zinserhöhung ergeben muß.
Ich persönlich hätte mir aber gewünscht, daß man erst die Wirkung dessen abwartet, was wir in den letzten Wochen vereinbart haben und in die Tat umsetzen, und dann erneut über geldpolitische Maßnahmen nachdenkt. Mir liegt es aber fern, den Zentralbankrat zu kritisieren. Das ist ja bei uns im Land fast genauso verboten, wie den Bundespräsidenten zu kritisieren. So etwas würde mir sowieso nicht in den Sinn kommen.
Da jetzt die gelbe Lampe leuchtet, bedanke ich mich herzlich dafür, daß Sie so aufmerksam mit mir diskutiert haben, und möchte, bevor mich die Frau Präsidentin mahnt, das Rednerpult verlassen.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Ullmann.
Lieber Herr Kollege Glos, zu den Kassandrarufen nur eine Berner-kung: Ich bin von Haus aus Optimist. Insofern habe ich mich getäuscht. Es ist viel schlimmer geworden, als ich je vorausgesagt habe.
Nun aber Spaß beiseite.
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Zu meinen Feststellungen über das Einwanderungsland Deutschland: Wir haben schon früher zusammen debattiert und haben das immer sehr ernsthaft getan. Ich hoffe, daß das auch jetzt der Fall ist.
Daher frage ich Sie: Wenn jemand sagt, in dem von mir genannten Fall ist Deutschland ein Einwanderungsland, ist es dann in Ordnung zu behaupten, daß er damit in irgendeiner Weise habe implizieren wollen, das Existenzrecht des Staates Israel und seiner Bewohner und das Recht jedes Juden, dorthin einzuwandern, seien nicht der Eckstein jeder denkbaren deutschen Politik?
Herr Glos, Sie dürfen antworten.
Ich will sehr gerne antworten. Ich glaube, da liegt ein Mißverständnis vor. Ich habe Ihnen in keiner Weise unterstellt, daß das Existenzrecht des Staates Israel von Ihnen mit dieser Frage irgendwo berührt werde. Ich habe nur gesagt: Die allerbeste Lösung, damit wir nicht darüber nachdenken müssen, ist, daß wir alles dafür tun, das Existenzrecht des Staates Israel zu sichern.
Ansonsten haben wir ganz klare Entscheidungen. Wir sind kein Einwanderungsland. Wir gewähren sehr großzügig denjenigen Asyl, die politisch verfolgt sind.
Wenn Fälle eintreten sollten, die in keiner Weise am Horizont stehen, und falls sich neue Lagen ergeben, muß man neu nachdenken.
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Das Wort hat Herr Briefs.
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vorsichtig gesagt, ist die Regierungserklärung unangemessen, nämlich unangemessen der Kriegssituation, unangemessen insbesondere der Umbruchsituation in Deutschland, in Europa und insbesondere in den Bundesländern auf dem Gebiet der früheren DDR.
Dennoch, so inhaltsarm die lange, viel zu lange Rede des Bundeskanzlers war, sie verrät, wohin es gehen soll:
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zu einer neuen Weltmachtrolle für die BRD,
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zu einer weiteren Verschärfung der sozialen Gegensätze im Westen wie im Osten, zur vollständigen Vernachlässigung und Deklassierung der Menschen im Osten.
Das prägt insbesondere auch die Vorstellungen zur Haushalts- und Wirtschaftspolitik.
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Die Großzügigkeit, mit der jetzt mehr als 13 Milliarden DM als erste Rate für den Golfkrieg bereitgestellt werden, steht im Gegensatz zum Gekleckere im Osten, wie es der Kollege Kühbacher hier sehr ausführlich dargestellt hat.
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Intensive, gezielte Maßnahmen mit entsprechenden riesigen finanziellen Aufwendungen, um die BRD für die deutsche Beteiligung am Krieg und am möglichen Völkermord am Golf bereit zu machen,
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das auf der einen Seite; Peanuts für den Osten, in dem die Arbeitslosigkeit steigt und steigt, auf der anderen Seite: Schäbig ist diese Politik, einfach schäbig!
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Kein Plan, kein konkretes Konzept in der Regierungserklärung zur Schaffung von ökologisch und sozial sinnvollen Arbeitsplätzen, dafür aber Verharmlosung der seit Anfang der 80er Jahre noch gewaltig gewachsenen Massenarbeitslosigkeit im Westen und schlichte Nichtzurkenntnisnahme der sich anbahnenden, in die Perspektivlosigkeit führenden Beschäftigungskatastrophe im Osten.
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Und wer wird für die deutsche Kriegsbeteiligung zur Kasse gebeten? Etwa die Rüstungsindustrie, die sich mit legalen und illegalen Lieferpraktiken an der Vorbereitung des Golfkriegs auf beiden Seiten bereichert hat? Etwa die deutsche Großwirtschaft mit ihren riesigen vagabundierenden Kapitalien?
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Aber nicht doch: Bezahlen sollen die Verbraucher und die Lohnabhängigen.
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Gelegen kommt der Golfkrieg nämlich auch als Anlaß, um Steuer- und Sozialabgabenerhöhungen zu legitimieren.
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Die Regierungserklärung ist daher ein Programm zur doppelten Umverteilung:
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zur Umverteilung von zivilen und sozialen Ausgaben zu Kriegsausgaben; ein Programm zur Umverteilung von unten nach oben zugleich.
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Aber dieser Wahnsinn hat Methode; Ihr Wahnsinn hat Methode: Er soll 50 Jahre nach den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, begangen im Namen, um Herrn Dregger zu zitieren, der deutschen Nation an fast allen Nachbarvölkern, insbesondere an den Völkern im europäischen Osten, die Deutschen wieder militärisch salonfähig machen, mit Soldaten, mit Waffen, mit Geld, mit politischem Druck. Fehlen wird dafür das Geld bei der Sozialhilfe, deren Empfängerzahl ständig wächst, bei der Bekämpfung der Wohnungsnot, bei der Bekämpfung der Obdachlosigkeit, die weiter zunimmt. Das Geld wird insbesondere bei dringlichen beschäftigungspolitischen und umweltpolitischen Maßnahmen in den östlichen Bundesländern fehlen.
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Aber die Bundesregierung, eingelullt durch die Mühelosigkeit des Anschlusses der DDR an die BRD, im Taumel über die Aussichten auf eine neue Weltmachtrolle der BRD, übersieht bzw. deutet die Warnzeichen in der Bevölkerung im Westen wie im Osten fehl. Die Friedensbewegung in West und Ost und der soziale Protest und Widerstand im Osten werden Sie, die Bundesregierung und die Koalition,
({13})
bald Ihre Grenzen sehen lassen.
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Wir fordern mit der Friedensbewegung: Kein Blut für Öl!
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Kein Steuerzahlergeld und auch kein sonstiges Geld für den Krieg und Völkermord am Golf! Wir fordern die Verwendung des unbestreitbar weiter wachsenden Reichtums dieser Gesellschaft für vordringliche soziale und ökologische Aufgaben.
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Zur Kasse gebeten werden müssen die Reichen, Ihre Klientel, und nicht die kleinen Leute.
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Eine soziale und ökologische Neuorientierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der nächsten vier Jahre: das hätte in die Regierungserklärung gehört statt der präsentierten Aneinanderreihung von militärischen Großmachtwünschen, politischer Eigenheim- und Gartenzwergidylle und nationalkonservativer Heimatduselei,
({18})
das allerdings unterlegt mit Sozialabbau und weiterer Umverteilung von unten nach oben.
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Herr Abgeordneter Briefs, ich weise Ihren Ausdruck „... um die BRD für die deutsche Beteiligung am Krieg und am möglichen Völkermord am Golf bereit zu machen" mit Entschiedenheit zurück.
({0})
Gestatten Sie mir bitte noch eine allgemeine Bemerkung: Wir reden heute den ganzen Tag im wesentlichen über Krieg und Frieden. Unsere Art, zu sprechen, unser Tonfall, wird dazu beitragen, daß Denken friedlicher wird. Sie sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, ob Ihre Art dazu beiträgt.
({1})
Nun hat der Abgeordnete Weng das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt nicht ganz leicht, an dieser Stelle jetzt das Wort zu ergreifen, weil öffentlich der Eindruck entstehen könnte, man habe mit dem Vorredner irgend etwas zu tun.
({0})
Dr. Weng ({1})
Ich habe das nicht. Ich gehe auch auf nichts ein, was hier vorgetragen worden ist, weder inhaltlich noch zu der Art und Weise. Ich sage das in voller Absicht, weil der Beginn meiner Rede sonst falsch interpretiert werden könnte.
Es ist Aufgabe der Opposition, bei der Aussprache zur Regierungserklärung zu Beginn einer Wahlperiode tatsächliche oder vermeintliche Schwachstellen der Mehrheit und der Regierung aufzuzeigen. Dies ist - wenn man ehrlich ist, muß man das einräumen - den Sprechern der Opposition in einigen Punkten gelungen. Es kann nicht meine Aufgabe sein, sie dafür zu loben, aber ich stelle es fest.
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Eine weitere Aufgabe der Opposition ist allerdings, eigene Positionen und ernst zu nehmende Alternativen zum Regierungsprogramm darzustellen. Hierauf haben wir, wie schon so oft in den vergangenen Jahren, vergeblich gewartet.
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So gilt denn das Sprichwort: Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht ihren Weg.
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- Der Bundeskanzler, Herr Kollege Walther, hat heute morgen ein anderes Zitat verwendet. Das habe ich deswegen leider ändern müssen. Seines war auch gut.
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Die FDP ist befriedigt über den klaren Kurs, den die Regierung in Sachen Haushaltspolitik vorgegeben hat.
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Der Eckwertebeschluß der Bundesregierung vom 14. November 1990 gilt fort. Er legt die Koalition auf eine Begrenzung der Nettokreditaufnahme von 70 Milliarden DM in diesem Jahr fest und plant mittelfristig einen Ausgabenanstieg um nur 2 To im Jahr.
Wer nur ein klein wenig mit Struktur und Abwicklung öffentlicher Haushalte befaßt ist, der erkennt, welch eine große Aufgabe sich die Koalition gestellt hat. Das Erreichen dieses Ziels bedeutet in jedem Falle einschneidende Veränderungen der Ausgabenstruktur. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß national allererste Pflicht ist, die Entwicklung in den neuen Bundesländern massiv voranzubringen.
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Ich sage das auch mit Blick auf eine Vielzahl von dahin gehenden Äußerungen in der heutigen Debatte, auch Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers.
Wir werden die Opposition daran messen, in welchem Maße sie uns beim Erreichen dieses Ziels unterstützt.
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Wir sind dazu bereit, dieses Ziel anzusteuern. Wir werden auch harte parteipolitische Auseinandersetzungen nicht scheuen.
Ich will hier eines feststellen, was mit Blick auf die äußerste Linke dieses Hauses zu sagen ist: Herr Modrow als Vertreter der SED/PDS, der Partei, die für den Zustand der Wirtschaft in der früheren DDR die alleinige Verantwortung trägt, ist ein schlechter Anwalt der dortigen Bürger.
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Sein heutiges Anliegen war offensichtlich, Gräben aufzureißen. Dies darf und wird ihm nicht gelingen.
Die Übergangsphase verlangt zwangsläufig Opfer. Sie verlangt diese Opfer leider von den direkt betroffenen Menschen am meisten. Aber diesen Menschen ist sicherlich nicht damit gedient, wenn der Versuch unternommen wird, sie aufzuhetzen. Ich bin auch davon überzeugt: Sie wissen, wer Schuld an ihrer augenblicklichen Situation trägt.
Unser Fraktionsvorsitzender hat heute vormittag darauf hingewiesen, daß wir im Rahmen des Haushaltsverfahrens von der parlamentarischen Seite her erneut Einsparungsmöglichkeiten suchen wollen und suchen werden, ehe wir uns über die mögliche Anhebung von Steuern unterhalten. Wer aber wie Herr Vogel im Vorfeld einer möglichen Steuerdiskussion die Bezeichnung „Kriegssteuer" in den Raum stellt, dem geht es sicherlich nicht um ordnungsgemäße Abläufe öffentlichen Finanzgebarens, sondern der versucht, Emotionen zu schüren.
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Die Koalitionsverhandlungen in Sachen Haushaltseckwerte waren schwierig genug. Das Ergebnis ist auch bei uns auf Kritik gestoßen. Aber unter Berücksichtigung der für uns Liberale immer besonders wichtigen Positionen der Deutschen Bundesbank zum Erhalt der Geldwertstabilität ist das Ergebnis zufriedenstellend.
Daß deshalb zumindest im Punkt Neuverschuldung keinerlei Spielräume nach oben mehr gegeben sind, muß unstrittig sein. Wenn nun politisch notwendige zusätzliche Ausgaben auf Grund der Entwicklung am Gold unabweisbar sind - gerade wir sollten in diesem Bereich mit dem Feilschen nicht beginnen - , dann kann es sein, daß tatsächlich kein anderer Weg als der befristeter höherer Lasten für die Bürger möglich ist. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt, darf allerdings nicht quasi für das volle Faß allein schuldig gemacht werden; das ist nicht korrekt.
({11})
Fragen des Rüstungsexports haben in der Debatte aus guten und gewichtigen Gründen einen wichtigen Raum eingenommen. Ich will auf einen Aspekt hinweisen, der bei der zukünftigen Gestaltung dieses problematischen Themenkreises ebenfalls bedacht werden muß. Die schnelle Forderung, Rüstungsexporte nur noch in NATO-Länder zuzulassen, erscheint spontan plausibel. Die Diskussion heute hat aber gezeigt, daß schon diese Forderung zu kurz greift. Zusätzlich muß aber überlegt werden, was
Dr. Weng ({12})
künftig im Bereich der Rüstungskooperationen geschehen kann.
Wir brauchen innerhalb der NATO oder wenigstens innerhalb der europäischen NATO-Staaten einfach deshalb eine gemeinsame Haltung, weil wir sonst die derzeit vorhandene Grauzone belassen würden. Moderne Waffensysteme kann ein einzelnes Land heute häufig nicht mehr alleine entwickeln. Wir sollten dahin kommen, gemeinsame Rüstungsprojekte nur noch mit den Ländern zu vereinbaren, die sich beim Export unseren künftig noch schärferen und besser kontrollierten Exportbestimmungen anschließen.
({13})
In diesem Zusammenhang freut mich, daß der BDI nach der heutigen Äußerung seines Präsidenten die Forderungen, die Bundeswirtschaftsminister Möllemann gerade bezüglich der Verbesserung der Kontrolle und einer Verschärfung der entsprechenden Gesetzgebung aufgestellt hat, im wesentlichen unterstützt.
Ich will in diesem Zusammenhang, wenn Sie erlauben, auch noch eine Anmerkung zum Vortrag des Kollegen Rühe machen. Ich hoffe, daß seine Äußerung zur Kontrolle von Rüstungsexporten durch den Verfassungsschutz ein gedankenloser Schnellschuß war.
({14})
Über dieses Thema müssen wir intensiv unter rechtsstaatlichen Aspekten diskutieren. Die Aufgaben sind nach unserer Überzeugung wesentlich besser bei anderen Behörden als beim Verfassungsschutz aufgehoben. Wir sollten in diesem Punkt nicht etwas vom Podium aus aufoktroyieren, sondern wir müssen dieses Thema wirklich sehr intensiv diskutieren.
({15})
Meine Damen und Herren, mir eilt die Zeit davon. Ich bitte deshalb um Verständnis, wenn ich jetzt eine Reihe von Aspekten, die ich eigentlich darstellen wollte, auslasse. Ich will mir aber gerade mit Blick auf die Situation in den neuen Bundesländern folgenden Hinweis nicht ersparen: Wir haben seinerzeit in der Anhörung des Haushaltsausschusses über die Kosten der deutschen Einheit die Position des DGB zur Entwicklung von Löhnen und Gehältern in der früheren DDR zur Kenntnis nehmen können. Diese Position hieß: möglichst schnell heranführen. Diese Position ist im Grundsatz vernünftig, aber natürlich muß sie durch Rahmenbedingungen ausgekleidet sein, weil sonst Investitionen in diesen Ländern unterbleiben. Das aber kann sicher nicht vernünftig sein.
Ich habe damals dem Vertreter des DGB die Frage gestellt, wie es eigentlich beim öffentlichen Dienst aussehe. Er hat darauf geantwortet, da gelte diese Argumentation nicht. Aber er hatte keine anderen Argumente. Wer sich vor diesem Hintergrund die augenblicklichen Forderungen von ÖTV und DAG vor Augen hält, der muß sagen, daß sie nicht maßvoll und sicherlich kein Zeichen der Solidarität gegenüber
dem Beitrittsgebiet sind. Ich erinnere dabei an das, was ich eben gesagt habe.
({16})
Im politischen Raum ist nichts schöner als die Diskussion über Personalien.
({17})
- Sehr richtig, Herr Kollege. - Das Rollenspiel, der jeweils regierenden anderen Partei die Vergrößerung des Kabinetts vorzuwerfen, ist bekannt. Soweit ich mich erinnern kann, haben immer alle Regierungen
- egal welcher politischen Couleur - die Zahl der Regierungsposten vergrößert; vielleicht nicht immer ganz sachgerecht. So hätte auch ich, wenn ich in der Opposition wäre, zur Aufteilung des ehemaligen Ministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit sicher nichts anderes als Herr Vogel heute vormittag gesagt. Aber dies ist nicht meine Rolle.
({18})
Bei der ersten Regierungsbildung im jetzt deutlich vergrößerten Gesamtdeutschland - jetzt kommt der Befreiungsschlag, Herr Kollege Schmitz - gibt es allerdings eine plausible Begründung für eine gewisse Ausweitung. Die Erfahrungen dieser Wahlperiode sollten dann aber auch unbedingt genutzt werden, um sachgerecht zu straffen und das Kabinett auch wieder zu verkleinern. Dies liegt in der Organisationsgewalt der Bundesregierung. Die Verantwortung hierfür tragen im wesentlichen der Herr Bundeskanzler und sein Finanzminister. Sie müssen sich dieser Verantwortung bewußt sein.
({19})
Die FDP-Fraktion wird die Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in enger Verbindung mit den Anliegen der Deutschen Bundesbank flankieren, wie sie dies auch schon in den vergangenen Jahren getan hat.
Herr Kollege Weng, würden Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Walther zulassen?
Frau Präsidentin, es fällt mir außerordentlich schwer, jetzt nein zu sagen. Sie wissen aber, daß meine Redezeit schon mehr als abgelaufen ist.
Das wird nicht angerechnet.
Gut. Dann, Herr Kollege Walther, freiweg!
Herr Kollege Weng, ich hatte mich schon gemeldet, als Sie noch über die Parlamentarischen Staatssekretäre sprachen. Das Präsidium war aber gestört. Deshalb bitte ich Sie um Nachsicht dafür, daß ich meine Frage erst jetzt stelle, nachdem nun auch das Präsidium wieder zusehen und zuhören kann.
Ich schätze Sie so ein, daß Ihre Qualifikation mindestens so hoch ist wie die Qualifikation der Mehrheit der Parlamentarischen Staatssekretäre. Können Sie mir sagen, warum Sie keiner geworden sind?
({0})
Herr Kollege Walther, diese Frage könnte nichtöffentlich etwas leichter beantwortet werden als öffentlich.
({0})
Natürlich bedanke ich mich auch für das Lob, das Sie mit Ihrer Frage zu meiner Person zum Ausdruck gebracht haben. Wenn Sie mich jetzt aber fragen, ob ich Ihre Frage beantworten kann, dann sage ich: Nein.
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Meine Damen und Herren, wir werden die richtigen Schwerpunkte setzen. Wir werden von der Haushaltsseite her den Zweifrontenkampf gegen übertriebene Begehrlichkeiten der Regierung wie auch gegen unrealistische Versprechungen der Opposition erneut aufnehmen. Finanzpolitisch stehen wir vor einem außerordentlich schwierigen Zeitabschnitt. Ich bin aber sicher, daß auch die stabile Mehrheit der Koalition dazu beitragen wird, dieser Herausforderung gerecht zu werden. Die FDP-Fraktion jedenfalls wird ihren Beitrag hierzu leisten.
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Das Wort hat der Abgeordnete Nitsch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zügige Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern ist das erklärte Ziel der Bundesregierung. Die umfassende Herstellung vergleichbarer Gegebenheiten in den wirtschaftlichen Tätigkeiten in den neuen Bundesländern ist dafür die unerläßliche Voraussetzung. Soll diese Herausforderung erfolgreich bewältigt werden, so ist sie als eine Aufgabe anzusehen, bei der ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit vieler in unserem Staat unerläßlich ist.
Zunächst möchte ich jedoch all denjenigen herzlich danken, die in den vergangenen Monaten darum bemüht waren, das wirtschaftliche Leben in den neuen Bundesländern nach dem bedingungslosen Bankrott der sozialistischen Kommandowirtschaft aufrechtzuerhalten und unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten neu zu ordnen, und das unter Arbeits- und Lebensbedingungen, die von den hier üblichen erheblich abweichen.
Von Anfang an waren wir uns der Last der sozialistischen Hinterlassenschaft bewußt. Dennoch wissen wir heute, daß aus der Vergegenwärtigung sowohl des tatsächlichen Verfallgrades der ostdeutschen Wirtschaft als auch des zeitlich parallelen Zusammenbruchs des RGW vieles neu bedacht und mit weitergehenden Konsequenzen gehandhabt werden muß.
Die Wirtschaftsführung hat eine in der Geschichte noch nie so dagewesene Mißachtung der natürlichen Lebensgrundlagen des eigenen Volkes verursacht. Jetzt müssen wir betroffen feststellen, daß im Grunde nichts mehr da ist, was sich aus eigener Kraft reaktivieren kann. Das ist auch die wahre Ursache dafür, daß die strukturelle Neuordnung der neuen Bundesländer nicht nur als Fassadenkosmetik oder punktuelle Reparatur zu bewerkstelligen ist, sondern mit vielen unangenehmen Konsequenzen und Schmerzen im sozialen Alltag unserer Mitbürger abläuft.
Die Regierungskoalition hat mit den Koalitionsvereinbarungen und der Regierungserklärung des Bundeskanzlers die Weichen für die nächsten vier Jahre gestellt. In der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik sind die Voraussetzungen geschaffen, damit es zur Angleichung der Lebensverhältnisse kommen kann.
Die noch vorhandenen Standortnachteile in den neuen Bundesländern verursachen derzeit eine beängstigende Abwanderung von Menschen in die alten Länder. Für den Ausgleich aller Standortnachteile reichen die Investitionsbeihilfen, Sonderabschreibungen, Freibeträge und der Steuerverzicht nicht aus, so wichtig sie auch sind.
Unter gleichen marktwirtschaftlichen Bedingungen in ganz Deutschland ist es einfacher, die Verbraucher aus den entwickelten Ländern zu versorgen. Für die Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern entsteht so ein Sog, der sie in die Regionen zieht, in denen sie Arbeit finden. Das sind nun einmal die alten Bundesländer. Wir müssen deshalb in den neuen Ländern für dauerhaft günstige Investitionsbedingungen sorgen und die noch bestehenden Hemmnisse und Standortnachteile durch der Situation angepaßte und zeitweilig vielleicht auch von der Bundesgesetzgebung abweichende Vorschriften kompensieren.
Einige Dinge vielleicht konkret. Erstens. Die Reduzierung und Beschleunigung aller Raumordnungs-, Planfeststellungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren besonders im Infrastruktur- und Umweltbereich muß sichergestellt werden. Der Planungsvorlauf für Vorhaben ist derzeit gleich null. Es muß deshalb in kürzester Zeit durch Zusammenlegung von Planungsstufen und durch vom Gesetzgeber vorgegebene kürzeste Fristen bei gleitender Planung mit den Baumaßnahmen begonnen werden können. Wir können nicht mehrjährige Planungsstufen und Verwaltungsgerichtsverfahren abwarten.
Die Engpässe in der Infrastruktur müssen schnellstens beseitigt werden. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergrund eines Investitionsvolumens westdeutscher Unternehmen von 27 Milliarden DM im Jahr 1991 wichtig. Nach Expertenmeinungen wären jedoch in den neuen Ländern 1991 Investitionen von 50 Milliarden DM absorbierbar. In Anbetracht der 900 Milliarden DM oder mehr, die in den nächsten Jahren zur Angleichung der Lebensverhältnisse notwendig sind, ist es auch erforderlich, daß über die 27 Milliarden DM hinaus investiert wird.
({0})
Zweitens. Die Bildung von privatem Wohneigentum gehört zu den ganz vordringlichen Aufgaben.
({1})
In diesem Bereich sind ohne großen Aufwand vielfältige Effekte zu erzielen. In der ersten Stufe sind die Wohnungen des staatlichen und kommunalen Wohnungsbestandes ausschließlich den Mietern zum Kauf anzubieten.
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Eine breite Eigentumsbildung setzt jedoch voraus, daß der Kaufpreis zwischen 100 und 200 DM je m2 Wohnfläche liegt. Bei der durchschnittlichen Wohnungsgröße in den neuen Bundesländern bleiben wir damit im Bereich des Anschaffungspreises eines Autos. Die Schuldenlast für den Wohnungsbestand muß, soweit sie über diese Einnahme nicht gedeckt werden kann, über das Zinsmoratorium hinaus eine Lösung erfahren, die weder die Länder belastet noch die Privatisierung verhindert.
Durch diese Wohnungsprivatisierung erhalten die Kommunen und Länder Finanzmittel. Sie werden zudem nicht weiter mit den Subventionierungen der Betriebskosten für die Wohnungen belastet, die derzeit die Länder zu tragen haben. Wir haben das heute ja mehrfach gehört.
Das Wichtigste ist aber: Es würde sofort eine Welle von Modernisierungs- und Sanierungsarbeiten einsetzen, die sowohl unseren Handwerkern als auch den mittelständischen Betrieben und den Kurzarbeitern mit Beschäftigung null Auftrags- und Arbeitsmöglichkeiten bringen würde.
({3})
Drittens. Die Treuhandanstalt ist bei der Privatisierung der ehemals volkseigenen Betriebe an ihre personellen Grenzen gestoßen. Der zeitliche Ablauf bei den Verkaufsverhandlungen muß verkürzt werden. Dazu sollte die Treuhandanstalt in größerem Umfang einschlägige Unternehmen einschalten, die in ihrem Auftrag und nach ihren Vorgaben die Privatisierung professionell durchführen.
({4})
Die Privatisierung aller Betriebsteile aus den ehemaligen Kombinaten ist in die regionale Zuständigkeit der Außenstellen der Treuhandanstalt in den Ländern zu übergeben. Zur zügigen Abwicklung der Privatisierung sind als Voraussetzung für den schnelleren Verkauf auch die rechtlichen Fragen im Vermögensbereich zu klären und Ergänzungen zum Gesetz für besondere Investitionen schnellstens zu verabschieden.
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Es dürfen keine weiteren zeitlichen Verzögerungen auftreten, und es müssen klare und einfache Lösungen gefunden werden. Erfolge sind bald nötig, um eine Verunsicherung der Bevölkerung zu verhindern. Wer zu spät hilft, hilft nur halb.
({6})
Viertens. Die Ausführungen des Bundeskanzlers zur Forschung und Technologie in den neuen Bundesländern begrüße ich nachhaltig. Es geht in diesem Bereich allerdings nicht nur um Akademieinstitute, sondern auch um die Institute, die im Bereich der Wirtschaft, d. h. der ehemaligen Kombinate angesiedelt sind. Ich weiß, daß nicht alle Institute überleben können. Ich bin aber der Meinung, daß dort, wo Konzepte für die zukünftige Arbeit vorhanden sind, eine angemessene Grundfinanzierung als Hilfe zur Selbsthilfe für einen eingeschränkten Zeitraum bereitgestellt werden sollte. Einmal Gestorbenes läßt sich nur mit großem Kraft- und Mittelaufwand wiederbeleben oder neu ansiedeln. Ich kann Ihnen an verschiedenen Beispielen belegen, daß nach einer anfänglichen Lähmung jetzt erfolgversprechende Konzepte in den Instituten der ehemaligen Kombinate entwickelt worden sind oder werden.
Fünftens. Eines ist in der Entwicklung der letzten Monate in den neuen Bundesländern sehr deutlich geworden: Die gepriesenen Errungenschaften des Sozialismus haben sich als Kartenhaus erwiesen. Das gilt in ganz hohem Maße für die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Insbesondere die Arbeitnehmer haben dies heute zu büßen. Durch die jahrzehntelange Abschottung vom Wettbewerb fehlen in den Unternehmen kompetentes Management, Marktkenntnisse und technologisches Niveau.
Diese Leistungsschwäche der Wirtschaft in den neuen Bundesländern führt dazu, daß Betriebe mit allen sozialen Konsequenzen, die es zeitweilig in einzelnen Regionen auch der alten Bundesländer gegeben hat, stillgelegt werden müssen. Vor diesem Hintergrund sind die Sorgen und Befürchtungen der Mitbürger in den neuen Bundesländern über die weitere Beschäftigungslage sehr groß.
Ganz große Sorge bereiten uns vor allem die Unternehmen, die bisher einen großen Anteil ihrer Produkte in das Gebiet des ehemaligen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe exportiert haben. Dorthin sind unter dem alten Regime rund zwei Drittel aller Exporte gegangen. Länder wie Polen, Bulgarien oder Ungarn verfügen nicht über ausreichende konvertible Währungen und können deshalb die bisherigen Warenlieferungen nicht aufrechterhalten. Zudem sind auch westliche Anbieter für mittel- und osteuropäische Unternehmen unter diesen Bedingungen häufig attraktiver.
Die Unternehmen der neuen Bundesländer müssen ihre Wirtschaftsbeziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Unternehmen, mit denen sie seit Jahren gute Geschäftsbeziehungen unterhalten, nun selbst weiterführen. Daran führt kein Weg vorbei. Durch diese unternehmerischen Initiativen können ja immerhin bis zu 1,5 Millionen Arbeitsplätze erhalten werden.
Es muß jedoch überlegt werden, ob die Sonderkonditionen bei den Ausfuhrbürgschaften als Exporthilfen ausreichen. Weitere Flankierungen müssen dazu beitragen, daß ein hohes Maß an Exporten auch unter marktwirtschaftlichen Bedingungen aufrechterhalten werden kann. In diesem Zusammenhang verweise ich auf das Wohnungsbauprogramm in der SU im Zusammenhang mit der Rückführung der Sowjetarmee. Es muß sichergestellt werden, daß hieran ein großer Anteil von Unternehmen aus den neuen Bundesländer mitwirkt.
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Die bisher bekanntgewordenen Anteile reichen nach meiner Auffassung nicht aus.
