Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/18/1991

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung. Ich möchte Sie darüber informieren, daß der Ältestenrat vorschlägt, abweichend von der Geschäftsordnung die Frist für die Einreichung von Fragen zur mündlichen Beantwortung in der Sitzungswoche ab dem 4. November 1991 wegen des gesetzlichen Feiertags am 1. November auf Donnerstag, den 31. Oktober, 11.00 Uhr vorzuverlegen. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden. - Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Vereinbarte Debatte zur Asylpolitik und Ausländersituation a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Willfried Penner, Gerd Wartenberg ({0}), Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Behandlung von Asylanträgen in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/852 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Ausländerfeindlichkeit - Drucksache 12/1270 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Rechtsausschuß c) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Für eine neue Asyl- und Zuwanderungspolitik - Drucksache 12/1296 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({3}) Rechtsausschuß Zur vereinbarten Debatte liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor. Des weiteren liegen ein Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE und zwei Entschließungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Nachher wird ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP folgen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Anlaß unserer heutigen Debatte ist ein in doppelter Weise unerfreulicher. Seit Wochen, ja Monaten werden wir beinahe täglich mit Meldungen über Gewalttaten gegen Ausländer oder über Anschläge auf Wohnheime von Asylbewerbern konfrontiert. Minderheiten von extremistischen Krakeelern rufen zum Haß gegen Ausländer auf. All dies ist eine Schande für unser Land. ({0}) Es ist übrigens kein spezifisches Problem der ostdeutschen Bundesländer. Die Spur von ausländerfeindlichen Anschlägen zieht sich quer durch alle 16 Länder. Deshalb hat niemand einen Grund, mit dem Finger auf andere zu zeigen. ({1}) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. ({2}) In über 40 Jahren haben wir ein friedliches und freundliches Miteinander mit unseren Nachbarn und mit unseren ausländischen Mitbürgern gelernt und gelebt. Das muß auch in Zukunft so bleiben. Nichts und niemand gibt das Recht zu ausländerfeindlicher Hetze oder gar zu Gewalt gegen Ausländer. ({3}) Die Innen- und Justizminister von Bund und Ländern haben gestern auf meine gemeinsam mit dem Kollegen Kinkel gemachte Anregung hin darüber beraten, wie der Schutz unserer ausländischen Mitbürger und der Asylbewerber präventiv wie repressiv verbessert werden kann. Sie haben dazu konkrete Maßnahmen beschlossen. Das andere Thema dieser Tage ist genauso unerfreulich. Seit Ende der 70er Jahre ein grundsätzlicher Stopp für die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer durch die damalige Bundesregierung beschlossen wurde, versucht eine insgesamt wachsende Zahl von Menschen, die bestehenden Zuwanderungshindernisse dadurch zu unterlaufen, daß sie sich für politisch verfolgt erklären und sich auf das Grundrecht auf Asyl berufen. Mit dieser Erklärung sind de facto ein vorläufiges Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland und zugleich der Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialhilferecht erlangt. ({4}) Die Ausländerverwaltungen der Länder und das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge entscheiden dann in mühevollen und zeitaufwendigen Verfahren, die durch allerlei Rechtsmittel in die Länge gezogen werden können, über die Anträge. Am Ende wird, oft nach Jahren, nur ein geringer Teil der Asylanträge positiv entschieden, und ein noch geringerer Teil der abgelehnten Asylbewerber wird hernach endlich auch abgeschoben. Man kann über die Prozentsätze im einzelnen streiten; denn über den Kreis der anzuerkennenden Asylbewerber hinaus gibt es eine nicht unbeträchtliche Zahl weiterer Fälle, in denen eine Abschiebung aus anderen Gründen zumindest vorübergehend nicht in Betracht kommt, wie auch umgekehrt die Zahl derjenigen Asylbewerber nicht genau bekannt ist, die unser Land tatsächlich verlassen. Die Ausländerverwaltungen der Länder sind mit all diesen Feststellungen überfordert, was ja auch durch die Tatsache eindrucksvoll belegt worden ist, daß die Zahl der Asylbewerber in einem Landkreis drastisch zusammengeschmolzen ist, als das Land Nordrhein-Westfalen einmal die Asylbewerber alle zum selben Zeitpunkt einbestellen ließ, um den Mehrfachbezug von Sozialleistungen herauszufinden. Es lohnt also nicht, über Dunkelziffern zu streiten, die ja im übrigen die Sache keineswegs besser machen. Jedenfalls ist der Befund eindeutig, daß eine große Zahl von Asylbewerbern, ohne politisch verfolgt zu sein, ein vorläufiges Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland erlangt und, obwohl nach jahrelangen aufwendigen Verfahren rechtskräftig abgelehnt, Deutschland auf Dauer nicht wieder verläßt. Bund und Länder haben in diesen anderthalb Jahrzehnten vieles versucht, um diesem Mißstand besser begegnen zu können. Insgesamt siebenmal sind die Verfahrensvorschriften des Asylrechts mit dem Ziel verändert worden, zu schnelleren abschließenden Entscheidungen zu kommen: Visumpflichten wurden eingeführt; auch die Pflichten für Transitvisa wurden verschärft; ein Arbeitsverbot für Asylbewerber wurde schon in den 70er Jahren eingeführt, Mitte der 80er Jahre verlängert und, weil es sich im Ergebnis als wirkungslos herausgestellt hat, jetzt wieder abgeschafft. Zeitweilig haben diese Maßnahmen Entlastung gebracht und zu einem vorübergehenden Rückgang der Asylbewerberzahlen geführt. Aber in der Tendenz sind die Zugangszahlen steigend. Mit dem Wegfall des Eisernen Vorhangs haben sie sich mit zunehmender Beschleunigung dramatisch erhöht. 1989 kamen 121 000 Asylbewerber, 1990 193 000 und in den ersten neun Monaten dieses Jahres bereits 170 000; davon im August über 28 000 und im September fast 29 000. Dieser dramatische Anstieg belastet naturgemäß die Ausländerverwaltungen von Bund und Ländern, und er hat zu einem Anstieg der durchschnittlichen Verfahrensdauer geführt, der noch stärker gewesen wäre, wenn der Bund nicht mit organisatorischen und personellen Maßnahmen reagiert hätte. Dabei ist der Streit, ob die Verwaltungen der Länder oder die des Bundes mehr säumig seien, im Grunde einigermaßen müßig; denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf die Ablehnungsentscheidung auch über einen offensichtlich unbegründeten Asylantrag einer besonders sorgfältigen Prüfung und Begründung in jedem Einzelfall. Das bedeutet, daß ein Entscheider des Bundesamts, der die Asylanträge von Bewerbern aus einem bestimmten Land regelmäßig entscheidet, also besonders sachkundig ist, um die Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen, für die Ablehnung auch eines offensichtlich unbegründeten Asylantrags im Durchschnitt rund vier Stunden benötigt. Wir haben in den letzten Jahren mit Hilfe dieses Hohen Hauses gewaltige Anstrengungen unternommen, um die Bearbeitungs- und Entscheidungskapazität beim Bundesamt zu erhöhen. Wir haben die Stellen für Entscheider von 70 im Jahr 1985 auf 438 im Jahr 1991 erhöht, wobei wir allerdings zunehmend Schwierigkeiten haben, überhaupt noch geeignete Mitarbeiter zu finden, um die Stellen zu besetzen. Eine Zeitlang haben wir uns damit beholfen, diese Stellen des gehobenen Dienstes mit Juristen zu besetzen. Aber angesichts des großen Juristenbedarfs in den neuen oder jungen Bundesländern ist damit inzwischen auch kein zusätzliches Angebot mehr zu erschließen. Weil die Verfahren so lang dauern und weil die Zugangszahlen so hoch sind, haben wir derzeit einen Stau von rund 200 000 nicht erledigten Asylverfahren. Aber genau das beschreibt ja unser Problem. Deswegen habe ich nicht ganz verstanden, warum Sozialdemokraten Anfang der Woche mit scheinbar entsetztem Aufschrei erstmals diese Zahl zur Kenntnis nehmen wollten. ({5}) - Eben! Warum haben Sie denn so überrascht getan? ({6}) Wenn wir dieses Problem nicht hätten, dann bräuchten wir die Debatte ja wirklich nicht zu führen. (Beifall bei der CDU/CSU - Freimut Duve [SPD]: Aber wir sind entsetzt darüber, wie der Innenminister mit dem Terrorismus umgeht! - Gegenruf von

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Absurd ist das! - Zuruf von der CDU/CSU: Duve Dummkopf! - Weitere Zurufe - Unruhe) - Herr Kollege Duve, viele in Ihren Reihen sind mit uns, den Mitgliedern der Fraktion der CDU/CSU, der Überzeugung, ({0}) daß wir diese Debatte gar nicht behutsam genug führen können. Aber die Art, in der Sie hier Zwischenrufe machen, zeigt, daß es bei Ihnen noch ein paar gibt, die das offenbar noch nicht wissen. ({1}) Es wird Ihnen nicht gelingen - ich sage es Ihnen gleich -, ({2}) uns davon abzubringen, diese Probleme mit aller Behutsamkeit und Sachlichkeit zu behandeln. ({3}) Die Art, in der Sie mich am Reden zu hindern versuchen, fällt nur auf Sie selbst zurück.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Duve, ich möchte Sie bitten, jetzt den Herrn Dr. Schäuble sprechen zu lassen. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es wird ihm auch nicht gelingen, mich daran zu hindern. Es schadet auch gar nichts, wenn man ein Stück weit sieht, wie Sie sich benehmen; denn das fällt ein Stück auf die Gemeinsamkeit zurück. ({0}) - Herr Duve, ich habe viel Zeit. Sie können noch ein Stück weiter hier vorführen, wie Ihre Art der Behandlung dieses Problems ist. Ich finde, es ist ganz gut, wenn das einmal gezeigt wird. ({1}) Die hohe und von Monat zu Monat steigende Zahl von Asylbewerbern muß von den Bundesländern untergebracht werden. Das kann entweder in Sammelunterkünften oder durch Verteilung auf alle Landkreise und Gemeinden geschehen, wobei natürlich auch Sammelunterkünfte immer zu irgendeiner Gemeinde gehören. Die Kommunen sehen sich dadurch zunehmend überfordert, und die Proteste der Verantwortungsträger für Städte, Gemeinden und Kreise, gleich welcher Partei sie angehören, gegen diese Entwicklung nehmen an Intensität und Schärfe zu. Auch die Widerstände in der Bevölkerung wachsen. Das hat überhaupt nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. ({2}) Wieso eigentlich wollen wir von unseren Mitbürgern verlangen, daß sie ertragen und verstehen sollen, daß Hunderttausende von Asylbewerbern mit erheblichen finanziellen Belastungen für die Steuerzahler für Jahre untergebracht und versorgt werden sollen, ({3}) obwohl von vornherein klar ist, daß die allermeisten nicht als politisch verfolgt anerkannt werden können ({4}) und daß sie nach jahrelangen Verfahren am Ende unser Land dennoch nicht verlassen? ({5}) Ich will die Mißstände, die sich im einzelnen in den Städten und Dörfern unseres Landes zutragen, hier gar nicht schildern, weil ich ja wirklich dafür bin, diese besonders schwierige Debatte behutsam zu führen. Aber niemand darf doch bestreiten, daß es diese Mißstände zuhauf gibt und daß sie natürlich eine wachsende Zahl unserer Mitbürger besorgen, ({6}) die zunehmend daran zweifeln, ({7}) ob die Verantwortlichen in Bund und Ländern überhaupt noch wissen, was sich in den Gemeinden abspielt, und die im übrigen in Gefahr geraten, zunehmend an der Handlungsfähigkeit unseres Staates bzw. derjenigen, die in Bund und Ländern Verantwortung tragen, zu zweifeln. ({8}) Ich kann doch nicht darüber hinwegsehen, daß der Vertreter des nordrhein-westfälischen Sozialministehums bei einer Anhörung, die ich im Innenministerium gemeinsam mit dem Vorsitzenden der Innenministerkonferenz der Länder, dem Kollegen Läpple, durchgeführt habe, erklärt hat, daß in den Gemeinden Nordrhein-Westfalens, in denen Asylbewerber unter4214 gebracht werden, zum Teil bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Das ist doch die Wahrheit. ({9}) Das ist Kern des Problems. Das hat - ich sage es noch einmal - nichts mit Ausländerfeindlichkeit unserer Bevölkerung zu tun. ({10}) Ganz im Gegenteil: ({11}) Ich habe seit Jahren davor gewarnt, daß nichts die freundlichen Beziehungen zwischen Deutschen und ausländischen Mitbürgern mehr belasten könne als diese Entwicklung der Asylbewerberproblematik. ({12}) Deswegen habe ich auch nie verstanden, warum sich etwa Ausländerbeauftragte, die für die Integration ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien in unserer Gesellschaft zuständig sind, immer gegen jede Lösung der Asylbewerberproblematik gewandt haben, obwohl sie hätten wissen müssen, daß genau daraus unabsehbare Gefahren und Belastungen für die Integrationsbemühungen der rechtmäßig und seit langem unter uns lebenden Ausländer entstehen. ({13}) Bei meinem Amtsantritt als Innenminister habe ich eine Vereinbarung der Innenminister von Bund und Ländern erreicht, zur Konzentration und Beschleunigung der Verfahren in allen Bundesländern zentrale Ausländerbehörden in einer räumlichen Verbindung mit Außenstellen des Bundesamtes einzurichten und in diesen Zentralstellen zumindest die offensichtlich unbegründeten Asylanträge schnell zu entscheiden. Wir haben zugleich durch eine Novellierung des Asylverfahrensgesetzes die Möglichkeit geschaffen, daß als offensichtlich unbegründet abgelehnte Asylbewerber vor einer Abschiebung lediglich den Rechtsbehelf des Antrags auf Herstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung haben. Damit ist insoweit der durch das Grundgesetz gegebene Spielraum für Verfahrensbeschleunigungen ausgeschöpft. Auch die intensiven Beratungen in den letzten Tagen und Wochen haben dazu nichts Neues erbracht. Wir haben ja eine einzigartige Verfassungslage. Keine andere Verfassung dieser Erde erkennt jedem Menschen auf die bloße Behauptung - und sei sie noch so unrealistisch - , politisch verfolgt zu sein, einen verfassungsrechtlich verbürgten Individualanspruch auf ein mit einer Rechtsweggarantie versehenes Prüfungsverfahren und ein mit Sozialhilfeansprüchen verbundenes vorläufiges Bleiberecht für die Dauer dieser Verfahren zu. Keine andere Verfassung dieser Erde! ({14}) Art. 16 unseres Grundgesetzes beruht auf den Erfahrungen der Nazibarbarei. ({15}) - Hören Sie doch einmal zu! Wir alle sind stolz darauf, daß sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet hat, Menschen Zuflucht zu gewähren, die Schutz vor individueller Verfolgung aus politischen, religiösen und rassischen Gründen suchen. ({16}) Dabei muß es bleiben. ({17}) Dafür darf es auch keine Quote geben, weshalb übrigens der Vorschlag von Herrn Engholm, Quoten einzuführen, allenfalls mißverständlich war, wenn er nicht die Zuflucht für politisch wirklich Verfolgte begrenzen wollte. Aber dann hätte er sagen müssen, daß eine Quote zu den jetzigen Zahlen hinzukommen solle. So hat er die Wirkung aber wohl nicht gemeint. Doch mit diesen Erfahrungen der Nazizeit haben unsere derzeitigen Probleme wenig zu tun. Unsere Probleme gründen sich vielmehr darauf, daß das Scheitern des Sozialismus in Osteuropa wirtschaftlich, sozial und ökologisch zu einem wachsenden Gefälle zwischen Ost und West in Europa geführt hat, das nach dem Wegfall des Eisernen Vorhanges die Gefahr von Massenwanderungen beinhaltet. Davon sind aktuell wir am meisten betroffen, während unsere europäischen Partner zum Teil stärker mit der Nord-SüdProblematik konfrontiert sind. In der Dritten Welt sind heute nach Schätzungen der Vereinten Nationen 15 Millionen Menschen vor Bürgerkriegen, Not, Elend und ökologischen Katastrophen auf der Flucht. Diese Zahlen können in den nächsten Jahren noch dramatisch steigen. Hierin definieren sich die großen Aufgaben, die sich uns Deutschen nach Erlangung von Einheit und Souveränität und die sich uns Europäern nach dem Ende des Ost-West-Konflikts stellen. Wir werden die Chance für ein Europa in Frieden und Stabilität verspielen, wenn es uns nicht durch große und gemeinsame Anstrengungen gelingt, Osteuropa rasch zu einem solchen Entwicklungsstand zu verhelfen, daß die Menschen nicht des bloßen Überlebens willen ihre Heimat verlassen müssen, wozu übrigens auch gehört, daß wir Kriege mitten in Europa nicht mehr ertragen wollen. ({18}) Wir werden auf dieser einen Erde, auf der nicht nur die Menschen immer enger zusammenrücken, sondern in der auch die Probleme immer mehr gemeinsame Probleme werden, für uns und unsere Kinder eine Zukunft nur dann sichern können, wenn wir das Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 5 wachsende Auseinanderbrechen zwischen Arm und Reich erfolgreicher bekämpfen als bisher. ({19}) Für die Lösung dieser Probleme, die unsere eigentlichen Aufgaben sind, ist das Asylrecht aber völlig ungeeignet. ({20}) Wir müssen die Ursachen dieser Wanderungsbewegungen bekämpfen. Das ist der Kern der Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung. ({21}) Zum Elend unserer Asylbewerberproblematik heute gehört ja auch, daß wir für ein paar Hunderttausend Asylbewerber, die im Zweifel nicht zu den Ärmsten in ihren Ländern gehören, unsere politische und finanzielle Kraft erschöpfen, ({22}) statt daß wir diese Mittel für Millionen Notleidender in Osteuropa und in der Dritten Welt zur Bekämpfung der Fluchtursachen einsetzen. ({23}) - Das ist doch nicht wahr. Herr Kollege Gansel, Sie wissen, daß auf meine Initiative hin die Bundesregierung im September des vergangenen Jahres diese Flüchtlingskonzeption beschlossen hat. ({24}) - Sie waren ja auch ein paar Jahre an der Regierung. Sie können ja nachschauen, was Sie da alles getan haben. ({25}) Ich jedenfalls werbe dafür, daß wir uns darüber klar sind: Je mehr wir das tun, und zwar möglichst gemeinsam mit unseren europäischen Partnern, um so besser sind die Erfolgschancen, daß wir die Probleme wirklich lösen. Aber dafür brauchen wir europäische Lösungen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Ich habe auch nach der Verabredung der Innenminister über die Verbindung zentraler Ausländerbehörden der Länder mit Außenstellen des Bundesamts und nach der Einführung der beschleunigten Verfahren im Asylrecht immer wieder dafür geworben, daß die Länder die Asylbewerber für die Dauer dieser beschleunigten Verfahren in Sammelunterkünften unterbringen sollten, weil nur so alle Beschleunigungsmöglichkeiten genutzt werden können. Darüber hat es viele politische Auseinandersetzungen gegeben, auf die ich jetzt nicht zurückkommen will. Nur so viel: Niemand hat sich intensiver darum bemüht, diese Beschleunigungsmöglichkeiten zu nutzen, als die Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern, ({26}) die mehr derartige Sammelunterkunftsplätze eingerichtet haben als alle sozialdemokratisch regierten Bundesländer zusammen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schulz?

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Ich möchte das jetzt bitte im Zusammenhang vortragen. Ich bin schon durch die vielen Zwischenrufe hinreichend gestört worden. ({0}) - Herr Kollege Duve, wie Sie sich hier aufgeführt haben, ist der Bedeutung des Themas wirklich nicht angemessen. Das muß ich Ihnen einmal sagen. ({1}) Sie schwingen sich gern die Toga der Moral um, aber das paßt ({2}) nicht dazu, wie Sie sich hier verhalten. ({3}) - Das ertrage ich wohl. Nur, Herr Kollege Hirsch, muß der Kollege Duve auch ertragen, daß ich zurückgebe, wie er sich hier aufführt. ({4}) Ich jedenfalls finde, daß man es ernst nehmen muß, wenn die Landesregierungen in München und in Stuttgart auf Grund ihrer Erfahrungen skeptisch bleiben, ob das, was jetzt auf einmal alle machen wollen, am Ende wirklich hilft. Aber wir haben uns aus gemeinsamer Verantwortung zu gemeinsamen Gesprächen zusammengefunden. Die Ergebnisse müssen jetzt umgesetzt werden. Wir wußten ja von vornherein, daß die Parteien und Fraktionen des Hauses in der Frage einer Grundgesetzänderung unterschiedlicher Meinung sind. Daran hat sich bis heute leider nichts geändert. ({5}) So haben wir uns darauf verständigt, alles aufzulisten, was ohne Grundgesetzänderung äußerstenfalls noch getan werden könnte, wobei die Frage, ob das reicht und ob das funktioniert, natürlich unterschiedlich beantwortet wird. Aber es geht beim besten Willen nicht, daß von uns, von CDU und CSU, quasi verlangt wird, wir müßten, um die Einigung über das, was ohne Grundgesetzänderung versucht werden soll, nicht zu gefährden, von unserer Meinung ablassen, daß letztlich nur mit einer Grundgesetzänderung das Problem einigermaßen zu handhaben sei. ({6}) So illiberal wollen wir wirklich nicht miteinander umgehen. Diese Zielvorstellungen sollen Asylbewerber in den offensichtlich unbegründeten Fällen möglichst innerhalb von sechs Wochen zum Verlassen unseres Landes bringen. Dazu sollen sie durch die Länder für die Dauer dieser Verfahren verbindlich in Sammelunterkünften untergebracht werden. Durch eine Änderung der einschlägigen verfahrens- und organisationsrechtlichen Bestimmungen sollen die Länder Zuständigkeiten in der Ausländerverwaltung auf den Bund insoweit übertragen, als das Bundesamt von der ersten Anhörung bis zur abschließenden Verwaltungsentscheidung, einschließlich der Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung, zuständig werden soll. Wegen der schon geschilderten Personalprobleme müssen die Länder dem Bundesamt 500 als Entscheider qualifizierte Mitarbeiter zur Verfügung stellen. Um die sechs Wochen zu erreichen, muß das Bundesamt innerhalb von zwei Wochen zu dieser abschließenden Entscheidung kommen. Danach bleiben eine Woche für die Einlegung eines Rechtsmittels, zwei Wochen für das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren und eine weitere Woche für den durch die Länder vorzunehmenden Vollzug der Ausweisungsverfügung. Ob das alles auch nur annähernd realistisch ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ich bin dennoch dafür, daß wir es alle miteinander versuchen. Deswegen habe ich bereits am Tag nach dem Gespräch der Partei- und Fraktionsführungen die Konferenzen der Innen- und der Justizminister gebeten, sich mit der Umsetzung dieser Zielvorstellungen zu befassen. Am Montag dieser Woche habe ich die Beschlüsse den Regierungschefs aller Bundesländer übermittelt und sie zugleich um kurzfristige Mitteilung gebeten, ob und inwieweit sie die auf ihr Land entfallenden Verpflichtungen übernehmen können. Das ist zwar aus der SPD-Fraktion als Ablenkung und Ultimatum kritisiert worden; aber ich hätte Sie sehen mögen, wenn ich mich nicht sofort an die Umsetzung der Zielvorstellungen gemacht hätte. Im übrigen kann es so schlimm nicht gewesen sein; denn die meisten Landesregierungen haben sich inzwischen freundlicherweise bereit erklärt, die auf sie zukommenden Verpflichtungen zu übernehmen. Die Konferenzen der Innen- und der Justizminister haben gestern Entsprechendes beschlossen. Die Bundesregierung ihrerseits hat zugesagt, den Ländern für die Einrichtung zusätzlicher Sammelunterkünfte mit der Zurverfügungstellung von Liegenschaften, insbesondere von freien oder frei werdenden Kasernen, soweit vorhanden, behilflich zu sein. Wir haben gestern verabredet, daß jetzt Land für Land die Sammelunterkünfte und die entsprechenden Verwaltungseinrichtungen des Bundesamts durchgesprochen und festgelegt werden. Noch einmal: Die Bundesregierung wird alles in ihren Möglichkeiten Stehende tun, damit die genannten Zielvorstellungen möglichst rasch umgesetzt werden können. Die Skepsis, ob das reichen und ob das funktionieren wird, bleibt. Sie bleibt aus Erfahrung um so mehr, als sich manche schon in der Vergangenheit um eine Lösung dieser Probleme bemüht haben. Deswegen bleibt es meine feste Überzeugung, daß wir um eine Änderung des Grundgesetzes nicht herumkommen werden. ({7}) Ich will diese Überzeugung begründen und meine Vorschläge erläutern. Nachdem wir uns über alles, was ohne Grundgesetzänderung äußerstenfalls machbar sein kann, verständigt haben, erwarte ich, daß mit derselben Intensität und Unvoreingenommenheit über unsere Vorstellungen, durch eine Grundgesetzänderung zu besseren Lösungen zu kommen, gesprochen wird. Deswegen habe ich am Tag nach dem Gespräch im Kanzleramt meine Vorstellungen den Partei- und Fraktionsvorsitzenden übermittelt, nachdem ich insbesondere Herrn Vogel dazu aufgefordert hatte, als Grundlage für ein Gespräch darüber Formulierungsvorschläge vorzulegen. Weil so viel von Gemeinsamkeit die Rede ist, möchte ich dafür werben, überprüfen zu lassen, wie ich mich in dieser Behutsamkeit erfordernden Debatte gegenüber anderen Vorstellungen geäußert habe und wie man umgekehrt über mich hergefallen ist. ({8}) Ich bin überhaupt nicht empfindlich, aber das allseitige Werben um Gemeinsamkeit könnte ja auch in der Art, wie man mit- und übereinander redet, seinen Niederschlag finden; es würde dadurch jedenfalls nicht unglaubwürdiger. ({9}) Ich habe immer gesagt, daß wir drei Punkte in der Sache ändern müssen, und dies wird wegen unserer einzigartigen Verfassungslage leider nicht ohne Grundgesetzänderung möglich sein. Zum einen möchte ich, daß Asylbewerber aus Ländern, in denen es offensichtlich keine politische Verfolgung gibt, nicht in ein mit einem vorläufigen Bleiberecht verbundenes Asylverfahren kommen. ({10}) Zum anderen möchte ich, daß wir uns wirklich mit vollen Rechten und Pflichten an den internationalen Vereinbarungen, dem Schengener Zusatzabkommen wie dem Dubliner Abkommen in der EG beteiligen können. Das heißt, daß Asylbewerber, die auf dem Weg zu uns schon in einem anderen Land Schutz vor Verfolgung gefunden haben, unmittelbar in dieses Land zurücküberstellt werden können. Zum dritten brauchen wir europäische Lösungen, was insbesondere heißt, daß die Entscheidung eines Mitgliedstaates der EG für oder gegen einen Asylbewerber mit Wirkung für alle Mitgliedstaaten verbindlich ist. Das berührt den Kern des Grundrechts auf Asyl für politisch Verfolgte überhaupt nicht. Bei jedem anderen Grundrecht wären solche Regelungen auch durch die allgemeinen Gesetzesvorbehalte, die wir im Grundgesetz bei anderen Grundrechten haben, ohne weiteres möglich. Im übrigen ist die Kritik an meinen Vorschlägen sehr widersprüchlich. Zum Teil wird gesagt, das Grundrecht werde ausgehöhlt; zum Teil wird gesagt, diese Vorschläge brächten nichts. Das eine oder das andere kann nur richtig sein - wenn überhaupt. ({11}) Auf die Frage, welches die Länder sind, in denen es keine politische Verfolgung gibt, kann man sich verschiedene Antworten denken; darüber kann man ja sprechen. Baden-Württemberg hat vorgeschlagen, diese Länder durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit des Bundesrates zu definieren. Ich werbe mehr dafür, diese Länder durch die EG unter Beteiligung des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen festlegen zu lassen, und begründe das folgendermaßen: Zum einen finde ich, daß wir bei der Frage, ob in einem anderen Land politische Verfolgung herrscht oder nicht, gut daran tun, wenn wir das nicht alleine für uns entscheiden. Aber vor allem eröffnet ein solcher Ansatz ganz neue operative Möglichkeiten. Es werden viele Länder ein Interesse daran haben, von der Europäischen Gemeinschaft und dem UNHCR als ein Nichtverfolgerstaat definiert zu werden. Damit erhält Europa, erhalten die Vereinten Nationen zusätzliche Möglichkeiten, auf diese Länder Druck in dem Sinne auszuüben, daß etwa noch bestehende Probleme, deretwegen eine politische Verfolgung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden könnte, abgestellt werden. ({12}) - Ja, genau. So machen wir Politik im Sinne der Bekämpfung von Fluchtursachen und verhalten uns nicht nur rein passiv. Vielmehr kommen wir so zu einer aktiven Politik, und das geht über europäische Lösungen sehr viel besser. Ich habe mit dem UNHCR wie mit der Kommission der EG gesprochen. Beide haben mir ihre grundsätzliche Bereitschaft zu einem solchen Verfahren ausdrücklich erklärt. ({13}) Die beiden anderen Vorschläge haben damit zu tun, daß wir andernfalls in Europa unweigerlich Gefahr laufen, zum Restasylland zu werden, wo doch heute schon mehr als die Hälfte aller Asylbewerber in Europa nach Deutschland kommen. Dänemark schickt jeden Asylbewerber, der über die Bundesrepublik Deutschland nach Dänemark einreist, postwendend zu uns zurück. Umgekehrt könnten wir das nicht, auch wenn Dänemark demnächst durch das Dubliner Abkommen genauso zur Rücknahme verpflichtet ist. Mit unseren Nachbarn, die nicht der EG angehören, haben wir bereits entsprechende bilaterale Rücknahmeverträge oder sind dabei, sie in kurzer Zeit abzuschließen. Mit der Genfer Flüchtlingskonvention hat das alles überhaupt nichts tun; denn alle diese Länder bieten genauso Schutz vor Verfolgung wie wir. Ich finde, zur Überheblichkeit, daß nur wir politisch Verfolgten zuverlässiges Asyl bieten könnten, haben wir wirklich keinen Anlaß. ({14}) Europäische Lösungen sind auch ganz unverzichtbar, wenn wir ab dem ersten Januar 1993 den einheitlichen Binnenmarkt vollenden wollen und wenn dann auch Personenkontrollen an den Binnengrenzen völlig beseitigt werden müssen. Europäische Lösungen sind auch ganz unverzichtbar, weil keiner der europäischen Staaten angesichts der Dimension der Probleme mit diesen allein fertig wird und weil wir auch zur Bekämpfung der Ursachen der Wanderungsbewegung unsere Kräfte in Europa stärker bündeln müssen. Nun wird gesagt: Europäische Lösungen dauern noch lange, und so lange brauchen wir unser Grundgesetz noch nicht zu ändern, selbst wenn wir wissen, daß wir es am Ende doch ändern müssen. Ich weiß nicht, wie lange wir brauchen, bis wir europäische Lösungen tatsächlich haben. Aber solange wir unser Grundgesetz nicht ändern, werden wir überhaupt keine europäischen Lösungen zustande bringen. Denn niemand in Europa denkt daran, ein europäisches Asylrecht auf der Basis unseres Grundgesetzes zu harmonisieren. ({15}) Die Kommission der Gemeinschaft hat in den vergangenen Wochen ihren Vorschlag für eine europäische Asylpolitik an den Rat und das Europäische Parlament beschlossen. Dieser Vorschlag ist in den drei von mir genannten Punkten in der Zielsetzung völlig deckungsgleich mit meinen Vorschlägen. Also, ganz so fürchterlich kann ja dann der Anschlag auf das Recht auf Asyl in meinen Vorschlägen nicht sein, zumal mir auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen ausdrücklich erklärt hat, daß diese Vorschläge aus der Sicht der Genfer Konvention überhaupt keinen Einwendungen begegnen. Schließlich bitte ich auch zu bedenken: Jeder, der sich mit den Problemen auch nur ein wenig befaßt, weiß, daß eine europäische Lösung ohne die Änderung des Grundgesetzes in dem von mir vorschlagenen Rahmen nicht möglich sein wird. ({16}) Wenn das so ist, sollte man sich erstens in der Kritik an meinen Vorschlägen etwas mäßigen. ({17}) Zweitens sollte man noch einmal in aller Ruhe darüber nachdenken, ({18}) ob wir nicht heute schon unser Grundgesetz ändern sollten, wenn wir das morgen im Zuge der europäischen Entwicklung ohnedies tun müssen. ({19}) Wer die Debatte über die Grundgesetzproblematik für nicht hilfreich erklärt und weiß, daß es morgen durch Europa zur Grundgesetzänderung kommt, der könnte die Debatte abkürzen, indem er heute mit uns das tut, was für eine europäische Lösung ganz unvermeidbar notwendig werden wird. ({20}) Wir werden mit einer Grundgesetzänderung die europäische Lösung schneller erreichen. Wir erhalten zusätzliche Instrumente, um mit dem Asylbewerberproblem besser fertigzuwerden. Wieviel das im einzelnen bringen wird und wie man das im einzelnen formulieren soll, darüber kann, darüber muß man reden. Ich gehe davon aus, daß ich mit der Vorlage meiner Vorschläge diese Gesprächsrunde eröffnet habe, und ich erwarte, daß man nicht ablehnt, bevor man vernünftig geprüft und miteinander geredet hat. Ich fordere diese Gesprächsbereitschaft, weil wir uns genauso gesprächs- und verhandlungsbereit gezeigt haben. ({21}) Je schneller wir zu gemeinsamen Entscheidungen kommen, je besser wir das Problem lösen, um so mehr dienen wir dem inneren Frieden, um so mehr stärken wir das Vertrauen unserer Mitbürger in die Handlungsfähigkeit der politisch Verantwortlichen, um so mehr tragen wir dazu bei, daß die Bundesrepublik Deutschland bleibt, was sie war und was sie auch in Zukunft sein soll: ein ausländerfreundliches Land. ({22}) Unsere Verantwortung ist groß. Wir brauchen Behutsamkeit im Reden, aber auch Entschiedenheit im Handeln. ({23})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich erteile jetzt der Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist gut, daß sich der Deutsche Bundestag heute endlich mit den Überfällen, mit dieser Welle aus Haß und Ausländerfeindlichkeit befaßt, die Menschen anderer Rassen und anderer Staatsangehörigkeiten bei uns zur Zeit in Angst und Schrecken versetzt. Wir sollten feststellen, was an sich eine Selbstverständlichkeit ist: Wir dulden diesen Terror nicht und ziehen mit aller Härte des Gesetzes, die unser Rechtsstaat kennt, die Täter zur Verantwortung. Es wäre gut gewesen, der Rechtsstaat wäre damals in Hoyerswerda nicht vor dieser ausländerfeindlichen Gewalt zurückgewichen. Es wäre auch gut gewesen, Herr Bundesinnenminister, wir hätten solche Worte wie die von heute morgen von Ihnen schon früher gehört. ({0}) Meine Damen und Herren, es wäre auch gut gewesen, dieses Haus hätte eine gemeinsame Erklärung, Ausländerfeindlichkeit zu stoppen, schon sehr viel früher abgegeben. ({1}) Niemand von uns wird die Bilder dieser Jugendlichen vergessen können, die mit Haß in den Augen und Brandflaschen in den Händen gegen hilflose Menschen vorgehen, die Bilder von den hilflosen Asylbewerbern, hinter zerbrochenen Fensterscheiben ängstlich hervorblickend, die Bilder von verbrannten Kindern, die Bilder von den Toten, die es gegeben hat, und vor allen Dingen, meine Damen und Herren, auch die Bilder - und das hat vielen einen unglaublichen Schrecken eingeflößt - mit diesen vielen vermeintlich anständigen Bürgern, die zugeschaut haben, die diese Überfälle nicht verhindert haben und in deren Gesichtern Verständnis, klammheimliche Freude, ja, offene Zustimmung zu lesen waren. Ich glaube, wir - auch Sie, meine Damen und Herren - sollten es sehr ernst damit meinen, daß es in unserem Lande so etwas nie mehr geben darf. Fremde müssen bei uns so sicher leben können, wir wir das in ihrem Land auch wollen. Im Augenblick können sie das nicht. ({2}) Meine Damen und Herren, diese heutige - hoffentlich gemeinsame - Feststellung des Deutschen Bundestages gegen Ausländerfeindlichkeit reicht nicht aus. Es reicht auch nicht aus, daß wir den Ursachen des Hasses und der Gewalt nachgehen. Es reicht auch nicht aus, daß wir die vielen Appelle unterstützen, die von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern, von Kirchen, von Künstlern, von Vereinigungen und von Demonstrationen jetzt Gott sei Dank stärker an die Öffentlichkeit getragen werden. Nein, wir müssen selber unseren Beitrag gegen Ausländerfeindlichkeit und für den inneren Frieden in diesem Land leisten. ({3}) Dabei kommt es entscheidend darauf an, Herr Kollege, wie wir mit den Fragen der Zuwanderung, der Flüchtlinge und der Asylbewerber umgehen, mit Fragen, die viele Leute bei uns bedrängen. Es kommt darauf an, wie wir die Probleme anpacken, die gelöst werden müssen. Die Auseinandersetzungen der vergangenen Woche waren wahrlich kein Ruhmesblatt für die Politik. Sie waren vor allen Dingen eines nicht: ein Signal gegen Ausländerfeindlichkeit und ein Signal für den inneren Frieden in unserem Lande. Wir haben unsere Vorschläge, was zu tun ist, um Probleme, die angepackt werden müssen, leichter bewältigen zu können, schon seit einigen Wochen immer wieder vorgetragen; ({4}) im Bereich der Aussiedler, die Sie heute nicht erwähnt haben, Herr Bundesinnenminister, ({5}) - ich weiß, daß Sie das gar nicht gern hören -, wie auch im Bereich der Asylverfahren und bezüglich unseres wichtigsten Problems, nämlich der Frage, wie wir den Gemeinden schnell helfen können. ({6}) Diese Vorschläge der Sozialdemokraten - übrigens, das betone ich, ohne eine Veränderung des Grundrechts auf Schutz bei politischer Verfolgung - waren die Grundlage für die Vereinbarung im Bundeskanzleramt am Donnerstag der vergangenen Woche. Ich stelle hier fest: Diese Vereinbarung muß jetzt schnell umgesetzt werden. Wir sind dazu bereit, hier im Bundestag ebenso wie in den Ländern. Das haben die Stellungnahmen und vor allen Dingen auch die Erklärungen der Konferenz der Innen-, Justiz- und Sozialminister von gestern gezeigt. Wir appellieren an Sie, daß Sie diese Vereinbarung ohne Wenn und Aber mit uns umsetzen. ({7}) Vor allen Dingen appellieren wir an Sie: Beenden Sie diesen schrecklichen Streit, die Auseinandersetzung um Art. 16 unseres Grundgesetzes. Die Abschaffung des Grundrechts auf Schutz für politisch Verfolgte ist mit uns nicht zu machen. ({8}) Sie ist auch mit der FDP nicht zu machen. ({9}) - Frau Präsidentin, ich glaube, Sie sollten eingreifen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich glaube, in dieser Art können wir die Debatte hier nicht führen; sonst steht morgen mehr über den Debattenstil als über den Inhalt selbst in den Zeitungen. ({0})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, wenn Sie an dieser Stelle so unruhig werden, dann sagt das sehr viel mehr aus als jede Beteuerung der Kooperation. ({0}) Ich darf wiederholen: Mit uns ist die Abschaffung des Schutzes für politisch Verfolgte nicht zu machen, ({1}) mit der FDP auch nicht. Wer diesen Streit um Art. 16 des Grundgesetzes weiterführt, der löst Probleme nicht, der gibt den Gemeinden Steine statt Brot und fördert die Ausländerfeindlichkeit. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Dr. DäublerGmelin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schwarz?

