Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/27/1991

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Guten Morgen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Die Sitzung des heutigen Tages ist eröffnet. Es ist interfraktionell vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Dazu liegt Ihnen eine Liste mit den Zusatzpunkten vor: 4. Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Ausgleich von Auswirkungen besonderer Schadensereignisse in der Forstwirtschaft ({0}) - Drucksachen 12/1056, 12/1195, 12/1206 5. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hermann Wimmer ({1}), Brigitte Adler, Horst Kubatschka, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes - Drucksachen 12/422, 12/1195,12/1206 - 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang Thierse, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD: Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den deutschen Minderheiten in Osteuropa und östlich des Urals - Drucksache 12/1188 - 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Wilfried Penner, Wolfgang Thierse, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD: Mahn- und Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 12/1189 - Sind Sie damit einverstanden? - Dies ist der Fall. Es ist so beschlossen. Ich rufe den Punkt 7 a bis f der Tagesordnung und die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: 7. Beratungen ohne Aussprache a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({2}) zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvH 3/91 - Drucksache 12/1166 - Berichterstattung: Abgeordneter Herbert Helmrich b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu der dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 5/91 - Drucksache 12/1167 - Berichterstattung: Abgeordneter Herbert Helmrich c) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 25 zu Petitionen - Drucksache 12/1114 - d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 26 zu Petitionen - Drucksache 12/1115 - e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 27 zu Petitionen - Drucksache 12/1116 - f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 28 zu Petitionen - Drucksache 12/1170 ZP4 Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Ausgleich von Auswirkungen besonderer Schadensereignisse in der Forstwirtschaft ({8}) - Drucksache 12/1056 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({9}) - Drucksachen 12/1195, 12/1206 Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Hornung ({10}) Vizepräsidentin Renate Schmidt ZP5 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hermann Wimmer ({11}), Brigitte Adler, Horst Kubatschka, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Forstschäden-Ausgleichsgesetzes - Drucksache 12/422 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({12}) - Drucksachen 12/1195, 12/1206 Berichterstattung: Abgeordneter Siegfried Hornung ({13}) Wir stimmen zuerst über die Punkte 7 a und 7 b der Tagesordnung ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind damit angenommen. Wir kommen nun zu den Punkten 7 c bis f der Tagesordnung und dabei zur Abstimmung über die in der Tagesordnung aufgeführten Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses zu diesen Punkten. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind bei Nichtbeteiligung einiger Mitglieder des Hohen Hauses angenommen. Wir kommen nun zu den Zusatzpunkten 4 und 5. Zunächst kommen wir zur Einzelberatung und zur Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates in der Ausschußfassung auf Drucksache 12/1195. Ich rufe die Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Ich bitte diejenigen, die den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünschen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind damit einstimmig angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt weiter unter Ziffer 2 seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/1195, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/ 422 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fortschreibung des Berichtes der Bundesregierung über die Lage der Freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 12/21 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft ({14}) Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe auch dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Beckmann.

Klaus Beckmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000133

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir segeln bei den freien Berufen weiter auf ordnungspolitischem Kurs. Unter Beibehaltung bewährter Regelungen, insbesondere der Selbstverwaltungsstrukturen, gilt es den unternehmerischen Handlungsspielraum für den Freiberufler nicht nur zu erhalten; er muß vergrößert werden. ({0}) Hierzu hat die Deregulierungskommission beigetragen. Sie hat im März dieses Jahres ihren zweiten Bericht vorgelegt. Auch die freien Berufe und ihre zumindest potentiellen Konkurrenten im Bereich der technischen Überwachung werden darin eingehend auf Deregulierungsbedarf untersucht. Zur Ordnungspolitik gehört nach der Zielsetzung des Berichtes die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Wünschenswert wäre aber auch eine stärkere Berücksichtigung freiberuflicher Dienstleistungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe. Die wirtschaftliche Lage der freien Berufe und ihre Stellung im Gefüge des mittelständischen Unternehmertums ist, gemessen an der zahlenmäßigen Entwicklung, gut. Die Tendenz ist steigend. Wir gehen heute von einer Gesamtzahl von rund 450 000 Freiberuflern aus; davon ist ein Zehntel in den neuen Bundesländern. Diese Zahl wird, insbesondere durch die Zuwachsraten im Beitrittsgebiet, steigen. Für das Jahr 1995 rechnen wir mit einer halben Million Freiberuflern in Deutschland, die Arbeitgeber für ca. 1,5 Millionen Beschäftigte sein werden. Die Bundesregierung hat die freien Berufe vollständig in die Existenzgründungsförderung in den neuen Bundesländern einbezogen. Bei der Eigenkapitalhilfe liegen die freien Berufe an erster Stelle. Diese Bundesregierung hat ihre Zusage erfüllt, die freien Berufe innerhalb der Mittelstandsförderung möglichst gleichzustellen. Künftig werden die wirtschaftsnahen freien Berufe auch in den alten Bundesländern, sofern sie nicht selbst überwiegend wirtschaftsberatend tätig sind, in die Unternehmensberatung einbezogen. Bei der Förderung von Informations- und Schulungsveranstaltungen werden sie ebenfalls mit kleinen und mittleren Unternehmen gleichgestellt, indem auch die Existenzsicherung im alten Bundesgebiet gefördert werden kann. Ganz neu für die freien Berufe, ob in Ost oder West, ist die Möglichkeit der Ansparförderung für Existenzgründer. Durch die Begrenzung der Förderung im Westen auf dieses Jahr wird ein deutliches Zeichen gesetzt, sich möglichst in Mittel- und Ostdeutschland niederzulassen. Auf derselben Linie liegt eine Änderung der Eigenkapitalhilfe. Eine interministerielle Arbeitsgruppe unter Federführung des Wirtschaftsministeriums prüft die Förderung des Mittelstands darauf, wie ihre Effektivität für den Mittelstand, für freischaffende Künstler, für Publizisten gesteigert werden kann. Denn mit ihrer Wertschöpfung sind diese Berufe der Kulturwirtschaft vorgelagert. Ein Ergebnis dieser Arbeitsgruppe ist, daß sie diese Berufe zu wirtschaftsnahen Berufen erklärt. Dies erleichtert ihre Einbeziehung in verschiedene wirtschaftliche Förderprogramme. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, positive Resonanz hat das Partnerschaftsvorhaben bei den freien Berufen gefunden. An einer speziellen Rechtsform für die freien Berufe und deren interprofessioneller und überörtlicher Zusammenarbeit besteht sehr großes Interesse. Allerdings ist noch Abstimmungsarbeit zu leisten. Schließlich soll die Partnerschaft ein Höchstmaß an Harmonie mit anderen Rechts- und Gesellschaftsformen und mit dem Berufsrecht der Rechtsanwälte aufweisen, dessen Novellierung vom Bundesjustizministerium gerade vorbereitet wird. Zur grundlegenden Novellierung des anwaltlichen Berufsrechts im Anschluß an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987 haben die beiden großen Anwaltsorganisationen im Sommer gemeinsame Vorschläge eingebracht. Diese zeigen Gott sei Dank nur noch wenig Dissens. Für den Entwurf des Bundesjustizministers wird selbstverständlich die Arbeit der Deregulierungskommission und der Koalitionsarbeitsgruppe eine wichtige Rolle spielen. Ich denke, daß im nächsten Jahr mit der Verabschiedung des neuen anwaltlichen Berufsrechts gerechnet werden kann. Es war auch Zielsetzung des Berichtes, die Tätigkeit der Freiberufler im technischen Sachverständigenwesen zu stärken. Auch hier geht es um die Privatisierung und gleiche Wettbewerbschancen als Basis für neue Tätigkeitsfelder selbständiger Freiberufler. Im Sachverständigenbereich können bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bereits zahlreiche freiberufliche Dienstleistungen bei Prüfungen, Überwachung, Beratung, Vermessung und Planung erbracht werden. ({1}) Im Kraftfahrzeugprüfwesen soll, nachdem durch die Verordnung vom 24. Mai 1989 das weite Feld der Prüfungen nach § 29 Straßenverkehrszulassungsordnung für Prüfungsorganisationen beruflicher Sachverständiger einschließlich der Abgassonderuntersuchung eröffnet worden ist, demnächst auch das wichtige Feld der Begutachtung und Abnahme bei nachträglichen technischen Änderungen an Fahrzeugen für amtlich anerkannte Prüforganisationen geöffnet werden, namentlich für freiberufliche Sachverständigenorganisationen. ({2}) In der Mehrzahl der neuen Länder und auch in Berlin ist die freiberufliche Gesellschaft für technische Überwachung, kurz GTÜ, jetzt zugelassen. In Thüringen steht sie vor der Tür. Nur Brandenburg - das muß ich leider anmerken - tut sich diesbezüglich ein wenig schwer. ({3}) Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige können nach der Aufzugsverordnung Aufzuganlagen in Wohngebäuden überprüfen. Hier sollte eine Erweiterung auf Aufzuganlagen im gewerblichen oder zumindest teilgewerblichen Sektor überlegt werden. ({4}) Gleiches gilt übrigens für die Druckbehälterverordnung. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei der Prüfung medizinisch-technischer Geräte, bei Getränkeschankanlagen und der Trinkwasseruntersuchung sind auf Grund entsprechender Verordnungen qualifizierte freiberufliche Sachverständige bereits zugelassen. Diese ganz ansehnliche Palette von Prüf- und Überwachungsaufgaben für qualifizierte freiberufliche Sachverständige ist angemessen weiterzuentwickeln und in den neuen Bundesländern entsprechend einzuführen. Wir können auch gewisse Erfolge im Bereich des Vermessungs- und Katasterwesens vermelden; allerdings besteht auch hier weiterhin Handlungsbedarf. Die aufgelösten Kombinate für Kartographie und Geodäsie hinterließen ein Vakuum. Einerseits fehlt es an Vermessungs- und Katastergesetzen, andererseits fehlen da und dort Mut und Einsicht, freiberufliche Vermessungsingenieure einstweilen auch ohne entsprechende Gesetze zuzulassen. Die Bundesregierung hat immer wieder auf die tragende Bedeutung des Vermessungswesens für einen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern mit Erfolg hingewiesen. Nach der Schaffung von Vermessungs- und Katastergesetzen für Teilgebiete verlagert sich das Problem jetzt allerdings auf den Gesetzesvollzug. Zumindest für eine Übergangszeit sollten öffentlich bestellte Vermessungsingenieure in den Katasterämtern tätig werden. ({5}) Funktionierende Katasterämter, Herr Kollege, sind für den Aufschwung in den neuen Bundesländern unerläßlich; denn ohne Landvermessung gibt es keine Katastervermessung, und ohne Katastervermessung gibt es keine Grundstücksteilung und damit keine neuen Grundstücke. Die Beleihung von Grundstücken wird behindert. Ohne Immobiliarsicherheit gibt es aber keine Bautätigkeit, die wiederum Grundlage für jeden wirtschaftlichen Aufschwung ist. ({6}) Lassen Sie mich noch einige wenige Wort zur Alterssicherung und zur Steuerpolitik für die freien Berufe sagen. Das vom Institut für freie Berufe in Nürnberg vorgelegte Gutachten zur Situation der Alterssicherung in den freien Berufen hat eine differenzierte Struktur der Sicherung von freien Berufen für das Alter und das Invaliditätsrisiko gezeigt. Das haben ja auch Sie, Herr Kollege Doss, mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Für den größten Teil der freien Berufe mit beruflicher Selbstverwaltung in Kammern stehen derzeit mehr als 50 berufsständische Versorgungswerke zur Verfügung. Weitere sind in den neuen Bundesländern im Aufbau. Daneben ist die gesetzliche Rentenversicherung vor allem für jene Freiberufler von Bedeutung, für die keine eigenen berufsständischen Versorgungswerke bestehen. Bei den Künstlern - das merke ich mit Nachdruck an - ist die Künstlersozialversicherung die wichtigste Grundlage der Altersversicherung. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Steueränderungsgesetzes 1992 soll ein erster Schritt der Unternehmensteuerreform verwirklicht werden. Für die freien Berufe ergeben sich Entlastungen und Vereinfachungen vor allem bei der Vermögensteuer sowie der Erbschaft- und der Schenkungsteuer. Mit einem zweiten Schritt der Unternehmensteuerreform zum Ende der Legislaturperiode müssen weitere Tarifentlastungen erfolgen. Diese steuerlichen Entlastungen zusammen mit dem halben Steuersatz bei Praxis- oder Büroverkauf verringern die Benachteiligung der Selbständigen beim steuerlichen Vorwegabzug für Vorsorgeaufwendungen für Alter und für Krankheit. ({7}) Lassen Sie mich noch kurz auf einige europäische Aspekte und Vorhaben eingehen. Die freien Berufe - ich sage das hier ganz nachdrücklich - sind durch zwei Richtlinienvorschläge der Europäischen Kommission beunruhigt. Bei der Dienstleistungsrichtlinie für das öffentliche Auftragswesen konnten zwar mehrere freiberufliche Spezifika erreicht werden. Problematisch sind für einige freie Berufe aber die Zulassung von Kapitalgesellschaften, die es im europäischen Ausland gibt, und der zu niedrige Schwellenwert, also der Auftragswert, ab dem die Regelungen der Richtlinie greifen. Sinnvoll wäre z. B. bei Planungsleistungen eine Orientierung am Bauwerk entsprechend der Baukoordinierungsrichtlinie. Die Verhandlungen zur Richtlinie laufen zur Zeit. Die Bundesregierung und die Verbände versuchen, weitere Verbesserungen herbeizuführen. Der Dienstleistungshaftungsrichtlinie konnte die Bundesregierung bereits einen Giftzahn ziehen, indem die Kommission auf die verschuldensunabhängige Haftung verzichtete. Nun wurde bekannt, daß die Kommission die Heilberufe und die Bauberufe vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausdrücklich ausschließen will, womit eine weitere, von der Bundesregierung stets monierte Unerträglichkeit ausgeschaltet wird. Ich denke, das ist ein guter Erfolg unserer Verhandlungen in Brüssel. ({8}) Die Bundesregierung und die Verbände werden weiterhin Argumente und Bedenken gegen den Richtlinienvorschlag vortragen. Er würde die Erbringung von Dienstleistungen erschweren und sie über höhere Versicherungsprämien verteuern. Das Interesse der Verbraucherschutzorganisationen an der Richtlinie ist für die meisten einsichtig, zumal da wir in Deutschland ein hochentwickeltes Haftungs- und Gewährleistungsrecht haben. Von besonderem Interesse sind hier die aktuellen Beratungen im Europäischen Parlament, dem - wie ich glaube: Gott sei Dank - ein zunehmend stärkeres Gewicht zukommt. Lassen Sie mich zum Schluß einen Blick auf Mittel-und Osteuropa und auf die Situation der freien Berufe dort werfen. Die Zusammenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Staaten erfordert vielfältige Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen, gerade zum Aufbau eines lebensfähigen Mittelstandes und freier Berufe. Dabei, Herr Kollege Weng, müssen wir vor allem bei Maßnahmen zur Verbesserung von Information, Qualifikation, Beratung, Technologietransfer, Unternehmensfinanzierung, Unterstützung beim Aufbau von Verbands- und Kammerstrukturen und der Privatisierung ansetzen. ({9}) - Das ist ja Ihr Thema, Herr Abgeordneter Weng. - Das alles ist aber nur durch enge Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft zu verwirklichen. Im Rahmen der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Politik für freie Berufe - das hebe ich hervor - wurde das nächste Treffen in Dresden vorgesehen, um auch angesichts der Lage Sachsens im Dreiländereck bei der Entwicklung freiberuflicher Strukturen zunächst in Polen und in der Tschechoslowakei helfend zusammenzuarbeiten. Das zeigt, daß wir in unserem Denken, in unserem politischen Gestaltungswillen nicht auf die Interessen der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland verengt sind, sondern daß wir in das gesamteuropäische Interesse im Auge haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Nun hat das Wort der Kollege Albert Pfuhl.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Keine Frage, die freien Berufe haben Konjunktur, nicht nur im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben, sondern offensichtlich auch hier im Bundestag, wenn auch die Frequenz heute morgen, am Freitag um 9 Uhr, nicht allzu stark ist. ({0}) Aber von denen, die hier sind, weiß ich, daß sie wirklich ein Interesse am Mittelstand haben. ({1}) - Sehr verehrter Herr Kollege Doss, ich danke Ihnen, denn Sie haben mich bei der Qualität eingeschlossen. ({2}) Wir diskutieren zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres über die Lage der freien Berufe. Anlaß ist die Fortschreibung des Berichts der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik, auf die wir und die freien Berufe fast zwölf Jahre haben warten müssen. Angesichts der langen Bedenkzeit ist der Bundesregierung nach meiner Meinung nicht viel Neues bei dieser Formulierung von Grundsatzpositionen eingefallen. Das zeigt auch, wie gut der Bericht war, den die sozialliberale Koalition im Jahre 1979 vorgelegt hat und von dem anscheinend diese Koalition bis heute gezehrt hat. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat immer wieder darauf hingewiesen - auch in unserer Diskussion das letzte Mal hatte ich diese Ehre - , daß die Bedeutung der freien Berufe für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft hier von niemandem bestritten werden sollte. Freie Berufe erfüllen in unserem hochtechnisierten, arbeitsteiligen Wirtschaftssystem wichtige Aufgaben. Die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft erfordert eine ständige Anpassung an den wirtschaftlichen und technischen Wandel. Hierfür ist ein herausragendes Beispiel der ökologische Umbau der Volkswirtschaft. Gerade die freien Berufe tragen zu diesem Anpassungsprozeß mit ihren Beratungsleistungen, besonders für kleine und mittlere Unternehmen, entscheidend bei. Auf die Bedeutung der freien Berufe für die Funktionsfähigkeit unseres Gesundheitswesens, der Architektur, der Technik, der Kultur hinzuweisen, hieße im Grund Eulen nach Athen tragen. ({3}) Vor allem - das sollten wir hier nicht vergessen - ermöglichen die freien Berufe immer auch ein Stückchen Individualität in der Massengesellschaft. Betrachtet man den statistischen Teil des Berichtes - der Herr Staatssekretär hat hier schon einige Zahlen vorgetragen -, so zeigt sich, daß die freien Berufe in den zurückliegenden Jahren an Bedeutung gewonnen haben und sich die Zahl ihrer Angehörigen im Zeitraum von elf Jahren, von 1978 bis 1989, um über 120 000 erhöht hat. Die Attraktivität der freien Berufe ist auch für die Frauen gewachsen. In einzelnen Berufsgruppen stieg der Anteil im Berichtszeitraum um bis zu 14 %. ({4}) Die Zahl der bei den Freiberuflern Beschäftigten - das wurde auch schon gesagt - ist auf 1,1 bis 1,2 Millionen gestiegen, die Zahl der Auszubildenden gleichzeitig um über 30 % auf 150 000. Betrachtet man die zahlenmäßige Entwicklung der freien Berufe über einen Zeitraum von zwei Jahrzehnten, so zeigt sich, daß ihre Zahl auch wesentlich stärker als die der übrigen Erwerbstätigen zugenommen hat. Das dürfte im einzelnen daran liegen, daß die eigenverantwortliche Tätigkeit, verbunden mit einem vergleichsweise guten Einkommen, vor allem in einigen Branchen, ein starker Anreiz für die Aufnahme einer selbständigen freiberuflichen Tätigkeit gewesen sein dürfte. Zum anderen müssen wir erkennen, daß viele Akademiker, die im öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft keine Beschäftigung finden konnten, verstärkt in die freien Berufe gedrängt haben. Dies gilt vor allem für den Juristenberuf. Die Inflation an Anwälten bemerken wir alle jeden Tag, wenn wir die neuen Schilder an den Häusern sehen, wo eine Praxis aufgemacht wurde. Dieser Sachverhalt hat mit Sicherheit auch die Entwicklung der Einkommen beeinflußt. Die durchschnittlichen Einkünfte der Freiberufler sind aber von 1983 bis 1986 - die neueren Zahlen liegen uns leider nicht vor - sogar gefallen. 