An dem 8-Milliarden-DM-Programm sollten angesichts der Probleme, die ich aufgeführt habe, mehr Bauunternehmen und Ausrüstungsbetriebe beteiligt werden. Es darf nicht unser Ziel sein, daß Unternehmen aus den alten Bundesländern ihre Konjunktur weiter hochkurbeln, während es in den neuen Bundesländer zu zusätzlichen Einbrüchen kommt.
Sechstens. Der Aufbau der Verwaltung in den Kommunen und Ländern erfolgt zur Zeit mit kompetenten und qualifizierten Fachkräften. Jedoch wird durch die sich vergrößernden Gehaltsdifferenzen zwischen Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung eine Besetzung der offenen Stellen in den öffentlichen Verwaltungen immer schwieriger. Die kommunalen Spitzenverbände sollten daher eine Initiative ergreifen, die Patenschaften zwischen Städten, Gemeinden und Landkreisen begründet. Die Städte, Gemeinden und Landkreise der alten Bundesländer sollten sich jeweils aktiv um den Aufbau der Verwaltung ihres Patenkreises bemühen. Das kann - wie es teilweise schon geschieht - über die zeitweise Abordnung von Mitarbeitern, aber wesentlich besser und effektiver durch einen zeitweiligen Personalaustausch erfolgen. Das wird auch zu einer besseren und schnelleren Herbeiführung der inneren Einheit beitragen.
Im gesamten kommunalen Bereich könnte noch sehr viel mehr Unterstützung gegeben werden. Die anfängliche Euphorie ist abgeebbt. Nur wenige Beziehungen zwischen den Kommunen sind institutionalisiert. Deshalb können auch die vom Bund schon geschaffenen Rahmenbedingungen vor Ort nicht schnell genug umgesetzt und entfaltet werden.
Siebtens. Die Finanzausstattung der Länder und Gemeinden in den neuen Bundesländern ist unzureichend. Es ist zu erwarten, daß in dem Gespräch zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Länder Ende Februar eine bessere Finanzausstattung zustande kommt. Hier appelliere ich insbesondere an die SPD-regierten Bundesländer, ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht zu werden. Eine Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" um kreditfinanzierte 6 Milliarden DM für das Jahr 1991 reicht nicht aus. Wir brauchen eine Verbesserung der Stufenregelung bei der Umsatzsteuerverteilung unter den Ländern.
Ich möchte auch daran erinnern, daß durch die Abwanderung unserer Menschen den westlichen Kommunen und Ländern Lohnsteuern von Arbeitnehmern zufließen, für die ihnen bisher keinerlei Kosten für Erziehung und Ausbildung entstanden sind. Mein Vorschlag ist deshalb, daß für alle Arbeitnehmer, die bis zum 9. November 1989 - oder meinetwegen auch noch früher - ihren Wohnsitz in den neuen Bundesländern hatten, die Steuern so lange zurückfließen, bis die Umsatzsteuerverteilung zwischen den Ländern voll geregelt ist.
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Zusätzlich sollte die Strukturhilfe der alten Bundesländer den neuen Bundesländern verfügbar gemacht werden.
Ich fasse zusammen. Die Probleme in den neuen Bundesländern dürfen nicht auf die lange Bank geschoben werden. Entscheidend ist der Zeitfaktor. Sie bedürfen einer schnellen Lösung; denn die Menschen wurden über 40 Jahre lang benachteiligt und dürfen jetzt nicht ungeduldig werden. Unsere Devise muß „Jetzt handeln" heißen, um auf allen Gebieten des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens die Begeisterung für Deutschland zu erhalten.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem gestern in der Regierungserklärung über sehr viele Sachverhalte sehr rasch hinweggegangen worden ist, gestatten Sie mir bitte, auf ein Thema etwas deutlicher einzugehen, und zwar aus der Sicht der Opposition. Ich möchte mich auf die Fragen des Wohnungsbaus und der Mieten konzentrieren. Denn Wohnungsfragen und Wohnraumnot sind nun einmal ein gesamtdeutsches Problem und nicht auf das Gebiet der ehemaligen DDR zu reduzieren.
Es macht mich bedrückt, wenn ich in der Fußgängerzone von Bonn tagsüber schlafende oder bettelnde Obdachlose sehe. Genauso macht es mich bedrückt, wenn ich sehe, wie in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain die Polizei Häuser räumt, die von Menschen besetzt sind, die dort wohnen wollen,
({0})
die dort eine Volksküche und einen Spielplatz einrichten.
Allein durch eine bundesweite Fehlbelegungsabgabe ist dieses Problem nicht zu lösen. Es müssen einfach mehr Wohnungen gebaut werden. Sozialer Wohnungsbau, Wohngeld und soziales Mietrecht wirken nur dann wirklich zugunsten der Nutzer, wenn nicht durch künstliche Verknappung eine preistreibende Nachfrage erzeugt wird, die dann den ortsüblichen Preis hochtreibt.
({1})
Herr Bundeskanzler, was heißt denn „Privates Wohneigentum muß attraktiv werden" ? Wollen Sie durch den Verkauf staatseigener Wohnungen die Kommunen sanieren, oder wollen Sie den Menschen in Form ihrer Wohnung, z. B. durch einen symbolischen Preis von einer Mark pro Quadratmeter, ihren Anteil am Volkseigentum nun endlich zusichern? Im ersten Fall hieße das: teure Wohnungen. Im zweiten Fall würde es der Anregung vom Herbst 1989 entsprechen und von uns selbstverständlich unterstützt werden.
({2})
Aber eine Frage: Warum ist kein Wort zum genossenschaftlichen Wohneigentum gesagt worden? Ein freiwilliger Zusammenschluß der Eigentümer wäre
doch nichts Schlechtes. Er hat sich durchaus bewährt.
({3})
Sie wollen den Schutz der Mieter vor übermäßigen Mietsteigerungen verstärken. Aber notwendige Erhöhungen sollen am Einkommen orientiert werden. Wieso denn eigentlich nicht am Wohnkomfort? Überhaupt fehlt jedes Wort zur Qualität des Wohnens. Dazu gehört meines Erachtens nicht nur der Komfort der einzelnen Wohnung; dazu gehören klare städtebauliche Konzepte inklusive des öffentlichen Personennahverkehrs, inklusive der Faktoren soziales Umfeld, Schulen, Kindereinrichtungen, medizinische Versorgung, Verkaufseinrichtungen usw., inklusive der Pflicht z. B. zum behindertengerechten Bauen. Ich empfinde es durchaus als diskriminierend, daß ich meine Freunde nicht besuchen kann, weil ich die Treppen hochgetragen werden muß. „Behindertengerecht" heißt in jeder Phase der Konzipierung, Planung, Ausschreibung, Projektierung und Bauausführung, die Betroffenen selbst, und zwar verbindlich, einzubeziehen. Der Allgemeine Behindertenverband in Deutschland „Für Selbstbestimmung in Würde", der ABiD, dessen Präsident ich bin, ist bereit, dazu kompetente Hilfe zu bieten.
Herr Kollege Seifert, darf ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Es tut mir leid. Dann sage ich den letzten Satz: Wohnungsfragen sind nun einmal zutiefst menschliche Existenzfragen, und ich wäre froh, wenn hier nicht der Gewinn in Form von Dividende, sondern der Gewinn an Lebensqualität für den einzelnen zum Maßstab aller Dinge würde.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schäfer ({0}).
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich muß gestehen, daß es mir schwerfällt, hier heute über die Politikbereiche Umwelt und Energie in der Regierungserklärung zu sprechen, während am Persischen Golf der Krieg tobt. Es wird uns wieder einmal bewußt, daß Kriege Menschen töten und immer auch ökologische Katastrophen sind, deren Folgen, auch wenn der Krieg längst vorbei ist und wenn die Waffen längst wieder schweigen, noch lange nachwirken. Ein Krieg wie dieser kann in wenigen Stunden die Lebensgrundlagen einer ganzen Region zerstören. Er vernichtet in Stunden, was in Jahrhunderten, ja Jahrmillionen entstanden ist und was die Umweltpolitik in Jahrzehnten nicht wieder aufbauen kann, wenn Wiederherstellung überhaupt möglich ist.
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Die Folgen von Saddam Husseins Umweltterror für Weltklima, Ozonschicht und Meer sind verheerend.
Bilder von toten und verletzten Menschen werden uns durch die Zensur vorenthalten. Was wir sehen können, ist die Natur als furchtbar zugerichtetes hilfloses Opfer. Wir sehen qualvoll sterbende Seevögel, und wir wissen, daß die wertvollen Ökosysteme des Persischen Golfs, die Muschel- und Korallenbänke, die Delphine und Kormorane diesen Krieg nicht überleben werden. Neben der humanitären Hilfe muß die Eindämmung der verheerenden ökologischen Folgen dieses Krieges ein Schwerpunkt unserer Hilfeleistungen für die Golfregion sein.
({1})
Schnelle und unbürokratische Hilfe wird durch die andauernden Kriegshandlungen behindert. Die Einrichtung einer ökologischen Eingreifgruppe reicht nicht. Ökologische Hilfe muß - dies sollte eine der Konsequenzen aus diesem Krieg sein - den gleichen völkerrechtlichen Status erhalten wie die humanitäre Hilfe des Roten Kreuzes.
({2})
Auch für „den Tag danach" muß die Wiederherstellung einer intakten Umwelt einen Schwerpunkt unserer Hilfe für die Golfregion bilden. Dafür sollten wir bereits heute die notwendigen Vorbereitungen treffen. Auch für die geschundene Natur am Golf ist das möglichst schnelle Einstellen der kriegerischen Handlungen die zur Zeit wirksamste Hilfe.
({3})
Auch bei diesem Krieg werden die katastrophalen Folgen für die betroffenen Menschen und für die Umwelt den Anlaß und die Ursachen überdauern. Die seit einiger Zeit gegebene Möglichkeit des Menschen, sich selbst und seine Umwelt völlig zu vernichten, ist für diese Region in greifbare Nähe gerückt. Wir haben nur eine Welt, meine Damen und Herren, und es gibt kein Ziel, das das Auslöschen dieser Welt rechtfertigen könnte. Kriegsvermeidung, Wiederherstellung des Friedens ist darum das oberste Ziel, dem alle Politik zu dienen hat.
({4})
Neben der Wiederherstellung des Friedens ist die Bewahrung und Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen unsere wichtigste Aufgabe. Die ökologische Erneuerung in den Industrieländern darf nicht vernachlässigt werden. Nur wenn wir in den reichen Industrieländern unseren Verbrauch an knappen Rohstoffen und Umweltgütern reduzieren, werden sich die armen Länder und Regionen der Erde entwikkeln können. Die ungleiche Verteilung des Reichtums und der damit verbundenen bzw. unterbundenen Entwicklungschancen ist eine wesentliche Ursache für kriegerische Konflikte. Wenn es nicht gelingt, die Ungleichheit zwischen reichen und armen Ländern abzubauen, besteht die Gefahr, daß diese Konfliktursache in den vor uns liegenden Jahrzehnten angesichts weiter dramatisch wachsender Weltbevölkerung an Bedeutung gewinnt. Der Golfkrieg, meine Damen
Schäfer ({5})
und Herren, hat seine Ursachen auch in der Verteilungsungerechtigkeit in dieser Region.
({6})
Wir müssen in dem vor uns liegenden Jahrzehnt auch deshalb den Durchbruch zu einer umwelt- und naturverträglichen Form des Wirtschaftens finden. Wir Sozialdemokraten wollen, daß die Wirtschaft vor allem in den neuen Bundesländern wächst, damit möglichst alle Arbeit finden. Aber dieses Wachstum muß einhergehen mit sinkendem Verbrauch von Energie und Rohstoffen und mit einer zurückgehenden Belastung von Natur und Umwelt. Das, meine Damen und Herren, ist der Kern der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft.
({7})
Dem muß - da ist noch ein Stück Arbeit zu leisten - auch unser wirtschaftspolitisches Instrumentarium angepaßt werden, das Stabilitäts- und WachstumsGesetz, andere Einzelgesetze wie z. B. das Energiegesetz und die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung.
({8})
Derzeit entfallen auf 15 % der Weltbevölkerung mehr als 50 % des globalen Energieverbrauchs. Eine Übertragung dieser Entwicklung auf die gesamte Weltbevölkerung bei gleichen Produktionsstrukturen, Produktionsweisen und Konsumgewohnheiten würde den sofortigen ökologischen Zusammenbruch bedeuten.
Ich will ein Beispiel dafür nennen. Uns wird prognostiziert, daß die Zahl der Kraftfahrzeuge in den nächsten 30 Jahren von heute 500 Millionen weltweit auf zwei Milliarden ansteigen soll. Wenn die Auswirkungen dieser Motorisierung auf unser Klima auch nur konstant gehalten werden sollten, was ökologisch nach allem, was wir wissen, schon einer Katastrophe gleichkäme, dürften diese Kraftfahrzeuge nur noch ein Viertel des heutigen Kraftstoffbedarfs haben, also statt 101 nur noch 2,5 1 Benzin auf 100 km verbrauchen. Dieses kleine Beispiel mag zeigen, wie gewaltig die Aufgabe ist, die vor uns liegt und die wir gemeinsam anzupacken haben.
Es ist auch in dieser Regierungserklärung - zum Teil schulterklopfend - auf die angeblichen Erfolge in der Umwelt-, Energie- und Verkehrspolitik hingewiesen worden.
({9}) Die Fakten sprechen eine andere Sprache.
({10})
Mit dem bisher Geleisteten können wir nicht zufrieden sein. Trotz einzelner Fortschritte bei der Reduzierung bestimmter Schadstoffe - Schwefeldioxid wird zu Recht immer genannt - sind wir einer ökologisch verträglichen Wirtschaftsstruktur insgesamt kaum nähergekommen.
({11})
Im Gegenteil, meine Damen und Herren, der Wald stirbt unvermindert weiter.
({12})
Die Belastung von Nord- und Ostsee nimmt zu.
({13})
Immer mehr Arten verschwinden, weil ihre Lebensräume zerstört worden sind. Allergien und umweltbedingte Krankheiten häufen sich.
Ich sehe gerade den Kollegen Schmidbauer, dem ich für meine Fraktion in seinem neuen Amt alles Gute wünsche. Er stimmt in der Analyse mit uns überein.
Zudem droht uns mit der Klimakatastrophe eine Umweltzerstörung bisher nicht gekannten Ausmaßes.
Die Regierungserklärung und das Ergebnis Ihres kleinkarierten Koalitionsgerangels werden diesen gewaltigen Herausforderungen nicht gerecht.
({14})
Ein Gesamtkonzept für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft ist darin nicht erkennbar. Vieles ist allenfalls - und das ist noch positiv an Ihre Adresse gesagt - nur Stückwerk, meine Damen und Herren.
({15})
Ihre Ankündigungen, den Umweltschutz zu einem Schwerpunkt der künftigen Regierungsarbeit zu machen, werden durch die Regierungserklärung nicht eingelöst. Die Leitlinien Ihrer Umweltpolitik sind nicht von den ökonomisch-ökologischen Notwendigkeiten, sondern in der Schlußphase vom Rotstift des Finanzministers diktiert worden.
({16})
In der Schlußrunde wurde im Bereich Umweltpolitik bei den Koalitionsverhandlungen alles zusammengestrichen, was Geld kostet.
({17})
Natürlich, meine Damen und Herren, muß im Bundeshaushalt gespart werden. Sie sparen aber an der falschen Stelle.
({18})
Sie sparen zu Lasten der Umwelt. Sie haben noch immer nicht begriffen, daß Investitionen zur Erhaltung von Natur und Umwelt die langfristig rentabelsten Investitionen sind, auch wenn wir es ökonomisch betrachten.
({19})
Am Ziel der ökologischen Erneuerung müssen wir auch bei veränderten, verschlechterten weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und nachlassender Konjunktur festhalten. Umweltpolitik darf keine Schönwetterpolitik sein, die man sich in Zeiten guter Konjunktur, bei guter Wirtschaftslage gleichsam als
Schäfer ({20})
Luxus leisten kann. Umweltpolitik muß fester Bestandteil anderer Politikbereiche, beispielsweise der Wirtschaftspolitik, beispielsweise der Finanzpolitik sein. Moderne Umweltpolitik ist zugleich moderne Industrie- und Wirtschaftspolitik. Moderne Wirtschafts- und Industriepolitik muß zugleich Ökologiepolitik sein, wenn wir die Zukunft ökologisch und überlebensfähig gestalten wollen, meine Damen und Herren. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
({21})
Auf diese Aufgabe antworten Sie nur mit kleiner, ja, mit kleinkarierter Münze.
Die Regierung begreift in der Wirklichkeit ihrer Politik - also in der Regierungserklärung, nicht in der Umweltrhetorik, die einige Mitglieder der Bundesregierung wirklich nicht ungekonnt verbreiten - Umweltpolitik immer noch im wesentlichen als nachgeschaltete Reparatur, die nur aus dem Produktivitätsfortschritt finanziert werden kann.
({22})
Moderne Umweltpolitik beschränkt sich aber gerade nicht darauf, eingetretene Schäden der Produktion nachträglich zu reparieren. Moderne Umweltpolitik verlangt Produktionsverfahren und Produkte, die von vornherein umweltverträglich sind. Meine Damen und Herren, darüber, wie unsere Wirtschaft zu umweltverträglicheren neuen Produktionsverfahren und Produkten kommen soll, können wir in der Koalitionsvereinbarung leider nichts Konkretes lesen.
({23})
Darüber haben wir auch in der zweieinhalbstündigen Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers gestern nicht ein einziges konkretes Wort vernommen.
({24})
Meine Damen und Herren, angesichts der bisherigen Entwicklung sind auch Zweifel daran angebracht, ob unsere Umwelt allein durch mehr Gesetze und Verordnungen, durch noch mehr Auflagen und Grenzwerte wirklich sauberer wird. So helfen beispielsweise anlagebezogene Emissionsgrenzwerte für Schadstoffeinleitungen in Gewässer dann nicht, wenn durch die wachsende Zahl der Produktionsanlagen die Gesamteinleitungen weiter steigen und sich der Zustand der Gewässer weiter verschlechtert. Der positive Effekt des Drei-Wege-Katalysators wird aufgezehrt, wenn die Zahl der Kraftfahrzeuge und die Zahl der gefahrenen Kilometer weiter rasch ansteigen. Das zeigt auch die Bilanz der Zunahme der Stickoxidbelastung und der Zunahme der Umweltbelastung durch den Verkehr insgesamt.
({25})
Ein neues Instrument sind Qualitätsziele und Qualitätsnormen in der Umweltpolitik. Heute muß festgestellt werden, wie unsere Umwelt im Jahr 2000 aussehen soll. Danach müssen wir dann unsere Maßnahmen und Instrumente ausrichten. Eine solche mittelfristige Zielbeschreibung, etwa in Form eines „Umweltprogramms 2000" nach dem Beispiel der niederländischen Regierung, sucht man in Ihrem Regierungsprogramm jedoch vergeblich.
({26})
- Das, Herr Geißler, ist ein Gerücht. Wir Sozialdemokraten wollen die umweltverträgliche Erneuerung unserer Produktionstechniken und Produkte, wo immer es zu verantworten ist, dem Einfallsreichtum der Ingenieure, Wissenschaftler, Techniker, Unternehmer und Verbraucher überlassen. Auch die Arbeitnehmer in den Betrieben - das gilt auch und besonders für die neuen Bundesländer - müssen daran besser als bisher mitwirken können.
Aufgabe der Politik ist es, hierfür Rahmenbedingungen zu schaffen. Ein wichtiges Instrument ist dabei der Preis. Die tatsächlichen Kosten der Umweltzerstörung müssen im Preis der Produkte enthalten sein. Es muß teurer werden, Energie zu vergeuden und die Umwelt zu belasten. Es muß sich umgekehrt auszahlen, Energie zu sparen und die Umwelt zu schonen.
Nicht zuletzt der Krieg am Golf zeigt, daß unser Energieverbrauch zu hoch und unsere Abhängigkeit vom Öl immer noch zu groß ist.
({27})
Die Regierung hat die fetten Jahre der niedrigen Ölpreise nicht genutzt, um Vorsorge zu treffen. Höhere Energiepreise sind jedoch in Kombination mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen das effektivste marktwirtschaftliche Mittel,
({28})
um Energieeinsparung und rationelle Energieverwendung voranzubringen. Die Bürger, Wirtschaft und Verbraucher, sind für eine neue Offensive der Energieeinsparung. Aber auch hier fehlt Ihnen der Mut für ein Konzept.
Wohin übrigens falsche Preissignale gerade bei der Inanspruchnahme von Natur und der Belastung der Umwelt führen können, ist besonders an unserem Verkehrssystem erkennbar.
({29})
Unser Verkehrssystem ist an den großen ökologischen Zerstörungen wie Waldsterben, Ozonloch und Treibhauseffekt maßgeblich beteiligt.
({30})
Darüber hinaus erfüllt es die Transportbedürfnisse von Wirtschaft und Gesellschaft immer weniger: Autobahnen und Fernstraßen sind überfüllt; Berufspendler verlieren wichtige Zeit unproduktiv und umweltbelastend im Stau. Mobilität wird immer weniger persönliche Freiheit und in vielen Fällen immer mehr erzwungene Plage.
Das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten Subventions- und Strukturpolitik. Ein großer Teil der Kosten des
Schäfer ({31})
Verkehrs wird nicht vom Verursacher, sondern über Ausgaben für Verkehrssicherheit, Unfallkosten und Kosten der Umweltzerstörung von der Allgemeinheit bzw. den nach uns kommenden Generationen getragen.
({32})
Sie begünstigen noch immer den Straßen- und Luftverkehr und nehmen damit dem umweltfreundlichen Schienenverkehr Wettbewerbschancen. Diese Verfälschung der Marktwirtschaft, meine Damen und Herren, müssen wir mit Umweltzerstörungen, Verkehrstoten in dramatisch steigender Zahl und Verletzten bezahlen. Mehr als 8 000 Menschen sterben pro Jahr in der Bundesrepublik im Straßenverkehr; mehr als 500 000 Menschen - eine Großstadtbevölkerung - werden Jahr für Jahr im Straßenverkehr verletzt.
Ihre Antworten auf diese Probleme sowohl in der Koalitionsvereinbarung als auch in der Regierungserklärung und der Jungfernrede des neuen Verkehrsministers Krause sind von beschämender Belanglosigkeit.
({33})
Sie reden nur über den bedarfsgerechten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, aber Sie denken nicht im Traum an Verkehrsvermeidung. Noch nicht einmal zur Entfernungspauschale konnten Sie sich durchringen.
({34})
- Leider sehr teuer, sagt Herr Baum. Das ist das alte, kurze, enge betriebswirtschaftliche Denken, das eine Betrachtung der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten außen vor läßt. Das ist das Sparen an der falschen Stelle!
({35})
Das ist das sektorale Denken in verschiedenen Politikbereichen: hier Abteilung Umwelt, dort Abteilung Finanzen, dort Abteilung Wirtschaft. Was wir brauchen, ist ein vernetztes integriertes Denken.
({36})
Das Verkehrssystem als integriertes und vernetztes System ist die Probe aufs Exempel, ob wir die Kraft haben, dies dann auch konkret in die Wirklichkeit umzusetzen.
Kollege Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gibtner?
Wenn Sie wollen, haben Sie die Möglichkeit einer längeren Zwischenfrage. Bitte schön.
Sehr geehrter Kollege, ich mache das sehr kurz. Da Sie für ein umweltfreundliches Verkehrssystem plädieren, stelle ich Ihnen die Frage: Wie viele Kilometer haben Sie im vergangenen Jahre mit der umweltfreundlichen Eisenbahn zurückgelegt,
und wieviel Prozent der Gesamtstrecke macht das aus?
({0})
Ich frage nicht zurück. Eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten hieße, den Fragesteller nicht ernst zu nehmen. Das ist falsch.
Ich muß Ihnen sagen, daß ich nicht weiß, wie viele Kilometer ich mit der Bahn zurückgelegt habe. Ich kann nur soviel sagen: Seit 1986 habe ich die Zahl der mit Pkw pro Jahr zurückgelegten Kilometer von etwa 40 000/45 000 auf 15 000 bis 25 000 reduziert, weil ich in der Tat auf die umweltfreundliche Bahn setze.
Ich will aber gleich hinzufügen: Das ist kein Problem der jeweiligen individuellen Entscheidung. Es kommt darauf an, denjenigen, die lieber mit der Bahn und dem öffentlichen Personennahverkehr fahren wollen, durch die Politik auch entsprechende Angebote bereitzustellen. Darum geht es! Es geht nicht um ein jeweils subjektives Verhalten oder Fehlverhalten.
({0})
Gerade daran fehlt es. Die entscheidende Schwachstelle in der Regierungserklärung ist, daß Sie von einer ökologischen integrierten Verkehrspolitik offenkundig noch nichts verstanden haben.
Man kriegt allmählich fast Sehnsucht nach dem Verkehrsminister Zimmermann, wenn man heute den Verkehrsminister Krause gehört hat.
({1})
- Lieber Kollege Dreßler, alle Vergleiche sind relativ.
Zurück zum Thema, meine Damen und Herren: Sie reden davon, das Schienennetz und andere öffentliche Verkehrsmittel weiter auszubauen. Wo ist Ihre konkrete Antwort? Sie nehmen der Bundesbahn das Geld weg, das Sie der Reichsbahn geben wollen. Das können Sie uns und dem Bürger doch nicht als Politik zur Förderung der Schiene verkaufen! Sie vertagen die notwendige Fusion von Bundesbahn und Reichsbahn und verschaffen damit in den neuen Bundesländern wieder dem Straßenverkehr einen uneinholbaren Vorsprung.
({2})
Mit Ihrer Unterstützung sind wir dabei, in den neuen Bundesländern die gleichen Fehler zu wiederholen, an denen wir heute in den alten laborieren.
Noch einmal: Gerade in der Verkehrspolitik ist die Nagelprobe, ob Sie begriffen haben - Sie haben es bis zur Stunde nicht begriffen - , daß integriertes vernetztes Denken in integrierte politische Maßnahmen umgemünzt werden muß. Saubere Umweltrhetorik, Herr Töpfer, und ökologisch gescheiterte Politik, das ist leider ein Kennzeichen dieser Regierung.
Meine Damen und Herren, wo ist denn Ihr Konzept zur Lösung der Verkehrsprobleme? Die geplante Umgestaltung der Kraftfahrzeugsteuer zu einer schadstoffabhängigen Steuer ist im Grunde nichts als Umweltkosmetik. Der Vielfahrer soll weiterhin soviel
Schäfer ({3})
zahlen wie der Wenigfahrer. Ob jemand im Jahr 2 000 km oder 200 000 km zurücklegt, hat auf die Höhe der Schadstoffsteuer keinen Einfluß. Deswegen folgen Sie unserem Vorschlag: Streichen Sie die Kraftfahrzeugsteuer, legen Sie sie auf die Mineralölsteuer aufkommensneutral um! Nicht das stehende Auto belastet über die Luftverpestung die Umwelt, sondern das fahrende Auto, und wer überdurchschnittlich viel fährt, soll entsprechend auch mehr zahlen.
({4})
Das wäre übrigens auch eine Maßnahme, die bürokratischen Aufwand vermindert, statt neue bürokratische Maßnahmen mit enormem Aufwand notwendig zu machen.
Wenn Sie sich im Verkehrsbereich nicht zu einer wirklich radikalen Neuorientierung, zu einer ökologischen Verkehrspolitik durchringen können, wird auch Ihre Politik zur Reduzierung der klimaschädlichen Kohlendioxidemissionen zum Scheitern verurteilt sein.
({5}) - Ich erkläre es Ihnen gleich.
({6})
Wir unterstützen Ihr Ziel, diese Emissionen bis zum Jahr 2005 um 25 bis 30 % zu reduzieren. Auch heute ist übrigens nicht klar geworden, wie die von Ihnen geplante CO2-Abgabe konkret aussehen soll: Soll sie nur für Großfeuerungsanlagen gelten oder auch Gebäudeheizungen und Kraftfahrzeuge einbeziehen, wie hoch soll sie sein, wie groß sind die damit erreichbaren Energieeinsparungen?
Rund die Hälfte der Kohlendioxidemissionen stammt aus der Verbrennung von Mineralölprodukten, vor allem im Automobilverkehr und bei der Raumheizung. Wir bleiben dabei, daß diese Emissionen am besten durch eine aufkommensneutrale Anhebung der Energiesteuern, durch die Einführung einer Ökosteuer reduziert werden können.
Im übrigen darf eine Luftschadstoffabgabe als Restverschmutzungsabgabe für Großfeuerungsanlagen nicht nur Kohlendioxid, sondern muß auch alle anderen Luftschadstoffe mit einbeziehen. Wenn wir hier übereinstimmen, dann bin ich darüber, wie Sie wissen, Herr Baum, nicht unglücklich, im Gegenteil.
Wir haben in den Koalitionsvereinbarungen und in der Regierungserklärung vernommen, daß Sie sich nun endlich ein längst überfälliges energiepolitisches Gesamtkonzept vorgenommen haben. Ihre neuerlich bekundete Aufgabe - dies schon in der zweiten Regierungserklärung nacheinander - , das Energiewirtschaftsgesetz zu reformieren, begrüßen wir. Damit es schnell geht und damit das neue Energiewirtschaftsgesetz auch greift, was Umweltschutz und rationelle Energieverwendung angeht, empfehlen wir Ihnen, unseren vorliegenden ausgearbeiteten Entwurf der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes zu übernehmen. Dann können wir gleich gemeinsam in diesem Bundestag schnell einen wirksamen Gesetzgebungsbeitrag für die Umwelt leisten.
({7})
Meine Damen und Herren, Ihre Absichten, das Atomgesetz zu novellieren, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie nunmehr auf die langfristige Nutzung der Kernenergie setzen wollen. Das hat der Bundeskanzler gestern deutlich gemacht. Bei Ihrer Absicht, in den neuen Bundesländern neue Kernkraftwerke zu genehmigen, werden Sie mit unserem Widerstand und mit dem Widerstand der meisten Menschen in den neuen Bundesländern zu rechnen haben.
({8})
Im übrigen zeigt gerade der Golfkrieg - um nur ein Argument gegen diese Technologie zu nennen -, daß sich zivile und militärische Nutzung der Atomenergie nicht voneinander trennen lassen. Warum denn sonst hätten die Alliierten die Atomreaktoren im Irak bombardiert, wenn nicht die Gefahr des Mißbrauchs zu militärischen Zwecken als unmittelbar gegeben betrachtet worden wäre? Der sicherste Weg, die schmutzigen Geschäfte skurpelloser Verbrecher zu verhindern, ist, daß wir ganz auf diese Technik verzichten, und mit einem Exportverzicht und einem Verbot des Exports dieser Anlagen in Spannungsgebiete unsere Absicht glaubhaft zu unterstreichen beginnen, meine Damen und Herren.