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gestatte Zwischenfragen dann sehr gerne, wenn die Herren Kollegen sich zunächst das anhören, was wir zu sagen haben. Sonst wird von dieser Debatte niemals ein Signal für den inneren Frieden ausgehen! Im Augenblick also nicht! ({0}) Meine Damen und Herren, in den letzten Tagen hat sich der Eindruck aufgedrängt, daß unionsregierte Länder und offensichtlich auch viele aus Ihren Reihen die getroffene Vereinbarung in Wirklichkeit nicht wollen. Wir sagen Ihnen: Wir müssen weiterkommen, und wir wollen weiterkommen. ({1}) Wenn der Streit um Art. 16 des Grundgesetzes nicht aufhört, wenn der Streit um das Grundgesetz nicht aufhört, dann sind alle Appelle dieses Hauses, dann sind auch alle Appelle gegen Ausländerfeindlichkeit umsonst. ({2}) Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Damit diese Debatte zum inneren Frieden in unserem Land beitragen kann - übrigens auch zum inneren Frieden in diesem Hause; ({3}) das wäre ja nicht schlecht, wenn man Sie so ansieht, meine Damen und Herren von der Union - , sollten wir uns auf die fünf Punkte einigen. ({4}) Nicht nur hier, sondern - dabei spreche ich besonders auch den Kollegen Rühe an, der die Doppelstrategie der CDU im Asylrecht perfektioniert - wir sollten diese fünf Punkte auch gemeinsam nach außen vertreten. Der erste Punkt wird bei Ihnen - das entnehme ich Ihrer Reaktion - hoffentlich, jedenfalls was seine Überschrift angeht, nicht auf Widerspruch stoßen. Ich meine die Tatsache, daß politisch Verfolgte bei uns weiterhin Schutz und Asyl genießen sollen. ({5}) Das muß die Schlußfolgerung aus unserer Vergangenheit sein, das ergibt sich aus unserer Verfassung; diese Garantie ist notwendig, weil es auch heute Verfolgung auf der Welt gibt. Wir halten also am Art. 16 des Grundgesetzes fest, und Sie tun jetzt so, als sei das alles bei Ihnen unbestritten. Kennen Sie denn die Stimmen aus der CSU nicht - und zwar nicht nur von irgendwem, sondern von führenden Politikern - , die sich sehr wohl dafür einsetzen, Art. 16 des Grundgesetzes insgesamt in ein Gnadenrecht umzuwandeln. ({6}) Meinen Sie in der Tat, daß die Öffentlichkeit das nicht zur Kenntnis nimmt? Oder glauben Sie ernsthaft, wir seien bereit, wenn es um eine Flüchtlingskonzeption geht, darüber hier in diesem Hause zu schweigen? ({7}) - Herr Hornung, ich habe den Eindruck, Sie sollten sich erst einmal mit Ihren eigenen Kolleginnen und Kollegen, die diese Auffassungen vertreten, unterhalten, statt hier so laut zu werden. ({8}) - Wer das Grundrecht für politisch Verfolgte tatsächlich will - Herr Geißler, Sie wissen das ganz genau; Sie weisen auch ständig darauf hin, und Sie sollten es deswegen auch hier tun - , der muß ebenfalls die Einzelfallprüfung wollen. Das steht übrigens auch in unserer Verfassung, aber nicht nur dort: Es steht auch in der Genfer Flüchtlingskonvention. Ich möchte gern als Konsens dieses Hauses festhalten, daß wir uns alle für den Schutz von Verfolgten einsetzen und daß wir die Einzelfallprüfung ebenfalls beibehalten wollen. ({9}) - Ja, gut, wenn wir uns darin einig sind, dann ist das ja fein. Die Auseinandersetzung der letzten Tage hat etwas anderes gezeigt. Wenn wir uns darin einig sind, kommen wir auch leicht weiter, denn das Asylverfahren können wir ändern, und wir müssen das Verfahren auch ändern. Ich meine das Verfahren, in dem über das Bleiberecht, über die Anerkennung oder die Ablehnung als Flüchtling entschieden wird. Es ist ganz ohne Zweifel viel zu lang, gerade auch für die Betroffenen. Es ist auch viel zu bürokratisch und mit unglaublich viel Doppelarbeit von Bund und Ländern belastet. Herr Schäuble, Sie haben sich vorhin gewundert, warum die Kolleginnen und Kollegen bei uns unruhig wurden, als Sie so lange über die Schwierigkeiten sprachen, die dieses Verfahren heute mit sich bringt. Ich will Ihnen das erklären, weil ich hoffe, daß wir dann ebenfalls gemeinsam einen Schritt weiterkommen. Wir wurden unruhig, weil wir es für unglaublich und unzulässig halten, diese Schwierigkeiten der Gemeinden den Menschen aufzulasten, die bei uns um Schutz und Asyl bitten. ({10}) Die Schuld an den Schwierigkeiten mit dem Verfahren gehört denen, die die Verfahren nicht früher geändert haben. Sie gehört denen, die die vorhandenen Hilfsmöglichkeiten nicht einsetzen. Aber wer - anstatt zu helfen - die Schwierigkeiten in den Gemeinden den Asylbewerbern anrechnet, der trägt ebenfalls zur Ausländerfeindlichkeit bei. Und das lassen wir nicht zu, auch bei Ihnen nicht. ({11}) Meine Damen und Herren, in Europa sind die Deutschen mit ihren langen bürokratischen Verfahren, mit ihrer Zuständigkeitszersplitterung zwischen Bund und Ländern wirklich einsame Spitze. ({12}) - Lieber Herr Gallus, was die sagen, das wissen Sie ganz genau. Das gleiche wie ich! - Sie wissen, ich schätze Sie sehr. Solche Zwischenrufe sind Ihrer wirklich unwürdig. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Däubler-Gmelin, Herr Gallus möchte Sie ganz ordnungsgemäß fragen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Präsidentin, ich habe mich mit Herrn Gallus schon auseinandergesetzt. Er stellt sowieso keine Zwischenfrage, die sich auf den Sachverhalt bezieht. Das weiß ich. ({0}) - Doch, bei Ihnen schon. Setzen Sie sich lieber hin, lieber Kollege Gallus, und hören Sie zu. ({1}) Ich komme zum Verfahren zurück. Auch wenn Sie hier noch so laut schreien: ({2}) Sie werden sich mit konstruktiven Lösungen im Asylverfahren auseinandersetzen müssen. ({3}) - Herr Rühe, ich darf es noch einmal sagen: Auch Sie werden sich auf Dauer mit Geschrei nicht mehr behelfen können. ({4}) Auch Sie werden sich mit konkreten Schritten auseinandersetzen müssen. Diese konkreten Schritte stehen in den Zielvorstellungen, die wir beim Kanzler zur Vereinbarungsgrundlage gemacht haben. Die müssen wir umsetzen! Sie sollten diese Fragen nicht ganz so leicht nehmen. Sie sollten Ihre Widerstände überwinden und gemeinsam mit uns diese Vorstellungen durchsetzen. ({5}) - Nein, die Frau Präsidentin weiß, daß sich die Kollegen von ihr wahrscheinlich nicht beeindrucken lassen. Ich nehme an, sie sagt deshalb nichts. ({6}) Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich glaube nicht, daß es uns weiterhilft, wenn wir ständig ermahnen. Wir entscheiden selbst darüber, wie die Debatte außen wahrgenommen wird. ({0})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So ist es. - Frau Präsidentin, ich habe nur die Bitte, daß Sie die Störungen nicht auf meine Redezeit anrechnen. Das wäre mir lieb. Der zweite Punkt, den wir gemeinsam festhalten und vor allem gemeinsam nach außen vertreten sollten, betrifft die Menschen, die zu uns kommen. Die allermeisten, die als Zuwanderer zu uns kommen, haben ganz gewichtige Gründe, ihre Heimat zu verlassen. Das gilt für die Aussiedler ebenso wie für die Asylbewerber. ({0}) Ich finde es unglaublich, wenn von „Asylmißbrauch" und „Sozialschmarotzern" geredet wird. Wer so redet, der redet nicht nur Unsinn, sondern hat auch keine Ahnung, worum es diesen Menschen geht. Er trägt auch zur Ausländerfeindlichkeit bei. ({1}) Unser Problem, meine Damen und Herren, ist die große Zahl derer, die kommen. Wer sie senken will, der kann das nicht über das Ayslrecht tun, übrigens auch nicht mit einer Grundgesetzänderung. Die Zahl der Zuwanderer läßt sich nur senken, wenn es gelingt, die Ausreisegründe und die Fluchtgründe wirksam zu bekämpfen. ({2}) - Sie sagen, da seien wir einer Meinung. Gut! Aber warum versuchen Sie dann ständig, in Ihren Äußerungen vor Ort die Illusion zu nähren, man käme gerade bei diesem Problem mit einer Grundgesetzänderung weiter? Das geht doch nicht! Warum kommen so viele Aussiedler hierher? Das liegt doch nicht nur daran, daß Polen oder die Sowjetunion, daß all die kommunistischen Staaten, die ihre Menschen früher eingesperrt haben, zusammengebrochen sind und daß die Lebensbedingungen dort so unglaublich viel schlechter sind als bei uns. Nein, die 1,6 Millionen Menschen, die wir seit 1986 aufgenommen haben - 400 000 im letzten Jahr, 250 000 in diesem Jahr - , kommen, weil sie sich heute in ihrer angestammten Heimat in der Sowjetunion oder in Polen nicht heimisch, sondern fremd fühlen. Da gibt es schreckliche Schicksale. Gerlinde Hämmerle, die gerade mit den Deutschstämmigen viel Kontakt hat, wird nachher darauf eingehen. Wir sollten die Motive der Menschen kennen und anerkennen, auch wenn wir die Größenordnung der Zuwanderung nicht auf Dauer akzeptieren können. ({3}) Wir haben nicht genügend Wohnungen. Viele Konflikte, die wir heute erleben, haben hier ihren Grund. Der Wohnungsmarkt ist leergefegt, unter anderem auch deshalb, weil Sie zwischen 1982 und 1990 eine unsoziale Wohnungsbaupolitik betrieben haben. ({4}) Aber das ist auch eine Folge dieser Zuwanderungspolitik. Meine Damen und Herren, was sagen Sie denn einem Bürgermeister, meinetwegen auch aus Göppingen, der Ihnen sagt: Ich finde heute für Sozialhilfeempfänger, für Leute, die ich unterbringen muß, keine Wohnung mehr? Den können Sie doch nicht auf das Grundgesetz verweisen, dem gäben Sie damit doch Steine statt Brot - und den jungen Leuten auch, die heute für eine Drei-Zimmer-Wohnung im Großraum Stuttgart 1 300 DM bezahlen müssen. Ich sage - und das ist eine Aufforderung an Sie, übrigens auch eine Vereinbarung für weitere Gespräche - , es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, daß wir sagen: 350 000 Aussiedler im nächsten Jahr zusätzlich, das verkraften wir nicht. 350 000 haben Sie bisher im Bundeshaushalt 1992 vorgesehen. Es wäre eine gute Sache, wenn wir heute wenigstens Übereinstimmung darüber erzielten, daß wir uns auf eine erheblich kleinere Größenordnung einigen müssen. Wir sollten im übrigen finanzielle Hilfe darauf verwenden, den Menschen, die in der Sowjetunion bleiben, das Bleiben, das Wieder-Heimischwerden zu erleichtern, soweit wir das können. ({5}) Zu den Asylbewerbern: Da reden Sie immer so viel von Zahlen. Wer von Ihnen sagt denn auch mal in Diskussionen vor Ort, daß die drei größten Gruppen der Flüchtlinge derzeit Monat für Monat aus Jugoslawien, Rumänien und der Türkei kommen? Menschen fliehen aus Jugoslawien, weil dort Bürgerkrieg ist. Sie werden weiter fliehen, solange dort Bürgerkrieg ist, egal, welche Asylverfahren wir hier einführen, und ganz egal, ob Sie weiter auf einer Grundgesetzänderung bestehen. ({6}) Wollen Sie diese Leute wirklich abweisen? Das wäre doch mehr als zynisch. Wollen Sie die „Mütter gegen den Krieg" in Serbien und Kroatien unterstützen, weil die sich für ein Schweigen der Waffen einsetzen, und gleichzeitig die Söhne zurückschicken, damit sie dort weiterkämpfen sollen, gleichzeitig die Opfer zurückschicken, die vor diesen Bürgerkriegsfolgen davonlaufen? ({7}) Wenn Sie das nicht tun wollen, ({8}) dann sagen Sie doch einmal deutlich, daß etwa die Hälfte der Asylbewerber aus solchen Gründen bei uns ein Bleiberecht hat, und reden Sie in diesem Zusammenhang nicht von „Asylmißbrauch" oder von „Asylschmarotzern" ! ({9}) Wenn Sie rumänische und türkische Flüchtlinge in großer Zahl nicht mehr wollen - die Zahl wird wirklich beängstigend groß - , dann gibt es doch nur ein einziges Mittel: Dann muß die Bundesregierung mit der Regierung in Bukarest reden, dann muß die Regierung mit der türkischen Regierung, Herr Bundesinnenminister, Tacheles reden, damit die mit ihren Minderheiten in Rumänien wie in der Türkei anständiger umgehen, ({10}) sie nicht diskriminieren und endlich die Menschenrechtsverletzungen einstellen. ({11}) Solange Sie den Menschen einreden, das bräuchten Sie nicht zu tun oder das bekämen Sie nicht hin, solange Sie den Menschen einreden, hierzu bräuchten Sie eine Grundgesetzänderung, werden Sie gefährliche Illusionen nähren, und Sie werden nichts gegen, aber viel für Ausländerfeindlichkeit in unserem Lande tun. Jetzt komme ich zu dem dritten Punkt, über den Einigkeit erzielt werden muß. In der Debatte der vergangenen Tage hat die Union immer wieder den Eindruck erweckt, Deutschland könne ein Land mit geschlossenen, mit hermetisch abgrenzbaren Grenzen sein, in dem eine Grenzabweisung großen Stils möglich sei. Die alte Bundesrepublik war das nie, und es wäre auch absurd, das für das geeinte Deutschland anzustreben. ({12}) Die DDR war ein solches abgeschlossenes Land. Jetzt sind Mauer und Stacheldraht weg, und darüber sind alle froh. Wenn das von Ihnen anerkannt wird, Herr Rühe - ich habe mit Freude gehört, daß ausgerechnet Sie jetzt sagen, Grenzabweisung großen Stils sei nicht möglich - , warum schreiben Sie dann an alle Untergliederungen der CDU/CSU, warum schreiben Sie an alle Gemeinderäte, an alle Bürgermeister, die Ihrer Partei angehören, immer wieder, daß eine Grundgesetzänderung genau dies bewirken könne? ({13}) Das ist falsch! Dies fördert gefährliche Illusionen. Grenzabweisungen sind nicht möglich. Das sehen wir auch heute. Wenn Sie jetzt zugeben, das sei nicht möglich, dann dürfen Sie draußen nicht dieses gefährliche Doppelspiel betreiben. ({14}) Wer das tut, der feuert Ausländerfeindlichkeit eher an, Herr Rühe, das sollten Sie sich merken! Ich komme jetzt zum vierten Punkt. ({15}) - Nein. ({16}) Meine Damen und Herren, Sie sollten endlich anerkennen, daß unsere Gemeinden Hilfe brauchen. ({17}) Damit komme ich zu dem, was Herr Gallus eingeworfen hat.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Der Herr Abgeordnete Rühe möchte wissen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe das schon beantwortet: bei ihm nicht. ({0}) - Wir können uns ja auf folgendes einigen: Wenn Herr Rühe mit seiner üblen Doppelstrategie aufhört, dann lasse ich seine Zwischenfragen zu; gar keine Frage. ({1}) Meine Damen und Herren, ich komme zu meinem vierten Punkt, und zwar zu den Gemeinden: Die Gemeinden spüren die Probleme ganz ohne Zweifel am meisten. Das anerkennen wir. Übrigens, Herr Bundesinnenminister: Was mir an Ihrer Rede auch nicht gefallen hat, war die Tatsache, daß Sie nur die Klagen der Gemeinden erwähnt haben. Ich jedenfalls kenne keinesfalls nur Bürgermeister, die unter der Last der Probleme zusammenbrechen. Ich sehe dort auch Initiativen, Aktivitäten, hilfreiche und hilfsfähige BürDr. Herta Däubler-Gmelin ger, die sich um Ausländer und Asylbewerber in einem Ausmaß kümmern, das wir hier mit Freude hervorheben sollten. ({2}) Wir sollten uns bei diesen Bürgern bedanken, meine Damen und Herren, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen der Union das im Augenblick offensichtlich gar nicht für nötig halten. ({3}) - Vielen Dank! Ich stelle fest, Sie unterstützen das genauso. Ich glaube, es ist es auch wert, daß wir das gemeinsam unterstützen. ({4}) Aber, meine Damen und Herren, wenn wir den Gemeinden helfen wollen - das geht nur gemeinsam -, dann ergeben sich daraus natürlich einige Folgerungen. Da geht es dann nicht um Grundgesetzänderungen, und deshalb sollten Sie, Herr Schäuble, die Gemeinden jetzt auch nicht auf eine Grundgesetzänderung aus mit vermeintlich Europa zusammenhängenden Gründen vertrösten. Vielmehr geht es da um Wohnungen, um Geld. Da könnte man ganz konkret und pragmatisch helfen, z. B. indem man Flüchtlinge, die zwar nach Art. 16 nicht bleibeberechtigt sind, die aber nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht abgeschoben werden dürfen, auf die Aufnahmequote der jeweiligen Gemeinde anrechnen würde. Man könnte ganz konkret helfen, wenn man z. B. leerstehende Bettenplätze, Liegenschaften des Bundes zur Verfügung stellte. Das, was mich in diesem Sommer am meisten geärgert hat, war das sture, starre bürokratische Festhalten an Zuständigkeiten, das wir auch im Bereich des Bundesministeriums des Innern gesehen haben, Herr Bundesinnenminister. Was glauben Sie wohl, wie sich der Bürgermeister einer Gemeinde fühlt, der Asylbewerber zugewiesen bekommt, der daraufhin Turnhallen belegen muß und der dann erfährt, daß im Bereich des Bundesministeriums des Innern den ganzen Sommer über mehr als 6 000 leere Aussiedlerbetten zur Verfügung gestanden hätten? ({5}) Der muß sich doch verhöhnt fühlen! Denn er muß den gesamten Ärger mit den Vereinen, die Schwierigkeiten mit den Schulen, den Ärger mit der Bevölkerung durchstehen, und zwar nur deshalb, weil Ihre Bürokraten nicht in der Lage sind, hier flexibler zu entscheiden. ({6}) Das geht nicht! Das hat nichts mit Grundgesetzänderung zu tun, ebensowenig übrigens wie die Besetzung von leeren Stellen beim Bundesamt in Zirndorf. Vielmehr geht es hier um mehr Flexibilität, die ist gefragt. Ein weiteres Beispiel: Die Stadt Hannover, die eine Kaserne des Bundesgrenzschutzes für Aussiedler zur Verfügung gestellt bekommen hatte - vertraglich, dafür zahlt sie natürlich auch -, hat sich selbst zu helfen versucht. Es waren Betten frei, die gerade nicht benötigt wurden. Was hat die Stadt getan? - Statt Turnhallen zu belegen, hat sie Asylbewerber in diese Liegenschaft eingewiesen. Und was macht Ihr Grenzschutzkommando, Herr Bundesinnenminister? Es sagt: Wir kündigen den Vertrag, wenn ihr die Asylbewerber nicht sofort aus diesem Aussiedlerübergangswohnheim herausnehmt. ({7}) Wo sollen die Bürgermeister sie denn unterbringen, was wollen Sie ihnen sagen? Wollen Sie ihnen wieder sagen: Wir ändern das Grundgesetz, damit eure Probleme verschwinden? Dann geben Sie ihnen doch - ich darf das wiederholen - Steine statt Brot. Hier ist Flexibilität gefragt. Diese Flexibilität brauchen wir ({8}) neben der Verkürzung der Verfahren, neben der Vereinfachung der Verfahren, neben der Tatsache, daß auch das Bundesamt in Zirndorf endlich das tun muß, was es gesetzlich schon längst hätte tun müssen, neben der Notwendigkeit, daß der Innenminister - wenn er es denn bisher nicht konnte - die 120 freien Stellen für Entscheider jetzt schnell besetzt, damit der Rückstau bei den Anträgen nicht größer wird, damit sich die ohnehin schon langen Verfahren nicht weiter in die Länge ziehen. Meine Damen und Herren, jetzt komme ich zu dem fünften Punkt, nämlich zu der europäischen Konzeption. Das ist ein Punkt, in dem ich mit Ihnen, Herr Bundesinnenminister, übereinstimme. Wir brauchen die europäische Politik, nicht nur für Asylbewerber, sondern auch für Flüchtlings- und Zuwanderungsfragen. All das wird in den kommenden Jahren immer wichtiger werden. Ich stimme mit Ihnen nicht überein, Herr Schäuble, wenn Sie jetzt sagen: Wir fangen in Europa erst an, nachdem wir das Grundgesetz geändert haben. ({9}) Ich halte das für falsch. Ich halte das auch für einen Vorwand, weil wir ganz genau wissen, es geht um praktische Fragen. Es gibt genügend Dokumente in der EG, es gibt genügend Verhandlungen, in denen das erwähnt wird. Das wissen Sie ganz genau. Wir wissen genau, daß sich die EG zur Zeit bemüht, Grundlagen für eine gemeinsame Zuwanderungs- und auch für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik zu schaffen. Bei Schengen und bei Dublin - das wissen Sie ganz genau, Herr Bundesinnenminister - hat der nationale Vorbehalt, den die Bundesrepublik eingebracht hat, die europäische Harmonisierung in keiner Weise gestört. ({10}) Von wegen! Wir ermutigen Sie ausdrücklich, bei dieser europäischen Harmonisierung mitzumachen. Wir ermutigen Sie nicht nur, was den Raum der Euro4224 päischen Gemeinschaft anbelangt, nein, auch was unsere östlichen Nachbarn anbelangt. ({11}) Wir hielten es für sehr gut, wenn Schengen und Dublin - mit den nationalen Vorbehalten - auch auf die übrigen Staaten um uns herum, also auf die Schweiz, Österreich, auf die CSFR und auf Polen, ausgedehnt werden könnten. Wir ermutigen auch alle, die in der Vorbereitung von Maastricht Gemeinsamkeiten für die einheitliche Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention entwickeln, die ja überall gilt. Vor allen Dingen - das sage ich jetzt den Kolleginnen und Kollegen von der Union in ganz besonders nachdrücklicher Weise - : In allen Dokumenten der Europäischen Gemeinschaft, auch in den neuesten, steht, daß Flüchtlinge keinesfalls nur aus unserem nationalen Recht heraus, sondern auf der Basis völkerrechtlicher Vereinbarungen und der Genfer Konvention Rechte haben, ({12}) Rechte nicht nur auf eine Einzelfallprüfung, die gleich dem ist, was wir jetzt haben, wenn die Menschen hier sind, sondern eben auch Rechte auf Nachprüfung, wenn ihr Bescheid abgelehnt wurde. Wenn Sie das nicht bestreiten, dann sollten Sie mit uns auch die Konsequenz ziehen, lieber Herr Kollege, zu sagen: Dann relativiert sich der Unterschied zwischen dem, was Art. 16 heute gibt, und dem, was die Genfer Flüchtlingskonvention dann in Europa einheitlich gewährt, in so umfassender Weise, daß ich glaube, Herr Bundesinnenminister, wir können ohne eine Änderung unserer Verfassung auskommen. ({13}) Lassen Sie mich wiederholen: Diese fünf Punkte unserer Vorschläge halten wir für besonders wichtig: Schutz für politisch Verfolgte, Einzelfallprüfung ja, Verfahrensänderungen und -verkürzungen ja - diese auf jeden Fall schnell -; Bekämpfung von Fluchtursachen - das ist wichtig -; Anerkennung, daß Deutschland kein Land sein kann, in dem Grenzabweisungen im großen Stil möglich sind, auch nicht nach einer Grundgesetzänderung, über die im übrigen ja schon länger geredet wurde; Hilfe für die Gemeinden und ein gemeinsames europäisches Konzept für Flüchtlinge und Zuwanderung. Das, meine Damen und Herren, sind die Vorschläge, um die wir werben. Und wir betonen, daß die Zielvorstellungen schnell umgesetzt werden müssen. Am letzten Donnerstag sah es so aus, als seien wir wirklich einen Schritt weitergekommen. Das hat dann genau bis Freitag gehalten. Ich glaube, Herr Bundesinnenminister, nicht nur ich, sondern auch ein großer Teil der Öffentlichkeit hat nicht verstanden, warum ausgerechnet Sie diese Vereinbarung am letzten Freitag wieder torpediert haben. ({14}) Meine Damen und Herren, ich betone es deshalb nochmals: Wir halten, Bundeskanzler Kohl und alle, die da mit am Tisch saßen, an dieser Vereinbarung fest. Wir sind bereit, sie umzusetzen. Wir wollen sie schnell umgesetzt haben. ({15}) Zum Schluß will ich Sie, Herr Kollege Rühe, nochmals ansprechen: Beenden Sie Ihre Doppelstrategie, hier anders zu reden als vor Ort, Ihren Mitgliedern gegenüber. ({16}) Ich bringe dafür gern nochmals ein Beispiel: Sie haben den bösen Satz geprägt - für alle nachlesbar - : Wenn die SPD Ihren Vorstellungen - Sie meinten zur Grundgesetzänderung - nicht folge, ({17}) sei jeder Asylant ein SPD-Asylant. Damit setzen Sie nicht nur voraus, daß eine Grundgesetzänderung zur drastischen Verminderung der Asylbewerberzahlen führen könne. ({18}) Aber das nur am Rande. Meine Damen und Herren, Sie setzen noch etwas voraus: daß Grenzabweisung in großem Umfang möglich ist. Das haben Sie vorhin gerade bestritten. ({19}) Aber das, was Sie damit noch anrichten, ist unglaublich perfide, und darauf muß hier hingewiesen werden. ({20}) Sie möchten die SPD treffen. Das glaube ich Ihnen. Aber, Herr Rühe, Sie treffen auch ganz andere. Sie treffen die Asylbewerber. Mit diesem Satz signalisieren Sie Wirrköpfen in unserer Gesellschaft, daß das Menschen seien, mit denen man so umgehen könne, wie Sie es mit der SPD versuchen. ({21}) Nur, meine Damen und Herren, diese Menschen, die Asylbewerber, können sich nicht wehren. Deswegen bitte ich Sie, weil hier die Übergänge zur Ausländerfeindlichkeit unübersehbar sind: ({22}) Nehmen Sie diesen Satz zurück! ({23}) Ich will Ihnen dazu noch etwas sagen, Herr Rühe, was Sie vielleicht zum Nachdenken bringt - gerade, wenn Sie das nicht beabsichtigt und auch nicht einDr. Herta Däubler-Gmelin kalkuliert haben sollten - : Es gibt Sätze, an denen man Schreibtischtäter erkennt. ({24}) Solche Sätze hat es immer wieder gegeben. Sie sind unmenschlich. Meine Damen und Herren, wir werden uns mit Ihnen, wo das erforderlich ist, weiter auseinandersetzen, auch hier in diesem Hause. Wir werden mit Ihnen auch gerne um den besseren Weg ringen. Aber ich bitte Sie um eines: Lassen Sie uns gemeinsam die Probleme lösen, die wir lösen können, und stellen Sie Ihre Aktivitäten gegen die Asylbewerber ein. Sonst kann von diesem Haus kein Signal für inneren Frieden und gegen Ausländerfeindlichkeit ausgehen. Danke schön. ({25})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie mir dennoch die Bemerkung, daß wir auch in unserer Sprache äußerst behutsam sein sollten ({0}) und „Schreibtischtäter" als eine Sprache des Ungeistes des Nazisystems hier nicht einführen sollten. ({1}) Als nächster erteile ich das Wort der Abgeordneten Cornelia Schmalz-Jacobsen.

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten Tagen konnte man in einem zornigen Artikel lesen - ich zitiere -: „Politiker sollen handeln und keine Predigten halten". Gemeint war der zermürbende Streit über das Asylrecht. Das Ziel dieses Artikels war die Änderung des Art. 16 - als wäre er gleichsam ein Zauberschlüssel, um alle Probleme zu lösen. Meine Damen und Herren, Politiker sollen gewiß nicht predigen, aber sie sollen zu Vernunft und zu Besonnenheit aufrufen. Dies ist ja in den letzten Tagen dankenswerterweise immer häufiger geschehen. ({0}) Aber wenn die Wortwahl, die gebraucht wird, die Besonnenheit, zu der wir aufrufen, gleich wieder diskreditiert, dann kann das wohl nicht der Sinn der Übung sein. ({1}) Die Politik muß handeln; das ist wohl wahr. Aber das Handeln kann sich nicht in Abwehr erschöpfen. Wir Freien Demokraten stehen für die Verkürzung der Asylverfahren ein. Wir kennen die Bedrängnisse der Bürgermeister und der Landräte. Wir wollen handeln. Aber es wird doch von uns ein anderes Handeln erwartet, ein konstruktives Handeln, das all diejenigen einfordern, die fassungslos vor dem Flächenbrand stehen, den wir in diesen Tagen und Wochen erleben. ({2}) Die Anschläge sind inzwischen aus den großen Schlagzeilen heraus. Aber das macht sie doch nicht besser. Wir dürfen uns daran doch nicht gewöhnen. Meine Damen und Herren, ein solches Handeln erwarten von uns all die Gutwilligen; und das ist die Mehrheit. ({3}) Das erwarten diejenigen, die dazwischengehen und Ausländer beschützen. ({4}) Und das erwarten diejenigen, die sich nicht mehr trauen, in den Großstädten in der U-Bahn zu fahren oder in den Supermarkt zu gehen. Das sind die, die dunkle Haare und dunkle Augen haben. ({5}) Das sind sehr häufig auch die Kinder aus Ehen zwischen Deutschen und Ausländern. ({6}) Ich habe es vielfach erlebt, daß diese Jugendlichen sagen, wenn wir groß sind, gehen wir in das Land des nichtdeutschen Elternteils, also dorthin, wo sie wirklich Fremde wären. Das geht doch so nicht. Wir müssen konstruktiv handeln; das heißt Schutz, das heißt aber vor allen Dingen auch aufklären, das heißt informieren über die Dinge, wie sie wirklich sind. Es gibt einen erheblichen Mangel an Kenntnissen über die tatsächliche Zahl der Ausländer, die bei uns leben. Es gibt eine beschämende Unkenntnis über die Bedeutung der Ausländerbeschäftigung in unserem Land inklusive des Anteils am Steueraufkommen, inklusive des Anteils an den Sozialabgaben. Es gibt eine große Unkenntnis über unsere eigene demographische Entwicklung und ihre Folgen. Es gibt übrigens auch - lassen Sie mich das sagen - eine große Unkenntnis darüber, was eigentlich die Asylbewerber wirklich kosten. Man kann hier nämlich auch eine Gegenrechnung aufmachen. Es ist nicht nur eine Frage der Kosten. Auch Asylbewerber arbeiten inzwischen, leisten Sozialabgaben, zahlen Steuern, sie konsumieren, und sie schaffen auch Arbeitsplätze. Auch darüber wäre zu informieren, und das bitte nicht so einäugig, wie das sehr häufig in den Debatten geschieht. ({7}) Meine Damen und Herren, wie wäre es, wenn das Bundespresseamt mit einer gezielten Informationskampagne an die Öffentlichkeit ginge, um zur Versachlichung der Diskussion beizutragen? ({8}) Das Bundespresseamt informiert doch auch über andere Dinge, bei denen sachlich klargestellt werden soll, was passiert. ({9}) Es ist unsere Aufgabe, Angst abzubauen, Angst zu nehmen - die Angst, die zum Teil in der deutschen Bevölkerung herrscht, aber auch die Angst bei den Ausländern, die bei uns leben. Dazu gehört es in meinen Augen, daß wir zwei Themen aus dem Giftschrank nehmen. Das eine ist das Thema Einwanderungsland und das andere ist die doppelte Staatsbürgerschaft. Es führt nicht weiter, wenn wir diese beiden Themen tabuisieren. Selten wird mit einem Begriff so viel Schindluder getrieben wie mit dem Begriff Einwanderungsland, das wir ja mit einer unkoordinierten Zuwanderung de facto sind. Wir werden eines Tages darüber reden und den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes reinen Wein einschenken müssen. Ich habe hier oft das Gefühl, daß die Taktik die Strategie bestimmt. Das darf nicht passieren. Dann passiert nämlich das, was wir augenblicklich erleben. ({10}) Nein, meine Kolleginnen und Kollegen, Haß und Fremdenfeindlichkeit sind doch eine Prinzipienfrage. Das ist doch keine Frage der Taktik. Das ist eine Prinzipienfrage, die weit über Parteigrenzen hinausgeht. Bei unserer Auseinandersetzung sollten ja eigentlich nicht mehr so sehr die Ausländer und wir thematisiert werden, sondern die Demokraten, der Rechtsstaat und diejenigen, die den Rechtsstaat zerstören wollen. Das ist das Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen. ({11}) Ich will es auf den Punkt bringen: Nicht die Asylfrage ist inzwischen so sehr das Problem, sondern die Reaktion auf diese Debatte - das macht mir Sorgen. ({12}) Wir dürfen uns nicht an der falschen Front „verkämpfen". Ich möchte nicht mißverstanden werden: Wenn in diesem Jahr 200 000 Asylbewerber zu einem 80-Millionen-Volk kommen, dann ist das viel, und wir haben auch Vorschläge zur Begrenzung gemacht. Es kann aber doch nicht sein, daß wir wegen dieser Zahl von Asylbewerbern mitansehen, wie Offenheit, wie Toleranz, ja letzten Endes wie Zukunft vor die Hunde geht. Der Preis ist mir zu hoch, meine Damen und Herren. ({13})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Schmalz-Jacobsen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Werner?

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne. Ich mache eine Ausnahme.