1983 betrug das durchschnittliche Einkommen 108 000 DM, in 1986 leider nur 107 000 DM. Die Hälfte der Freiberufler erzielte 1986 Einkünfte aus selbständiger Arbeit in Höhe von maximal 58 000 DM. Jeder, der also glaubt, in freien Berufen könne man goldene Nasen verdienen, muß wissen, daß dieses nur in einzelnen Branchen geschehen ist. ({5}) - Verehrter Herr Kollege, wer den Futterneid schürt, sollten gerade Sie als Vertreter der Landwirtschaft sich fragen. ({6}) Hinter diesen Einkommensdurchschnittszahlen stehen auch diese enormen Einkommensunterschiede. Einkommen von Laborärzten, die in der Statistik mit knapp 700 000 DM angegeben sind, gemessen an dem eines selbständigen Architekten, der manchmal weniger als ein Zehntel verdient, oder eines Künstlers, der noch nicht einmal ein Zwanzigstel dieses Einkommens hat, beweisen, wie unterschiedlich die Einkommen hier sind. Die Zukunftsaussichten der freien Berufe werden im Bericht der Bundesregierung positiv bewertet. Ich teile diese Einschätzung. Die freien Berufe haben in den zurückliegenden Jahren besonders vom starken Anstieg des Dienstleistungssektors profitiert. Dieser für eine reife Volkswirtschaft kennzeichnende Trend zu dieser Dienstleistungsgesellschaft verlangt in verstärktem Maß auch individuelle, personenbezogene und unternehmensorientierte Dienstleistungen, die besonders von freien Berufen, beispielsweise in den Bereichen Bildung, Freizeit und Unterhaltung, aber auch durch Rechts- und Unternehmensberatung erbracht werden. Ich bin davon überzeugt, daß bei diesem Trend gerade diese Bereiche und Tätigkeitsfelder in der Zukunft zunehmend besetzt werden müssen. Verstärkt werden die Entfaltungsmöglichkeiten freier Berufe besonders mit der Verwirklichung des EG-Binnenmarktes, der vor allem im wirtschafts- und steuerberatenden Bereich große Chancen bietet. Mit dem Zusammenwachsen Europas gibt es selbstverständlich auch Anpassungsprobleme. Hier - Herr Staatssekretär hat es erwähnt - denke ich an die Dienstleistungshaftungsrichtlinie, die bei den freien Berufen auf starke Kritik gestoßen ist. Im Kern geht es dabei um die Umkehrung der Beweislast zugunsten des Geschädigten. Ich will Ihnen nichts vormachen: Für uns gilt der Grundgedanke des Verbraucherschutzes, der auch bei der Produzentenhaftung zum Ausdruck kommt, als ein wichtiges Anliegen. Insofern stehen wir dem Ziel der Richtlinie im Grundsatz nicht ablehnend gegenüber. Ich kann Ihnen jedoch versichern, daß wir vor einer abschließenden Meinungsbildung die ernst zu nehmenden Einwände der Betroffenen zu prüfen haben, um eine für beide Teile akzeptable ausgeglichene Lösung zu finden. ({7}) Eines darf bei uns nicht geschehen: daß amerikanische Verhältnisse einreißen, wobei Millionen Schadenersatzbeträge angemeldet werden, und dann in einem Vergleichsverfahren der einzelne in einer Größenordnung zur Kasse gebeten wird, daß er von der Versicherung die Beträge nicht mehr leisten kann. Auch dies ist in Amerika leider Gottes eingerissen. So weit dürfte es bei uns nicht kommen. ({8}) - Ich denke jetzt nicht nur an Schadenersatzklagen von jungen Damen gegenüber Boxern über 100 Millionen, Herr Kollege. Die habe ich nicht gemeint. Große Aufgaben und Betätigungsfelder für freie Berufe ergeben sich auch im Zusammenhang mit der deutschen Einigung. In der ehemaligen DDR, das wissen wir alle, waren freie Berufe aus ideologischen Gründen zurückgedrängt. ({9}) - Ja, verehrter Herr Kollege, ich lese Zeitung, im Gegensatz zu Ihnen, und zwar die richtige. ({10}) In den 80er Jahren gab es in der DDR nur etwa 10 000 freiberuflich Tätige. Sie machten zuletzt lediglich 0,1 % aller Erwerbstätigen aus. Nach der deutschen Einheit entfielen die restriktiven Zulassungsbeschränkungen mit dem erfreulichen Ergebnis, daß wir zur Zeit - auch dies wurde schon einmal gesagt - ca. 50 000 Freiberufler haben. Diese beschäftigen bereits mindestens ebenso viele Mitarbeiter. ({11}) - Genau das. Für die Zukunft wird mit 100 000 Freiberufler in den neuen Ländern gerechnet. Daraus entwickelt sich auch eine Anzahl von Mitarbeitern, die dazu beitragen, den Arbeitslosenberg abzubauen. Wir sollten beim Aufbau dieser Dienstleistungsbereiche in den neuen Ländern und ihrer Kommunen dafür sorgen, daß die freien Berufe angemessen und dort, wo es möglich ist, eingebunden werden und die öffentlichen Dienstleistungen auf das erforderliche Maß zurückgeschraubt werden. Der Herr Staatssekretär hat einige Beispiele genannt. Zum Vermessungswesen etwa muß ich Ihnen sagen: Ich halte es für falsch, daß von dem Katasteramt aus meinem Wahlkreis die Leute abgezogen werden, nicht um das Katasteramt aufzubauen, sondern um die Vermessung durchzuführen. Dies könnten freie Vermessungsingenieure nach meiner Meinung besser. Die anderen sollen sich um den Bürokram in dem Laden kümmern. ({12}) Wir Sozialdemokraten unterstützen die Gründung selbständiger Existenzen in den neuen Bundesländern mit Nachdruck. Jeder, der im Wirtschaftsausschuß und im Unterausschuß, der sich mit den ERP-Sondervermögen beschäftigte, dabei war, Herr Dr. Schwörer, weiß, daß wir darauf gedrängt haben, die Mittel für die Existenzgründungen in den neuen Bundesländern aufzustocken und dafür zu sorgen, daß die Menschen drüben die Chance haben, ihrem Wunsch, selbständig zu werden, nachkommen zu können. Aber die Bundesregierung ist dem einerseits immer etwas zögerlich gefolgt ({13}) und hat andererseits zum sogenannten Ausgleich wichtige Maßnahmen zur Förderung freier Berufe und kleiner und mittlerer Unternehmen in den alten Bundesländern eingestellt bzw. drastisch gekürzt. Ich will hier in einer Debatte über die Lage der freien Berufe nicht das Thema der praktisch eingestellten mittelstandsorientierten Forschungsförderung anschneiden, sondern auf zwei Programme hinweisen, die auch für die freien Berufe von Bedeutung waren und sind, zum einen auf das Eigenkapitalhilfeprogramm zur Förderung selbständiger Existenzen, das 1991 eingestellt wird. ({14}) - Was heißt „planmäßig ausläuft"? In jedem Falle haben Sie das Ding totgemacht. Das heißt, ab 1992 gibt es kein Geld mehr. Das ist doch die Konsequenz. ({15}) Dann lese ich in einer CDU-Mitteilung, daß sich der Kollege Doss dazu bekennt, daß das Eigenkapitalhilfeprogramm Standbein der mittelständischen Wirtschaft sei. ({16}) Und wie haben Sie im Wirtschaftsausschuß gestimmt, Herr Kollege? Wie hat sich die CDU/CSU gegenüber den Forderungen der FDP verhalten? Sie haben den Schwanz eingekniffen! Das ist die Situation. ({17}) Herr Kollege Doss, man sollte nicht in der Öffentlichkeit den Mund spitzen und hinterher im Ausschuß nicht pfeifen wollen. Das darf man nicht. Das nehmen uns die Mittelständler nicht ab. ({18}) - Nun gut, ich weiß, aber wem tut es schon gut, wenn man ihn rügt? Das Eigenkapitalhilfeprogramm war die eine Seite. Gleiches gilt auch für die Ansparförderung zur Gründung selbständiger Existenzen, die für die alten Bundesländer ebenfalls Ende 1991 abgeschafft wird. ({19}) Hier hätten wir den Unterschied zwischen alten und neuen Ländern nicht machen sollen. Auch bei uns in den alten Ländern gibt es genügend Möglichkeiten, diese Existenzförderung durchzuführen. Es ergibt sich die groteske Situation, daß dieses Programm auf Drängen der SPD erst im letzten Haushalt für freie Berufe geöffnet wurde, praktisch aber schon wieder abgeschafft wird, bevor es überhaupt von den freien Berufen angenommen werden kann, weil es jetzt schon wieder ausläuft. ({20}) - Sie können ja nachher darauf antworten, Herr Kollege Weng. Meine Fraktion hat in den Haushaltsplanberatungen Anträge gestellt. Beide Programme haben keine Zustimmung gefunden. Ich lobe hier den Kollegen Hinsken, der einmal über seinen Schatten gesprungen ist und gesagt hat: Das ist im Grunde eine richtige Sache. - Hätten Sie das nur auch getan! ({21}) - Ja, man merkt, was ein anständiger Handwerksmeister ist. ({22}) Ähnlich enttäuschend ist auch die Steuerpolitik für Selbständige. Die von der Bundesregierung geplante Senkung der Vermögensteuer und die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer ist mittelstandspolitisch völlig verfehlt. ({23}) Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer bringt z. B. für die freien Berufe nichts; ({24}) denn die zahlen diese Steuer ja gar nicht. Ebenso geht es den meisten kleinen und mittleren Unternehmen, die zu über 80 % von der Gewerbekapitalsteuer befreit sind. Ähnliches gilt bei der Vermögensteuer. Von der I Vermögensteuer werden noch weniger Selbständige als von der Gewerbekapitalsteuer erfaßt, ({25}) so daß die ganz überwiegende Zahl der Selbständigen, also auch der Freiberufler, von dieser Steuer befreit ist und demzufolge auch nicht entlastet werden kann. ({26}) - Herr Kollege, Sie sind doch im Finanzausschuß. Sie hätten dafür sorgen müssen, daß hier bessere Verhältnisse für den Mittelstand erzeugt werden. Statt dieser Steuerregelung, die überwiegend Großunternehmen begünstigt, hätte die Bundesregierung vernünftigerweise besser die steuerfreie Investitionsrücklage für kleine und mittlere Unternehmen eingeführt und sich Gedanken darüber gemacht, wie die Vorsorgeaufwendungen auch der Selbständigen steuerlich angemessener hätten berücksichtigt werden können. Es ist dringend erforderlich, daß hier etwas geschieht; darüber müssen wir nachdenken. ({27}) Wir sollten auch darüber nachdenken, ob eine Erhöhung der Sonderausgabenhöchstbeträge vorgenommen werden sollte. Der Bundesverband der Freien Berufe hat den vorgelegten Bericht folgendermaßen kommentiert - meine Redezeit geht zu Ende, aber das will ich doch noch kurz vorlesen - : Er ist ein ebenso sorgfältiges wie vorsichtiges Beamtenwerk ohne politische Handschrift. ({28}) In diesen Grenzen verdient er Dank und Anerkennung. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. ({29})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat der Kollege Hansjürgen Doss das Wort. ({0})

Dr. Hansjürgen Doss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000411, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine verehrten Kollegen! Daß ich Klaus Beckmann ein Dankeschön für die Rede heute morgen und für die Arbeit des Wirtschaftsministeriums sagen kann, habe ich geahnt, weil ich ihn gut kenne und weil ich seine Kompetenz und die Kompetenz des Hauses, Herr Bieberstein, die in diesem Bericht zum Ausdruck kommt, schätze. ({0}) Ich war positiv motiviert und hatte die Absicht, hier auch den verehrten Kollegen Pfuhl zu loben, ({1}) nachdem er sich so positiv geäußert hatte. Dann allerdings, so muß ich sagen, hat er sich verirrt und hat ein Gesicht gezeigt, von dem ich nicht weiß, ob es das wahre oder das nicht wahre gewesen ist. ({2}) Nach dem, was er gesagt hat, kann ich ihn nur zum Teil loben. Zu der Frage, die Sie hier mehr rhetorisch vorgetragen haben: Sie wissen genausogut wie ich, daß bei einer soliden Regierungspolitik die Finanzierbarkeit von Maßnahmen entscheidend sein muß. Das ist doch der Punkt! ({3}) Der Kollege Jens hat ja im Wirtschaftsausschuß die Solidität angemahnt. Da wir uns botsam verhalten haben, haben wir dem entsprochen und nur das gemacht, was wir am Ende auch finanzieren konnten. Allerdings beklage ich den Sachverhalt; ich komme gleich noch einmal darauf zurück. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die freien Berufe sind in der Zwischenzeit - das ist ja wohl Konsens - eine der bedeutendsten Gruppierungen innerhalb unserer Gesellschaft. Der Dienstleistungssektor ist einer der größten Wirtschaftsfaktoren der Bundesrepublik Deutschland und wird dies auch im europäischen Markt sein. Freie Berufe spielen eine immer wichtigere Rolle, weil die Nachfrage nach Dienstleistungen weiter steigen wird. Die entscheidenden Wachstumsimpulse kommen aus den neuen Bundesländern, aber auch aus dem europäischen Binnenmarkt. In der ehemaligen DDR war für freie Berufe kein Platz. Freie Berufe sind Kennzeichen einer freien Gesellschaft, waren also in dem damaligen Staat sozusagen kontraproduktiv. Die freien Berufe mußten infolgedessen in den neuen Bundesländern bei Null anfangen. Das sieht in der Realität so aus, daß der Zahnarzt, der bisher in der staatlichen Kieferklinik beschäftigt war und keine Rücklagen bilden konnte, weil er dort soviel verdiente wie ein Hilfsarbeiter, sich mit 50 selbständig macht und 200 000 Mark in eine Praxis investiert, Miete und Mitarbeiter bezahlen muß und nun darauf hoffen kann, daß er bis zum Rentenalter schuldenfrei ist. - Das sind die Probleme, die in den fünf neuen Bundesländern anstehen. Wer weiß das besser als Dietrich Rollmann, den ich hier auf der Tribüne sehe? Der Bundesverband der Freien Berufe hilft auch in dieser Richtung maßgeblich; dafür herzlichen Dank. Ähnlich wie den Heilberufen geht es den Architekten und dem gesamten Spektrum der freien technischen Berufe. In den freien rechts- und wirtschaftsberatenden Berufen wird in den neuen Bundesländern gänzlich Neuland betreten. Der Bedarf ist immens, die Nachfrage ist riesig. Die Unternehmensberater, Rechtsanwälte und Steuerberater sind noch nicht annähernd in der nötigen Zahl vorhanden. Dank und Anerkennung verdienen hier jene Freiberufler, die als „elder statesmen" in den neuen Bundesländern eine ganze Menge an Fort- und Weiterbildung machen. Da sieht man, daß der Staat nicht alles regeln sollte. Die betroffenen Bürger können das viel besser. ({4}) Die freiberufliche Gründungswelle in den neuen Bundesländern wird dazu beitragen, daß die Zahl der Freiberufler in Deutschland von knapp 300 000 im Jahre 1980 über 400 000 im Jahre 1990 noch einmal um 50 % auf 600 000 im Jahre 2000 steigen wird. Ein zweiter Wachstumsimpuls wird der europäische Binnenmarkt sein. Um die Chancen eines erweiterten Betätigungsfeldes zu nutzen, bedarf es aber einiger Korrekturen an den politischen Rahmenbedingungen, auf die auch im Bericht der Bundesregierung ansatzweise hingewiesen wurde. So wird etwa die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der europäischen Konkurrenz dadurch erheblich eingeschränkt, daß berufsrechtliche Grenzen der Spezialisierung und der interdisziplinären Kooperation im Wege stehen. Der Bericht der Bundesregierung weist deutlich darauf hin. Wir brauchen daher dringend ein Partnerschaftsgesetz - Staatssekretär Beckmann hat darauf hingewiesen - für die Gruppen der freien Berufe, die von den geltenden Berufsgesetzen an einer Zusammenarbeit gehindert werden. Das gilt vor allem für die technischen sowie die rechts- und wirtschaftsberatenden freien Berufe. Auch die Berufsgesetze müssen zeitgemäßer sein. Wir müssen den durch das EG-Recht veränderten Voraussetzungen Rechnung tragen. Das bedeutet nicht, daß alles, was aus Brüssel kommt, unkritisch zu übernehmen ist und daß die Harmonisierung um jeden Preis zu betreiben ist. ({5}) - Vielen Dank! Hier ist große Wachsamkeit geboten, weil die Eurokraten uns gelegentlich Produkte präsentieren, die jegliche Kenntnis der Praxis vermissen lassen. Die etwas zu positive Einschätzung über den Stand der Entwicklung, Herr Staatssekretär Beckmann, teile ich nicht ganz. Wir waren vorgestern in Brüssel. Die EG-Kommission hat in diesem Jahr den Entwurf einer neuen Haftungsrichtlinie für Dienstleistungen vorgelegt, dessen Verwirklichung die gesamte Dienstleistungswirtschaft in ihrer Existenz massiv bedrohen wird. Danach soll die Haftung für Dienstleistungen auf 20 Jahre ausgeweitet werden. Im Schadensfall sollen z. B. der Architekt, der Ingenieur, der Bauhandwerker oder der Arzt verpflichtet werden, ihr Nichtverschulden nachzuweisen, und das bei einem erheblich ausgeweiteten Schadensbegriff. Jeder, der nur einen Funken Sachverstand hat, weiß, daß z. B. herstellungsbedingte Mängel am Bau zu 90 % bereits nach drei Jahren bekannt sind und daß nach 20 Jahren kein Mensch mehr zwischen den herstellungs-, nutzungs-, erhaltungs- oder umweltbe - dingten Schäden unterscheiden kann. Oder ein anderes Beispiel: Eine gesundheitliche Beeinträchtigung könnte ohne weiteres mit einer viele Jahre zurückliegenden ärztlichen Maßnahme in Zusammenhang geHansjürgen Doss bracht werden. Der Unschuldsbeweis ist dann praktisch unmöglich, und der Erbringer der Dienstleistung ist auf jeden Fall der Dumme. Die Dummen sind bei diesem unsinnigen Vorschlag aber auch die Verbraucher, die eigentlich davon profitieren sollen. Die Verbraucher müssen nämlich als Bauherren, Haus- oder Wohnungseigentümer und als Mieter die Zeche zahlen, wenn die Versicherungsprämien ins Unermeßliche steigen und über den Baupreis an die Auftraggeber weitergegeben werden. Fachleute prophezeien eine Verteuerung des Bauens um rund 30 % mit entsprechend katastrophalen Folgen für den Wohnungsbau und die Mietpreisentwicklung. Diesem Erzeugnis der EG-Bürokratie muß unser entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden. ({6}) Ich hoffe hier auf die Unterstützung aller Fraktionen. Die Freiberufler in der Bundesrepublik Deutschland haben die im dritten Kapitel formulierten Grundsätze einer Politik für die freien Berufe mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, wenngleich man sich bei den Ausführungen zur Privatisierungspolitik auch konkrete Angaben zur Übertragung öffentlicher Dienstleistungen auf freie Berufe gewünscht hätte, Herr Staatssekretär. Im Baubereich etwa sollte sich der Staat grundsätzlich auf die Bauherrnfunktion beschränken und alles andere den Freiberuflern übertragen, die Steuern zahlen und Arbeitsplätze schaffen. Auch wenn die Schwerpunkte der Privatisierungsmöglichkeiten bei den Ländern und Gemeinden liegen, hat der Bund hier eine Vorbildfunktion. Im Grunde stehen daher alle nicht hoheitlichen Dienstleistungen, die heute noch in öffentlicher Regie erbracht werden, zur Disposition. Wenn es für eine staatliche Dienstleistung keine hoheitliche Begründung und keine ordnungspolitisch vertretbare Rechtfertigung gibt, muß sie privatisiert werden. Hier erwarten wir vom Bundeswirtschaftsminister ein verstärktes Engagement, um das im Bericht vorgenommene Bekenntnis zur Privatisierung in konkrete Projekte fließen zu lassen. Abweichend von der vorliegenden Unterrichtung sehen die Freiberufler dringenden Handlungsbedarf in der Steuerpolitik. Zu Recht heißt es in dem Bericht, daß die Erhöhung des Vorwegabzugs für Vorsorgeaufwendungen der Selbständigen für Alter, Krankheit und Existenzsicherung auf 4 000 DM eine Verbesserung darstellt. Eine wirksame Erhöhung des Vorwegabzugs auf 8 000 DM für Ledige und 16 000 DM für Verheiratete würde die Benachteiligung beseitigen und den Freiberuflern und allen anderen Selbständigen die persönliche Absicherung erleichtern. ({7}) Der Bundesfinanzminister hat in dankenswerter Weise erkennen lassen, daß er die Belange des selbständigen Mittelstands in den aktuellen steuerpolitischen Vorhaben angemessen berücksichtigen wird. In diesem Zusammenhang halten wir es für außerordentlich bedauerlich, daß sich das Bundeswirtschaftsministerium außerstande sah, das Auslaufen des Eigenkapitalhilfeprogramms zu verhindern, ({8}) das auch freiberuflichen Existenzen in der schwierigen Phase der Gründung und Etablierung am Markt erhebliche Hilfestellung leistete. ({9}) - Da ich keinen Gegenfinanzierungsvorschlag hatte, verehrter Herr Pfuhl, habe ich mich der Stimme enthalten. ({10}) Das ist mein Bekenntnis; ich weiß das. Sie würden das sicher alles viel besser machen. ({11}) Das Einsparvolumen von 150 Millionen DM, das bei einer Streichung des Programms jetzt anfällt, steht in keinem Verhältnis zu den negativen Folgewirkungen. Mit jeder Neugründung war im Schnitt die Schaffung von drei Arbeitsplätzen verbunden. Diese Arbeitsplätze werden dann nicht geschaffen, wenn die Gründung infolge Eigenkapitalmangels unterbleibt oder wenn zur Existenzsicherung notwendige Investitionen nicht vorgenommen werden können. Der Kollege Möllemann, Herr Staatssekretär, hätte in dieser Frage auf seinen und Ihren Parteifreund Rainer Brüderle hören sollen, der das Fortführen dieses Programms empfohlen hatte. ({12}) - Ich hoffe, daß er dabei nicht Schaden nimmt. ({13}) Ich kenne ihn persönlich und schätze ihn. Wir haben auch bei intensiver Beratung im Einzelplan 09 keine alternativen Einsparmöglichkeiten gesehen. Das ist der Grund, warum es am Ende