({9})
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärungen und die vorausgegangenen Koalitionsverhandlungen - ich habe nur zwei, drei Bereiche ansprechen können; die Reihe ließe sich leider, leider beliebig fortsetzen - haben gezeigt, daß es die Umweltpolitik in den kommenden Jahren in der Wirklichkeit der Politik - nicht in der Rhetorik! - schwerhaben wird. Für uns Sozialdemokraten bleibt die ökologische Erneuerung ein Herzstück sozialdemokratischer Reformpolitik. Wir werden es deshalb an dem notwendigen oppositionellen Druck nicht fehlen lassen, damit Ihrer Umweltrhetorik wenigstens zum Teil Taten folgen.
Jetzt bedanke ich mich noch für die Aufmerksamkeit bei Ihnen, vor allem bei der rechten Seite des Hauses.
({10})
Das ist eher ungewohnt.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, Sie haben von der ökologischen Erneuerung gesprochen, und ich habe mich wieder daran erinnert, daß Ihr Programm im letzten Jahr von der deutschen Einheit überrollt worden ist. Wissen Sie, was für mich die wichtigste ökologische Erneuerung ist? - Die UmBaum
weltsanierung in der DDR. Darüber haben Sie überhaupt nicht gesprochen.
({0})
- Gut, Sie haben es beiläufig behandelt. - Ich sage Ihnen jetzt: Die schnellsten Erfolge erreichen wir, wenn wir jetzt alle Kräfte zusammennehmen und uns die Umweltsanierung in der DDR
({1})
und in den osteuropäischen Ländern vornehmen. Das ist die wichtigste Aufgabe der Umweltpolitik der Bundesregierung.
({2})
Sie haben das auch im Wahlkampf völlig verkannt.
({3})
Sie haben an den Kosten der deutschen Einheit herumgemäkelt, anstatt die Chancen zu sehen.
({4})
Die Chancen liegen auf diesem Gebiet, und sie müssen genutzt werden. Ich sage für meine Fraktion: Das wird eine der Hauptaufgaben sein, denen wir uns in den nächsten vier Jahren hier widmen werden.
Der Vergleich der Situation in der früheren DDR und bei uns macht noch etwas deutlich, Herr Schäfer. Ohne Selbstüberheblichkeit, ohne zu vergessen, daß auch wir vieles nicht gemacht haben, Versäumnisse zu verantworten haben, kann ich sagen: Wir sehen, daß eine freie Wirtschaftsordnung mit dieser Herausforderung eben ungleich besser fertig geworden ist als die Kommandowirtschaft.
({5})
Wir haben viele Umweltprobleme gelöst. Ich teile überhaupt nicht Ihre miesmacherische Meinung, daß wir uns hier in Sack und Asche kleiden müssen. Wir in der Bundesrepublik Deutschland sind in vielerlei Hinsicht in einer Pilotfunktion, wir sind auf vielen Gebieten Beispiel für das übrige Europa und für die übrige Welt.
({6})
Es gibt nicht nur die Bundesregierung, die Sie in Ihrer Rolle als Opposition natürlich angreifen, sondern Sie dürfen auch Ihre Länderregierungen nicht vergessen. Wichtige und wichtigste Dinge geschehen auf Länderebene. Dort haben die Kollegen, welcher Partei auch immer sie angehören, in den letzten Jahrzehnten Großes, Wichtiges geleistet, und auch die Gemeinden haben das getan. Also bitte: Erkennen wir das an, was geschehen ist. Wir brauchen uns wahrlich nicht zu verstecken.
({7})
Herr Töpfer, wir beabsichtigen, diese Sonderprogramme für die DDR zu unterstützen. Es geht um die Umweltschäden, deren Behebung am dringendsten ist. Wir haben das in die Wege geleitet. Wir werden das in dieser Legislaturperiode nachhaltig fortsetzen.
In der früheren DDR ist noch etwas anderes ganz wichtig: Wir müssen dort und später auch bei uns sehr viel intensiver privates Kapital und Know-how zur Durchführung von Umweltschutzinvestitionen nutzen. Warum können Abwasserklärung, Trinkwasserversorgung, Abfallentsorgung denn nicht auch in privater Verantwortung vorangetrieben werden, um die Städte und Gemeinden insoweit von Investitionsaufgaben zu entlasten?
({8})
Eine Sache ist von besonderer Bedeutung; das ist die Beseitigung der Altlasten in den neuen Bundesländern. Dies ist eine nationale Herausforderung besonderer Art. Deshalb haben wir eine Solidaritätsaktion in die Regierungserklärung hineingeschrieben, von der Sie, Herr Schäfer, gar nichts gesagt haben, eine Solidaritätsaktion zum ökologischen Aufbau in den neuen Bundesländern. Sie muß getragen werden von der Wirtschaft, vom Bund und von den alten Bundesländern. Das muß sehr schnell geschehen; denn dort gibt es Gesundheitsgefahren, die dringend abgebaut werden müssen. Wir brauchen eine Altlastensanierung auch für die Investitionen in den neuen Bundesländern. Hier liegt ein weiterer Schwerpunkt unserer Politik zur ökologischen Erneuerung von Deutschland, und der Schwerpunkt heißt jetzt: frühere DDR.
Der zweite Schwerpunkt ist für uns Umwelt und Energie. Das Ziel ist klar: Reduzierung des Treibhausgases CO2. Hier ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen erforderlich - marktwirtschaftliche und ordnungsrechtliche Instrumente. Ein marktwirtschaftliches Instrument ist die CO2-Abgabe, die, Herr Schäfer, keineswegs nur CO2 umfaßt, sondern die natürlich auch die anderen Schadstoffe einbezieht. Dies ist ein marktwirtschaftliches Lenkungsinstrument; denn wir wollen lenken. Das sind keine fiskalischen Instrumente, um unbedingt Geld in die Kasse zu kriegen, sondern wir wollen das Verhalten der Menschen durch eine Verteuerung der Belastung unserer Natur, etwa bei Großfeuerungsanlagen und bei Prozeßfeuerungsanlagen, verändern. Dies gilt auch - das sage ich Ihnen auf Ihre Frage ganz deutlich - bei Kleinfeuerungsanlagen und bei den Kraftfahrzeugen. Hier werden wir in Kürze Vorschläge vorlegen. Zunächst soll die Kraftfahrzeugsteuer in eine Abgassteuer umgewandelt werden. Diese Maßnahmen müssen in europäische Lösungen, in eine europäische Klimaschutzsteuer eingebunden werden.
Die Waldschäden geben nach wie vor Anlaß zur Sorge. In dieser Legislaturperiode muß auch eine Lösung für die Entschädigung derjenigen Waldbesitzer gefunden werden, die seit Jahren geschädigt werden, ohne jemanden zu haben, den sie in Anspruch nehmen können.
Wir Liberalen erachten die Nutzung der Kernenergie unter der Voraussetzung für vertretbar, daß gleichzeitig und sichtbar alle Anstrengungen vorgenommen werden, um umweltfreundlichere Energiegewinnungsformen weiter zu entwickeln.
Das Atomgesetz muß zu einem modernen Umweltgesetz umgewandelt werden. Sie können nun wirklich nichts dagegen haben, wenn wir das Förderprinzip aufgeben, wenn wir Teile der Entsorgung privati190
sieren, wenn wir die Deckungsvorsorge nicht mehr kostenlos machen und wenn wir die Endlagerung ohne Wiederaufarbeitung als eine Option ins Gesetz schreiben. Das müßte eigentlich Ihre Zustimmung finden. Hier wird ein modernes Anlagensicherheitsgesetz von uns vorgelegt werden.
Wir begrüßen die Ankündigung von Bundeswirtschaftsminister Möllemann, die Wirtschaftspolitik mit der Umweltpolitik stärker verzahnen zu wollen. Dies ist gerade auf dem Gebiet der Energiepolitik, etwa durch das Energiewirtschaftsgesetz, wichtig.
Umweltpolitik und Verkehr: Die von der FDP geforderte ökologische Bewertung der Verkehrssysteme muß der Schiene eine klare Vorrangstellung geben. Wir werden eine Strukturreform der Eisenbahn bewirken. Die Bundesbahn muß wie ein Privatunternehmen geführt werden können. Eine konsequentere Vernetzung der Verkehrsträger ist erforderlich. Die Umweltverträglichkeit der Fahrzeuge muß weiter verbessert werden. Bessere Abgas- und Lärmgrenzwerte für den Lkw und den Pkw muß es geben. Hier ist vieles geschehen, aber es muß noch fortgesetzt werden. Wir müssen den Treibstoffverbrauch der Kraftfahrzeuge weiter herabsetzen, und wir werden der Industrie dazu staatliche Auflagen und Vorgaben machen.
Der vierte Schwerpunkt ist die Natur und die Landschaft. Wir fordern erneut und setzen uns mit Nachdruck für ein modernes Naturschutzgebiet ein, um Biotopschutz, Artenschutz und Naturschutz besser bewirken zu können. Das ist bisher an der Finanzierung gescheitert. Wir haben dazu jetzt Vorschläge gemacht. Beispielsweise muß die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur" genutzt werden. Darin sind 700 Millionen DM, die für eine Intensivierung der Landwirtschaft genutzt werden sollen. Hier muß eine Verlagerung der Mittel stattfinden.
Und, Herr Schäfer, die Länder müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Bisher gibt es kein schlüssiges Konzept - auch nicht der SPD-Länder - für eine Finanzierung des Naturschutzes, so wie wir ihn uns vorstellen.
({9})
- Das kommt noch hinzu, Herr Schäfer. Die Bundesländer sind nach der Verfassung für den Naturschutz zuständig, und wir zerbrechen uns hier jahrelang den Kopf, wie wir das machen könnten. Ich bin zwar der Meinung, daß wir das auch weiterhin machen müssen, aber die Bundesländer, insbesondere die alten Bundesländer, müssen hier einen Beitrag leisten.
Der fünfte Schwerpunkt ist die Abfallwirtschaft. Wir wollen ein Abfallwirtschaftskonzept, das wirklich von vornherein eine Bewertung der Produkte nach ihrer Gefährlichkeit und Entsorgungsmöglichkeit bewirkt. Wir werden ein neues, umfassendes Abfallgesetz vorlegen.
Meine Damen und Herren, ich komme zu meiner Schlußbemerkung. In der Umweltpolitik geht es nach wie vor um eine schrittweise Umstrukturierung unserer wirtschaftlichen Produktion und unserer Lebensweise. Gekrönt werden könnte das - wir setzen uns
nach wie vor dafür ein - durch ein Staatsziel Umweltschutz in unserer Verfassung.
({10})
Dieses Ziel müssen wir in enger Kooperation mit den Staaten der Europäischen Gemeinschaft und immer mehr auch mit den Staaten Osteuropas bewirken.
Umweltschutz ist keine mehr oder minder notwendige Randbedingung. Das umweltpolitische Vermeidungs- und Vorsorgeprinzip muß in das Planen und Handeln aller Politikbereiche Eingang finden. Wenn Sie die Regierungserklärung genau lesen - so haben auch die Koalitionsberatungen stattgefunden - : Die Umweltpolitik ist immer in die Energiepolitik, in die Verkehrspolitik integriert worden. Die Kollegen aus den verschiedenen Bereichen haben zusammengesessen, um dies zu leisten. Wir sind längst auf dem Weg, Herr Kollege Schäfer, den Sie hier anmahnen.
In den 90er Jahren müssen verstärkt ökonomische Instrumente eingesetzt werden. Mit den knappen Gütern Luft, Wasser und Boden muß sparsam und schonend umgegangen werden. Sie müssen zu wirklichen Kostenfaktoren werden.
Die Umweltpolitik muß Bestandteil von Umweltaußenpolitik werden. Die Völkergemeinschaft, die sich jetzt wirksam, jedenfalls einiger als früher um den Frieden, um die Abwehr von Krieg - leider nicht erfolgreich - kümmert, diese Umweltgemeinschaft muß auch den Frieden mit der Natur zu ihrer Aufgabe machen. Mit dem schrecklichen und zynischen Einsatz von Umweltgefahren als Kriegswaffe ist eine neue Dimension entstanden. Diese Aufgabe wird dadurch umso dringlicher.
Die FDP-Fraktion wird ihre hartnäckige, aber auch verläßliche und berechenbare Umweltpolitik fortsetzen. Das ist ein Schwerpunkt unserer Politik in dieser Legislaturperiode. Wir stehen hinter dieser Koalitionsvereinbarung, die wichtige Forderungen von unserer Seite enthält, und wir unterstützen die Bundesregierung bei der Realisierung dieser wichtigen Aufgabe.
({11})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Braband.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die gestrige Regierungserklärung zeigte sehr deutlich: Auch diese Bundesregierung betrachtet Umweltpolitik als rein technische Nachsorgepolitik und spart auch da noch, wo sie nur kann. Mehr noch: In den ostdeutschen Ländern wird jegliche Chance, die Umstrukturierung der Wirtschaft unter ökologischen Vorzeichen vorzunehmen, vertan.
Wir alle wissen, daß technische Nachsorge, die sich darauf beschränken muß, Schadstoffe mit hohem technischem Aufwand wieder aus der Umwelt herauszufiltern, weder umfassend noch ausreichend der Problematik gerecht werden kann. Vorsorge aber, die darauf gerichtet ist. Schadstoffe gar nicht erst entstehen zu lassen, greift in die Produktionsstruktur der Industrie ein. Gerade dazu aber ist die Bundesregierung nicht bereit. Sie muß hier auch an ihre Grenzen stoßen. Denn durch gesetzgeberische Maßnahmen Frau Braband
wie zum Beispiel Produktionsverbote, zu denen für mich auch die Stillegung von Atomkraftwerken gehört, oder die Einführung von Umweltsteuern - werden Kapitalinteressen aufs empfindlichste berührt.
({0})
Ich möchte hier am Beispiel der Stromverträge nicht nur zeigen, auf welche Weise Gesetze zum Nachteil der Kommunen in der ehemaligen DDR, sondern auch, wie durch Begünstigung der Großindustrie und Privatisierung grundlegende ökologische Interessen verletzt werden. Bekanntlich kamen die Stromverträge zwischen bundesdeutschen Energiekonzernen und der Treuhand über die gesamte Energiewirtschaft der DDR maßgeblich auf Betreiben der Bundesregierung zustande. Ganz nebenbei wurde noch durch die Volkskammer der DDR ein störendes Recht der Kommunen durch die auch hierzulande sattsam bekannten Mehrheiten beseitigt. Diese Verträge - vom Deutschen Städte- und Gemeindebund sowie den betroffenen Kommunen scharf kritisiert und inzwischen glücklicherweise auch angefochten - sollen offiziell eine Entlastung der Umwelt bewirken. Da die völlig ineffiziente Energiewirtschaft der ehemaligen DDR zwar durch ein technologisch effizienteres, aber strukturell ebenso ineffizientes Energiesystem abgelöst werden soll, wird der Mißstand nicht behoben, sondern allenfalls optisch kaschiert. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß durch die von den westdeutschen Energiekonzernen geplante Übertragung ihrer Strukturen die zu Recht vielgeschmähte zentralistische Planwirtschaft der ehemaligen DDR durch eine an Konsum- und Profitmaximierung orientierte, monopolisierte privatwirtschaftliche Investitionsplanung
({1})
unter Ausschluß der Öffentlichkeit ersetzt wird. Bemerkenswert erscheint mir, daß hier ständig von Markt geredet wird, aber Monopol gemeint ist. Ich meine, daß hier nicht nur ein Einspruch des Bundeskartellamtes nötig gewesen wäre, sondern daß auch sichtbar wird, daß hier ganz dringend ein ökologisches Vetorecht erforderlich ist.
Die durch drohende Klimaveränderungen und durch die Nutzung der Atomenergie erzeugten Gefahren erfordern eine Neuorientierung im Denken bei uns allen, die darauf gerichtet sein muß, nicht nur die Erde, und damit die Menschheit, zu bewahren, sondern auch eine ganz bestimmte Lebensqualität. Ich sage das in allem Ernst, vor allem angesichts des Krieges am Golf, weil Kriege keine Mittel sind, um Konflikte zu lösen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der brutale Umweltterrorismus Saddam Husseins hat uns wieder
einmal erschreckend klargemacht: Der Friede mit der Natur kann bei uns in Europa und weltweit nur erhalten werden, wenn der Friede zwischen den Menschen gesichert bleibt.
({0})
Ich glaube, daß dies eine Herausforderung gerade für die westliche Welt insgesamt ist.
Ich komme gerade jetzt von der Tagung der Umweltminister der OECD aus Paris zurück. Ich freue mich, daß wir uns dort nicht nur in der Verurteilung dieses Umweltterrorismus, dieser neuen, menschen- und schöpfungsverachtenden Form der Kriegsführung einig waren, sondern auch in zwei weiteren Punkten. Zum einen haben wir unsere Bereitschaft noch einmal verdeutlicht, in Zusammenarbeit mit den Staaten der Region alles in unseren Kräften Stehende zu tun, um gegen die dortige Umweltkatastrophe anzukämpfen, z. B. durch die Bereitstellung des nötigen Materials, Personals und Know-how. Herr Kollege Schäfer, wir sind durchaus der Meinung, daß man sich Gedanken machen muß, ob derartigen Anschlägen auf die Stabilität von Umwelt und Natur nicht genauso begegnet werden kann; eine Gleichstellung mit dem Roten Kreuz wird sicherlich weiter zu diskutieren sein.
Ich möchte auch an dieser Stelle den vielen jungen Menschen danken, die sich direkt oder indirekt gemeldet und ihre Bereitschaft erklärt haben, wirklich Wiederaufbauarbeit zur Bewältigung dieser Umweltkatastrophe zu leisten.
({1})
Wir haben natürlich auch ein weiteres getan: Wir haben uns - so ist es wörtlich niedergeschrieben -, über die gegenwärtige Katastrophe hinausblickend, verpflichtet, die Fähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft zur Verhütung und Bewältigung von Umweltkatastrophen zu stärken, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Lage der Entwicklungsländer. Ich glaube, auch das ist ganz bedeutsam und wichtig, auch mit Blick auf die jetzige kriegerische Auseinandersetzung.
Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt, daß wir bereits jetzt an eine Aufbauleistung in dieser Region denken müssen, weil nur durch die Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Konflikte dort in Zukunft ein Miteinander der Menschen gewährleistet werden kann. Wir brauchen dort, dringender als an vielen Stellen sonst, einen Marshall-Plan der Entwicklung. Wir sind uns darüber im klaren, daß wichtige Bausteine in diesem Aufbauplan gerade ökologischer Art sein müssen. Wir arbeiten daran, nicht alleine, sondern in der Gemeinschaft mit der Europäischen Gemeinschaft und der OECD. Das ist eine gute Vorgehensweise. Wir möchten sie in die weltweite Partnerschaft einbringen.
Soweit zu dieser aktuellen Bedrohung. Ich sage noch einmal: Sie muß weltweit geächtet werden. Sie kann nicht kommentarlos hingenommen werden.
Zu dem, was wir uns für diese Legislaturperiode vorgenommen haben, meine Damen und Herren, ist sehr vieles, auch Kritisches gesagt worden. Herr Ab192
geordneter Schäfer, wir freuen uns sehr auf den Druck der Opposition. Bisher hat er noch keine allzugroßen Druckstellen hinterlassen.
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Aber man kann sich ja durchaus weiterentwickeln.
({3})
Ich kann Ihnen versichern: Wenn es gute Ideen sind, werden wir sie gern aufgreifen - das haben wir an vielen Stellen schon getan -; denn es gibt keine parteipolitisch gefärbte Umwelt, sondern nur unsere gemeinsame Umwelt, die wir für die Zukunft sichern wollen. Das zu tun sind wir herzlich gern bereit.
({4})
Es ist ganz unstrittig, meine Damen und Herren, daß wir dabei ein Gesamtziel haben, nämlich eine ökologisch orientierte Soziale Marktwirtschaft zu gewährleisten. Das ist das Thema. Unter diesem Gesichtspunkt muß man sich fragen: Was sind die Kriterien? Sich hier über das eine oder andere Gesetz zu unterhalten werden wir Gelegenheit haben. Am Anfang sollte aber deutlich werden: Was ist die Grundüberlegung, die dahintersteht?
Die Grundüberlegung ist ganz schlicht und einfach so wie bei der Sozialen Marktwirtschaft. Auch dort haben wir klar gesagt: Wir müssen die freie Entfaltung von Marktkräften in ein klares Ordnungskonzept von Gesetzen einbinden. Diese Gesetze sind immer und immer wieder dynamisch weiterentwickelt worden. Genauso müssen wir die marktwirtschaftlichen Kräfte auch in ein klares Konzept ökologischer Gesetze, Gebote und Verbote einbinden. Wir brauchten sie in der Vergangenheit, und wir brauchen sie auch für die Zukunft.
Aber wir wissen, daß wir das jetzt, nachdem wir einen deutlich höheren Stand der Umweltpolitik erreicht haben, gezielt durch marktwirtschaftliche Anreize ergänzen müssen. Diese Anreize, meine Damen und Herren, sind eben nicht - wie man immer wieder glauben machen will - nur Abgaben und Steuern. Das fängt an bei dem umweltbewußten Konsumenten, der durch seine Kaufentscheidung belegt, daß er dem, der umweltfreudlichere Produkte erzeugt, einen entsprechenden Marktvorteil einräumt. Deswegen machen wir die Kennzeichnungsverpflichtung und ähnliches. Damit werden die Chancen des umweltbewußten Käufers erhöht. Das geht weiter bei Fragen der Umwelthaftung, damit die Risiken nicht sozialisiert werden, sondern in die private Kostenrechnung eingebunden werden.
({5})
Das geht weiter bei solch wichtigen Fragen, meine Damen und Herren, die sich dann auch in Abgaben oder steuerlichen Konzepten niederschlagen. Also: Ordnungsrecht und Anreize, Paragraphen und Markt - dies beides optimal miteinander verbunden ist die Grundlage einer ökologisch orientierten Sozialen Marktwirtschaft.
({6}) Sie findet sich überall wieder.
Sie findet sich darin wieder, daß wir eben nicht ein Abfallgesetz nur novellieren wollen, sondern endlich an die Arbeit herangehen können, die Verantwortung des Produzenten für den gesamten Lebenszyklus seines Produkts zu erhalten und ihn deswegen zu zwingen, schon bei der Produktion darüber nachzudenken, welche Abfallstoffe denn da wieder auf ihn zukommen. Er muß sie demnächst nämlich umweltverträglich entsorgen. Die falschen Arbeitsteilungen zu begrenzen ist also unser Ansatzpunkt. Das wird ordnungsrechtlich geregelt und durch eine Abgabe auf Sondermüll marktwirtschaftlich unterstützt.
({7})
Dasselbe haben wir, wie Sie wissen, bei der CO2- Frage. - Meine Damen und Herren, auch das ganz aktuell: Mit unserer Entscheidung, das CO2 um 25 % bis 30 % zu reduzieren, und unserer Entscheidung für eine CO2-Abgabe sind wir unter den OECD-Ländern, also unter den Industriestaaten dieser Welt, konkurrenzlos, um es ganz deutlich zu sagen: absolut konkurrenzlos.
({8}) Herr Kollege Schäfer
({9})
- ja, das ist verständlich -,
({10})
wir werden ohne jeden Zweifel auf diesem Gebiet mit Ordnungsrecht und Anreizen genauso vorankommen. Wir wollen eben nicht einfach den Benzinpreis verteuern - wenn wir nur das tun, Herr Abgeordneter Schäfer, sind damit natürlich unglaubliche soziale und regionale Folgen verbunden -,
({11})
sondern wir versuchen, der schlichten Einsicht Rechnung zu tragen, daß jemand, der mit einem Instrument alles erreichen will, im Zweifel auch negative Folgen hinnimmt. - Darüber haben Sie leider nicht gesprochen, aber das ist doch der Punkt.
({12})
Meine Damen und Herren, was soll ich denn den Menschen im ländlichen Raum oder den sozial Schwachen sagen, die auf ihr Auto angewiesen sind, wenn ich die Mineralölpreise massiv erhöhe, ohne daß sie eine Änderung in ihrem Mobilitätsverhalten vornehmen können.
({13})
Deswegen machen wir beides: Ordnungsrecht plus Anreiz. Das ist ökologisch orientierte Soziale Marktwirtschaft. - Die Liste der Beispiele wäre fortsetzbar.
({14})
Herr Minister Töpfer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer ({0})?
Sehr gern.
Können Sie uns, dem Hohen Hause und der Öffentlichkeit bitte sagen, mit welchen Maßnahmen, mit welchen Finanzierungsvorschlägen in welcher Höhe die Bundesregierung gedenkt, das theoretisch richtig erkannte Problem, den öffentlichen Nahverkehr im ländlichen Raum zu stärken, anzupacken?
Herr Abgeordneter Schäfer, Sie werden bei der Lektüre der entsprechenden Unterlagen der Bundesregierung leicht sehen, daß die Entwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs eine Aufgabe der Bundesländer ist.
Aber darüber habe ich jetzt nicht gesprochen. Vielmehr habe ich gesagt: Das Ziel, den Verkehr umweltverträglicher zu machen, d. h. weniger CO2 auszustoßen, können wir nur erreichen, indem wir etwa mit Flottenverbrauchswerten Ordnungsrecht vorgeben und es durch einen Anreiz, nämlich die CO2-Abgabe, ergänzen. Dieses Konzept habe ich Ihnen zu erläutern versucht. Dies, meine ich, sollte für jeden klar und nachvollziehbar sein.
Das wesentliche Thema hat Herr Kollege Baum angesprochen. Ich stimme mit ihm völlig darin überein, daß es uns darum gehen muß, die katastrophale Umwelthypothek aus einer sozialistischen Planwirtschaft abzuarbeiten. Die Solidaritätsaktion ökologischer Aufbau steht deswegen im Mittelpunkt unserer Arbeit.
({0})
Dafür gibt es drei Gründe: Diese Aktion steht zum einen deshalb im Mittelpunkt, weil dadurch Belastungen der menschlichen Gesundheit so schnell wie möglich abgebaut und endgültig beseitigt werden können. Zweitens werden mit einer solchen Maßnahme auch Chancen geschaffen, dort besser zu investieren, als es bei ungeklärten Altlasten möglich ist.
({1})
Damit erhalten wir Arbeitsplätze, und dadurch schaffen wir eine direkte Nachfrage. - Das ist ein zweiter entscheidender Punkt.
Ein dritter Punkt: Nur so können wir das schlechte Image mancher Standorte in den neuen Bundesländern verändern.
({2})
Das ist genauso bedeutsam. Jeder, der sich mit Standortplanung und Standortentscheidungen von Unternehmen beschäftigt, weiß doch, daß niemand dort hingeht, wo das Standortimage schlecht ist, wo dauernd gesagt wird: Das ist eine ökologische Katastrophe. Wer will dort leben? Wer will dort investieren?
Deswegen müssen wir diesen Aufbruch schaffen, damit man sagen kann: Geht nach Bitterfeld, geht nach Mansfeld, geht nach Eisleben - oder wohin auch immer - , um zu sehen, wie man eine geschundene Region mit moderner Technik und mit der Leistungsfähigkeit einer Sozialen Marktwirtschaft wieder sanieren kann.
({3})
Das ist der Punkt: Man muß ein anderes Image schaffen. Ich weiß sehr genau, wie schwer das ist. Ich bin wirklich des öfteren vor Ort gewesen und habe immer wieder mit den Menschen dort gesprochen.
Wenn wir diese Chance und diese Herausforderung nicht bewältigen, dann sind wir, auch wenn Änderungen im Abfallgesetz oder im Zusammenhang mit dem CO2-Ausstoß wichtig sind, den eigentlichen Herausforderungen nicht gerecht geworden. Dies ist der entscheidende Punkt.
({4})
Das gilt auch für unsere internationale Umweltsolidarität. Zu Recht ist einmal gesagt worden: In der ehemaligen DDR sind die Menschen mit dem Ruf auf die Straße gegangen: Wir sind ein Volk! Wir müssen ergänzen: Wir sind eine Menschheit, und wir haben die Verpflichtung, die ökologischen Probleme, denen wir uns weltweit gegenübersehen, in einer Umweltpartnerschaft aufzuarbeiten und aufzubrechen, damit diese Welt insgesamt eine Zukunft hat. Diese Zukunft hat sie nur im Frieden mit der Natur, der den Frieden zwischen den Menschen unumgänglich voraussetzt.
Ich danke sehr herzlich.
({5})
Das Wort hat jetzt Herr Abgeordneter Dr. Feige.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat mir gestern zunächst einen Schrecken eingejagt. Er hat in seiner Regierungserklärung derart viel von Umweltschutz, Naturschutz und Verantwortung für die Schöpfung gesprochen, daß ich zunächst annahm, er werde jetzt persönlich mit aller Gewalt die stark dezimierten GRÜNEN in diesem Hohen Hause verstärken. Oh ja, Herr Schäfer, unsere Regierung hat rhetorisch enorm dazugelernt. Ich müßte eigentlich stolz darauf sein, daß das Lehrbuch für diesen verbalen Kraftakt des Kanzlers durch meine Partei, die GRÜNEN, entscheidend mitgestaltet wurde. Aber zwischen Theorie und Praxis liegen manchmal Welten.
Spätestens an der Stelle, an der der Kanzler in seiner Rede davon sprach, nun grünes Licht - man höre: grünes Licht! - für Investitionen der Wirtschaft zu geben, platzte - für alle sichtbar und hörbar - der scheinbar so ökologisch grüne Luftballon der Koalition - peng! Zum Vorschein kam der schon sattsam bekannte schwarz-gelbe radioaktiv strahlende Müllberg der sogenannten Umweltpolitik der letzten Jahre.
({0})
Kaum eine Maßnahme, die in der Regierungserklärung zum Arbeitsziel der nächsten Jahre erklärt wurde, hält einer tieferen Prüfung stand. Ich glaube, sie übersteht nicht einmal eine oberflächliche Betrachtung. Ich kann das begründen. Wie ein roter Fa194
den durchzieht eine Kernaussage die umweltpolitische Zielsetzung der Koalition. Das grenzenlose Wachstum der Wirtschaft, von dem wir alle wissen, daß es eine wesentliche Ursache für die Umweltzerstörung und die Ressourcenvernichtung moderner Industriegesellschaften ist, wird nicht nur nicht in Frage gestellt, sondern als notwendig für Fortschritte im Umweltschutz bezeichnet. Umweltinvestitionen - wozu diese Regierung auch den Bau von Müllverbrennungsanlagen zählt - seien nur über einen Produktivitätszuwachs finanzierbar. Mit einer solchen Politik wird festgeschrieben, daß die Reparaturmaßnahmen den Umweltschäden auch künftig - zumindest vielleicht für vier Jahre - hinterherschleichen. Die Diskrepanz zwischen Umweltschadenskosten von jährlich 150 Milliarden DM und sogenannten Umweltinvestitionen in Höhe von knapp 30 Milliarden DM wird weiter aufrechterhalten bzw. verstärkt. Alle, aber auch alle Entwicklungen haben in den letzten Jahren belegt, daß uns der so organisierte Teufelskreis nur noch schneller auf eine ökologische Katastrophe zutreibt.