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke für die Ausnahme. Frau Kollegin, verwechseln Sie denn nicht in weiten Teilen Ursache und Wirkung, wenn Sie die Dinge hier so darstellen, als müsse man das ganze Problem der Zuwanderung, das eklatantermaßen und zugegebenermaßen besteht, und auch das Problem der Asylfrage darauf reduzieren, daß es auf der einen Seite das Lager der Demokraten gibt, die sich mit den Problemen auf demokratischer Grundlage auseinanderzusetzen versuchen, und auf der anderen Seite jene, die sich außerhalb dieser demokratischen Rechtsordnung stellen? Verkürzen Sie dies damit nicht mutwillig? Sollten wir einander nicht zugestehen, daß wir uns auch dann, wenn wir Regelungsbedarf sehen, alle miteinander in der ersten Gruppe befinden, nämlich in der Gruppe derer, die auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats Lösungen herbeiführen wollen? ({0})

Cornelia Schmalz-Jacobsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001991, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß nicht, ob das wirklich noch eine Zwischenfrage war, Herr Kollege. Ich mache meine Antwort ganz kurz: Ich glaube, daß hier in der Tat sehr häufig Ursache und Wirkung verwechselt werden. Allerdings sehen wir es wohl als sehr unterschiedlich an, was hier Ursache und was Wirkung ist. ({0}) Die Ursache ist doch nicht so sehr die Zahl der Asylbewerber, sondern eher die Art und Weise, wie mit diesem Thema umgegangen wird und wie die Reaktion darauf ist. ({1}) Ich möchte anregen, daß die Bundesregierung eine konzertierte Aktion ins Leben ruft, eine große Runde gesellschaftlicher Kräfte. Es ist notwendig, meine Damen und Herren, daß hier Perspektiven für eine ehrliche, für eine tragfähige nationale wie europäische Politik der Zuwanderung und der Integration entwickelt werden. Übrigens, es hat einmal so etwas wie eine Gewaltkommission der Bundesregierung gegeben. ({2}) Vielleicht wäre es gut, sich einmal die Erkenntnisse dieser Kommission anzusehen. Ich komme zum Schluß. Dem Hochschaukeln von Angst und Panik begegnet man am besten durch aktives und zukunftsgerichtetes Handeln. Das duldet keinen Aufschub. Meine Damen und Herren, mit einer Politik des Türzuhaltens kommen wir doch nicht weiter. ({3}) Um das vielgeschundene Boot hier noch einmal zu zitieren: Wir müssen aufpassen, meine Damen und Herren, daß dieses Boot, wie voll oder halbvoll es auch immer ist, uns nicht aus dem Ruder läuft. Das ist die Aufgabe, der wir gerecht werden müssen. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bevor ich Herrn Ministerpräsidenten Teufel das Wort erteile, möchte ich auf das zurückkommen, was offenbar entweder falsch angekommen oder von mir falsch gesagt worden ist. Ich denke, daß es zum Stil gehört, daß wir gut miteinander umgehen. ({0}) Frau Däubler-Gmelin, ich möchte Sie bitten, zuerst einmal anzuhören, was meine Absicht war. Wenn ich Sie mißverstanden habe, können wir es klären. Ich denke, daß es in einer solchen Debatte nicht gut ist, wenn wir Ausdrücke und Urteile verwenden, die wir als Worte wie „Schreibtischtäter" gegen Personen und auch Unpersonen - so sage ich es hier - einsetzen, die Massenmorde verordnet haben. Ich habe große Bedenken - in diesem Sinne habe ich es gemeint - , wenn wir diesen Ausdruck hier in die Debatte einführen. ({1}) Es lag mir völlig fern, Sie in irgendeiner Weise persönlich abzukanzeln. Sie wissen um meine Wertschätzung für Sie. Auch wenn ich Sie mißverstanden habe, muß dies aber durchaus meine Aussage sein können. ({2}) - Ich möchte jetzt bitte wissen, ob es damit ausgeräumt ist oder ob nach wie vor die Diskrepanz besteht.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich glaube, Sie haben mich zu Unrecht getadelt. ({0}) Ich bin der Meinung, Sie sollten sich zuerst durchlesen, was ich gesagt habe, und dann auf den Vorgang zurückkommen. Ich behalte mir eine persönliche Erklärung vor.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gut. ({0}) Ich gebe jetzt das Wort an den Ministerpräsidenten Teufel. ({1}) Ministerpräsident Erwin Teufel ({2}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was ist die Ursache der Wanderungsbewegung von Ost nach West und von Süd nach Nord? Die Ursache ist, daß die Völker Osteuropas und Südosteuropas zum Rechtsstaat, zur Demokratie und zur Sozialen Marktwirtschaft gefunden haben, aber daß ihnen droht, im wirtschaftlichen Elend zu versinken. Die Ursache für die Wanderungsbewegung von Süd nach Nord in alle prosperierenden Industrieländer des Westens ist, daß Völker in großer Zahl in bitterer Armut leben und daß viele Menschen diese Armut nicht mehr hinnehmen, sondern ihr davonlaufen. Deswegen ist der erste Ansatz gegen die große Zahl von Asylbewerbern eine wirtschaftliche Hilfe, die wir gemeinsam mit den westlichen Industrienationen trotz unserer großen Aufbauleistung für die neuen Bundesländer leisten müssen. Wir dürfen die Völker und Länder Osteuropas und Südosteuropas nicht hängenlassen. ({3}) Wir müssen die Entwicklungshilfe verstärken und dabei gezielte Armutsbekämpfung betreiben. Ich stehe voll und ganz hinter dem Flüchtlingskonzept, das der Bundesentwicklungshilfeminister und der Bundesinnenminister im letzten Jahr vorgestellt haben. Das ist das eine. Wir lösen das Asylproblem allein mit administrativen, politischen und gesetzlichen Maßnahmen bei uns nicht. ({4}) Das zweite aber ist genauso richtig und genauso wichtig: Wir können die Armutsprobleme der Welt nicht mit dem Instrument des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland lösen. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Briefs? Ministerpräsident Erwin Teufel ({0}): Natürlich gerne. Ich kenne zwar nicht die Gepflogenheiten in diesem Hause, Frau Präsidentin, aber ich gehe davon aus, daß Zwischenfragen nicht auf meine Redezeit angerechnet werden.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Sie haben recht.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke. Herr Ministerpräsident, ich wollte Sie nur fragen, wie Ihre eben gemachte und zu unterstützende Aufforderung zur Ausweitung der Entwicklungshilfe mit der Tatsache zu vereinbaren ist, daß im nächsten Bundeshaus4228 halt die Entwicklungshilfe real nicht angehoben wird? ({0}) Ministerpräsident Erwin Teufel ({1}): Ich möchte Ihnen sagen, daß ich seit zwei Jahrzehnten, seit ich politisch tätig bin, außerordentlich bedauere, daß die Selbstverpflichtung der westlichen Industrieländer, 0,7 % ihres Bruttosozialproduktes für die Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen, nicht eingehalten wird; ({2}) nicht von der Regierung, die die SPD getragen hat, und trotz aller Steigerungen nicht von der jetzigen Bundesregierung. Ich darf Ihnen sagen, daß ich mich persönlich auch beim Wort nehmen lasse. Das Land Baden-Württemberg tut mehr für die Entwicklungshilfe als jedes andere Bundesland, gemessen am Problem immer noch zuwenig. ({3}) Meine Damen und Herren, ich war beim zweiten Punkt. Wir können die Armutsprobleme der Welt nicht mit dem Instrument des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland lösen. ({4}) Lesen Sie die Entwicklungshilfeberichte der Weltbank. In dem jüngsten Entwicklungshilfebericht, der vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde, steht: Die Weltbank zählt zu den absolut armen Menschen, die unter 1 $ pro Tag für ihre Existenzsicherung zur Verfügung haben, 1 Milliarde Menschen auf der Welt. Wenn man diese Zahl sieht, wird deutlich: Das Problem kann nicht dadurch gelöst werden, daß wir die Menschen in die westlichen Industrieländer hereinholen, sondern es kann nur dadurch gelöst werden, daß wir durch eine angepaßte Entwicklung die Maschinen zu den Menschen bringen und Entwicklungsperspektiven, Lebensperspektiven und Zukunftsperspektiven für die Menschen in Osteuropa und in den Entwicklungsländern schaffen. ({5}) Drittens. Wir müssen nach dem schrecklichen Geschehen in diesem Jahrhundert und nach den Erfahrungen im Dritten Reich am Asylrecht für politisch, religiös und rassisch Verfolgte unverbrüchlich festhalten. Daran rüttelt niemand von uns. ({6}) Viertens. Asylbewerber, die nicht politisch verfolgt sind, können in unserem Land keine Aufnahme finden. Sie können nicht auf Dauer in unserem Land bleiben. Sie müssen während ihres Hierseins gleichwohl menschenwürdig und rechtsstaatlich behandelt werden. ({7}) - Und geschützt werden, in der Tat. Fünftens. „Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität" , sagt Kurt Schumacher. Was ist Realität? - Realität ist, daß inzwischen in einem Monat 28 000 Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland kommen, allein in ein Bundesland wie Baden-Württemberg 5 500. 35 Jahre lang ist doch dieses Problem nicht diskutiert worden, nicht in der Öffentlichkeit, nicht in diesem Hohen Hause. Warum? - Weil wir mit 4 000 anerkannten Asylbewerbern pro Jahr gut fertig geworden sind. Wir würden auch mit einer größeren Zahl als 4 000 fertig werden, ({8}) aber wir werden nicht mehr damit fertig, die Gemeinden werden nicht mehr damit fertig, die Länder werden nicht mehr damit fertig, wenn 28 000 im Monat kommen. ({9}) Das Asylproblem ist ein Zugangsproblem. ({10}) Wir dürfen in dieser Situation die Gemeinden nicht allein lassen. ({11}) Sechstens. Jede Verfahrensbeschleunigung und auch der Versuch, einen Teil der Asylbewerber in Sammelunterkünften unterzubringen, sind vernünftig. Deswegen wird das Land Baden-Württemberg eine solche Politik mitmachen, zumal es sie neben Bayern als einziges Bundesland seit Jahren betreibt. Meine Damen und Herren, wir sehen uns doch diesem Problem nicht erst im Obktober 1991 gegenüber, sondern seit zehn Jahren. Im Dezember 1980 verabschiedete der Bundestag eine von Baden-Württemberg im Bundesrat initiierte Beschleunigung der Asylverfahren. Wichtige Elemente wurden im Sommer 1982 in das Asylverfahrensgesetz aufgenommen. 1985 ist ein neues Gesetz herausgekommen. 1989 hat die Innenministerkonferenz - ebenfalls auf Drängen Baden-Württembergs - weitere Beschleunigungsschritte festgelegt, die ich nun fast wortgleich im sogenannten 6-Wochen-Modell wiederfinde. Durchgeführt haben diese Maßnahmen - zentrale Erfassungsstellen, zentrale Entscheidungsstellen, Beschleunigungen im Verwaltungs- und im gerichtlichen Verfahren, Einrichtung von Sammelunterkünften - zwei Länder, nämlich Bayern und Baden-Württemberg. ({12}) Das Modell für diese Verfahrensbeschleunigung heißt „Karlsruher Modell", und es hat auch durchaus gegriffen. Von einer Verfahrensdauer von vier Jahren Ministerpräsident Erwin Teufel ({13}) sind wir inzwischen bei einer Verfahrensdauer von neun Monaten. Wir haben bereits in dieser Woche wesentliche Elemente der Zielsetzung der letzten Woche beim Kanzlergespräch beschlossen und realisiert. Wir werden statt einer zentralen Anlaufstelle nun vier zentrale Anlaufstellen schaffen, nämlich in jedem Regierungsbezirk eine. Wir haben 4 000 Plätze in Sammelunterkünften, und wir werden weitere Plätze in Sammelunterkünften schaffen. Aber, meine Damen und Herren, weil wir Erfahrung haben, nehme ich mir auch das Recht zu sagen, daß alle Anstrengungen zur Verfahrensbeschleunigung immer wieder durch den gesteigerten Zugang von Asylbewerbern überrollt und überholt werden. ({14}) Kernproblem ist und bleibt der unkontrollierte und ungesteuerte Zugang von Asylbewerbern, von denen jeder einzelne einen Anspruch auf inhaltliche Prüfung und fachliche Entscheidung durch Verwaltungsbehörden und Gerichte hat. Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für offensichtlich unbegründete Asylanträge. Der Zwang, diese Maßnahme bei einem Zugang von 1990 193 000 Asylbewerbern anzuwenden, hat zu der akuten Krise geführt, in der wir uns augenblicklich befinden. Die Lösung kann hier nur heißen, einen bestimmten Teil von Asylbewerbern, bei dem nach dem Herkunftsland unzweifelhaft politische Verfolgung nicht stattfindet, aus diesem Verfahren herauszunehmen. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich unterstütze alle Vorschläge zur weiteren Verfahrensbeschleunigung, erwarte hiervon aber nicht den entscheidenden Durchbruch. Baden-Württemberg wird - wie auch bisher - das Menschenmögliche zur Verfahrensbeschleunigung tun. ({15}) Wir werden alles daransetzen, das Modell auf Landesebene konstruktiv zu verwirklichen. Wir haben die entsprechenden Beschlüsse, wie gesagt, bereits gefaßt. Aber ich sage ganz offen: Das Ziel, Verfahren in Zukunft rechtskräftig in sechs Wochen abschließen zu wollen, ist ganz und gar unrealistisch. Dies ist keine Prognose, bei der man unterschiedlicher Auffassung sein kann, sondern dies ist eine Aussage auf Grund gemachter Erfahrungen. Wir sagen das auch nicht hinterdrein, zwei, drei Tage nach dem Kanzlergespräch. Ich habe es im Kanzlergespräch in aller Deutlichkeit gesagt. Ich habe es unmittelbar danach in Pressekonferenzen gesagt. Ich habe inzwischen auch Gespräche mit den Präsidenten unserer Verwaltungsgerichte und mit Experten unserer Innenverwaltung geführt. Ich fühle mich von diesen Leuten bestätigt, die etwas von der Sache verstehen. Mehr als 50 % aller Verwaltungsgerichtsprozesse in Baden-Württemberg sind inzwischen Asylverfahren. ({16}) Ich möchte Sie fragen, wie da beispielsweise ein gerichtliches Verfahren in zwei Wochen rechtsstaatlich durchgeführt werden soll. Richter können nicht versetzt werden. Sollen wir jetzt völlig neue Richter einstellen und sie ausschließlich mit Asylverfahren beschäftigen? ({17})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hirsch? Ministerpräsident Erwin Teufel ({0}): Selbstverständlich, weil ich weiß, Herr Hirsch, daß Sie sich mit diesem Thema sehr intensiv beschäftigen. - Bitte sehr.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Ministerpräsident, würden Sie in diesem Zusammenhang nicht auch würdigen, daß die Frist von 14 Tagen oder drei Wochen sich nicht auf die gerichtlichen Verfahren schlechthin, sondern auf die Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bezieht, die teilweise in drei Tagen abgewickelt werden? Ministerpräsident Erwin Teufel ({0}): Nein, Herr Kollege Hirsch, die Eilverfahren sind nach Auskunft der Präsidenten der Verwaltungsgerichte und des Verwaltungsgerichtshofs BadenWürttemberg von letzter Woche bisher in viereinhalb Monaten abgewickelt worden. Sie sagen: Wenn wir neue gesetzliche Bestimmungen bekommen, wie sie jetzt vorgesehen sind, schaffen wir dies im Eilverfahren in vielleicht zwei Monaten. Aber Herr Kollege Hirsch, Sie sollten auch einmal in der Öffentlichkeit sagen - das ist in diesem Papier überhaupt nicht definiert - , welche Verfahren Sie eigentlich beschleunigen wollen. Wenn Sie die bisherigen Eilverfahren meinen, wovon ich ausgehe, will ich Ihnen sagen, daß ganze zwei Siebtel der bisherigen Asylverfahren Eilverfahren gewesen sind. Für fünf Siebtel, also für zwei Drittel aller Fälle, bieten Sie überhaupt keine Lösung in diesem Papier. ({1}) Und die zwei Siebtel erreichen Sie nicht in den sechs Wochen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Ministerpräsident, darf ich fragen, ob Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude zulassen? ({0}) Ministerpräsident Erwin Teufel ({1}): Frau Präsidentin, gerne. Aber geben Sie mir bitte die Redezeit dazu! - Herr Kollege Schmude.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident, kann es denn eigentlich wahr sein, daß wir auf der einen Seite davon ausgehen, daß bei Asylsuchenden das Fehlen ihrer berechtigten Gründe so offenkundig ist, daß Beamte sie an Hand einer einfachen, pauscha4230 len Anleitung sofort aus dem Verfahren herausnehmen können, ({0}) daß aber auf der anderen Seite die Feststellung des Fehlens dieser Gründe, die offensichtlich nicht vorhanden sind, im Verfahren so schwierig ist, daß eine Verkürzung der langen Verfahrensdauer schlechthin undenkbar ist? Kann das eigentlich sein? Ministerpräsident Erwin Teufel ({1}): Herr Kollege Schmude, Sie sind als ehemaliger Justizminister ein rechtsstaatlich denkender Mensch. ({2}) Was ist denn eigentlich rechtsstaatlicher: der Vorschlag von Baden-Württemberg, daß wir in einem geordneten Gesetzesverfahren nach einer Verfassungsänderung Nichtverfolgerstaaten festlegen ({3}) und so mit Zweidrittelmehrheit des Hauses oder auf europäischer Ebene unzweifelhaft festgestellt wird, was Nichtverfolgerstaaten sind, oder das Tolerieren einer Verwaltungspraxis, von Ihnen aus jetzt geradezu herbeigeführt, bei der ein Entscheidender, der neu eingestellt wird und der keine Verwaltungspraxis hat, in der Schublade eine Liste von Nichtverfolgerstaaten hat und seinerseits die Menschen selektiert, wenn sie auf ihn zukommen, ob sie aus einem Nichtverfolgerstaat kommen oder nicht? Was ist denn da eigentlich rechtsstaatlicher, muß ich Sie fragen? ({4}) Ich sage Ihnen: Auch ein äußerst gestrafftes Gerichtsverfahren läßt sich in einem Rechtsstaat nicht in zwei Wochen bewerkstelligen. Für Eilverfahren ist das bei knappster Kalkulation im Regelfall mit zwei Monaten zu machen. Für ein Hauptverfahren werden sechs Monate benötigt. Die Annahme des Modells, daß Asylverfahren in der Regel Eilverfahren sind, trifft nicht zu. Ich habe es gerade ausgeführt. Überdies haben die Länder im Hinblick auf die rechtsstaatlich garantierte Unabhängigkeit der Justiz keinen Einfluß auf die Dauer der Gerichtsverfahren. ({5}) Sie können deshalb auch keine solchen Verpflichtungen eingehen. Deshalb können wir hier lediglich Rahmenbedingungen schaffen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun noch eines in aller Offenheit sagen, und ich bitte Sie, darüber nachzudenken. - Ich habe schließlich erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bei dem Vorschlag, bei Einführung des Einzelrichters, der vorgesehen ist, den gerichtlichen Verfahrensschutz generell auf eine Instanz zu beschränken. ({6}) Ob das beim Bundesverfassungsgericht hält, darüber sollte man einmal nachdenken. ({7}) Siebtens sage ich: Wenn aber die Verfahren nicht in sechs Wochen und nicht einmal in der doppelten Zeit abzuwickeln sind, dann bricht das ganze Gebäude Ihres Konzepts zusammen; ({8}) denn es basiert auf der Annahme von 48 000 Plätzen in Sammelunterkünften und auf einer Verfahrensdauer von sechs Wochen. ({9}) - So ist es, dann werden sie zum Problem. Wenn jede Woche mehr 7 000 zusätzliche Plätze erfordert ({10}) und wir mit sieben Wochen mit Sicherheit nicht durchkommen, sondern im günstigsten Fall mit der doppelten Zeit, wahrscheinlich mit der dreifachen Zeit rechnen müssen, dann brauchen wir die doppelte bzw. die dreifache Zahl von Plätzen in Sammelunterkünften. Wer will das durchsetzen? Meine Damen und Herren, ich habe mich übrigens gewundert. Bei uns im Landtag haben wir zehn Jahre lang wegen der Einrichtung von Sammelunterkünften Vorwürfe bekommen. ({11}) Von wem wohl? - Von SPD und FDP. Hier wird dieses Problem überhaupt nicht angesprochen. Mit welcher Unbekümmertheit werden heute Sammelunterkünfte gefordert?! ({12}) Wie ist denn die Akzeptanz in unseren Gemeinden, bei Bürgern, Bürgermeistern und Gemeinderäten? Was ist mit der Größe von Sammelunterkünften? Wollen Sie jetzt, wenn Kasernen mit 2 000, 4 000 oder sogar 6 000 Plätzen in unserem Lande frei werden, eine solche Zahl von Menschen in einer Sammelunterkunft unterbringen? Wenn Sie das nicht tun wollen, weil Sie sagen, das sei überhaupt nicht zu bewältigen, man könne nur 200 oder 500 aufnehmen: welche Zahl von Sammelunterkünften brauchen Sie dann bei der Annahme, die ich gerade genannt habe? Was ist mit der Betreuung? Was ist mit dem inneren Frieden in einer solchen Sammelunterkunft, wenn Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Kultur, Sprache, Religion in einer solchen Sammelunterkunft beieinander sind? Was ist mit der Sicherheit? Wenn Sie nur Streife fahren lassen, dann können Sie keine Garantie für die Sicherheit übernehmen. Wenn Sie eine solche Garantie übernehmen wollen, dann müssen Sie einzäunen. Dann haben wir wieder Lager in Deutschland, Lager in diesem Jahrhundert. Was wird das Ausland dazu sagen? ({13}) Ministerpräsident Erwin Teufel ({14}) Deswegen gehe ich nicht unbekümmert an dieses Problem. Ich sage: Wir verwirklichen sie mit. Aber ich sage auch: Es gibt klare Grenzen in der Quantität. ({15}) Deswegen sage ich Ihnen achtens, meine Damen und Herren, in aller Ruhe: Es geht nach meiner festen Überzeugung nicht ohne eine Ergänzung des Grundgesetzes, es geht nicht ohne eine Verfassungsänderung. ({16}) Das ist eine Erkenntnis auf Grund gemachter Erfahrungen und angesichts ständig steigender Zugänge. Was wollen wir mit einer Verfassungsänderung erreichen? Ich finde, wir sollten zunächst gar nicht über die Artikel reden, sondern wir sollten uns über die Frage verständigen, was wir erreichen wollen. Ich teile den Zugang zum Problem völlig, den der Bundesinnenminister hier aufgezeigt hat. Ich teile auch seine Zielsetzungen. Deswegen kann ich die Zielsetzungen hier kurz darstellen. Erstens. Wir müssen Nichtverfolgerstaaten festlegen können. ({17}) - Wir haben einen ganz konkreten Vorschlag gemacht. ({18}) - Sehr gerne. Wissen Sie, ich bin vorbereitet wie immer; ich kann Ihre Frage schon beantworten. ({19}) Es waren vor eineinhalb Jahren noch zwei Drittel aller Zugänge, die aus solchen Staaten kamen. Das ist vor einem Dreivierteljahr noch die Hälfte aller Zugänge gewesen. Es sind aus Gründen, die Sie alle kennen und immer wieder nennen, im Augenblick noch etwa ein Drittel aller Zugänge, weil wir einen Bürgerkrieg in Jugoslawien - das ist vorhin gesagt worden - und die besondere Situation in der Türkei haben. Das kann morgen schon wieder eine größere Zahl sein. Dies ist deshalb nicht die einzige Zielsetzung, die wir verfolgen. ({20}) Die zweite Zielsetzung ist, daß wir Personen zurückweisen wollen, die über einen sicheren Drittstaat einreisen. ({21}) Dies läßt die Genfer Flüchtlingskonvention zu. Dies läßt aber nicht unser Grundgesetz zu. Deutlich wird dies, wenn Sie sich die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts anschauen, die besagt, daß sich jeder Asylbewerber das Land seiner Wahl selbst aussuchen können muß. Deswegen muß die zweite Zielsetzung hinzukommen. Das dritte, das hinzukommen muß, ist, daß wir die Verfassung ändern müssen, um eine europäische Lösung übernehmen zu können. Dies ist zwingend; denn ab 1. Januar 1993 haben wir in Europa keine Grenzkontrollen mehr. Wir werden eine Sogwirkung in das Land mit dem weitestgehenden Asylrecht und mit den höchsten sozialen Leistungen bekommen. Ich glaube übrigens, daß wir - viertens - eine Verfassungsänderung brauchen, um ein verfassungsrechtlich abgesichertes, vereinfachtes Rechtsmittelverfahren, das rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht, durchführen zu können. Baden-Württemberg hat ein ganz klares Konzept in einer Bundesratsinitiative mit einem Gesetzesantrag zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt. Innenminister Schäuble hat in der letzten Woche einen Entwurf vorgelegt. Ich bedaure, daß die bisherige Diskussion im wesentlichen über die eher abstrakte Frage einer Änderung der Art. 16, 19 und 24 des Grundgesetzes geführt wurde. Es geht vielmehr ganz konkret um ein praktikables Verfahren. Dafür aber ist die von uns vorgeschlagene Grundgesetzänderung unabdingbar. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen: Den Vätern des Grundgesetzes standen die Emigranten der 30er und 40er Jahre vor Augen, die auf der Flucht vor Konzentrationslagern und Gestapo an der restriktiven Einreisepraxis anderer Staaten gescheitert sind. Ein Fall wie der von Walter Benjamin, dem nach seinem die letzten Kräfte fordernden Weg über die Pyrenäen am 25. September 1940 die Einreise nach Spanien verweigert wurde und der sich mit einer tödlichen Dosis Morphium in den Pyrenäen das Leben nahm, darf sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht wiederholen. ({22}) Diese gemeinsame Grundüberzeugung aller Demokraten in der Bundesrepublik darf jedoch nicht zu einem Realitätsverlust in der Asylpolitik führen. ({23}) Die aktuelle Diskussion des Asylthemas gehört vom Kopf auf die Füße gestellt. ({24}) Es ist nämlich bezeichnend, daß die Anerkennung der Notwendigkeit einer grundlegenden Neuorientierung und Grundgesetzänderung zunimmt, je weiter wir uns der politischen Basis nähern, und zwar gleichgültig, ob SPD-Kommunalpolitiker, CDU-Kommunalpolitiker oder FDP-Landespolitiker. Wenn sie nahe am Problem sind, dann sind sie mit uns der gemeinsamen Überzeugung, daß es ohne eine Verfassungsänderung nicht geht. ({25}) Ministerpräsident Erwin Teufel ({26}) Frau Däubler-Gmelin, der Oberbürgermeister von Mannheim und der Oberbürgermeister von Pforzheim haben Ihnen geschrieben, haben Sie angerufen und haben genau dieses zum Ausdruck gebracht. Sie wissen, daß sie Ihrer Partei angehören. ({27}) Gestatten Sie mir, Herr Präsident, daß ich nur meinen Schlußsatz noch sage: Der Verfassunggeber des Jahres 1948/49 hatte die Zeit von 1933 bis 1945 vor Augen. Er konnte nicht die Situation der Jahre 1989, 1990 und 1991 voraussehen. Heute ist der Verfassunggeber des Jahres 1991 gefordert, die neue Realität mit zu berücksichtigen, ohne die geschichtliche Erf ah-rung preiszugeben. ({28})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Konrad Weiß das Wort.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor drei Jahren, im Herbst 1988, habe ich mich in „Kontext", einer in der DDR erscheinenden Untergrundzeitschrift mit dem erstarkenden Rechtsradikalismus und der Ausländerfeindlichkeit auseinandergesetzt. Damals schlußfolgerte ich, daß die Gefahr einer neuen faschistischen Bewegung, getragen von jungen Menschen unseres Landes, denkbar geworden sei und daß wir auf absehbare Zeit mit einem rechtsradikalen Potential politisch motivierter Gewalttätigkeit würden leben müssen. Ein aktueller Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der mir vor zwei Tagen zugegangen ist, bestätigt meine damalige, unter ganz anderen Bedingungen gemachte Analyse. Wenn auch mit dem Vorbehalt eines noch ungenügenden Erkenntnisbildes, stellt der Verfassungsschutz fest - ich zitiere - : ... daß die neonazistische Szene in der ehemaligen DDR auf jeden Fall größer als zweitausend Personen ist, mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches, und zwar mit zunehmender Tendenz. Die Militanz des Rechtsextremismus habe - so heißt es an anderer Stelle in diesem Bericht - im Zuge der Wiedervereinigung quantitativ und qualitativ eine neue Dimension erfahren und sei in Ostdeutschland quantitativ und qualitativ gefährlicher als in Westdeutschland. 32 Menschen sind in den letzten zehn Jahren in Deutschland von Rechtsradikalen getötet worden. Es hat zahlreiche Schwerverletzte, vor allem unter Ausländern, gegeben. Allein in diesem Jahr hat das Bundesamt für Verfassungsschutz bis zum 15. September 400 Gewaltakte mit erwiesener oder wahrscheinlicher rechtsextremistischer Motivation registriert, davon 220 in den östlichen Bundesländern. Es ist meine feste Überzeugung, daß die rechtsradikalen Gewalttaten in Ostdeutschland ebenso wie der latente Ausländerhaß dort ihre Ursache im untergegangenen SED-Staat haben. Nationalsozialistische Traditionslinien, personelle wie strukturelle, fanden sich auch in der DDR. Auch die realsozialistische Alltagskultur war nicht völlig entnazifiziert. Nicht das Individuum, das Einmalige, stand zuoberst auf der Werteskala, sondern die Masse, das Allgemeine. Nicht Originalität und Innovation hatten den höchsten Stellenwert, sondern Unterordnung und Konvention. Die DDR-Gesellschaft war durch Gewalt geprägt, durch die Gewalttätigkeit der Partei gegen das Volk, durch die Glorifizierung der Gewalt, die dem Klassenauftrag diente. Die grundsätzliche Bejahung von Gewalt und der Mangel an demokratischer Kultur haben Menschen in Ostdeutschland anfällig für rechtsradikale Ideologie gemacht. Hinzu kommen gerade bei jungen Menschen tiefgreifende Verletzungen durch die autoritären, ja totalitären Strukturen in Schule und Familie, die sie erleiden mußten. Nicht zufällig kam und kommt ein großer Teil der Skins und Nazis aus den Familien von SEDFunktionären. Die Hinwendung zum Rechtsradikalismus ist auch Ausdruck des Protestes gegen elterliche und staatliche Autorität, die als verlogen und verdorben erlebt wurde. Viele junge Menschen sind zutiefst desillusioniert worden durch das, was sie nach der Wende über die DDR und deren Sozialismus erfahren haben. Viele haben sich aus ihrer Identitätskrise in den Rechtsradikalismus geflüchtet. Für andere aber war auch die Zeit nach der Wende schon bald voller Enttäuschungen. Ihr schnell gewachsenes Idealbild von der westdeutschen Demokratie hat durch die Realität allzu schnell Schaden gelitten. Ich denke, meine Damen und Herren, auch die heutige Debatte ist nicht dazu angetan gewesen, solchen Schaden von jungen Menschen, die der Demokratie vertrauen, abzuwenden. ({0}) Besonders in Krisenzeiten wird der Verlust der Geborgenheit, des Glaubens und der Ideale jenen angelastet, die schwächer scheinen und anders sind. Geduldete oder verübte Gewalt gegen Ausländer dient der Verdrängung des eigenen Versagens oder der eigenen Entwurzelung. Geduldete oder verübte Gewalt dient jenen als Ventil, die aus ihrem sozialen Zusammenhang gerissen wurden und das nicht verkraften. Es ist nicht zufällig, daß der laute oder stumme Beifall für rechtsradikale Gewalt gerade aus den sozialistischen Slums gekommen ist. Voller Bestürzung ist in den letzten Wochen viel über Motive und Hintergründe der Ausländerfeindlichkeit in den Medien und in diesem Hohen Haus gesprochen worden. Ich würdige vorbehaltlos die klare, einhellige Verurteilung der Gewalt gegen Ausländer, die vor dieser Debatte aus allen Parteien zu hören war. Mag mir auch erneut Anbiederei an die CDU vorgeworfen werden - ich würdige besonders das klare Wort des Bundeskanzlers, der die Ausländerfeindlichkeit eine Schande für Deutschland genannt hat. Konrad Weiß ({1}) Die schlimmen Geschehnisse der letzten Wochen sind eine Herausforderung an unsere Demokratie, besonders an unsere junge Demokratie in Ostdeutschland. Wir werden ihr nur in der Solidarität aller Demokraten begegnen können. Das sollten wir Deutsche doch gelernt haben, um den bitteren Preis der 12 und der 44 Jahre Knechtschaft willen. ({2}) Wem Deutschland am Herzen liegt, der muß es öffnen wollen für Flüchtinge, für Verfolgte, für Menschen in Not. Es ist auch vor allem eine Ehre, Herr Kollege Schäuble, wenn verfolgte Menschen in Deutschland Zuflucht suchen, und nicht nur eine Last, wie Sie es heute dargestellt haben. ({3}) Ich habe am Montag dieser Woche in meinem Land Brandenburg unangemeldet und ohne Protokoll ein Heim für Asylbewerber besucht. Ich war entsetzt über die Herzlosigkeit, über die kalte Bürokratie, die ich dort im Landkreis Finsterwalde erleben mußte. Das Haus, ein früheres Altersheim, mußte vor vier Wochen in einer Blitzaktion binnen 24 Stunden für die Asylbewerber eingerichtet werden. Bis heute - wir haben jetzt Mitte Oktober - ist das Haus nicht beheizbar. Die Asylbewerber, 15 Männer aus Rumänien, erhielten für die Erstausstattung statt der in Ostdeutschland üblichen 400 DM nur 250 DM und sind nun ohne warme Jacken und Schuhe. Sie erhalten verfaulte Früchte und Essen, das sie nicht vertragen, dürfen aber nicht selbst kochen, obwohl es eine eingerichtete Küche gibt und zwei der Männer Köche sind. Sie müssen in 60 cm breiten Betten aus Volksarmeebunkern schlafen. Ich habe das probiert. Sie haben keine Möglichkeit, sich sinnvoll zu beschäftigen. Einziges Freizeitangebot sind ein paar Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiele und Puzzles aus einem Kindergarten. Die Betreuer - eigentlich müßte ich sagen: die Wachmannschaft - wechseln ständig. Kaum einer ist für diese Arbeit qualifiziert. Zuletzt kamen zwei aus dem Umweltamt. Der verantwortliche CDU-Landrat hat sich nicht ein einziges Mal dort blicken lassen. Sein Kommentar, als im September zum erstenmal Asylbewerber in seinen Landkreis Finsterwalde kamen - ich zitiere - : „Ich habe es mit Bravour verstanden, diese Sache" - ich wiederhole: „diese Sache" - „von uns fernzuhalten. Jetzt mußten wir welche nehmen." Ich denke - hier greife ich das vorhin zitierte Wort des Bundeskanzlers auf -, ein solcher Landrat ist eine Schande für Deutschland und eine Schande für eine christliche Volkspartei. ({4}) Auf der anderen Seite aber habe ich dort im Kreis Finsterwalde auch Menschen kennengelernt, die sich in bewunderungswürdiger Weise um die Asylbewerber kümmern - ich sage nicht, welcher Partei sie angehören - , die unbezahlten Urlaub genommen haben, um zu helfen, um als Gesprächspartner da zu sein. Zweimal haben sie in einer Nacht-und-NebelAktion das Haus evakuiert, um die Bewohner vor anrückenden Skinheads zu schützen, und haben die Asylbewerber bei Familien in der Umgebung in Sicherheit gebracht. Sie sind mit den Asylbewerbern in die Schulen gegangen, um das Gespräch mit den ausländerfeindlichen Jugendlichen zu suchen. Und es ist ihnen gelungen, ein Agreement mit den Rechtsradikalen dort in der Stadt zu schließen. Ich will, stellvertretend für die vielen im Land, die sich in diesen Tagen schützend vor Ausländer stellen, hier im Deutschen Bundestag die Namen der beiden nennen, von denen ich eben berichtet habe: Frau Dorothea Lange aus Friedersdorf und Herr Udo Linde aus Rückersdorf. Ich wünschte mir, daß die deutschen und die ausländischen Medien mehr über solche Frauen und Männer berichten würden, daß nicht nur die Gewaltakte oder der Beifall der deformierten Kleinbürger die Schlagzeilen beherrschen. ({5}) Die Ausländerfeindlichkeit, die Gewalt haben sich wie eine Seuche ausgebreitet. Aber es gibt auch - hier zitiere ich den Gründer der Aktion Sühnezeichen, Lothar Kreyssig - eine „ansteckende Gesundheit" . Diese zu befördern, sollte der eigentliche Auftrag der Medien sein. Ich verstehe sehr gut, daß viele Gemeinden und Städte, besonders in Ostdeutschland, Probleme haben, die große Anzahl von Asylbewerbern menschenwürdig unterzubringen. Wenn Asylsuchende einfach zugewiesen werden, ohne Rücksicht auf die Bedingungen vor Ort, fordert das den Widerstand auch solcher Bürgerinnen und Bürger heraus, die keineswegs fremdenfeindlich sind. Wir alle müssen die Ängste der Bevölkerung vor unbegrenzter und ungesteuerter Einwanderung ernst nehmen. Das gilt für Ost- wie für Westdeutschland. Ich verstehe sehr gut, daß gerade den Menschen in den östlichen Bundesländern, die von der SED jahrzehntelang in Isolierhaft gehalten wurden, alles Fremde noch Angst macht und bedrohlich erscheint. Auch Offenheit und Toleranz müssen erlernt, ja, erarbeitet werden. Die Angst vor dem Teilen ist tief im Menschen verwurzelt, die Angst, sich in seinem Leben und Denken von anderen hinterfragen zu lassen und vielleicht entdecken zu müssen, daß das eigene Auskommen auf dem Mangel eines anderen beruht. Diese Angst macht aggressiv und stempelt den Fremden zum Feind. Gerade diese Angst aber wurde und wird durch die gegenwärtig geführte Asyldebatte geschürt. Ich finde sie beschämend und unwürdig für unser reiches, durch die Wiedervereinigung beschenktes Land. Es kann und darf doch nicht darum gehen, besonders geschickt und trickreich nach Wegen zu suchen, das eindeutige Gebot des Grundgesetzes zu umgehen. Gerade diesen Eindruck aber habe ich, wenn ich den unglücklichen Entwurf des Innenministers zur Änderung des Art. 16 lese. Geradezu hilflos wirkt die Vereinbarung der sogenannten Allparteien, die das Problem anscheinend wirklich nur aus der kosmischen Ferne der Bürokratie betrachtet haben. In Deutschland, das eine Konrad Weiß ({6}) schwere historische Schuld trägt, erneut Sammellager einrichten zu wollen, ist politisch instinktlos, schreckt ab und grenzt aus.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jäger?