nicht ging. ({14}) - Sie müßten von der Sache schon etwas verstehen, bevor Sie sich so äußern. Höchst problematisch wäre die generelle Aufhebung der Steuerfreiheit von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen. Subventionsabbau ist sicher richtig und notwendig. Wenn dabei aber ein wichtiges Instrument zur Finanzierung von Investitionen abgewürgt wird, ist darüber zumindest noch einmal nachzudenken. Es macht durchaus Sinn, den Gewinn aus einer zum Zweck der Kapitalvermehrung abgeschlossenen Lebensversicherung zu besteuern. Durch die steuerliche Absetzbarkeit der Prämien besteht hier ja eine doppelte Begünstigung, für die es keine Begründung gibt. Sinnvoll ist aber die Begünstigung, wenn die Lebensversicherung als Finanzierungshilfe im selbstgenutz3774 ten Wohnungsbau, im Mietwohnungsbau sowie für Existenzgründungen und Investitionen genutzt wird. ({15}) Nach dem Eigenkapitalhilfeprogramm würden wir den kapitalschwachen jungen Betrieben, den Freiberuflern, die gerade von der Uni kommen und sich ein Atelier, eine Kanzlei oder eine Praxis einrichten und einen Kundenstamm aufbauen müssen, eine zweite Überbrückungshilfe wegnehmen. Die Folgeschäden für die Unternehmensstruktur, den Wettbewerb und den Arbeitsmarkt stehen in keinem Verhältnis zum Einspareffekt. Während die großen Blöcke der Erhaltungssubventionen als heilige Kühe auf Dauer Schonzeit haben, würden wir eine reine Investitionshilfe, die sich in absehbarer Zeit bezahlt macht, zum Abschuß freigeben. ({16}) Gerade in Zeiten eines hohen Zinsniveaus brauchen die jungen Unternehmer diese Finanzierungshilfen, weil eine Investition ohne Eigenkapital bei 15 % Kreditzinsen schlicht und einfach nicht finanzierbar ist. Wenn der Bericht der Bundesregierung dazu rät, mit steuerpolitischen Maßnahmen die Investitionstätigkeit anzuregen, kann damit nicht gemeint sein, daß Investitionshilfen in Form von Steuervergünstigungen für den Mittelstand und die freien Berufe abgebaut werden. Das Bundesfinanzministerium hat auch die Bereitschaft signalisiert, die bisherigen Komponenten des Steuerreformpakets einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen. Die freien Berufe sind heute Arbeitsplatz für rund 1,5 Millionen Menschen. Die Zahl wird in den nächsten zehn Jahren auf über 2 Millionen steigen. Die Expansion des Dienstleistungssektors und die Erweiterung des Betätigungsfeldes durch die Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts sind für die freien Berufe Herausforderung und Chance zugleich. Die freien Berufe haben mit Zustimmung zur Kenntnis genommen, daß sich die Bundesregierung im Prinzip für die Beibehaltung der verschiedenen Honorar- und Gebührenordnungen der freien Berufe ausspricht. Auch unter den Bedingungen des gemeinsamen europäischen Markts haben die Honorar- und Gebührenordnungen Berechtigung und Zukunft: Der Preiswettbewerb für Freiberufler wird verhindert; für Patienten, Klienten, Mandanten oder Bauherren bleiben Transparenz und Berechenbarkeit erhalten. Der Wettbewerb der Anbieter freiberuflicher Dienstleistungen ist demnach ein Qualitäts- und Leistungswettbewerb, was nicht zuletzt dazu geführt hat, daß der Dienstleistungssektor in der Bundesrepublik Deutschland durchweg auf hohem Niveau arbeitet. Das wird auch der Verbraucher in Europa honorieren. Billigstangebote von medizinischen, juristischen oder sonstigen freiberuflichen Dienstleistungen wird sich niemand leisten können und wollen. Sie wären in der Konsequenz auch viel zu teuer. Die freien Berufe sollten in dieser Hinsicht mit etwas mehr Gelassenheit in den europäischen Wettbewerb gehen. Der freie Beruf braucht, meine sehr verehrten Damen und Herren, weder Schutzzäune noch Privilegien. Er braucht vergleichbare Wettbewerbsbedingungen. Dann wird er die Herausforderungen der Zukunft bestehen. Ich bedanke mich sehr für die Aufmerksamkeit. ({17})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat der Kollege Josef Grünbeck das Wort.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer die Debatte um die Eigenkapitalhilfe und die existenzgründungsbegleitenden Maßnahmen im Wirtschaftsausschuß und in der heutigen Plenarsitzung verfolgt hat, der meint eigentlich, es müßte mit den Existenzgründungen alles zu Ende sein. Ich darf Sie trösten: Das Statistische Bundesamt hat ausgewiesen, daß noch niemals so viele Existenzen gegründet wurden wie im ersten Halbjahr 1991. Der Existenzgründer braucht Vertrauen in eine Regierung. Die Zahlen beweisen, daß die Existenzgründer Vertrauen in diese Regierung haben. Dafür danken wir dieser Regierung. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die „Freien Berufe" werden bei uns großgeschrieben - im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Das zeigt dieser Bericht der Bundesregierung. Der Bericht gibt einen guten Überblick über die wichtige Rolle und die große Verantwortung der freien Berufe in unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Er zeigt die Vielzahl von Bereichen, in denen die freien Berufe Dienstleistungen erbringen. Er macht aber auch einige strukturelle Besonderheiten deutlich, auf die ich hier einmal hinweisen will. Freiberufler gehen nicht mit 60 Jahren auf das Altenteil. Sie sind oft bis weit über das 70. Lebensjahr hinaus tätig. Sie haben die längste Tagesarbeitszeit. Sie kennen auch keine 35-Stunden-Woche. Sie arbeiten und übernehmen ihre Verantwortung. ({1}) - Ja, da darf man applaudieren. Bemerkenswert ist auch, daß immer mehr qualifizierte Frauen in den freien Berufen tätig sind. ({2}) In einigen Berufen liegt der Frauenanteil ganz erheblich über dem Durchschnitt. Freiberufler werden aber auch als Arbeitgeber immer wichtiger. Bei ihnen liegt der Anteil der weiblichen Arbeitgeber höher als in allen anderen Wirtschaftsbereichen. Schon bei der Debatte des ersten Berichtes über die freien Berufe, 1980, hat der Bundestag auf die Problematik der steuerlichen Gleichbehandlung der Vorsorgeaufwendungen von Selbständigen und Arbeitnehmern hingewiesen. ({3}) Es ist eine alte Forderung der Liberalen, die steuerliche Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen der Selbständigen zu verbessern. ({4}) Wir sind dem Finanzausschuß des Deutschen Bundestages dafür dankbar, daß er jetzt einen gemeinsamen Antrag an die Bundesregierung gerichtet und einen Bericht angefordert hat, der Klarheit darüber schaffen soll, wie sich die Vorsorgeaufwendungen von Arbeitnehmern einerseits und von Selbständigen andererseits entwickelt haben und wie es um die steuerliche Absetzbarkeit dieser Aufwendungen steht. Meine Damen und Herren, wenn einer für sich selbst, für seine alten Tage sorgt, dann sollte er mindestens in die Lage versetzt werden, daß seine Aufwendungen dafür steuerlich geltend gemacht werden können. ({5}) - Wir nehmen diese Regierung und die freien Berufe ausdrücklich in Schutz, weil die Finanzierbarkeit bei Ihnen keine Rolle spielt, aber bei uns eine entscheidende Bedeutung hat. Das hat der Kollege Doss schon erwähnt. ({6}) Wichtigstes Element unserer Politik - darauf komme ich jetzt - ist das beharrliche Bemühen, die steuerliche Belastung der Wirtschaft und damit auch der Freiberufler nicht nur in Grenzen zu halten, sondern zu senken. Das ist eine Zielrichtung der bisherigen Steuerreform gewesen. Manches ist in den letzten Jahren schon erreicht worden. Der Bericht, über den wir hier debattieren, weist auch darauf hin. Wir werden hartnäckig auf eine Unternehmensteuerreform drängen, in die die Belange der freien Berufe integriert sind. Hier liegt allerdings die SPD auf einer ganz anderen Welle. Es war ungeheuer interessant, Herr Pfuhl, was Sie hier vorgetragen haben, nämlich daß die Gewerbesteuer auf die mittelständische Wirtschaft überhaupt keinen Einfluß hat. ({7}) - Ja, warum wollen Sie sie denn dann auch für die freien Berufe einführen? Sie widersprechen sich doch selbst, indem Sie die Gewerbesteuer für die freien Berufe wieder einführen. ({8}) Wir wollen die Gewerbesteuer für die freien Berufe überhaupt nicht zur Diskussion stellen; denn Freiberufler sind keine Gewerbetreibenden im Sinne des Gesetzes. Deshalb hat die Gewerbesteuer dort gar nichts zu suchen. ({9}) Die Steuerpolitik ist die eine wichtige Seite. Ein zweiter wichtiger Punkt ist, die Tätigkeitsfelder zu öffnen, nicht nur zu erhalten. Viele Aufgaben hat bisher der Staat an sich gezogen. Wir halten es für zwingend erforderlich, öffentliche Dienstleistungen in sehr viel größerem Maße als bisher auf Freiberufler zu verlagern. Planungsleistungen und vieles andere sind - das wurde heute schon erwähnt - notwendigerweise auf die privaten Hände zu übertragen. ({10}) Die Bundesregierung hat recht, wenn sie erklärt, die öffentliche Hand solle im Dienstleistungsbereich von der widerlegbaren Vermutung ausgehen, daß Dienstleistungen von selbständigen Gewerbetreibenden und freien Berufen effizienter erbracht werden und schon aus ordnungspolitischen Gründen von ihnen erbracht werden sollten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das ist die Privatisierung mit der umgekehrten Beweislast. Prüfen wir doch erst einmal, ob eine Leistung durch Private nicht besser, günstiger und effizienter erbracht werden kann, und vergeben wir sie dann erst an die staatlichen Stellen. Das ist für die neuen Bundesländer von großer Bedeutung. ({11}) Es wurde der Beginn des europäischen Binnenmarkts angesprochen. Wir liegen da bei der steuerlichen Belastung an der Spitze der Bewegung. Ich warne davor, dies zu bagatellisieren. Wir haben die höchste Qualifikation - das ist unser Plus - , aber wir haben auch die höchsten steuerlichen Belastungen, die höchsten Lohnnebenkosten und die niedrigsten Arbeitszeiten. ({12}) Wenn man das als Eröffnungsbilanz in den europäischen Binnenmarkt einbringt, dann wird man sich in dem dort entstehenden Leistungswettbewerb schwertun. Es wird nirgendwo so deutlich wie in den neuen Bundesländern, daß die freien Berufe als Bindeglied zwischen Wirtschaft, Staat und Gesellschaft unverzichtbar sind. Dort waren die freien Berufe im Gesundheitswesen, in der Bauverwaltung und in vielen anderen Bereichen fast völlig zerschlagen worden. Die Aufbauleistung in den neuen Bundesländern kann nur gelingen, wenn selbständige Planungen und Beratungen und die Hilfe der freien Berufe gewährleistet sind. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eines vortragen: Die freien Berufe haben ein Maß an Eigenverantwortung übernommen, das mich hinsichtlich dessen, was in den letzten Monaten geschehen ist, nachdenklich gemacht hat. Die kommunistische Philosophie ist zusammengebrochen, die marxistische Ideologie auch und die sozialistische Praxis ebenfalls. Also müßte man bei uns jetzt eigentlich mehr als je zuvor darüber nachdenken, was es mit der sogenannten kollektiven Verantwortung auf sich hat. Die kollektive Verantwortung ist zusammengebrochen. Wir brauchen jetzt die individuelle Verantwortung des einzelnen für die Gemeinschaft, und die ist nirgends so stark wie bei den freien Berufen. ({13}) Über diese für die Zukunft wichtige Frage haben wir zu entscheiden. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch einen Satz sagen: Der Bericht über die Lage der freien Berufe gibt Anlaß, ein klares Ja zu den freien Berufen zu sagen und ihnen für ihre großartigen Leistungen zu danken. Wir Liberalen verbinden damit die Hoffnung, daß die freien Berufe in Gesamtdeutschland, im europäischen Binnenmarkt und auch im östlichen Europa zum Nutzen aller ihren großen Sachverstand, ihre intelligente Phantasie und ihre Verantwortung einbringen. Dafür danken wir ihnen im voraus. ({14})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächstes hat der Kollege Hans Georg Wagner das Wort.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich Herrn Staatssekretär Beckmann und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich für diesen Bericht danken. Ich meine allerdings, daß es notwendig wäre, daß wir allesamt einmal darüber nachdenken, wie es bei solchen Berichten eigentlich mit der ökonomischen Erfolgskontrolle aussieht. Denn es ist mittlerweile eingerissen - nicht nur hier im Bund, sondern auch bei den Ländern -, daß bei Vorlage des Berichtes die Abteilung bereits wieder beginnt, den nächsten zu schreiben, so daß für die eigentliche Arbeit gar keine Zeit bleibt. Das schlägt sich wiederum in der Qualität der Berichte nieder. Ich meine also, daß es den freien Berufen und dem selbständigen Mittelstand sicherlich dienlicher wäre, wenn wir uns hier über konkrete Hilfsmaßnahmen als Hilfe zur Selbsthilfe auseinandersetzen würden, statt über Berichte und das Schreibenlassen von Berichten zu diskutieren. - Das vielleicht einmal als Anregung an uns alle, nicht nur an die jetzige Bundesregierung gerichtet. Ich jedenfalls meine, daß das wohl besser wäre. ({0}) Es ist keineswegs so, daß alles, was im Bericht steht, von uns politisch gebilligt wird. Nein, wir sind der Auffassung, daß es in vielen Bereichen hätte besser gemacht werden können und daß vieles besser werden könnte, wenn bestimmte Vorstellungen, die entwickelt worden sind - auch von Albert Pfuhl und von mir jetzt - , entsprechend berücksichtigt würden. Ich meine, daß es hilfreich wäre, wenn sich Regierung und Opposition darüber verständigen könnten, daß nicht ständige Berichte, sondern ein dauernder offener Informationsfluß und -austausch beiden eine Menge Arbeit ersparen und beiden auch mehr Zeit zum Nachdenken und zu zukunftsträchtiger Information geben könnte. Lassen Sie mich aber noch einen Augenblick darüber nachdenken, welch hohe Verantwortung die freien Berufe in unserer Gesellschaft übernehmen. Ich erinnere - es ist soeben angesprochen worden - etwa an die hohe Verantwortung der Ärzte in unserem Gesundheitswesen, an die hohe Verantwortung unserer Architekten und Ingenieure für eine menschengerechte bauliche Umwelt, wobei nicht die Höhe der Honorare, sondern die gesellschaftliche Gesamtverantwortung dieser Berufsgruppen im Vordergrund stehen sollte. Ich erinnere weiter an die Verantwortung der Rechtsanwälte, der Steuerberater, der Handelsvertreter sowie an die ungeheure Verantwortung freiberuflich tätiger Journalisten, die ich als sehr hoch einschätze; sie kann angesichts der aktuellen Ereignisse in Europa übermenschliches Engagement erfordern. Ohne die Journalisten wären Gorbatschows Perestroika und Glasnost nicht möglich geworden, und ohne Journalisten wäre der grenzenlose kulturelle Austausch vor allem im westlichen Europa gar nicht erst möglich gewesen. Oder denken wir an die Schriftsteller, an die Komponisten, an die Künstler: Es ist für uns selbstverständlich, daß wir der Musik des Polen Chopin oder der Musik der Brüder Strauß aus Österreich, daß wir der Musik Vivaldis, Mozarts und vieler anderer lauschen und uns daran erfreuen. Ich denke an Salvador Dali, den großen Maler, oder an den Schriftsteller Heinrich Böll. Ich erinnere auch daran - damit will ich diesen Teil abschließen - , welch ungeheuren kulturellen Geist Ludwig van Beethoven aus dieser Stadt heraus in die Welt hineingebracht hat. Das alles sind freiberuflich Tätige gewesen. Das sollte auch einmal angesprochen werden. Es sollte nicht immer nur von Architekten, Ingenieuren oder Handwerkern gesprochen werden, sondern es sollte auch von denen die Rede sein, die einen großen Teil der freien Berufe ausmachen und die große Dinge für das kulturelle Europa geleistet haben. ({1}) Gerade die freien Berufe haben nie Nationalitäten gehuldigt, sondern sie haben uns in Europa eine ganz große europäische Identität verschafft, die im wirtschaftlichen Bereich leider erst 1993 zu einem gemeinsamen Markt führen wird. Gerade die grenzüberschreitenden kulturellen Ereignisse machen die Lächerlichkeit der nationalen Ausländerfeindlichkeit der letzten Wochen auch bei uns erst recht deutlich. Es bekümmert mich persönlich, daß beispielsweise Galilei, daß Chopin, daß Leonardo da Vinci, daß Cicero, ja daß letztlich auch der Zimmermann Jesus Christus bei uns keinen Raum in der Herberge hätte behalten dürfen. Hier liegt eine große Herausforderung, der sich vor allem die freien Berufe zu stellen haben: diese europäische Dimension des Denkens wiederherzustellen und daran zu erinnern, daß alle hier in Deutschland mitverantwortlich sind für die Entwicklung des Verhältnisses zu den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern. ({2}) Vor diesem Hintergrund muß man die künftigen europäischen und auch deutschen Entwicklungen einordnen. Europa war immer - und das wird es auch wieder werden - ein Tummelplatz vor allem für freie Berufe. Ich appelliere deshalb an die Betroffenen: Seien Sie sich Ihrer hohen Verantwortung für das künftige Europa und für das menschliche Zusammensein darin bewußt! Nun zum Bericht. Mit der heutigen Debatte - es ist schon gesagt worden - wird die Debatte vom 13. September 1990 fortgesetzt. Damals hieß die Überschrift: „Die Lage der Freien Berufe im Zuge der Schaffung des europäischen Binnenmarktes". - Das war notwendig. Vieles von dem, was damals gesagt worden ist, könnte man heute nahtlos wiederholen, aber das würde nur zu einer Verlängerung der Debatte beitragen. Ich meine, es ist wichtig, Europa in die Betrachtung einzubeziehen, denn erstens dürfen unsere bundesdeutschen Probleme und die Dringlichkeit ihrer Lösung nicht zu Verzögerungen in der europäischen Entwicklung führen. Die Einbeziehung Europas ist zweitens aber auch deshalb geboten, weil unsere deutschen Lösungsmöglichkeiten in die europäische Entscheidungsfindung eingebracht werden müssen, und drittens, weil Europa eine Chance für freie Berufe werden wird, sofern keine anderen Regelungen getroffen werden als die, die wir national in mühevoller Kleinarbeit ausgehandelt haben. Es ist bereits gesagt worden, wie hoch der Anteil der Freiberufler an der Gesamtzahl der Selbständigen ist; ich möchte die Zahlen nicht wiederholen. Ich möchte nur einmal das Bundesverfassungsgericht zitieren, das zum freien Beruf folgendes gesagt hat - ich zitiere - : „Das Berufsbild des freiberuflich Tätigen ist im wesentlichen geprägt durch den unternehmerischen Zug, der auf Selbstverantwortung, individuelle Unabhängigkeit und eigenes wirtschaftliches Risiko gegründet ist. " - Das, so finde ich, umschreibt sehr gut den freien Beruf. Im Hinblick auf den künftigen europäischen Binnenmarkt muß man sich verdeutlichen, wie hoch das Potential der Betroffenen einschließlich der kleinen und mittleren Betriebe in Europa ist. Mehr als 95 To aller Unternehmen in Europa sind kleine und mittlere Betriebe. 