Kosmetische Korrekturen reichen in keinem relevanten Politikfeld mehr aus, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ganz sicher genügen sie aber nicht mehr bei der Bekämpfung der drohenden Klimakatastrophe. Wir stimmen dem Bundeskanzler zu, wenn er feststellt, daß wir uns erneut an einer Schwelle befinden, die in besonderem Maße Klugheit und Weitsicht erfordert. Angesichts der in der Regierungserklärung signalisierten Eckpunkte zum angekündigten energiepolitischen Gesamtkonzept ist aber mehr als Skepsis angebracht.
Das unbeirrte Festhalten an der intensiven Kohleverstromung in Verbindung mit der Nutzung der Kernenergie zeigt doch nun alles andere als Weitsicht oder gar Klugheit. Die Mehrheit der Deutschen in den alten und, bitte schön, auch in den neuen Bundesländern ist es zudem leid, einem Einschlafmärchen vom hohen Sicherheitsniveau der Kernkraftwerke zu lauschen. Diese Regierung sollte aufhören, für teures Geld immer neue Konzepte entwerfen zu lassen. Diese Energiekonzepte liegen längst vor. Sie können sie bei den GRÜNEN oder anderen fortschrittlichen Energieexperten einfach abschreiben und zum Nulltarif erwerben.
Uns geht es heute auch weniger um die Erforschung erneuerbarer Energiequellen - es wird immer wieder von „Forschung" gesprochen - als vielmehr um deren zügige Markteinführung. Die entsprechenden Technologien liegen für die Kommunen schon längst serienreif zur Nutzung bereit. Was für eine traumhafte Chance des Fortschritts, diese Technologien der Energieerzeugung in den neuen Bundesländern einzusetzen! Wenn wir schon von den neuen Bundesländern sprechen, möchte ich mich jetzt einmal auf sie konzentrieren. Statt dessen hat die Bundesregierung in Kollaboration mit dem jetzigen Verkehrsminister für Ostdeutschland den verhängnisvollen Energievertrag durchgeboxt. Dieser garantiert den westdeutschen Energieversorgern traumhafte Gewinne, den neuen Bundesbürgern aber nur eine veraltete und im Westen sogar schon überholte Energiestruktur. Dazu
erhält der Osten Technologien zweiter Klasse, die schon bei Inbetriebnahme veraltet sind.
({1})
- Sicherlich besser als jetzt. Das wird aber auf Jahre festgeschrieben. So wird der ökologische Rückstand Ostdeutschlands auf Jahrzehnte festgehalten.
Wir brauchen hocheffiziente dezentrale, umweltfreundliche und moderne Strukturen statt eines neuen Zentralismus. Wir brauchen die breite Einführung regenerativer und sparsamer Energieträger - darin stimmen wir vielleicht überein - , die mittelfristig zu d e m Exportschlager der neuen Länder werden können. Wir brauchen darüber hinaus eine kommunale und sparsame Energieversorgung statt Großkraftwerke, die teuer sind, wenig Arbeitsplätze schaffen und in Westdeutschland schon längst als Auslaufmodelle gelten. Schon gar nicht wollen wir, daß die ostdeutschen Länder als Experimentierfeld für die westdeutsche Atommafia benutzt werden, nur um deren Absatzchancen zu verbessern. Dafür allerdings wird weder Geld noch Mühe gescheut. Dafür werden die dümmlichsten Argumente aus verstaubten Ecken geholt. Da werden Atomkraftwerke als Klimaretter gepriesen, als sei Tschernobyl ein einmaliger, längst vergessener Betriebsunfall der Geschichte gewesen oder die Strahlenschäden in Wismut schon beseitigt.
Darüber hinaus wird auch noch gegen geltendes Atomrecht verstoßen. Warum - so frage ich - ist der nach dem Atomgesetz zwingend vorgeschriebene Entzug der Betriebsgenehmigung für die Blöcke 1 bis 5 in Greifswald immer noch nicht erfolgt?
({2})
Wieso können diese Genehmigungen weiterbestehen?
({3})
Wenn Sie die Betriebsgenehmigung für den Block 5 auch noch entziehen, ist das doch alles schon sehr schön.
({4})
Wenn Sie die Betriebsgenehmigung für Block 5 zurückziehen, dann sind wir wahrscheinlich auf dem richtigen Weg zum Ausstieg aus der Kernenergie.
Herr Töpfer, Sie sind doch in anderen Fällen, wie z. B. beim Atomschacht Konrad, mit Ihren Weisungen nicht so zurückhaltend gewesen.
Diese Regierung will die drohende Klimakatastrophe mit dem Teufel Atomenergie austreiben und bedient sich dabei des Beelzebubs radioaktives Strahlungsrisiko. Die Bedrohung unserer Erdatmosphäre durch den Treibhauseffekt soll durch die tagtägliche akute Bedrohung mit Radioaktivität geheilt werden.
Damit nicht genug. Im trauten Schulterschluß mit dem Straßenverkehrsminister kündigt der Umweltminister ein Maßnahmengesetz an. Bei der Planung von Autobahnen, Bundesstraßen, von Industriestandorten und anderen Infrastrukturprojekten in den neuen
Bundesländern soll so der Widerstand der betroffenen Bürger ausgeschaltet werden. Die Beteiligungsrechte der Öffentlichkeit sind aber gerade für die Bürger Ostdeutschlands eine große demokratische Errungenschaft - sie sind für uns völlig neu - , die nur von völlig verbohrten Technokraten als Hemmnis und als Zeitverzögerung bei Investitionen ausgelegt werden kann. Kein vernünftiger Mensch würde doch die Genehmigung von Anlagen, von Wirtschaftsunternehmen oder sonstigen Infrastrukturmaßnahmen behindern, wenn nicht die Erfahrungen gelehrt hätten, daß eben nicht alle Belange objektiv abgewogen werden, sondern daß im Regelfall vorgeschobene ökonomische und soziale Aspekte wie eine Dampfwalze über Umweltbelange hinweggeschoben werden. Die Fehler dieser Dampfwalzenpolitik werden dann selbstverständlich im Osten Deutschlands das gleiche verkehrspolitische und umweltpolitische Debakel hervorzaubern, das viele Menschen in den alten Bundesländern gerade verändern wollen.
Damit schließt sich der Kreis. Gegen moderne, zeitgemäße Investitionen, gegen zukunftsgerichtete Technologien und gegen ökonomisch, sozial und ökologisch verträgliche Maßnahmen bräuchte man weder in den neuen noch in den alten Bundesländern Widerstand zu befürchten. Ein Maßnahmengesetz zur Ausschaltung der Bürgerbeteiligung wäre somit überflüssig. Es glaube niemand, die Bürger in den neuen Bundesländern werden dies nicht begreifen.
Ich freue mich trotzdem insgesamt über soviel Optimismus, der aus einem solchen Programm herausstrahlt. Ich kann diesen Optimismus aber nicht teilen. Lieber wäre es mir und sicherlich auch vielen meiner ostdeutschen Kollegen, wenn wir hier weniger Glaubensbekenntnisse zu hören bekämen, dafür aber mehr konkrete finanzielle Unterstützung für die ostdeutschen Bundesländer.
Brandenburg und Sachsen haben sich dazu heute schon artikuliert. Im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern erwarten wir eine Finanzierungslücke von allein 3 Milliarden DM im Haushalt 1991. Das von der Bundesregierung so gelobte Kreditprogramm zur Förderung kommunaler Investitionen mit einer Aufstokkung von 10 auf 15 Milliarden DM ist doch nur ein Tropfen auf einen glühenden Stein.
Die fünf neuen Länder dürfen nicht zum Absatzmarkt für westliche Gebrauchtwaren werden, mögen diese auch noch so glänzen. Die fünf neuen Länder sind keine Glasperlenkolonie.
Abschließend erlauben Sie mir vielleicht noch ein kurzes Wort mit einem Blick über unsere deutschen Grenzen hinaus. Ich stimme den Worten des Kollegen Schäfer, was die ökologische Situation in der Golfregion betrifft, völlig zu. Ich möchte nur hinzufügen, wenn denn schon Geldmittel aus Deutschland für den Golfkrieg aufgebracht werden, so sollten sie für die Beseitigung der hier in verbrecherischer Weise entstehenden menschlichen und ökologischen Schäden eingesetzt werden.
({5})
Bezahlen sollen die Firmen, die an diesem Krieg verdient haben, auch in Deutschland.
({6})
Herr Kollege Dr. Feige, kommen Sie bitte zum Ende.
Ich bin sofort fertig, einen Satz noch.
Sollte es sich erweisen, daß auch Vertreter der Regierung am militärischen Erstarken des Irak teilhatten, so sind sie schon allein deshalb in die Wüste zu schicken.
({0})
Das Wort hat der Minister für Arbeit und Sozialordnung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe hier eine wohlvorbereitete Rede, gut formuliert, mit viel Mühe, 27 Seiten lang.
({0})
Das ist die Rede meines sozialdemokratischen Freundes Dreßler, die er gleich als Antwort auf meine Rede halten wird.
({1})
Ich weiß zwar noch nicht, was ich sagen werde. Aber er weiß schon die Antwort, wie Sie sehen.
({2})
Im übrigen ist das nichts Neues. Das ist die alte Dreßlersche sozialpolitische Gespensterbahn, mit der er sozialpolitische Kleinkinder in Schrecken versetzt.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir eigentlich so weiterdiskutieren? Ich finde, daß wir im Januar 1991 anders diskutieren müssen als in den zurückliegenden Jahren. Im Grunde sind das alles die westdeutschen Spielplätze der Vergangenheit. Ich hoffe, es ist jedem klar, daß wir die deutsche Einheit zu bewältigen haben. Ein Teil der sozialpolitischen Probleme sind, gemessen an den Herausforderungen, die auf uns zukommen, geradezu Sandkastenprobleme gegenüber dem, was die eigentliche Herausforderung ist, nämlich deutsche Einheit auch sozial herzustellen, der nationalen Einheit eine soziale hinzuzufügen.
({4})
Ich bekenne: Die soziale Einheit ist kein Ergebnis, sondern ein Prozeß. Einigung heißt das Thema. Die größte Herausforderung, die ich sehe, ist, Arbeit für alle zu schaffen, im Westen wie im Osten, zu verhindern, daß in Deutschland ein Hinterhaus entsteht, eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft, Wohlstand im Westen und Elend im Osten.
({5})
- Von der SED würde ich das nicht sagen. Wenn Sie sehen, welches Elend Sie in der DDR hergestellt haben, würde ich Sie nicht als Schulmeister des deutschen Sozialstaats akzeptieren.
({6})
So erfolgreich scheint die sozialistische Politik nicht gewesen zu sein. Sonst müßten wir jetzt nicht das Gefälle einebnen. Es wird ja niemand bestreiten, daß es ein Gefälle gibt.
({7})
Wir wären schon sehr weit, wenn in den Beitrittsländern jene sozialen Verhältnisse bestünden, die wir in Westdeutschland erreicht haben, die ich keineswegs als Paradies darstelle. Natürlich gibt es hier viele Probleme, auch Arbeitslosigkeit. Aber das erste und wichtigste Problem ist, ausgewogene Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands herzustellen.
({8})
- Wie denn? Durch eine handfeste Arbeitsmarktpolitik. 130 000 Bürger in den neuen Bundesländern waren im letzten Jahr in Qualifikationsmaßnahmen. Wir wollen diese Zahl auf 300 000 erhöhen und damit mehr als verdoppeln. Wir sollten darüber streiten, wie wir das schaffen und wie wir die Anstrengungen aller verstärken. Das schafft nicht die Bundesregierung allein. Das wäre sonst ein autoritäres Verständnis. Das schaffen wir nur in einem großen Bündnis aller Gutwilligen. Dazu lade ich ausdrücklich ein: die Sozialpartner, die Betriebe. Die Sozialpolitik allein kann es gar nicht schaffen. Wir brauchen die Wirtschaftspolitik. Wir brauchen die Unternehmer. Wir brauchen
({9})
eine Qualifikationspolitik, die auch in Beschäftigung hinüberführt. Wir brauchen eine Politik, die das Konzept der Kurzarbeit besser mit Qualifikation verbindet, als das bisher gelungen ist. Meine Damen und Herren, ich stehe hier doch nicht nur mit Erfolgsmeldungen. Das Instrument Kurzarbeit hat einen arbeitsmarktpolitischen Dammbruch verhindert. Ich verteidige das Instrument. Es muß jetzt darum gehen, dieses Instrument mit Qualifikation besser zu verbinden, als uns das bisher gelungen ist.
Die deutsche Einheit ist nicht seit Jahren vorhanden, sondern seit dem 3. Oktober. Natürlich brauchen wir Zeit. Ich mahne allerdings hier nicht zum Ausruhen, sondern zu verstärktem Tempo. Gerade dabei werden wir die Tarifpartner brauchen.
Bleiben wir bei dem Thema Kurzarbeit.
({10})
- Null, auch dieses Thema nehme ich auf. Machen Sie die Kurzarbeit nicht schlechter, als sie ist. 16 % der Kurzarbeiter sind auf Null gesetzt. 84 % sind dies keineswegs. Zwei Drittel der Kurzarbeiter haben einen Arbeitsausfall, der unter der Hälfte liegt. Ich verteidige dieses Instrument. Wenn wir es nicht hätten, hätten wir wahrscheinlich zwei Millionen Arbeitslose mehr. Wollen Sie eine solche Politik der Hoffnungslosigkeit mit der deutschen Einheit verbinden?
({11})
Insofern war dieses Instrument doch richtig.
Ich sage aber nochmals: Man verbindet es besser mit Qualifizierung. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, was wir besser machen können. Ist es sinnvoll, daß wir ausgerechnet die Kurzarbeit tarifpolitisch aufstocken und das Kurzarbeitergeld in die Nähe des letzten Nettoverdienstes bringen? Ich gönne es ja jedem. Aber wäre es nicht sehr viel besser, den Anreiz auf die Qualifikation zu legen,
({12})
sozusagen die Qualifikation stärker zu honorieren? Ich glaube, daß man Anreize braucht, daß man Unterstützung braucht, Qualifikation zu mobilisieren.
Auch das Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen funktioniert nicht so, wie wir es uns wünschen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir es besser machen können. Am Geld liegt es nicht. Das können Sie daran sehen, daß die bereitgestellten Gelder nicht voll abgeflossen sind. Also denken wir darüber nach: Was können wir besser machen? Wir brauchen ein großes Bündnis von Menschen mit Ideen, mit Initiativen. Wir brauchen in den Kommunen eine neue Initiative für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Mit Geld allein - ich wiederhole es - schaffen wir es nicht. Denn es ist mehr Geld vorhanden, als genutzt wird.
({13})
Ich sehe große Möglichkeiten gerade im Zusammenhang mit dem Thema, das hier besprochen worden ist: mit der Umwelt. Könnten wir nicht die Altlastensanierung stärker mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen koppeln? Könnten wir nicht im Bereich der Verkehrspolitik Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einsetzen?
({14})
- Lieber Herr Schreiner, Sie haben ein merkwürdiges, offenbar stark autoritäres Verständnis von Regierung. Wir haben hier Gott sei Dank keine Planwirtschaft. Wir sind auf das Mittun der Kommunen und der Tarifpartner angewiesen. Wohin man kommt, wenn der Staat alles macht, haben die Sozialisten in der DDR vorgeführt.
({15})
Stabilisieren Sie doch nicht jene Erwartungshaltung, unter der wir gemeinsam leiden: zu warten, bis der Gottvater Staat alles macht. Diesen Gottvater Staat gibt es nicht. Den gab es allzulange in den Köpfen der Menschen in der DDR, mit dem ganzen Desaster. Wir brauchen mehr Initiative und freie Solidarität auch in den Beitrittsländern.
({16})
Dann gibt es das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit. Für die Langzeitarbeitslosen wollen wir unsere Bemühungen fortsetzen. Denn ich glaube, das ist auch hier im Westen der harte Kern der unauflösbaren Arbeitslosigkeit. Aber damit sollten wir uns nicht abfinden. Es sind auch stärker psychologische Hilfen notwendig.
({17})
Ein Arbeitnehmer, ob Frau oder Mann, der jahrelang keine Arbeit gefunden hat - vielleicht war er krank oder behindert - , hat sich in einer Gesellschaft eingerichtet, die ihn nicht fordert. Deshalb muß er geradezu an die Hand genommen werden. Die Gesellschaft muß ihm helfen, zurückzufinden. Das Programm für die Langzeitarbeitslosen war nicht ohne Erfolg. Wir haben 70 000 Langzeitarbeitslose weniger. Freuen Sie sich doch einmal mit mir darüber, daß durch dieses Programm 70 000 Langzeitarbeitslosen geholfen wurde und diese in die Arbeit zurückgefunden haben. Für jeden der 70 000 ist das ein Fortschritt.
({18})
Ich halte mich nicht ganz an den Text von Dreßler, sondern nenne noch ein paar andere Themen.
Rentenversicherung. Ich sehe die große Aufgabe im Bereich der Rentenversicherung darin, daß wir die im Einigungsvertrag vorgesehene rentenrechtliche Einheit zum 1. Januar 1992 herstellen. Das wird ganz besonders für viele Frauen, für Witwen wesentliche Verbesserungen bringen. Denn die Hinterbliebenen, gerade die Witwen, waren die durch das Rentenrecht in der ehemaligen DDR am meisten Benachteiligten.
({19})
Wir plädieren dafür, zusammen mit dieser Einheit auch den Finanzverbund zu schaffen, aus der Rentenversicherung Ost und West eine einzige Kasse zu machen. Das geschieht früher, als wir es ursprünglich einmal geplant haben. Aber Gott sei Dank ist der Prozeß der deutschen Einigung schneller abgelaufen, als wir alle es erwartet haben. Ich sage Gott sei Dank, denn wenn er langsamer abgelaufen wäre, hätten wir das Ziel gar nicht erreicht.
({20})
Ich betrachte eine einheitliche Rentenkasse auch als Ausdruck der Solidarität. Wir sollten jetzt aufhören, in Kategorien wie Ost/West, ehemalige DDR, alte/neue Bundesländer zu denken. Wir sollten in Solidarität an einen Sozialstaat Deutschland denken.
Die zweite Aufgabe wird sein, Sondersysteme - zum Teil mit Privilegien versehen - in die Rentenversicherung zu überführen. Lieber Kollege Dreßler, vermißt habe ich - ({21})
- Das macht er doch gleich selber. Aber wenn er
damit einverstanden ist und wenn er mir seine Redezeit gibt, lese ich seine ganze Rede vor. Ich übernehme das, obwohl ich mich als Bauchredner für Dreßler eigentlich wenig eigne.
({22})
Eines habe ich vermißt: daß Sie in Ihrer Rede unseren gemeinsamen Erfolg - ich sage, gemeinsamen Erfolg - , den Rentenkonsens, hier vor der deutschen Öffentlichkeit verteidigen. Denn es kam nicht zu einem Finanzverbund Knappschaft/Rente. Ich gestehe, daß darüber heiß diskutiert wurde. Aber die Kollegen Günther, Seehofer, Cronenberg, Thomae und alle, die am Rentenkonsens mitgearbeitet haben, haben dieses unser gemeinsames Werk auch in der Koalition verteidigt, und das finde ich ganz wichtig. Wir haben Wort gehalten: Es kommt nicht zu einem großen Finanzmischmasch. Die Rentenfinanzen bleiben eigenständig und sicher, und das wollen wir auch in Zukunft verteidigen.
({23})
Sie sehen, ich bin nicht nur auf Krach aus. Ich finde, es war eine große Anstrengung, diesen Rentenkonsens zu erreichen. Er hat auch Vertrauen geschaffen, und das sollten wir bei allem Streit auch in der Zukunft nicht gefährden. Denn wir machen Politik nicht nur für Parteien, sondern für die Menschen, und das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, daß Rentenangst aufkommt.
Nun wird der Kollege Dreßler, nicht ganz überraschend, auch zur Krankenversicherung sprechen. Die Zuständigkeit dafür habe ich an meine verehrte Kollegin abgegeben.
({24})
- Das werden Sie gleich erleben, was er dazu sagt. Ich stelle fest: Ich übergebe die Krankenversicherung an meine Nachfolgerin in hervorragendem Zustand. Zum erstenmal sinken die Beiträge. 700 Krankenkassen haben die Beiträge gesenkt. 21 Millionen Beitragszahler zahlen weniger Beiträge.
({25})
Die Festbeträge, die Herr Dreßler gleich attackieren wird, bringen Ersparnisse bei den Versicherten: 945 Millionen DM weniger Ausgaben Dank der Festbeträge, die Herr Dreßler gleich attackieren wird. Lieber Kollege Dreßler, wenn Sie diesen Erfolg jemals erreicht hätten, würden Sie auf Ihrem eigenen Schreibtisch ein Bild von Dreßler stellen, eine Kerze davor und sich selber anbeten.
({26})
So wie ich sie kenne, würde die AfA Prozessionen zu Ihnen machen.
({27})
- Was ist daran Fasching, wenn wir der Pflege Bahn gebrochen haben, der Pflege zum erstenmal in der Krankenversicherung die Türen geöffnet und die Vorsorge ausgebaut haben? Ich bleibe dabei: Neben der deutschen Einheit als der herausragenden Aufgabe ist das große sozialpolitische Thema die Pflege.
Da werden Sie den Norbert Blüm erst einmal kennenlernen. Denn das ist die große Herausforderung.
({28})
- Ich habe schon zwei Reformen gepackt, und warum soll ich die dritte nicht auch noch packen? Bei den ersten Reformen haben Sie auch gesagt, das würden wir nicht schaffen.
({29})
Das ist das große unerledigte Thema. Ich sehe hunderttausende von Pflegebedürftigen, die der Sozialstaat alleinläßt. Wir haben die ambulante Pflege weitgehend den Frauen zu Hause überlassen, und zum Dank dafür erwerben sie keine eigene Alterssicherung. Das kann nicht so bleiben.
({30})
Wir brauchen eine neue Infrastruktur der Nachbarschaftspflege. Es kann nicht unsere Antwort sein, daß 70 % derjenigen, die in Pflegeheimen untergebracht sind, ihren Aufenthalt durch die Sozialhilfe bezahlen; das kann nicht die Antwort des Sozialstaates sein.
({31})
Es kann nicht sein, daß das alles Taschengeldbezieher werden, daß das die graue, nivellierte Taschengeldgesellschaft wird. Wir wollen eine Gesellschaft mit Herz. Deshalb lade ich Sie und alle ein, daß wir uns in dieser Legislaturperiode mit ganzer Kraft diesen Themen zuwenden:
({32})
deutsche Einheit, Sozialstaat Deutschland und Pflege!
({33})
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ja viele Mitglieder dieses Hauses, die in den letzten Jahren das Parlamentsverständnis des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung in seinen Reden haben anhören müssen.
({0})
- Nein, nein, sie mußten. Wir mußten auch - wir sind ja pflichtbewußt. Sie mußten, weil Sie nun einmal dazugehören. Manchem bei Ihnen ballte sich die Faust in der Tasche.
({1})
Aber geschenkt! Mir kommt es auf folgendes an: Wenn ein Bundesminister dieses Landes noch nicht einmal nach so vielen Jahren Tätigkeit begreift
({2})
oder begreifen will, daß wir heute keine Büttenreden von Bundesministern debattieren,
({3})
sondern eine Regierungserklärung,
({4})
daß es überhaupt nicht Aufgabe der Opposition sein kann, zu Arbeitsminister- oder anderen Ministereinlassungen hier Stellung zu nehmen, sondern sich mit der Regierungserklärung des Kanzlers auseinanderzusetzen, dann ist das zwar sein Problem; allerdings werden wir uns nicht von der Fährte locken lassen.
Das zweite ist - das muß ich Ihnen nun wirklich sagen - :
({5})
- Herr Geißler, sich mit den Inhalten dessen was hier gerade abgelaufen ist, sachlich auseinanderzusetzen, fällt schon deshalb schwer, weil da nichts drin war.
({6})
Es mag ja sein, Herr Geißler, daß Sie die Gabe haben, einen sozialpolitischen Pudding an die Wand zu nageln. Mir ist das nicht gegeben.
({7})
Wir gehen davon aus, daß es gute Tradition ist, daß zu Beginn einer jeden Legislaturperiode der Regierungschef vor dem Parlament die Grundlagen der von ihm beabsichtigten Politik darlegt. Dabei geht es naturgemäß weniger um die Erläuterung gesetzgeberischer Einzelprojekte, sondern um die Verdeutlichung der politischen Konzeption der, wenn Sie so wollen, Philosophie der Regierungspolitik.
Die 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ist die erste gesamtdeutsche. Wer wollte bestreiten, daß diese Ausgangslage besondere Anforderungen an uns alle stellt, an die Regierung wie an die Opposition, Anforderungen an unsere Gestaltungskraft, Phantasie und vor allem an unseren Willen, die deutsche Einigung nach besten Kräften über den staatsrechtlichen Rahmen hinaus für die Menschen auch gesellschaftspolitisch zu besiegeln?
Die Regierungserklärung, die der Bundeskanzler vorgetragen hat, wird diesen Ansprüchen nicht annäherungsweise gerecht. Im Gegenteil, sie ist, bezogen auf diesen Sachverhalt, ein quälendes Dokument der politischen Konturlosigkeit und Konfusion.
({8})
Sie bestätigt für alle sichtbar, was die vorangegangenen Koalitionsverhandlungen befürchten ließen. Es steht nicht gut um die Qualität deutscher Regierungspolitik.
({9})
Meine Damen und Herren, es fehlt nicht nur an klaren inhaltlichen Linien, an Konzepten; in dieser Bundesregierung fehlt es auch an Köpfen, die Programm sein könnten. Das vierte Kabinett Kohl ist ein Kabinett des personalpolitischen Kleinmuts, ja teilweise der Belanglosigkeit, wie wir gerade vernehmen konnten.
({10})
Ohnehin vermittelte das die Bildung der Bundesregierung begleitende öffentliche Spektakel den fatalen Eindruck, es gehe weniger um die Gewinnung politisch-fachlich qualifizierter Ressortschef, sondern um die Sicherung von Pfründen und die Befriedigung von Ansprüchen.
({11})
Das abstoßende Pöstchengeschachere in den Reihen der FDP lieferte dazu ebenso beredten Anschauungsunterricht wie die wundersame Vermehrung der Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre.
({12})
Meine Damen und Herren, hier galt offenkundig das Motto: „Die Regierung bedient sich selbst, die Zeche begleichen die Steuerzahler."
({13})
Seit dem 4. Oktober 1982 hat sich die Zahl der Minister, Parlamentarischen und beamteten Staatssekretäre um 16 von 61 auf 77 erhöht.
({14})
Das sind 27 %. Anders ausgedrückt, je mehr Versorgungsposten, desto geringer die Qualität, meine Damen und Herren.
({15})
Das beeindruckendste Beispiel in der Liste dieser wundersamen Ämtervermehrung lieferte allerdings der Bundeskanzler mit seiner Entscheidung, das ehemalige Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit - bisher schon ohne echte politische Kompetenz - auch noch dreizuteilen.
({16})
Nun will ich die Flut von spöttischen und bösen Kommentaren, die dies in der Öffenlichkeit auslöste, nicht zitieren.
({17})
Gleichwohl erinnert mich diese Operation an die Erkenntnis, daß auch 3 x 0 null bleibt.
({18})
Man kann nämlich nur mit Beklemmung registrieren,
in welcher Verfassung sich diese Koalition angesichts
der schwierigen Aufgaben im Zuge der Ausgestaltung der deutschen Einheit und angesichts der düsteren Ereignisse am Golf und im Baltikum, die den weltpolitischen Horizont wieder verdunkeln, schon zu Beginn der Wahlperiode präsentiert. Gerade jetzt, wo - um eine Lieblingsvokabel des Kanzlers aufzugreifen - kraftvolle politische Führung angezeigt ist,
({19})
wo Mut und Entschlossenheit gefordert sind, verliert sich diese Regierung in wohlfeilen Reden und übt sich in konzeptioneller Selbstvernebelung.
Die deutsche Einheit auszugestalten heißt, einen gemeinsamen Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland zu schaffen, heißt, das Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost zu beseitigen.
({20})
Meine Damen und Herren, ich mache Sie darauf aufmerksam - das ist den Damen und Herren der CDU/ CSU und FDP vielleicht noch gar nicht aufgefallen -, Sie werden in der Koalitionsvereinbarung das Wort Sozialunion nicht mehr finden. Nicht mehr finden!
({21})
Ob diese Aufgabe gelingt, hängt entscheidend vom Stellenwert und vom Gewicht ab, das der Sozialpolitik im Konzept der verschiedenen Politikfelder zugemessen wird.
({22})
Regierungserklärung und Koalitionsvereinbarungen verheißen dazu nichts Gutes. Sozialpolitik im weitesten Sinne heißt leben, arbeiten, wohnen. Diese existentiellen Problemfelder haben für die Regierung minderes Gewicht. Die Regierung verfolgt vielmehr die klassische konservative Strategie: Sozialpolitik wird zur Restgröße, wird zum Troubleshooter der Folgen einer konzeptionslosen Wirtschafts- und Finanzpolitik verbogen.
({23})
Ich sage Ihnen, ein derartiges Verständnis von Sozialpolitik ist für uns Sozialdemokraten unannehmbar. Wir wollen eine Sozialpolitik, die aktiv gestaltet.
({24})
Wer nämlich wie auch Sie, Herr Geißler, es zuläßt, daß Sozialpolitik zur Restgröße verkommt, wer ihre Zuständigkeit auf die beschränkt, die im wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Wettbewerb durch den Rost gefallen sind, wer den Empfängern von Sozialleistungen damit gleichsam politikamtlich ins Stammbuch schreibt „Ihr kommt nicht mehr mit" , der treibt keine solidarische Sozialpolitik; der setzt nicht auf den Sozialstaat, Herr Geißler; der setzt auf den Ellenbogenstaat. Und da macht die SPD auch nicht mit, Herr Geißler.
({25})
Auch nach eingehender Prüfung der Koalitionsvereinbarungen bleibt nur das folgende Fazit: Nachdem die Wahlen vorbei sind, kommt die Wahrheit ans Licht, Stück für Stück. Daß die Gestaltung der deutschen Einheit, die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse nicht ohne finanzielle Belastungen bewältigt werden kann, wir Sozialdemokraten haben es gewußt und haben es auch gesagt. Nur, die Regierung hat so getan, als werde dies an den Menschen fast spurlos vorbeigehen.