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte zuerst meinen Gedanken zu Ende bringen. Meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, hat - das will ich hier in aller Öffentlichkeit sagen -diese törichte Vereinbarung nicht mitgestaltet und nicht unterzeichnet. Bitte, Herr Kollege.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Jäger, bitte.

Claus Jäger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001002, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Weiß, wie können Sie davon sprechen, daß man Art. 16 des Grundgesetzes umgehen wolle, wenn es ausschließlich darum geht, Leute, die eben nicht politisch verfolgt sind, die nicht rassisch verfolgt sind, die nicht religiös verfolgt sind, sondern diesen Art. 16 mißbrauchen, an den Grenzen zurückweisen zu können, während die wirklich Verfolgten weiterhin aufgenommen werden sollen? Wie können Sie da von einer Umgehung sprechen? ({0})

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Sie die Geduld haben, mir weiterhin zuzuhören, werden Sie auch meine Vorstellung dazu hören. Die Absicht, Sammellager einzurichten, widerspricht zutiefst dem Geist des Grundgesetzes, dessen Gebot „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" klarer und eindeutiger nicht sein könnte. Dieser gute, dieser menschliche Satz, den deutsche Frauen und Männer aus der bittersten Erfahrung heraus verfaßt haben, muß ohne Wenn und Aber Verfassungsrecht bleiben. Meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, lehnt eine Änderung des Art. 16 entschieden ab. Aus unserer Sicht kann es auch nicht gelingen, durch ordnungspolitische Maßnahmen, wie sie die Allparteien vorgeschlagen haben, Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen. Wir sind der Auffassung, daß nur ein völlig neuer Politikansatz in diesem Bereich eine Problemlösung bringen kann. Hierzu haben wir Vorschläge zu machen. Wir möchten, daß durch Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes wirklich nur politisch, rassisch oder religiös Verfolgten in Deutschland eine Zuflucht geboten wird. In Ermangelung anderer Möglichkeiten aber müssen gegenwärtig alle, die in Deutschland leben wollen, den Weg über das Asylverfahren suchen. Die hohe Zahl von ausgesprochenen Ablehnungen und die Belastung, die durch die notwendige Einzelfallprüfung entsteht, resultieren allein aus dem Fehlen von Alternativen. Eben weil es keine andere legale Möglichkeit gibt, ist es unlauter, das Einwanderungsbegehren von Menschen aus anderen als durch den Art. 16 des Grundgesetzes definierten Gründen als Asylmißbrauch zu diffamieren. ({0}) Meine Fraktion, die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, schlägt vor, den Art. 16 des Grundgesetzes durch ein Einwanderungsgesetz und ein Flüchtlingsgesetz zu untersetzen. Das Flüchtlingsgesetz soll die Zuwanderung jener Menschen regeln, die aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen in Deutschland Zuflucht suchen. Es definiert ferner die Rechtsstellung jener, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen der Bundesrepublik Deutschland als sogenannte Kontingentflüchtlinge aufgenommen werden. Das von uns vorgeschlagene Einwanderungsgesetz soll der Tatsache Rechnung tragen, daß Deutschland seit langem de facto ein Einwanderungsland ist. Meine Damen und Herren, auch die deutsche Industrie ist - das weiß ich aus Gesprächen - mehrheitlich dieser Auffassung. ({1}) Es schafft Rechtsanspruch und Rechtssicherheit für jene, die aus familiären oder wirtschaftlichen Gründen in Deutschland leben wollen. Damit wird ein neuer, jedoch durch Quotierung zu begrenzender Zugang geöffnet und der Art. 16 des Grundgesetzes unmittelbar entlastet. Jene, die heute als Asylbewerber einreisen und mangels nachgewiesener Verfolgung abgewiesen werden müssen, könnten auf eine von Bundesbehörden geregelte und vorbereitete Weise nach Deutschland kommen und dort ihren Wohnsitz nehmen. Dies bietet die Gewähr, daß die Zuwanderung unter menschenwürdigen Voraussetzungen und sozialverträglich erfolgt. Zugleich soll das Einwanderungsgesetz die Niederlassungsbedingungen für Ausländer in Deutschland regeln und die Rechtsgrundlage für Einbürgerung und Integration bilden. Ich bin mir im klaren, daß ein Einwanderungsgesetz nicht ohne die Festlegung jährlicher Quoten auskommen kann. Dies human und praktikabel zu gestalten, ist besonders sensibel und kompliziert. Hierüber ist der Meinungsbildungsprozeß in der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auch noch nicht abgeschlossen. Vorstellung der Autoren des Einwanderungsgesetzes ist es, die Entscheidung über die Anzahl der Einwanderer und ihre Herkunftsländer jährlich durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, zu bestimmen, also der Legislative die Entscheidungskompetenz zu übertragen. Wir schlagen vor, eine Beauftragte oder einen Beauftragten für Einwanderung beim Deutschen Bundestag zu bestellen, der oder dem eine ständige Kommission für Einwanderung, Flucht und multikulturelle Angelegenheiten zur Seite gestellt wird. In dieser Kommission sollen sowohl Vertreter der Parlamente und der Regierungen von Bund und Ländern als auch der Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, der Ausländer- und Menschenrechtsorganisationen an der Festlegung der jährlichen Einwanderungsquote mitwirken. Konrad Weiß ({2}) Ferner schlagen wir vor, bei der Regierung ein Amt für Einwanderung, Flucht und multikulturelle Angelegenheiten zur Koordinierung und Realisierung der Immigration einzurichten. Bei den vom Auswärtigen Amt ermächtigten Auslandsvertretungen werden Einwanderungsbüros eingerichtet, die für die Beratung der Einwanderungswilligen und die Entgegennahme ihrer Anträge zuständig sind. Die Entscheidung über die Anträge liegt beim Amt für Einwanderung, Flucht und multikulturelle Angelegenheiten. Die Erteilung einer Einwanderungsbewilligung begründet einen Anspruch auf umfassende Leistungen zur Integration, z. B. den Besuch von Sprach- und Orientierungskursen, zur Arbeitsplatz- und Wohnraumvermittlung. Anerkannte Flüchtlinge erwerben nach drei Jahren, Einwanderinnen und Einwanderer nach fünf Jahren einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN wird dieses Einwanderungsgesetz, das ich Ihnen in seinen Grundzügen vorgestellt habe, in Kürze dem Deutschen Bundestag vorlegen. Der Erarbeitung gingen eingehende Beratungen mit Vertreterinnen und Vertretern von Ausländer- und Einwandererorganisationen voraus. Wir würden es begrüßen - das betone ich ausdrücklich - , wenn alle Fraktionen des Deutschen Bundestages unsere Initiative, die eine wirkliche Alternative zur gegenwärtigen unbefriedigenden Praxis anbietet, aufnehmen und unterstützen würden. Ich bin der festen Überzeugung, daß die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen unmittelbar zur Verbesserung unseres Zusammenlebens mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern fruchtbar werden und der latenten Ausländerfeindlichkeit in Deutschland entgegenwirken könnten. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt dem Bundesminister der Justiz Dr. Klaus Kinkel das Wort.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn sagen, daß ich, weil ich kein Bundestagsmandat habe, als Mitglied der Bundesregierung spreche und deshalb auf einige Fragen wie beispielsweise die Notwendigkeit oder Nichtnotwendigkeit einer Grundgesetzänderung leider - wenn ich das hinzufügen darf - nicht eingehen kann. Ich habe mich insoweit mit dem Herrn Kollegen Schäuble abgesprochen. Er hat aus diesem Grunde als Abgeordneter gesprochen und nicht als Bundesminister. Meine Damen und Herren, die Diskussion der letzten Wochen und Monate um das Asylproblem hat, so dringend sie einerseits, so unsachlich, emotionsgeladen und wenig fruchtbar sie andererseits zum Teil war, eines, wie ich meine, sehr deutlich gemacht: Wir stehen alle in der Verantwortung, dieses Problem jetzt wirklich anzupacken und zu lösen, und zwar nicht, indem wir weiter darüber streiten und uns gegenseitig Vorwürfe machen, sondern indem wir jetzt sofort handeln und klare Entscheidungen treffen. Dazu rufe ich auf. ({0}) Das sind wir, wie ich meine, einerseits den Menschen schuldig, um die es bei den Asylfragen geht. Das erwarten vor allem aber auch die Bürger in unserem Land. Ich habe wirklich das Gefühl, daß sie die Streitereien satt sind. Sie wollen Ergebnisse sehen. ({1}) Sie wollen das Gefühl haben, daß die Politik ein in der Sache und vom Rechtlichen her zweifellos schwieriges Problem wirklich in den Griff nimmt und auch in den Griff bekommt. Der Druck aus den Gemeinden ist enorm. Ich habe mich als Bundesjustizminister in den letzten Wochen intensiv vor Ort umgesehen. Leider Gottes muß gleichzeitig festgestellt werden, daß die Akzeptanz für manches, was mit dem Asylproblem zusammenhängt, zunehmend schwindet. Die Ausgangslage ist relativ rasch umrissen. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit ihrem Wohlstand und ihrer Wirtschaftskraft attraktiver Magnet für wirkliche Asylsuchende, aber eben auch für solche, die Armut und Elend entkommen wollen und sich hier ganz einfach ein besseres Leben erhoffen. Die politische Entwicklung in der Welt, vor allem auch die Veränderungen im Osten Europas und die Öffnung der Grenzen lassen - leider - erwarten, daß der Wanderungsdruck in absehbarer Zeit nicht abnehmen, sondern eher noch zunehmen wird. Wir sind wohl überfordert - das ist heute schon mehrfach zum Ausdruck gekommen, und darin besteht wohl auch Einigkeit -, wenn wir all diesen Menschen ein dauerhaftes Bleiberecht in unserem Land gewähren wollten. Das wird nicht möglich sein. Wir können es uns auf Dauer auch nicht leisten, ihnen allen ein Verfahren zur Verfügung zu stellen, das sich über Monate oder gar Jahre hinzieht und damit letztlich doch den Grundstein für einen auf Dauer angelegten Aufenthalt darstellt. Das Ziel ist deshalb sehr klar: Wir müssen diejenigen, die nicht verfolgt im Sinne des Art. 16 sind, möglichst früh, dabei aber human und rechtsstaatlich herausfiltern. Dabei sind wir uns auch einig: Das Grundrecht auf Asyl, geboren als Konsequenz aus eigener leidvoller Erfahrung unseres Volkes, gehört zu den absoluten Grundprinzipien unserer Verfassung. ({2}) Wer wegen seiner Nationalität, seiner Rasse oder Religion oder einfach wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt ist, muß auch zukünftig in unserem Lande Zuflucht finden. ({3}) Ich möchte mich zu diesem subjektiven Recht auf Asyl auch persönlich in ganz besonderer Weise be4236 kennen; einmal auf Grund der Tatsache, daß ich mich in meinem gesamten beruflichen Leben außerordentlich stark mit den unglückseligen Ereignissen des Dritten Reichs befaßt habe; zum anderen auch auf Grund meiner intensiven beruflichen Befassung mit den Sorgen und Nöten in vielen Ländern gerade der Dritten Welt, wo es eben unsägliche menschliche, wirtschaftliche, aber eben auch politische Probleme gibt. Das dürfen wir nicht verdrängen, und das dürfen wir nicht wegdrücken, auch nicht bei einer Debatte, wo wir uns darüber unterhalten, wie wir ein ganz praktisches Problem in den Griff bekommen wollen und müssen. Nun bestehen verschiedene Auffassungen über den besten Weg, wie man dieses Problem, von dem ich sprach, meistern kann, insbesondere auch über die Frage, ob eine Änderung unserer Verfassung, vor allem in Art. 16, notwendig und richtig wäre. Eines steht jedenfalls fest: Für eine solche Verfassungsänderung besteht derzeit im Deutschen Bundestag, wie es aussieht, keine Mehrheit. Deshalb müssen wir uns jetzt auf schnelle und wirksame Maßnahmen unterhalb einer Grundgesetzänderung konzentrieren, und ich bin dankbar dafür, daß das heute eigentlich bei allen Rednern zum Ausdruck kam. Ich sage, daß ein gemeinsamer - ich gehe sogar so weit, zu sagen: gigantischer - Kraftakt, zu dem Bund, Länder und Gemeinden gleichermaßen beitragen müssen, jetzt notwendig ist. Diesen gemeinsamen gigantischen Kraftakt haben wir bei Bund, Ländern und Gemeinden bisher jedenfalls trotz aller erkennbaren Bemühungen auf allen Seiten nicht gemacht. Ich sage es so, weil ich davon überzeugt bin. Die Allparteienrunde beim Bundeskanzler am 10. Oktober hat sich auf ein Bündel von Maßnahmen im Verwaltungs- und Gerichtsbereich, mehr noch, auf ein neues praktisches Regelungsmodell verständigt, und daran haben auch - das möchte ich mit Nachdruck sagen - diejenigen konstruktiv mitgewirkt, die einer Grundgesetzänderung erkennbar den Vorzug geben würden. Die gestrige Sondersitzung der Innen- und Justizminister-Konferenz war schwierig, ich würde sogar sagen, sie war qualvoll. Sie hat über zehn Stunden gedauert, und es ist im wahrsten Sinne des Wortes um die Umsetzbarkeit dieser Zielvorstellungen aus dem Parteiengespräch vom 10. Oktober beim Bundeskanzler gerungen worden. Dabei sind erneut Auffassungsunterschiede über die Wege zur Reform des Asylrechts deutlich geworden, aber - das scheint für mich das Wesentlichste und ganz wichtig zu sein - : wir haben am Schluß doch einen Konsens erzielt. Ich gehe nun wirklich davon aus und appelliere noch einmal, daß sich alle Beteiligten bemühen müssen, alles Menschenmögliche zu tun, damit wir nun zu schnellen praktischen Ergebnissen kommen. ({4}) Diejenigen, die da gestern miteinander gerungen haben, sind ja die Haupthandelnden, die in den Ländern und beim Bund die Verantwortung dafür tragen, daß das, was getan werden soll und kann, auch in der Praxis funktioniert. Es konnte bei der Schwierigkeit der Probleme nicht verwundern, daß dieses Zusammenraufen im wahrsten Sinne des Wortes so schwierig war. Aber das Ergebnis zählt, ich hatte eine Zeitlang nicht mehr daran geglaubt, ich bin froh, daß wir doch ein gemeinsames Ergebnis erzielt haben, weil ich nach der Runde beim Bundeskanzler, ehrlich gesagt, die Sorge hatte, daß in dieser gestrigen Konferenz die Dinge ein bißchen auseinandertreiben könnten. Deshalb würde ich sagen: Über diese Zielvorstellungen nun wirklich ran ans Werk! Ich will dieses Modell der Zielvorstellungen - Sie kennen es - hier nicht im einzelnen erläutern. In Sammelunterkünften sollen diejenigen herausgefiltert werden, die wir trotz allen menschlichen Verständnisses nicht in die Bundesrepublik aufnehmen können, und den Gemeinden - das scheint mir der Kernpunkt zu sein - sollen nur noch die Asylbewerber zugewiesen werden, bei denen davon ausgegangen werden kann, daß sie berechtigte Hoffnung auf Asyl im Sinne des Art. 16 haben. Damit müssen wir vor allem den Druck aus den Gemeinden und aus der Bevölkerung herausnehmen. Wir müssen auch in besonderer Weise prüfen, ob und gegebenenfalls wie über den europäischen Weg Lösungen möglich sind. Da haben sich alle Beteiligten bisher in den Vor- und Hauptbesprechungen bereit erklärt. Ich muß ganz offen sagen, daß ich mir davon einiges verspreche. Ich möchte ein paar Worte zu dem Bereich sagen, für den ich als Bundesjustizminister Verantwortung trage, nämlich zu den gerichtlichen Verfahren. Dabei möchte ich auf das eingehen, was Sie, Herr Ministerpräsident Teufel, gesagt haben. Unser zugegebenermaßen außerordentlich ehrgeiziges Ziel ist, daß die gerichtlichen Entscheidungen in Eilsachen - um die geht es hier ja ausschließlich - in der Regel in ca. 14 Tagen abgeschlossen sein sollen. Voraussetzung dafür ist nach unseren Vorstellungen: grundsätzlich nur noch Einzelrichter in diesem Verfahrensbereich; grundsätzlich nur noch eine Instanz im Rechtsweg; natürlich eine ausreichende Zahl von Richtern und nichtrichterlichen Mitarbeitern bei den Gerichten, was ein ganz wichtiger Punkt ist. Zustellungsfristen, Verwaltungsarbeiten usw. können erheblich verkürzt bzw. beschleunigt werden. Wir haben in der Bundesrepublik 1 820 Verwaltungsrichter in den unteren Instanzen. Bei gutem Willen müßte diese Zahl ausreichen - ich sage das mit Nachdruck und nach langen Überlegungen und auch Gesprächen mit dem Bund der Verwaltungsrichter -, weise allerdings darauf hin, daß mir von dort auch gesagt worden ist, daß es eben vielleicht doch nicht ganz reichen wird und auf die Länder die Forderung und die Notwendigkeit, Herr Ministerpräsident Teufel, zukommen werden, doch noch ein paar Stellen zu schaffen. Sie haben sich erfreulicherweise bereit erklärt, es daran jedenfalls nicht scheitern zu lassen. Weiter ist eine möglichst ortsnahe Unterbringung des Gerichts oder zumindest des zur Entscheidung berufenen Richters notwendig, damit dieser direkt, ohne zeitraubende Übermittlungswege, auf die Verfahrensakten zurückgreifen kann. Er muß den Asylbewerber kurzfristig laden und ihm auch die Entscheidungen zustellen können. Sie wissen, daß ein Hauptproblem unseres derzeitigen Verfahrens darin liegt, daß sozusagen tatsächliche und rechtliche „ Verfestigungstatbestände " dadurch entstehen, daß sehr schnell dezentral den Gemeinden zugewiesen wird und die gesamten Zustellungswege usw. sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Damit mache ich niemandem irgendeinen Vorwurf, sondern stelle nur fest, daß es so ist. Die Ausstattung der Gerichte mit modernster Kommunikationstechnik wird notwendig sein. Ich bitte sehr, daß das auch geschieht. Weiter wird natürlich ein Verfahrensrecht erforderlich sein, das, wie gesagt, auf mehrere Instanzen verzichtet, einen optimalen Einsatz der personellen Ressourcen gewährleistet, frei von Verfahrenshemmnissen, und das den Betroffenen zur Mitwirkung anhält. Vor allem aber - das wird das Entscheidende sein - sind sehr viel guter Wille und natürlich auch große Kooperationsbereitschaft der Richter vonnöten, die wir in der Tat nicht zwingen können, ganz bestimmte Entscheidungen in bestimmter Zeit vorzunehmen. Nach all den Gesprächen, die ich geführt habe, insbesondere auch mit dem Bund der Verwaltungsrichter, bin ich zuversichtlich, daß diese Bereitschaft vom Grundsatz her vorhanden ist; ich baue auf sie. Da es in der Bundesrepublik Beispiele dafür gibt, daß die Fristen, die wir uns vorgenommen haben - ich wiederhole es - , außerordentlich ehrgeizig eingehalten, zum Teil sogar unterschritten werden, sage ich: Das muß doch dann auch an anderen Orten möglich sein. ({5}) Wir sollten uns nicht so sehr auf die Sechs-WochenFrist kaprizieren, die in manchen Fällen sicher nicht eingehalten werden kann. Aber es wird auch schon vom Verwaltungsverfahren her Fälle geben, in denen es schneller geht und auch gehen muß. Herr Ministerpräsident Teufel, ich spreche Sie in besonderer Weise an, weil auch Sie das - für meine Begriffe zu Recht - angesprochen haben: Was wir vorschlagen, ist im Hinblick auf unsere Verfassung, auch im Hinblick auf unsere verfassungsgerichtliche Rechtsprechung und die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nicht problemfrei; das wissen wir. Ich sage in aller Offenheit ganz klar: Bei der Prüfung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten in dieser Notsituation sind wir aber zu dem Ergebnis gekommen, daß dieser Weg im Vergleich mit Fällen vergleichbarer Art - ich denke z. B. an unsere Überlegungen zur Beschleunigung des Aufbaus einer Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern und an andere Fälle - gerechtfertigt und vertretbar ist. Was gesetzlich notwendig ist und vom Bund zu leisten sein wird, wird zur Zeit vom Bundesminister des Innern bzw. von seinen Beamten und den Beamten des Bundesjustizministeriums vorbereitet. Ich verspreche, daß zumindest das in allernächster Zeit vorliegen wird. Ein Wort zu dem, Herr Ministerpräsident Teufel, was Sie zu den offensichtlich unbegründeten Asylfällen bei den Gerichten gesagt haben. Die durchschnittliche Erledigungszeit in der Bundesrepublik für solche Fälle liegt - ungeachtet all der Zustellungsprobleme und aller anderen Hürden, die wir im Augenblick noch haben - im Augenblick bei 3,1 Monaten, die kürzeste Erledigungszeit - übrigens in Schleswig-Holstein - bei 1,1 Monaten. ({6}) Wenn ich jetzt einmal Schleswig-Holstein mit 1,1 Monaten zugrunde lege - ich will mein Heimatland nicht kritisieren; es liegt mit der Erledigungszeit auch sehr günstig, Herr Ministerpräsident - und die Zeit abziehe, die für andere Dinge aufgebracht werden muß, ({7}) müßte die von uns angestrebte Frist aus meiner Sicht grundsätzlich einhaltbar sein. ({8}) Noch etwas zu dem, was Sie dazu gesagt haben, was man in den Hauptherkunftsländern tun müßte und tun könnte: Da sind wir uns einig. Dazu gibt es nichts hinzuzufügen. Nur wird es schwer sein, die finanziellen Mittel aufzubringen, die nötig sind, das aufzufangen, was da an Migrationsbewegungen und sonst auf uns zukommt. Aber das wissen Sie so gut wie ich. Trotzdem, in diesen Bemühungen sind wir uns einig, und da unterstütze ich Sie. Einen Punkt möchte ich noch nennen, obwohl ich hier als Regierungsmitglied spreche: Herr Ministerpräsident Teufel, an dem, was Sie durch eine Grundgesetzänderung in Art. 16 erreichen zu können glauben, habe ich erhebliche Zweifel. ({9}) Aber darüber werden wir uns im politischen Raum auseinandersetzen - wenn ich die Freiheit habe, offen zu reden. So, wie ich Sie kenne, werden wir das dann auch in aller Offenheit miteinander austragen. Ich bin mir völlig im klaren, meine Damen und Herren, daß das Hauptziel, das wir erreichen wollen, die Verfahren in offensichtlich aussichtslosen Fällen einschließlich der Abschiebung in einigen Wochen, jedenfalls möglichst schnell, zum Abschluß zu bringen, sehr hoch gesteckt ist. Manche haben Zweifel an der praktischen Erreichbarkeit; auch das verstehe ich. Aber es ist alternativlos; denn auch bei einer Grundgesetzänderung wären die jetzt vorgesehenen Maßnahmen notwendig. Das ist heute morgen deutlich gesagt worden. Um das gesteckte Ziel zu erreichen, wird es immenser Anstrengungen aller Beteiligter bedürfen, Bund, Länder und Gemeinden, vor allem auch derer, die die Maßnahmen unmittelbar vor Ort in den Gemeinden, in den Verwaltungen und in den Gerichten auszuführen haben. Ich sage aber auch - und ich verbinde damit einen eindringlichen Appell an alle Beteiligten, vor allem auch an die Länder - : Wir können dieses Ziel natürlich nur erreichen, wenn wir es wirklich vorbehaltlos wollen. ({10}) Natürlich kann man niemandem verwehren, skeptisch zu sein. Wenn sich aber Skepsis mit Halbherzigkeit paart, wird es nicht gelingen. ({11}) Deshalb lassen Sie es uns gemeinsam versuchen. Es bleibt uns auch gar nichts anderes übrig. Wir sind gemeinsam zum Erfolg verurteilt. Scheitern wir und bleibt außer einer hochgeputschen und emotionsgeladenen Diskussion wiederum nichts nach, werden wir vor einem politischen Scherbenhaufen mit unabsehbaren Konsequenzen stehen. ({12}) Dabei geht es nicht nur um den Nährboden für die beschämende Welle von Haß und Gewalt, der Ausländer ein Jahr nach der Wiedervereinigung in Deutschland ausgesetzt sind. Dazu ist schon einiges gesagt worden. Aber lassen Sie auch den Bundesminister der Justiz sagen: Das, was an Auseinandersetzungen mit Ausländern und an Übergriffen gegen sie in letzter Zeit geschehen ist, muß uns mit Scham und Empörung erfüllen. ({13}) Im wiedervereinigten Deutschland darf sich aus dumpfen Gefühlen gespeiste Ausländerfeindlichkeit nicht breitmachen. Die Vergangenheit verpflichtet, wie ich finde, gerade das wiedervereinigte Deutschland, mit Ausländern besonders fair und human umzugehen. ({14}) Wir dürfen nicht zulassen, daß gerade die Asyldiskussion von Links- und Rechtsextremisten für eigene Zwecke instrumentalisiert und mißbraucht wird. ({15})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, bitte!

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Ich möchte auch den Straftätern deutlich und klar sagen, daß wir uns gestern bei der Justiz- und Innenministerkonferenz für den präventiven und repressiven Bereich nun wirklich vorgenommen haben, gegen die Straftäter mit der vollen Schärfe und Härte des Gesetzes vorzugehen. ({0}) Es geht vor allem auch um die berechtigte Hoffnung der Menschen in unserem Land, daß sich die Politik in einer schwierigen Situation als handlungsfähig erweist. Es geht um den immensen Vertrauensverlust - das ist mir fast das Wichtigste - , der entstehen würde, wenn diese Erwartung enttäuscht würde. Deshalb möchte ich Sie auffordern - und das meine ich sehr ernst - , gemeinsam alles zu tun, damit das nicht eintritt. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Ulla Jelpke das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann hier meine Betroffenheit nicht verhehlen, daß heute morgen hauptsächlich an der Kampagne gegen das Asylrecht weiter gebastelt worden ist, daß hier weiterhin von „Scheinasylanten" und „Sozialschmarotzern" gesprochen wird, ({0}) ja, daß hier sogar ein Wetteifern von Ministerpräsidenten stattfindet, die Sammellager offenbar schon viele Jahre eingerichtet haben und sich darüber freuen, daß Sie hier noch mehr einrichten wollen. Meine Damen und Herren, gerade in diesen Wochen und Monaten ist es notwendig, ein Plädoyer für die Menschenrechte und die Vernunft zu halten. Eine Welle der nationalistischen und fremdenfeindlichen Hysterie überschwemmt dieses Land. Vom Fremdenhaß und dem Gedanken, sich gegen angebliche Flüchtlingsströme wehren zu müssen, sind auch breite Kreise erfaßt worden, die noch vor wenigen Jahren anders dachten. Heute werden einfach keine Tatsachen und Fakten mehr zur Kenntnis genommen. Zu den Zahlen der Asylbewerber und Asylbewerberinnen in diesem Jahr ist festzustellen, daß die meisten Flüchtlinge z. B. aus Jugoslawien kommen, nämlich 38 000. Aus Rumänien kommen 29 000, aus der Türkei 16 500, aus Bulgarien 8 000, aus dem Iran 7 000, aus Afghanistan 6 000 usw. Dies sind Länder, in denen anerkanntermaßen Verfolgung, Krieg und Not herrschen. Ein besonders zynischer Schreiber der „Frankfurter Allgemeinen" hat diese Zahlen zum Anlaß genommen, in einem Kommentar zu schreiben, daß eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes eine nur begrenzte Wirkung hätte, weil - ich zitiere - „die dadurch erreichbare Senkung der Bewerberzahlen gering" sei. Sein Tip in Richtung SPD: Sie könne also ruhig mit Hand anlegen, wenn es darum geht, den Art. 16 des Grundgesetzes endgültig wegzuhauen. Der Schreiber der „Frankfurter Allgemeinen" ist deshalb ein Demagoge, weil in dieser Zeitung seit Monaten gegen sogenannte Scheinasylanten und Armutsflüchtlinge gehetzt worden ist und weiter gehetzt wird. Da er, was die Zahlen betrifft, ausnahmsweise einmal recht hat, liegt es doch eigentlich näher zu fragen: Wieso die Hetze gegen Asylsuchende? Wieso Kanzlerrunden, in denen das Asylverfahren faktisch ausgeschaltet wird? Wieso immer wieder neue Sondergesetze gegen Flüchtlinge? Aus den Zahlen, die ich eben genannt habe, ergibt sich eindeutig, daß in dieser Richtung kein Handlungsbedarf besteht. Meine Damen und Herren, wenn man sich vor diesem Hintergrund die von der SPD vorgelegten Anträge anschaut, dann muß man feststellen: Die SPD hat mit ihrem Antrag, der mit „Ausländerfeindlichkeit" überschrieben ist, der Heuchelei die Krone aufgesetzt. Angeblich will die SPD jede Form der Ausländerfeindlichkeit verurteilen. Für mich ist es immer wieder interessant, in der „Welt" zu lesen, wenn SPD-Abgeordnete des Bayerischen Landtags der CSU vorwerfen, sie seien wegen ihrer Asylpolitik „Brandstifter". Ich teile diese Ansicht. Mit fällt es allerdings schwer, die Differenzen zwischen der CDU/CSU auf der einen Seite und der SPD auf der anderen Seite zu erkennen. ({1}) Die SPD hat sich mit ihrem Kanzlerrundenkompromiß gegen wesentliche Prinzipien des Rechtsstaates gestellt, ({2}) indem sie den Rechtsweg der Asylbewerber und Asylbewerberinnen in verfassungswidriger Weise beschneiden will. ({3}) Auch das ist völkisch. Für Asylsuchende hat es in der Vergangenheit schon eine sehr restriktive Rechtsprechung in den Anerkennungsverfahren gegeben. ({4}) Wenn man bedenkt, daß die Anerkennungsquote von Asylbewerbern und Asylbewerberinnen aus Sri Lanka in Frankreich bei 40 % lag, während die bundesdeutsche gleich Null war, dann kann mensch sehen, wie rigide hier schon bisher vorgegangen worden ist. Dadurch aber, daß demnächst Schnellrichter über Asylanträge zu entscheiden haben - Herr Kinkel hat es ja eben ausgeführt - , wird das Asylverfahren zur Farce. Faire Gerichtsverhandlungen sind für diese Menschengruppen nicht mehr vorgesehen. Bewußt wird damit eine gewissenhafte Prüfung der Fluchtgründe umgangen. Der rechte Staatsrechtler Professor Martin Kriele, der mir weiß Gott nicht nahesteht, fordert in der „Welt" vom 16. Oktober 1991 - ich zitiere -: In allen Stadien des Verfahrens muß gesichert sein, daß der Grundrechtsträger nicht vorzeitig in ein Heimatland abgeschoben wird, wo ihm womöglich willkürliche Verhaftung, Verfolgung, Folter oder Ermordung drohen. Die Verfahren werden viele Monate, oft sogar Jahre erfordern. Meine Damen und Herren, daran hat man aber offenbar kein Interesse. Das Leben und die Gesundheit der Flüchtlinge sind auch in den Augen der SPD nicht viel wert. Hier wird eine besonders perfide Form des institutionalisierten Rassismus betrieben. Ich möchte auch die SPD darauf hinweisen, daß heute - ich mache seit vielen Jahren Knast-Arbeit - viele Flüchtlinge freiwillig in den Knast gehen, Straftaten begehen, weil sie lieber im bundesdeutschen Knast sind, als in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden. ({5}) Das zeigt sehr deutlich, wie unmenschlich im Moment mit den Abschiebungen verfahren wird, wie unmenschlich diese Menschen behandelt werden. Weiter gehört aber dazu, daß Flüchtlinge in Sammellager gepfercht werden und daß sie nur noch Sachleistungen und keine Sozialhilfe mehr erhalten sollen. Vor Jahren hat dies die SPD zu Recht - ich zitiere - als „Quälerei" bezeichnet, als eine „inhumane Abfütterung" , als „Zwangsernährung". Heute sind die Sozialdemokraten diejenigen, die Kasernierung wollen, die die Quälerei im großen Stil betreiben ({6}) und die Unmenschlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben haben. ({7}) Sie brauchen nur in die SPD-Bundesländer zu gehen; dort können Sie sich davon überzeugen. ({8}) Meine Damen und Herren, dazu gehört auch, daß nicht nur die Außengrenzen noch mehr gesichert werden, daß man die Wacht an Oder und Neiße will und daß Flüchtlinge einer erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen werden sollen. Die datenmäßige Erfassung und Registrierung dieser Menschen zeigt nach außen erstens, daß sie kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung haben, zweitens, daß sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge wie potentielle Straftäter behandelt werden - wie wir hier heute sehr klar und deutlich verfolgen konnten. Heute stellen sich führende CSUler zynisch vor die Öffentlichkeit und äußern, daß der Fraktionen-/Parteien-Kompromiß verfassungswidrig ist, daß sie aber die Beschlüsse umsetzen werden. Sie, meine Damen und Herren von der CSU, warten geduldig darauf, daß dieser Kompromiß vom Bundesverfassungsgericht kassiert wird, um dann die Grundgesetzänderung durchziehen zu können. Sie, Herr Bundesminister Schäuble - er ist ja nicht mehr hier, wie ich sehe -, ({9}) schließen darüber in der Öffentlichkeit sogar zynische Wetten ab. Das halte ich für ausgesprochen makaber. Der SPD muß man hier attestieren, daß sie durch die völlige Aushöhlung des Asylrechts und -verfahrens die nötige Dreckarbeit dafür ausführt. ({10}) Heute ist der Unterschied bezüglich der Änderung des Art. 16 meiner Meinung nach nur noch winzig klein. Als ehemalige GRÜNE kann ich es mir nicht verkneifen, hier auch zu den Positionen der GRÜNEN Stellung zu nehmen. ({11}) Ich stelle fest, daß das Bündnis 90/GRÜNE mit seiner Politik alles stützt. Die Realpolitiker dieser Partei haben faktisch alles widerspruchslos geschluckt, was ihnen da vorgesetzt worden ist. Nicht einmal eine Drohung war es ihnen wert, irgendeine Landesregierung - ich meine z. B. Niedersachsen oder Hessen - zu verlassen, ({12}) wenn die Beschlüsse umgesetzt werden, d. h. wenn die Angriffe auf das Asylrecht und auf das -verfahren stattfinden. ({13}) Statt dessen werden jetzt auch von den GRÜNEN Sammellager und ähnliche Einrichtungen als humane Unterkünfte bezeichnet. ({14}) - Ich gehe von Äußerungen der GRÜNEN aus, Herr Weiß. Es ist bezeichnend, daß das Bündnis 90/GRÜNE heute wortwörtlich eine „feierliche Erklärung" von der Präsidentin Rita Süssmuth hier als Entschließungsantrag vorlegt. Hier im Bundestag soll über eine Erklärung abgestimmt werden, in der von der Bewältigung der Probleme die Rede ist, die angeblich aus der ständig steigenden Zahl von Asylsuchenden resultieren, eine Erklärung, in der die Strafvollzugsbehörden aufgefordert werden, unnachgiebig vorzugehen, eine Erklärung, in der die eigentlichen Pogrom-hetzer in der Bundesregierung, den Landesregierungen und in den Kommunalparlamenten nicht benannt werden. Kein Wort der Kritik und Auseinandersetzung in Richtung ihrer eigenen grünen Parteifreunde, die bei den Verschärfungen mitmachen. Dafür aber die Ankündigung eines eigenen Einwanderungsgesetzes, bei dem sich die GRÜNEN als Vizewachtmeister anbieten, wer welche Flüchtlinge aus welchem Land in der BRD wann und wie aufnimmt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Jelpke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hoyer?