60% aller Erwerbstätigen arbeiten in Unternehmen mit weniger als 500 Beschäftigten; mehr als zwei Drittel aller Auszubildenden werden in Europa in mittelständischen Unternehmen ausgebildet. Es gibt Schätzungen, daß über 50 To der Investitionen, über 50 To der Umsätze und über 40 % des Sozialprodukts in kleinen und mittleren Betrieben erwirtschaftet werden. Ich füge zusammen: Mittelstand und freie Berufe sind daher - das sollte diesen Teil der Volkswirtschaften Europas mit Stolz erfüllen - Europas Wirtschafts- und Sozialfaktor Nummer eins. Deshalb ist es Aufgabe der deutschen Politik, möglichst schnell freie Berufe sowie kleine und mittlere Unternehmen aus dem Stand heraus für das Europa 1993 fit zu machen. Dazu gehören insbesondere intensive Aufklärung der Betroffenen und Hilfe zur Selbsthilfe. Laut des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn ist in den neuen Bundesländern, bezogen auf die Quote in den alten Bundesländern, mit etwa 100 000 Freiberuflern zu rechnen. Neben dem nationalen Wettbewerb werden auch sie künftig dem europäischen Wettbewerb unterworfen sein, und zwar schneller, als das den Wessis lieb und den Ossis recht sein kann. Etwas zu der Chance der freien Berufe in den neuen Bundesländern - beispielhaft ist vorhin schon einmal das Vermessungs- und Katasterwesen genannt worden; ich möchte das jetzt nicht wiederholen - : Wir sind uns offenbar völlig einig darüber, daß es angesichts der Situation in den neuen Bundesländern zur Zeit nicht darum gehen kann, neue Bürokratien sehr schnell aufzubauen. Vielmehr müssen Kataster hergestellt werden, damit die Eigentumsverhältnisse geklärt sind und Investitionen entsprechend durchgeführt werden können. ({3}) Dies kann nur über die freien Berufe geschehen. Das gilt für andere Bereiche genauso. Ich denke an verstärkte städtebauliche Gestaltungsmöglichkeiten, wo Architekten, Landschaftsplaner, Städtebauer - fußend auf unseren Erkenntnissen der letzten Jahre, daß man statt der früheren autogerechten Stadt nunmehr wieder eine menschengerechte Stadt zu entwikkeln hat - bereits sehr schnell dazu beitragen können, daß sich die Fehler des westlichen Teils Deutschlands nicht im östlichen Teil wiederholen werden. ({4}) Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Forderung des Bundes Deutscher Baumeister, Architekten und Ingenieure, des BDB, des größten bauschaffenden Verbandes Deutschlands, von vor wenigen Tagen, wonach die künftige städtebauliche Entwicklung der Bundeshauptstadt Berlin einem internationalen städtebaulichen Gestaltungswettbewerb unterworfen werden sollte. Dies reduzierte zum ersten das Mißtrauen im Ausland und wäre Ausdruck einer Internationalität, die uns nur guttun kann. Internationale Kreativität und Innovation könnten zu einem echten deutschen Merkmal werden. Selbstverständlich müssen die deutschen Freiberufler - natürlich mit spezifischer beruflicher Ausbildung - dem europäischen Wettbewerb unterworfen sein, und dies nicht nur in Europa, sondern mittlerweile auf dem weltweiten Markt. Denn ich bin sicher, daß es im internationalen Wettbewerb in zunehmendem Maße zu einer erheblichen Verschärfung kommen wird. Dem gilt es, auch aus verbraucherpolitischen Gründen, erhebliche Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn z. B. für deutsche Architekten und Ingenieure keine Werbung zugelassen wird und durch Kammergesetze bundesweit ausdrücklich verboten ist, dann muß sichergestellt werden, daß ihnen in Europa keine Wettbewerbsnachteile entstehen. Die zwischen Bund und Ländern und den Betroffenen ausgehandelten Honorarordnungen dürfen keineswegs unterlaufen werden. Dies kann andererseits nicht bedeuten, daß kein Wettbewerb stattfindet. Dies darf nur kein finanzieller oder möglicherweise ruinöser Wettbewerb sein, sondern muß ein Wettbewerb der besseren Ideen sein. Ich fände es faszinierend, wenn ein Leipziger Architekt einen europaweit ausgeschriebenen Architektenwettbewerb in Lyon gewinnen könnte und andererseits beispielsweise ein Architekt aus Barcelona einen städtebaulichen Wettbewerb in Cottbus siegreich für sich entscheiden würde oder wenn ein Bauingenieur aus Hamburg Sieger eines europaweiten Wettbewerbs bei einem Brükkenbauwerk in Italien werden könnte. Wir Sozialdemokraten haben 1925 in Heidelberg die Vereinigten Staaten von Europa gefordert. In dieser Verpflichtung stehen wir auch noch heute, und wir sind stolz, daß wir diese Erkenntnisse bereits 1925 hatten. ({5}) Die Realisierung steht jetzt bevor. Der Herausforderung müssen sich auch unsere Freiberufler stellen. Und sie sollten sich, nein, wir alle sollten uns an das europäische kulturelle Erbe erinnern. Es waren immer freie Berufe, die zu seinen tragenden Säulen gehörten. Meine Damen und Herren, zweifellos ist es ein Problem, daß dem, wie es heißt, Aufnahmestaat geboten ist, auch für Inländer unterschiedslos geltende Vorschriften nur insoweit auf die EG-Anbieter anzuwenden, als dies aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist - ein sehr schwerwiegender Satz, der auch schwer zu verstehen ist. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, daß diese Festlegung nicht einseitig bleibt, d. h. daß nur wir Bundesdeutsche uns an diese Regelung halten, sondern daß sie in allen Teilen der Europäischen Gemeinschaft gleichermaßen gilt. Dies gilt auch für die geplante Haftungsrichtlinie für fehlerhafte Dienstleistungen. Davon war schon mehrfach die Rede. Wir haben bisher in der Bundesrepublik Deutschland eine im allgemeinen funktionierende Haftungsregelung, die nicht ausgedehnt werden dürfte. Aber auch vor dem Hintergrund des erwünschten und auszubauenden Verbraucherschutzes ist hier eine inhaltlich zu vertretende Neuregelung zu finden. ({6}) - Natürlich, bei allen Dingen soll man eine vernünftige Regelung finden, Herr Kollege Grünbeck. Was die Dienstleistungsrichtlinie angeht, so wissen wir - der Herr Staatssekretär hat es angesprochen -, daß das Europäische Parlament - das ist das Bedenkliche dabei - die Grenze bei der öffentlichen Vergabe heruntergesetzt hat. Wir sehen deshalb eine doppelte Aufgabe: Zunächst einmal müssen wir die Kommission überzeugen, dann müssen wir aber auch das Europäische Parlament wieder dazu bringen, eine andere Regelung - als Kompromiß meinetwegen wieder die alte Regelung - zu finden. Wir wissen, daß bei der Dienstleistungshaftung das Problem des Baubereichs und der Heilberufe besteht. Dort werden wir dann über Horizontal- und Vertikalhaftung reden. Ich bin nur sicher, daß die Richtlinien für den Baubereich und die Heilberufe von der ursprünglichen Mutterrichtlinie nicht allzuweit entfernt sein werden. Deshalb sollte man überlegen, ob man es nicht gänzlich ablehnen sollte. Das große Problem, das zunächst nur indirekt mit den Freiberuflern zu tun hat, ist die Frage der Ausbildungsstandards. Dies gilt sowohl im freiberuflichen als auch im handwerklichen Bereich, wo auch die gegenseitige Anerkennung der Ausbildung europaweit nicht zu vernachlässigen ist. Die anwendungsorientierten forschenden deutschen Fachhochschulen dürfen ebensowenig diskriminiert werden wie die Handwerksordnungen. Ich bin zwar keineswegs ein Anhänger des Ständewesens, eher im Gegenteil, aber ich finde es absurd, daß z. B. 1993 ein belgischer Friseurgeselle ohne jegliche Prüfung bei uns ein Friseurgeschäft aufmachen darf, nicht aber eine bei uns ausgebildete hochqualifizierte Friseurgehilfin. Das sind Widersprüchlichkeiten, die geklärt werden müssen. Europa darf nicht nur zu einem Wirtschaftsunternehmen werden, sondern es braucht die soziale Sicherheit. Dazu gehören die freien Berufe genauso wie die Arbeitnehmer. Ein interessanter Nebeneffekt des vorliegenden Berichtes sind die Aussagen über den Frauenanteil in den freien Berufen. Ihr Anteil, wurde gesagt, steigt gleichmäßig an, was wohl auch damit zusammenhängt, daß Gott sei Dank immer mehr Frauen eine hochqualifizierte Ausbildung anstreben und die Chancen eines freien Berufes wahrnehmen, weil eine eigenverantwortliche selbständige Tätigkeit mit flexibler Arbeitszeit, Teilzeittätigkeit oder Phasenerwerbstätigkeit von hohem Interesse ist. Trotzdem sind die Frauen etwa bei den rechts-, wirtschafts- und steuerberatenden sowie den technischen und naturwissenschaftlichen freien Berufen noch selten anzutreffen. Hier sehe ich in der Bundesrepublik Deutschland noch einen hohen Nachholbedarf. Eine Aufklärung durch die Verbände der freien Berufe über Chancen und Möglichkeiten in den genannten Bereichen, insbesondere für Frauen, scheint dringend geboten und darf dort an der mehrheitlichen Dominanz der Männer nicht scheitern. Meine Damen und Herren, die SPD war von Ferdinand Lassalle über Friedrich Ebert bis hin zu Hans-Jochen Vogel immer auch eine Partei der Selbständigen. Auf dem Bremer Parteitag hat unser Bundesvorsitzender Björn Engholm folgendes zu Recht gesagt - ich zitiere - : Also ist meine Bitte: Laßt uns den Versuch unternehmen, mit all jenen ins Gespräch zu kommen, die selbstbewußt und selbständig arbeiten, den Weg zur Partei aber noch nicht gefunden haben, die Sympathie für die Ziele der deutschen Sozialdemokratie haben, die uns nicht in allem folgen können oder folgen wollen, die aber bereit sind, ihre Kraft und ihre Phantasie einzelnen Projekten, die wir vorhaben, zur Verfügung zu stellen. Meine Damen und Herren, wir nehmen - abschließend - den Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis. Obwohl die Daten schon älter sind, sollten wir die Folgerungen gemeinsam erörtern und Auswege suchen. Die deutsche und europäische Wirklichkeit ist im wesentlichen den freien Berufen zu verdanken. Unsere Aufgabe ist es, dies zu reaktivieren, um ein neues, soziales und friedvolles Europa zu schaffen. Hans Georg Wagner Schönen Dank. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Hansgeorg Hauser, ich erteile Ihnen das Wort.

Hansgeorg Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Eine freiberufliche Tätigkeit ist einem Gesellschaftssystem, das die Vergesellschaftung des Menschen anstrebt, wesensfremd." Diese Formulierung steht in dem 1985 herausgegebenen DDR-Handbuch des damaligen Bundesministeriums für Innerdeutsche Beziehungen. Im Umkehrschluß können wir feststellen, daß die freie und unabhängige Berufsausübung ein wesentlicher Bestandteil eines freiheitlichen Rechtsstaates und einer freien Gesellschaftsordnung ist. Die Tätigkeit in freien Berufen ist für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft von herausragender Bedeutung und stellt einen immer stärker werdenden Wirtschaftsfaktor dar. Das eigenverantwortliche Handeln, das den freien Berufen zugrundeliegt, ist auch ein herausragendes Merkmal der freien und sozialen Marktwirtschaft. Die Bundesregierung hat mit ihrer vorgelegten Fortschreibung des Berichts über die Lage der freien Berufe mehr oder weniger eine Neufassung, Herr Kollege Pfuhl, des bereits zehn Jahre alten ursprünglichen Berichts erstellt, wofür auch ich meinen Dank an Sie, Herr Staatssekretär, und Ihre Mitarbeiter ausspreche. In diesem Bericht wird die Entwicklung der freien Berufe im vergangenen Jahrzehnt deutlich. Es ist angesprochen worden: der Anteil der freien Berufe an den Selbständigen ist von knapp 13 % auf über 16 % gestiegen mit anhaltender Tendenz. Die Einkommensentwicklung - da stimme ich Ihnen zu - hielt mit dem Zuwachs der Anzahl der Selbständigen nicht Schritt. Nach einem kontinuierlichen Anstieg bis 1980 blieben die durchschnittlichen Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit - das sind hier die steuerlich ermittelten sogenannten Katalogberufe - konstant bzw. gingen sogar leicht zurück. Problematisch ist dabei die sich stetig verschlechternde Kostenstruktur bei den meisten freien Berufen. Insbesondere der stark ansteigende Personalkostenanteil hat seinen Beitrag dazu geleistet. Auch der Zwang zur Modernisierung und die fortschreitende Technisierung bewirken einen immer weiter steigenden Kapitaleinsatz. Setzt man die immer stärker ansteigende zeitliche und persönliche Beanspruchung des Selbständigen in Relation dazu, dann ergibt sich daraus insgesamt kein positives Bild. Für viele der Selbständigen und Freiberufler, die allesamt im Mittelstand angesiedelt sind, gilt in unserer zunehmenden Freizeitgesellschaft - ebenso wie für viele Führungskräfte - der Spruch: Je weniger Arbeitszeit den Mitarbeitern vorgeschrieben wird, um so länger muß der Chef arbeiten. Auf die meisten der freiberuflich und selbständig Tätigen wirken gewerkschaftliche Forderungen, z. B. die nach der 35-Stunden-Woche, wie Hohn, weil sie für diese Gruppe persönlich niemals realisierbar sind. ({0}) Dieses kritische Gesamtbild wirkt sich natürlich auch auf die Attraktivität des Berufs für Auszubildende aus. Zwar können die freien Berufe zur Zeit mit Stolz feststellen, daß sie ihren Platz als drittgrößter Ausbildungsbereich in der Bundesrepublik - nach Industrie und Handel sowie Handwerk - gefestigt haben. So heißt es im Bericht, derzeit erhalten „mindestens rund 150 000 Auszubildende in anerkannten Ausbildungsberufen" eine Berufsausbildung. Das „sind rund 9 % aller registrierten Auszubildenden...". Der Bundesverband der Freien Berufe hat aber bereits in seinem Jahresbericht 1989 geschrieben, daß - ich zitiere ... die Ausbildungszahlen nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß sich in einigen freiberuflichen Bereichen - zumindest regional und in Ballungsräumen - ein deutlicher Arbeitskräftemangel abzuzeichnen beginnt. Diese Situation ist auch durch eine nicht zu übersehende Abwanderungstendenz von ausgebildeten Arbeitskräften in andere Wirtschaftsbereiche bedingt, die somit von der Ausbildungsleistung der freien Berufe profitieren. In der Schrift der Bundessteuerberaterkammer „Der Steuerberater auf dem Weg ins 21. Jahrhundert" heißt es: Die Attraktivität der Arbeitsbedingungen und auch die Karriereaussichten der Schulabgänger werden immer mehr zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor. Je ausgeprägter der Dienstleistungscharakter ist, um so schwieriger ist es, die Arbeitsbedingungen attraktiv zu gestalten. Auf diese Erkenntnis werden die freien Berufe in Zukunft immer stärker achten müssen. Einen wachsenden Anteil - darüber sind wir uns einig - in den freien Berufen stellen die Frauen dar. Im Bericht heißt es dazu: „Die Entwicklung zeigt eine steigende Attraktivität der freien Berufe für Frauen." Auch das Ausbildungsplatzangebot bei den freien Berufen wird vor allem von den weiblichen Jugendlichen genutzt. 18 % aller weiblichen Auszubildenden hatten ihren Ausbildungsplatz im Bereich der freien Berufe. Im Anhang zum vorgelegten Bericht befindet sich ein Kurzgutachten zur Situation der freien Berufe in der DDR, das im September 1990 abgeschlossen wurde. Das kann natürlich nur eine in die Vergangenheit gerichtete Betrachtung sein, da die Bedeutung und die Lage der freien Berufe in der ehemaligen DDR für uns aus heutiger Sicht nicht mehr interessant sind. Ich hätte mir für die heutige Debatte einen Bericht der Bundesregierung gewünscht, in dem bereits die Entwicklung der freien Berufe in den neuen Bundesländern dargestellt wird. Einige Passagen des Kurzgutachtens sind absolut überholt, so beispielsweise die auf etwas mehr als einer Seite beschriebenen sich abzeichnenden Entwicklungstendenzen bei den freien Berufen im Rahmen des gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Wandlungsprozesses in der DDR.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfuhl?

Hansgeorg Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hauser, sind nicht auch Sie mit mir einer Meinung, daß die Sicherung des gewerblichen Mieterschutzes der auch für die freien Berufe gilt, gerade im Hinblick auf die neuen Berufsentwicklungen in den neuen Ländern von Bedeutung ist und daß die Kostenexplosion, gerade in den Städten der neuen Länder, die Ansiedlung von neuen Berufen sehr schwer macht?

Hansgeorg Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000832, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Pfuhl, ich stimme Ihnen in diesem Punkt sicherlich zu. Wir müssen hier eine wirklich detaillierte Untersuchung durchführen. Deswegen wäre es wünschenswert gewesen, wenn in diesem Bericht, in dem Kurzgutachten bereits eine weiterführende Stellungnahme erfolgt wäre. ({0}) Aus der geschilderten Situation der geringen Zahl der Freiberufler in der früheren DDR ergibt sich für viele ein außerordentlich positives Zukunftsbild. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hält in den neuen Bundesländern eine Selbständigenquote von 6.5 %, im Vergleich dazu 9 % in der alten Bundesrepublik, in Bälde für erreichbar. Inzwischen dürfte sich die Zahl der selbständigen Freiberufler - wir haben das gehört - auf etwa 50 000 zubewegen. Darunter sind 12 000 Ärzte - 15 000 könnten wir brauchen, um in den neuen Bundesländern eine kassenärztliche Versorgung nach westdeutschen Maßstäben zu gewährleisten - 6 000 Zahnärzte, 2 000 Rechtsanwälte - 14 000 könnten es nach unseren westlichen Maßstäben sein - , 2 500 wenigstens vorläufig bestellte Angehörige der steuerberatenden Berufe - hier könnte man 10 000 gebrauchen - , 300 Architekten, 3 000 beratende Ingenieure und zahlreiche Unternehmens- und Wirtschaftsberater, allerdings von zum Teil recht unterschiedlicher Qualität. Aus gegebenem Anlaß möchte ich hier einen Appell an die Bundesregierung richten, daß man im Bereich der Unternehmensberater nicht unbedingt den Marktführer noch mehr fördert und ihn unterstützt. ({1}) Die Bundesregierung fördert das Selbständigwerden und die Existenzgründungen mit zahlreichen Programmen und gibt Investitionszulagen in beträchtlicher Höhe. Auch die im Steueränderungsgesetz 1991 beschlossenen steuerlichen Maßnahmen tragen ihren Teil dazu bei. Die Chance zum Sich-selbständig-Machen ist in den neuen Bundesländern außerordentlich hoch, so daß es nicht verwunderlich ist, daß auch aus den alten Bundesländern, aus Bereichen, in denen eine Akademikerschwemme herrscht, die Devise „Go East" kursiert. Je schneller ein gesunder Mittelstand, ein ausreichender Bestand an freiberuflich Tätigen und an attraktiven Dienstleistungsbetrieb en entsteht, um so schneller wird der Umstrukturierungsprozeß von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft gelingen. Im vorgelegten Bericht der Bundesregierung finden sich einige herausragende Grundsätze einer Politik für freie Berufe. So bekräftigt die Bundesregierung ihren Grundsatz aus dem ersten Bericht, daß - ich zitiere - „der durch die Kräfte des Marktes gesteuerte Austausch von Gütern und Dienstleistungen grundsätzlich am besten zur Befriedigung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geeignet ist. Staatliche Eingriffe mit dem Ziel einer Einschränkung oder Beseitigung der wettbewerblichen Steuerung müssen deshalb Ausnahmen bleiben und bedürfen in jedem Fall einer besonderen Rechtfertigung". Die Bundesregierung ermuntert die Bestrebungen der freien Berufe, „sich durch mehr unternehmerischen Handlungsspielraum für den Wettbewerb der Zukunft zu rüsten". Folgerichtig spricht sich die Bundesregierung für eine verstärkte Privatisierungspolitik aus. Seit 1979 wurden in einer Reihe von Gesetzes- und Verordnungsvorhaben Privatisierungsvorschläge in die Tat umgesetzt. Den Kernsatz der künftigen Privatisierungspolitik sollte man in jede Amtsstube hängen. ({2}) - Auch bei der bayerischen Staatsregierung, da gebe ich Ihnen vollkommen recht. Ich kann das nur wiederholen. Dieser Kernsatz lautet: „Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sich der Staat zurückhalten muß, wenn er eigene wirtschaftliche Leistungen erbringen will. Staatliches Handeln darf grundsätzlich nur subsidiär sein. Die öffentliche Hand soll im Dienstleistungsbereich von der widerlegbaren Vermutung ausgehen, daß Dienstleistungen von Selbständigen, Gewerbetreibenden und freien Berufen effizienter erbracht werden oder schon aus ordnungspolitischen Gründen von ihnen erbracht werden sollten." Daß dies eine Daueraufgabe sei, kann nur doppelt unterstrichen werden. ({3}) Erfreulich ist auch die Feststellung, daß mit der zum 1. Januar 1988 wirksam gewordenen Bundesnebentätigkeitsverordnung eine wesentliche Einschränkung der Nebentätigkeiten von Angehörigen des öffentlichen Dienstes in den Tätigkeitsbereichen der freien Berufe erreicht wurde. In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, daß die AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen dürfen. ({4}) Ein ganz besonderes Problem stellt das Gebiet des Haftungsrechtes für die freien Berufe dar. Erfreulicherweise ist die von der EG-Kommission vorgelegte Dienstleistungshaftungsrichtlinie - Sie haben darauf hingewiesen, Herr Staatssekretär - im Augenblick etwas abgeschwächt worden. Die Einführung des Grundsatzes der Beweislastumkehr würde bei dem Freiberufler eine außerordentliche Steigerung der Versicherungsaufwendungen zur Folge haben, sofern eine solche Haftung überhaupt versicherbar wäre. ({5}) - Kein Kommentar, Herr Kollege. Hansgeorg Hauser ({6}) Auch die vorgesehenen Gewährleistungsfristen sind nicht akzeptabel. Im Bereich des Steuerrechts sind positive und negative Anmerkungen für den Zeitraum der Fortschreibung des Berichtes zu machen. Positiv herauszuheben sind insbesondere die Auswirkungen der Steuerreform 1990. Kernstück sind dabei die Einführung des gradlinig progressiven Einkommensteuertarifes - Stichwort: Abschaffung des „Mittelstandsbauches" -, Erhöhung des Grundfreibetrages, Senkung des Eingangssatzes usw. Daß die dadurch gewonnenen deutlichen Steuerentlastungen für die private Vorsorge für Krankheit und Alter verwendet werden können, wie es in dem Bericht heißt, ist, so meine ich, der etwas schamhafte Versuch einer Rechtfertigung der immer noch zu niedrigen steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen. ({7}) Der Sonderausgabenvorwegabzug ist zwar zuletzt durch das Steuerreformgesetz 1990 angehoben worden, doch sind damit die Nachteile noch nicht ausgeglichen. Wir meinen, daß hier schon demnächst eine Verbesserung erreicht werden sollte. Die Freiheit hat auf die Menschen zu allen Zeiten und in allen Situationen eine besondere Faszination ausgeübt. Unabhängigkeit und Eigenverantwortlichkeit sind immer wieder Motive für das Selbständigwerden. So kann erfreulicherweise festgestellt werden, daß das Durchschnittsalter der Angehörigen der freien Berufe sinkt. Im Bericht der Bundesregierung heißt es: Die bereits 1979 beobachtete Verjüngung in den Freien Berufen hat sich in den 80er Jahren fortgesetzt ... Jünger als 50 Jahre waren zweidrittel bis dreiviertel der Berufsangehörigen der Ärzte, Rechtsanwälte und Steuerberater.