Erinnern wir uns: „Niemand wird es schlechter gehen und vielen besser. " So lautete das Motto des Bundeskanzlers.
({26})
Jeder sieht heute, dies war die Unwahrheit. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP ist zur Gefangenen ihrer eigenen unhaltbaren Versprechungen geworden, die sie nun einholen. Es ist offenkundig: Dies ist eine Koalition des gebrochenen Wortes, meine Damen und Herren.
({27})
Die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in Deutschland erfordert ein klares, schlüssiges Konzept, sowohl was die Inhalte angeht als auch die Finanzierung. Die Regierung aber hatte und hat keines. Sie stolpert von einer Verlegensheitslösung in die andere. Was uns da in der Weihnachtspause zugemutet wurde, war alles andere als ein Krippenspiel: Straßenbenutzungsgebühr ja, Straßenbenutzungsgebühr nein. Mineralölsteuererhöhung ja, Mineralölsteuererhöhung nein. Die Findigkeit der Koalition in der Erschließung neuer Finanztöpfe kannte keine Grenze. Keine Absurdität wurde ausgelassen.
Telefongebühren heißt nun das neueste Stichwort, um bei den Menschen abzukassieren. Ich frage mich manchmal, in welcher Welt die Vertreter der Koalition eigentlich leben. Ihnen muß doch klar sein, daß sie damit Alte, Kranke und Behinderte, also vor allem jene treffen, für die das Telefon das meist einzige Kontaktmittel nach außen ist. Die Gebühren würden ja gar nicht erhöht, lediglich der Zeittakt werde verkürzt, ließ sich der Finanzminister vernehmen. Meine Damen und Herren, dieses Argument gleicht dem des Autofahrers, der eine Benzinpreiserhöhung mit der Bemerkung kommentiert, daß sei ihm egal, er tanke ohnehin immer nur für 30 Mark.
({28})
In dieser Regierung des gebrochenen Wortes gibt es auch einen Sozialminister, also einen, der von Amts wegen darüber zu wachen hätte, daß die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit eingehalten werden. Man hat ihn zum Thema Telefongebühren damals nicht gehört, hat ihn heute nicht gehört; vielleicht hören wir ihn morgen. Bisher hat er dazu nichts gesagt.
Ein klassisches aktuelles Beispiel ist die Pflegeversicherung, die er vor der Wahl so vollmundig angekündigt hat. Als die frühere SPD-geführte Landesregierung in Hessen 1985 einen Gesetzentwurf über eine Pflegeversicherung vorlegte und im Bundesrat zur Abstimmung stellte, hatte dieser Entwurf vor allem einen entschiedenen Gegner: Sozialminister Blüm. Ausgerechnet er tat vor den Bundestagswahlen so, als sei er der Erfinder einer solchen Idee. Ich denke, das ist eine dreiste Spekulation auf die Vergeßlichkeit von Menschen.
({29})
Sein Vorschlag einer Pflegeversicherung ist abgeschrieben. Als letzte Vorlage diente ihm dazu das Berliner Wahlprogramm der SPD von 1990.
({30})
Was allerdings von den Wahlversprechungen dieses Ministers hinterher zu halten ist, zeigt der tatsächliche Koalitionsbeschluß zur Pflegeversicherung. Die Wahlversprechungen von Herrn Blüm von der CDU/ CSU wurden wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Kein rhetorischer Ausflug kann darüber hinwegtäuschen, daß die Zusage Herrn Blüms an den deutschen Wähler in dieser Koalitionsvereinbarung nicht enthalten ist.
({31})
Das ist der Tatbestand.
In Sachen Pflege seien Sie ganz beruhigt, besonders die Damen und Herren von der CDU/CSU!
({32})
Die FDP hat sich auf diesem Feld völlig sauber verhalten: Sie war vorher dagegen, sie war während der Verhandlungen dagegen, und sie ist jetzt dagegen.
({33})
Sie sitzen da mit langen Gesichtern, weil sich die FDP durchgesetzt hat. Ich kann verstehen, daß Ihnen dabei mulmig wird. Ich sage Ihnen: In Sachen Pflege wird die SPD-Bundestagsfraktion Herrn Blüm und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in die Lage versetzen, über die Inhalte Ihrer eigenen Wahlreden hier abstimmen zu können. Das kündige ich Ihnen bereits heute verbindlich an, meine Damen und Herren.
({34})
Mangelnde Entschlußkraft und politische Konturlosigkeit kennzeichnen auch die Aussagen der Koalitionsvereinbarung in einem anderen, für die Menschen besonders wichtigen Bereich, dem des Arbeitsschutzes." Der Arbeitsschutz ist unter Berücksichtigung der EG-Richtlinien neu zu regeln und seine Harmonisierung in Europa zu unterstützen", heißt es da. Sie machen sich offensichtlich doch nicht einmal die Mühe, Ihr politisches Blabla durch geschickte Formulierungen zu überkleistern.
({35})
Sonnenklar wird nämlich: Auch in dieser Wahlperiode wird es keine Initiative der Bundesregierung für eine sachgerechte Fortentwicklung des Arbeitsschutzrechtes geben. Aber keine Bange: Wir werden Sie auch hier ans Laufen bringen. Wir haben der Öffentlichkeit im November 1990 einen Diskussionsentwurf für ein umfassendes neues Arbeitsschutzgesetz
vorgelegt. Den werden wir in den 12. Deutschen Bundestag einbringen.
Wer sich den gesundheitspolitischen Vorhaben der Koalition für die 12. Periode zuwendet, der kann das mit Blick auf Bundesminister Blüm nur noch im Sinne eines politischen Nachrufs tun. Er werde, so sagte er, mit seiner Gesundheitsreform nicht scheitern.
({36})
Zwei Jahre nach Inkrafttreten des sogenannten Gesundheitsreformgesetzes steht fest: Nicht nur das Gesetz ist gescheitert; der es zu verantwortende Gesundheitsminister gleich mit ihm.
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Keiner seiner Vorgänger, die je für die Gesundheitspolitik verantwortlich zeichneten, ist so jämmerlich eingebrochen, daß ihm der Regierungschef mit einem Federstrich die Kompetenz für dieses gewichtige politische Themenfeld nehmen konnte. Das Ende der gesundheitspolitischen Dienstfahrt von Herrn Blüm ist gekommen. Aber die gesundheitspolitischen Jahre des Ministers Blüm werden den Menschen im Bewußtsein bleiben als Jahre der Leistungskürzungen, als Jahre des Abkassierens, als Jahre der Entsolidarisierung.
Sie, Herr Blüm, verlassen den politischen Kampfplatz Gesundheitspolitik als Geschlagener, als am eigenen politischen Unvermögen Gescheiterter.
({38})
Wir erinnern uns doch alle noch seiner vollmundigen Worte von diesem Pult. Ich zitiere: „Der kleine Norbert Blüm hat die Pharmaindustrie ganz alleine in die Knie gezwungen."
({39})
- Daß ich nicht lache! Nein, meine Damen und Herren, nicht Blüm hat die Pharmaindustrie in die Knie gezwungen, sondern die Pharmaindustrie hat Blüm bezwungen. Sie hat ihn plattgemacht.
Ab 1. Januar des nächsten Jahres wird es auch für über 50 % der Medikamente eine neue Selbstbeteiligung von 15 %, höchstens aber 15 DM pro Arzneimittel geben. Jeder kann sich ausmalen, was dies für die Kranken bedeutet.
Nun verspricht die Koalition eine Organisationsreform der Krankenversicherung. Wie soll die denn aussehen? Sie wollen eine Erweiterung der Kassenwahlfreiheit unter Wahrung des gegebenen gegliederten Systems. Wie geht das denn? Es geht doch wohl nur das eine oder das andere. Ist Ihnen das noch gar nicht aufgefallen?
Ferner soll es eine Reduzierung von strukturell bedingten Beitragssatzunterschieden geben. Wie beruhigend! Nur: wie und vor allem um wieviel? Das Entscheidende bleibt - wie an jeder Stelle der Regierungserklärung und der Koalitionsvereinbarung - offen. Eine salvatorische Klausel jagt die nächste.
Das aber ist kein Zufall, denn CDU/CSU und FDP sind in diesen Fragen wie Feuer und Wasser. Wenn die zusammentreffen, bildet sich bekanntlich Dampf. Hinter dem möchten Sie sich mit Ihren nichtssagenden Formeln verkrümeln. Aber keine Sorge: Dafür, daß das Thema Krankenkassenreform auf der Tagesordnung dieses Hauses steht, wird die SPD ebenfalls sorgen. Das darf ich Ihnen heute auch schon versprechen.
Auch arbeitsmarktpolitisch kann die Koalitionsvereinbarung nur als Fehlstart in die Wahlperiode bezeichnet werden. Von Zukunftsgestaltung keine Rede. Die Koalitionsvereinbarung behauptet, die aktive Arbeitsmarktpolitik werde auf hohem Niveau fortgesetzt. Diese Behauptung ist ebenso anmaßend wie irreführend.
({40})
Richtig hingegen ist: Die Arbeitslosigkeit wird in den alten wie in den neuen Bundesländern vorrangig verwaltet, aber nicht bekämpft.
({41})
Das geht nun munter weiter. Die der Bundesanstalt für Arbeit auferlegte globale Minderausgabe von 2,3 Milliarden DM im Jahre 1991 wird erneut zu einer Einschränkung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen führen. Wir haben nicht ein Wort des dafür verantwortlichen Ministers gehört, wie er sich in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit in Deutschland von annähernd 4 Milliarden Menschen - ({42})
- 4 Millionen Menschen, Entschuldigung. Wenn Sie sich die Sprachirrtümer Ihres Bundeskanzlers anhörten, wären Sie nur noch am Lachen. Bei mir dürfen Sie es sich einmal leisten.
({43})
Es geht um 4 Millionen Menschen, und da will er 2,3 Milliarden kürzen, und er erzählt uns hier, das würde auf hohem Niveau fortgeführt.
({44})
Ich muß sagen, Herr Blüm: Das ist Zynismus, das ist Trick, und das ist Täuschung, was Sie hier veranstalten.
Daß in Ostdeutschland die Sonderregelungen bei Kurzarbeit und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verlängert werden, kann man doch nur begrüßen. Wir haben im letzten Jahr, Herr Blüm, unseren Beitrag leisten können, diese Regelungen einzuführen. Wir haben aber auch - leider ohne Erfolg - seit mehr als einem Jahr versucht, die Bundesregierung zu treiben, Kurzarbeit mit Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen zu verbinden. Nach einem Jahr verschenkter Zeit will die Bundesregierung nun endlich tätig werden - kündigt sie an. Hoffentlich ist es nicht nur wieder eine Ankündigung.
Wir können es Ihnen nicht ersparen, erneut auf Ihre schweren Versäumnisse aufmerksam zu machen. Die Bundesanstalt hatte Mitte 1990 ein Eventualprogramm vorbereitet, um 100 000 ABM-Plätze und
100 000 Qualifizierungsplätze in den fünf neuen Bundesländern zu erreichen. Die Regierung hat dieses Programm der Bundesanstalt für Arbeit politisch verhindert. Es sind 20 000 ABM-Plätze übriggeblieben. Wir hören von Insidern, daß dreistündige Samstagsvormittagslehrgänge zur Einführung der Sozialen Marktwirtschaft dort als Qualifizierungsmaßnahmen gezählt werden.
({45})
Das will Herr Blüm nun steigern. Ich sage noch einmal, das grenzt an Zynismus.
({46})
Sie treffen erneut Vorbereitungen, um gewerbsmäßige, private Arbeitsvermittlung zuzulassen. Tatsache ist aber, der notwendige Schutz der Arbeitsuchenden und gezielte Hilfen für benachteiligte Gruppen sind so nicht leistbar.
Ein privater Vermittler wird sich nie um schwierige Vermittlungsfälle kümmern können. Ich will deshalb den frisch gekürten Parlamentarischen Staatssekretär Günther zitieren, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung.
({47})
Er lehnt das ab. Ich zitiere ihn im offiziellen Organ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, verantwortlich Herr Geißler:
Dem Mißbrauch wäre Tür und Tor geöffnet, und wer am meisten bieten könnte, bekäme den attraktivsten Arbeitsplatz oder den idealsten Bewerber.
({48})
Nun, Herr Günther, was ist denn: Kaum ernannt, schon zurückgetreten, oder? Wahrscheinlich wird er nach dem Motto verfahren wie alle seine Kollegen: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Das ist die Tragik.
({49})
Die Rentenversicherung, meine Damen und Herren, gerade erst in einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung für zwei Jahrzehnte in Ordnung gebracht, macht die Regierung Kohl erneut zum Gegenstand von Finanzmanipulationen. Das ist ein schlimmer Rückfall in die Flickschusterei und Milliardenschieberei der 80er Jahre. Hier wird neu gewonnenes Vertrauen mutwillig aufs Spiel gesetzt: Die geplante Beitragsmanipulation, Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags zunächst um 2,5 %, dann Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um 1 To ist nichts anderes als der Bruch eines zentralen Wahlkampfversprechens. Das öffentliche Urteil zu diesem Vorhaben war einhellig wie selten. Herr Blüm, hören Sie mal zu! Es geht jetzt, Herr Blüm, um ein Wahlversprechen von Ihnen, das Sie gemacht haben. Die Überschriften lauteten in Richtung von Herrn Blüm: Wahlbetrug, Beitragslüge, Schlachtfest. Das waren die meistgebrauchten Vokabeln. Am 17. Mai vorigen Jahres hat Bundesarbeitsminister Blüm erklärt - ich zitiere - :
„Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Beitragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet werden. Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln."
Nach der Wahl beschließt die Bundesregierung genau das, was sie vor der Wahl nicht zu tun versprochen hatte. Herr Blüm, haben Sie einen anderen Begriff dafür als Wahlbetrug und Wählertäuschung?
Die massive Erhöhung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung haben wir Ihnen vor der Wahl auf den Kopf zugesagt. Das Bundesarbeitsministerium lieferte dazu ausweislich des „Kölner Stadtanzeigers" vom 24. November 1990 ein Dementi. Ich zitiere wieder Herrn Blüm:
Eine von der SPD behauptete Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung von 4,3 auf 6,3 % ist nach Angaben aus dem Bundesarbeitsministerium nicht geplant. Beschlossen sei lediglich eine Anhebung um höchstens einen Prozentpunkt auf 5,3 % bei gleichzeitiger entsprechender Senkung des Beitrags zur Rentenversicherung.
Herr Blüm, was ist das eigentlich anderes als die Unwahrheit und Beitragslüge?
({50})
Haben Sie eigentlich jede Sensibilität dafür verloren, daß Sie vor Wahlen mit solchen objektiven, wie sich heute herausstellt, Unwahrheiten vor das deutsche Volk treten und hier nicht einmal die Spur, einen Hauch von Kraft besitzen, diese Beitragslüge dem deutschen Parlament zu gestehen? Noch nicht einmal einen Hauch davon haben Sie!
({51})
Daß ihm das vorher von mir zugeschickte Manuskript nicht schmeckte, wenn er gelesen hat, daß er hier vorgeführt wird, kann ich verstehen.
({52})
Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages ist keine Belastungsminderung, sondern lediglich eine zeitliche Umverteilung der Beitragslast, denn der Minderbelastung in den Anfangsjahren steht eine entsprechende Mehrbelastung in den Folgejahren gegenüber. Anders ausgedrückt: Jeder Mensch in Deutschland, der oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze von 6 500 DM verdient, wird von dieser Koalition zur Finanzierung der deutschen Einheit nicht herangezogen. Das ist Umverteilung von unten nach oben, wie sie klassischer überhaupt nicht mehr dargestellt werden kann.
({53})
Preiswerter, erschwinglicher Wohnraum gehört zu den existentiellen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins. Um dies zu gewährleisten, haben wir in unserem Sozialstaat die Instrumente des sozialen Wohnungsbaus und des sozialen Mietrechts entwickelt. Sie müssen aber genutzt werden und dürfen nicht zu einem Alibi verkommen. Die bisherigen Wohnungsbauminister in den Kabinetten der Koalition haben in diesem Politikfeld versagt. Die Namen Oscar
Schneider und Gerda Hasselfeldt sind zu Synonymen für eine gescheiterte Wohnungsbaupolitik geworden. Der Mangel an erschwinglichem Wohnraum ist so groß wie nie. Die neu hinzugekommenen Probleme auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt sind ungewöhnlich schwierig und verstärken den Druck. Wohnungsnot ist kein Fremdwort, sondern Wirklichkeit in Deutschland, und zwar in den alten wie in den neuen Bundesländern. Wenn angesichts der angespannten und bedrückenden Lage am Wohnungsmarkt der FDP das Wohnungsbauministerium übertragen wird, dann ist diese Personalie zugleich Programm,
({54})
Programm für noch höhere Mieten, für noch stärkere Aushöhlung des Mieterschutzes, Programm für eine Umgestaltung des sozialen Wohnungsbaus zu einem Auslaufmodell.
({55})
Wann, wenn nicht jetzt, wenn jedem die dramatische Situation am Wohnungsmarkt deutlich wird, soll eigentlich der notwendige wohnungspolitische Aufbruch, die Umkehr erfolgen? Was muß denn eigentlich noch alles geschehen? Wie lang muß die Schlange der Wohnungssuchenden denn eigentlich noch werden, bis diese Koalition zur Vernunft kommt? Die starken bayerischen CSU-Sprüche haben wir acht Jahre lang genossen. Taten sind dem nicht gefolgt. Statt dessen haben die Sprüchemacher aus Bayern jetzt das Feld geräumt und sich klammheimlich verdrückt.
Die wohnungsbaupolitische Mängelliste der Koalitionsvereinbarung ist lang. Wir kennen sie. Ich will sie hier nicht weiter zitieren.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
({56})
- Daß Ihnen das nicht gefällt, glaube ich Ihnen gern. Daß Sie nur begeistert sind, wenn Ihr Minister an der Sache vorbeiredet, das haben wir den ganzen Tag gehört. Aber heute abend geht es zur Sache, und Sie haben die große Chance, genau zu diesen Widersprüchen, vor der Wahl - nach der Wahl, vor dem Deutschen Bundestag Stellung zu nehmen. Mit Büttenreden allein ist das nicht mehr zu machen.
({57})
Meine Damen und Herren, wer in den Koalitionsvereinbarungen Hinweise auf eine aktive, gestaltende Jugendpolitik sucht, der wird dies vergeblich tun. Er wird nichts finden. Dies erstaunt um so mehr, als sowohl der Einigungsvertrag wie auch das CDU- Wahlprogramm ausdrücklich zu diesem Themenfeld Stellung nehmen.
In den Koalitionsvereinbarungen heißt es, daß endlich auch Sie den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gesetzlich verankern wollen.
({58})
Wie schön! Bei näherem Hinsehen erweist sich allerdings, daß diese Festlegung ein politisches Muster ohne Wert, eine wohlfeile Floskel ist;
({59})
denn Sie lassen die entscheidenden Fragen offen. An welches Kindergartenalter denken Sie denn eigentlich, und wie wollen Sie eigentlich die Finanzierung sicherstellen?
({60})
Sie wissen doch genau, daß dies ohne Berücksichtigung der zusätzlichen Kosten beim Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern ein leeres Versprechen bleibt.
({61})
Oder glauben Sie im Ernst, daß Sie einen Wechsel zu Lasten Dritter ziehen können? Fragen Sie doch einmal Ihre eigenen Ministerpräsidenten! Die lachen sich ja halbtot, wenn sie das lesen.
({62})
In der Familienpolitik wird Ihre Konturlosigkeit nur noch von Ihrer Unverfrorenheit übertroffen. Was anderes als Unverfrorenheit soll es sein, wenn Sie stur an der verfassungswidrigen Besteuerung der Familien mit Kindern ein weiteres Jahr festhalten wollen?
({63})
Statt das Kindergeld sofort auf mindestens 200 DM für jedes Kind erhöht zu bekommen - wir haben das lange gefordert - , müssen Familien auch 1991 7 Mil-harden DM Steuern zuviel zahlen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von dieser Regierung gar nicht erst abkassiert werden dürfen.
({64})
Wer Ihre Steuerpolitik verfolgt und sieht, daß der Staat bei Ihrer Politik z. B. bei ModellflugzeugbauVereinen Steuerverzicht übt, wie er andererseits aber die Familien mit Kindern steuerrechtlich behandelt,
({65})
der kann hier nur von einem gesellschaftspolitischen Skandal sprechen.
({66})
- Kümmern Sie sich einmal um die Passage „Dienstmädchenprivileg". Wenn Sie dann nicht schamrot werden, dann weiß ich nicht mehr, wie man das anders darstellen soll!
({67})
Was CDU, FDP und CSU uns mit der Regierungserklärung und mit den Koalitionsvereinbarungen als Eröffnungsbilanz und als Ausblick auf ihre politischen Pläne in den nächsten vier Jahren vorgelegt haben, wird gesellschaftspolitisch verhängnisvolle Auswirkungen haben. Es widerspricht fast in allen zentralen Politikfeldern dem obersten Gebot eines jeden Sozialstaats, nämlich dem Gebot der gesamtgesellschaftlichen Solidarität; ich möchte hier nur einen Bereich nennen: besonders dem Gebot der Solidarität des westlichen mit dem östlichen Teil unserer Republik.
Diese Koalition hält an ihrem Konzept der gesellschaftspolitischen Spaltung fest.
({68})
Sie macht ihre bundesrepublikanischen Fehler der Vergangenheit zu Hypotheken für die Zukunft des vereinten Deutschlands.
({69})
Sozialpolitik ist in dieser Koalition zu einem stumpfen Instrument geworden. Sie verzichten fast durchgängig auf einen eigenen politischen Gestaltungsanspruch. Sie erschöpfen sich im Hinnehmen von Ergebnissen einer konzeptionslosen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die personalpolitische Repräsentanz dieses wichtigen Politikfeldes am Kabinettstisch ist denn auch eine logische Konsequenz aus dieser Entwicklung. Sie ist aufgesplittert auf viele Einzelressorts und garniert durch einen Sozialminister, den sein eigener Regierungschef durch eine drastische Entmachtung politisch ins Mark getroffen hat. Für Sozialpolitik, meine Damen und Herren, für die Sorgen der Menschen um Arbeitsplätze und Wohnen, um Gesundheit und Altersversorgung und um Unterstützung für die Erziehung der Kinder und die Pflege der Älteren war diese Regierungserklärung von Helmut Kohl keine gute Adresse.
Ich danke Ihnen.
({70})
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie sich denken können, stehen mir nur einige wenige Minuten zur Verfügung, um zu diesem komplexen Thema Stellung zu nehmen. Trotzdem möchte ich einige wenige Sätze opfern, um eine allgemeine Feststellung, verbunden mit einer Bitte - wenn Sie so wollen, mit einer Aufforderung -, zu treffen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die Sozialpolitik braucht weniger Polemik.
({0})
Auch der Beitrag, lieber Rudolf Dreßler,
({1})
den Sie hier eben abgeliefert haben, war kein Beitrag zum sozialen Frieden.
({2})
Ich weiß, daß meine Kollegen aus diesem Bereich zu rhetorischen Spitzenleistungen auflaufen können und in der Lage sind, sie zu liefern. Aber das dient nicht der Sozialpolitik. Das dient nicht dem sozialen Frieden. Ich meine, wir brauchen eine neue Sachlichkeit in der Sozialpolitik, die den Menschen mit seinen
Problemen, mit seinen Nöten und seinen Interessen in den Mittelpunkt der Diskussion stellt. Das ist eben nicht geschehen.
Schauen Sie, lieber Rudolf Dreßler, die Sachlichkeit hätte es geboten, festzustellen, daß die Koalition, insbesondere meine Freunde, im Wahlkampf gesagt haben, daß wegen der dramatischen Entwicklung in den Beitrittsländern die Arbeitslosenversicherungsbeiträge erhöht werden müssen. Das ist vor der Wahl gesagt worden. Das war ein Stück Redlichkeit.
({3})
Das hätte man erwähnen können; genauso, wie es richtig gewesen wäre, festzustellen, daß die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge - fast in der Höhe, wie die SPD-Fraktion dies im Mai beantragt hat - nun durch die Koalition durchgeführt wird. Das wäre ein Beitrag zur Sachlichkeit gewesen.
({4})
Herr Abgeordneter Cronenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Ja.
Bitte schön, Herr Dreßler.
Herr Kollege Cronenberg, nachdem ich Ihnen meine Rede bereits heute mittag zugeschickt habe, frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, daß Ihnen trotzdem entgangen ist, daß ich soeben, vor wenigen Minuten, ausdrücklich gesagt habe, daß die Bundesregierung, die Sie ja mittragen, vor der Wahl gesagt hätte, sie würde den Arbeitslosenbeitrag um 1 % erhöhen? Ich habe nur gesagt: Damit hat sie die Unwahrheit gesagt, weil sie sie nicht um 1 %, sondern um 2,5 % erhöht hat. Stimmen Sie mir wenigstens zu, daß Sie das vernommen haben?
Ich habe das nicht so im Ohr.
({0})
- Nein, offensichtlich funktioniert auch mein Büro nicht so gut, so daß ich nicht in der Lage war, mir Ihre Rede vorher anzusehen. Ich habe sie nur ein paar Minuten vorher gesehen. Aber sie hat sich in nichts unterschieden von dem, was hier an polemischem Vortrag gehalten worden ist.
({1})
Ich sage sogar dabei: Lieber Rudolf Dreßler, der Text liest sich noch harmloser, als die Art des Vortrags es vermuten ließ.
({2})
Ich möchte hier verdeutlichen, daß sich liberale Sozialpolitik jedenfalls bemüht, den Menschen ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen, und individuelle Entscheidungsfreiheit und Eigenvorsorge mit solidarischer Absicherung verbindet. Wir lehnen eine
Cronenberg ({3})
Sozialpolitik auf Pump, die die Zukunftschancen der nächsten Generationen belastet, ab.
({4})
Nur Böswillige können dies als soziale Kälte diffamieren.
({5})
Eine Hauptaufgabe dieser Legislaturperiode ist es, das Zusammenwachsen der alten und der neuen Bundesländer zu fördern. Die Schaffung vergleichbarer Lebensverhältnisse erfordert eine konsequente Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das bedeutet für uns konkret: Beseitigung von Investitionshemmnissen, Verbesserung der Infrastruktur, Ermutigung des Mittelstands und eine Konzentration der Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik.
Zur aktiven Arbeitsmarktpolitik, lieber Rudolf Dreßler, gehören auch Qualifizierungsmaßnahmen, und zwar echte Qualifizierungsmaßnahmen.
({6})
Ich fand es nicht gut, daß diese Qualifizierungsmaßnahmen eben mit einer Bemerkung lächerlich gemacht worden sind, die sich möglicherweise auf eine einzelne Ausnahme bezog; das weiß ich nicht. Deswegen habe ich die ernste Bitte - wenn es wirklich so ist, daß als Qualifizierungsmaßnahme ein Drei-StundenKurs über Soziale Marktwirtschaft am Samstagmorgen angeboten wird -,
({7})
mir das mitzuteilen, damit dieser Unsinn eingestellt wird. Nicht die Information über Soziale Marktwirtschaft sollte eingestellt werden, aber als Qualifizierungsmaßnahme ist das in der Tat ungeeignet.
({8})
- Nein, das ist ganz sicher nicht richtig. Wir wissen ja auch, daß Qualifizierung, auch wenn sie nicht sofort zu einem konkreten Arbeitsplatz führt, die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert. Das haben wir hier in den letzten Jahren - ({9})
- Deswegen, meine ich, hätte sich hier doch ein gemeinsamer Einsatz für diese Maßnahmen gelohnt und nicht das lächerliche Beispiel von den drei Stunden am Samstagmorgen.
({10})
Ich frage mich auch selbstkritisch, ob die Übernahme unseres hochspezialisierten Arbeitsrechts in den neuen Bundesländern wirklich der Weisheit letzter Schluß gewesen ist. Schon in den damaligen Beratungen im Ausschuß Deutsche Einheit habe ich darauf hingewiesen,
({11})
daß der § 613 a mit seiner Sozialplanregelung - ({12})
- Ich bemühe mich in der Tat, durch unternehmerische Tätigkeit Arbeitsplätze zu schaffen. Ich hoffe, daß das Ihre wohlwollende Unterstützung findet. - Ich habe damals schon darauf hingewiesen, daß diese Regelung in dieser Perfektion, wie wir sie angewandt haben, mehr Schaden als Nutzen anrichten kann. Ich hoffe, daß unsere Bemühungen, diese Schäden zu mildern, nicht erfolglos sind.
Lassen Sie mich noch einige Stichworte zur Alterssicherung sagen. Wir Freien Demokraten haben den Rentenkonsens gewollt. Wir haben uns leidenschaftlich dafür eingesetzt und halten an diesem Rentenkonsens fest. Wir halten auch dann daran fest, wenn das in Koalitionsgesprächen nicht immer sehr einfach ist. Auf der Basis dieses Konsenses hoffe ich auf breite Zustimmung, wenn ab 1. Januar 1992 ein einheitliches Rentenrecht im gesamten Bundesgebiet gelten wird
({13})
und dabei u. a. die unzureichende Versorgung der Witwen in den neuen Bundesländern beendet wird. Dringend notwendig ist auch eine befriedigende Regelung bezüglich der sogenannten Zusatzversorgung in den neuen Bundesländern. Es geht nicht darum, Privilegien zu schaffen. Aber es ist unerträglich, wenn die Witwe eines Arztes, eines Technikers oder eines Lehrers unendlich lange auf die Anpassung der Sozialversicherungsrente warten muß.
Kollege Dreßler, nun noch einige Worte im Sinne eines gutgemeinten Nachhilfeunterrichts zur Pflegeproblematik. Meine Damen und Herren, es ist unbestritten - das ist auch nie von uns geleugnet worden - , daß die Lösung der Pflegeproblematik eine Hauptaufgabe dieser Legislaturperiode ist.
({14})
Es geht nicht um das Ob, sondern es geht ausschließlich um das Wie. Dabei gibt es mehr Gemeinsamkeiten auch in der Koalition, als die öffentlichen Diskussionen dies vermuten lassen.
({15})
Wir sind gemeinsam der Meinung, daß Prävention und Rehabilitation Vorrang vor Pflegeleistungen haben sollen. Gemeinsam meinen wir, daß, wenn eben möglich, in vertrauter Umgebung, möglichst in der Familie, gepflegt werden soll.
({16})
Gemeinsam sagen wir, daß die Pflegeberufe materiell und ideell aufgewertet werden müssen
({17})
und daß die soziale Absicherung der Pflegeperson, z. B. in der Rentenversicherung, dringend erforderlich ist.
({18})
- Schauen Sie, Kollege Dreßler, so kann man das alles lächerlich machen.