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Nein, ich möchte in meiner Rede fortfahren, weil ich davon ausgehe, daß es eh nur unsachlich ist. ({0}) Die GRÜNEN wissen dies ganz genau. Ich erinnere an den heutigen Antrag, der vorliegt, mit dem sogar ein jährliches Gesetz gefordert wird, in dem jährliche Quoten festgehalten werden sollen, welche Ausländer in dieses Land dürfen und welche nicht. Ich halte das für eine politisch skandalöse Position. Meine Damen und Herren, gestern haben sich die Innenminister und die Justizminister getroffen. Eigentlich wurde dieses Treffen anvisiert, um über den Nazi-Terror gegen Flüchtlinge und Immigranten zu debattieren. Wie „dpa" aber meldet, trat dieses Thema „in den Hintergrund" . Die Minister der Länder hatten sich darauf verständigt, daß ihrer Meinung nach eigentliche Problem, die Beschleunigung des Asylverfahrens, in den Griff zu bekommen. Das spricht für sich. Daß es in diesem Jahr bisher 1 000 Angriffe gegen Ausländerinnen und Ausländer, gegen ihre Unterkünfte und Wohnungen gegeben hat, mit Toten und Schwerverletzten - davon allein 700 seit August, seit die Hetzkampagne in den Medien und Parteien gegen die Flüchtlinge losgetreten worden ist - , wird hier als Randproblem gesehen. Daß der Generalbundesanwalt bisher in Sachen „Faschistenterror" in zwei Fällen ein Strafverfahren eingeleitet hat, in denen, wie er es nennt, „ein vager Anfangsverdacht bestehe" wegen terroristischer Vereinigung, zeigt zumindest die ganze Unlust, mit der hier agiert wird. BKA-Präsident Zachert stellt sich öffentlich als ratlos dar. ({1}) - Ja, den kenne ich auch. Darüber bin ich allerdings nicht sehr erfreut, muß ich ehrlich gestehen. Laut „Frankfurter Allgemeine" vom 17. Oktober 1991 bezeichnet er es „zum gegenwärtigen Zeitpunkt als sehr schwierig, zu entscheiden, ob die Vorfälle aus Gründen der politischen und ideologischen Äußerung oder aus blankem Ausländerhaß und Lust an der Randale begangen worden sind". Herr Zachert will also selbst nach den historischen Erfahrungen des deutschen Faschismus Ausländerhaß immer noch nicht als politisch motiviert begreifen. Das hochgerüstete BKA, ({2}) eine der modernsten Polizeizentralen der Welt, zeigt sich machtlos. Dabei wurde nahezu jede zusätzliche Ermächtigung der letzten Jahre mit Prävention, Bewahrung der inneren Sicherheit und Ordnung, Fähigkeit zur Vorfeldermittlung begründet. Mensch erinnere sich: Ein Brandanschlag der RAF auf ein Kaufhaus reichte aus, um bundesweit Fahndungen auszulösen und den Apparat der inneren Sicherheit auszubauen. Gegen Tierschützer wurde wegen terroristischer Vereinigung ermittelt. Wenn aber Neonazis 70 Brandanschläge auf Unterkünfte von Asylsuchenden und auf Wohnungen von Ausländerinnen und Ausländern durchführen, ist man ratlos. Wenn Neonazis einen Brandanschlag auf eine Unterkunft für Asylsuchende durchgeführt haben, dies öfUlla Jelpke fentlich vor laufenden Fernsehkameras zugeben und einen weiteren geplanten Anschlag ankündigen, dann kann der Generalbundesanwalt nicht das Wirken einer terroristischen Vereinigung erkennen. Meine Damen und Herren, ich will hier nicht behaupten, daß die Ermittlungs- und Justizorgane auf dem rechten Auge blind sind. Ich meine, dies wäre eine zu krasse Beschönigung der tatsächlichen Verhältnisse. Es fehlt der Wille, überhaupt etwas zu tun; denn es geht ja auch anders. Wenn man sieht, wie schnell es geht, BGS-Einheiten und Sondereinsatzkommandos der Polizei gegen antifaschistische Demonstranten in Hoyerswerda vorzuschicken, wie schnell BGS-Einheiten an die polnische Grenze kommandiert wurden, um den Übertritt von Flüchtlingen zu verhindern, und wie schnell die Innen- und Justizminister beschlossen haben, die Beschleunigung des Asylverfahrens und die Konzentrierung von Asylsuchenden in Sammellagern zu diskutieren, dann ist darin deutlich die Gewichtung unserer regierenden Politiker zu erkennen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Jelpke, ich muß Sie bitten, mit Ihrer Rede zu Ende zu kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja. ({0}) - Ja, das finde ich auch. Ich hätte gern noch ein bißchen mehr gesagt. Ein Abschlußsatz. Es bleibt dabei: Antifaschisten und Antifaschistinnen müssen weiterhin aktiv sein. Die Unterstützung der PDS/Linke Liste bieten wir an. Ich rufe alle Menschen, die sich Rassismus und Naziterror widersetzen, auf, an der Demonstration am 9. November 1991 in Berlin und an anderen Demonstrationen teilzunehmen. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Jelpke, Sie haben in Ihren Ausführungen über Pogromhetzer in der Bundesregierung gesprochen. Ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf. ({0}) Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zu einigen Kurzinterventionen. Die erste Kurzintervention hat Herr Kollege Duve angemeldet. Bitte sehr.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schäuble, Sie hatten mich heute morgen in Ihrer Rede, die Sie als Abgeordneter des Hauses und nicht als Bundesinnenminister gehalten haben, mehrfach angesprochen. Ich möchte Ihnen jetzt begründen, warum ich Zwischenrufe gemacht habe. Sie haben der Angst der Deutschen vor Asylbewerbern eine halbe Stunde gewidmet, und Sie haben der Angst Tausender und Abertausender von Ausländern vor Attacken, ({0}) vor Gewaltanwendung durch Deutsche eine knappe Minute gewidmet. Sie sind aber auch Bundesinnenminister. Wir hätten hier heute morgen erwartet, daß Sie bekunden, was Sie dazu sagen, daß wir einen organisierten Gewaltterrorismus im Lande haben ({1}) und daß wir eine solche Angst in der Bevölkerung vor solchen Gewaltaktionen seit Kriegsende noch nicht hatten wie jetzt; nur, daß die Menschen, die Angst haben, eben keine deutschen Bürger sind, sondern Ausländer. Diese Angst hat inzwischen viele, viele Menschen erfaßt, nicht nur Asylbewerber. ({2}) Des weiteren möchte ich sagen, daß meine Erfahrung der letzten Woche zeigt: Die übergroße Mehrheit der Deutschen lehnt diese Gewalt ab. ({3}) Ich hoffe, daß von diesem Bundestag - ich hatte dies bereits von dieser Debatte gehofft - eine solche wirkliche, in die Tiefe gehende Diskussion und Ablehnung dieser Gewalt insgesamt zustande kommt. ({4}) Ich möchte mich hier ({5}) ganz ausdrücklich bei den Hunderten von Menschen bedanken, die sich in den letzten Wochen vor Asylantenheime zum Schutz gestellt haben. Ich möchte mich ausdrücklich auch bei den Mitarbeitern bedanken, die in diesen Einrichtungen in den letzten Wochen in eine ganz schwierige Lage gekommen sind. Dieser Dank sollte auch vom Bundestag ausgehen; denn die Polizei hat diesen Schutz bis jetzt nicht gewährleistet. Wir können nicht sehen, daß in ähnlicher Weise wie in den 70er Jahren, als es den organisierten Terrorismus gab, die Bundesregierung dieses zu ihrem Thema gemacht hat: daß es organisierten Gewaltterrorismus gegen Mitbürger bei uns hier wieder gibt. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Duve, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich erteile jetzt zu einer Kurzintervention das Wort dem Kollegen Johannes Gerster.

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Erstens. Das Protokoll des Bundestags wird ausweisen, Herr Kollege Duve, daß Sie heute morgen vom Beginn der Rede des Johannes Gerster ({0}) Bundesministers an durch Zwischenrufe versucht haben, diese Rede zu stören. ({1}) Insofern kann es gar nicht um den Gegenstand gehen, den Sie eben angesprochen haben; es geht um ganz andere Gegenstände. Zweitens. Der Bundesinnenminister, Herr Duve, hat ständig und wiederholt durch Erklärungen auf das Problem „Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele" hingewiesen, hat Scham bekundet, hat sich davon distanziert und hat, etwa gestern mit den Innen- und Justizministern, alle Mittel und Methoden eingesetzt, damit die schnellstens bestraft und zur Verantwortung gezogen werden. Drittens. Was ich bedaure, ist, daß es Ihnen ja gar nicht um diesen Komplex geht. Es geht um etwas anderes. Sie wollen den Eindruck erwecken, daß eine Seite des Hauses Gewalt ablehnt und die andere Gewalt befürwortet. ({2}) Das ist eine perfide Methode, genauso wie die, ({3}) ein manipuliertes Interview von mir im Westdeutschen Rundfunk in unkollegialer Weise zu kommentieren. ({4}) - Würden Sie mich bitte ausreden lassen! - Ich komme auch gleich zum Schluß. Herr Präsident, meine Damen, meine Herren, inzwischen liegt das Protokoll der Rede von Frau DäublerGmelin vor, und ich darf zitieren, was sie zum Herrn Kollegen Rühe ausgeführt hat: ({5}) Ich will Ihnen dazu noch etwas sagen, Herr Rühe, was Sie vielleicht zum Nachdenken bringt - gerade, wenn Sie dieses nicht beabsichtigt und auch nicht einkalkuliert haben sollten - : Es gibt Sätze, an denen man Schreibtischtäter erkennt. ({6}) Verehrte Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ({7}) der Begriff „Schreibtischtäter" steht, wie Sie wissen, für Personen - fast möchte ich sagen: für Unpersonen -, welche die politische und persönliche Verantwortung für den Holocaust und damit für einen millionenfachen Mord an Juden tragen. Ich fordere Sie mit allem Nachdruck und in aller Ruhe auf, ({8}) diesen Begriff zurückzunehmen und sich beim Herrn Kollegen Rühe zu entschuldigen. ({9})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Gerster, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich kann es nicht zulassen, daß Sie fortfahren. Zur nächsten Kurzintervention geht das Wort an die Frau Kollegin Renate Schmidt.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Abgeordneter Schäuble, ich wende mich mit meiner Kurzintervention auch an Sie. - Ich habe die heutige Debatte so aufgefaßt und das Ziel darin gesehen, daß sie einer Befriedung dienen, ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Angst nehmen sollte. ({0}) Ich bin der Meinung, daß Sie mit Ihrer Rede diesem Ziel heute einen Bärendienst erwiesen haben. Dazu hätte nämlich gehört, daß wir uns befleißigt hätten, alle gemeinsam in diesem Hause, der Entmenschlichung von Menschen entgegenzuwirken, ({1}) nicht mehr von Asylströmen zu reden, sondern klarzumachen, daß es sich hier um Menschen handelt, weil es nämlich irgendwann einmal ehrenhaft wird, sich gegen Ströme oder Fluten zu stellen. Dazu hätte gehört, die Probleme auf das ihnen gebührende Maß zurechtzustutzen. Dazu hätte gehört, daß wir nicht mehr den Eindruck erwecken - welche Lösung auch immer wir vorschlagen mögen - , es gäbe eine Patentlösung im Zusammenhang mit der Flüchtlingsbewegung auf der ganzen Welt. ({2}) Dazu hätte gehört, daß wir uns an die zwei Drittel der Menschen in unserem Land wenden, die stolz sind auf die Offenheit, die diese Gesellschaft praktiziert. ({3}) Dazu hätte gehört, daß wir nicht nur kein Verständnis für den Terror von rechts - das haben wir hier bereits mehrfach geäußert - , sondern auch nicht das leiseste Verständnis und nicht die leiseste Entschuldigung für die vielen haben, die - ich verwende ausdrücklich nicht das Wort „klammheimlich" - verhaltene oder weniger verhaltene Sympathie für Terroristen von rechts äußern. Dies hätte diese Debatte heute zeigen müssen. Sie haben aber eine Debatte geführt, in der Sie dieses Thema dazu verwendet haben, sich als künftiger Vorsitzender Ihrer Fraktion zu profilieren. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort zu einer Kurzintervention der Frau Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf an das anknüpfen, was Frau Schmidt sagte, und ich wäre ganz dankbar, wenn der Kollege Gerster, der mich angesprochen hat, einen Moment zuhören könnte. Unser Ziel heute war, eine gemeinsame Erklärung und ein gemeinsames Signal gegen Ausländerfeindlichkeit abzugeben. Unser gemeinsames Bemühen, auch dann, wenn wir die Probleme des Asylverfahrens anpacken, muß sein, die Entmenschlichung von Menschen - wie Frau Schmidt das nannte - zu verhindern oder - dazu forderte uns Bischof Lehmann auf - im Flüchtling den Menschen zu sehen. ({0}) Der böse Satz von Herrn Rühe, den er gezielt und gewollt vorgetragen hat, Herr Gerster, ist Teil einer Doppelstrategie und bewirkt das Gegenteil. Dies habe ich hier herausgestellt. Ich habe ihm nicht unterstellt - ich bin Ihnen dankbar, daß Sie dies in Ihrem Vortrag wenigstens zum Teil vorgelesen haben - , daß er das will. ({1}) Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, daß die Auswirkungen trotzdem vorhanden sind. Ich habe ihn gebeten, diesen Satz zurückzunehmen, und dabei bleibe ich. Ich will mich jetzt gar nicht über Zwischenrufe beschweren. Aber Herr Gerster: Ich empfehle Ihnen, das Protokoll durchzulesen. Da finden Sie reihenweise Ausdrücke, und zwar auch Ausdrücke von Ihnen, nicht persönlich, ({2}) von Ihren Kollegen, die in jedem anderen Parlament sicher mit Ordnungsrufen versehen worden wären. Ich habe den Eindruck, Sie sollten Herrn Rühe dazu auffordern, diesen bösen Satz zurückzunehmen. Dann - da haben Sie völlig recht - würde sich mein mahnendes Wort völlig erübrigen. Ich warte darauf, daß Herr Rühe das zurücknimmt. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich lasse noch eine Kurzintervention zu. Das Wort dazu hat Frau Birgit Homburger.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Verhalten einiger Kollegen in dieser Debatte, vor allen Dingen aber auch die Wortwahl und insbesondere der Inhalt der Kurzinterventionen tragen überhaupt nicht dazu bei, gemeinsam das Problem zu lösen. Sie tragen nur dazu bei, sich gegenseitig bloßzustellen. Ich muß sagen: Ich finde diesen Vorgang beschämend für das Parlament. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, wir fahren in der Reihe der Wortmeldungen fort. Ich habe noch elf Wortmeldungen vorliegen. Der Zeitbedarf - auch das will ich sagen - würde unter diesen Umständen weit über das hinausgehen, was als Debattendauer vereinbart ist. Wir werden die Wortmeldungen vor 14.30 Uhr nicht abwickeln können. Ich sage das vorsorglich. Nun hat der Landesminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Herr Jürgen Trittin, das Wort. Minister Jürgen Trittin ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in der Bundesrepublik eine generalstabsmäßig organisierte Kampagne gegen Flüchtlinge. Mit Musteranträgen für Räte und Kreistage, mit fertig erstellten Pressemitteilungen schürt die CDU die Fremdenangst. Sie alle kennen diese Texte. ({1}) Nachdem die CDU mit diesen Vorlagen aus dem Konrad-Adenauer-Haus in Niedersachsen Wahlkampf gemacht hat, ({2}) hat sich nicht nur die Stimmung gegen Ausländer deutlich verschlechtert. Es ist in unserem Land ein sprunghaftes Ansteigen von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte zu verzeichnen. ({3}) Es vergeht kaum eine Nacht, in der die - meist männlichen - jugendlichen Neonazis nicht wieder einmal zuschlagen. Ich sage ganz deutlich: Parallelität ist nicht Kausalität. Parallelität der beiden Ereignisse schließt aber eine Kausalität auch nicht aus. Die Kampagne, die da von Herrn Rühe angerührt wurde, sollte Angst erzeugen. ({4}) Angst aber erzeugt Haß, Haß leider auch Aggression und Gewalt. Wer mit Fremdenangst auf Stimmenfang geht, muß sich die Frage gefallen lassen, ob er für das Echo in Gestalt von Steinen nicht auch mitverantwortlich sein kann. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rühe? - Bitte schön, Herr Kollege Rühe.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Trittin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es in dem Schreiben, was ich auf Grund eines Beschlusses des Bundesvorstandes meiner Partei an alle Mandatsträ4244 ger in den Kreisverbänden, Kreisversammlungen und Landtagen geschickt habe, folgendermaßen heißt: Für die CDU ist das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl unantastbar. Wer aus politischen, ({0}) - Ich werde ja wohl noch aus meinem eigenen Schreiben zitieren können, zumal das von Ihnen nicht zitiert wurde. ({1}) religiösen oder rassischen Gründen verfolgt wird, muß in der Bundesrepublik Deutschland selbstverständlich Aufnahme und Schutz finden. Um das Recht auf Asyl auch für die Zukunft zu sichern, muß sein Mißbrauch mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verhindert werden. Dann möchte ich noch eine Passage aus dem Schluß des Briefes zitieren, weil auch das in der öffentlichen Diskussion verkürzt wiedergegeben wird: ({2}) Ich bitte Sie daher, in den Kreisverbänden, in den Gemeinde- und Stadträten, den Kreistagen und in den Länderparlamenten die Asylpolitik zum Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern, gegenüber den Bürgern zu begründen, warum Sie sich gegen eine Änderung des Grundgesetzes sperrt, oder aber öffentlich die Bereitschaft zu bekunden, sich innerhalb der eigenen Partei für eine Änderung der bisherigen Politik einzusetzen. Soweit ein entscheidender Satz aus diesem Brief. Minister Jürgen Trittin ({3}): Herr Rühe, ich kenne diesen Brief. Ich kann Ihnen eines ganz deutlich sagen: diese Kampagne ist so umgesetzt worden, daß im Landkreis Peine die CDU Plakate aufgehängt hat mit der Überschrift: Wer keine Scheinasylanten will, der muß CDU wählen. ({4}) Meine Damen und Herren, das ist die Wirklichkeit, die Sie zu verantworten haben. Ich möchte an dieser Stelle in aller Deutlichkeit auch auf die Frage der Verantwortung kommen, die der Bund in dieser Situation hat.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich darf Sie fragen, ob Sie noch eine Zwischenfrage zulassen. Minister Jürgen Trittin ({0}): Ich würde gern erst einmal den Gedanken soweit fortsetzen. Meine Damen und Herren, ein großer Teil der Probleme, die Gemeinden und Städte in diesem Lande bei der Unterbringung etwa von Flüchtlingen haben, ist eindeutig vom Bund zu verantworten. ({1}) Ist es etwa nicht Ihr Versagen, Herr Bundesminister des Innern, wenn die Zahl der unerledigten Fälle von Dezember 1990 bis September 1991 von etwas über 100 000 auf mehr als 206 000 angestiegen ist? Und ist es nicht Ihr Versagen, wenn auf Grund der unzureichenden Personalausstattung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die durchschnittliche Dauer des Verwaltungsverfahrens von der Anhörung bis zum Erlaß eines Bescheids heute mehr als 60 Tage beträgt? Ich sage ganz deutlich: Die Behauptung, der Bund verfüge hierfür nicht über das ausreichende Personal, ist eine faule Ausrede. Allein in diesem Jahr hat die zentrale Ausländerbehörde des Landes Niedersachsen die Zahl ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um mehr als ein Drittel und ihre Arbeitskapazität um mehr als 50% gesteigert. Wir mußten diese Menschen einstellen. Ich frage Sie: Wenn wir dazu in der Lage waren, warum konnte der Bund seine Kapazität dann nicht entsprechend ausbauen? Während wir heute in der Lage sind, die Erstaufnahme von Flüchtlingen samt aller Anhörungen bis zur Verteilung auf die Gemeinden in neun Werktagen zu erledigen, schiebt das Bundesamt einen täglich wachsenden Berg von Entscheidungen vor sich her. Sie mögen die Generosität der Länder anerkennen, daß in einer Situation, in der der für dieses Versagen des Bundes verantwortliche Minister den Ländern arrogante Ultimaten stellt, diese Länder sich bereit erklären, den Bund aus seiner hausgemachten Personalklemme herauszuhelfen. Wir tun dies, weil wir die Zusammenfassung der asylrechtlichen und ausländerrechtlichen Entscheidungen in einer Hand für eine sinnvolle Überlegung halten, die im übrigen seit Jahren von allen Flüchtlingsorganisationen gefordert wird. Es macht keinen Sinn, mit einem riesigen Aufwand die Asylberechtigung eines Flüchtlings zu prüfen, wenn man am Schluß feststellen muß, daß auf Grund eines bestehenden Abschiebestopps der Flüchtling unabhängig vom Ausgang seines Asylverfahrens hier ein Bleiberecht hat. Die Entscheidung hierüber ist schnell und umgehend zu treffen, und dann sind diese Menschen schnell in den Gemeinden unterzubringen. Dies umzusetzen ist eine alte Forderung des Landes Niedersachsen. Die Bundesregierung ist darüber hinaus aber auch direkt für die Probleme und Zustände in Kommunen verantwortlich. Die über den gewachsenen Zugang hinaus gestiegene Zahl von Erstaufnahmen hat die Kapazität der zentralen Anlaufstelle Niedersachsens bei weitem überfordert. Ich sage ganz deutlich: Dieses Problem wäre lösbar gewesen. Es stehen in Niedersachsen, in Bramsche und Osnabrück, rund 4 000 Plätze in Grenzdurchgangslagern leer. Wiederholte Bitten meinerseits, diese Plätze vorübergehend - vorübergehend! - und nur für die Erstaufnahme von Flüchtlingen zur Verfügung zu stellen, wurden abschlägig beschieden. Statt dessen mußten in Hannover und auch in Osnabrück Flüchtlinge in Zelten untergebracht werden. Als in dieser Situation Hannover dann eine ehemalige Grenzschutzkaserne für die Erstaufnahme benutzte, wurden wir als zuständiges Ministerium vom Bundesinnenministerium angehalten, die Stadt Hannover darauf zu verweisen, daß dies so nicht gehe. Mit Minister Jürgen Trittin ({2}) anderen Worten: Die Menschen sollten also offensichtlich nach dem Willen der Bundesregierung in Zelte gepackt werden. ({3}) Meine Damen und Herren, dieses - ich sage das bewußt - skandalöse Verhalten des Bundes drängt im Zusammenhang mit der Kampagne der CDU eine Schlußfolgerung förmlich auf: Ist es vielleicht Absicht, einen Unterbringungsnotstand zu visualisieren, um der Stimmung vom angeblich überfüllten Boot auch Glaubwürdigkeit zu verleihen? ({4}) Hier wird doch mit bürokratischen Entscheidungen Ausländerfeindlichkeit gefördert. Ich füge aber hinzu: Ein langsames Verfahren ist kein menschliches Verfahren. Die Ungewißheit über eine Entscheidung in einer für Flüchtlinge existentiellen Frage muß gesehen werden. Eine Entscheidung muß zügig und schnell erfolgen. Ebenso wie Verwaltungsentscheidungen gerichtlich überprüfbar sein müssen, ist es aber auch notwendig, bei Gerichtsentscheidungen für eine bestimmte Form von Vereinheitlichung der Rechtsprechung Sorge zu tragen. Dies setzt zwingend, auch in Eilverfahren, mindestens die Möglichkeit zu einer Zulassungsrevision voraus. Nur so ist ein schnelles Verfahren auch ein gerechtes Verfahren, was wir, glaube ich, alle wollen. Doch nicht alles, was sich als Beschleunigung ausgibt, ist auch eine. Es gibt z. B. die Forderung, im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren grundsätzlich auf den Einzelrichter überzugehen. Ich will Ihnen an der Praxis eines erläutern: Niedersachsens Verwaltungsgerichte, welche in der Regel im Kollegialverfahren entscheiden, schaffen heute bereits mehr Fälle als die Einzelrichter, die in manchen anderen Ländern auf Grund gerichtlicher Entscheide schon heute obligatorisch sind. Wir werden aber durch die Einstellung von 32 weiteren Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichtern die Voraussetzungen schaffen, die heutige Dauer von Verfahren bei offensichtlich unbegründeten Anträgen erheblich zu verkürzen. Dabei sollten wir uns jedoch davor hüten - ich schließe an das an, was Herr Kinkel hier gesagt hat - , hier Erwartungen zu wekken, die realistischerweise dann nicht erfüllbar sind. So hängt die Dauer der Verfahren nicht nur von der Zahl und der Arbeitsfähigkeit der Richter und Richterinnen ab, sondern auch von der Terminlage und Arbeitsfähigkeit etwa der Anwältinnen und Anwälte. Was aber überhaupt nicht geht, sehr geehrter Herr Bundesminister, ist, von der Exekutive zu erwarten, eine, wie Sie schreiben - ich zitiere - , „verbindliche Erklärung zu der Dauer der verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren" abzugeben. Angesichts des Art. 97 Abs. 1 des Grundgesetzes, wonach die Richter unabhängig und - ich wundere mich, daß ich das einem Verfassungsminister hier vorlesen muß - nur dem Gesetz unterworfen sind, ist diese Aufforderung an die niedersächsische Landesregierung eine Aufforderung zum Verfassungsbruch, der wir überhaupt nicht gedenken nachzukommen. ({5}) Wir werden die institutionellen Voraussetzungen schaffen, das asylgerichtliche Verfahren ohne weitere Verkürzung der rechtlichen Möglichkeit erheblich zu beschleunigen. ({6}) Aus all dem folgt aber auch, daß wir als eine Landesregierung, die das, was sie verspricht, auch hält, hier keine Versprechungen abgeben werden, wonach das Verfahren von Asylbewerberinnen und -bewerbern mit offensichtlich unbegründeten Anträgen innerhalb von sechs Wochen rechtskräftig entschieden und der Aufenthalt beendet werden kann. Denn diese Frage hat für die Unterbringung von Flüchtlingen entscheidende Konsequenzen. Zeugt schon die Vorstellung, Menschen in Einrichtungen mit bis zu 1 000 Plätzen mehr als jene 14 Tage der Erstaufnahme unterzubringen, von einer, wie ich finde, horrenden Unkenntnis der damit einhergehenden praktischen Probleme, so läßt mich die Vorstellung, bei mit Sicherheit auch in diesem Fall zu erwartenden Verzögerungen plötzlich mit der Situation von völlig überfüllten Sammelunterkünften konfrontiert zu sein, schaudern. Die hier verabredete Vereinbarung zur Asylpolitik hat aus Ländersicht den gravierenden Nachteil, daß das Risiko eines Fehlschlags der Beschleunigungsmaßnahmen wiederum und ausschließlich bei den Ländern und Gemeinden liegt. Ich bin überzeugt davon, daß einige auf dieser Seite des Hauses durchaus diesen stillen Hintergedanken dabei hatten. Eine Reihe von Ausführungen von Herrn Teufel läßt das durchaus angeraten erscheinen. Sie haben dieser Vereinbarung möglicherweise nur in dem Wissen zugestimmt, daß sie bei der Umsetzung nicht die Ergebnisse bringen wird, die sie verspricht. Den dadurch entstehenden politischen Handlungsdruck wollen Sie dazu benutzen, die Bereitschaft zu einer Änderung des Grundgesetzes zu erhöhen. Die niedersächsische Landesregierung wird deshalb das Risiko, durch Verzögerungen im Verfahren Menschen möglicherweise über Monate hinweg in Großeinrichtungen von 1 000 und mehr Plätzen unterbringen zu müssen, eventuell wegen Überfüllung noch weitere Großeinrichtungen zu schaffen, nicht eingehen. Die im Beschluß vom 10. Oktober 1991 geforderten zentralen Gemeinschaftsunterkünfte für eine mehrwöchige Unterbringung wird es nicht geben. Wir richten keine Sammellager ein. In Niedersachsen werden Flüchtlinge auch künftig erst in den zentralen Anlaufstellen aufgenommen. Sie haben dort die Möglichkeit, sich von unabhängigen Flüchtlingsorganisationen beraten zu lassen. Nach ihrer Anhörung muß die zuständige Behörde innerhalb von 14 Tagen entscheiden, ob für den Flüchtling ein Bleiberecht aus einem Paragraphen der Ausländergesetze abgeleitet werden kann. Trifft dies zu, muß er umgehend einer Gemeinde zugewiesen werden. Minister Jürgen Trittin ({7}) Diejenigen, deren Antrag als offensichtlich unbegründet beschieden wird, sollen in dezentralen Landesflüchtlingswohnheimen untergebracht werden. Diese bereits heute existierenden, aber zu vermehrenden Flüchtlingswohnheime in einer Größenordnung von 30 bis 150 Plätzen sehen ein Wohnen unter sozialer Betreuung vor. Niedersachsen ist nicht nur das einzige Land, welches ein flächendeckendes Netz von Sozialarbeitern zur Betreuung dezentral untergebrachter Flüchtlinge aufgebaut hat, sondern es schreibt den Betreibern von Flüchtlingswohnheimen - darunter fallen die Wohlfahrtsverbände - auch vor, die Einstellung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern nach einem festen Schlüssel vorzunehmen. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, gestatten Sie zum Schluß noch eine Zwischenfrage? Minister Jürgen Trittin ({0}): Ja, wenn ich diesen Satz noch sagen darf. - Es würde mich sehr wundern, wenn diese Form der Unterbringung mit Einrichtungen auf eine Stufe gestellt wird, welche nicht nur mehr als 20mal so groß sind, sondern erklärtermaßen auch abschreckenden Charakter haben sollen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Gerster, bitte.

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie können, wie Sie wissen, als Landesminister für Ihre Landesregierung sprechen. Aber für wen sprechen Sie eigentlich wirklich, nachdem Ihr Innenminister Glogowski eindeutig erklärt hat, das, was in Bonn am 10. Oktober vereinbart wurde, sei gut und notwendig? Er erklärte überdies, die Absprachen lägen ganz auf sozialdemokratischer Linie. Für welche Landesregierung sprechen Sie eigentlich? Minister Jürgen Trittin ({0}): Herr Gerster, ich spreche auf der Basis des Kabinettsbeschlusses von letzter Woche. Sie werden daran erkennen, für wen ich spreche. Ich glaube, die Frage ist eindeutig beantwortet. ({1}) Ich will etwas weiteres hinzufügen - ich komme zum Schluß, Herr Präsident - : Auch folgendes wird es in Niedersachsen nicht geben: Wir werden aus diesen Heimen keine Abschiebungen vollziehen. Ich glaube, der sächsische Innenminister hat recht mit seinen Vorbehalten gegen diese Form. Ich glaube, die Mahnung des Kollegen Eggert aus Sachsen, daß wir als Deutsche gut beraten wären, solche Aktionen nicht zu starten, ist vor dem Hintergrund unserer Geschichte beklemmend aktuell. In einer Situation, wo es 50 Jahre nach der sogenannten Reichskristallnacht in Deutschland wieder Pogrome gibt - um nichts anderes handelt es sich in Hoyerswerda und anderswo - , müssen wir in all unseren Handlungen uns dem Grundsatz verpflichtet sehen, daß Menschen, die als Flüchtlinge in unser Land kommen, Anspruch auf die Achtung ihrer Menschenwürde haben. Wir haben einen mitmenschlichen Umgang mit ihnen zu gewährleisten. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Wolfgang Zeitlmann.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich meine in der Tat, Frau Däubler-Gmelin, das, was Sie hier heute nach der Rede des Bundesinnenministers geboten haben, verdient ein Stückchen weit das Attribut „scheinheilig" . Sie haben dem Bundesinnenminister vorgeworfen, er habe die Einigung vom letzten Donnerstag nur einen Tag lang gültig sein lassen und habe dann seinen Entwurf vorgelegt. Sie wissen als Teilnehmerin der Runde sehr genau, daß gleich zu Beginn vereinbart wurde, daß der Bundesinnenminister seine Vorstellungen vorzulegen hatte. Sie haben darauf sogar gedrängt. Man hat sich ganz eindeutig darauf verständigt, daß mit der Vereinbarung vom Donnerstag keine Seite ihre Überlegungen und ihre Meinungen aufgibt. Ich halte es wirklich für scheinheilig, so miteinander umzugehen. Herr Minister Trittin, ich lese in der neuesten Presseinformation der niedersächsischen Landesregierung, Absatz 1, vom 15. Oktober - ich zitiere -: Die generalstabsmäßig weitergeführte Kampagne der CDU/CSU gegen das Grundrecht auf Asyl ist eine wesentliche Mitursache für die Welle der Gewalt in Deutschland. ({0}) Sie schafft ein Klima, im dem Terror gegen Menschen gedeiht und legitimiert wird, diese Gewaltausbrüche, - so heißt es hier für die auch Schreibtischtäter in der Führung der CDU die Verantwortung tragen. ({1}) Wer so miteinander umgeht, Herr Trittin, der braucht sich weiß Gott nicht zu wundern. ({2}) Ich halte dies für keinen angemessenen Stil. ({3}) Der Bundesinnenminister hat sich eingangs seiner Rede und auch in den beiden Zwischeninterventionen in Satz 1 ganz eindeutig zu der momentanen ausländerfeindlichen Situation geäußert - unzweideutig! Dann hier so zu tun, als würde von dieser Rede etwas in Richtung gesteigerte Ausländerfeindlichkeit ausgehen, ist infam. Nun zur Sache selbst: Die Zahl der Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland ist in den letzten Jahren drastisch angestiegen und hat in den Monaten August und September sämtliche Rekorde gebrochen. Seit 1987 hat sich die Zahl mehr als vervierfacht. Aber weniger als 10 % sind politisch verfolgt. Die durchschnittliche Dauer der Verwaltungsverfahren liegt derzeit bei 11 Monaten. Dem folgt mindestens eine Gerichtsinstanz. Die Zahl von 330 000 Asylbewerbern im laufenden Verfahren ist deshalb nicht verwunderlich, bringt aber Länder und Kommunen bei der Unterbringung in kaum mehr zu bewältigende Schwierigkeiten. Auch die finanziellen Aufwendungen für Asylbewerber können nicht außer acht gelassen werden. Der Kostenaufwand für Unterkunft und Sozialhilfe beträgt 1990 bundesweit etwa 4 Milliarden DM. Zu diesem Betrag müssen Sie die Kosten für Verwaltungs- und Gerichtsverfahren hinzurechnen. Den wachsenden Unmut in der Bevölkerung kann jeder von Ihnen an der Zahl der Briefe aus der Bevölkerung ablesen. Dabei betonen fast alle Verfasser dieser Briefe, daß tatsächlich aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen Verfolgten Asyl gewährt werden muß. Verärgert sind sie aber über die große Zahl derjenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen versuchen, ein Bleiberecht in der Bundesrepublik zu erreichen. Die Belastungen durch Unterbringung, Sozialhilfe und die Durchführung des Verfahrens werden als sinnlos empfunden, da bei einer großen Zahl der Bewerber von vornherein absehbar ist, daß sie nach Abschluß des Verfahrens in ihre Heimat zurückkehren müssen. Nach einer von IPOS im Mai und Juni 1991 durchgeführten Umfrage befürworten 70 % der Menschen in den alten Bundesländern und 79 % in den neuen Ländern das Asylrecht. Gleichzeitig sprachen sich jedoch für eine zahlenmäßige Begrenzung in den alten Bundesländern 59 %, in den neuen Bundesländern 68 % aus. Diese Zahlen belegen, daß der allergrößte Teil der Bevölkerung politisch Verfolgten Schutz gewähren möchte und gegenüber Ausländern grundsätzlich positiv eingestellt ist. Sorgen und Ängste entstehen jedoch durch den Umfang des Zustroms, durch den sich die Bevölkerung vielfach überfordert fühlt. Dabei geht es erst in zweiter Linie um die finanziellen Belastungen. An erster Stelle steht die Frage, wie die Integrationsfähigkeit der Ausländer in unserer Gesellschaft erhalten werden kann. Die CSU verurteilt den Anstieg von Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und Beschimpfungen gegenüber Ausländern. Einem Klima, in dem solches Verhalten als Selbsthilfe begrüßt wird, treten wir entschieden entgegen. ({4}) Es handelt sich nicht um Selbsthilfe, sondern um Selbstjustiz. Hier gilt, wie auch sonst: Rechtsfreie Räume dürfen wir nicht dulden. Die Straftaten konsequent zu verfolgen und die Ausländer zu schützen ist Aufgabe der Polizei. Im Vorfeld ist es erforderlich, die für Gewaltaktionen gegen Ausländer maßgeblich in Betracht kommenden Rechtsextremisten unter den Skinheads durch den Verfassungsschutz zu beobachten, wie dies in Bayern schon seit Jahren geschieht. Genauso wie wir es für uns in Anspruch nehmen, haben alle Ausländer, die sich bei uns aufhalten, einen Anspruch auf Schutz ihres Lebens, ihrer Gesundheit, ihrer Freiheit und ihres Eigentums. Den damit verbundenen Aufwand muß uns unser freiheitlicher Rechtsstaat wert sein. Dem Rechtsstaat droht vor allem dann Gefahr, wenn die Menschen das Vertrauen in die Organe des Staates verlieren. Der Staat muß Sicherheit gewährleisten; er muß aber auch Ängste und Sorgen ernst nehmen und bestehende Probleme lösen. Gerade bei der Frage des Asylrechts ist die Politik, sind wir alle drauf und dran, das Vertrauen der Menschen zu verspielen. Seit 1978 wurden immer wieder Maßnahmen mit dem Ziel ergriffen, das Asylverfahren zu beschleunigen. Die erreichte Wirkung wurde jedesmal durch den ständig wachsenden Zustrom mehr als wettgemacht. Das beweist: Das Asylproblem ist vor allem ein Zugangsproblem. Das Asylgrundrecht wird Hebel für eine in keiner Weise kontrollierbare Einwanderung, wenn es uns nicht gelingt, den Zustrom von nicht aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen Verfolgten in den Griff zu bekommen. Die CSU verschließt sich nicht den Maßnahmen, die in den sogenannten Zielvorstellungen vereinbart wurden, macht aber darauf aufmerksam, daß die Praktiker in Bayern und Baden-Württemberg es für unmöglich halten, daß damit eine Verfahrensdauer von sechs Wochen erreicht wird. Allein die Einschaltung eines Anwalts, der ja auch einen Dolmetscher braucht und in der Regel Akteneinsicht verlangen wird, läßt die von der SPD geforderten drei Wochen für das Gerichtsverfahren einschließlich Rechtsmittelfrist als unrealistisch erscheinen. ({5}) Begrüßenswert ist das Umschwenken der SPD in einigen durchaus wichtigen Punkten. Erstens. Die SPD fordert jetzt die Unterbringung der Asylbewerber, über deren Anträge in kurzer Frist entschieden werden kann, in Gemeinschaftsunterkünften. Dafür bedarf es allerdings keiner Gesetzesänderung. Bereits seit 1987 sind solche Gemeinschaftsunterkünfte in § 23 des Asylverfahrensgesetzes vorgesehen. ({6}) Es war aber gerade die SPD, die in völliger Blindheit gegenüber den Problemen diese Gemeinschaftsunterkünfte als menschenunwürdig ablehnte und bekämpfte. Das gleiche gilt für den Vorrang der Sachleistung gegenüber der Barleistung bei der Sozialhilfe. Zweitens. Der Ausschluß der Beschwerde im Prozeßkostenhilfeverfahren wurde von der CSU seit Jahren gefordert. Es ist schon bemerkenswert, wenn SPD und FDP sich diese Forderung jetzt nicht nur zu eigen machen, sondern so tun, als hätten sie selbst diese Möglichkeit zur Beschleunigung erfunden. Drittens. Ein Fortschritt ist auch, daß künftig nach Aktenlage im schriftlichen Verfahren entschieden werden kann, wenn der Asylbewerber zur mündli4248 chen Verhandlung ohne Entschuldigung nicht erscheint. Viertens. Während sich bisher gerade SPD-regierte Länder als Weltmeister in angeblicher Humanität hervorgetan haben, indem sie weitreichende Abschiebestopps festlegten, fordert jetzt die SPD die konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber ohne Bleiberecht innerhalb einer Woche. ({7}) Fünftens. Vereinbart wurde auch, eine gesetzliche Grundlage für die generelle erkennungsdienstliche Behandlung von Asylbewerbern zu schaffen. Das automatisierte Fingerabdrucksystem AFIS soll beschleunigt ausgebaut werden. Sobald dieses System flächendeckend installiert ist, wird es nicht mehr möglich sein, daß ein Teil der Asylbewerber an verschiedenen Orten gleichzeitig Sozialhilfe beziehen oder nacheinander mehrere Asylanträge stellen kann. Der vereinzelt zu hörende Vorwurf, Asylbewerber würden wie Verbrecher behandelt, ist falsch. Keineswegs sind die Mehrzahl der Asylbewerber Straftäter. Es wäre falsch, aus den schwarzen Schafen Ressentiments gegen alle abzuleiten. Gerade im Interesse der ehrlichen Asylbewerber aber ist die Einführung und Nutzung dieses Systems dringend erforderlich. Auch eine optimale Umsetzung der Zielvorstellungen wird uns bei der Lösung des Problems, wirklich politisch Verfolgte schnell aufzunehmen und Nichtverfolgte schnell in ihre Heimat zurückzuführen, nur ein gewisses Stück weiterbringen. Ebenso wie mit den bisherigen Beschleunigungsnovellen werden wir auch mit diesen Maßnahmen keinen durchschlagenden Erfolg erreichen können. Kurz gesagt: Die Maßnahmen sind notwendig, aber nicht ausreichend. Soviel steht aber schon heute fest: Der Weg über eine Änderung des Grundgesetzes ist der einzige, der eine dauerhafte und langfristig wirksame Verbesserung der Situation eröffnet. ({8}) Wir müssen dafür sorgen, daß denjenigen, die unseres Schutzes ganz offensichtlich nicht bedürfen, von vornherein der Zugang zum Asylverfahren verwehrt wird. Es muß die rechtliche Möglichkeit geschaffen werden, diesen Personen die Einreise zu versagen oder sie sofort in das Herkunfts- bzw. Heimatland zurückzuführen. Die CSU hält dafür folgende Maßnahmen für erforderlich: Die Bundesregierung legt durch Rechtsverordnung oder, wie es der Herr Bundesinnenminister heute favorisiert hat, durch eine Entscheidung der EG in Abstimmung mit dem Hohen Flüchtlingskommissar die Staaten fest, in denen nach allgemeiner Überzeugung keine politische Verfolgung stattfindet. Asylbewerber aus diesen Staaten werden nicht in das Asylverfahren genommen. Die Ausländerbehörde fordert sie nach allgemeinem Ausländerrecht zur Ausreise innerhalb von drei Tagen auf und schiebt die Ausländer ab, wenn sie bis dahin nicht freiwillig ausgereist sind. Alle Nachbarstaaten der Bundesrepublik Deutschland wenden die Genfer Flüchtlingskonvention an. Ausländer, die aus diesen Staaten die Einreise versuchen und sich an der Grenze als Asylbewerber melden, werden zurückgewiesen; denn sie können auch in diesen Staaten die Anerkennung als politische Flüchtlinge beantragen und erreichen, wenn sie wirklich mit politischer Verfolgung rechnen müssen. In gleicher Weise werden asylsuchende Ausländer, die unmittelbar nach ihrem illegalen Grenzübertritt entdeckt werden, wieder in den Nachbarstaat zurückgeschickt. Ausländer, die auf dem Luftweg aus sicheren Drittstaaten ankommen, werden dorthin zurückgewiesen. Das gleiche gilt für die Ausländer, die aus Heimatstaaten kommen, die in der Rechtsverordnung der Bundesregierung oder der EG als Nichtverfolgerstaaten genannt sind. Personen, die in einem anderen EG-Staat oder in einem anderen westeuropäischen Staat ein Asylverfahren rechtskräftig negativ abgeschlossen haben, werden in der Bundesrepublik nicht mehr in das Verfahren einbezogen. Für diese Maßnahmen brauchen wir eine unzweifelhafte verfassungsrechtliche Grundlage. Die rechtsstaatlich richtige Lösung ist deshalb eine Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes. Außerdem sollte der Gesetzgeber durch eine Änderung des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes die Möglichkeit erhalten, von der Überprüfung der Asylentscheidung in einem Gerichtsverfahren abzusehen und statt dessen eine außergerichtliche Beschwerdeinstanz vorzusehen. Damit könnte die Belastung der Gerichte erheblich verringert werden. Wir wollen ein Asylrecht, wie es in den übrigen westeuropäischen Staaten seit langem besteht. Ein „Europa ohne Grenzen" braucht auch ein einheitliches Asylrecht. Der politische Wille der anderen Mitgliedstaaten ist vorhanden. Der Europäische Rat hat am 28./29. Juni dieses Jahres ausdrücklich gebilligt, daß die Asyl-, Einwanderungs- und Ausländerpolitik in der EG spätestens bis Ende 1993 harmonisiert werden soll. Die Gemeinschaftsregelung wird sich aber gewiß nicht am Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland ausrichten. Außerdem soll sich nach den EG-Vorschlägen künftig kein Mitgliedstaat mehr auf einen Vorbehalt nationalen Rechts berufen können. Wir brauchen jetzt Mut zu klaren Lösungen. Wir wollen ein humanes Asylrecht auf europäischem Standard. Wir wollen die Unterbindung des Mißbrauchs. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Als nächstem Redner erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Burkhard Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das erste Wort ist ein Dank an alle, die unserem Aufruf gefolgt sind, gegen die Gewalt zu protestieren und sich schützend vor die AusDr. Burkhard Hirsch länder zu stellen, die in der Gefahr sind, Opfer von Pogromen zu werden. ({0}) Mein ausdrücklicher Dank gilt - nach der Bemerkung, die Herr Schäuble anfangs gemacht hat - auch den Ausländerbeauftragten der Bundesregierung beginnend mit Heinz Kühn, Frau Funcke, aber auch Frau Berger, Frau Kahane, die jeweils in ihrer Amtszeit für Ausländer und für das Verhältnis der Deutschen zu Ausländern alles getan haben, was in ihren Kräften stand, ({1}) und die mehr Unterstützung verdient hätten. Ich bedaure, daß der Ansatz des überfraktionellen Antrags, zu einer wünschenswerten größeren Gemeinsamkeit zu gelangen, durch die anderen Anträge, zum Teil auch durch das, was sich hier heute vormittag abgespielt hat, wieder zerstört wird. Es wird zwar ein Teil der gemeinsamen Zielvorstellungen zur Flüchtlingspolitik wiederholt, aber es wird auch die Polemik fortgesetzt, wer - und wodurch - der eigentlich Schuldige an allen Problemen sei. So weist hier jeder auf den anderen: auf die Bundesregierung, auf die Opposition, auf die Länder, auf den Koalitionspartner. Aber die Bevölkerung weist auf uns alle. Sie erwartet, daß wir zur Lösung des Problems kommen, dessen Größe hier ihr durch absichtsvolle und noch größere Schreckensgemälde bis hin zu Agitationshandreichungen für Kommunalpolitiker eindrucksvoll geschildert wurde. ({2}) Nichts wird besser, wenn der Minister hier nicht als Minister spricht, sondern als Abgeordneter, Herr Minister. ({3}) Auch wer zwei Mützen hat, hat nur einen Kopf. ({4}) Es wird von uns erwartet, daß wir die in den gemeinsamen Zielvorstellungen skizzierten gesetzlichen Regelungen treffen und den ernsthaften Versuch unternehmen, damit zu schnelleren Entscheidungen über Asylgesuche zu kommen. Das muß man nicht nur beschließen, sondern auch wollen. Ich will dazu keine weiteren Einzelheiten mehr darstellen, auch nicht die vielen praktischen Unzulänglichkeiten durch mangelnde Ausstattung der Ausländerämter oder z. B. der Kanzleien der Verwaltungsgerichte, die die Verfahrensdauer teilweise um Monate und Jahre verlängert haben. Das geht bis zur Groteske; man muß sich das mal im einzelnen ansehen. Wir werden das in den Ausschußberatungen nachtragen. Wenn man lange streitet, dann verliert man bald den Kern des Streits aus den Augen. Wir wollen nicht mit Hilfe des Asylrechts soziale Probleme in anderen Ländern lösen. Wir wollen das Recht politischer Flüchtlinge erhalten, Aufnahme zu finden. Dazu gehört, daß der Flüchtling in einem fairen Verfahren angehört und sein Fall individuell entschieden wird. Wir sind der Überzeugung, daß summarische und pauschale Verfahren im Bereich politischer Flüchtlinge weder unseren völkerrechtlichen Verpflichtungen noch dem Geist unserer Verfassung entsprechen. Das ist das Entscheidende. ({5}) Deswegen lehnen wir sie ab. Wir akzeptieren unter den gegenwärtigen Umständen ein äußerst kurzes Verfahren, Sammelunterkünfte und die schnelle Abschiebung abgelehnter Asylbewerber, um die Gemeinden zu entlasten. Bei einem neuen Anfang sollten wir aber auch den Mut zu einer großzügigen Altfallregelung haben. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Hirsch, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr.