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Selbständigkeit ist zu einem Schlüsselbegriff für die Zukunft geworden. Und er meinte: Was vor hundert Jahren als Kampf für die Gewerbefreiheit begonnen hat, ist heute das engagierte Eintreten für die soziale Marktwirtschaft, auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Die freien Berufe werden dazu ihren Beitrag leisten. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat die Abgeordnete Angela Stachowa.

Angela Stachowa (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002211, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der uns vorliegende Bericht der Bundesregierung über die Lage der freien Berufe in der Bundesrepublik Deutschland ist, was das statistische Material und zum Teil auch die Ausführungen betrifft, leider ziemlich überholt. Statistiken von 1986 - maximal 1988 - , ein Kurzgutachten des Instituts für Mittelstandsforschung „Die freien Berufe in der DDR" aus der Zeit vor der Vereinigung - diese Materialien sind, ungeachtet ihrer Seriosität, zum heutigen Zeitpunkt nur sehr wenig brauchbar. Ich bin der Auffassung, der Deutsche Bundestag sollte die Bundesregierung auffordern, diesen Bericht in möglichst kurzer Zeit zu aktualisieren und vor allem der Lage der freien Berufe in den neuen Bundesländern die notwendige Aufmerksamkeit widmen. Mit der Vereinigung ist eine neue Situation entstanden, die vielleicht von der Statistik her noch nicht erfaßbar war, im täglichen Leben der Betroffenen aber eine oft schicksalsschwere Rolle spielt. Die freien Berufe waren auch in der ehemaligen DDR nicht gänzlich verschwunden, obgleich sie dort aus einem anderen Blickwinkel gesehen und auch anders behandelt wurden. Auch ein Jahr nach der Vereinigung dürften im Bewußtsein der Menschen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber vorherrschen, was denn eigentlich Freiberufler sind. Während in der alten BRD darunter der Stand der Ärzte, Zahnärzte, Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer usw. gemeint ist, so verstand und versteht man darunter bei uns unverändert die Schriftsteller, Musiker, Komponisten, darstellende und bildende Künstler, überhaupt die Künstler. Vielleicht war es für manchen beim Lesen der Drucksache verwunderlich, zu erfahren, daß die so marode DDR nicht wenig für diese Freiberufler getan hat, ja, daß ein soziales Netz vorhanden war, das sicherlich nicht perfekt und nach heutigen Kriterien nicht immer effektiv war, aber dennoch vielen die Räume bot, um schöpferisch wirken zu können. Wir sind der Überzeugung, daß eine erfolgreiche Entwicklung dieses geeinten Landes auch der Entwicklung der freien Berufe bedarf. Zu ihnen gehören unbedingt die künstlerischen Berufe, die in der Aufzählung meist zuletzt genannt und, wie mir scheint, auch zuletzt behandelt werden. Auf jeden Fall trifft dies auf eine Vielzahl der freiberuflichen Kultur- und Kunstschaffenden der ehemaligen DDR zu. Ich möchte mich deshalb im weiteren vor allem mit deren Lage beschäftigen. Meiner Meinung nach berührt diese Problematik die kulturelle Dimension der deutschen Einheit. Der Art. 35 Abs. 2 des Einigungsvertrages legt fest: „Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten Gebiet darf keinen Schaden nehmen. " Schon allein diese Festlegung hat die Bewährung in der Praxis nicht bestanden. Vieles Erhaltenswerte der Kultur in der ehemaligen DDR ist bereits den Bach der Vereinigung hinuntergeflossen und unwiderruflich verloren. Wenn man die heute deklarierte Freiheit der künstlerischen Berufe so auffaßt, daß sie frei von Aufträgen ist, dann ist das keine Freiheit mehr. Wenn Kultur und Kunst in schweren Zeiten hintenangestellt werden, dann droht ein Land geistig zu verarmen. Gerade unter den Künstlern, den Schriftstellern, den bildenden Künstlern und anderen gab es auch in der Vergangenheit Querdenker und Vordenker, die unser Leben hätten bereichern können und die es zum Teil auch taten. Ein Kollege von mir sprach es unlängst deutlich aus, als er darauf verwies, daß es Schriftsteller gab, „die vorwegschreiben, als andere, die dies lasen, noch nicht wußten, was sie da lasen" . Wo sind diese alle geblieben? Was hört man heute noch von den Künstlern der ehemaligen DDR? Mit wenigen Ausnahmen nichts. Viele Künstler kämpfen um ihre Existenz. Sie wissen keinen Weg zur weiteren Berufsausbildung. Ihnen fehlen Aufträge, da die Kommunen zum großen Teil kein Geld haben. Mäzene sind selten. Auch die gesetzlichen Festlegungen zu baugebundener Kunst lösen bisher kaum Aufträge im Wohnungs- und Gesellschaftsbau aus. Wo gebaut wird, dort sind es meist westdeutsche Firmen, die ihre eigenen Künstler mitbringen. Die Probleme, die aus einer sehr rigorosen Mietpolitik für Ateliers entstanden, möchte ich durch folgende Fakten verdeutlichen. Auch von Wohnungsbaugenossenschaften werden in Berlin und in anderen Städten Ateliermieten verlangt, die bei 20 DM und mehr pro Quadratmeter liegen. Steigerungen zwischen 500 und 2 000 % machen die Runde - und das, obwohl einige Großstädte beschlossen haben, daß Ateliermieten nur im Verhältnis zu den allgemeinen Mietsteigerungen wachsen dürfen. Diese Summen für Mieten sind in der gegenwärtigen Situation kaum noch von jemandem aufzubringen. Gleichzeitig registriert der Berufsverband Bildender Künstler zwei bis vier Atelierkündigungen pro Woche allein in Berlin. Ein weiteres Beispiel: Wenn sich Schriftsteller und andere Künstler bis Jahresende entscheiden müssen, ob sie ihre freiberufliche Tätigkeit beibehalten wollen oder ob sie diese aufgeben wollen und dafür in die Arbeitslosigkeit entlassen werden, dann ist das schon eine etwas seltsam anmutende Freiheit. Hinzu kommt, daß durch den schleppenden Aufbau der Verwaltung im Osten Deutschlands der von der Bundesregierung initiierte Katalog von Maßnahmen zur Kulturförderung nur ungenügend greift. Beispielsweise sind viele betroffene freiberufliche Künstler gar nicht darüber informiert, daß es finanzielle Mittel gibt, die ihnen eine minimale soziale Existenz sichern könnten. Bücher schreiben ist eine gute Sache, Bücher verlegen auch, aber Bücher verlegen lassen, das ist heute ein riesiges Problem für viele Schriftsteller in den fünf neuen Bundesländern. Bücher bleiben bloße Makulatur, wenn sie nicht in die Hände der Leser gelangen. Aber viele Verlage sind nicht mehr voll funktionsfähig. Rund 60 der einstigen 78 partei-, staats- und volkseigenen Verlage unterstehen der Treuhand. Erst ein Drittel davon wurde verkauft, zum Teil an renommierte Verlagshäuser, was prinzipiell erfreulich ist. Aber rund 60 % der ehemaligen Mitarbeiter der Verlage, die nichts anderes gelernt haben, als Bücher zu schreiben oder Bücher zu machen, sitzen heute auf der Straße und vergrößern das Heer der freien Schriftsteller. Meine Damen und Herren, wir halten es für unbedingt erforderlich, gerade die freien Berufe zu fördern. Ihre Ausgangsbasis besonders in den neuen fünf Bundesländern ist äußerst kompliziert. Sie brauchen die Gesellschaft, und die Gesellschaft braucht sie. Wir sind für eine geregelte soziale Sicherung, besonders auch für eine gerechte Altersversorgung der Künstler. Wir sind für die Unterstützung der Freiberufler der neuen Bundesländer durch Förderprogramme und dafür, daß diese in die Arbeit gesellschaftlicher Gremien ihrer Bedeutung entsprechend einbezogen werden. Ich danke. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell ist Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/21 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf: a) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu Energie und Umwelt - Drucksache 12/944 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung EG-Ausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu Energie und Umwelt - Drucksache 12/945 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung EG-Ausschuß c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem Dritten Bericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" Schutz der Erde - Drucksachen 11/533, 11/787, 11/971, 11/1351, 11/3479, 11/8030, 12/210 Nr. 193, 12/1136 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus W. Lippold ({3}) Michael Müller ({4}) Zum Bericht der Enquete-Kommission liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor. Vizepräsident Hans Klein Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Klaus Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Enquete-Kommission hat mit ihrem Bericht deutlich gemacht, daß die Gefahren, die von Treibhauseffekt und Klimakatastrophe drohen, sofortiges Handeln erforderlich machen. Ich möchte mich vor dem Hintergrund der internationalen Verhandlungen, die hierzu laufen und globales Handeln beschleunigen sollen, nicht rückwärtsorientiert mit dem auseinandersetzen, was wir im Bericht selbst in allen Details hinreichend begründet vorgelegt haben, sondern deutlich machen, wohin die internationale Entwicklung und wohin insbesondere auch die internationale Umweltkonferenz in Rio 1992 gehen muß, damit wir in dieser Frage zu Lösungen kommen, damit wir zur weltweiten Problemlösung beitragen. Ich glaube, daß wir hier ganz deutlich machen müssen, daß die Bundesrepublik mit einem Anteil von 5,3 % der globalen treibhausrelevanten anthropogenen Spurengase im Vergleich zu anderen Staaten mit an der Spitze liegt und sich deshalb die Diskussion der deutschen Klimapolitik diesem Tatbestand stellen muß. Dabei ist einerseits klar, daß einseitige Anstrengungen der Bundesrepublik alleine zu keiner wesentlichen Änderung der Bedrohung durch Klimawechsel führen können. Andererseits ist zu fordern, daß die Bundesrepublik im Rahmen ihrer politischen und finanziellen Möglichkeiten alle denkbaren Anstrengungen unternimmt, um die internationale Klimapolitik im Sinne des Vorsorgeprinzips am klaren Ziel der ökologischen Verträglichkeit auszurichten. Die Forderung nach zusätzlicher Erforschung der Ursachen des Klimawechsels und seiner möglichen verheerenden Folgen darf die Notwendigkeit sofortigen Handelns - ich unterstreiche das - nicht in Frage stellen. Auf internationaler wie auf nationaler Ebene sind Mechanismen und Normen zu entwickeln, die die Kosten der Klimapolitik so gering wie möglich halten. Die wirtschaftlichen Konsequenzen des jetzigen Handelns müssen dabei allerdings auch im Lichte der möglicherweise später entstehenden Kosten des Nichthandelns gewertet werden. Die seit Februar des Jahres laufenden internationalen Verhandlungen über eine künftige Klimakonvention sind von der Bundesrepublik in vollem Umfang zu unterstützen. Leitlinie der deutschen Verhandlungsposition müssen die Forderungen sein, die von der Enquete-Kommission entwickelt worden sind, und zwar auf der Basis umfassender wirtschaftlicher Arbeit. Das heißt Stabilisierung der globalen Emissionen bis zum Jahre 2000 und Reduktion um 5 % global bis zum Jahre 2005. Das impliziert, daß wir innerhalb der Bundesrepublik selbst eine 25- bis 30 %ige Reduktion ins Auge fassen und daß wir diese Reduktionsnorm auch für die führenden Industriestaaten verbindlich machen wollen. Der Fortgang der internationalen Verhandlungen gibt Anlaß zu ernsthafter Sorge. Beim derzeitigen Stand der Vorbereitungen muß befürchtet werden, daß das Ziel der Verabschiedung eines effizienten Vertragswerks zum Schutz des Klimas im Jahre 1992 nicht erreicht wird. Anliegen der deutschen Klimapolitik muß es bleiben, auf eine Konvention hinzuwirken, die in glaubhafter Weise den politischen Willen zum raschen Handeln dokumentiert und verbindliche Verpflichtungen - ich sage das ganz deutlich: verbindliche Verpflichtungen - vorsieht. Abzulehnen sind Kompromisse, welche mit dieser Zielsetzung nicht vereinbart werden können. Damit Rio 1992 ein Erfolg wird, glaube ich, daß die folgenden sechs Punkte auf jeden Fall berücksichtigt sein müssen. Erstens. Unverzichtbar sind verbindliche, allseits verläßliche, zielbezogene Vereinbarungen für die internationale Klimapolitik der Zukunft. Diese Vereinbarungen sind auch zeitlich auf die Stabilisierung bis zum Jahre 2000 auf der Grundlage von 1987 und die Reduktion um 5 % bis zum Jahre 2005 zu beziehen. Zweitens. Die Aufteilung der damit geforderten enormen Anstrengungen auf die einzelnen Staaten muß international dem Prinzip der allseitigen, aber differenzierten Verantwortung für die bisherigen und künftigen Emissionen entsprechen. Drittens. Die Industrieländer sind derzeit für 80 der bestehenden Emissionen verantwortlich. Eine langfristig angelegte Klimapolitik verspricht aber nur Erfolg, wenn auch die Entwicklungsländer in die internationalen Strategien eingebunden werden. Da viele Entwicklungsländer durch den drohenden Klimawechsel in besonderer Weise bedroht sind, entspricht eine solche Politik auch den vitalen nationalen Interessen dieser Länder. Viertens. Die künftigen Vereinbarungen müssen den Weg dafür weisen, daß die Entwicklungsländer ebenso wie die Staaten im Osten Europas imstande sein werden, klimagerechte Technologien einzusetzen und zu entwickeln. Über die notwendigen Hilfeleistungen ist sowohl im technologischen Bereich als auch im Hinblick auf sonst notwendige Änderungen im Einzelfall auf der Grundlage sorgfältiger Studien gemeinsam zwischen Geber- und Nehmerländern zu entscheiden. Das Prinzip der Kosteneffizienz muß dabei streng beachtet werden. Fünftens. Die Vereinbarungen müssen so ausgestaltet werden, daß die Einhaltung der Verpflichtungen international hinreichend genau überwacht werden kann. Dabei sind auch wirksame Verfahren zur Streitbeilegung vorzusehen. Sechstens. Es ist daran festzuhalten, daß auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio nicht nur eine Dachkonvention zum Schutz des Klimas, sondern auch verbindliche Protokolle für die Reduktion der CO2-Emissionen und für den klimapolitisch notwendigen Schutz der Wälder, insbesondere der Tropenwälder, vereinbart werden. Sollte dies aus zeitlichen Gründen nicht mehr gelingen, so ist es unverzichtbar, daß die Dachkonvention sachlich und zeitlich klare Leitlinien für die weiteren Verhandlungen zur Ausarbeitung der Protokolle enthält. Dieser Dr. Klaus W. Lippold ({0}) letzte Satz gibt nur eine Ausweichmöglichkeit an, die ich nicht einmal als Second-best-Strategie verstanden wissen möchte; denn es hat keinen Zweck, bereits im Vorfeld zu resignieren. Ich glaube, daß die Verhandlungen zum Montreal-Protokoll deutlich gemacht haben - und ich spiele hier insbesondere auf die zurückhaltende Haltung der USA, um nicht besser zu sagen, die widerstrebende Haltung der USA an -, daß auch bei den damaligen Verhandlungen die USA erst in letzter Minute auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind. Das heißt, die Zurückhaltung der USA im derzeitigen Moment muß für uns kein Anlaß sein, bereits jetzt auf Kompromisse einzuschwenken, sondern wir müssen weiterhin unsere konkrete Linie beibehalten. Wie Tolba jetzt in den letzten Tagen hier in der Bundesrepublik mehrfach deutlich gesagt hat, ist dabei konkretes Handeln erforderlich. Das heißt, wenn wir Einfluß nehmen wollen, dürfen wir dies nicht nur auf dem Verhandlungswege tun, sondern wir müssen über eine klare Politik der Reduktion von Emissionen durch klares Handeln hier in der Bundesrepublik zeigen, daß wir diesen Weg auch beschreiten und daß wir von anderen nicht etwas erwarten, was wir nicht selbst zu tun bereit sind. Ich glaube, nur auf diesem Weg können wir die internationale Bereitschaft herbeiführen. Die gemeinsame Verhandlungsposition der EG ist im Rahmen der internationalen Verhandlungen zu stärken. Innerhalb dieser Position muß die Bundesregierung den gegebenen Verhandlungsspielraum allerdings im gleichen Umfang wie die Partner der EG nutzen, um ihre eigenständigen Zielsetzungen über die gemeinsamen Ziele der EG hinaus deutlich zu machen. Ich sage dies ganz ausdrücklich deshalb, weil ich glaube, daß es nicht gut wäre, wenn die Engländer ihre retardierende Position - parallel zur EG-Position - immer wieder in die Verhandlungen einbringen, wir aber nur die EG-Position vertreten und dabei unsere wesentlich weiterführenden Vorstellungen nicht in genügendem Umfang verdeutlichen. Ich glaube, daß wir Ansatzpunkte haben, um weiterzukommen. Die Europäische Kommission denkt - anders als früher - darüber nach, entsprechende Beiträge zur Klimapolitik zu leisten. Dies ist dadurch deutlich geworden, daß man jetzt ernsthaft darüber nachdenkt, wie man über marktwirtschaftliche Anreize, sprich über eine Kohlendioxidabgabe oder über eine Steuer, zur Reduktion der CO2-Emissionen beitragen kann. Die Kommission hat jetzt die Eckpunkte eines Richtlinienvorschlags vorgelegt, mit dem sie die CO2-Belastung erstens über einen Anteil energetischer Belastung grundsätzlich, zweitens über einen besonderen Anteil der CO2-Emissionen speziell erfassen will. Das würde bedeuten, daß wir bei der vorgesehenen Belastung von bis zu maximal 10 Dollar pro Barrel 01 - um das einmal auf eine Verrechnungseinheit zu bringen - davon ausgehen könnten, daß sich eine zusätzliche Belastung von 40 DM pro Tonne CO2- Emissionen bis zum Jahr 2000 ergeben würde. Unser Ziel muß sein, auf diese Vorstellungen - wie sie bei der EG entwickelt werden - im Sinne unseres nationalen Konzepts Einfluß zu nehmen und deutlich zu machen, daß die Ansatzpunkte so, wie sie hier entwickelt werden, auch bei der Ausgestaltung der Vorstellungen der EG-Kommission von ganz entscheidender Bedeutung sein und dort mit eingebracht werden müssen. Ich glaube, dabei ist es wichtig, insbesondere darauf hinzuarbeiten, daß das, was durch diese Kombination von Steuer und Abgabe an Aufkommen erzielt wird, aufkommensneutral verwendet wird. Das heißt, daß das, was über CO2-Abgabe und die Steuer an Belastungen auf Unternehmen, Verbraucher und Bürger zukommt, auch im Sinne einer gruppennützigen Verwendung wieder an sie zurückfließt, in Form von Anreizen, in Form von Förderung für die Maßnahmen, die zur CO2-Reduktion, zur CO2-Vermeidung ganz nachhaltig beitragen. Durch diese Doppelstrategie - zusätzliche Belastung auf der einen Seite und eine umfassende Förderung mit all den Mitteln, die durch die Belastung eingehen, auf der anderen Seite für die, die vermeiden und reduzieren - können wir die nötigen Anreize schaffen. Die CO2-Abgabe, wie sie von der Bundesregierung diskutiert wird, geht in diese Richtung. Ich hoffe, daß die Bundesregierung sehr bald deutlich machen wird, wie die Eckpunkte dieser CO2-Abgabe aussehen werden, damit wir die EG-Diskussion über eine Festlegung im nationalen Bereich nachhaltig beeinflussen können. Wir werden uns darüber hinaus - unabhängig von diesem Bereich der internationalen Maßnahmen und der internationalen Verhandlungen - im Rahmen der Enquete-Kommission nachhaltig mit der Problematik der Minderung der Emissionen im Energiebereich auseinandersetzen müssen. Dies gilt insbesondere für Einsparungsmaßnahmen innerhalb des Bereichs der Bundesrepublik selbst und hier insbesondere