({19})
Cronenberg ({20})
Daß das die Ernsthaftigkeit zu dem anliegenden Problem beweist, wage ich ein wenig in Zweifel zu ziehen.
({21})
Gemeinsam meinen wir, daß ein pluralistisches Angebot von ambulanten, stationären und teilstationären Einrichtungen in frei-gemeinnütziger, privater oder öffentlicher Trägerschaft erforderlich ist. Gemeinsam, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sollten wir der Auffassung sein, daß eine weitere, zusätzliche Belastung durch Pflichtbeiträge in der gesetzlichen Sozialversicherung bei der ohnehin schon hohen Belastung der Einkommen der Arbeitnehmer mit Steuern und Abgaben nicht zu verantworten ist.
({22})
Gemeinsam sollten wir auch darauf achten, daß wir nicht durch zu hohe Lohnzusatzkosten unsere Wettbewerbsfähigkeit vermindern und Arbeitsplätze gefährden.
Unser Konzept entspricht diesen Ansprüchen. Ich frage mich, warum wir uns nicht darauf verständigen können, richtiges und vernünftiges Verhalten der Menschen so zu fördern, daß uns der Zwang erspart bleibt und äußerstenfalls nur dieser uns hilft, eine sinnvolle Regelung zu finden.
Ich frage mich auch, warum so viele dagegen sind, vorhandenes Vermögen in ein Pflegekonzept einzubeziehen. Jedenfalls beweist die Tatsache, daß die Pflege im BMA geblieben ist, daß sich also das BMA sozusagen pfleglich um die Pflegeversicherung kümmert, daß nicht notwendigerweise ein Zusammenhang zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und Pflegeversicherung vorhanden ist.
({23})
Dies ist eine richtige, eine wertvolle Erkenntnis, die wir bei der zukünftigen Diskussion nicht außer acht lassen können.
({24})
Einige wenige Bemerkungen zur Gesundheitspolitik: Wir begrüßen es, daß die Polikliniken und die Ambulatorien, wie es in der Regierungserklärung heißt, nur für eine Übergangszeit die Versorgung der Bevölkerung sicherstellen sollen. Wir freuen uns, daß unsere Forderung nach Förderung freiberuflicher Tätigkeit von Ärzten, Zahnärzten und Apothekern in der Regierungserklärung ihren Niederschlag gefunden hat.
Lassen Sie mich noch ganz kurz einen Blick auf das GRG werfen. Wir werden fragen müssen, ob nicht möglicherweise Regelungen, die sich in der Praxis nicht bewährt haben oder bei denen die Selbstverwaltung bei der Umsetzung begründete Bedenken hat, überprüft werden müssen. Das gilt auch für den medizinischen Dienst.
({25})
Auch ich bin verpflichtet, mich nach dem „roten Licht" des Präsidenten zu richten. Lassen Sie mich deswegen zum Schluß noch einmal zusammenhängend feststellen: Bei allen Regelungen, die wir in den nächsten Monaten und Jahren treffen müssen, sollten wir nicht vergessen: Nicht ein Mehr, sondern ein Weniger an Reglementierung - und das gilt insbesondere im Hinblick auf Brüssel - ist notwendig. Das schafft mehr Arbeitsplätze und stabilisiert unsere soziale Sicherung.
Noch mal, verehrte Kollegen auf allen Seiten des Hauses: Die Sozialpolitik braucht weniger Polemik; Sachlichkeit tut not.
({26})
Streitet euch; aber streitet euch weniger polemisch.
({27})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Schumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Beitrag sollte im Bereich der Wirtschaft angesiedelt werden. Aber ich glaube, daß gerade die sozialen Probleme in den Dörfern und Landgemeinden besonders groß sind. Schon jetzt haben wir 25 % Arbeitslose. Was Herr Blüm hier geboten hat, hat angesichts der ernsten Lage und der Millionen ohne Arbeit in den fünf neuen Ländern etwas mit Hohn zu tun, weniger mit Sachpolitik.
Die Bauern in Ost und West sind seit der Regierungserklärung um eine Hoffnung ärmer. Mit dem, was an Agrarpolitik und an Reform vorgesehen ist, lassen sich weder die Gegenwarts- noch die Zukunftsfragen der Landwirtschaft lösen. Herausforderungen wie das Ineinklangbringen der völlig unterschiedlichen Agrarstrukturen West- und Ostdeutschlands, ja West- und Osteuropas, die Notwendigkeit der Entwicklung von Alternativen zur längst in der Sackgasse befindlichen Agrarpolitik der EG und die Lösung der GATT-Problematik erfordern ein neues agrarpolitisches Modell. Sie verbieten die bloße kosmetisch kaschierte Fortsetzung bisheriger Agrarpolitik.
Nach unserer Auffassung gehören zu einer agrarpolitischen Reform in Deutschland und der EG insbesondere ein neues Leitbild, und zwar das einer vielfältig strukturierten Landwirtschaft, und die Verbindung von Agrar- und Kommunalpolitik, eine Konzeption der Sicherung landwirtschaftlicher Einkommen, die auf der Bezahlung der vielfältigen Leistungen der Bauern für die Gesellschaft beruht, Rahmenbedingungen für eine ökologiegerechte Produktion auf allen Flächen; denn Flächenstillegungen und Extensivierungen einerseits und Intensivierungen andererseits stellen keine Problemlösung dar. Nicht zuletzt muß die Reform konsequent zur schrittweisen Liberalisierung des Welthandels beitragen als einem entscheidenden Schritt zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, die mit der Ausbeutung der Entwicklungsländer Schluß macht.
Der Kern neuer Agrarpolitik besteht im Verzicht der Bundesregierung und der Gemeinschaft auf die gegenwärtige Praxis der einseitigen struktur- und organisationswirksamen Staatseingriffe zugunsten des Familienbetriebs. Es geht um die Gewährleistung tatDr. Schumann ({0})
sächlicher Chancengleichheit und um die endgültige Aufgabe der Diskriminierung von Genossenschaften.
Redliche Politik seitens der Regierung schließt ein, nicht nur die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Landwirtschaft als Ergebnis der Kommandowirtschaft anzuprangern, sondern auch diese ungünstige Ausgangsposition durch die Gewährung einer längeren Übergangsperiode zu berücksichtigen. Auch das gehört zur Chancengleichheit.
Leider enthält die Regierungserklärung keine klaren politischen Signale zum Stopp und zur Umkehr der existenzbedrohenden Talfahrt der ostdeutschen Landwirtschaft. Ausdruck dieser Talfahrt sind z. B. die seit Monaten um 10 % bis 15 % niedrigeren Erzeugerpreise, verglichen mit denen in den alten Bundesländern, was den Ausfall von einer Milliarde DM Einnahmen bedeutet - und das, obwohl die Betriebe am Tag der Währungsumstellung bereits mit einer Reduzierung des Erzeugerpreisniveaus um mehr als 50 % konfrontiert wurden -, und der Verbrauch von bisher 3 Milliarden DM genossenschaftlichen Vermögens zur Sicherung der täglichen Zahlungsfähigkeit anstatt für zukunftsträchtige Investitionen. Das alles behindert massiv den Prozeß der erforderlichen Umstrukturierung der Genossenschaften einschließlich der Einrichtung von Familienwirtschaften und erzeugt eine Atmosphäre von Ausweglosigkeit, wo Optimismus und Initiative geboten wären.
Deshalb unterstützen wir die Forderung der ostdeutschen Agrarverbände und werden unsere Konzeptionen in den nächsten Tagen diesem Hohen Hause und dem Bundesminister Kiechle schriftlich vorlegen.
Danke.
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Ich erteile jetzt das Wort der Bundesministerin Rönsch.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die meisten von uns ist die Familie der zentrale Lebensmittelpunkt, in dem Toleranz, Mitverantwortung, Geborgenheit gelernt werden. Eine zukunftsorientierte Politik muß die Unterstützung der Familie als zentrale Aufgabe haben, und dem entspricht auch der hohe Stellenwert, den die Familienpolitik in den vergangenen Jahren hatte. Wir sind verpflichtet, das Erreichte auszubauen. Die Koalitionsvereinbarungen und auch das Regierungsprogramm sind die hervorragende Grundlage dafür.
Neben dem Ausbau einzelner Leistungen wird ein ebenso wichtiger Akzent auf der Erfüllung von Familienaufgaben liegen, etwa der Kindererziehung, der Betreuung und Pflege alter und hilfsbedürftiger Menschen. In diesen Bereichen fällt die Entscheidung über die soziale und menschliche Qualität unseres Gemeinwesens. Ich nenne hier einige Stichworte: Rücksichtnahme auf die Familie in der Arbeitswelt und im sozialen Umfeld. Hier sind die Tarifpartner gefordert, die Flexibilisierung der Arbeitszeit vorzunehmen,
({1})
Teilzeitarbeitsplätze zu schaffen. Besonders die Bundesbehörden fordere ich von dieser Stelle aus auf, diese Plätze zu schaffen, und ich werde selbst daran mitwirken.
Es geht weiter: die Entlastung der Familie von finanziellen Verpflichtungen, eine familienfreundliche Umwelt und familiengerechtes Wohnen. Mütter- und Väteraufgaben müssen in der Gesellschaft ebenso selbstverständlich ihre Anerkennung finden wie die Erwerbstätigkeit.
Die dringlichste Aufgabe, der wir uns stellen müssen, wird die Angleichung der Lebensverhältnisse der Familien in beiden Teilen Deutschlands sein. Dies gilt nicht nur für die materiellen Bedingungen, dies gilt auch für die psychologische Einstellung in und zu der Familie.
Der Begriff Familie soll wieder seinen bewährten Stellenwert erhalten. Wir sind deshalb auch verpflichtet, Lösungen für den Schutz des ungeborenen Lebens zu finden, bessere Lösungen, als sie momentan in beiden Teilen unseres Landes praktiziert werden.
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Es ist, meine ich, eine sozialstaatliche Aufgabe ersten Ranges, angemessene Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern zu schaffen. Die überzeugendste Politik kann aber nicht ganz verhindern, daß Frauen und ihre Familien durch Schwangerschaft in eine Konfliktsituation geraten können. Dann brauchen diese Frauen umfassenden Rat und Hilfe.
Schwangerschaftsberatungsstellen sind daher unverzichtbar. Wir haben in den fünf neuen Bundesländern mit der Einrichtung dieser Schwangerschaftsberatungsstellen angefangen, und wir werden sie weiter ausbauen.
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- Frau Kollegin, ich habe Ihren Zwischenruf gehört. Sie, die Sie in einem atheistischen Staat groß geworden sind, haben dafür vielleicht noch nicht die nötige Empfindung.
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- Ja, aber Sie haben sich bei den Männern und Frauen angesiedelt, die eine solche atheistische Grundlage haben.
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Ich erhoffe mir, daß auch Sie, Herr Dr. Briefs, in den Beratungen zum § 218, die wir umgehend angehen müssen, Ihre Befindlichkeiten mit einbringen werden.
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Wir sagen ja zum Kind.
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Es ist für uns von besonderer Bedeutung, daß wir in den Koalitionsverhandlungen die Verlängerung des Erziehungsgeldes auf 24 Monate beschlossen haben, daß wir die Ausweitung des Erziehungsurlaubs und die Beschäftigungsgarantie nun haben. Jetzt sind auch die Länder aufgefordert, ihren Anteil zu leisten.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ullmann?
Aber selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Dr. Ullmann.
Frau Minister, haben Sie mit Ihren Bemerkungen über atheistische Grundlagen soeben sagen wollen, daß Atheismus, wenn er von irgendeinem Menschen vertreten wird, eine moralisch schlechte Haltung darstellt?
Ich wollte damit deutlich machen, daß unsere ethischen Grundeinstellungen wohl verschieden sind.
({0})
Wir sagen ja zum menschlichen Leben, wir sagen ja zum werdenden Leben. Ich würde mich freuen, wenn Sie intensiv an den Beratungen teilnehmen würden, die jetzt unmittelbar bevorstehen. Wir können uns dann darüber auseinandersetzen.
({1})
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ullmann?
Aber bitte.
Bitte sehr.
Meinen Sie, daß ein Atheist alles das, was Sie soeben gesagt haben, nicht kann?
Wir werden in den Gesprächen sehen, welche Befindlichkeiten er einbringt.
({0})
Frau Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau von Renesse?
Selbstverständlich. - Entschuldigung, die Uhr hier läuft weiter. Ich hatte noch sechs Minuten Zeit, und die brauche ich auch.
Ist Ihnen bekannt, daß es in diesem Lande eine ganze Menge von engagierten Christen gibt, die nicht so leidenschaftlich wie Sie
interessiert sind zu strafen und die im übrigen auch der Meinung sind, daß das Strafrecht gerade in diesem Bereich eine äußerst unglückliche Rolle spielt?
({0})
Auch ich bin eine leidenschaftliche Christin, obwohl ich mich nicht immer - das sage ich hier ganz bewußt - von meiner Kirche vertreten fühle. Aber ich möchte in die Beratungen gehen und möchte - ich nenne das Wort noch einmal - die Befindlichkeiten von allen bei diesen Beratungen mit eingebracht wissen. Ich hoffe, daß wir dann auf einer guten Grundlage diskutieren und zu einem Ergebnis kommen können, das die Männer und Frauen sowie die Familien, die von einem eventuell anstehenden Schwangerschaftskonflikt betroffen sind, auch innerlich mittragen können.
({0})
Frau Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Frau von Renesse?
Aber bitte.
Würden Sie freundlicherweise, um Mißverständnisse auszuschließen, den Zungenschlag, den ich aus Ihrer Äußerung heraushörte, ausräumen, nämlich daß eine andere als Ihre Auffassung zur Reform des § 218 nicht unbedingt eine atheistische sein muß?
Ich habe meine Einstellung zum § 218 hier noch gar nicht deutlich machen können. Ich setze auf die Beratung. Nur kann ich die Zwischenrufe, die von der linken Seite, von der PDS, kommen, nicht so im Raum stehenlassen, und ich werde es auch nicht.
({0})
Gestatten Sie mir, daß ich jetzt noch einige familienpolitische Maßnahmen anspreche, die auch das Ja zum Leben erleichtern sollen, nämlich die Verlängerung des Anspruchs auf Freistellung von Arbeit für die Pflege kranker Kinder von bisher fünf auf zukünftig zehn Tage und die Verdoppelung der Leistungsdauer nach dem Unterhaltsvorschußgesetz.
Wir werden die Familien von den Verbesserungen beim Familienlastenausgleich profitieren lassen. In einem ersten Schritt werden wir zum 1. Januar 1992 das Kindergeld für das erste Kind auf 70 DM anheben und parallel dazu den Kinderfreibetrag auf mehr als 4 000 DM erhöhen.
Herr Dreßler, ich freue mich darüber, daß Sie wieder in das Plenum gekommen sind. Vielleicht haben Sie in der Zwischenzeit einmal nachgelesen, was die SPD im Jahre 1981 gemacht hat. Sie hat damals das Kindergeld für das zweite Kind gekürzt. Das Kindergeld für die arbeitslosen Jugendlichen wurde abgeschafft. Sie haben hier die Kinderfreibeträge angeBundesminister Frau Rönsch
sprochen. Diese wurden von der SPD Mitte 1970 abgeschafft.
({1})
Sie haben dies verschwiegen und den Fraktionen der CDU/CSU sowie der FDP an dieser Stelle vorgeworfen, daß sie ungerecht gehandelt hätten. Meines Erachtens hätten Sie in Ihrer Rede - wenn Sie denn redlich gewesen wären - aber auch darauf eingehen müssen.
({2})
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dreßler?
Bitte.
Frau Ministerin, sollte ich versäumt haben, zu sagen, daß die SPD gemeinsam mit der FDP Mitte der 70er Jahre die Kinderfreibeträge abgeschafft hat, so will ich das jetzt ausdrücklich positiv erwähnen. Das haben wir gemacht.
Nun frage ich Sie: Können Sie diesem Hohen Hause - nachdem Sie die Kinderfreibeträge wieder eingeführt haben - in diesem Zusammenhang erklären, warum Ihnen das Kind von Herrn Ministerpräsident Rau zweieinhalbmal soviel wert ist wie das Kind einer Krankenschwester?
({0})
Hier fiel gerade das Wort „Sozialneid", Herr Kollege Dreßler.
Ich habe es nicht gebraucht. Ich habe Sie nur gefragt, warum Herr Rau zweieinhalbmal soviel bekommt wie eine Krankenschwester.
Ich will das gern aufgreifen. - In Ihrer gewerkschaftlich vorbereiteten und orientierten Rede war sehr viel die Rede davon, daß den Armen weggenommen und im Sozialstaat umorientiert werde. Man hört es immer wieder. Ich merke aber an der Redlichkeit, mit der Sie Ihre Rede vorbereitet haben, und an dem, was Sie verschwiegen haben, daß man sehr genau hinhören und aufpassen muß. Bei uns haben Kinder - egal von wem - den gleichen Stellenwert.
({0})
Wir wollen die Familie stützen. Wir sagen ja zum Kind.
Wir wollen Familienleistungen ausbauen, damit sich
noch mehr Familien für Kinder entscheiden können.
({1})
Frau Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dreßler?
Aber bitte.
Frau Minister, nachdem es Ihnen gelungen ist, meine Frage nicht zu beantworten, möchte ich sie vereinfachen.
({0})
Ich sage ein volles Ja zu dem Kind von Herrn Rau.
Ich vereinfache meine Frage insoweit, als ich Sie nun frage: Geben Sie denn wenigstens zu, daß Herr Rau zweieinhalbmal so viel Kindergeld bekommt wie eine Krankenschwester?
Ich kenne das Einkommen von Herrn Rau
({0})
- ich nehme an, Sie meinen den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen - nicht genau.
({1})
Es ist durchaus möglich, daß deshalb, weil er ein höheres Gehalt bezieht, auch seine Leistungen für seine Kinder höher sind.
({2})
Frau Minister, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage?
Aber gern.
Bitte.
Frau Minister, beschleicht Sie nicht ähnlich wie mich ein seltsames Gefühl, wenn Sie sehen, mit welchem Genuß Herr Dreßler in diesem Plenum Themen wie Erziehung, Beratungsgesetz und Kindergroßziehen behandelt und, sind Sie nicht der Meinung, daß wir besser mit den Inhalten fortfahren sollten?
Herr Kollege Schwarz, ich freue mich darüber, daß die Sozialdemokraten im Moment die Familienpolitik entdeckt haben. Wenn Sie die Rede des Vorsitzenden der SPD-Fraktion verfolgt haben, dann konnten Sie bemerken, daß zur Familienpolitik fast gar nichts gesagt worden ist. Ich freue mich, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion jetzt endlich wieder einmal auch über familienpolitische Themen auslassen und darüber nachdenken.
({0})
Und jetzt gedenke ich in meiner Rede fortzufahren.
Frau Minister, gestatten Sie noch eine letzte Zwischenfrage der Frau von Renesse?
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Nein, ich habe gerade gesagt, daß ich in meiner Rede fortfahren möchte, weil der zweite Schwerpunkt meiner Arbeit die Seniorenpolitik, die Politik für die ältere Generation sein wird. Ich will an dieser
Stelle meiner Vorgängerin Ursula Lehr, die hervorragende Grundlagen für die Arbeit gelegt hat, ausdrücklich danken.
({0})
Vor dem Hintergrund eines sich weiter verschiebenden Altersaufbaus in der Bevölkerung werden die Anforderungen, die an ein Ministerium für ältere Menschen gestellt werden, in der Zukunft natürlich weiter wachsen. Hier wird es mein oberstes Ziel sein, die eigenständige Lebensführung und die eigene Kompetenz eines älteren Menschen auszubauen und sie besser zu fördern. Gemeinsam mit den Ländern wollen wir unseren Beitrag erbringen, daß die Wohn- und Pflegesituation der älteren Menschen verbessert wird.
Die Gesundheitsvorsorge im Alter und die Rehabilitation sind weitere wichtige Stichworte.
Es gehört unverzichtbar dazu, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Ich werde den Entwurf eines Altenpflegegesetzes erneut einbringen. Dieses Gesetz wird den Berufen in der Altenpflege einen Anspruch aus Ausbildungsvergütung einräumen und die Berufsbezeichnung schützen.
({1})
Ich meine, wir brauchen ein Mehr an Menschlichkeit und das Miteinander der Generationen. Hilfe zur Selbsthilfe beginnt auch dort, wo wir Anreize schaffen wollen, damit ältere Menschen ihre Lebensleistung weitergeben können. Warum sollen nicht z. B. Senioren in speziellen Bildungsprogrammen ihre Lebenserfahrung an jüngere Menschen weitergeben?
In ganz besonderer Weise tragen wir Verantwortung für die älteren Mitbürger in den neuen Bundesländern. Bei ihnen ist unsere hohe Solidarität gefordert; denn diese Menschen können mit Recht erwarten, daß alles getan wird, damit ihr Lebensabend gesichert ist, und daß so schnell wie möglich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse angeglichen werden.
Ein Anliegen ist deshalb auch der zügige Auf- und Ausbau der notwendigen ambulanten Dienste und Einrichtungen im Zusammenwirken mit den Ländern und mit den Wohlfahrtsverbänden.
Ich will den Satz „Nicht nur dem Leben Jahre geben, sondern auch den Jahren Leben geben" zum Leitmotiv der Politik für die Senioren machen.
Weiter gilt es, den Aufbau einer freien Wohlfahrtspflege und von Initiativen der Selbsthilfe in den neuen Bundesländern voranzutreiben.
Das Bundessozialhilfegesetz, das bewährte Instrument für die Sozialleistungen, gilt seit dem 1. Januar 1991 auch in den neuen Bundesländern. Aber Aufklärung über die Möglichkeiten dieses Gesetzes und auch seine Fortentwicklung müssen angegangen werden.
Vor uns liegt nun die Aufgabe, einen Sozialstaat Deutschland neu zu gestalten. Ich würde auch Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, einladen, daran mitzuwirken. Unsere Mitburger im alten und neuen Deutschland haben es verdient.
({2})
Frau Minister, die Zeit für Zwischenfragen ist nicht auf Ihre Redezeit angerechnet worden.
Das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt aus der Sicht des Unabhängigen Frauenverbandes ein paar Worte zu dem sagen, was die Koalitionsvereinbarung für Frauen bedeutet, und zwar insbesondere für diejenige, die in den Ländern des beigetretenen Gebietes leben.
Für die überwiegende Mehrheit der Frauen in der ehemaligen DDR haben seit dem Anschluß der DDR an die BRD drastische Veränderungen ihrer Lebenssituation
({0})
in ihrer psychosozialen Befindlichkeit stattgefunden. Sie sind, um es ganz deutlich auszudrücken, vom Regen in die Traufe gekommen.
({1})
Es scheint mir erforderlich zu sein, Ihnen dies zu erläutern. Denn nur eine Minderheit der Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Bundestages ist weiblichen Geschlechts; nur eine Minderheit der Abgeordneten hat in der DDR gelebt. Zum weiteren dürfte es denjenigen, die sich ausschließlich auf die im Westteil Deutschlands beheimateten Medien verlassen, sehr schwer fallen, sich ein wahrheitsnahes Bild von der Situation im Beitrittsgebiet zu machen.
({2})
Wie Ihnen allen sicher bekannt ist, gehörte die DDR zu den wenigen Ländern der Welt, in denen Frauen einen relativ hohen gesellschaftlichen Status hatten,
({3})
ohne daß man davon hätte sprechen können, daß eine Gleichstellung von Frauen und Männern im Sinne gleich verteilter Chancen und Möglichkeiten für die Selbstverwirklichung bereits Realität gewesen wäre.
({4})
Für die Frauen in der DDR war charakteristisch, daß sie zu über 90 % berufstätig waren bzw. sich in einer Ausbildung befanden und damit in der Regel ökonomisch selbständig waren. Ihr Verdienst betrug im Durchschnitt 80 bis 90 % des Einkommens der Männer. Es war durchaus möglich, von einem Einkommen zu leben, auch mit Kindern.
Ein weiterer Aspekt: Die Vereinbarkeit von Mutter- und Elternschaft mit dem beruflichen Engagement war gegeben. Es gab KinderbetreuungseinrichFrau Schenk
tungen in bedarfsdeckender Zahl, und sie waren für jeden bzw. jede erschwinglich.
({5})
Für Eltern kleiner Kinder und Alleinerziehende, von denen es in der ehemaligen DDR weitaus mehr gibt als in der ehemaligen BRD, gab es einen erweiterten Kündigungsschutz und andere Sozialmaßnahmen.
Weiter: Frauen in der DDR waren vergleichsweise gut qualifiziert. Nur etwa 10 % hatten keine abgeschlossene Ausbildung im Gegensatz zu etwa 40 % der Frauen in der alten BRD. Zwischen Männern und Frauen unter 40 Jahren gab es keine Unterschiede mehr hinsichtlich der Höhe der Erstqualifikation.
Bemerkenswert und von kaum zu unterschätzender Bedeutung ist weiterhin, daß 40 bis 50 % der Frauen in der ehemaligen DDR nicht in frauentypischen Berufen arbeiteten. In der alten BRD sind es nur ca. 10%.
Und zuletzt: In der DDR konnte eine Frau in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft in eigener Verantwortung selbst entscheiden, ob sie Mutter werde wollte oder nicht. Dies ist ein ganz zentraler Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit das Selbstbestimmungsrecht von Frauen über ihr Leben und über ihren Körper in einer Gesellschaft akzeptiert wird oder nicht.
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Die Situation von Frauen in der DDR hatte auch negative Seiten. Es gab verschiedenartige Benachteiligungen. Frauen waren in mehrfacher Hinsicht belastet, da auch die DDR-Gesellschaft patriarchal strukturiert geblieben war. Verschärfend wirkten die ewigen Versorgungsprobleme, die Probleme der Infrastruktur und nicht zuletzt die Länge der täglichen Arbeitszeit. Dennoch: Gemessen an der vorhin geschilderten Sachlage - meine Damen und Herren, lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen - , ist die alte BRD ein frauenpolitisches Entwicklungsland.
({7})
Viele Frauen in der DDR hatten sich mit dem Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten eine Verbesserung ihrer Situation erhofft, allerdings ausgehend von dem, was in der DDR bereits erreicht worden war, und nicht unter der Voraussetzung der weitgehenden Zerstörung des Gehabten, wie es jetzt der Fall ist. Eine Bestandssicherung aber lag nicht im Interesse der Bundesregierung. Entsprechend ihrem Weltbild wollte oder konnte sie nicht zugeben, daß es ein Gebiet gab, auf dem die DDR weit voraus war, daß es Bewahrenswertes bzw. sogar Modellhaftes dort gegeben hat. Dies hatte Folgen in Gestalt der so skandalös lapidaren Sätze zu diesem Themenkreis im ersten und im zweiten Staatsvertrag, die beide die Modalitäten der Währungs- und Wirtschaftsunion und schließlich für den Beitritt der DDR zur BRD regelten bzw. noch immer regeln.
Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen dies hier in Erinnerung rufen. Im ersten Staatsvertrag sind viele Bestimmungen akribisch bis ins letzte Detail
ausgeführt. Aber zum Themenkreis Frauen gab es nur einen einzigen Satz. Ich zitiere:
Die Interessen von Frauen und Behinderten sind zu berücksichtigen.
Sprache verrät das Denken, und dieser Satz zeigt unmißverständlich, in welchen Zusammenhängen und Assoziationen die sogenannte Frauenfrage im Rahmen konservativer Politik verortet wird. Es ist allerdings auch etwas Wahres dran. In dieser Gesellschaft werden Frauen tatsächlich behindert.
Die Befürchtungen schlimmster Art bezüglich der Veränderungen der Situation von Frauen im Beitrittsgebiet, daß also perspektivisch eine Transformation der DDR-Verhältnisse herunter auf westdeutsches Niveau stattfinden würde, sind inzwischen in mehrfacher Hinsicht Realität geworden. Ich möchte die wesentlichen Punkte hier nennen.
Die Frauenerwerbslosigkeit hat dramatische Ausmaße angenommen. Insgesamt gibt es gegenwärtig im Beitrittsgebiet ca. 2,5 Millionen Erwerbslose und Kurzarbeitende, und das bei ca. 8 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter. Der Anteil der Frauen an den Erwerbslosen beträgt inzwischen ca. 55 %. Die Zahl der in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen arbeitenden Frauen nimmt stark zu.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß in der DDR ca. 49 % aller Berufstätigen Frauen waren, sind die genannten Zahlen der numerische Ausdruck einer psychosozialen Katastrophe. Diese in keiner Weise sichtbar zur Kenntnis genommen zu haben, gehört zu den gravierendsten Vorwürfen, die ich in diesem Zusammenhang der neuen Regierung machen muß.
Der Bund hat mit dem Einigungsvertrag die Verpflichtung übernommen, das bestehende Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen für eine Übergangszeit finanziell zu tragen. Mitte dieses Jahres wird diese in die Verantwortlichkeit der Kommunen übergehen. Diese jedoch stehen vor dem finanziellen Ruin. Was soll da das Gerede vom Rechtsanspruch auf Kindergartenplätze, wenn gleichzeitig eine Politik gemacht wird, die die Kindergärten und Kinderkrippen kaputtgehen läßt?
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Zur Frage Schwangerschaftsabbruch. Die jetzt im Beitrittsgebiet geltenden Richtlinien für die Förderung von Schwangerschaftsberatungsstellen zielen darauf ab, auf lautlose Art den Boden für die Geltendmachung des berüchtigten § 218 auch im Gebiet der ehemaligen DDR zu bereiten. Das, meine Damen und Herren, steht klar im Widerspruch zum Auftrag des Einigungsvertrages, der die Erarbeitung einer Neuregelung vorschreibt, und stellt somit einen äußerst bedrohlichen Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht der Frauen im Erweiterungsgebiet der BRD dar.
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Fazit: Für Frauen in der ehemaligen DDR war der in der gehabten Art vollzogene Zusammenschluß beider deutscher Staaten eher ein Schritt zurück in die Ver212
gangenheit als ein Schritt in eine menschenwürdige Zukunft.
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Angesichts dieser Situation erscheinen die Koalitionsvereinbarung und auch die Regierungserklärung in ihrem frauenpolitischen Teil geradezu lächerlich und grotesk.
({11})
Nichts wird über Maßnahmen gegen Frauenerwerbslosigkeit gesagt. Nichts wird zu einer aktiven Gleichstellungspolitik gesagt,
({12})
von dem Gedanken an ein längst überfälliges Antidiskriminierungsgesetz ganz zu schweigen. Nichts wird dazu gesagt, wie die Erhaltung der noch bestehenden Kindertagesstätten im Beitrittsgebiet und die Schaffung eines bedarfsdeckenden Netzes derartiger Einrichtungen auch in Westdeutschland bewerkstelligt werden soll. Nichts wird dazu gesagt, wie der zunehmenden Gewalt gegen Frauen auch und besonders im Beitrittsgebiet begegnet werden soll. Mit der Einführung der Marktwirtschaft geht die Ausprägung eines neuen Rollenverständnisses der Männer einher, was zu Sexismus ganz anderer Dimension führte und führt, als wir ihn in der DDR bisher hatten.