Stefan Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dr. Hirsch, können Sie mir erläutern, wo Sie summarische und pauschale Verfahren erkennen können bei den Vorschlägen, die zur Zeit auf dem Tisch liegen?

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jede Länderliste, Herr Kollege, ist ein pauschales Verfahren, weil grundsätzlich gesagt wird: Wer aus einem Land kommt, das auf einer - wie auch immer entstandenen - Liste steht, wird grundsätzlich nicht mehr persönlich gehört. Das ist der Punkt. Außerdem bitte ich Sie wirklich herzlich, sich den Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung zu Gemüte zu führen, der im Bundesrat eingebracht worden ist, wo auch die Möglichkeit vorgehalten wird, einen politischen Flüchtling an der Grenze abzuweisen. Nehmen Sie doch zur Kenntnis, was Ihre Fraktionskollegen offenbar mit unterstützen. ({0}) - Ich freue mich, das zu hören. Sie sollten das auch Herrn Stoiber mitteilen. ({1}) Wir sind der Überzeugung, daß die immer wieder propagierte Verfassungsänderung kein einziges praktisches Problem lösen würde. Wir gehen im übrigen davon aus, daß die schnelle Abschiebung von Antragstellern bei offensichtlich unbegründeten Anträgen die Zahl der Hilfesuchenden bald verringern wird, wohlgemerkt nicht etwa die Zahl der Hilfsbedürftigen, sondern derjenigen, die hoffen, bei uns Hilfe zu finden. Wir können es nicht verdrängen, daß wir mit allen Polizeimaßnahmen, Verwaltungsregelungen oder verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen vielleicht Wanderungsziele verändern, aber keine einzige Wanderungsursache beheben und kein einziges soziales Problem lösen, weder in den Her4230 kunftsländern noch bei uns. Mächtig ist das Gesetz, aber mächtiger ist die Not. Was ist mit der Wohlstandsfestung Europa? Sollen wir die Mauern durch Stacheldraht, also durch diffizile und für die Menschen schwer durchschaubare Vorschriften ersetzen? Es ist die Kernfrage, was denn europäische Freizügigkeit für uns bedeuten soll, ob und nach welchen Maßstäben wir die Zahl der Zuwanderer begrenzen wollen. Wie viele Ausländer sollen bei uns leben? Sind wir bereit, sie zu integrieren? Ist das dann die multikulturelle Gesellschaft, die manche fürchten? Sind Aussiedler auf Dauer anders zu bewerten als andere Einwanderer? Union und SPD sind jeweils in ihren eigenen Reihen über diese Frage uneinig, wir zu einem Teil auch. Das erschwert jede denkbare Lösung. ({2}) Der Versuch, ein Einwanderungsgesetz zu formulieren, würde die politischen Schwierigkeiten nach meiner Überzeugung vermehren. Aber das Asylrecht ist ein Teil der Einwanderungspolitik. In den Dokumenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaft werden alle Mitgliedsländer außer Irland ohne Umschweife als Einwanderungsländer bewertet. Deswegen wird der Versuch unternommen, Einwanderungspolitik, bezogen auf den Arbeitsmarkt, die Familienzusammenführung, die wirtschaftlichen und sozialen Interessen, zu harmonisieren. Die Bundesregierung wirkt daran mit. Das ist auch richtig so. Aber wir müssen verlangen, daß das Parlament und damit die Öffentlichkeit an diesem Willensbildungsprozeß beteiligt wird. Nach allen Erfahrungen der letzten Jahre wird es einen politischen Frieden offenbar erst dann geben, wenn wir uns nicht nur mit den unterschiedlichen Instrumenten der Einwanderungspolitik beschäftigen, sondern wenn auch die Voraussetzungen und Ziele der Einwanderungspolitik offen erörtert und festgelegt werden. ({3}) Dann müssen auch über allgemeine Deklamationen hinaus die Ziele und die wirtschaftlichen Mittel festgelegt werden, die von uns und der Europäischen Gemeinschaft aufgebracht werden sollen, damit die Menschen in den Herkunftsländern die begründete Hoffnung haben können, auch dann eine Lebenschance zu haben, wenn sie dort bleiben. Es muß aufhören, daß soziale Angst oder die Aggressionsbereitschaft der Hautköpfe zu Fremdenfeindlichkeit, zu Isolierung und zur Unberechenbarkeit unserer Politik führen. ({4}) Mit den gemeinsamen Zielvorstellungen haben wir uns um gemeinsame Grundlagen zwischen Koalition und Opposition, zwischen Bund und Ländern bemüht. Wir warnen davor, sie zu zerreden, anstatt sie weiter auszubauen. ({5}) Wer hier kleine Vorteile sucht, wird später dafür einen hohen Preis zahlen. Wir erwarten, daß die Bundesregierung die verabredeten Gesetzentwürfe unverzüglich vorlegt und daß sich alle Seiten ohne Vorbehalte ernsthaft darum bemühen werden, sie in der Wirklichkeit auch durchzusetzen. Wir sind dazu bereit. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nunmehr spricht der Abgeordnete Wartenberg.

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die politische Auseinandersetzung über das Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern und über das Flüchtlingsrecht in Deutschland ist seit vielen Jahren eine fast unerträgliche Debatte in diesem Lande. Inzwischen ist nicht nur diese Debatte unerträglich, in unserem Lande herrschen auch unerträgliche Zustände. Ich meine damit die grauenhaften Anschläge auf Flüchtlinge, auf Ausländer oder auf Menschen, die vielleicht nur etwas anders aussehen. ({0}) Die Debatte über das Flüchtlingsrecht hat häufig genug eine Verstärkerfunktion bei der Ausländerfeindlichkeit bewirkt, und das müssen sich insbesondere viele Politiker von den Koalitionsfraktionen fragen lassen. ({1}) Herr Rühe, da können Sie nicht so einfach aus der Verantwortung herausgehen und sagen, daß Ihre Stabsanweisungen an die unteren Gliederungen Ihrer Partei nicht ganz gezielt dazu genutzt werden sollten, das politische Klima hier zu vergiften und damit letzten Endes den Ausländern Schwierigkeiten zu bereiten. Denn das ist die Folge. ({2}) Wenn wir hier heute debattieren, dann sollten wir die Debatte auf den Kern zurückführen: Die Voraussetzung ist, daß man die Wirklichkeit erkennt. Die Wirklichkeit liegt im Spannungsverhältnis zwischen den reichen Staaten West- und Mitteleuropas und dem armen Rest der Welt. Die Bundesrepublik ist ein reiches und demokratisches Land mit offenen Grenzen, ist von neun anderen demokratischen Staaten umgeben. Diese Grenzen zu den neun anderen Demokratien werden und müssen offenbleiben. Diese Feststellung ist notwendig, damit jedem unserer Bürgerinnen und Bürger klar ist, daß auch in Zukunft viele Menschen aus anderen Regionen in unser Land kommen werden. Da gibt es überhaupt keinen Ausweg. ({3}) Diese Menschen werden politische Flüchtlinge sein oder einfach Menschen, die hoffen, hier eine neue ökonomische Perspektive zu finden. Das belastet uns, das ist nicht einfach. Aber wer irgendwo die Illusion schürt, daß diese Menschen nicht kommen würden, der irrt sich. Allein diese Feststellung müßte jeden Politiker dazu zwingen, unseren Bürgerinnen und Bürgern offen zu sagen, daß es kein Zaubermittel und kein Gesetz gibt, Wanderungsbewegungen grundsätzlich zu unterbinden, es sei denn, Gerd Wartenberg ({4}) irgend jemand plädiert dafür, um dieses Land eine Mauer zu bauen, und zwar um das ganze Land, nicht nur nach Osten hin. Deswegen bitte und mahne ich alle, der Bevölkerung nicht vorzutäuschen, daß die Zuwanderung rigoros begrenzt werden könnte. Die Frustration würde hinterher um so größer sein. ({5}) Unsere innenpolitische Frage ist: Wie gehen wir mit der Zuwanderung um? Nicht die absurde Frage steht zur Debatte: Wie kann sie verhindert werden? Wie leben wir mit der Zuwanderung, wie bereite sich unsere Gesellschaft auf weitere Zuwanderung vor, und inwieweit entwickeln wir Instrumente, die die Zuwanderung so steuern, daß sie auch für die Bevölkerung und die Gemeinden tragbar wird? Ich gehe davon aus, daß wir einige Steuerungsinstrumente finden müssen, damit wir uns in der Lage sehen, uns infrastrukturell auf die Wanderungsbewegung einzustellen. Eine Wirklichkeit unserer Gesellschaft ist die Überlastung der Infrastruktur durch die Zuwanderung von ca. 2 Millionen Menschen in den letzten vier Jahren. Diese Zuwanderung hat ohne Frage in vielen Städten und Gemeinden zu erheblichen Problemen geführt. Aber diese Zuwanderung besteht nur aus dem geringsten Teil von Flüchtlingen; die meisten sind Aussiedler. Auch dies muß immer wieder gesagt werden. ({6}) - Das war in den letzten vier Jahren so, und in diesem Jahr ist es halbe halbe. Es löst doch auch nicht das Problem, wenn wir uns darüber streiten, aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß es so ist und daß es kein Zaubermittel dagegen gibt. Ich möchte hier über einige der vorgeschlagenen Regelungen reden, auch wenn es mir schwerfällt, in einer Zeit über Gesetzestechnik zu reden, wo wir haßerfüllte Anschläge in dieser Gesellschaft erleben müssen. Das Ziel, Städte und Gemeinden zu entlasten, müßte der gemeinsame pragmatische Weg aller Politiker sein. Ich verstehe nicht die Bösartigkeit und Penetranz, mit der man versucht, diesen pragmatischen Weg von vornherein unmöglich zu machen. ({7}) Auch das ist eine unerhörte Unverantwortlichkeit. Was haben Sie denn nachher für eine Alternative? Merken Sie denn nicht, wenn Sie jeden praktikablen Weg zerreden, daß die Frustrationen nur wachsen? Um einen solchen pragmatischen Weg zu finden, ist im Gespräch beim Bundeskanzler ein Zielkonzept entwickelt worden. Dieser Arbeitsauftrag beinhaltet, Regelungen zu finden, um die Gemeinden dadurch zu entlasten, daß in Erstaufnahmesammellagern sehr schnell festgestellt werden kann, wer hierbleibt und wer zurückgeht. Was heißt das praktisch? In dem Verwaltungsverfahren werden nach zwei Wochen alle schwierigen Fälle und alle, die hierbleiben können, sei es nach der Genfer Konvention, sei es nach unserem Asylrecht, sofort in die Gemeinden verteilt werden. Das heißt, diese Gruppe bleibt nicht in den Sammellagern. Das sage ich denjenigen, die sagen: Die Erstaufnahmesammellager seien unmenschlich. Vergleichen wir doch mal die Wirklichkeit: Im Augenblick kommen alle de facto in Sammelunterkünfte und bleiben dort auf Dauer. ({8}) - Das ist die augenblickliche Situation, weil es keine Wohnungen gibt. ({9}) Und, meine Damen und Herren, wenn wir über die Infrastruktur reden, dann müßten wir vielleicht auch einmal sagen, daß in diesem Land in den letzten zehn Jahren die wenigsten Wohnungen in ganz Europa gebaut worden sind, ({10}) weniger Wohnungen, als sogar Frau Thatcher - die weiß Gott auch in diesem Land nicht als sozial gilt - in England gebaut hat. Auch das ist eine der Ursachen für die Schwierigkeiten, vor denen wir heute stehen. Die Erstaufnahmestellen sind deswegen notwendig, weil in diesem Verwaltungsgang frühzeitig geprüft werden kann, wer hierbleiben darf. Der durchläuft dann ein normales, vernünftiges Verfahren und bekommt eine normale Unterbringung. Die Gemeinden können, da sie weniger Zuweisungen bekommen, diese Menschen dann besser integrieren. Das ist eine eindeutige Verbesserung für all die Menschen, die hierbleiben werden. Die anderen, die nicht bleibeberechtigt sind, können zurückgeschickt werden, wenn ihr Verfahren in kurzer Frist abgeschlossen wird. Nun sagen einige: Zurückschicken ist per se etwas Schlechtes. Dennoch ist richtig: Wir können nicht alle Zuwanderungsprobleme, die aus ökonomischen Gründen entstehen - so schwerwiegend sie auch sein mögen - , in diesem Lande verkraften. Auch bitte ich, nicht die Illusion zu haben - das sage ich an die Adresse des Bündnisses 90/GRÜNE - , daß die Probleme allein durch ein Zuwanderungsgesetz gelöst werden könnten und das Asylverfahren dadurch entlastet würde. Wir kennen das aus Amerika: Dort hat man eine Einwanderungsquote, und trotzdem gibt es dort eine immense illegale Einwanderung. Das ist die Schwäche dieses Konzeptes, die mit einem Zuwanderungsgesetz, einem Einwanderungsgesetz verbunden ist. Man darf keine Illusionen wecken, auch nicht die Illusion, das Zuwanderungsproblem könne durch Gesetze oder durch ein formales Verfahren gelöst werden, die Problematik der nicht gesteuerten Zuwanderung in dieses Land könne eingegrenzt werden; denn wenn die Quote voll ist, haben Sie das gleiche Problem. So ist es auch in Amerika, wo nach dem Motto verfahren wird: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Da spielen sich im Augenblick dramatische Dinge ab, weil die Quote voll ist. Alle anderen kommen dann weiter illegal. Nun sagen viele in der Koalition, in der CDU/CSUFraktion - sofern sie überhaupt bereit sind, diesen Gerd Wartenberg ({11}) Weg mitzugehen - : Das reicht nicht aus; die Verfassung muß geändert werden. Aber da muß ich wieder an den Ausgangspunkt erinnern: Wenn wir uns darüber einig sind, daß nicht verhindert werden kann, daß Flüchtlinge wegen der offenen Grenzen auch zukünftig unkontrolliert in die Bundesrepublik einreisen können, dann ist zu fragen: Was bringt denn eine Verfassungsänderung, wenn sich über 90 To nicht an der Grenze, sondern im Lande selbst melden und einen Asylantrag stellen? ({12}) Selbst bei einer veränderten Verfassungslage kommt dieser Mensch in folgende Situation: Er geht zu einer Behörde. Dort muß seine Identität festgestellt werden; er hat vielleicht keine Papiere. Es muß ein Dolmetscher zugezogen und ein Verfahren angestrebt werden, in dem sein Recht auf Asyl nachgewiesen wird. ({13}) Denn auch dieser Mensch muß überprüft werden, ob er objektive Gründe hat, hierzubleiben. Sie sind also wieder bei dem Verwaltungsverfahren, ({14}) das mindestens zwei Wochen dauert. Selbst wenn Sie das Asylrecht aus der Verfassung streichen würden, würde sich daran faktisch überhaupt nichts ändern. ({15}) Ich meine, daß dies für die weitere Akzeptanz in diesem Lande unerhört wichtig ist. Ihnen könnte nichts Schlimmeres passieren, als wenn es hier eine Mehrheit für eine Verfassungsänderung gäbe und wir hinterher feststellen würden: Im Prinzip hat sich der Umfang der Zuwanderung überhaupt nicht geändert. ({16}) Meine Damen und Herren, das schönste Beispiel hierfür ist die Schweiz, ein Land mitten in Europa, mit Grenzen zu vielen Nachbarstaaten. Sie hat das Asylrecht nicht in der Verfassung verankert, hat aber genau das gleiche Problem wie wir. Sie hat, bezogen auf ihre Bevölkerung, mehr Asylbewerber als wir, steht vor genauso schwierigen Problemen wie wir und diskutiert über Verfahren - genau wie wir. Ich bitte Sie, das einmal ernsthaft zu überlegen. Die Probleme lassen sich nicht pauschal mit einer Änderung der Verfassung lösen. Und: Wecken Sie nicht Illusionen bei der Bevölkerung! Meine Damen und Herren, wenn es uns gelingen sollte, durch ein gestrafftes Verwaltungsverfahren dafür zu sorgen, daß Unberechtigte schneller das Land verlassen, dann kann dieses Land den wirklich Berechtigten auch eine große Chance geben. Im Augenblick haben wir die Situation, daß niemandem eine wirkliche Chance gegeben wird, weil wegen der Infrastruktur Städte und Gemeinden objektiv nicht mehr die Möglichkeit dazu haben. Ich stimme Ihnen zu, daß wir eine europäische Lösung finden müssen. Das, was von der Kommission diskutiert wird, ist auch für uns wichtig. Allerdings muß das Niveau einer europäischen Regelung, bezogen auf unser heutiges Asylrecht, mitbedacht werden. Aber ich glaube, einer europäischen Lösung dieses Problems kann sich keiner entziehen. Übrigens ist das auch deswegen wichtig, weil nur bei einer europäischen Lösung und Rücknahmeverpflichtungen die Frage interessant werden kann, ob jemand in einem Drittland, einem Nachbarstaat, Schutz vor Verfolgung gefunden hat. Isoliert bringt das überhaupt nichts. Meine Damen und Herren, der Bundesinnenminister hat ja einen Tag nach der Vereinbarung im Kanzleramt in einem Schnellschuß diesen Vorschlag zu einer Verfassungsänderung vorgelegt. Dieser Verfassungsänderungsvorschlag ist das Schlampigste, was ich aus Ihrem Hause je gesehen habe. ({17}) Selbst wenn man das unter dem Aspekt einer wirklichen Verfassungsänderung prüfte, fehlen die entscheidendsten Elemente. Aber das Wichtigste ist - und dazu fordern wir Sie seit Wochen auf - : Bekennen Sie endlich Farbe. Wenn Sie sagen, es gebe Nichtverfolgerstaaten, dann sagen Sie auch, welche Nichtverfolgerstaaten Sie meinen. Meinen Sie Jugoslawien, meinen Sie die Türkei, meinen Sie Iran, meinen Sie Libanon? Sie weigern sich seit Monaten, eine solche Liste aufzustellen. Aber erst wenn so eine Liste da ist, wird natürlich interessant, ob überhaupt eines der Instrumente wirken könnte. Ich muß doch wissen, um welche Menschen es geht. Wenn ich in eine Liste die Schweiz oder Italien ({18}) - oder Schweden - hineinnehme, brauchen wir nicht darüber zu reden. Also bitte, bekennen Sie endlich einmal Farbe! Meine Damen und Herren, bei dieser Debatte geht es nicht um ein technisches Problem, sondern es geht - das haben die Anschläge deutlich gemacht - um die Demokratie, es geht um das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Zyniker in der CDU und CSU versuchen der Bevölkerung weiszumachen, man müsse nur die Verfassung ändern, und alles sei in Ordnung. Ja, glaubt denn jemand, daß die Menschen nach einer Verfassungsänderung plötzlich toleranter wären? Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß sich durch eine Verfassungsänderung plötzlich Intoleranz in Toleranz verwandelt? ({19}) Die Politik muß den Mut haben, den Menschen zu sagen, daß in einem Europa der offenen Grenzen Zuwanderung nur teilweise eingegrenzt werden kann. Wenn diese Wahrheit nicht vermittelt und nicht akzeptiert werden kann, wird es eine Dauerkrise innerhalb unserer Gesellschaft geben, die die Entwicklungsfähigkeit unserer Demokratie bedroht. Gerd Wartenberg ({20}) Recht herzlichen Dank. ({21})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat Bundesinnenminister Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vertreter des Landes Niedersachsen, der dieser Debatte zumindest für die Dauer seines Redebeitrages beigewohnt hat, ({0}) hat sich beschwert gezeigt, daß eine Unterkunft des Bundesgrenzschutzes in Hannover zwar für Aussiedler, aber nicht für die Unterbringung von Asylbewerbern zur Verfügung gestellt worden sei. ({1}) Er hätte, Frau Kollegin Däubler-Gmelin, der Wahrheit halber mitteilen müssen, daß, nachdem sich die niedersächsische Landesregierung im September wegen dieses Problems an mein Haus gewandt hatte, Staatssekretär Kroppenstedt mit Schreiben vom 4. Oktober 1991 dem niedersächsischen Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten mitgeteilt hat, daß der Bundesminister des Innern mit einer Unterbringung von Asylbewerbern in dieser Unterkunft einverstanden ist. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Dr. Herta Däubler-Gmelin ({0}): Herr Bundesinnenminister, ich will einfach zurückfragen, damit das wirklich ausgeräumt werden kann. Mir liegt ein Schreiben des Oberstadtdirektors von vor etwa drei Tagen vor, in dem steht - so, wie ich Ihnen das vorhin gesagt habe - , daß der zuständige Kommandant des Grenzschutzkommandos mit der Aufkündigung der Vereinbarung für den Fall droht, daß diese Asylbewerber nicht aus dieser Kaserne herausgenommen werden könnten?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesinnenminister, ich glaube, es dient der Debatte, wenn Sie darauf direkt antworten können. - Bitte sehr.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Danke, Herr Präsident. - Frau Kollegin Däubler-Gmelin, ich habe eben gesagt - ich kann Ihnen den Brief in Fotokopie auch gerne zur Verfügung stellen - : Es mag schon sein, daß der zuständige Kommandeur des Bundesgrenzschutzes zunächst darauf verwiesen hat, daß sich die ursprünglich mit dem Land Niedersachsen abgeschlossene Vereinbarung ausdrücklich auf das Sonderprogramm der Bundesregierung zur Unterbringung von Aussiedlern bezogen hat. Aber nachdem das Bundesinnenministerium von der niedersächsischen Landesregierung darauf angesprochen worden war, hat der Staatssekretär Kroppenstedt dem niedersächsischen Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten mit Schreiben vom 4. Oktober - heute ist der 18. Oktober - mitgeteilt, ({0}) daß das Bundesinnenministerium damit einverstanden ist, daß die Nutzungsart für die Unterbringung von Asylbewerbern geändert wird und daß die Grenzschutzverwaltung Nord entsprechend beauftragt worden ist. Die Sache ist damit zwischen uns in Ordnung. Nicht in Ordnung ist aber, daß der Vertreter der niedersächsischen Landesvertretung hier in diesem Hohen Hause die Unwahrheit gesagt hat. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Thierse das Wort.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Dienstag dieser Woche war in Zeitungen folgende Meldung zu lesen: „Jeder zweite Sozialhilfeempfänger in den neuen Bundesländern ist jünger als 25 Jahre. " Das teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Montag mit. Was hat das in dieser Meldung mitgeteilte Faktum mit dem Thema dieser Debatte zu tun, mit den Ausbrüchen von Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß in unserem Lande? Denn ich denke, es handelt sich in der Tat um Ausländerfeindlichkeit. Ich kann es nur für eine gefährliche Verharmlosung halten, wenn der Herr Bundesinnenminister sagt, dies sei keine Ausländerfeindlichkeit. Dies sind Ausbrüche, die - ich kann und will mich nicht gegen diesen Vergleich wehren - an die entsetzlichen Bilder aus der Spätzeit der Weimarer Republik und aus der Aufstiegsphase des deutschen Faschismus erinnern. Wehret den Anfängen! Verharmlosung ist keine Abwehr! ({0}) Ich denke, wir sind uns darin einig, daß Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß nicht ein spezifisch ostdeutsches Problem sind. Die Tatsachen sprechen eine ganz eindeutige Sprache. Hoyerswerda ist furchtbarerweise überall in Deutschland. Ich bitte also, das auf keinen Fall zu einem emotionalen Thema der Spaltung zu machen und Vorurteile nach dem schlimmen Muster zu verschärfen: „Jetzt schleppen die Ossis nicht nur ihren Stasi-Dreck hier herein, sondern überziehen uns auch noch mit ihrem Nationalismus. " Auch die mich am meisten bestürzende Beobachtung, daß den verbrecherischen Tätern eine Menge von Menschen schweigend - angstvoll schweigend oder zustimmend schweigend - zugeschaut hat, wird mich nicht dazu verleiten, die Ursache einfach im deutschen Charakter zu suchen. Ich hasse sowohl mystifizierende wie auch monokausale Erklärungen. ({1}) Trotzdem - frei nach dem Satz von Bertolt Brecht „Mögen andere von ihrer Schande reden, ich rede von der meinigen" - möchte ich vor allem über ostdeutsche Ursachen von Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß und ebenso über den Zusammenhang dieser Ausbrüche mit dem Prozeß der deutschen Einigung reden, und zwar ausdrücklich mit dem Blick auf mittel- und langfristige Aufgaben. Es ist nämlich meine Überzeugung, daß die Ausländerfeindlichkeit heute ein Menetekel viel tiefergehender sozialer Konfliktkonstellationen ist. ({2}) Die Reduktion der Debatte auf die Asylrechtsfrage und technische und organisatorische Fragen der Asylrechtspraxis, so wichtig und notwendig diese Fragen sind, stellt, denke ich, eine Verkürzung und Verfälschung der wirklichen Problemlage dar. Ich will das in ein paar Punkten zu erläutern versuchen: Erstens, zur spezifischen Vorgeschichte der gegenwärtigen Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland: Wir hatten bei uns im Osten Deutschlands immer Ausländerfeindlichkeit. Sie ist immer unter den Teppich gekehrt worden, bzw. - noch schlimmer -sie ist von der ehemaligen SED-Führung hie und da auch instrumentiert worden. Ich erinnere an die latenten antipolnischen Gefühle eines Teils der Bevölkerung der ehemaligen DDR. Dies war unverzeihlich und bleibt unverzeihlich. Wir hatten einen diktierten Internationalismus, der nicht frei machte, sondern angst machte und das Gegenteil von dem erzeugte, was er wollte. Wir haben in einem autoritären Staatswesen gelebt, das die Menschen nicht innerlich frei machte zur Begegnung mit anderen. Wir haben schlicht unter einer großen Käseglocke gelebt, eingesperrt; d. h. die meisten Menschen hatten nicht die Möglichkeit, alltäglich positive Erfahrungen mit Ausländern zu machen, alltäglich zu erlernen, daß Ausländer eine Bereicherung sein können. Das fehlt uns. Zweitens. Die deutsche Einigung ist - ich habe an anderer Stelle davon gesprochen - verbunden - ob wir es wollen oder nicht, ob die Menschen recht haben oder nicht - mit mancherlei Überforderungsängsten, mit Ängsten, daß diese deutsche Einheit zu teuer ist, daß sie in ihr eigenes Leben auf eine Weise eingreift, die ihnen angst macht. Ich denke, solche Art Ängste, die sich auch als Ängste vor den Fremden, vor den Ausländern, vor den zu uns Kommenden ausdrücken, parteipolitisch zu instrumentieren ist unerträglich. ({3}) Wir sollten diese Ängste ernst nehmen; sie sind nicht per Befehl zu beseitigen, per Dekret. Sie sind ernst zu nehmen - ob ich sie als Individuum teile oder nicht - , um sie abzubauen und nicht, um sie parteipolitisch zu instrumentieren. Auch Nationalismus ist nicht die Lösung für solche Ängste, sondern nur nationale Solidarität als alltägliche, als soziale Solidarität im eigenen Land kann solche Ängste überwinden. ({4}) Drittens. Wir erleben in Deutschland, viel stärker im Osten, etwas, was sich mit diesem hochproblematischen Wort Identitätskrise der Deutschen nur ungefähr beschreiben läßt. Daß in Ostdeutschland sehr viele Menschen, zumal junge, ihre eigene Biographie neu interpretieren müssen, daß sie das, was sie für wichtig, für wertvoll, für gut und für schlecht gehalten haben, politisch, weltanschaulich neu definieren müssen, ist ein sehr anstrengender Prozeß. In einer Phase, in der es viel schwerer fällt als zuvor, die eigene Identität positiv zu definieren, funktioniert ein uralter Mechanismus: Identität vor allem durch Ausgrenzung, durch Abgrenzung, also negativ, zu definieren. Das ist etwas, was gegenwärtig passiert. Man definiert sich durch Abgrenzung gegenüber dem Schwächeren, durch Ausgrenzung. Aber auch hier hilft nicht Nationalismus, sondern die Antwort muß sein, Lernprozesse zu organisieren, Lernprozesse der positiven Wahrnehmung von Identität und der positiven Wahrnehmung von Fremdheit und Andersheit. An der multikulturellen Gesellschaft als einem Ideal wollen wir festhalten, aber dies ist nicht von heute auf morgen zu erreichen, sondern nur über Zwischenschritte des Lernens, die gerade im Osten Deutschlands wirklich erst noch zu organisieren wären. Viertens. Wie ist es zu erklären, daß vor allem junge Leute beim Rechtsradikalismus eine so große Rolle spielen? Was passiert da eigentlich, daß sich junge Männer in Bomberjacken versammeln und sich aggressiv verhalten? Ich denke, wir müssen darüber nachdenken, was das über den Zustand unserer Demokratie aussagt. Ich glaube, die, die da so aggressiv agieren, teilen uns etwas mit über Handlungsblockaden, über Mitwirkungsdefizite, über ihre undeutliche Erfahrung, daß sie Objekte eines Prozesses sind, in den sie als Subjekte nicht eingreifen können. Dieses Defizit an Handlungsmöglichkeiten, diese Blockaden des Mitwirkens, des demokratischen Einfluß-nehmen-Könnens wirken sich so aus, daß falsch ausagiert wird, aggressiv ausagiert wird gegenüber dem Schwächeren, weil man dann plötzlich, indem man auf den Schwächeren tritt, meint - das ist der fatale Mechanismus - sich selber zu erhöhen und etwas mehr zu sein und etwas zu tun, ein Akteur zu sein, der man sonst nicht sein kann. Auch hier hilft nicht Nationalismus, sondern es helfen die Erweiterung und die Vertiefung von alltäglicher Demokratie. Ein weiterer Punkt. Es gibt ja nicht nur Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß. Es gibt auch eine Zunahme von Kriminalität, gerade im Osten Deutschlands, Herr Innenminister, eine alarmierende Zunahme. Es war nicht das Schlechteste in der ehemaligen Gesellschaft der DDR, denke ich, daß wir nicht gelernt haben, unsere Ellenbogen richtig zu gebrauchen. Aber jetzt wird das von allzu vielen allzu schnell erlernt. Wir rücken nicht nur in eine demokratische Gesellschaft ein, sondern wir rücken auch in eine Konkurrenzgesellschaft ein. Ich beobachte ein Abnehmen der Fähigkeit, soziale Konflikte friedlich auszutragen. Wir sollten, auch angesichts dieses konkreten Themas, denke ich, beunruhigt sein über das Schwinden der integrativen Kraft unserer dem Programm, dem Anspruch nach doch offenen Gesellschaft. Wenn diese Beobachtungen über Zusammenhänge und Ursachen von Ausländerfeindlichkeit und FremWolfgang Thierse denhaß ein wenig stimmen - es sind Hypothesen, es sind Näherungsversuche -, dann sollten sie uns auffordern, darüber nachzudenken und uns zwischen Politik und Wissenschaft und Kirchen und Kultur über einige Punkte zu verständigen. Erstens. Wir sollten uns - das ist etwas Selbstverständliches - über die Wiederherstellung eines gesellschaftlichen Klimas verständigen, in dem Aggressionen gegen Ausländer schlicht Verbrechen sind. ({5}) Zweitens. Wir sollten uns darüber verständigen, wie wir Lernprozesse gerade im Osten Deutschlands organisieren können, in denen Fremdheit, in denen Anderssein positiv erfahren und bewertet werden können, also nicht als angstmachend, nicht als die eigene Identität gefährdend. Drittens. Wir sollten darüber nachdenken, wie man Ängste wirklich ernst nehmen kann, ohne sie parteipolitisch zu instrumentalisieren, sie also ernst nehmen kann, um sie abzubauen. Viertens. Wir sollten Verständigungsprozesse organisieren und über die demokratischen Mitwirkungs- und subjektiven Handlungsmöglichkeiten für die Individuen und vor allem für die jungen Leute reden. Wir sollten darüber nachdenken, wie veraltet - wie veraltet! - den jungen Leuten unsere Parteiendemokratie vorkommt. Fünftens. Wir sollten darüber nachdenken, wie die integrativen Kräfte der Gesellschaft gestärkt werden könnten, aber so, daß sie die Individuen nicht unterdrücken. Ich komme aus einem Land, aus einem Staatswesen eines Zwangskollektivismus. Dies ist nicht gemeint. Sechstens. Wir müssen grundsätzlich lernen, neu über friedliche Lösungen in sozialen Konflikten, im Streit um das Teilen, im Verteilungskampf nachzudenken; denn - das merken wir doch jetzt schon; auch dafür ist die Ausländerfeindlichkeit ein Menetekel - die Einheit Deutschlands, die Einheit Europas, das wird keine Idylle sein. Die erkennbare Mühe um soziale Gerechtigkeit - nicht erst ihr Gelingen; wann je wird soziale Gerechtigkeit voll gelingen? - wird eine elementare Voraussetzung dafür sein, daß wir Konflikte friedlich austragen können. Eine letzte Bemerkung. Wir können durch eine Änderung unserer Asylgesetzgebung und der Asyl-rechtspraxis, so notwendig und sachgerecht diese im einzelnen sein können oder müssen, die Flüchtlingsproblematik der Welt nicht lösen - das ist verschiedentlich gesagt worden - , die Ursachen für Fluchtwellen nicht beseitigen. Aber wir können, indem wir uns der Aufgabe stellen, eine offene Gesellschaft, eine wirklich demokratische und nicht nur repräsentativdemokratische Gesellschaft zu schaffen, und diese Hausaufgabe lösen, einen Beitrag dazu leisten, daß die Probleme, von denen wir heute reden, anders gelöst werden als bisher. Es wäre furchtbar, wenn die deutsche Einheit, das Wiedererstehen eines deutschen Nationalstaats unabwendbar verbunden wäre mit Aggressivität, mit Ausgrenzung, mit dem Wiedererstehen eines deutschen Nationalismus. Dann wäre sie ein Irrtum, ein Fehler gewesen; aber nur dann. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nun die Abgeordnete Frau Funke-Schmitt-Rink.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Herren, meine Damen! Wir verurteilen die gewalttätigen fremdenfeindlichen Anschläge aufs schärfste. In uns mischen sich Mitgefühl für die Opfer, Entsetzen, Scham und ohnmächtige Wut auf die Täter. „Schande über Deutschland", stellt Theo Sommer selbstquälerisch fest. Wir trösten uns mit der Feststellung, daß es ja nur eine Minderheit von einigen hundert jugendlichen Verblendeten und Irregeleiteten sei, die die bei uns lebenden Ausländer zur Zielscheibe von Gewalt mache. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die EMNIDUmfrage, nach der 34 % aller Deutschen Verständnis für rechtsradikale Tendenzen hätten und untätig die Gewalttaten beobachteten. Es ist völlig unbestritten, daß die jugendlichen Kriminellen verurteilt werden müssen. Sie können nicht auf unser Verständnis rechnen. Doch, meine Herren und Damen, was ist mit den vielen Jugendlichen zwischen 15 und 20 Jahren, die dem Dunstkreis der rechtsradikalen Szene angehören, die Gewalt als politisches Mittel akzeptieren, ohne bisher auffällig geworden zu sein? Verstärkte Polizeimaßnahmen und der Aufbau von Verfassungsschutzämtern sind notwendig. Aber diese Maßnahmen dienen nur der Entsorgung. Sie packen das Problem nicht an der Wurzel. Die von Jugendlichen aus alten und neuen Bundesländern vor laufenden Kameras ungeniert gemachten Äußerungen über die Akzeptanz von Gewalt, über bewußte Intoleranz gegenüber Schwächeren, hier Ausländern, erschüttern uns und zwingen uns eine neue Jugenddebatte auf. Warum Jugendliche? Warum jetzt dieser plötzliche Ausbruch von Brutalität und Gewalt, und zwar bei Ost- ebenso wie bei Westjugendlichen? Handelt es sich nur um Nachahmung oder vielleicht auch um eine Sinnsuche? Wir stehen vor folgendem Grundproblem: Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, damit Jugendliche aus Ost- und Westdeutschland die Chance bekommen, Selbstbewußtsein und soziale Handlungsfähigkeit zu erlernen, damit sie den Anforderungen und Bedingungen ihrer eigenen Sozialisationsbiographie in der Gesellschaft der neuen Bundesrepublik Deutschland entsprechen können? Hier hat auch die Politik Verantwortung. Lebensläufe stellen sich nicht von alleine her, sondern müssen vom einzelnen mit allen Chancen und Verwerfungen selber geschaffen werden. Die heutige Lebenssituation wird - holzschnittartig - von zwei gegenläufigen Entwicklungstrends bestimmt. Auf der einen Seite ist auf Grund des zunehmenden Verlusts von traditionellen Identitäten, z. B. Kirche, Nachbarschaft, Lebensmilieu, ein Verlust an Eigenverantwortlichkeit und Individualisierung, die sich in Schüben vollziehen, festzustellen, während auf der anderen Seite gleichsam eine Entindividualisierung im Sinn erhöhter Austauschbarkeit von Personen infolge von Anonymisierung stattfindet. Diese komplizierte Gemengelage der modernen Gesellschaft mit neuen Freiräumen und neuen Zwängen bereitet auch Jugendlichen in den alten Bundesländern Probleme; wieviel mehr dann natürlich den Ostjugendlichen. Der erste wirkliche Schock für diese war nach dem Zusammenbruch des DDR-Staates eine blitzartige Verwandlung vieler Älterer in das Gegenteil dessen, was zu sein sie bisher behauptet hatten. Die Erfahrung, daß Anpassung in ganz verschiedenen Kleidern möglich ist und belohnt wird, läßt viele Jugendliche irrational reagieren. Die wichtigste Ursache für ihre Identitätskrise ist weniger intellektuell als emotional begründet: Es ist das weit verbreitete Gefühl, betrogen worden zu sein. Radikale und einfache Leitbilder, die in populistischer Weise Zukunftsängste und Fluchtwege formulieren, werden bereitwillig angenommen. Jugendliche aus der Ex-DDR setzen eine Antikultur gegen die Unkultur der FDJ. Sicher gibt es DDR-spezifische Ursachen des Rechtsextremismus. Eine Hauptquelle ist sicher das Aufwachsen in repressiven Verhältnissen. Nach der Wende trat eine anomische Situation ein, eine Norm- und Regellosigkeit, so daß Gewalt freien Lauf erhielt, weil Angst und Aggression dominierten. Nicht jede Form von Gewalt ist mit rechtsextremistischen Orientierungen verbunden. Aber die Gefahr ist, weil jeder nach guten Gründen für sein Handeln sucht, dann groß, wenn Gewalt als sinnvoll und legitim erlebt und erklärt wird. Diese Begründung bietet der Rechtsextremismus an. Jugendliche, die eine solche Legitimation finden, sind also in der Regel keine Neonazis, sondern sie benutzen diese ideologischen Positionen, um das gewalthaltige Tun für sich selber subjektiv sinnhaft zu machen. In diesem Punkt treffen sich Ost- und Westjugendliche. Auf Westjugendliche wirken Wende und Vereinigung nicht als unmittelbar biographischer Einschnitt, sondern als Angstauslöser. Zum einen ist es die Verunsicherung der eingespielten BRD-Identität, auf der anderen Seite ist es die konkrete Angst um Bildungs-, Ausbildungs- und Berufschancen. Dies gilt vor allem für Westjugendliche der unteren sozialen Schichten. Viele Rechtsradikale gehören zu diesem Milieu. Das rechtsradikale Lebensmuster gibt ihnen die Möglichkeit, andere Werte gegen die gesellschaftlich geforderten zu setzen. „Stolz auf Deutschland" oder „Meine Ehre ist Treue" sind Ausweichmuster. Gewalt fasziniert, weil sie z. B. Eindeutigkeit in unübersichtlichen Situationen schafft. Identitätsfindung wird in der Abgrenzung zu anderen ethnischen Gruppen und in der verbalen Übersteigerung der eigenen völkischen Wertigkeit gesucht. - Ich bin gleich am Schluß. Soweit die Analyse. Gibt es Lösungsansätze, die auf die Ursachen von Gewalt und nicht auf die Symptome zielen? Um es vorweg zu sagen: Die Vermittlung gesellschaftlicher Leitbilder, die auf den demokratischen Werten Freiheit, Gleichheit und Toleranz basieren, ist ein schwieriger und langwieriger Prozeß. Er sollte beginnen mit dem Abbau der Fremdenfeindlichkeit und mit dem Abbau der Akzeptanz der gewöhnlichen Gewalt im Alltag, z. B. in der politischen Sprache. Die Begriffe „Asylant", „durchrasste Gesellschaft" oder - ganz neu - „multikriminelle Gesellschaft" zeigen, wie verantwortungslos und gewalthaltig hier diskutiert wird. ({0}) Solche Äußerungen vernimmt man leider auch von Politikern. Wir sollten aber nicht vergessen, daß Toleranz nicht verordnet, sondern nur vorgelebt werden kann. Fazit: Wir brauchen eine neue Jugendpolitik. Jugendliche sind wie Seismographen für gesellschaftliche Stimmungen und Wandlungen. Ich kann und will an dieser Stelle keinen Maßnahmenkatalog vorschlagen. Die neuen Konzepte müssen jetzt - jetzt! - erarbeitet werden. Damit komme ich zum Schluß. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, mit einer Änderung oder einer Nichtänderung des Asylgrundrechts würden wie von Geisterhand Gewaltbereitschaft und Fremdenhaß verschwinden. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Um einen kurzen Beitrag hat der Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Niedersachsen, Herr Trittin, gebeten. Herr Minister, Sie haben das Wort. Minister Jürgen Trittin ({0}) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundesminister des Innern hat versucht, dem Land Niedersachsen an dieser Stelle nachzusagen, ({1}) wir würden mit der Wahrheit nicht korrekt umgehen. ({2}) - Der Vertreter des Landes Niedersachsen. Sind Sie damit einverstanden? - Sie ziehen es nur in die Länge. Ich möchte dazu folgendes festhalten: Herr Schäuble hat hier ausgeführt, daß mit Datum von Anfang Oktober sein Staatssekretär nunmehr gesagt habe: Seien Sie mit der anderen Nutzung der Einrichtung in Hannover einverstanden! Das ist richtig. Das haben wir nie bestritten. ({3}) Ich bestätige Ihnen gerne, daß wir seit Anfang Juni, seit die Stadt Hannover gezwungen ist - Sie können gern das Schreiben des Stadtdirektors von Hannover zur Verfügung gestellt bekommen - , Zelte aufzustelMinister Jürgen Trittin ({4}) len, in einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Bund über diese Frage sind. Es ist eine Tatsache - diese Tatsache habe ich hier wiedergegeben -, daß wir sozusagen vom Bund als von der aufsichtsführenden Stelle angehalten worden sind, die falsche Nutzung dieser Einrichtung zu unterbinden. Ich füge ein Zweites hinzu, damit auch deutlich wird, mit welchen Formen von Tricks und Ablenkungen hier operiert wird. - Ich habe Ihnen nicht nur dieses Beispiel genannt. Ich sage Ihnen: Ich nehme alles, was ich zu diesem Komplex an Vorwürfen gegenüber der Bundesregierung formuliert habe, zurück, ({5}) wenn der Bundesminister des Innern seine strikte Weigerung zurücknimmt, die 4 000 Plätze in Osnabrück und Bramsche, die als Grenzdurchgangslager zur Verfügung stehen, vorübergehend für den Zweck der Erstaufnahme für das Land Niedersachsen zur Verfügung zu stellen. Er hat nämlich versucht, mit der Zurverfügungstellung einer vergleichsweise kleinen Einrichtung - da ist es nach monatelangem Bedrängen, nach monatelanger Zusammenarbeit mit der Stadt Hannover gelungen, ihn dazu zu bringen, nun endlich einmal eine Einrichtung herauszurücken - davon abzulenken, ({6}) daß seine große Weigerung, 4 000 Plätze zur Verfügung zu stellen, nach wie vor besteht. ({7}) Dies kann ich hier nicht so stehenlassen. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Minister, sind Sie noch bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? - Bitte schön, Herr Abgeordneter Schwarz!