innerhalb des Bereichs der fünf neuen Bundesländer. Ich hoffe, daß wir alles tun, damit wir die Chance, die sich bei der Neugestaltung des Energiekomplexes in den fünf neuen Bundesländern ergibt, auch voll genutzt wird, ({1}) um alle Reduktionsmöglichkeiten auszuschöpfen. Ich sehe durchaus Ansatzpunkte dafür, daß hier noch stärker und schneller gehandelt wird. Darüber müssen wir möglichst bald nicht nur diskutieren, sondern auch eine rasche Umsetzung der Maßnahmen anstreben. Ich bleibe dabei: Wir werden international nur erfolgreich sein, wenn wir deutlich machen, daß wir selbst handeln. Hier ist ein ganz entscheidendes Feld für eigene Handlungen. Wir werden auch zusätzlich überlegen müssen, welche Auswirkungen die Veränderungen in der Sowjetunion auf die Klimapolitik haben. Wir sind bislang davon ausgegangen, daß die Ostblockstaaten insgesamt zur Gruppe der Industriestaaten gerechnet werden können, bei denen wir erwarten könnten, daß sie selber CO2-vermeidende Maßnahmen ergreifen, also selber auf Reduktion hinarbeiten. Dr. Klaus W. Lippold ({2}) Der katastrophale Zustand, der sich ja auch im Zerfall der Sowjetunion dokumentiert, macht deutlich, daß sich diese Erwartungen so nicht umsetzen werden und daß wir zusätzliche Reibungsverluste aus diesen inneren Prozessen erwarten müssen, die eine vernünftige Klimapolitik von diesen Staaten zumindest während des Übergangszeitraumes in keiner Weise erwarten lassen. Ich glaube, daß dies Anlaß dafür ist, noch einmal zu überlegen, welchen Einfluß dies auf unsere Politik selbst und auf Vermeidungsstrategien hat, wie wir Kompensationsmöglichkeiten im Abgabenbereich gestalten und wie wir darauf hinwirken können, daß hier, wo große Potentiale zur CO2-Minderung und zur Vermeidung gegeben sind, diese Potentiale zur Verminderung und Vermeidung, die wir zum Teil wesentlich kosteneffizienter nutzen könnten, als das bei uns der Fall ist, genutzt werden. Wir werden uns im Rahmen der Enquete-Kommission, also insbesondere auch im nationalen Bereich, damit auseinandersetzen müssen - wir haben gerade damit begonnen - , intensiv vorzubereiten, wie wir im Verkehrsbereich zu einer Minderung der CO2-Emissionen kommen können, und dies an Hand konkreter Vorstellungen und nicht an Hand abstrakter Programmaussagen, wie z. B. Verlagerung von Verkehr auf die Schiene. Wir müssen deutlich machen, wie dies denn gestaltet werden soll, wie dies möglich ist und wo Ansatzpunkte dafür sind. ({3}) - Ich richte das an alle Parteien, die diesen Programmsatz haben. Aber wenn ich konkret diskutiere, welchen Spielraum wir bei der Bundesbahn denn überhaupt hab en, um Kapazität hereinzunehmen, wird doch deutlich, daß hier Differenzen bestehen. Aber ich sage natürlich auch, Herr Feige: Ich erwarte von allen Initiativlern, daß, wenn neue Bundesbahntrassen ausgewiesen werden, Bürgerinitiativgruppen die Ausweisung dieser notwendigen neuen Trassen nicht behindern und verhindern und mithin eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene unmöglich machen. Wir müssen hier dann natürlich, Herr Kollege Feige, Butter bei die Fische tun und sagen: Wenn wir Schienenverkehr für notwendig halten, müssen wir auch Trassen bauen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich bitte um die Gelegenheit, zum Schluß nur noch sagen zu können, daß wir besser weiterkommen, wenn wir im Sinne der bisherigen Arbeiten der Enquete-Kommission gemeinschaftliche Handlungsstrategien über alle Bereiche dieses Hauses hinweg entwickeln, damit wir sie mit um so größerem Nachdruck durchsetzen können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Entschuldigung, aber Redezeitüberschreitung ist Redezeitüberschreitung, auch wenn sie mit dem Satz „Ich bitte, Herr Präsident, zum Schluß sagen zu können" eingeleitet wird. Als nächster hat der Abgeordnete Michael Müller das Wort.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich teile die Einschätzung von Kollegen Lippold, daß wir nicht mehr über die wissenschaftlichen Erkenntnisse über mögliche zukünftige Klimaveränderungen streiten müssen. Die Fakten haben sich auf der Basis der wissenschaftlichen Untersuchungen und Modelle derartig verdichtet. Die Plausibilität der Gefahren ist sehr groß, daß eine derartige Diskussion meines Erachtens eine Ablenkung von dem wäre, was wir tun müßten. Insofern sollte sich der Bundestag daran nicht mehr beteiligen. Dies wäre nach der Diskussion der letzten drei Jahre eine Scheindiskussion und politisch nicht angebracht. Die Diskussionen der nächsten Zeit sollten sich vielmehr auf die entscheidenden Ursachen der Klimaverschiebungen und wirklich wirksame Gegenstrategien konzentrieren. Ich stelle die zentrale These auf, daß die Debatte über die Klimaverschiebungen im Kern eine Debatte über die Zukunftsverträglichkeit der Industriegesellschaften ist. Anders gesprochen heißt das: Die Verschiebung der Klimazonen und die Zukunftsgefahren sind nicht naturgesetzlich, sondern sie sind das Resultat dessen, daß wir die Naturgesetze mißachten. Weil die Organisation von Wirtschaft und Leben so ist, wie sie ist, reagiert die Natur mit ihren Gesetzen unbarmherzig darauf - zu Lasten zukünftiger Generationen, was die Gefahr der ökologischen Selbstzerstörung einschließt. Das ist der Kern, über den wir diskutieren müssen: Wie sieht eine Gesellschaft aus, die in einem Gleichklang mit der Natur steht? Wie kriegen wir es hin, daß die Natur nicht länger aus den Bezügen der Gesellschaft ausgegrenzt wird? Wie erreichen wir es, tatsächlich seßhaft zu werden? Wir sind zwar seßhaft, aber tatsächlich sind wir es doch nicht, weil wir nicht im Einklang mit den dauerhaften Bedingungen von Seßhaftigkeit handeln. Aus meiner Sicht bedeutet das zweierlei: Erstens. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Mechanismen, die sich vor allem in den letzten 500 Jahren mit der ungeheuren Sucht nach Gold und Geld, mit der Herausbildung der Manufaktur und der Industriegesellschaft und ihrem inneren Zwang zur Expansion, Erweiterung, Veränderung, Wachstum und Beschleunigung herausgebildet haben, im Interesse der Sicherung zukünftiger Lebensverhältnisse verändern können. Der zweite zentrale Punkt ist, daß wir auf Dauer politisch nur erfolgreich sein können, wenn wir einen globalen Ansatz verfolgen. Die Industriegesellschaft wird mit einem nationalen Politikansatz die Probleme, die sich in einer gewaltigen Front vor uns auftun, nicht mehr in den Griff bekommen. Die Menschheit gerät immer mehr in eine Abwärtsspirale aus Armut, Unterentwicklung, Bevölkerungsvermehrung und Naturzerstörung. Michael Miller ({0}) Die Daten sind bei diesen vier Faktoren dramatisch: Erster Faktor: Armut. Nach dem neuen Bericht von „World-Watch" lebt fast jeder vierte Mensch auf dieser Erde unterhalb der Existenzgrenze: 1,25 Milliarden Menschen sind in der Situation, daß sie umgerechnet mit weniger als 300 Dollar pro Jahr auskommen müssen. Zweiter Faktor: Unterentwicklung. Drei Viertel der Menschheit leben heute in Unterentwicklung, wobei ich jetzt zugegebenermaßen den europäischen Begriff von „Entwicklung" gebrauche. Diese Menschen haben aber, nur um die drängendsten sozialen Probleme zu lösen, einen größeren Bedarf an Energie und Rohstoffen - und das in einer Situation, in der wir schon an der Grenze der ökologischen Belastbarkeit der Erde angekommen sind, hervorgerufen durch nur ein Viertel der Bevölkerung der Erde in den Industriestaaten. Dritter Faktor: Bevölkerungsvermehrung. Ich will nur darauf hinweisen, daß selbst wenn es gelingen würde, bis etwa zum Jahre 2010 im Durchschnitt zu der Zwei-Kinder-Familie zu kommen, wovon wir heute weit entfernt sind - was kaum zu erreichen ist -, es immer noch mindestens 40 bis 50 Jahre dauerte, um das Bevölkerungswachstum zum Stillstand zu bringen. Vierter Faktor: Naturzerstörung. Bei der Naturzerstörung haben wir es mit folgenden fünf qualitativ neuen Erkenntnissen seit den 80er Jahren zu tun: Erstens: die Geschwindigkeitskrise in der Naturzerstörung. Die Naturzerstörung erfolgt nicht linear, sondern exponentiell. Wir müssen feststellen, daß sich Prozesse der technischen und ökonomischen Expansion immer mehr beschleunigen, die Prozesse der Natur aber gleichbleibend sind. Die biosphärischen Evolutionsbedingungen ergeben sich aus weitgehend gleichbleibenden Mechanismen. Dadurch entstehen Widersprüche, die nicht kompatibel sind und eindeutig zu Lasten der Natur gehen. Zweitens: Wir haben mit der Naturzerstörung die globale Ebene erreicht. Wir müssen begreifen, daß zwischen dem, was heute passiert, und dem, was z. B. im Mittelalter passierte, als beispielsweise in Küstenregionen die Wälder abgesägt wurden, ein deutlicher Unterschied besteht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feige.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja natürlich, er muß es nur anmelden.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Herr Kollege Müller, wir stimmen diesbezüglich überein. Das, was Sie gesagt haben, berührt mich genauso. Wie aber bewerten Sie dann die Tatsache, daß gerade im sozialdemokratisch regierten Nordrhein-Westfalen in der vergangenen Woche ein Klimainstitut eröffnet wurde, das nun weiterforschen wird, gleichzeitig aber auch der naturzerstörende Braunkohlenabbau für längere Jahre begrüßt wird?

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bewerte es genauso, wie ich es hier gesagt habe: Wir müssen endlich begreifen, daß die ökologische Problematik eine gesellschaftspolitische Problematik ist. Das heißt, Ansätze werden scheitern, die die Umweltprobleme beispielsweise nur als ein Problem der Reduktion irgendwelcher Schadstoffe begreifen. Wir müssen die Umweltpolitik vielmehr z. B. auch in die Weiterentwicklung von Demokratie, von Sozialstaat etc. einordnen. Wir werden sonst immer in Zielkonflikte geraten, bei denen im Zweifelsfall die Natur verliert. Ich sage also umgekehrt: Die Gesellschaft muß die Natur wiederentdecken. Daß sie heute ausgegrenzt wird, ist exakt das Problem. Wir diskutieren über Teilaspekte, aber wir diskutieren nicht über den Umbau der Gesellschaft insgesamt. Das ist meines Erachtens, wenn ich Ihnen das sagen darf, das Dilemma, wodurch auch die GRÜNEN nicht mehr in den Bundestag gekommen sind; sie sind nämlich bei einer verengten Debatte stehengeblieben. - Dies vielleicht nur als konstruktiver Hinweis. Die Globalität ist eine andere Dimension von ökologischer Zerstörung als nur eine regionale Umweltvernichtung. Drittens fordert uns der zeitliche Widerspruch zwischen Verursachung von Umweltzerstörungen und deren Sichtbarwerden heraus. So haben beispielsweise Klimaänderungen durch die Umwälzungsprozesse der Ozeane einen zeitlichen Vorlauf von 30 bis 40 Jahren. Das heißt, wir haben schon heute 30 bis 40 Jahre Zukunft gespeichert, die wir nicht mehr verhindern können. Nur wenn wir die mögliche Zukunft heute beachten, können wir in der Zukunft noch handeln. Wir können nicht mehr, wie bisher, erst reagieren, wenn Schäden bereits eintreten. Auch das ist eine qualitativ neue Herausforderung. Viertens: Widerspruch zwischen Tätern und Opfern. Die Täter sind die Industrieländer, die in den gemäßigten Breiten liegen. Die ersten Opfer sind aber die Entwicklungsländer, die in den tropischen und subtropischen Zonen liegen, die sehr viel empfindlicher auf Veränderungen reagieren. Eine der Konsequenzen daraus wird sein, daß in den nächsten Jahrzehnten der Umweltflüchtling der klassische Flüchtlingstyp der Welt zu werden droht. Fünftens: Wir müssen endlich begreifen, daß wir auch mit Nichtwissen umgehen müssen. Wir müssen erkennen, daß wir in vielen Bereichen gar nicht alles wissen können, zumal nicht in bezug auf belastete Ökosysteme, und daß wir vorsorgend auch mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Aus dieser Situation heraus besteht die Gefahr einer unfriedlichen Zukunft in einer unfriedlichen Welt. Ich glaube, daß wir in einem Schlüsseljahrzehnt sind, damit die Friedensdividende, die wir möglicherweise - sicher ist es ja nicht - aus dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation gewonnen haben, nicht wieder verspielen. Dieses bedeutet nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation auch eine erhöhte Verantwortung der westlichen Industrieländer. Sie dominieren heute die Weltwirtschaft einseitig und damit die Weltentwicklung; sie sind das Wachstumsvorbild für Entwicklung, freiwillig oder unter Zwang. Wenn in den westlichen Industrieländern nicht die Vereinbarkeit von sozialer Michael Müller ({0}) Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit erreicht wird, ist dies in den anderen Teilen der Welt erst recht nicht möglich. Das heißt, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation hat sich die Verantwortung der westlichen Industrieländer für die Globalität und damit auch für die langfristige Sicherung des Friedens noch erhöht. Dazu im Widerspruch steht ganz eindeutig das Tempo, mit dem wir diese Probleme angehen. Es besteht ein eklatanter Widerspruch zwischen den Erkenntnissen und den Handlungen. Deshalb müssen wir in der Konsequenz aus den ökologischen Gefahren nicht nur über den Umbau der Gesellschaft, sondern auch über die Veränderung der Politik reden. Die heutigen Formen der Politik sind den Problemen nicht adäquat. Wir müssen uns erweiterte politische Strategien überlegen, die nicht nur auf aktuelle Ereignisse reagieren, sondern die in der Lage sind, Zukunftsverantwortung wahrzunehmen. Dazu sind wir derzeit nur unzureichend in der Lage. Unser Angebot als SPD: Wir sind, ohne Unterschiede zu verkleistern, bereit, auch unbequeme Schritte im Interesse des Klimaschutzes mitzumachen. Aber wir werden nicht bei dem mitmachen, was wir seit jetzt einem Jahr erleben, nämlich daß in der Bundesregierung über den notwendigen Klimaschutz nur gequatscht wird, wobei dies aber tatsächlich ein folgenloses Geschwätz ist. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Marita Sehn, ich erteile Ihnen das Wort.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Zuge der Industrialisierung hat der Mensch in zunehmendem Maße in das über Jahrmillionen entstandene komplexe Ökosystem Erde eingegriffen. Durch den extensiv betriebenen Raubbau an der Ressource Umwelt zerstören wir unsere eigene Lebensgrundlage. Seit nunmehr fast zehn Jahren kennen wir Begriffe wie Treibhauseffekt und Abbau der stratosphärischen Ozonschicht und hören die Warnungen bedeutender Wissenschaftler vor der globalen Klimaveränderung mit ihren dramatischen Folgen für alle Regionen der Erde. Meine Damen und Herren, diese Warnungen und Mahnungen sind nicht ohne Wirkung geblieben. Der Klimaschutz ist heute national und international eines der wichtigsten umweltpolitischen Themen. Von einer internationalen Klimaschutzstrategie, die eine sachgerechte Antwort auf das Klimaproblem darstellt, sind wir aber noch weit entfernt. Auf nationaler Ebene hat die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre " einen maßgeblichen Beitrag zur Erarbeitung von Lösungsstrategien geleistet. Die enge Verflechtung der Klimaschutzthematik mit anderen politischen Bereichen wie Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Bauwesen erfordert zukünftig entscheidende Impulse aus dieser Kommission. Die Klimaveränderung mit ihren Folgen für das gesamte Wirtschafts- und Sozialsystem der Erde läßt sich nur durch eine konsequente Reduktion aller klimarelevanten Spurengasemissionen insbesondere der CO2-Emissionen, verhindern. Erfolgsversprechende Strategien zur CO2-Emissionsminderung, insbesondere in den Energiesektoren, sind von der Enquete-Kommission erarbeitet worden, meine Damen und Herren. Eine Industriegesellschaft kann ohne die Nutzung größerer Energiemengen nicht existieren. Die Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von einer gesicherten Energieversorgung und die daraus resultierende Verwundbarkeit der Industrieländer haben sich während der Ölkrise deutlich gezeigt. Die zahlreichen Umwälzungen im nationalen und internationalen Bereich erfordern ein Umdenken in der Energiepolitik. Auch wenn wir seit Mitte der 70er Jahre als eine der ersten die Thematik „Energie und Umwelt" aufgegriffen haben und wesentliches zur Gestaltung einer umweltfreundlichen Energieverwendung beigetragen haben, brauchen wir heute dringender denn je ein neues Energiekonzept. ({0}) Seine wichtigsten Aspekte sind die zunehmende Bedeutung des europäischen Binnenmarktes, die Lösung des CO2-Problems, die energiepolitische Integration der neuen Bundesländer und die Neubewertung der Energieträger. Wir brauchen einen breit angelegten Energiemix, bei dem der Stellenwert der einzelnen Energieträger neu bewertet werden muß. Die Braunkohle in den neuen Bundesländern, die unter dem Regime der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik zu einem Umweltschädiger ersten Ranges verkommen ist, muß in Zukunft zu einem Energieträger heranreifen, der zu einem wichtigen Eckpfeiler für die Energieversorgung wird. Meine Damen und Herren, wir müssen uns darüber im klaren sein, daß die Verminderung der CO2-Emissionen nur durch drastische Energiesparmaßnahmen sowohl im Bereich der Wirtschaft als auch im Bereich der Haushalte und Kleinverbraucher erreicht werden kann. Energie darf nicht länger eine billige Ware sein. Jeder einzelne muß die Notwendigkeit des sparsamen Umgangs mit dem Wirtschaftsgut Energie begreifen und dementsprechend handeln. Zur Unterstützung dieses Umdenkprozesses müssen ökonomische Instrumente wie die CO2-Abgabe ({1}) oder auch die Kombination dieser Abgabe mit einer Energiesteuer eingesetzt werden. Die alleinige Verteuerung fossiler Energieträger durch eine CO2-Abgabe ist meines Erachtens nicht ausreichend, meine Damen und Herren. ({2}) Die Energiesteuer verhindert die einseitige Begünstigung der Atomindustrie und schafft bessere marktwirtschaftliche Voraussetzungen zu einer weitestmöglichen Ausschöpfung aller Potentiale der Energieeffizienz und der erneuerbaren Energien. ({3}) Sicher ist schon jetzt, daß entsprechende Abgaben international oder zumindest EG-weit abgestimmt werden müssen. Anderenfalls wären Wettbewerbsverzerrungen zu erwarten, und das Ziel des EG-Binnenmarkts wäre gefährdet. Einen akuten Handlungsbedarf, meine Damen und Herren, sehe ich zur Zeit besonders in den neuen Bundesländern im Bereich der Altbausanierung gegeben. Hier haben wir die Chance, flächendeckend Gebäude mit den neuesten Wärmeschutzmaßnahmen auszustatten und somit wirksam zu einer Minderung der CO2-Emissionen beizutragen. Der Verkehrsbereich trägt mit ca. 17 % maßgeblich zum jährlichen CO2-Ausstoß bei. ({4}) Die Vollendung des europäischen Binnenmarktes und die Öffnung der östlichen Länder machen die Bundesrepublik Deutschland auf Grund der geographischen Lage zu einem Transitland. Wo immer möglich, muß der Güterverkehr auf Schiene und Wasserstraße verlegt werden. ({5}) Auch über den Bedarf an energieeffektiveren und emissionsärmeren Verkehrsmitteln brauchen wir nicht zu debattieren, meine Damen und Herren. Zum Thema Berufsverkehr und Stau möchte ich auf die vielen Pendler aufmerksam machen, die tagtäglich aus den ländlichen Regionen in die Ballungsgebiete fahren müssen, um überhaupt einen ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz zu finden. Wenn es uns gelingt, wieder die Arbeit zu den Menschen zu bringen und nicht umgekehrt, leisten wir damit einen guten Beitrag zur Erhaltung der Umwelt und geben den Menschen in den ländlichen Regionen eine Chance für die Zukunft. Auch der Weltluftverkehr darf bei unseren Überlegungen nicht außen vor bleiben. Niedrige Schätzungen gehen von einer Verdopplung der heutigen Kapazität bis zum Jahre 2000 aus. Die Wirkungen der Schadstoffemissionen aus der Luftfahrt auf das Weltklima sind heute noch unklar und müssen zügig untersucht werden. Auch der Themenkomplex Landwirtschaft und seine Auswirkungen auf das Weltklima werden uns sehr bald beschäftigen. Ein Schwerpunkt werden die Emissionen von Methan aus Reisfeldern und Rinderverdauung sein. Die Dringlichkeit von Konzepten zur Methanemissionsreduktion erklärt sich aus dem hohen Treibhauspotential des Spurengases Methan, das um den Faktor 32 höher ist als das von CO2. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungen kommen. Das größte Problem jedoch ist das schnelle Wachstum der Weltbevölkerung. Mehr Menschen auf dieser Erde bedeuten: höherer Energieverbrauch, größerer Nahrungsmittelbedarf, stärkere Inanspruchnahme der natürlichen Ressourcen Boden und Wasser und gesteigerter Rohstoffbedarf. Wirkungsvolle globale Maßnahmen zum Schutz der Erdatmosphäre werden nur unter Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums gefunden werden können. Dieses wichtige Thema muß deshalb bei der UN-Konferenz Umwelt und Entwicklung in Brasilien 1992 unbedingt auf der Tagesordnung stehen. Die Sicherheit dieser Welt ist durch irreversible Umweltschäden massiv bedroht. Wir müssen endlich erkennen, wie eng die wechselseitige Abhängigkeit aller Nationen angesichts der globalen Herausforderung geworden ist. Hier sehe ich große Chancen in der Umweltkonferenz 1992 in Brasilien. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein paar Worte zu den vorhergehenden Beiträgen. Es ist natürlich klar: Die GRÜNEN sind im Bundestag nicht mehr in der großen Zahl. Ich muß aber irgend etwas falsch gemacht haben, Herr Müller, daß Sie mich nicht mehr als Grünen akzeptieren. ({0}) Aber ich denke, ich kann das mit den folgenden Worten sehr deutlich unterstreichen. In vier Jahren sprechen wir uns dann wieder. ({1}) Nun zum Vortrag des Vorsitzenden der EnqueteKommission, Dr. Lippold. Die Bürgerinitiativen sind schon eine wichtige Sache. Wir können sie nicht verbieten. Ich glaube, gerade das Nachdenken über Politik und auch über die Form der Politik, das Herr Müller gefordert hat, sind in der Auseinandersetzung in der Demokratie und für das Erlernen von Demokratie notwendig. Wenn das in den fünf neuen Ländern passiert, ist das gut. Ich denke, wir haben, wenn wir von diesen Projekten überzeugt sind, die Chance, gemeinsam mit den Bürgerinitiativen unsere Meinung einzubringen. Ich würde, wenn wir eine solche Bürgerinitiative finden, Sie einladen, das gemeinsam zu tun. Zum vorliegenden Bericht. Dramatische Ankündigungen haben wir im Bundestag schon eine ganze Menge gehört. So scheinen die drei großen, voluminösen Ergebnisbände der Enquete-Kommission der letzten Legislaturperiode zur Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre heute kaum jemanden so richtig zu erregen. Dabei liest sich gerade der dritte Band dieser Serie wie das Szenarium zu einem Horrorfilm; denn dort haben in mühseliger Kleinarbeit Sachverständige und Abgeordnete des Bundestages in erstaunlicher Übereinstimmung viele Fakten über den ökologischen Zustand unserer Erde zusammengetragen. Diese sind jedoch keine Phantasieprodukte, sondern grausame Realität. Die übereinstimmende Analyse ist: Es bleibt nur noch wenig Zeit, die Erde vor dem Sturz in die Unbewohnbarkeit zu retten. Wenn es jetzt nicht 11.14 Uhr wäre, hätte ich gesagt: Es ist fünf vor zwölf. So kommt es nicht von ungefähr, daß in dieser Wahlperiode die Arbeit der Enquete-Kommission fortgesetzt wird. Aber wie so oft in diesem Land, gerade wenn es um die praktischen Konsequenzen geht, wird speziell im Umweltbereich die besondere Trägheit der Parteien deutlich. Ich glaube, auch die Bundesregierung gibt dabei nicht gerade ein rühmliches Beispiel ab. Wir sind von der Opposition immer geneigt, zu übertreiben, wie die Koalition sagt. Aber ich habe auch in den Worten von Dr. Lippold einiges gehört, was als Anregung an die Regierung geht, endlich loszulegen. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, daß die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom vergangenen November in die richtige Richtung zeigen. Aber wenn darüber hinaus nichts geschieht, sondern solche Beschlüsse in der Praxis sogar konterkariert werden, dann verwundert es mich nicht, wenn Vertreter aller Fraktionen schon in der ersten Sitzung der Enquete-Kommission die mangelhafte bzw. fehlende Umsetzung der vorliegenden Vorschläge oder Beschlüsse durch die Regierung kritisieren. Als Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern habe ich mich besonders stark dafür gemacht, daß die Situation in den neuen Ländern in der Arbeit der Enquete-Kommission angemessen berücksichtigt wird. Ich habe mich gefreut, daß dieser Vorstoß breites Verständnis gefunden hat. - So habe ich auch Ihre Worte verstanden, Herr Dr. Lippold. Wie wenig die deutsche Einheit allerdings Eingang in die Köpfe gefunden hat, zeigt sich daran, daß weder in der heutigen zur Abstimmung stehenden Beschlußempfehlung noch im Entschließungsantrag der sozialdemokratischen Fraktion die neuen Länder auch nur annähernd erwähnt werden. Meine Skepsis wird noch durch eine andere Tatsache bestärkt: Sieht man sich nämlich die Herkunft der Abgeordneten in der Enquete-Kommission an, stellt man fest, daß es dort nur einen Abgeordneten aus den fünf neuen Ländern gibt. Und der ist auch noch Abgeordneter zweiter Wahl: Er hat nicht eimmal Stimmrecht und darf auch keinen Sachverständigen benennen. Ich glaube, dabei böte gerade die desolate wirtschaftliche Situation in den neuen Ländern, die die Rekonstruktion ganzer Branchen erforderlich macht, die besondere Chance, die Erkenntnisse der Klima-Enquete großflächig umzusetzen. Nicht nur aus umweltpolitischen Gründen wäre ein solcher Neuanfang begrüßenswert, sondern auch zur dauerhaften Förderung eines wirtschaftlichen Aufschwungs mit der Schaffung unzähliger sinnvoller Arbeitsplätze. Dazu bedarf es aber auch mutiger zügiger Entscheidungen auf der Bundesebene. Da muß man auch einmal bereit sein, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Wenn tatsächlich - wie in der Beschlußempfehlung nachzulesen - beispielsweise die Kraft-WärmeKopplung oder die Fernwärme besonders gefördert werden sollen, dann muß endlich auch der unselige Stromvertrag vom Tisch gewischt werden. ({2}) Wer regenerative Energien einführen will, wer auf Energiesparen setzt, der kann nicht gleichzeitig auf eine verstärkte Auslastung der Atomenergie setzen, wie dies in der Beschlußempfehlung festgehalten ist. Dies gilt gleichermaßen für die vorgesehene CO2- Abgabe, so gut sie sein mag. Aber allein diese wird kaum etwas in die richtige Richtung bewegen. Wer lediglich auf eine solche Abgabe setzt - auch die Debatte in der EG-Kommission geht bedauerlicherweise in diese Richtung - , fördert die Atomenergie und straft alle sonstigen Beschlüsse Lügen. Nein, meine Damen und Herren, wer durchsetzen will, daß die Preise die Wahrheit sagen, der muß die Subventionen für die Atomenergie streichen. Dann wird man schnell sehen, daß diese Art der Energieerzeugung marktwirtschaftlich nicht tragbar ist. Oder ist es der britischen Regierung gelungen, auch nur eine Atomanlage zu privatisieren?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Feige, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Erlauben Sie noch einen Abschlußsatz: Ich glaube, daß wir endlich die eingefahrenen Gleise verlassen und die Weichen neu stellen müssen. Ich denke, daß wir in diesem Sinne gemeinsam - auch in der neuen Enquete-Kommission - einen neuen Geist der Politik praktizieren müssen. Es reicht nicht aus, mit aller Kraft die Notbremse des auf den ökologischen Abgrund zurasenden Schnellzuges zu ziehen. Vielmehr müssen wir den Zug gemeinsam in völlig neue Bahnen lenken. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, die Kollegin Jutta Braband möchte ihre Rede zu Protokoll geben. Dazu bedarf es des Einverständnisses des Hauses. Darf ich das unterstellen? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Nun erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Herrn Abgeordneten Klaus Beckmann.

Klaus Beckmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000133

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch der für die Energiepolitik federführende Bundesminister für Wirtschaft hat im Oktober 1990 den Dritten Bericht der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre " begrüßt. Wichtige Vorschläge sind zwischenzeitlich vom Bundeswirtschaftsministerium umgesetzt worden ({0}) - z. B. das Stromeinspeisungsgesetz, Frau Kollegin Ganseforth, zugunsten der erneuerbaren Energien -, ({1}) oder ihre Umsetzung steht unmittelbar bevor, wie im Fall des Fernwärmesanierungsprogramms für die neuen Bundesländer, wo jetzt die Bundesländer die Form ihrer Beteiligung klären müssen. Der Wirtschaftsminister wird mit seinem energiepolitischen Gesamtkonzept weitere Überlegungen der Enquete-Kommission aufgreifen. Damit wird ein wesentlicher Beitrag der Energiepolitik für die Harmonisierung von Ökonomie und Ökologie geleistet. Für die Energiepolitik ist der Beschluß, bis zum Jahre 2005 eine 25- bis 30 %ige Reduktion der CO2- Emissionen anzustreben, gemessen am internationalen Umfeld ein sehr ehrgeiziges Ziel. Da das vereinte Deutschland zu etwa 90 % seinen Energiebedarf durch fossile Energieträger deckt, bedeutet dies notwendigerweise die Einsparung oder die Substitution von ca. 110 Millionen t SKE an Braunkohle, Steinkohle, Mineralöl oder Gas. Es müssen erhebliche zusätzliche Anstrengungen bei der Energieeinsparung und der rationellen Energieverwendung unternommen werden. Die Enquete-Kommission hat darüber hinaus Vorstellungen zur weiteren CO2-Verminderung nach 2005 entwickelt. In der Tat muß die Klimaschutzpolitik langfristig angelegt sein. Dies mahnt uns aber gleichzeitig zur Besonnenheit, denn diese Ziele sind nur dann realisierbar, wenn Störungen des politischen und wirtschaftlichen Gleichgewichts vermieden werden. Auch insoweit muß eine Versöhnung von Ökonomie und Ökologie stattfinden. Die Bundesregierung hat in ihrem Kabinettsbeschluß vom 13. Juni 1990 festgelegt, daß sie bei der Realisierung der CO2-Reduktion die Auswirkungen auf volkswirtschaftliche Ziele wie z. B. Beschäftigung, wirtschaftliches Wachstum und die Sicherheit der Energieversorgung beachten wird. 25 bis 30 % erfordern einen gravierenden Anpassungsprozeß in unserer Wirtschaft und beim Energieverbraucher. Zielkonflikte sind dabei unvermeidbar und müssen politisch gelöst werden. Um sie zu begrenzen, ist es rational, Energieeinsparung prioritär dort durchzuführen, wo andere vorrangige politische Ziele gleichzeitig abgedeckt werden. Ich sehe dies besonders in den neuen Bundesländern, wo die wirtschaftliche Entwicklung gefördert werden muß und wo gleichzeitig die Energieeinsparpotentiale groß sind. Eine positive wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern durch die Modernisierung des Anlagen- und Gerätebestandes sowie durch Umstrukturierung auf eine umweltschonende Energieversorgung gehen Hand in Hand mit der Reduktion von CO2-Emissionen. Auch in den alten Bundesländern wird sich trotz des erreichten hohen Standards an Energieeffizienz ein zusätzliches Potential erschließen lassen. Dies ist aber ungleich teurer als in den neuen Ländern. Wir müssen deswegen darauf achten, daß gesamtwirtschaftlich tragbare Lösungen gefunden werden. Zielkonflikte, meine Damen und Herren, entstehen auch innerhalb der Energiepolitik, denn Steinkohle in den alten Bundesländern und Braunkohle in den neuen Bundesländern müssen aus energie-, sozial-und regionalpolitischen Gründen in Zukunft einen angemessenen Platz behalten. Da Kernenergie CO2- frei ist, stellt sie eine Option für den Klimaschutz dar. ({2}) Die vieldiskutierte ungenügende Akzeptanz verdeutlicht hier den Zielkonflikt. Darüber hinaus - das will ich betonen - ist der notwendige internationale Abstimmungsprozeß für den Klimaschutz ein Feld, das vorrangig bestellt werden muß. Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß nationales Vorgehen für eine effektive Klimaschutzstrategie nicht ausreicht. Ein globales Problem erfordert auch globale Lösungen. Es sei daran erinnert, daß eine 25 %ige CO2-Senkung bei uns nur zu einer einprozentigen Senkung weltweit führen wird. Dies wird bereits durch den steigenden globalen Energieverbrauch innerhalb eines halben Jahres aufgezehrt. Internationale Abstimmung und gemeinsames Vorgehen sind aus ökonomischen wie auch aus ökologischen Gründen dringend erforderlich. Hierbei werden wir uns mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft, mit den führenden Wirtschaftsnationen und darüber hinaus mit unseren Wettbewerbern im Welthandel abstimmen müssen. Ich denke, daß verbindliche Beschlüsse in näherer Zukunft allerdings am ehesten in der Europäischen Gemeinschaft zu erreichen sind. Die Beschlüsse des Europäischen Parlaments zeigen dies ganz deutlich. Sie zeigen aber auch - Herr Präsident, wenn ich zum Schluß kommen darf - die Zielkonflikte, die in der Förderung auf umfassenden Klimaschutz angelegt sind, ohne bisher Lösungsansätze zu präsentieren. Wir sind auf einem Weg, auf dem wir noch Suchende sind. Vielen Dank. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nun kann ich ja der Regierung nicht die Redezeit beschneiden, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, aber ich will nur sagen, die Wendung: „Wenn ich zum Schluß kommen darf" ist heute die dritte Variante der Redezeitverlängerung. Frau Abgeordnete Monika Ganseforth, Sie haben das Wort.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Wieder einmal diskutieren wir im Bundestag die Probleme des Klimas, der Gefährdung unseres Planeten. Seit der letzten Debatte ist die Lage nicht besser geworden. Die Zeit verstreicht; die Treibhausemissionen nehmen zu, und wir reden und tun nichts. Die notwendigen Maßnahmen werden nicht ergriffen. Die wenigen Ansätze, die es noch aus der Regierungszeit Schmidt gab, um Energiesparmaßnahmen oder regenerative Energien zu fördern, sind ausgelaufen. Der Staatssekretär Beckmann hat hier das Energieeinspeisungsgesetz als eine Initiative des Wirtschaftsministeriums gepriesen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Dieses Gesetz beruht auf einer mühsamen Zusammenarbeit des CDU/CSU-Abgeordneten Engelsberger, der dem Parlament nicht mehr angehört, des GRÜNEN-Abgeordneten Dr. Daniels und mir, die ich auch beteiligt war. Wir haben uns im Forschungsausschuß - über Parteigrenzen hinweg - zusammengesetzt und diese Kleinigkeit mühsam realisiert. Und jetzt schmücken Sie sich mit diesen Federn. Das sind wirklich Mitnahmeeffekte. Sie sprechen davon, daß es Zielkonflikte zu bewältigen gibt. Das ist richtig. In diesem Zusammenhang erwähnen Sie die Kernenergie. Auch da haben Sie recht. Das ist ein Zielkonflikt, aber es ist kein Zielkonflikt der CO2-freien Kernenergie und des Klimaschutzes, sondern es ist ein Zielkonflikt zwischen den Interessen der Atomlobby und den Interessen des Klimaschutzes. ({0}) Da wird der Klimaschutz benutzt. Natürlich ist das ein Zielkonflikt. Wir haben aber in der Enquete-Kommission in umfangreichem Maße nachgewiesen, daß Klimaschutz möglich ist, ohne auf die Kernenergie zu setzen. Im Gegenteil: Die Lösung der Probleme von morgen ist nicht mit den Maßnahmen und den Instrumenten von gestern - dazu gehört die falsch strukturierte Kernenergie - möglich. ({1}) Was von der Regierung inzwischen gemacht wird, sind „Peanuts" ; ich nenne nur das 1 000-Dächer-Photovoltaik-Programm. Das ist natürlich ein Schritt in die richtige Richtung, aber in fünf Jahren für die ganze Bundesrepublik 1 000 Dächer bereitzustellen, ist wirklich lachhaft. Das lohnt nicht das Papier, mit dem der Forschungsminister da an die Öffentlichkeit geht. Es muß geklotzt und nicht gekleckert werden. Seit der letzten Debatte ist die Lage auch deswegen nicht besser geworden, weil der Prozeß der Vereinigung unsere Aufmerksamkeit und die finanziellen Ressourcen fordert. Dabei würde es die Gestaltung der Einheit möglich machen, die Weichen neu zu stellen und die neuen Strukturen so aufzubauen, wie sie den Empfehlungen der Klima-Enquete entsprechen. Dies wäre nicht so teuer, als wenn funktionierende Strukturen umgebaut werden müssen, z. B. in der Energieversorgung, im Verkehr, in der Abfallpolitik, in der Landwirtschaft. In allen diesen Bereichen wäre es möglich, die nötigen Investitionen so zu tätigen, daß Fehlentwicklungen, die wir hier erlebt haben, vermieden werden und z. B. die Empfehlung zur CO2-Reduktion durchgesetzt werden könnte. Hier findet man eine merkwürdige Mischung aus Unwissenheit der Menschen in den neuen Ländern, knallharten Interessen bei uns und der mangelnden Bereitschaft der Regierung, den Prozeß der Einheit zu gestalten - nach dem Motto: es wird sich alles von selber richten. Damit wird diese Möglichkeit verspielt. Ein wichtiges Beispiel sind die Stromverträge. Wir haben es hier heute schon angesprochen. Da werden die Möglichkeiten wirklich verspielt, dezentrale, energiesparende Stromstrukturen aufzubauen. Statt dessen haben sich die drei großen Energieanbieter mit Unterstützung der Regierung die neuen Länder aufgeteilt. Es gibt ja noch Prozesse; vielleicht läßt sich noch etwas retten. Aber da sind wichtige Möglichkeiten verspielt worden. Jedenfalls ist in bezug auf die Gefährdung des Klimas seit der letzten Diskussion nichts besser geworden. Die naheliegenden Bedürfnisse der Menschen in den neuen Ländern werden mißbraucht, z. B. um das Maßnahmengesetz oder das Beschleunigungsgesetz durchzusetzen. ({2}) Damit wird genau das Gegenteil von dem erreicht, was nötig wäre, nämlich Energiesparmaßnahmen, CO2-Reduktion und Aufbau anderer Strukturen. Nur eines hat sich seit der letzten Diskussion geändert: Diesmal haben wir auch die Entschließung des Europäischen Parlaments vorliegen. Die EntschlieBung „Energie und Umwelt", im Juli 1991 von dem Europäischen Parlament verabschiedet, umfaßt im großen und ganzen ähnliche Maßnahmen wie die, die wir in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" angesprochen haben. Zum Beispiel: eine grundlegende Änderung des Forschungs- und