Zu all diesen Kernpunkten, die das Leben von Frauen in elementarer Weise betreffen, wird nichts gesagt. Dafür werden die Aussagen in der Koalitionsvereinbarung in dem Punkt um so konkreter, wo es nicht mehr um Frauen geht, sondern um den Gebärzwang. Diejenigen, die sich für den Schutz des ungeborenen Lebens um buchstäblich jeden Preis einsetzen und die sich dabei anmaßen, zu wissen, was für Frauen gut und verantwortbar ist, legen ein Verhaltens- und Denkmuster an den Tag, wie es für die SED mit ihrer Hauptabteilung für Ewige Wahrheiten charakteristisch war.
({13})
Die fortdauernde Ignoranz gegenüber der Situation von Frauen insbesondere im beigetretenen Gebiet, wie sie in der Koalitionsvereinbarung zum Ausdruck kommt, ist frauenfeindlich. Sie hat zudem Methode, und sie ist Regierungsprogramm.
Zusammenfassend muß konstatiert werden: Die Gleichstellung von Frauen und Männern im Sinne gleicher Chancen zur Realisierung selbstbestimmter Lebensentwürfe ist ganz offenkundig Sache der jetzigen Regierung nicht. Ich füge in aller Deutlichkeit hinzu: Wer keine aktive Gleichstellungspolitik betreibt und sie auch nicht betreiben will, der meint es mit der Demokratie nicht ernst. Solange Frauen - immerhin die Bevölkerungsmehrheit, was manche offenbar leicht vergessen, auch angesichts der Zusammensetzung dieses Hohen Hauses - aus den grundlegenden Entwicklungsprozessen und aus den Entscheidungsebenen der Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen sind, kann von wahrhaft demokratischen Verhältnissen nicht die Rede sein.
Danke.
({14})
Das Wort zu einer Zwischenintervention hat Frau Abgeordnete Merkel.
Sehr geehrte Abgeordnete! Ich möchte doch kurz zu dem, was eben über die Frauenpolitik und die Koalitionsvereinbarung gesagt worden ist, Stellung nehmen, obwohl ich nicht vorhatte, zu sprechen.
Erstens. Falls sich meine Vorrednerin in den letzten Wochen mit Müttern und jungen Frauen unterhalten hat, wird sie bemerkt haben, daß viele ausgesprochen bedrückt darüber sind, daß ihre Kinder noch vor dem 1. Januar 1991 geboren wurden, weil ihnen somit nämlich der Erziehungsurlaub nicht zugute kommt. Sie sehen die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs und die Erweiterung und Verlängerung nach der Koalitionsvereinbarung als ein ausgesprochen gutes Angebot an.
({0})
46 % der Frauen in der ehemaligen DDR sind bereit, zugunsten der Erziehung der Kinder in den ersten Lebensjahren ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen.
({1})
Zweitens. Es ist einfach nicht wahr, daß im Einigungsvertrag nichts über die Gleichberechtigung von Frauen und Männern geschrieben steht. Es ist dort eindeutig festgelegt: Die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ist weiterzuentwickeln.
({2})
In der Koalitionsvereinbarung ist die Einbringung eines Artikelgesetzes, das die Gleichstellung von Frauen und Männern insbesondere z. B. im öffentlichen Dienst regelt, festgeschrieben. Wir werden Gelegenheit haben, über dieses Thema zu diskutieren.
Zum dritten: Kindertagesstätten. Im Einigungsvertrag steht, daß der Bund sich an der Finanzierung der Kindertagesstätten bis zum 1. 7. 1991 beteiligt, um sicherzustellen, daß die Länder dann in der Lage sind, deren Erhalt festzulegen.
({3})
- Hören Sie mir bitte bis zum Ende zu.
Zweitens steht in der Koalitionsvereinbarung, daß zusammen mit den Ländern das Recht auf einen Kindergartenplatz in allen Bundesländern garantiert werden soll.
({4})
Diese beiden Dinge zusammen werden uns die Möglichkeit geben, den Erhalt der Kindertagesstätten in den neuen Bundesländern durchzusetzen, und zwar in dem Maße, wie es dem Bedarf entspricht.
({5})
Das Wort zu einer weiteren Zwischenintervention hat Frau Dr. Höll.
Ich möchte Sie davon informieren, daß wir in Leipzig im Jahre 1990 eine Umfrage unter Frauen gemacht haben. Es ist eindeutig nachweisbar, daß der Wunsch der Frauen, Kinder zu bekommen, rückläufig ist. Das gilt sowohl grundsätzlich als auch in dem Sinn, daß die Frauen sagen: Wir müssen in dieser Situation darauf verzichten, ein Kind zu bekommen.
({0})
Ich selbst bin Mutter von zwei Kindern, und ich halte es für eine Frechheit, es hier so zu diffamieren, wie Frauen in der DDR sich gefühlt und gelebt haben.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir fahren in der Rednerliste fort. Das Wort hat Frau Abgeordnete Bläss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner gestrigen Regierungserklärung hat der Bundeskanzler den Menschen in ganz Deutschland gleiche Lebensverhältnisse versprochen. Die dafür ins Auge gefaßten arbeitsmarktund sozialpolitischen Vorhaben lassen jedoch für das Niveau, auf dem diese Angleichung stattfinden soll, Schlimmes befürchten und taugen höchstens dazu, die durch den von der Bundesregierung zu verantwortenden Crashkurs angerichteten Schäden notdürftig zu kaschieren. Es ist vielmehr so, daß mit diesem Kurs der Regierung ein weiteres Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse von Menschen in diesem Land, ein wachsendes Potential an sozialer Armut und von sozial Deklassierten ebenso vorprogrammiert ist wie der weitere Abbau von Arbeitnehmerinnenrechten. Allein die in der Koalitionsvereinbarung verabredete Aussetzung des § 613 a BGB für das Gebiet der ehemaligen DDR und damit die Aufkündigung des Entlassungsschutzes für solche Arbeitnehmerinnen, deren Betriebe verkauft werden, macht deutlich, daß Investitionsanreize auf Kosten von Arbeitnehmerinnenrechten durchgedrückt werden sollen, Freibriefe für Massenentlassungen gegeben werden.
Auch darüber, wer die Massenarbeitslosigkeit in den alten und neuen Bundesländern finanzieren soll, braucht man sich nach der Regierungserklärung keine Illusionen zu machen. Weder wird die Wirtschaft in die Pflicht genommen noch werden die Änschlußprofiteure gedrängt, ihre Gewinne endlich zur Schaffung neuer Arbeitsplätze einzusetzen.
({0})
Nein, die Bundesregierung greift zu altbekannten Rezepten und bittet die Arbeitnehmerinnen zur Kasse. Es sei ein Gebot der Solidarität, füreinander einzustehen, sagt der Kanzler und begründet damit die Erhöhung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung um 2,5 %,
({1})
ein, wie ich finde, untauglicher Versuch, auch ohne unpopuläre Steuererhöhungen die Kosten der Einheit auf breite Kreise der Bevölkerung abzuwälzen und sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen.
Die mit der Koalitionsvereinbarung neu entfachte Debatte über die Privatisierung der Arbeitsvermittlung und die in Aussicht genommene Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Mißbrauchs bei Arbeitslosigkeit sind weitere Markierungspunkte eines menschenund arbeitnehmerinnenfeindlichen Konzepts. Insbesondere letzteres ignoriert die Tatsache, daß in der reichen BRD nicht Mißbrauch von Arbeitslosigkeit ein Problem ist, sondern das Faktum, daß mehr als ein Drittel aller Erwerbslosen keinen Anspruch auf Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit hat und häufig am Rande des Existenzminimums leben muß.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die ehemalige DDR droht zum Armenhaus der Republik zu werden.
({2})
Schon heute zeichnet sich ab, daß auch hier die Armut weiblich ist. Frauen sind die eigentlichen Opfer des Anschlusses. Wachsende Arbeitslosigkeit, niedrige Wiedervermittlungsraten sowie die für den 1. Juli dieses Jahres aufgekündigte finanzielle Absicherung von Kindereinrichtungen in den fünf neuen Bundesländern sind bedrohliche Zeichen dafür, daß den Frauen auch dort mehr und mehr die Grundlagen für die Erwerbstätigkeit und damit eine eigenständige Sicherung der ökonomischen Existenz entzogen werden.
So wichtig wir die Verbesserung der Erziehungsurlaubsregelung finden, aktuell bringt sie den in Bedrängnis geratenen Frauen keine Hilfe. Dafür leistet sie einer Argumentation Vorschub, mit der gegenwärtig eine entwickelte Infrastruktur an Kinderkrippen und -gärten bedenkenlos zerschlagen wird.
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Ihre angekündigte Qualifizierungsoffensive für die fünf neuen Bundesländer sowie das Sonderprogramm zur Wiedereingliederung für Frauen nach der Familienphase muß auf Frauen in der ehemaligen DDR, deren Qualifikationsniveau bekanntermaßen sehr hoch ist und deren Erwerbstätigkeitsrate bei 91 % lag, als Verhöhnung wirken.
Wie steht es mit Ihren Beschlüssen zum Arbeitsförderungsgesetz und zur Arbeitszeitordnung? Sie verbessern die Chancen nicht wirklich, sondern haben keinen anderen Sinn, als Frauenarbeit noch weiter zu flexibilisieren. Schon heute ist die große Mehrheit von Frauen gezwungen, sich auf alle Formen ungeschützter Arbeitsverhältnisse einzulassen. Und nun sollen sie auch noch nachts arbeiten dürfen. Wirklich die bil214
ligste, aber auch frauenfeindlichste Lösung für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
({4})
Daß Sie sich nicht entschließen konnten, die gesetzliche Pflegesicherung einzuführen, geht in dieselbe Richtung: Privatisierung sozialer Probleme zu Lasten der Frauen.
({5})
Der Bundesregierung geht es nicht um ein Selbstbestimmungsrecht der Frau, sie fordert eindeutig die Festschreibung traditioneller Rollenmuster. Was könnte besser unter Beweis stellen, daß es Ihnen nicht um die Würde von Frauen, um ihre selbstbestimmte Lebensplanung geht, als die frauenverachtende Debatte zum § 218 des Strafgesetzbuches. Eine Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die Setzung von Fristen sowie jegliche Form der Zwangsberatung stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Frau dar. Die PDS/Linke Liste wird sich daher mit Vehemenz für die ersatzlose Streichung des § 218 einsetzen.
({6})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Becker-Inglau das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stelle fest: Je später der Abend, je geringer die Medienwirksamkeit, desto größer der Anteil der Rednerinnen.
({0})
Aber so lassen wir Frauen uns nicht entmutigen. Wir folgen dem Prinzip Hoffnung und sagen lieber: Die letzten werden eines Tages die ersten sein.
({1})
- Ich sage das auch in Ihre Richtung. Ich habe heute morgen gar keine Ministerin gesehen.
({2})
- Vielleicht haben wir sie beim nächsten Mal.
({3})
Aber nun zum Ernst der Sache, auch wenn die ironische Betrachtung der äußerlichen Situation des Augenblicks genau auf den Punkt des Inhalts führt. Blicke ich zurück auf die „Lehr-Formel" der 11. Legislaturperiode, so kann ich resümieren: Aus einem Bauchladen, sprich: Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit mit fast an Null grenzenden Entscheidungskompetenzen, hat es der Bundeskanzler geschafft, eine sogenannte Null-Lösung in eine Nullen-Lösung umzufunktionieren.
({4})
Ich weiß nicht, ob ich den betroffenen Kolleginnen zu ihrem neuen Amt wirklich gratulieren kann. Herr Bundeskanzler - ach, er ist ja auch gar nicht mehr da - ,
({5})
Sie haben mit dieser seltsamen Vermehrung der Ministerien den Bürgern und Bürgerinnen unseres Landes eine der teuersten steuerverschwendenden Null-Lösungen bereitet.
({6})
Den Frauen in den eigenen Reihen haben Sie vermutlich einen Bärendienst erwiesen
({7})
und denen, die sich ernsthaft um Gleichberechtigung und Gleichstellung bemühen, eine schallende und beschämende Ohrfeige erteilt.
Es ist kaum zu glauben, was der Bundeskanzler unter Frauenförderung versteht. Er hätte wirklich ein Zeichen setzen können, wenn er wenigstens eines der klassischen Ministerien an eine Frau in seinem Kabinett vergeben hätte
({8})
oder ein wirkliches Frauenministerium eingerichtet hätte, das mit den erforderlichen weitreichenden Kompetenzen ausgestattet worden wäre.
Statt dessen haben Sie mit den Frauen ein böses Spiel getrieben. Nachdem Sie nämlich alle Begehrlichkeiten der männlichen Kollegen mit dem Blick auf ein Ministerium befriedigt hatten, fiel Ihnen in letzter Sekunde auf, daß da noch die Frauen sind. Kurzum, da konnte nach seinem Weltbild am besten das Bauchladenministerium herhalten. Jeder „Dumme" kann nun glauben, daß auch die Regierung auf dem Weg ist, die Frauen an Ämtern und Funktionen angemessen zu beteiligen.
({9})
Ich hätte mich, glaube ich, dazu nicht zur Verfügung gestellt.
Wie unsinnig diese Zellteilung eines Ministeriums den Kennern erscheint, will ich am folgenden Beispiel verdeutlichen. Ich frage: Wäre der Bundeskanzler jemals auf die Idee gekommen, das riesengroße Verteidigungsministerium vielleicht zu zersägen und für jede Waffengattung einen zuständigen männlichen Minister zu ernennen,
({10})
z. B. einen Luftfahrtminister oder Heeresminister oder gar einen Marineminister?
({11}): Keine
Vorschläge mehr! Das macht er! Wenn mehr
Posten herauskommen, macht er das! - Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wirklich eine
Büttenrede!)
Nein, Männern mutet er offensichtlich eine solche Lösung nicht zu. Aber gegenüber Frauen hat er dabei keinerlei Skrupel. Und ich kann Ihnen sagen: Dagegen protestieren nicht nur wir Frauen energisch.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur zu gerne hätte ich als frauenpolitische Sprecherin meiner Fraktion die Aussagen des Bundeskanzlers zur Frauenpolitik positiv gewürdigt. Leider hat er mir dazu nicht den geringsten Anlaß gegeben.
Im Gegenteil: Das Fünf-Punkte-Programm, auf das sich die Koalitionspartner geeinigt haben, erfüllt mich mit Skepsis und tiefer Sorge um das Wohl und die Zukunft der Frauen in den alten und - ich muß leider sagen - noch mehr in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland.
Diese Sorge ist in der bisherigen Haltung des Kanzlers zur Frauenpolitik begründet. In den 8 Jahren seiner Regierungszeit hat er keine einzige Initiative zur Gleichstellung von Frau und Mann im Arbeitsleben eingebracht. Herr Bundeskanzler, jahrelang haben Sie sich gegen eine gesetzliche Verankerung der Frauenförderung gesträubt, haben unseren Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes in allen seinen Bestandteilen vehement abgelehnt.
Deshalb fällt es mir wirklich schwer zu glauben, daß er tatsächlich vorhat, ein „Artikelgesetz zur Gleichberechtigung von Mann und Frau" vorzulegen, das gesetzliche Regelungen zur Frauenförderung vorsieht. Gewiß, seine Beraterinnen und Berater haben ihm zu Recht nahegelegt, dem Auftrag des Einigungsvertrages zu entsprechen und die Weiterentwicklung der Gesetzgebung zur Gleichberechtigung von Mann und Frau anzukündigen. Aber wie ernst sind eigentlich seine Ankündigungen gemeint? Wie ernst nimmt der Kanzler die Frauenförderung in seiner eigenen Partei, wenn ich sehe, daß seine Fraktion mit der CSU den geringsten Frauenanteil, nämlich 13 % im Parlament stellt?
({12})
Wie will er Frauenförderung nun gesetzlich verankern, wenn bereits führende Politikerinnen seiner Partei im letzten Parlament geäußert haben - ich zitiere da Frau Männle - :
Gleichberechtigung auf dem Verordnungsweg führt in die Sackgasse .. .
({13})
Oder bei der Debatte um das Gleichstellungsgesetz:
Im Gegensatz zur Oppositionsfraktion ist die Koalition der Auffassung, daß die Fragen der Gleichstellung nicht durch ein Sammelgesetz geregelt werden sollten.
({14})
Und jetzt kommt der Bundeskanzler mit einem solchen Vorschlag „wie Kai aus der Kiste", der uns und mich ganz besonders an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln läßt.
({15})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben mit unserem Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes vorgemacht, wie man Frauenförderung im 20. Jahrhundert gestalten kann.
({16})
Wir werden Ihren Vorschlag an unserem Gesetzentwurf messen. Für uns ist es beispielsweise unverzichtbar, Diskriminierung am Arbeitsplatz empfindlich zu bestrafen. Wir meinen auch, daß Frauen im öffentlichen Dienst, solange sie in bestimmten Positionen und Bereichen so eindeutig unterrepräsentiert sind, bei Einstellung und Beförderung bevorzugt werden müssen, wenn sie die gleiche Qualifikation und auch die gleichwertige Qualifikation wie die männlichen Bewerber vorweisen können.
({17})
Vor allem treten wir dafür ein, daß im Bereich der Ausbildung von Frauen und Männern die gleichen Kriterien gelten müssen. Ich füge hinzu: Hier muß der öffentliche Dienst Vorbild für die Frauenförderung der privaten Wirtschaft werden.
({18})
Der Bundeskanzler hätte an dieser Stelle die Chance ergreifen können, Frauen, vor allem den Alleinerziehenden, im Zuge der Beseitigung und Verhinderung von Frauenarbeitslosigkeit besonders in den neuen Ländern durch eine gezielte finanzielle Unterstützung, zum Beispiel von Klein- und Mittelbetrieben, durch Poolbildungen für Ersatzkräfte bei Erziehungsurlaub von Müttern und Vätern und auch bei deren Beurlaubung zur Pflege kranker Kinder, eine Perspektive für die Zukunft zu eröffnen.
Statt dessen strafen Sie Frauen durch weitere Untätigkeit. So deuten Sie nicht einmal mit einem Satz an, wie sich die soziale Sicherung der Frau im Alter gestalten soll. Weder die Abschaffung der ungeschützten Arbeitsverhältnisse noch den Versuch einer rentenrechtlichen Lösung für Frauen, die häusliche Pflege übernehmen wollen oder müssen, haben Sie in Ihre Verhandlungen zum Einigungsvertrag, in die Koalitionsvereinbarungen oder gestern in die Regierungserklärung aufgenommen.
({19})
- Das haben Sie aber nirgendwo in den letzten Vereinbarungen.
Zynisch formuliert, lautet die Botschaft der Regierungserklärung: Wir fahren mit der Politik der Benachteiligung von Frauen fort,
({20})
nachdem sich in den vorhergehenden Regierungsjahren die Streichung des Schüler-BAföG, das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz - das sich nachweislich als Mittel zum Heuern und Feuern herausgestellt hat - oder die Streichung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten für Hausfrauen als nachteilig für Frauen erwiesen haben. Sie provozieren und tolerieren mit den neuen Regierungsvorhaben den Weg in die zunehmende Armut von Frauen.
Das von Ihnen großartig propagierte Sonderprogramm zur Wiedereingliederung von Frauen nach der Familienphase, das innerhalb von fünf Jahren maximal 3 000 Frauen zugutekommen soll, wirkt geradezu lächerlich angesichts der Arbeitslosenzahlen im letzten Monat.
({21})
800 000 Frauen in den neuen Bundesländern und über 350 000 in den alten Bundesländern sind zur Zeit arbeitslos. Ich weiß nicht, was angesichts dieser Zahlen noch lächerlich wirken soll, wenn nicht dieses Sonderprogramm.
Nun zu den Forderungen der Frauen nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf! Der Einigungsvertrag sieht dazu - das finde ich hervorragend - eine Rechtsangleichung in den alten und neuen Bundesländern vor. Die Formulierung, daß Sie eine Änderung der Arbeitszeitordnung anstreben, hätte ja dann auch hoffen lassen können, daß Sie ganz allgemein im Sinne einer Humanisierung der Arbeitswelt zum Beispiel Vorschläge für die Gestaltung von Schichtplänen oder Modelle für die Verlängerung der Urlaubszeit für Mütter und Väter unterbreitet hätten.
({22})
Statt dessen wollen Sie, wie in den Koalitionsvereinbarungen deutlich wird, als Krönung die Aufhebung des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen durchsetzen.
({23})
Das verkaufen Sie dann auch noch als eine weitere Errungenschaft auf dem Weg zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Ich finde das unglaublich.
({24})
Bei einer ehrlichen Absicht zur Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie hätten die Frauen erwarten können, daß Sie auf die positiven Regelungen in der ehemaligen DDR eingegangen wären und neue Finanzierungsmodelle zur Schaffung fehlender und notwendiger Kindergarten- oder Kindertagesstättenplätze zur Verfügung gestellt hätten. Wie wollen Sie die noch vorhandenen Kindergärten in den neuen Bundesländern erhalten, und wie wollen Sie die Finanzierung sicherstellen? Dazu ist in Ihren Ausführungen nichts zu lesen.
({25})
Ihre Ankündigung in der Regierungserklärung, im neuen Jugendhilferecht den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz zu verankern, erscheint wie
Hohn, nachdem Sie gerade im letzten Jahr den diesbezüglichen Antrag der SPD-Fraktion abgelehnt haben.
({26})
Der Eindruck, daß hier in Bausch und Bogen nur kosmetische Tünche betrieben wird, bleibt bestehen, solange keine vernünftigen Finanzierungsvorschläge unterbreitet werden.
({27})
Sie hätten natürlich, statt auf die Ländersache zu reflektieren, auch eigene Vorstellungen und Modelle entwickeln können, um diesen Punkt zu regeln.
({28})
Ich kann nicht immer nur auf andere abschieben, sondern ich muß auch selber gestaltend wirken. Hier hätte der Kanzler eine Möglichkeit gehabt.
Über die bisher aufgeführten Punkte hinaus vermisse ich ein klares Wort zu der Frage, durch welche gesetzlichen Maßnahmen die Gewalt gegen Frauen und Kinder eingedämmt werden soll. Auch hier müssen wir feststellen: Fehlanzeige.
({29})
- Ich will das nicht nur auf ein Bundesland beziehen; ich möchte es bundesweit geregelt haben. Sie hätten das als Beispiel nehmen können, Herr Geißler.
Weder präventiver Schutz durch das Strafrecht noch Opferschutz für vergewaltigte und geschlagene Frauen durch Frauenhäuser stehen in Ihrem Programm.
Ein letzter Punkt: Die inhaltliche Ausgestaltung der künftigen Regelung des § 218 war, wie vereinbart - und dafür danke ich besonders dem Engagement meiner Kollegin Herta Däubler-Gmelin -,
({30})
in den strittigen Verhandlungen zum Einigungsvertrag ausgeklammert.
Eines stimmt mich allerdings doch bedenklich: Wenn ich mir die willkürliche Zuschneidung der Ministerien ansehe, ist es gänzlich unbegreiflich, daß die gesetzliche Neuregelung der Schwangerschaftskonflikte beim Ministerium für Familie und Senioren angesiedelt werden soll
({31})
und nicht dort, wo sie hingehört, nämlich zum Frauenministerium.
Offensichtlich erscheint die aus dem neuen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern stammende Frauenministerin dem Bundeskanzler für dieses politisch heiße Eisen als zu unzuverlässig. Da legt er lieber die Gesetzgebungsarbeit in die für ihn politisch verläßlicheren Hände der Kolleginnen Rönsch und Verhülsdonk - ich kann den Kanzler da wirklich verstehen -, deren Einstellungen zum § 218 weithin bekannt sind
und in das Weltbild des Bundeskanzlers zu passen scheinen.
({32})
Überhaupt haben Sie die Problematik der Schwangerschaftsabbrüche völlig ausgeklammert. Dabei ist selbst den an Politik nur mäßig interessierten Bürgerinnen und Bürgern klar, daß eine Rechtsangleichung der Schwangerschaftsabbruchregelungen zu den wesentlichsten Gesetzgebungsaufgaben in den vor uns liegenden Jahren gehört.
Ich hoffe, daß Sie, den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgend, einen wirksamen Schutz des werdenden Lebens auf dem Prinzip „Hilfe statt Strafe" basieren lassen.
Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann ich nur feststellen: Wir Frauen sind enttäuscht
({33})
über die dürftigen und nahezu unverbindlichen Aussagen in den Koalitionsvereinbarungen und in der Regierungserklärung des Kanzlers. Aber wir werden nicht lockerlassen, unsere Forderungen hier ins Hohe Haus einzubringen.
Deshalb melden wir jetzt schon an, daß die neu zu bildende Kommission, die die künftige Verfassung unseres geeinten Deutschlands erarbeitet, paritätisch mit Frauen und Männern besetzt werden möge.
({34})
Mit Stolz verweise ich auf die richtungsweisende Arbeit der Sozialdemokratin Elisabeth Seibert, die dafür gesorgt hat, daß die Frauen 1949 in unserer gültigen Verfassung in Art. 3 einen Platz gefunden haben. Hätte sie das nicht getan, hätten wir damit rechnen müssen, daß die Frauen vergessen werden. Wir wollen die Arbeit von Elisabeth Selbert weiterführen.
Vielen Dank.
({35})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile nun das Wort der Frau Minister Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einer Anmerkung zur Rede der Frau Kollegin Rönsch beginnen. Das ist zwar ungewöhnlich, aber ich denke, auf Grund der Tatsache, daß die Neuordnung des § 218 in der Tat eines der ganz wichtigen und schwierigen Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturperiode ist und außerdem nicht der Koalitionsabsprache unterliegt, ist dies gerechtfertigt.
({0})
Ich denke, es muß unter uns wirklich klar sein, daß auch diejenigen, die für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten eintreten, alles daransetzen werden, um werdendes Leben zu schützen.
({1})
Dies ist auch keine Frage von Christentum oder Atheismus.
({2})
Ich kenne in unserer Gesellschaft viele Christen, die einen Schwangerschaftsabbruch nie mit ihrem Gewissen vereinbaren könnten - dies respektieren wir selbstverständlich alle -, aber ich kenne auch viele, die nicht an Gott glauben oder sich nicht dazu bekennen, die alles daran setzen werden, um werdendes Leben zu schützen.
({3})
Deswegen, denke ich, sollten wir nicht fortfahren, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen - das reißt nur Gräben auf -. Wir sollten versuchen, wirklich einen Konsens zu finden. Nur das dient dieser schwierigen Materie.
({4})
Nun zu meinem eigentlichen Thema; ich bin ja nicht Frauenministerin, sondern Wohnungsbauministerin. Ich begrüße es ausdrücklich, daß in der Debatte zu dieser Regierungserklärung das Thema Wohnungsbaupolitik im Gesamtkomplex der Sozialpolitik behandelt wird. Das macht deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Wohnung kein Wirtschaftsgut wie jedes andere ist, sondern daß es sich hierbei um die in der Marktwirtschaft angelegte soziale Komponente handelt. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß ich eine Tradition fortführen möchte, die schon mit Beginn dieser Republik, der Bundesrepublik Deutschland, begonnen wurde, nämlich die Tradition, die der erste Wohnungsbauminister dieser Republik gebildet hat.
({5})
Es war der Liberale Eberhard Wildermuth, und das erste Gesetz, das im Deutschen Bundestag in Sachen Wohnungsbaupolitik verabschiedet wurde, war das Gesetz über den sozialen Wohnungsbau.
({6})
In diese Legislaturperiode fiel auch noch die Einbringung des Gesetzes über die Eigenheimförderung.
({7})
Ich denke, mit diesen beiden Politikfeldern ist schon das Spannungsfeld dessen umrissen, was heute auch noch die Wohnungsbaupolitik bestimmt, und ich werde mich gern auf diese Tradition berufen, selbst dann, wenn mir Herr Dreßler, der nun bedauerlicherweise nicht mehr anwesend ist, in seiner vorfabrizierten Rede mit seinen unverbesserlichen Vorurteilen anderes unterstellt.
({8})
- Nein, das kann ich Ihnen zeigen. Sie ist nicht vorfabriziert.
({9})
Der Schwerpunkt der Wohnungsbaupolitik in dieser Legislaturperiode wird ganz zweifellos in den fünf neuen Bundesländern liegen.
({10})
Denn hier geht es darum, ganz vielen Menschen endlich eine menschenwürdige Wohnung zu verschaffen. Dabei haben Sanierung und Modernisierung zunächst ganz klar Priorität vor dem Neubau.
Deswegen ist es auch richtig gewesen, daß die Bundesregierung bereits im vergangenen Jahr ein Kreditprogramm von 10 Milliarden DM aufgelegt hat, das ausdrücklich in diesem Bereich eingesetzt werden soll. Die Mittel werden jetzt langsam abgerufen. Das Problem, das sich aus der Höhe der Zinsen ergeben hat, wird ebenfalls von uns gelöst werden. Wir begrüßen das dreijährige Moratorium auf Zinsen und Tilgungsleistungen für die Wohnungsbaugesellschaften, und wir werden dafür sorgen, daß auch im privat vermieteten Wohnungsbau die Zinsen nicht so drückend bleiben, wie sie jetzt sind.
({11})
Immerhin geht es hier um einen Anteil von etwa 20 % des gesamten Wohnungsbestandes in den fünf neuen Bundesländern.
({12})
Ein großes Problem werden die Mietensteigerungen zweifellos für viele Menschen in ihrem monatlichen Budget in den fünf neuen Bundesländern darstellen. Aber ich glaube, es gibt auch bei den Menschen, die dort leben, keinen Zweifel daran, daß letztlich die Mieten steigen müssen. Die Frage ist nur: Wie schnell, in welchem Umfang und wie weit?
Deswegen finde ich es ganz wichtig, daß wir vereinbart haben, daß das jetzige Niveau von 4 %, das ja nicht bleiben kann, langsam angehoben wird. Wir haben in der Koalition vereinbart, daß eine Belastung aus der Miete von nicht mehr als 10 % des Nettoeinkommens in diesem Jahr erreicht werden kann. Was darüber hinausgehen würde, müssen wir durch eine bessere Wohngeldgewährung ausgleichen; und das werden wir auch tun.
({13})
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reschke?
Wenn das nicht auf meine knappe Redezeit angerechnet wird, gern.
Das geschieht doch nie, Frau Ministerin. - Vor dem Hintergrund der heutigen Beschlüsse der Bundesbank freue ich mich, daß Sie Einfluß nehmen, damit in Zukunft bei der Zinssituation etwas passiert.