Stefan Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, wir haben, nachdem Sie aus sicher guten Gründen die Diskussion, die Debatte hier hatten verlassen müssen ({0}) - Ich meine das jetzt wirklich, bitte schön, verbindlich und nicht etwa provokativ. Ich möchte Sie vor dem Hintergrund des weiteren Debattenverlaufs fragen: Glauben nicht auch Sie, daß es vernünftiger gewesen wäre, vor folgendem Hintergrund die ganze Wahrheit zu sagen? Der Bundesinnenminister hat ausgeführt, daß der von Ihnen erwähnte Kommandant des Grenzschutzkommandos die Verhandlungen geführt hat, indem er darauf verwies, daß es sich für ihn um eine Regelungsbasis gehandelt hat, die sich mit Aussiedlern beschäftigte, und daß er auf dieser Grundlage gesagt hat: Ich kann Ihnen da keine Zugeständnisse machen. Sie konnten auf Ihrer Seite einen Erfolg verbuchen, indem Sie den Bundesinnenminister mit Ihrer Initiative veranlassen konnten, dies zu ändern. ({1}) - Ich bin dabei. Wäre es nicht günstiger gewesen, sie hätten auch diesen Teil der Wahrheit gesagt? Das hätte uns viel Schärfe erspart. Minister Jürgen Trittin ({2}): Herr Abgeordneter, in aller Sachlichkeit: Ich könnte auch noch Geschichten zum Bundesverteidigungsministerium und weiteren erzählen. ({3}) Ich könnte dies alles gerne tun. Ich will das nicht, weil ich gebeten worden bin, sachlich auf die Frage zu antworten. Herr Gerster, daß Ihnen Sachlichkeit in dieser Frage fremd ist, das ist schon lange bekannt. ({4}) Ich sage Ihnen: Wir haben uns in dieser Frage lange Zeit im Guten bemüht. Die Landesregierung Niedersachsen ist es leid - ich sage das ganz deutlich -, sich vom Bund in dieser Frage Verpflichtungen vorhalten zu lassen, und daß es bei so einfachen Handhabungen wie bei der simplen Frage: Ist es günstiger, beispielsweise in Osnabrück 800, 900 Plätze Leerstehen zu lassen oder 200 Plätze in Zelten zu schaffen? nicht mehr möglich ist, sich pragmatisch, zu verhalten, sondern Dogmen gepflegt werden, etwa dergestalt, daß man die Einrichtungen auch nicht vorübergehend zur Verfügung stellt. Aus dieser Verantwortung kann die Landesregierung Niedersachsen die Bundesregierung und den dafür zuständigen Bundesinnenminister in keiner Form entlassen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn vor drei Jahren gesagt worden wäre, es werde in diesem Land einmal wieder aus rassischen Gründen gejagte Menschen, verbrannnte Kinder, Verletzte und Tote geben, wäre das zumindest für sehr unwahrscheinlich gehalten worden. Heute im Jahr 1 des neuen, durch den Anschluß der DDR wieder großgewordenen Deutschlands, sind Pogrome in diesem Land mit der verbrecherischen politischen Vergangenheit des dutzendjährigen dritten deutschen Reiches wieder an der Tagesordnung. Mit der Herausbildung eines neuen, großen, politisch und ökonomisch potenten Deutschlands hat dieser Rassismus, der jetzt in dieser Zeit wieder auftaucht, zu tun. Begriffe wie „Fremdenhaß" oder „Ausländerfeindlichkeit" verharmlosen eigentlich nur. Es ist Rassismus, eine Welle rassistischer Angriffe mit Pogromcharakter, die die Grundlage auch dieser Asyldebatte hier sind. Die Mittel, die Sie vorschlagen - Grundrechtsänderung, Verkürzung der Verfahrensdauer und viele andere - sind das eine. Es geht aber noch in eine ganze andere schlimme Richtung. Der Begriff „Sammellager" taucht wieder auf. Können Sie sich vorstellen, was es z. B. in den Niederlanden hervorrufen würde, wenn hier wirklich wieder Sammellager eingerichtet würden und dann aus sehr naheliegenden Gründen womöglich nach kurzer Zeit Stacheldraht um die Sammellager gezogen würde, vermutlich mit der Begründung, die in den Lagern befindlichen Personen zu schützen? Ich denke, die Mittel, die Sie vorschlagen, lösen die Probleme wirklich nicht. Da müssen wir ganz anders ansetzen. Dieser Rassismus - das möchte ich aus meiner Sicht ganz deutlich sagen - hat nichts oder kaum etwas mit fehlenden Arbeitsplätzen oder Wohnungen zu tun. Ich glaube eher, daß dieser Zusammenhang bewußt und konstruiert in die öffentliche Debatte eingeführt wird. Dahinter steckt die Absicht, die gesellschaftspolitische Entwicklung insgesamt noch weiter nach rechts zu treiben, als es schon bisher der Fall ist. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot hat es auch früher gegeben, ohne daß es zu Pogromen gekommen wäre. In anderen Ländern gibt es ähnliche soziale Situationen. Die Arbeitslosigkeit in den Niederlanden ist höher als bei uns. Haben Sie schon einmal etwas von einer solchen Welle von Ausschreitungen in den Niederlanden gehört? Es muß also mit etwas anderem zu tun haben. Es hat, denke ich, auch damit zu tun, daß in Deutschland - ich sage deutlich: nicht nur im Osten, sondern vor allem im Westen Deutschlands - viele Menschen einfach Angst haben, auch vor der anderen Art von Menschen aus anderen Ländern, vor der anderen Lebensart. Darin ist gelegentlich sogar ein Moment von Neid enthalten. Ich denke, daß die Vorgänge in Hoyerswerda irgend etwas damit zu tun hatten, daß es viele Deutsche in der Gegend gestört hat, daß die Ausländer dort lange gefeiert haben. Aber warum sollen sie nicht feiern? Daraus solche entsprechenden Aktionen, wie wir sie inzwischen an sehr vielen anderen Stellen, gerade im Westen, erlebt haben, mit Verletzungen von Menschen abzuleiten, das, denke ich, ist schlicht und einfach Rassismus. Das hat nichts mit objektiven ökonomischen und sozialen Gegebenheiten zu tun. Vergessen wir nicht - ich habe es soeben schon angesprochen - : Diese Pogrome werden im Ausland zu Recht mit großer Bestürzung und großer Sorge betrachtet. Es sollte nicht unsere Hauptsorge sein und sollte uns nicht in erster Linie beschäftigen, wie unser Bild draußen ist, aber ich möchte auch darauf hinweisen; denn das ist in diesem Zusammenhang noch nicht angesprochen worden. Im Zusammenhang mit den Übergriffen in Hoyerswerda und anderswo, vor allem in Saarlouis im Westen und in Hünxe - wo nach dem ganz schlimmen Vorfall zwei libanesische Kinder, die wahrscheinlich nie mehr in ihrem Leben imstande sein werden, das Erlebte richtig zu bewältigen, verbrannt worden sind -, habe ich in einem französischen Sender einen Kommentar gehört, in dem die Befürchtung geäußert wurde, daß nach diesen Übergriffen auf Asylanten und Asylantinnen als nächstes auch Übergriffe auf Angehörige der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland stattfinden. Das sind Stimmen in Frankreich. Ist das so weit weg? In den Niederlanden berichten mir Nachbarn, beispielsweise Deutsche - auch meine Frau hat mir das berichtet - , daß es inzwischen gelegentlich etwas schwierig geworden ist, sich als Deutscher oder als Deutsche in der Öffentlichkeit einfach zu präsentieren. Ich denke, hier ist ein Prozeß im Gang, der ein über lange Jahrzehnte einer insofern relativ positiven Entwicklung in der Nachkriegszeit aufgebautes Vertrauen in unseren westlichen Nachbarländern - aber natürlich auch in anderen Nachbarländern - , zerstört und weiter zerstören wird. Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu richtig, zu fordern - das tun wir als PDS/Linke Liste - , daß Deutschland ein offenes Land mit offenen Grenzen bleibt. Das ist auch ökonomisch und sozial durchaus zu vertreten. Die Ängste, die hier geschürt werden, sind völlig unberechtigt. Ich möchte an dieser Stelle ganz klar sagen: Die Tatsache, daß der Schwerpunkt der Pogrome inzwischen im Westen liegt, zeigt deutlich, daß es nicht die Schuld der DDR sein kann. Vielmehr hat das etwas mit dem zu tun, was ich eingangs angesprochen habe, nämlich daß durch die neue großdeutsche Entwicklung ein Rahmen, ein gesellschaftliches Klima geschaffen worden ist - das die entsprechenden politischen Kräfte natürlich auch systematisch nutzen -, ({0}) das in der weiteren Entwicklung solche Pogrome hervorgerufen hat. - Ein letzter kurzer Punkt noch, Herr Präsident. Dann bin ich zu Ende. Zu beklagen ist in diesem Zusammenhang besonders die doppelte Sprache, mit der Sie sich hier äußern, die Doppelstrategie: Hier reden Sie zahm, freundlich und friedlich, und draußen wird geschürt - ich meine jetzt vor allem die Vertreter der CDU/ CSU. Aber gucken wir uns doch einmal die reale praktische Politik in diesem Hause an - ich habe sie heute schon einmal erwähnt - : Die Entwicklungshilfe - sie ist sicher einer der wichtigsten Punkte, um an den Ursachen anzusetzen - wird im nächsten Jahr laut der Haushaltsplanung noch nicht einmal im Maß der Preissteigerungsrate angehoben werden. Das heißt, sie sinkt real.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, Sie haben soeben selber auf das Ende Ihrer Rede hingewiesen. Ich bin sehr großzügig; aber kommen Sie jetzt bitte zum Schluß!

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Es kommt jetzt sozusagen der letzte Halbsatz: Wir haben gestern über das Strukturhilfegesetz debattiert. Da werden den Gemeinden, die gerade von dieser Entwicklung betroffen sind und die sich mit diesem Problem herumschlagen müssen, 2,45 Milliarden DM im Jahr weggenommen. Das ist die Realität. ({0}) - Natürlich, aber dann müssen Sie sich überlegen, wie Sie im Westen entsprechende andere Mittel zur Verfügung stellen. ({1}) - Nein, dagegen sind wir nicht. Wir haben doch vorgeschlagen: Kürzen Sie den Rüstungsetat; dann haben Sie viel mehr Mittel zur Verfügung. Ich danke. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Hedrich das Wort.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines der höchsten Güter der Menschheit ist die Gastfreundschaft, die Bereitschaft, dem Fremden mit Respekt und Achtung zu begegnen. Der so Aufgenommene wird es seinem Gastgeber positiv vergelten. Gastfreundschaft als Element menschlichen Miteinanders verliert ihren Charakter der Nächstenliebe, wenn der Gastgeber seine Tür verschließt oder wenn der Gast ihn emotional und materiell überfordert. Eine besondere Fürsorge weisen alle großen Religionen der Behandlung des Flüchtlings zu. Bei allem Streit, bei allen Problemen können wir durchaus feststellen, daß unser Land und unsere Bürger ihrer Verantwortung gegenüber den ausländischen Mitbürgern gerecht geworden sind. ({0}) Aber wir dürfen auch der Frage nicht ausweichen, ob wir unserer Verantwortung bei der Bekämpfung der Ursachen von Flüchtlingsnot ausreichend Rechnung getragen haben. ({1}) Im wesentlichen sind es drei Ursachen, die Menschen veranlassen können, ihre Heimat zu verlassen: Krieg, Armut und Unfreiheit. Beispiel Jugoslawien: Kamen in den letzten Jahren ca. 20 000 Asylbewerber pro Jahr, so sind es in diesem Jahr bereits 40 000. Mit den kriegerischen Auseinandersetzungen stieg die Zahl im August mit 7 400 und im September mit 10 700 sprunghaft an. Die serbische Aggression war nur möglich, weil Europa versagte. Hätte die EG rechtzeitig reagiert und angemessen gehandelt, wären nicht Tausende von Bürgern gezwungen gewesen, in ihrer Not und Verzweiflung Zuflucht in unserem Land zu suchen ({2}) und ein Problem zu verschärfen, über dessen Lösung wir mit Verbitterung streiten. ({3}) Beispiel Afrika: Die Statistik des UNHCR wies am 1. September 1991 allein für Äthiopien und Sudan über eine Million Flüchtlinge aus, bei einer Zahl gleichzeitig Zurückkehrender von 600 000. Menschen verlassen wegen Kriegswirren zu Millionen Haus und Hof, kehren in zaghafter Hoffnung zurück, fliehen erneut; Flüchtlingsströme begegnen sich hin und her getrieben durch die Soldateska skrupelloser Machthaber. Das humanitäre Europa schickt Lebensmittel; das politische Europa schaut weg. Denn wir sind nicht bereit, die Tabus unserer Afrikapolitik zu hinterfragen. Glaubt denn jemand allen Ernstes, daß Afrikas staatliche Grenzen im Jahre 2000 noch dieselben sein werden wie die des Jahres 1991? Im Regelfall ist es falsch, von Bürgerkrieg zu sprechen. Es sind die Völker, die die alten kolonialen Grenzen in zunehmendem Maß als Hindernis auf dem Weg zur nationalen Identität empfinden. Flucht und das Begehren nach Asyl sind der Ausdruck einer gequälten Menschheit. Auch die Völkerwanderung am Ende des römischen Weltreichs war die Suche nach einer besseren Zukunft, verursacht durch Hunger und Überbevölkerung. Was tun wir eigentlich, wenn sich die Menschen zu Millionen nach Europa und Nordamerika auf den Weg machen, um wenigstens einige Brosamen von den Tischen der Reichen zu erhaschen? Im Vergleich dazu wird der gegenwärtige Strom der Asylsuchenden wie ein schmales Rinnsal erscheinen. ({4}) Es ist kurzsichtig, für Flüchtlinge und Scheinasylanten Milliarden und Milliarden aufzuwenden und dem Entwicklungshilfeminister nur einen Etat zuzubilligen, dessen Steigerungsquoten unter der des Gesamtetats liegen. ({5}) Es geht nicht um die reinen Zahlen; es geht um das richtige Signal. Jede private Mark und jede öffentliche Mark, dort investiert, wo die Menschen wohnen und wo sie in der Regel auch bleiben möchten, erspart uns das Hundertfache an Aufwendungen für jene, die wegen der unerträglichen Lebensbedingungen zu Hause nach Norden und nach Westen wandern. Wen das Argument der Humanität nicht überzeugt, den überzeugt vielleicht der Selbsterhaltungstrieb. Das Schicksal Europas entscheidet sich am Hunger der Dritten Welt. „The have-nots ", wie die Amerikaner sagen, die Habenichtse dieser Erde, haben nicht viel zu verlieren, die Wohlhabenden vielleicht alles. Abgeben wird sich als Gewinn, nicht als Verlust erweisen. ({6}) Deutsche Entwicklungspolitik ist auf die Hilfe für die Schwächeren einer Gesellschaft ausgerichtet. Für die deutsche Politik sollte künftig gelten: Dort, wo Regierungen die Menschenrechte massiv verletzen und die politische und die wirtschaftliche Entfaltung der Bürger verhindern, ist die Regierung dieses Landes für uns kein Ansprechpartner mehr. ({7}) Dort, wo Regierungen und Parlamente sich ernsthaft um Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft bemühen, diese aber gegen die etablierten Interessen und deren bewaffnete Kräfte noch nicht voll durchsetzen können, soll die Bundesregierung die reformorientierte Verwendung ihrer Hilfe sicherstellen. Eine solche Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist friedensstiftend. ({8}) Flucht und das Begehren auf Asyl sind Zeichen der Verzweiflung. Deutsche Hilfe zur Selbsthilfe möchte und muß einen Beitrag leisten für mehr Hoffnung und Zuversicht in einer endlichen Welt. Ich bedanke mich. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Schmidt ({0}) das Wort.

Arno Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002000, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Daß wir heute erneut über Asylpolitik und die Situation der Ausländer in Deutschland debattieren, ist auf der einen Seite zu begrüßen, weil es unseren Willen, diesem Problem zu begegnen, ganz deutlich macht. Auf der anderen Seite ist es beschämend, daß sich Rechtsradikalismus in dieser Art und Weise Öffentlichkeit verschafft hat und noch verschafft. Dieses Thema verträgt ja an sich keinen Parteienstreit und erst recht kein Nachkarten im Anschluß an die Parteiengespräche. ({0}) Im Gegenteil, selten war das Wort vom runden Tisch wohl so angebracht wie in diesem Augenblick. Ich sage ganz offen, daß mir persönlich die Praktikabilität der Sammellager etwas zweifelhaft erscheint. Ich denke auch daran, daß in den letzten Jahren bereits mehrfach ohne Erfolg Regelungen zur Verfahrensbeschleunigung getroffen worden sind. Aber jede Verzögerung der Umsetzung der jetzt getroffenen Vereinbarungen wird einen drastischen Anstieg der Zahl von erforderlichen Sammelunterkünften bedingen und damit auch neue Probleme aufwerfen. Statt jetzt Änderungs- und Aushöhlungsvorschläge zu Art. 16 des Grundgesetzes nachzuschieben, sollte sich der Kräfteeinsatz erst einmal auf die zügige Umsetzung der Beschlüsse bündeln. Hier sollten die Länder an einem Strang ziehen. Wir haben heute ja gehört, daß sie sich gestern geeinigt haben. Bewährt sich das Verfahren nicht, muß neu überlegt werden. Aber man muß jetzt den Versuch einer Lösung unterhalb der Grundgesetzänderung auch wirklich wollen. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal an die Bevölkerung, gerade auch an meine sächsischen Landsleute, appellieren, sich deutlich von den permanenten Gewalttaten zu distanzieren. ({1}) Hier wird eine Region in Verruf gebracht, die ohnehin vor großen Problemen steht. Mit Ausländerhall lösen wir unsere vorhandenen Probleme nicht; denn nicht die Ausländer sind und waren es, die uns diese Probleme über 40 Jahre lang verschafft und sie vorbereitet haben. Setzen Sie, meine Landsleute, deshalb ohne Gewalt Zeichen von Toleranz, Solidarität und auch Verständnis. Ich möchte an dieser Stelle sagen, daß ich der festen Überzeugung bin, daß mit der Zuweisungsquote für die neuen Länder Fehler begangen wurden. Ich komme auch noch einmal auf meine Forderung zurück, eine überparteiliche Arbeitsgruppe „Maßnahmen gegen kriminelle Ausländerfeindlichkeit" einzusetzen, um Schritte von Polizei und Justiz koordinieren zu können; denn die Auswirkungen rechtsradikaler Gewalt müssen jetzt unbedingt eingedämmt werden. Tiefere Ursachen werden wir langfristig und behutsam zu bewältigen haben. Die Schmerzgrenze der Gewalt ist wohl auch für das Ausland erreicht. Wer sich einmal die Mühe macht, die Berichte aus den wichtigsten Hauptstädten zu studieren oder Kommentare ausländischer Zeitungen aus der jüngsten Zeit auszuwerten, bekommt einen beklemmenden Eindruck von den außenpolitischen Folgen der Ereignisse der letzten Wochen. Es tut schon weh, daß dann, wenn man sich gerade die Zugehörigkeit zu einem freiheitlichen demokratischen Deutschland erkämpft und internationale Anerkennung bisher den Prozeß der Vereinigung begleitet hat, von Rechtsruck, häßlichen Folgen der Wiedervereinigung, wachsender Nostalgie für die Nazizeit, von Rassismusepidemien, Lynchstimmung, einer Mauer des Hasses und von peinlicher Passivität und auch Zerfleischung der Politiker zu lesen ist. Im übrigen sind Bilder wie die von Hoyerswerda und anderswo für das Investitionsklima gerade in den neuen Länder alles andere als förderlich. Ich will nichts dramatisieren, aber die Lage in Deutschland wird in der Welt nun einmal geradezu seismographisch registriert. Es ist auch deshalb allerhöchste Zeit, das Amt der Ausländerbeauftragten mit erweiterten Kompetenzen auszustatten. ({2}) Es ist auch wichtig, die Europäisierung des Asylrechts zu forcieren. Die Harmonisierung ist einfach eine Notwendigkeit, um die Lasten einigermaßen gerecht zu verteilen, natürlich unter der Maßgabe des Individualrechts auf Asyl. Erforderlich ist es aber auch, schlüssige Konzeptionen hinsichtlich der Wanderungsbewegung von Ost nach West und von Süd nach Nord zu entwickeln, die auch eine Neuorientierung der Europäischen Wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Dritten Welt und den osteuropäischen Staaten beinhalten müssen Arno Schmidt ({3}) und die ohne einen Erfolg der GATT-Runde nicht denkbar sind. Unsere vorrangige Aufgabe im Augenblick ist es meines Erachtens, gemeinsam der Ausländerfeindlichkeit entgegenzutreten, denn auch die Vorsorge gegen Pogrome beginnt im Kopf. Danke schön. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Es spricht nun die Abgeordnete Frau Hämmerle.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Debatte jetzt etwas abblättert, so denke ich doch, daß die Reden in der letzten Stunde einen zweiten Schwerpunkt dieses Themas, der am heutigen Vormittag nicht so zu erkennen war, deutlich gemacht haben, nämlich die Ausländerfeindlichkeit. Deswegen bin ich doch froh, daß wir diese Debatte noch führen. Als am Montag dieser Woche eine Umfrage veröffentlicht wurde, aus der hervorging, daß sich 70 aller Deutschen in Ost und West schützend vor Ausländerunterkünfte stellen würden, war ich ein wenig erleichtert, obwohl der prozentuale Anteil natürlich noch höher hätte sein können. Meine Erleichterung wäre noch größer gewesen, wenn nicht verbrecherische und unmenschliche Anschläge auch aus meiner engsten Umgebung vor meinen Augen gestanden hätten. Ich habe mir einige notiert. Ich möchte jetzt nicht alle aufführen, um ein bißchen Zeit zu sparen, aber ein Vorkommnis, das sich am vergangenen Samstag in einem Supermarkt meines eigenen Wohnstadtteils ereignete, möchte ich Ihnen doch schildern: Vor der Kasse hatten sich lange Schlangen gebildet, wie das so üblich ist. Unter den Wartenden befand sich ein dunkelhäutiger junger Mann von etwa 20 Jahren: Sohn einer deutschen Mutter und eines amerikanischen Vaters, in diesem Stadtteil schon immer wohnend. - Plötzlich löst sich aus der Schlange der Wartenden ein älterer Mann, brav, geradezu bieder, ordentlich aussehend, und gebraucht diesem jungen Mann gegenüber Worte, die ich hier von dieser Stelle in diesem Hohen Hause nicht wiederholen kann. Die Worte gipfelten in dem Angriff: Hau doch ab, du dunkelhäutiger Bastard, in den Busch, wo du hergekommen bist. - Der junge Mann geht hinaus, tief getroffen, aber ganz still. Was mich viel tiefer getroffen hat, als man es mir erzählt hat, ist: Niemand sagte auch nur ein einziges Wort. So gut es auch ist, daß sich in manchen Gemeinden nun Bürgerinnen und Bürger zu Schutzmaßnahmen zusammenfinden, Nachtwachen vor Asylantenunterkünften organisieren - wie glücklicherweise z. B. auch in Hünxe -, so furchtbar ist dieses Schweigen. Ich empfinde es als das Allerschlimmste, daß Menschen, die schon in der zweiten Generation bei uns leben, wieder mit Angst aus dem Haus gehen, sich vor dem Einkaufen fürchten und um ihre Kinder bangen. Ich glaube, wir alle sollten uns gemeinsam mit aller Kraft gegen das wenden - dazu liegen ja genügend Anträge auf dem Tisch; wir haben sie im Laufe des Vormittags vielleicht schon ein bißchen aus den Augen verloren - , was ich mit diesem einzigen Beispiel klarzumachen versucht habe. ({0}) Man sagt, die Anschläge entstünden oft aus Angst und Hoffnungslosigkeit. Man sagt aber auch, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Deshalb müssen wir schon ernst nehmen, daß es manchmal Lebensangst oder das Gefühl, überflüssig zu sein, ist, was zu diesen schrecklichen Taten führt. Dies alles ist ganz schwerwiegend. Aber es ist nie und nimmer eine Entschuldigung für Gewalt gegen wehrlose Menschen, zumal gegen Kinder. ({1}) Ich hoffe und ich wünsche mir, daß sich die ermittelten 70 % der Deutschen tatsächlich schützend vor die Bedrohten stellen und das nicht nur am Telefon bei einer Umfrage halt so sagen. Zu diesen Deutschen gehören aber auch wir in diesem Hause. Auch wir sollten uns schützend vor die stellen, deren Leben bedroht ist, nicht nur verbal, nicht nur heute, nicht nur an diesem Rednerpult, sondern tatsächlich zur rechten Zeit. Ich glaube, wir tragen durch Angriffe, die wir in der politischen Szene miteinander ausfechten, zum Teil auch selbst dazu bei, daß wir nicht immer den richtigen Ton erzeugen, der in der Öffentlichkeit die Akzeptanz unserer ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erhöht. ({2}) Die Stiftung Weiße Rose e. V. in München, eine Organisation in der Nachfolge der Geschwister Scholl, hat eine Erklärung zu den Ausschreitungen gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger abgegeben. Demokratie werde mißbraucht, heißt es in dieser Erklärung, wenn Bürger versuchen, ihre Meinung mit Brachialgewalt durchzusetzen. Demokratie werde fragwürdig, wenn sie zu schwach sei, Gewalttätern das Handwerk zu legen, die Brandsätze in Wohnzimmer schleudern und Baracken mit schlafenden Menschen „abfackeln" . Gehe es um den Widerstand gegen Gewalt und um die Verteidigung der Menschenrechte, gelte heute wie damals ein Satz aus dem fünften Flugblatt der Weißen Rose, „Aufruf an alle Deutschen": Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt; entscheidet Euch, eh' es zu spät ist! Liebe Kolleginnen und Kollegen, mein Eindruck, entstanden durch zahlreiche Veranstaltungen, manchmal jeden Abend, ist der, daß unsere Bürgerinnen und Bürger, die Verantwortlichen in den Gemeinden, die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Vereine, die Religionsgemeinschaften und andere gesellschaftliche Gruppen gemeinsames Handeln von uns erwarten. Es ist mir ein ganz großes Anliegen, das am Ende dieser Debatte noch einmal zu sagen. Die Menschen sind davon überzeugt - diese Überzeugung ist auch meine - , daß nur eine gemeinsame Anstrengung der Demokraten diese schlimme Situation bewältigen kann. Die SPD-Fraktion hat einen zweiten Antrag mit dem Titel „Für eine neue Asyl- und Zuwanderungspolitik" vorgelegt. Heute ist schon sehr viel über Asyl und das Asylverfahren gesagt worden. Das will ich nun nicht mehr tun. Ich möchte mich noch ganz kurz einem anderen Aspekt der Zuwanderung zuwenden, nämlich dem der Aussiedler aus Ost-Südosteuropa und der Sowjetunion. 1,6 Millionen Menschen waren es in den letzten Jahren. Das sind weit mehr als alle Asylbewerber. Der Herr Staatssekretär Waffenschmidt hat Anfang dieser Woche verlautbart - ich bin davon überzeugt, daß es stimmt - , daß die Aussiedlerzahlen gesunken sind, und zwar um mehr als 50 %. Diesen Rückgang führt Herr Waffenschmidt unter anderem darauf zurück, daß sich die Minderheitenrechte für die Deutschen und die angelaufene Hilfe der Bundesrepublik auswirkten, insbesondere in Polen. Auch das bezweifle ich überhaupt nicht. Herr Waffenschmidt hat recht, wenn er das sagt. Ich freue mich auch, daß wir gestern den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit ratifiziert haben. Denn dieser Vertrag trägt sicherlich auch dazu bei. ({3}) Dennoch, meine Damen und Herren, glaube ich nicht, daß die Zuwanderung deutscher Aussiedler aus den erwähnten Ländern weiter nachlassen oder gar aufhören wird, am ehesten noch aus Rumänien. Hier gehe ich auch nach vielfacher eigener Anschauung davon aus, daß die Aussiedlung quasi abgeschlossen ist, von einigen Zehntausenden abgesehen, die aber für die große Bundesrepublik kein Problem mehr sein dürfen. Ganz anders freilich schätze ich die Lage in der sich auflösenden Sowjetunion ein, wo noch mindestens zwei Millionen Rußland- oder Wolgadeutsche leben, die überwiegend zur Ausreise entschlossen sind. Man muß kein Prophet sein, um zu sagen, daß diese Entschlossenheit mit der Zunahme der wirtschaftlichen und nationalen Schwierigkeiten wächst. Wenn mein Eindruck mich nicht völlig trügt, sind die Republiken nicht an der massenhaften Aussiedlung der deutschen Bevölkerung interessiert, und zwar aus den verschiedensten Gründen nicht. Dennoch wird sie von sowjetischer Seite aus kaum zu stoppen sein. Vielleicht würde sie etwas eingedämmt, wenn die autonome deutsche Republik käme. Aber Sie hören schon, daß ich diesen Satz mit einem „wenn" und mit einem Konjunktiv belaste. An diesem Wochenende - der Herr Staatssekretär Waffenschmidt ist dort, was ich sehr richtig finde, ebenso eine Delegation des Innenausschusses - findet in Moskau ein erneuter Kongreß der RußlandDeutschen statt, und ich denke, daß auch dieses Thema dort wieder eine entscheidende Rolle spielen wird. Daß ich so hartnäckig an meinem Rederecht festgehalten habe, lieber Kollege Gerster, hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, daß ich die Reise nach Moskau wegen dieser Debatte nicht unternommen habe. ({4}) So will ich mich doch wenigstens ein kleines bißchen dafür entschädigen, indem ich Sie nachher noch anhören darf, lieber Herr Kollege Gerster. ({5}) - Das glaube ich, denn, lieber Herr Gerster, wir haben uns diese Belohnungen schon viele Jahre gegenseitig immer gegönnt, und ich hoffe, daß dies auch so weitergeht. Mein Eindruck aus vielen Gesprächen hier und auch vor Ort, z. B. in Kasachstan, z. B. in Kirgisien, ist jedenfalls nicht, daß die autonome deutsche Republik schnell zustande kommt. Ich möchte hoffen, daß Herr Jelzin es vielleicht doch noch schafft. Es ist aber auch nicht mein Eindruck, daß die Republiken ihrerseits in der Lage sind, die Aussiedlung zu stoppen. Wir schreiben in unserem Antrag: Viele Zuwanderer kommen aus Ost- und Südosteuropa. Die Öffnung der Grenzen hat denen eine Chance gegeben, die über Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang gefangen waren. An Freiheit, Leib und Leben gefährdet sind sie jedoch nicht. - Das ist der entscheidende Tatbestand. Es gibt keinen Vertreibungsdruck mehr in diesen Ländern, und zwar in keinem dieser Länder. Deshalb beantragen wir erneut, das Bundesvertriebenengesetz aufzuheben. Im Rahmen einer Kriegsfolgen-Abschlußgesetzgebung soll baldmöglichst sowohl für den Vertriebenenbereich als auch für den Kreis der Menschen, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit von der Eintragung in die seinerzeitige Volksliste herleiten, eine abschließende Regelung getroffen werden. Ich kann mir denken, daß dies nicht unbedingt Ihr Ziel ist, muß es ja auch nicht sein. Deswegen setzen wir uns auseinander. Für diese Regelung kommt die sogenannte Generationenlösung, d. h. Beschränkung bei den Vertriebenen auf die sogenannte Erlebnis- und Folgegeneration und bei der Staatsangehörigkeit auf die bereits Geborenen, gegebenenfalls in Kombination mit einer Stichtagsregelung oder auch einer Quotierung, in Betracht, aber darüber werden wir in den entsprechenden Ausschüssen noch genau zu diskutieren haben. 1,6 Millionen Aussiedler sind in den letzten vier Jahren in unser Land gekommen - ich sagte es schon - , weit mehr als Asylbewerber, eine riesige Aufgabe - lassen Sie mich das zum Ende noch sagen - insbesondere für die Gemeinden. Sie haben eine beispiellose Integrationsleistung vollbracht. Ich finde, man sollte das viel öfter mit Dank und Anerkennung erwähnen, und da könnte vielleicht einmal das ganze Haus klatschen, ({6}) - nicht meinetwegen, lieber Herr Hedrich, sondern wegen der Gemeinden, die diese Leistung vollbracht haben. Aber die Kapazität der Gemeinden ist erschöpft, der Wohnungsmarkt ist leergefegt, Turnhallen und andere Gemeinschaftseinrichtungen sind keine Alternative. Die Gemeinden brauchen vor allem beim Wohnungsbau Hilfe, dessen Förderung in völliger Verkennung der Entwicklung schon vor Jahren dramatisch gekürzt wurde. Deshalb hat die SPD-Fraktion schon vor geraumer Zeit die Forderung erhoben, insgesamt 5,5 Milliarden DM in den alten und in den neuen Ländern für den Wohnungsbau bereitzustellen. Täuschen wir uns nicht: Viele der Aggressionen, die wir beklagen, viele der Angriffe auf wehrlose Menschen werden durch den Konkurrenzkampf um eine Wohnung erzeugt. Über 45 Jahre nach Kriegsende, nach der Aussöhnung mit dem Osten, nach dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa, im Zeitalter des Wachsens neuer Demokratien und nach der Erlangung der vollen Souveränität des vereinten Deutschland ist es an der Zeit, eine Kriegsfolgen-Abschlußgesetzgebung auf den Weg zu bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine neue Asyl- und Zuwanderungspolitik wird aber nur gelingen, wenn wir bereit sind, die Fluchtursachen zu bekämpfen, Hunger und Elend den Kampf anzusagen - Sie haben das dankenswerterweise ausgeführt - , in der Sowjetunion, in Ost- und Südosteuropa, und eine neue, eine andere Entwicklungspolitik in der Dritten Welt zu betreiben. Das wird Geld kosten - das sollten wir ganz offen sagen -, viel Geld. Wir sollten aber bereit sein, dieses Geld zur Beseitigung der Fluchtgründe und nicht vorwiegend zur Reparatur der Fluchtfolgen im eigenen Land auszugeben. ({7}) Meine Damen und Herren, vielleicht bin ich - das kann ja sein - zu blauäugig. Trotzdem glaube ich nicht, daß die Menschen mit ihren Familien aus Jux und Dollerei in der Weltgeschichte umherziehen, um sich eine neue Bleibe zu suchen. ({8}) Jeder dieser Menschen hat einen subjektiven Fluchtgrund. Ich denke, es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe eines so reichen Landes, über diese Fluchtgründe nachzudenken und an ihrer Beseitigung mitzuwirken. Damit helfen wir nicht nur denen, die in ihrer Heimat bleiben wollen, sondern auch uns, indem wir dann viele Probleme nicht mehr haben werden. Vielen Dank. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin allen Rednern dankbar, die in der letzten Stunde zur Versachlichung der Diskussion beigetragen haben. Ich finde, das ist ein gewisser Hoffnungsschimmer, auch wenn man in Einzelfragen noch unterschiedlicher Meinung ist. Daß die Diskussion sachlicher geworden ist, läßt mich für die Gespräche, die in den nächsten Tagen und Wochen intensiv geführt werden müssen, hoffen. Ich will meine vorbereitete Rede weitestgehend nicht halten und nur zu vier Themen kurz etwas anmerken. Erstens. Frau Kollegin Hämmerle, wenn man über Aussiedler redet - ich bin unglücklich, daß dieses Thema in diese Asyldebatte hineingedrückt wurde, ({0}) ohne Not, wie mir scheint - , muß man wissen, daß die Zahl der Aussiedler, die in diesem Jahr zu uns kommen, bedeutend niedriger sein wird als die der Asylbewerber. Wenn Sie so wollen, haben sich die Entwicklungen umgekehrt: Im letzten Jahr waren es in der Tat noch mehr Aussiedler. Wir haben ja gemeinsam ein neues Aussiedlerrecht geschaffen, das dazu führt, daß diese Zahl von Deutschen, die ohnehin begrenzt ist - das ist der Unterschied zum Weltflüchtlingsproblem - , ständig zurückgeht. Es sind also Erfolge zu verzeichnen, die ich weder herbeireden noch durch Gesetze herbeiführen muß. Dieser Effekt tritt ohnehin ein. Wir wissen, daß allein in der Sowjetunion über 200 000 Personen bereits die Ausreisegenehmigung haben. Sie würden sofort kommen, ({1}) und sie sagen das auch. ({2}) - Wenn Sie eine Änderung des Art. 116 des Grundgesetzes wollen, laden Sie diese Menschen ein, auf einen Schlag herzukommen. Dann haben Sie natürlich höhere Aussiedlerzahlen, als wenn wir sich das vernünftig entwickeln lassen. Das ist die Situation.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich nehme an, daß Sie bereit sind, eine Frage der Abgeordneten Hämmerle zu beantworten?

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Frau Abgeordnete Hämmerle.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Gerster, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen oder es im Protokoll nachzulesen, daß ich nicht ein einziges Wort über die Änderung des Art. 116 gesagt habe? Die Änderung des Art. 116 steht überhaupt nicht in meinem Programm, weil die Änderung des Bundesvertriebenengesetzes oder die Novellierung des Staatsangehörigkeitsregelungsgesetzes nicht die Änderung des Art: 116 voraussetzt. ({0}) Ich bin allerdings der Auffassung, daß Art. 116 in der neuen Verfassung nicht mehr vorkommen sollte, aber einzig und allein wegen seines Sprachge4204 brauchs. Denn es heißt dort: ,,... in dem Gebiete des deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 ... ". Eine solche Wortwahl wäre, glaube ich, für eine neue Verfassung nicht mehr gut. ({1})

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, es ist sehr schwierig, zu erkennen, was Sie wirklich wollen: ({0}) Wollen Sie ihn noch, oder wollen Sie ihn nicht? Wenn Sie ihn noch wollten, würden Sie sich in einen Gegensatz zu Herrn Ministerpräsidenten Schröder, zu Herrn Ministerpräsidenten Engholm, zu Herrn Ministerpräsidenten Lafontaine und zu allen setzen, die bei Ihnen in einer noch höheren Etage als Sie, Frau Kollegin, für die SPD Politik machen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das veranlaßt die Frau Abgeordnete Hämmerle, sich zu einer weiteren Zwischenfrage zu melden.

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es dauert nur ständig länger. Aber bitte.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da wir nicht nach Moskau gefahren sind, Herr Gerster Johannes Gerster ({0}) ({1}): Ich wollte gar nicht.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- , können wir uns hier vielleicht ein bißchen unterhalten. - Ich will es nicht verlängern. Ich will Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß mein Name Gerlinde Hämmerle ist, es auch bleiben wird und nicht Gerhard Schröder oder was Sie hier noch an Namen aufgezählt haben. ({0})

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sehr dankbar, daß Sie sich als Person von weithin übereinstimmenden Positionen, die in Ihrer Partei vertreten werden, distanzieren. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg in Ihrer Partei, daß Sie da möglichst viele Anhänger finden mögen. Aber Sie haben da einen schweren Gang vor sich. ({0}) Zweite Bemerkung. Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich etwas zu dem Thema Ausländerfeindlichkeit und Gewalt sagen. Ich glaube, wir täten uns und der Bevölkerung einen großen Gefallen, wenn wir nicht den Eindruck erweckten, es gebe in diesem Haus eine unterschiedliche Bewertung der Ausländerfeindlichkeit oder der Gewalt. Wir lehnen dieses hoffentlich alle gemeinsam mit derselben Leidenschaft und mit demselben Engagement ab. ({1}) Die Würde jedes Menschen ist unantastbar, und Gewalt in der Demokratie zu ächten ist selbstverständlich. Hier müssen wir schlimmen Anfängen gemeinsam wehren. Diese Anfänge dürfen keine Fortsetzung finden. Aber, meine Damen, meine Herren - und hier unterscheiden sich nach meiner Meinung die Beurteilungskriterien - , nicht das Reden über Mißstände in einer Gesellschaft, sondern die Unfähigkeit, Mißstände zu beenden, führt zu Radikalismen, auch und gerade zum Rechtsradikalismus. Es gehört deswegen - ich muß das wirklich sagen, ganz vorsichtig, weil wir das jetzt ja friedlich zu Ende gehen lassen wollen - zu den wirklich ärgerlichen Erscheinungen, daß einzelne SPD-Politiker, gottlob nicht alle, die Forderung nach einer Grundgesetzänderung als ursächlich für Rechtsradikalismus und schreckliche Gewalttaten hinstellen. Meine Damen, meine Herren, das ist nicht zulässig; denn das Aufgreifen von Themen, die die Menschen berühren, ist in der Demokratie Pflicht der Parteien. Es ist die Pflicht, wenn Mißstände da sind, diese zu beseitigen. Nur das Bestreiten, das Verschweigen und das Verhindern von Problemlösungen führen letzten Endes zum Radikalismus. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb in Bremen die klassischen SPD-Wähler aus der Arbeiterschaft von der SPD weg direkt zur DVU gelaufen sind. Sie hatten den Eindruck, daß die Sozialdemokraten ihr Problem nicht erkennen, daß die Sozialdemokraten abgehoben haben, daß sie da keine Lösung kriegen. Deswegen meinten sie bedauerlicherweise, auf ein anderes Extrem ausweichen zu müssen, um ihrer Meinung zum Durchbruch zu verhelfen. Dritte Bemerkung, meine Damen, meine Herren: Warum beharren wir über die Vereinbarung vom 10. Oktober hinaus auf der Forderung nach einer Ergänzung des Grundgesetzes? Lassen Sie mich das nur an zwei Beispielen ganz kurz deutlich machen: Es gibt nicht nur ein Weltflüchtlingsproblem, es gibt auch ein europainternes Flüchtlingsproblem, und zwar deshalb, weil z. B. Spanien jegliche Art von Unterstützung an Asylbewerber eingestellt hat und ein anderes südeuropäisches Land einmalig 70 DM zahlt. Wenn ich das jetzt etwas überspitzt oder spöttisch formulieren darf, fehlt nur noch das Schild: Hier geht es nach Deutschland, und dort gibt es bessere Leistungen. - Entschuldigung, das ist ganz offensichtlich ein Motiv, weil gerade in den letzten Wochen der Asylbewerberdruck aus diesen Ländern, die in ihren diesbezüglichen sozialen Leistungen restriktiver verfahren als wir, zugenommen hat. Wenn auf der anderen Seite - das muß man sehen, das kann man doch nicht wegdiskutieren - unsere Asylverfahren, wie Sie wissen, nur zu rund 7 % zum Erfolg führen und am Ende der Asylverfahren nur etwa 3 % abgeschoben werden, dann bedeutet das, daß wir in 90% der Fälle - die nicht alle zu Ende geführt werden - ein Verfahren durchführen, das Johannes Gerster ({2}) letzten Endes gar nicht zu einem Ergebnis führt. Das heißt, wir führen weitestgehend ein sinnloses Verfahren durch. Ich behaupte jetzt nicht, daß nur 10 % einen Grund hätten, hierzubleiben. Ich weiß sehr wohl über die Genfer Flüchtlingskonvention - ({3}) - Das wird wahrscheinlich durch ein ganz anderes Verfahren, Frau Däubler-Gmelin, anschließend humanitär gelöst. Aber das eigentliche Asylverfahren führt nur in 10 % der Fälle zu einem Ergebnis, nämlich entweder „anerkannt" oder „abgeschoben" . Alles andere wird nachher humanitär entschieden. Konsequenterweise müßten Sie - wie die GRÜNEN das einmal gefordert haben - , wenn Sie mit diesem Zustand einverstanden sind, eigentlich das ganze Verfahren abschaffen. ({4}) Wenn die Zahlen gleichblieben, wäre der Verzicht auf die Verfahren billiger, obwohl wir dann 3 % der Bewerber nicht abschieben. ({5}) Denn wenn man sich den Aufwand einmal anguckt, stellt man fest, daß das völlig unverhältnismäßig ist. Deshalb sind wir der Meinung, wir sollten das, was am 10. Oktober vereinbart worden ist, mit allem Ernst umsetzen. Es ist gesagt worden: Darin sind eine Reihe von Dingen enthalten, die Bayern und Baden-Württemberg schon so handhaben. Es gibt eine Reihe weiterer Maßnahmen, die wir seit Jahren einfordern und die jetzt auf einmal möglich sind. Dennoch sollten wir die Grundfrage noch einmal erörtern. In Richtung der SPD muß ich jetzt wirklich sagen: Frau Däubler-Gmelin, wir haben ja Stunden um Stunden unter der Leitung des Bundeskanzlers und unter der Leitung des Bundesinnenministers zusammengesessen. ({6}) Es ist schon ein Gebot der Fairneß - zumal FDP und SPD beim letzten Gespräch am 10. Oktober erklärt haben, sie seien bereit, mit uns auch über eine Grundgesetzänderung zu verhandeln -, daß wir jetzt das eine machen, aber das andere nicht unterlassen. Meine vierte Bemerkung: Frau Däubler-Gmelin, was mich heute sehr bedrückt hat, ist, daß so getan wird, als sei, was Art. 16, Art. 19 und Art. 24 angeht, in der SPD das letzte Wort gesprochen. Ich weiß nicht, ob das wirklich vertrauensbildende Maßnahmen sind. In Ihrer Fraktion wird doch hinter vorgehaltener Hand von einer Reihe von Kollegen gesagt: Selbstverständlich wird das Grundgesetz ergänzt. - Es ist doch die Wahrheit, daß auch in der FDP Kollegen meinen, daß wir an diese Aufgabe herangehen müssen. Ich finde, nachdem wir uns unterhalb der Ebene einer Grundgesetzergänzung verständigt haben, muß das doch jetzt durchgesetzt werden. Es muß zugleich versucht werden, ob das, was wir mit dieser Änderung nicht erreichen, durch eine maßvolle Ergänzung - ich sage bewußt: Ergänzung - des Grundgesetzes zustandekommt. ({7}) Sie wissen doch, daß ganze Kreisverbände - ich könnte das hier zitieren - mit Anzeigen über das Land ziehen, die dasselbe fordern. Meine Bitte wäre - das ist die Pflicht der Politik -, daß wir zunächst einmal die Sachverhalte klären, die zu lösen sind. Das haben wir bei den Gesprächen im Kanzleramt getan. Alle Gesprächsteilnehmer waren der Meinung: Es müssen Mißstände behoben und es muß Mißbrauch abgestellt werden. Deswegen einigten wir uns auf diese zahlreichen Verfahrensvorschläge. Aber es muß doch selbstverständlich sein, daß, wenn dies nicht greift, wir dann die nächste Ebene wählen. Es wurden seit 1949 38 Grundgesetzänderungen durchgesetzt. Wir werden im Rahmen des Verfassungsausschusses noch weitere bekommen. Also: Auch die Verfassung, so wichtig sie ist, hat den Menschen zu dienen und nicht umgekehrt die Menschen der Verfassung. Weil hier ein besonderer Handlungsbedarf besteht, laden wir Sie herzlich ein, mit der FDP und uns zusammen diese Fragen zu erörtern. Ich sage Ihnen voraus: Schon in anderthalb, zwei Jahren werden Sie sich dieser Ergänzung überhaupt nicht mehr entziehen können. Deswegen sollten wir auch alles vermeiden, was verbal Gräben vertieft. Wir sollten Gräben zuschütten und zu gemeinsamen Handlungen kommen. Denn hier brauchen wir in der Tat die großen Parteien FDP, SPD und CDU/CSU an einem Tisch, um eine Zweidrittelmehrheit zu bekommen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich als letztem Redner dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wort.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist mehrfach angeregt worden, man sollte die letzten Reden jetzt doch zu Protokoll geben. Aber wenn die Geschäftsführer morgens sagen, irgend jemand müßte auch noch zum Schluß sprechen, dann mag man nichts zu Protokoll geben, zumal wenn man es gar nicht aufgeschrieben hat. ({0}) Darum bitte ich um Ihre Nachsicht, insbesondere um die Nachsicht von Herrn Bohl. Er weiß, warum er so freundlich lacht. Wenn sich eine Unternehmensleitung einer Aufgabe zur Einführung eines neuen Produktes und der Durchsetzung am Markt zu stellen hätte, dann würde sie entschieden anders vorgehen, um alle Beteiligten zur Mitarbeit zu motivieren - im Unternehmen und Detlef Kleinert ({1}) außerhalb des Unternehmens - , als wir uns heute und bei einer Reihe von vorausgegangenen Konferenzen gegenüber dem uns gemeinsam gestellten Problem verhalten haben, einerseits das Recht auf Asyl zu garantieren, weil es für uns aus unserer Geschichte heraus von besonderem Wert ist, und andererseits sicherzustellen, daß dieses Recht nicht dadurch entwertet wird, daß wir versuchen, es auch denen zu geben, denen es nach dem Willen des Grundgesetzes nun einmal nicht zusteht. Dieser Aufgabe gegenüber bewegen wir uns doch verhältnismäßig unbeholfen. Dieser Eindruck hat sich heute glücklicherweise - ich stimme hier Herrn Gerster gern zu - in den letzten zwei Stunden etwas gebessert. Am Anfang fühlte ich mich an meine Elementarschulzeit erinnert. Ich bin selten so intensiv und nachdrücklich belehrt worden wie heute hier in diesem Hause. Ich habe das nur bedingt genossen. ({2}) Eine Vorfrage, die manchmal angeklungen, aber sicherlich nicht ausgesprochen worden ist, sollte man ehrlicherweise zu klären versuchen. Ich kann das heute auch nicht leisten - jetzt nicht mehr. Einwanderungsland oder gar multikulturelle Gesellschaft - das sind Begriffe, bei denen man erst einmal wissen muß, was man darunter versteht, und über die man sich dann einigen muß. Nun zu dem, was Herr Trittin ausgeführt hat. Ich bin als Niedersachse sehr froh darüber, daß Herr Schröder sagt, Niedersachsen wird das, was jetzt glücklicherweise mit allen Bundesländern vereinbart worden ist, auch durchstehen. Verwundern tut es mich schon. Aber wir verzichten gern auf einen parteiegoistischen Vorteil, wenn es der gemeinsamen wichtigen Sache dient, und verzichten zunächst auf die Fortsetzung der Auseinandersetzung zwischen Herrn Trittin und Herrn Glogowski. Aber Herr Trittin hat gezündelt. Er muß sich hier nicht über Versäumnisse des Bundes beklagen, sondern er soll sich einmal über sein häßliches Wort von den Konzentrationslagern beklagen, und er soll sich einmal darüber beklagen, daß er immer wieder in öffentlichen Äußerungen den Eindruck hervorruft, eine multikulturelle Gesellschaft mit möglichst viel unterschiedlichen Kulturen - wie das Wort sagt -, vielleicht auch Religionen und Konfessionen, wäre etwas Erstrebenswertes. Leben können muß man damit. Aushalten soll man es. Es ziert den Menschen, wenn er mit anderen so umgehen kann, daß sie alle nebeneinander ihr Recht finden. Aber diesen Zustand deshalb mit Gewalt herbeiführen zu wollen, das ist nun das Gegenteil von dem, was wir unseren Bürgern mit Herrn Trittin zumuten sollten. ({3}) Über diese Fragen muß erst einmal gesprochen werden, bevor man sich der Technik zuwendet. Die Technik ist jetzt so ausgereizt - nach zwei Jahrzehnten des Bemühens glaube ich auch einigermaßen zu wissen, wovon ich spreche -, daß unterhalb der oft zitierten Schwelle der Grundgesetzänderung mehr nicht geht. Wir müssen allen danken, die sich bereit erklärt haben - bei ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen - , hier mitzuwirken. Frau Däubler-Gmelin, wir müssen auch ausdrücklich den Bürokraten, die die Verfahren nicht richtig betrieben haben, danken; denn es ist hier unter zum Teil sehr schlechten Arbeitsbedingungen schon in der Vergangenheit Erstaunliches geleistet worden. Wir erwarten für die Zukunft noch mehr. Dazu müssen wir die Leute u. a. dadurch motivieren, daß wir ihnen für das, was sie leisten, Dank sagen, und wir müssen sie bitten, in Zukunft das gleiche, unter Umständen noch mehr zu leisten, damit wir unsere sehr ehrgeizigen Ziele erreichen können. Wir benötigen nicht die Ausführungen von Herrn Trittin zur richterlichen Unabhängigkeit, um zu wissen, daß wir Richtern nicht vorschreiben können, in welcher Frist sie irgendwelche Entscheidungen zu treffen haben. Wir kennen aber so viel von der gerichtlichen Praxis, daß wir wissen, die Unterschiede zwischen der eigentlichen richterlichen Tätigkeit und der übrigen mehr bürokratischen Tätigkeit eines Gerichts sind oft sehr deutlich. Im letzteren Bereich ist sehr vieles verbesserungsfähig. Vielleicht ist die besondere Herausforderung im Asylbereich gerade ein guter Anlaß, dazu beizutragen, daß das, was in der gesamten Gerichtsbarkeit in der Einflußnahme des Richters auch auf das, was nach seiner Entscheidung technisch zu geschehen hat, verbessert werden müßte, in Zukunft besser abgewickelt wird. ({4}) Wir wären sehr dankbar, wenn das mit den Bemühungen der Beteiligten gelingen könnte. Ich habe bei den Diskussionen der letzten Wochen öfter daran gedacht, daß mein Vorstandsvorsitzender ein säuberlich gedrucktes Schild auf seinem Schreibtisch hat, auf dem zu lesen steht: Wie es nicht geht, weiß ich selbst. - Diese Mitteilung an diejenigen, die vor diesem Schreibtisch sitzen, sollten wir uns alle zu Herzen nehmen - ich will ja am liebsten von mir sprechen; ich nehme den Hinweis gern auf -, bevor wir uns hier gegenseitig immer wieder erklären, wie es nicht geht. Das führt überhaupt nicht weiter. ({5}) Wir müssen es im Interesse des Rechts auf Asyl, das für uns ein ganz wichtiges Recht ist, ermöglichen, daß es auch in Zukunft vernünftig praktiziert werden kann. Deshalb werden wir Freien Demokraten uns auch so verhalten, wie Graf Lambsdorff es in dem Gespräch im Kanzleramt gesagt hat. Er hat nämlich ausgesprochen: Wenn wir sagen „Wir sprechen über etwas", dann denken wir auch darüber nach. ({6}) - Ich sage Ihnen ja gleich, was Ihr Fraktionsvorsitzender im gleichen Zusammenhang gesagt hat. Das gilt auch für die Frage einer etwaigen Grundgesetzänderung, zu der von Herrn Vogel übrigens von Detlef Kleinert ({7}) Herrn Schäuble ausdrücklich eine Vorlage erbeten worden ist. ({8}) In einzelnen Erzeugnissen der Presse konnte man lesen, Herr Schäuble habe die Vereinbarung des Vortages dadurch zunichte gemacht, daß er mit seinen Vorschlägen zu einer Grundgesetzänderung am nächsten Tag herausgekommen sei. - Nein, einer Bitte von Herrn Vogel ({9}) hat Herr Schäuble am nächsten Tag entsprochen. ({10}) Herr Vogel war derjenige, der in dieser Diskussion - zugegeben, wir hatten schon einige Stunden zusammengesessen, diskutiert und zugehört - gesagt hat, er wolle ja nur sprechen, um zu erklären, warum es nicht geht. - Ich erinnere mich an diese Äußerung noch ziemlich genau.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Kleinert, ich muß Sie jetzt einmal unterbrechen. Erstens haben Sie die Redezeit deutlich überschritten - ich möchte mich nicht dem Risiko aussetzen, Sie zu privilegieren -, ({0}) und zweitens ist da die Bitte des Abgeordneten Hirsch, eine Zwischenfrage zuzulassen. Da Sie frei sprechen, haben Sie sicherlich das rote Licht übersehen. Es wird Ihnen dann aber sicherlich nicht allzu schwerfallen, schnell zum Schluß zu kommen, nachdem Sie selbstverständlich - nehme ich an - die Frage des Abgeordneten Hirsch zugelassen und beantwortet haben.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ist es nicht so gewesen, daß der Abgeordnete Vogel dem Innenminister Schäuble gesagt hat „Sagen Sie uns doch wenigstens einmal, wie Sie sich das vorstellen." , und ist es denn der richtige Weg, wenn man dem Partner eine solche Mitteilung übergeben will, das über die Medien zu tun? ({0})

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Hirsch, daß Sie mich jetzt auf die interessante Frage hinweisen, ob man lieber über die Presse oder persönlich miteinander verkehrt, ({0}) das erfüllt mich mit einer gewissen Bewunderung. ({1}) Im übrigen habe ich ja den Hergang - ich habe da nichts zu ergänzen - so dargestellt, wie er gewesen ist. ({2}) Darüber hinaus möchte ich noch sagen: Ich bin persönlich einmal der Meinung gewesen, die wahrscheinlich irrig war - wenn ich das zum Schluß noch sagen darf, Herr Präsident - , daß man selbstverständlich ohne die sehr unzulängliche Idee, dem Grundgesetz in Art. 16 anzufügen „Das Nähere regelt ein Gesetz.", alles gesetzlich regeln kann, was nicht den Wesensgehalt des Grundrechts - so steht es in Art. 19 Abs. 2 - antastet. ({3}) Eine solche Ergänzung braucht man also nicht. Inzwischen sind mir Zweifel gekommen,

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Kleinert, in allem Ernst - Detlef Kleinert ({0}) ({1}): - ob man alles andere ohne eine Grundgesetzänderung machen kann, weil es dazwischen vielleicht Dinge gibt, die an das subjektiv-öffentliche Recht, das wir zur Zeit haben, heranreichen, ohne an den Kern des Grundrechts zu tasten. Über diese Frage können wir uns ja mit der notwendigen Gelassenheit

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Aber später, Herr Abgeordneter Kleinert, später! ({0})

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- und Offenheit unterhalten. Danke. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/852, 12/1270 und 12/1296 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ist das Haus damit einverstanden? - Danke schön. Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen, und zwar zunächst zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN; er liegt Ihnen auf Drucksache 12/1327 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Er ist gegen die Stimme des Abgeordneten Briefs angenommen worden. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP ab, der Ihnen auf Drucksache 12/1360 vorliegt. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP gegen den Rest des Hauses angenommen worden. Der Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1326 soll an den Innenausschuß überwiesen werden. Ist das Haus da4268 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg mit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist auch das beschlossen. Wir kommen jetzt noch zu den Entschließungsanträgen der Gruppe PDS/Linke Liste auf den Drucksachen 12/1354 und 12/1355. Hier wird vorgeschlagen, diese Entschließungsanträge zu überweisen, und zwar zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß. Die Gruppe PDS/Linke Liste wünscht sofortige Abstimmung. Nach ständiger Übung geht aber der Überweisungsvorschlag vor. Deswegen lasse ich zunächst über ihn abstimmen. Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag? ({0}) - Die Gruppe PDS/Linke Liste wünscht sofortige Abstimmung. Das entspricht offensichtlich auch dem Willen der Mehrheit des Hauses. Dann lasse ich über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 12/1354 und 12/1355 sofort abstimmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? ({1}) Damit sind die Anträge abgelehnt worden, und zwar vom gesamten Hause mit Ausnahme des Abgeordneten Briefs. Wir sind nun am Schluß der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 30. Oktober, 9 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen ein erholsames und friedfertiges Wochende. Die Sitzung ist geschlossen.