Aber meine Frage geht dahin: Sie haben soeben von den Mieten gesprochen. Sie sind aber nicht auf die Wohnkosten eingegangen, die durch die sogenannte Zweitmiete insgesamt entstehen. Auch dazu würde ich gern etwas von Ihnen hören. Die steigen ja noch stärker als die Mieten.
Herr Kollege, Sie hätten einfach nur zu warten brauchen, bis ich das gesagt hätte.
({0})
Ich wollte nämlich gerade auf die Umlage der Betriebskosten eingehen und daran erinnern, daß der Minister Kühbacher - immerhin Sozialdemokrat; all denen, die etwas länger im Deutschen Bundestag sind, wohlbekannt als einer der Haushälter der SPD aus dem Haushaltsausschuß ({1})
beklagt hat, daß die Koalition beschlossen hat, die Heizkosten erst zum 1. Oktober umlagefähig zu machen. Er hat gesagt, das sei völlig unerträglich, das müsse schon früher passieren.
({2})
Ich begrüße es ja nachdrücklich, daß ein Sozialdemokrat in Regierungsverantwortung, d. h. dann, wenn es die Subventionen sind, die er zahlen muß, zum marktwirtschaftlichen Denken zurückfindet, und wünsche mir, daß das auch bei der SPD in der Opposition allmählich Platz greift.
({3})
Wir werden die Betriebskosten zum 1. April umlagefähig machen. Dies ist auch deshalb gerechtfertigt, weil diese Kosten heute schon wohngeldfähig sind, so daß wir in dem entsprechenden Wohngeldgesetz dazu nichts mehr ändern müssen. Das andere wird Gegenstand der Beratungen zum 1. Oktober sein.
Wichtig ist, daß alle diese Maßnahmen sozialverträglich sind und daß die Mieter wissen, was auf sie zukommt, nämlich die Sicherheit; denn wir haben heute wieder gehört: Vor allem die PDS will mit ihrer demagogischen Angstmacherei die Menschen noch einmal verunsichern. Dies dürfen wir nicht zulassen und werden wir nicht zulassen.
Einen zusätzlichen Akzent werden wir auch bei der Privatisierung setzen. Hierbei geht es darum, durch das Wecken privater Initiative, durch das Ärmelhochkrempeln möglichst schnell zu einem möglichst guten Wohnungsbestand in den fünf neuen Ländern zu kommen.
({4})
Frau Minister, sind Sie so nett, auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi zu gestatten?
Auch Herrn Conradi gestatte ich eine Zwischenfrage; ja.
Frau Ministerin, was sagen Sie denn den privaten Hauseigentümern und Vermietern in den neuen Bundesländern, die ihre Miete nicht erhöhen dürfen, die aber seit dem 1. Januar 9,5 % Zinsen auf die ihnen damals vom Staat zwangsverordneten Hypotheken zahlen müssen?
({0})
Sollen die in Konkurs gehen, oder sollen die ihr Haus zwangsversteigern? - Das haben Sie in Ihrem Vertrag damals offenbar nicht berücksichtigt.
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Conradi, ich habe soeben ausgeführt, daß wir Maßnahmen in Vorbereitung haben, um genau diesen privaten Vermietern die Zins- und Tilgungsbelastung zu erleichtern. Unser Ziel ist es dabei, daß sie auf den gleichen Belastungsstand kommen - zumindest bis zum 1. Oktober, wenn die Kaltmieten erhöht werden können - , den sie vor dem 3. Oktober des letzten Jahres hatten.
({1})
Dies ist in Vorbereitung. Es ist ein Teil der Koalitionsbeschlüsse.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einiges zu den Problemen in den westlichen Bundesländern ausführen, die ja in der Tat in Teilbereichen sehr drängend sind. Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, daß in weiten Bereichen der westlichen Bundesländer die Wohnungsversorgung gut, in machen Bereichen sogar sehr gut ist.
({2})
Es zeigt sich im übrigen auch, daß das Programm der Bundesregierung aus dem Jahr 1989 für 1 Million Wohnungen jetzt in einem ganz wichtigen Bereich greift. Die Zahl der Baugenehmigungen für den mehrgeschossigen Wohnungsbau, für den Mietwohnungsbau, ist 1989 und 1990 drastisch in die Höhe gegangen. Es handelt sich um ein Plus von 60 % im Jahr 1989 und um ein Plus von 76 % bis Oktober 1990.
({3})
Dies zeigt, daß die Probleme nach und nach weniger drängend werden.
Ich möchte allerdings nicht verschweigen, daß im Einfamilienhausbau die Baugenehmigungsrate stagniert. Dies ist sicherlich auf die hohen Zinsen, auf die hohen Baukosten und auf das knappe Bauland zurückzuführen.
({4})
Wir können uns sicherlich lange darüber unterhalten, woher das Geld für eine Förderung kommen soll, wie Sie sie haben möchten. Die Bundesregierung hat
beschlossen, die steuerliche Eigentumsförderung weiter zu verbessern,
({5})
um zumindest einen Teil des Ausgleichs zu schaffen und damit auch die Baugenehmigungen in diesem Bereich weiter zu fördern. Die abzugsfähigen Kosten werden von 300 000 DM auf 330 000 DM und das Baukindergeld wird von 750 DM auf 1 000 DM heraufgesetzt. Aber hier geht es darum, daß die Gemeinden endlich mehr Bauland ausweisen,
({6})
damit es zu mehr Flexibilität und Mobilität in diesem Bereich kommt.
({7})
Wir werden die Probleme nur in der Solidarität zwischen Bund, Ländern und Gemeinden lösen können. Das trifft vor allen Dingen den sozialen Wohnungsbau. Wir werden unseren Anteil für die Weiterförderung des sozialen Wohnungsbaus auf hohem Niveau leisten, und wir bitten darum, daß die Länder das in diesem Jahr genauso tun. Wir werden mehr Mittel, nämlich zwei Drittel der Bewilligungen, im dritten Förderweg einsetzen.
({8})
Damit können wir über die Zeitdauer viermal so viele Wohnungen bauen wie im ersten Förderweg.
({9})
Das bedeutet, daß wir die Probleme schneller in den Griff bekommen, als wenn wir bei der alten Förderung allein verblieben wären.
({10})
Wir stehen in Teilbereichen vor schwierigen Situationen; aber die Beschlüsse der Koalition haben eine gute Grundlage dafür geschaffen, daß das Gut Wohnung nicht nur den angemessenen Stellenwert in der Politik bekommt, den es verdient, sondern daß auch die Menschen erwarten können, daß ihre berechtigten Hoffnungen sehr bald in Erfüllungen gehen können.
Ich danke Ihnen.
({11})
Nunmehr hat der Abgeordnete Scharrenbroich das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Dreßler hatte große Schwierigkeiten, die Philosophie, wie er sich ausdrückte, der Regierungserklärung zu entdecken.
({0})
Nun weiß ich nicht, was der Herr Dreßler unter Philosophie versteht. Der redet normalerweise immer da220
von, Signale zu geben, von Stellwerken usw. Aber ich möchte mir eigentlich das zu eigen machen, was der Kollege Cronenberg sagte. Ich möchte doch versuchen, auch im Bereich der Sozialpolitik das Niveau, das dieses Thema verdient, möglichst hoch zu halten.
({1})
Als ich mir meine Notizen für diese kurze Rede machte, stand ich unter dem Eindruck der Reden des Ministerpräsidenten und des Finanzministers aus zwei neuen Bundesländern. Ich meine, daß wir auch in der Sozialpolitik den Konsens suchen müßten, wo immer dies möglich ist, und jetzt aufhören sollten, weiter Wahlkampf zu betreiben.
({2})
Das heißt, wir müssen auch als Sozialpolitiker bei unseren Bürgerinnen und Bürgern in Westdeutschland deutlich machen, daß wir zu dem stehen, was uns von den Freunden in Mitteldeutschland gesagt worden ist. Sie sagten: Teilung überwinden durch Teilen. Wir müssen als Sozialpolitiker die Führungsfähigkeit haben, den Menschen in der Alt-Bundesrepublik deutlich zu machen, was das heißt. Da kommen wir mit Neidpolitik nicht mehr weiter.
({3})
Wir müssen den Menschen auch sagen, vor welch großen Aufgaben insgesamt wir stehen. Das heißt, wir müssen erstens unseren Beitrag für die Golfregion in der Zeit des Krieges und danach erbringen, zweitens unseren Beitrag für die Länder Osteuropas erbringen, drittens unseren Beitrag, wie der Bundeskanzler vielfach sagte, weiterhin auch für die Länder der Dritten Welt erbringen und viertens - das steht voran - die Einheit Deutschlands oder, wie das Leitmotiv dieser Regierungserklärung lautete, die Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse herbeiführen.
Wer als Sozialpolitiker weiß, daß Preisstabilität die wichtigste Aufgabe für eine erfolgreiche Sozialpolitik ist, der muß zu der alten Aussage der Union zurückfinden, daß wir eine Einheit von Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik brauchen. Ich füge für den konkreten Fall der Herstellung der einheitlichen Lebensverhältnisse hinzu: Wir brauchen die Einheit auch der Rechtspolitik.
Wirtschaftspolitik heißt - wie in der Regierungserklärung gesagt wurde - : Vorrang für Investitionen. Das bedeutet, daß die Infrastruktur aufgebaut werden muß. Wenn uns das nicht gelingt, dann werden in der früheren DDR so viele Menschen arbeitslos, daß die klassische Sozialpolitik das überhaupt nicht wettmachen kann.
({4})
Deswegen muß es ein Anliegen der Sozialpolitik sein, auch die Voraussetzungen für eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik zu erarbeiten.
({5})
Ich möchte nun auf die Erhöhung der Beiträge für Nürnberg über ein Prozent hinaus zu sprechen kommen. Was wäre denn die Alternative gewesen? Die Alternative wäre, wie uns die SPD im Wahlkampf
immer gesagt hat, eine Steuererhöhung gewesen. Eine Mehrwertsteuererhöhung oder Mineralölsteuererhöhung ist ebenfalls kein Beitrag nach den Grundsätzen der Leistungsfähigkeit. Deswegen hat dies immerhin den Vorzug,
({6})
daß wir diese Beiträge wieder senken werden, was bei einer Steuererhöhung - ob von SPD oder CDU; das ist mir gleich - sehr wahrscheinlich nicht der Fall sein würde.
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Bitte sehr!
Herr Kollege Scharrenbroich, können Sie mir einmal erklären, ob ich Sie richtig verstehe, daß Sie unter dem Titel „Gerechte Sozialpolitik und Teilen" auch verstehen, daß alle diejenigen, die mehr als 6 500 DM verdienen, von Ihnen, der CDU/CSU und der FDP, nicht in diesen Prozeß des Teilens einbezogen wurden? Ist das nach Ihrer Meinung eine gerechte Sozial- und Finanzpolitik?
Herr Dreßler, da ich Ihre Schablonen kenne, hatte ich gar keine andere Frage erwartet. Meine Antwort lautet: Was ist die Alternative? Da sage ich: 27 DM im Monat zu zahlen, kann man dem Durchschnittsverdiener zumuten. Bei einer Mehrwertsteueranhebung müßte er sehr wahrscheinlich erheblich mehr zulegen. Hören Sie darum bitte mit Ihrer Neidpolitik auf! Wir müssen in Alternativen denken, und wir müssen die besser Alternative wählen. Das haben wir gemacht.
({0})
Herr Abgeordneter Scharrenbroich, gestatten Sie noch eine Frage des Herrn Abgeordneten Dreßler?
Nein. Als Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe denke ich jetzt an die Beschäftigten des Deutschen Bundestages. Ich meine, wir sollten die Debatte nicht weiter verlängern, da Herr Dreßler sowieso nicht lernfähig ist.
({0})
Ich glaube, daß hier auch die Rechtspolitik eine wichtige Rolle spielt. Denn wir hören doch von allen Menschen und von denjenigen, die in den neuen Bundesländern investieren wollen: Solange die Eigentumsfrage nicht geklärt ist, werden wir nicht frühzeitig und schnell genug die nötigen Arbeitsplätze dort schaffen.
Das gilt auch für das, was heute schon mehrmals - ich glaube, vom Kollegen Nitsch - gesagt worden ist: Die Planungsfristen müssen verkürzt werden. InScharrenbroich
sofern hat die Rechtspolitik einen eminent wichtigen Beitrag zu erbringen, damit wir auch die sozialpolitischen Probleme lösen können.
Daher halte ich das, was in der Regierungserklärung gesagt worden ist, für sehr wichtig, nämlich daß die Bundesregierung einen Kabinettsausschuß Deutsche Einheit gebildet hat. Wir alle sind aufgerufen, diesen Kabinettsausschuß nicht nur für sich arbeiten zu lassen, sondern - so verstehe ich Parlamentsarbeit - uns von allen Fraktionen her an dieser Arbeit zu beteiligen.
Ich möchte aber auch sagen, daß in dieser schwierigen Phase alle Fraktionen vielleicht in einem neuen Stil arbeiten müssen. Das gilt nach meiner Auffassung auch für die Regierungsfraktionen in der Zusammenarbeit mit der Bundesregierung. Das heißt, daß die Regierungsfraktionen nicht nur Mehrheitsbeschaffer sind, sondern daß sie auch ihre eigenen Vorstellungen einbringen.
Ich möchte noch einmal das unterstützen, was der Herr Kollege Nitsch gesagt hat. Wir müssen darüber nachdenken, ob die Verteilung des Umsatzsteueraufkommens, wie sie bisher im Einigungsvertrag vorgesehen ist, so bestehen bleiben kann. Es ist unsolidarisch, daß die alten Bundesländer den neuen Bundesländern nur 55 % des ihnen zustehenden Umsatzsteueraufkommens zubilligen wollen. Das muß meiner Ansicht nach geändert werden. Damit können wir nicht bis 1995 warten.
Insofern freue ich mich, daß der Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten Ende Februar eine Konferenz über eine stärkere Beteiligung der Länder an den Kosten der deutschen Einheit durchführt.
Konsens ist gefordert. Deswegen möchte ich noch einmal besonders die Tarifvertragspartner nennen. Ich freue mich, daß der Bundeskanzler einen Gedanken, der in den Sozialausschüssen, in der CDA, sehr gepflegt wird, den Gedanken des Solidarpakts, in seiner Regierungserklärung aufgegriffen hat. Wir müssen darüber nachdenken, wie alle Seiten zusammengefügt werden können, um ihren Beitrag zu erbringen, um die Kosten der deutschen Einheit zu finanzieren.
Ich begrüße es ausdrücklich, daß er zu Modellen für eine stärkere Erfolgsbeteiligung und eine breitere Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand aufgerufen hat. Ich glaube, hier könnten wir einen Beitrag erbringen - aber das geht nur gemeinsam mit den Tarifvertragspartnern - , damit die Arbeitnehmer Miteigentümer am Produktivkapital werden und andererseits der Kapitalmarkt entlastet wird. Das ist die Stunde der Vermögensbildung.
({1})
Zur Sozialpolitik im engeren Sinn möchte ich zunächst einmal feststellen, daß die deutsche Einheit durch die Arbeiten in der letzten Legislaturperiode gut vorbereitet worden ist. Auch da spreche ich wieder die Finanz- und Haushaltspolitik an. Vom Bundeskanzler ist verschiedentlich betont worden, daß wir erst durch die Haushaltskonsolidierung die Voraussetzungen dafür hatten. Dabei hat uns die SPD leider verlassen; sie hat nur Neidpolitik zu bieten gehabt.
({2})
Die Koalition mußte die Arbeit allein machen. Aber dadurch sind die besten Voraussetzungen geschaffen worden.
Ich nenne die beiden großen Reformen, die Gesundheitsreform und die Rentenreform. Herr Dreßler, da Sie sich verschiedentlich zum Thema Norbert Blüm und Pharmaindustrie geäußert haben,
({3})
möchte ich wenigstens in einem Punkt - in allen lohnt sich nicht - Ihrer Legendenbildung entgegentreten.
({4})
Bei dem Punkt Pharmaindustrie muß es doch gesagt werden:
Ich erinnere mich an unsere Sitzung in der Koalitionsarbeitsgruppe vom 20. Dezember, an der auch der Kollege Cronenberg und der Kollege Thomae teilgenommen hatten. Damals wurde festgestellt - das ist in einem Schreiben des Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie vom 18. Dezember festgehalten, unterschrieben von Loebe und Stürzbecher - : Das von den Leistungserbringern zu erbringende Gesamtvolumen umfaßt somit maximal 900 Millionen DM. Das war der Stand vom 18. Dezember.
In dieser Sitzung der Koalitionsarbeitsgruppe am 20. Dezember haben wir dem Kollegen Jagoda, der die Verhandlungen geführt hat, gesagt: Bei diesem Ergebnis darf es nicht bleiben; das akzeptieren wir nicht; es muß weiterverhandelt werden. Da ist der Termin für das Ende des Jahres oder für die ersten Tage des Januars festgelegt worden. Ende des Jahres war es nicht mehr möglich. Dann ist am 3. Januar verhandelt worden. Das Verhandlungsergebnis ist folgendes : Die Pharmaindustrie ist für das erste Jahr zu einem Ergebnis von 500 Millionen DM gekommen; für das zweite Jahr 1 Milliarde DM, für das dritte Jahr 700 Millionen DM. Das macht 2,2 Milliarden DM gegenüber 900 Millionen DM, die vorher ausgehandelt waren.
({5})
- Nein, Sie sind nicht mehr auf dem laufenden. Es gab zwischendurch Überlegungen. Aber das werden wir bei den Gesetzesberatungen noch sehen.
({6})
Ich darf feststellen, was das Ergebnis der Pharmaindustrie ist. Es sind nicht nur 2,2 Milliarden DM. Sie hat vielmehr gesagt: Von allem, was an Kosten darüber hinausgeht und was anfällt und was dadurch noch nicht gedeckt ist, übernimmt die Pharmaindustrie 50 %. Das ist die Wahrheit. Ich halte es für ausgesprochen richtig - das möchte ich bei dieser Gelegenheit sagen - , daß sich der Bundesarbeitsminister so lange
geweigert hat, in die Verhandlungen mit der Pharmaindustrie einzutreten, bis der Lieferboykott beseitigt war. Den konnte man nicht deutlich genug mißbilligen. Es handelte sich um den Versuch, durch eine Boykottmaßnahme den Gesetzgeber zu beugen. Das haben die nicht geschafft, wie das Ergebnis zeigt.
({7})
- Nach Adam Riese sind 2,2 Milliarden DM erheblich mehr als 900 Millionen DM.
Lassen Sie mich etwas zum Thema Arbeitslosigkeit sagen. Wir werden die Arbeitsmarktpolitik auf dem gleichen hohen Niveau wie bisher fortführen. Die Tarifvertragspartner sind hier gefordert. Sie müssen nämlich mithelfen, wenn es darum geht zu erreichen, daß die Menschen, die Kurzarbeitergeld beziehen, noch eher bereit sind, an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen. Das ist in der Vergangenheit leider dadurch etwas gefährdet worden, daß die Tarifvertragspartner eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes vorgesehen hatten und dadurch das Übergangsgeld für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen unattraktiver geworden wäre. Ich hoffe, daß die Tarifvertragspartner bereit sind, hierbei mitzuhelfen.
Wenn man bedenkt, daß im Jahre 1991 für berufliche Fort- und Weiterbildung ein Betrag in Höhe von 6,6 Milliarden DM in den neuen Bundesländern und von 6,7 Milliarden DM in den alten Bundesländern zur Verfügung gestellt wird, dann muß man sagen: Das ist eine sehr gute begleitende Maßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Lassen Sie mich zum Schluß etwas zur Pflege sagen. Ich bedauere es sehr, Herr Dreßler, daß Sie das Wort des Bundeskanzlers nicht aufgegriffen haben. Der Bundeskanzler hat nämlich auf die Rentenreform Bezug genommen, die im Konsens verabschiedet worden ist. Ich gestehe Ihnen zu: Da haben Sie eine beachtliche Arbeit, auch innerparteilich, geleistet. Ich wäre dankbar, wenn wir das noch einmal aufgriffen.
Ich darf aus der Regierungserklärung zitieren:
({8})
Die Bundesregierung wird deshalb bis zum Sommer 1992 dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Sicherung bei Pflegebedürftigkeit vorlegen.
Die Sicherung bei Pflegebedürftigkeit ist ein Thema - so der Bundeskanzler dann weiter - , „bei dem ich uns alle einladen möchte, den Versuch zu unternehmen, zu einem Konsens zu kommen".
({9})
Ich finde es einfach zu dünn und bedauerlich, daß Sie sich über die Philosophie aufregen, aber zum Nutzen eines solchen Gesetzes mit Blick auf die alten und pflegebedürftigen Menschen überhaupt keine konkrete Aussage machen und lediglich Norbert Blüm
angreifen. Norbert Blüm kann das sehr gut aushalten; denn Norbert Blüm hat nur gesagt: Im Laufe der Legislaturperiode werden wir eine gesetzliche Pflegesicherung zustande bringen.
({10})
So sicher wie das Amen in der Kirche ist: Norbert Blüm wird bis zum Sommer 1992 einen Gesetzentwurf einbringen, und wir werden diesen im Laufe der Legislaturperiode auch verabschieden.
Dem Kollegen Cronenberg möchte ich sagen: Wenn die Zuständigkeit für die Pflege bei Norbert Blüm bleibt - wie es ja beschlossen ist - , dann läßt das alle Möglichkeiten offen.
({11})
Er hat bereits zwei Reformen erfolgreich hinter sich gebracht, was noch kein Arbeits- und Sozialminister bisher geschafft hat.
({12})
Außerdem entspricht das unserer Philosophie, neben den bisherigen Solidarversicherungen eine weitere Solidarversicherung aufzubauen. Insofern muß das gar nicht notwendigerweise beim Krankenversicherungsministerium sein. Damit, meine ich, bleiben alle Möglichkeiten offen.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie auffordern: Bringen Sie einen Beitrag dazu, daß die Menschen in den neuen Bundesländern erkennen, daß wir nicht eine Sozialpolitik für die eine oder andere Partei machen,
({13})
sondern im Zusammenhang mit Wirtschafts- und Finanzpolitik eine Sozialpolitik für die Menschen.
Danke schön.
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Als vorläufig letzter Redner hat jetzt das Wort Herr Minister Dr. Ortleb.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bildung und Wissenschaft spielen nach der politischen Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine ganz wesentliche Rolle für die Weiterentwicklung einer freiheitlichen, wirtschaftlich erfolgreichen, ökologisch orientierten und sozial gerechten Gesellschaft.
Es gilt, die beiden Bildungssysteme in Ost und West unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Ausgangspositionen zu evaluieren. Im Osten sind damit grundlegende Reformen und eine Modernisierung der Bildungsstrukturen, der Bildungsinhalte und der Bildungsgänge verbunden.
Wichtige Vorentscheidungen hierfür sind im Einigungsvertrag getroffen worden. Ein Beispiel ist die für den Bereich der beruflichen Bildung erreichte gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse. Sie gewährleistet Freizügigkeit und damit die Mobilität in - ich
betone - beiden Richtungen und auf längere Sicht die Gleichheit der Lebensverhältnisse.
Die vor uns liegenden Aufgaben in Ost und West werden von uns immense, auch finanzielle Anstrengungen erfordern. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den notwendigen Erneuerungs- und Ausbaubedarf auf allen Ebenen des Bildungswesens in den neuen Ländern, die dies aus eigener Kraft jetzt noch nicht allein leisten können.
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Hier ist die Solidarität der alten Länder und des Bundes gefordert. Ich werde mich dafür einsetzen, daß der Beitrag des Bundes zur Bewältigung der Aufgaben finanziell abgesichert wird.
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Investitionen in Bildung und Wissenschaft sind Investitionen in eine bessere Zukunft.
Die berufliche Aus- und Weiterbildung hat für die Bundesregierung eine hohe Priorität. Ich werde den erfolgreichen Kurs der Modernisierung und Qualitätsverbesserung der beruflichen Bildung in den westlichen Ländern fortsetzen. Nachhaltig trete ich für ein Qualifizierungssystem ein, das sich im Prinzip an der inneren Differenzierung orientiert und der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit junger Menschen besser gerecht wird.
In den neuen Ländern wird es in der allernächsten Zeit vor allem darum gehen, die Ausbildungsplätze für die jungen Menschen vor dem Hintergrund der ökonomischen Entwicklung zu sichern. Unter keinen Umständen dürfen Ausbildungskapazitäten verlorengehen. Deshalb werde ich Handwerk und Mittelstand durch den weiteren Ausbau überbetrieblicher Berufsbildungsstätten unterstützen.
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Bestehende Berufsschulen müssen dabei als wichtige Kapazitäten in ein Gesamtkonzept einbezogen werden.
Unter den gegebenen Umständen kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Aufbau und die Sicherung des dualen Systems der Berufsausbildung in den neuen Ländern zusätzliche finanzielle Aufwendungen erfordert.
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Ständige Erneuerung und ständiger Wandel in unserer Gesellschaft machen Weiterbildung, besonders berufliche Weiterbildung, zu einer großen bildungspolitischen Aufgabe für die kommenden Jahre. Dies gilt ganz besonders vor dem Hintergrund der Situation in den neuen Ländern, wo Demokratie und Soziale Marktwirtschaft Weiterbildung in einer völlig neuen Dimension notwendig machen.
Diese Aufgabe wird angesichts der dort in den vergangenen Jahrzehnten manifestierten Fehlorientierungen nicht leicht sein. Ich weiß, daß die Bereitschaft der Menschen zur Weiterbildung sehr groß ist. Dieses Potential gilt es zu nutzen. Ich werde den Aufbau eines pluralen Weiterbildungssystems in den neuen Ländern nachhaltig unterstützen.
Besonderes Augenmerk wird die Bundesregierung auch auf die Verbesserung der Qualität von Forschung und Lehre an den Hochschulen im vereinten Deutschland richten. Unsere Studenten sollen eine qualifizierte Ausbildung in überschaubarer Studienzeit und zu angemessenen Studienbedingungen erhalten.
Mit Sorge betrachte ich die im internationalen Vergleich überlangen Studienzeiten und das relativ hohe Alter unserer Hochschulabsolventen. Die Organisation der Ausbildung muß es ermöglichen, daß Ausbildungswege straffer und kürzer sein können. Ich spreche von „können" und nicht von „müssen", was keine Rücksicht auf die individuellen Entscheidungen nimmt; ich möchte das nicht umgedeutet wissen.
Ich baue auf den natürlichen Drang jedes jungen Menschen, bald ins Berufsleben treten zu wollen. Ich baue aber auch auf die Wirksamkeit verstärkter Anreize zu mehr Wettbewerb der Hochschulen in der Lehre.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Gern, bitte.
Herr Bundesminister, Sie sprachen von der notwendigen Verkürzung von Ausbildungszeiten. Der Bundeskanzler hat gestern in der Regierungserklärung angekündigt, die Bundesregierung werde sich um eine Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre bemühen. Würden Sie uns mitteilen, wie das angesichts der Zuständigkeit -Bund-Länder-Verhältnis - von der Bundesregierung durchgesetzt werden soll?
Ich werde am Schluß meiner Ausführungen eine einschlägige Passage darüber haben. Vielleicht warten Sie so lange noch ab.
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Ein Schwerpunkt der künftigen Maßnahmen im Hochschulbereich ist der Wiederaufbau und die Integration der Hochschul- und Forschungslandschaft in den fünf neuen Ländern und in Berlin. Wir sind dabei, hierzu gemeinsam mit den Ländern ein Förderungsprogramm auszuarbeiten. Der Bundeskanzler hat dies in seiner gestrigen Regierungserklärung bereits angekündigt. Leistungsfähige Hochschulen sind nämlich auch ein wichtiger Standortfaktor für die wirtschaftliche Attraktivität und Entwicklungsfähigkeit einer Region.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch auf die derzeitige Diskussion um die sogenannte Abwicklung an den Hochschulen in den neuen Ländern eingehen.
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- Es steht im Einigungsvertrag.
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Aggressive Formen der Auseinandersetzung lehne ich ab. Es ist in meinen Augen nicht gerechtfertigt, die fachliche Qualifikation der vorhandenen Hochschullehrer pauschal in Frage zu stellen. Andererseits mag ich genausowenig etwa durch großzügige Absolution fragwürdige Strukturen zementieren wollen.
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Somit wird im Prozeduralen das eine oder andere noch überdacht, korrigiert oder verbessert werden können und müssen.
Fazit: Fingerspitzengefühl und Sachkunde vor Ort sind gefragt. Ich bin zuversichtlich, daß die verantwortlichen Wissenschaftsminister die Problemlösung mit der notwendigen Sensibilität angehen.
Im übrigen wünsche ich mir auch im Westen einen gewissen Pioniergeist bei Studenten und Professoren.
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Es sollte möglichst rasch zu einer angemessenen Durchmischung von Lehrkörpern und Studentenschaft aus den verschiedenen deutschen Regionen kommen!
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Weiter halte ich einen beschleunigten Ausbau der Fachhochschulkapazitäten mit ihren günstigen Studienzeiten und den guten beruflichen Perspektiven für vordringlich. Dies entspricht auch der zunehmenden Nachfrage seitens der jungen Menschen.
Das Voranschreiten des europäischen Einigungsprozesses und die Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa erfordern ein starkes internationales, insbesondere europapolitisches Engagement in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Unser Bildungswesen muß den jungen Menschen die sich daraus bietenden beruflichen und gesellschaftlichen Chancen
durch entsprechende Qualifikationen eröffnen. Im Interesse der Mobilität des Austausches sowie einer engeren Zusammenarbeit sind Bildung und Wissenschaft im Prozeß der europäischen Einigung stärker zu verankern.
Der Europäische Binnenmarkt darf aber nicht den Blick darauf verstellen, daß auch die Modernisierung des Bildungs- und Wissenschaftssystems in Mittel-und Osteuropa eine Aufgabe ist, der wir uns mithelfend zuwenden müssen. Ganz Europa muß nach meinem Dafürhalten durch Begegnung, insonderheit durch gemeinsames Lernen und Forschen zusammenwachsen.
Die schwierigen Aufgaben der Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die ich nur in groben Strichen skizzieren konnte, sind nur gemeinsam von Bund und Ländern zu lösen. Die Bundesregierung ist bereit, sich hierbei im Geiste der Kooperation und des Föderalismus zu beteiligen. Nicht kleinliches Kompetenzgerangel, nicht Konfrontation, sondern sachbezogene Zusammenarbeit ist hierfür meine Devise.
Damit glaube ich, Herr Kuhlwein, auch die Richtung und die Methodik angegeben zu haben, in der bzw. mit der dieses Problem bewältigt werden soll.
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- Wir werden darüber reden müssen.
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Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 1. Februar 1991, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.