Entwicklungshaushalts dahingehend, daß die Ausgaben im Energiebereich vorrangig für Techniken zur Förderung regenerativer Energien verwendet werden. ({3}) Ich hoffe, das wird Wirklichkeit, und es passiert nicht, daß die Fusions- und Kernenergie, so wie bei uns, den größten Anteil ausmacht. ({4}) Oder es wird gefordert, Investitionshilfen zu tätigen, wenn das Kriterium des rationellen Umgangs mit Energie berücksichtigt wird. Es werden z. B. die Kennzeichnung stromsparender Geräte und Anlagen und verständliche Informationen gefordert. Das ist eine Forderung, die wir auch in der Enquete-Kommission gestellt haben und deren Erfüllung nicht viel kosten würde und durchgesetzt werden müßte. Das Parlament schlägt den Einsatz ökonomischer Instrumente zur Energie- und CO2-Einsparung vor. Es werden Anreize zum Bau von Kraft-Wärme-Kopplung - das ist jetzt ein wörtliches Zitat - auf der Grundlage der Nähe von Stromerzeugung und Verbrauch von Energie und Wärme gefordert, also zur Dezentralisierung. Ich habe soeben den Stromvertrag in den neuen Ländern angesprochen; er ist ein Schritt genau in die falsche Richtung. Das Parlament fordert eine Abgabe, durch die eine übermäßige Stromerzeugung zu Heizzwecken verringert werden soll. Wie richtig! Das Europäische Parlament - jetzt bringe ich ein wörtliches Zitat - „ist der Ansicht, daß die Senkung des Energieverbrauchs im Verkehrssektor vorrangig erscheint und eine bewußte Politik einerseits der Förderung des öffentlichen Transports, insbesondere des städtischen Transports, und andererseits der Förderung des Güterfernverkehrs auf der Schiene an Stelle des Straßentransports erfordert. " Das sagt das Euro3792 päische Parlament. Angesichts dieser Forderungen kommt allerdings Skepsis auf. Ebenso wie bei den Bundestagsbeschlüssen entsteht auch hier der Eindruck, daß der Ministerrat bzw. die Regierung nicht umsetzt, was das Parlament oder der Bundestag beschließt. Wir haben ja auch tolle Beschlüsse gefaßt. Nach den Erfahrungen hier im Bundestag bin ich sehr skeptisch, inwieweit diese Beschlüsse in die Tat umgesetzt werden. ({5}) Befragungen der Bürgerinnen und Bürger zeigen, daß in der Bevölkerung sowohl der Teil der Zyniker als auch der Teil derer zunimmt, die nach den Erfahrungen, die sie mit Politik machen, resignieren. Dazu kommt die Gruppe derer, die die Probleme verdrängen. Das Thema Umweltschutz ist aus den Schlagzeilen verschwunden, ohne daß es für die Menschen an Bedeutung verloren hat. Umfragen zeigen, daß die Erwartung wächst, daß die Regierung endlich handelt, daß sie Grenzen setzt und Einschränkungen verlangt. Die Bereitschaft der Menschen, Einschränkungen zu akzeptieren, wächst. Allerdings nimmt die Bereitschaft ab, weiterhin individuelle Vorleistungen zu erbringen. Es werden endlich Maßnahmen verlangt. Ich kann das verstehen. Es wird zunehmen, wenn unsere Regierung und der Ministerrat in Brüssel nur reden und nicht handeln, wenn weiter nichts passiert. Das peinliche Lavieren bei der Geschwindigkeitsbegrenzung ist ein unglaubliches Beispiel dafür, wie man sich blamieren kann. ({6}) Es geht dabei nicht nur um die Maßnahme der Geschwindigkeitsbegrenzung. Begreifen Sie doch, daß das inzwischen auch symptomatisch für das Durchsetzen von Maßnahmen der Regierung geworden ist. Die Bevölkerung kann dieses Thema nicht mehr hören und erwartet, daß endlich etwas getan wird. Der Zynismus, die Resignation und die Verzweiflung der Menschen werden wachsen, das Vertrauen in die Politik wird untergraben, wenn nicht endlich durchgreifende Strukturveränderungen eingeleitet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten in der Enquete-Kommission weiter. Aber ich bin und wir sind nur dann bereit, da wirklich mitzumachen, wenn es nicht zu einer Alibi-Veranstaltung wird und die gravierenden Themen von der Landwirtschafts- über die Verkehrspolitik wirklich so angefaßt werden, daß wir nicht nur reden und reden und Papiere und Bücher verfassen, sondern daß etwas dabei herauskommt, was man sehen kann, was getan wird, daß die Emissionen abnehmen, daß gehandelt wird; sonst sind wir nicht bereit, da mitzumachen. Das sind wir der Bevölkerung, das sind wir unserem Planeten schuldig. Schönen Dank. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Bertram Wieczorek.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir sind uns alle darüber einig - ({0}) - Ja, auch ich heiße Wieczorek. Wir sind vier im Bundestag. Das ist doch sehr schön. ({1}) - Vom Namen her wären wir mehrheitsfähig; aber, bitte, ich habe nur acht Minuten. Meine Damen und Herren, wir sind uns alle darüber einig, daß der Mensch durch sein Eingreifen in den Naturhaushalt, insbesondere durch die heute weltweit dominierende Art der Energieversorgung, die Abholzung der tropischen Regenwälder, das Klima der Erde dauerhaft verändert und damit Auswirkungen dramatischen Ausmaßes auslösen kann. Es muß einfach noch einmal daran erinnert werden, daß nach wie vor - ich sage das ganz bewußt auch als Ostdeutscher - 20 % der Menschheit 80 % der Energieressourcen verbrauchen. Sie haben auf die Entwicklung hingewiesen. Diese globale Frage hat im politischen Raum auf allen Ebenen zunehmend außerordentliche Akualität erlangt. Das zeigt sich nicht zuletzt in den uns hier heute vorliegenden Entschließungen. Die Veränderung der Erdatmosphäre, der zusätzliche Treibhauseffekt, die daraus resultierenden Klimaänderungen und deren Folgewirkungen, die Bedeutung der klimarelevanten Emissionen aus dem Energiebereich, der Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre, die Vernichtung der tropischen Regenwälder sowie das großflächige Waldsterben in den mittleren und nördlichen Breiten stellen eine Gefährdung für die gesamte Menschheit und die Biosphäre der Erde dar. Denken Sie nur an das Erzgebirge und die gewaltige Herausforderung, die uns hier bevorsteht. Im Unterschied zu den bisherigen Umweltgefahren, die sich lokal, regional oder schlimmstenfalls grenzüberschreitend bemerkbar machten, handelt es sich nunmehr um eine weltweite Bedrohung. Werden keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen, ist mit dramatischen Folgen zu rechnen. Langfristig gesehen wird es in diesem Spiel keine Gewinner geben. Langfristig werden sowohl die Menschen in den Industrieländern als auch erst recht die Menschen in der Dritten Welt auf der Verliererseite stehen. Meine Damen und Herren, durch die Freisetzung anthropogener Spurengase hat sich die Zusammensetzung der Erdatmosphäre bereits deutlich geändert. Hier besteht ein weitgehender wissenschaftlicher Konsens über die hiervon ausgehenden Bedrohungen. Der Schutz der Erdatmosphäre gehört damit zu den größten umweltpolitischen Herausforderungen unserer Zeit. ({2}) Wir werden dieser Herausforderung nur dann entsprechen können, wenn wir national wie international eine Politik der Vorsorge betreiben und Umweltpolitik mehr und mehr als Gesellschaftspolitik begreifen. ({3}) Aktive Klimapolitik bedeutet demnach, globalen Bedrohungen frühzeitig wirksam zu begegnen. Hierbei müssen sich nationales und internationales Handeln wechselseitig verstärken. Die vor uns liegenden Entschließungen des Europäischen Parlaments sowie die Beschlußempfehlung und der Bericht des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages zeigen, daß sowohl national als auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft einiges in Bewegung gekommen ist. ({4}) - Ich komme noch darauf zu sprechen. - Unter Betonung der großen Verantwortung der Industrieländer für eine lebenswerte Umwelt auf unsrem Planeten enthalten die Entschließungen durchaus ehrgeizige Zielsetzungen, die deutliche Parallelen zur Einschätzung dieses Problems durch die Bundesregierung oder auch zu den Zielformulierungen aufweisen, die die Enquete-Kommission in ihrem Dritten Bericht „Schutz der Erde " empfiehlt. Betrachtet man den vom Europäischen Parlament aufgelisteten Maßnahmenkatalog, so wird man deutliche Überschneidungen mit dem von der Bundesregierung am 7. November 1990 beschlossenen CO2- Minderungskonzept feststellen. Ferner sind Übereinstimmungen mit den Maßnahmenempfehlungen im Dritten Bericht der Enquete-Kommission nicht zu verkennen. Im übrigen beziehen sich die Schlußfolgerungen des Europäischen Parlaments auch auf einen, wie ich meine, außerordentlich wichtigen Beschluß, den der gemeinsame Rat der EG-Umwelt- und -Energieminister am 29. Oktober 1990 gefaßt hat. Dieser Beschluß ist Ihnen bekannt. Er weist darauf hin, daß wir die CO2-Emissionen stabilisieren und nach dem Jahr 2000 deutlich spürbar verringern wollen. Hiermit möchte ich mich dann der Beschlußempfehlung und dem Bericht des Umweltausschusses zuwenden. Ich denke, hier ist die Gelegenheit, um auf die geradezu beispielhafte Zusammenarbeit und gegenseitige Ergänzung - das möchte ich hier noch einmal ausdrücklich sagen - von Parlament und Regierung einzugehen. Dieses Hohe Haus hat in der zurückliegenden Legislaturperiode bereits sehr früh die national und international zunehmenden Hinweise auf die bedrohlichen Veränderungen in der Erdatmosphäre aufgegriffen und die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" ins Leben gerufen. Dieses Gremium hat Beachtliches geleistet. Heute liegen uns drei Berichte vor, die nicht nur national, sondern vor allem auch international große Beachtung gefunden haben und den heutigen Stand des Wissens also nicht Spekulation - im großen und ganzen zusammenfassen. Parallel zu den Arbeiten der Enquete-Kommission hat die Bundesregierung ihr CO2-Minderungskonzept entwickelt und zwei auch auf internationaler Ebene außerordentlich beachtete Beschlüsse gefaßt, die Ihnen allen bekannt sind. Wenn wir dieses ehrgeizige Ziel im Jahre 2005 erreichen wollen, dann sprechen wir von einer Minderung von immerhin 300 Millionen t CO2-Emissionen bei einem Stand von 1 Milliarde t im Jahre 1987. Gleichzeitig mit der Entschließung vom 7. November ist ein umfangreiches Maßnahmenbündel verabschiedet worden. Aus Zeitgründen möchte ich das jetzt nicht im einzelnen ausführen. Aber ich möchte angesichts der Äußerung, lieber Herr Müller, es werde nur gequatscht, doch noch auf die heftige Diskussion über das Abfallabgabengesetz, die zur Zeit entbrannt ist, hinweisen. Denn das Abfallabgabengesetz steht in engem Zusammenhang z. B. mit der Emissionsproblematik. Ich möchte zum Schluß nur noch darauf hinweisen, was alles in dieser Legislaturperiode weiterhin geplant ist. Wie Sie wissen, sind dies: Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes, Überprüfung des Energieeinsparungsgesetzes, Wärmeschutzverordnung, Heizanlagenverordnung, 1. BImschV, Vorlage einer Wärmenutzungsverordnung auf der Grundlage des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Ich halte die vor uns liegende Beschlußempfehlung für ein weiteres Beispiel dafür, wie sich Parlament und Regierung in einer für uns alle wichtigen Frage die Bälle zuspielen können. Ich denke, daß die vergangenen Jahre hier cum grano salis ein interessantes Modell für ein solches Miteinander darstellen. In diesem Sinne wünsche ich mir, daß die vor uns liegende Beschlußempfehlung heute mit einer großen Mehrheit in diesem Hohen Haus verabschiedet wird. Als Ostdeutscher möchte ich noch etwas sagen - da stimmen wir überein, Herr Feige - : Wir haben in den neuen Bundesländern die einzigartige Chance, unsere umweltpolitischen Vorstellungen umzusetzen durch einzigartige Innovationen und den modellhaften Ausbau z. B. auch im Bereich der Energieversorgung. Wir sollten diese Vorstellungen gemeinsam umsetzen. Sie wissen ganz genau, welche Situation wir im Energiesektor haben, um auf den Stromvertrag einzugehen, den wir im Jahre 1990 hatten. Lassen Sie doch bitte die Klage der Thüringer Bürgermeister vor dem Bundesverfassungsgericht erst einmal durchlaufen. Dann werden wir uns darüber neu unterhalten. ({5}) - Das ziemt die Achtung vor diesem Gericht. Ich denke, daß ich das als neuer Bundesbürger richtig sehe. Liebe Frau Ganseforth, ganz zum Schluß noch ein Hinweis: Die Situation in den neuen Bundesländern hat sich zunächst einmal dramatisch verbessert. Wir wissen natürlich, daß das etwas mit Arbeitslosigkeit zu tun hat. Die Sensibilität unserer Bürger für Umwelt3794 probleme ist größer, als manch einer hier in der Altbundesrepublik denkt. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/944 und 12/945, Entschließungen des Europäischen Parlaments, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Gibt es andere Vorschläge? - Nein. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf der Drucksache 12/1136. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt gegen diese Empfehlung? - Stimmenthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsparteien gegen die Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste angenommen. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1190 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt gegen diesen Entschließungsantrag? - Dann ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen dieser Entschließungsantrag abgelehnt. Wir stimmen jetzt noch über den Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/1209 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt gegen diesen Entschließungsantrag? Die Mehrheitsverhältnisse sind die gleichen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald B. Schäfer ({0}), Klaus Daubertshäuser, Klaus Lennartz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mehr Umweltschutz, Verkehrssicherheit und Lebensqualität durch Geschwindigkeitsbegrenzungen - Drucksache 12/616 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr ({1}) Innenausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst unserem Kollegen Klaus Lennartz.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hochgeschwindigkeitsfahrten mit Kraftfahrzeugen sind ein Anachronismus unserer modernen Kommunikationsgesellschaft. Wettbewerbsvorteile durch Geschwindigkeit sind nur im Bereich der elektronischen Kommunikation auf der Schiene und in der Luft zu erzielen. Auf der Straße und im Individualverkehr ist der Zeitgewinn verschwindend gering, wird durch erhöhten Streß des Fahrers wieder zunichte gemacht und steht in keinem aktzeptablen Verhältnis zum Risiko für Leib und Leben. Die menschliche, energetische, ökologische und wirtschaftliche Bilanz des Schnellfahrens ist miserabel. Sie rechtfertigt in keiner Weise den hohen Aufwand und die volkswirtschaftlichen Schäden, die bei Hochgeschwindigkeitsfahrten in Kauf genommen werden müssen: höheres Sicherheitsrisiko mit mehr Verkehrstoten und -verletzten, mehr Streß für die beteiligten Menschen, höherer Energieaufwand, mehr Emissionen. ({0}) - Sehr geehrter Herr Minister, es geht hier um ein Thema, das insbesondere von Ihnen immer wieder angesprochen wird. ({1}) - Herr Minister Krause, ich habe Verständnis dafür, daß Sie auf Grund bestimmter tagespolitischer Ereignisse jetzt nicht zuhören können. Doch bitte ich Sie, da es jetzt um Ihr Thema geht, ein Thema, das die Menschen in diesem Land berührt, nach vorn zu kommen. ({2}) Herr Minister, wir warten immer noch auf Sie. Es ist auch ein Gebot der Höflichkeit und der Fairneß, daß Sie hier erscheinen. ({3}) Meine Damen und Herren, die abenteuerlichen argumentativen Verrenkungen der „No-Limit-Lobby" zeigen, daß angesichts der drückenden Flut von Fakten für ein Tempolimit nach dem letzten, dem wirklich letzten Strohhalm gegriffen wird. So ist angeblich der Exporterfolg der deutschen Automobilindustrie in Gefahr, wenn deren Rennmodelle nicht mehr den Härtetest auf limitlosen deutschen Autobahnen nachweisen können. ({4}) - Ich hätte nichts dagegen, wenn die Kommunikation zwischen Präsidium und Abgeordneten aufhörte, damit ich meine Rede ungestört fortsetzen kann. ({5}) - Nein, der Präsident ist nicht gemeint.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Die notwendige Ruhe wird hergestellt.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich bei Ihnen. Wer hindert eigentlich unsere Automobilbauer daran, ihr hohes technologisches Wissen und ihre Kreativität in komfortable, hochsichere und verbrauchsarme Kraftfahrzeuge zu stecken, die auf dem Weltmarkt ihresgleichen suchen und zum Exportschlager deutscher Wertarbeit werden können? Das ist doch die Aufgabe der Zukunft! ({0}) Statt dessen wird daran getüftelt, wie sich die Motorleistung ab 240 km/h drosseln läßt. Es ist schon erstaunlich, wie selbstverständlich ein ganzer Industriezweig über den öffentlichen Straßenraum und die Gesundheit der betroffenen Menschen verfügt, abgeschirmt von einer Bundesregierung, die in Sachen Tempolimit weltweit den Saurier spielt. Wo politische Vorgaben fehlen, fällt gewöhnlich die Orientierung schwer. Die letzte IAA in Frankfurt hat dies sehr deutlich gezeigt: Die Automobilindustrie treibt mangels politischer Ziele seltsame Blüten und torkelt konzeptionslos zwischen Öko-Auto-Schnickschnack und neuen „SSS"-Modellen: schneller, schwerer, Spritfresser. Dabei ist doch jedem Kind klar, daß der Automobilverkehr der Zukunft der individuellen Entfaltung mittels Geschwindigkeit immer weniger Raum bieten wird - selbst wenn man das bedauert. Immer mehr Kraftfahrzeuge in unserem dichtestbesiedelten Land schaffen Fakten, zwischen denen die Träume eines Asphaltcowboys keinen Platz mehr haben. Meine Damen und Herren, die Automobilindustrie fiebert förmlich nach verläßlichen politischen Vorgaben, nach verkehrs- und umweltpolitischen Rahmenbedingungen für ihre zukünftige Modellpolitik. Die Hintergrundgespräche der SPD-Fraktion mit Vertretern der deutschen Automobilindustrie haben es gezeigt: Die Automobilindustrie wartet auf Hilfestellungen, auf Fakten, die von der Politik vorgegeben werden sollen. Sie hofft auf die Hilfe der Politik, um wirtschaftlichere und umweltgerechtere Fahrzeuge im Markt durchsetzen zu können. Das ist die Frage; darum geht es hier! Trotz alledem scheint es, als wollte die Bundesregierung die Tempofrage am liebsten wie das Tabakrauchen behandeln: Unter dem doppelten Heckspoiler eines auf 220 km/h getrimmten Kleinwagens wird ein kleiner Aufkleber mit dem Aufdruck „Autofahren kann Ihre Gesundheit gefährden - der Bundesverkehrsminister und der Bundesumweltminister" angebracht. ({1}) Meine Damen und Herren, wer einmal bei unseren europäischen Nachbarn oder in den Vereinigten Staaten von Amerika längere Strecken mit dem Auto gefahren ist, muß den Segen eines Tempolimits förmlich gespürt haben. Man kann im doppelten Sinne des Wortes „beruhigt" fahren. Weil es keine hohen Geschwindigkeitsdifferenzen zwischen den einzelnen Fahrzeugen gibt, fährt man in einer entspannten Atmosphäre und kann sich selbst bei dichteren Verkehrslagen jederzeit leicht und sicher auf Veränderungen einstellen. ({2}) Das wird auch mit der Zeit jene Bleifußdynamiker überzeugen, die heute noch glauben, sie hätten einen Vorteil, wenn sie zwischen Frankfurt und München mit viel Gas und Lichthupe eine halbe Stunde Fahrzeit einsparen. ({3}) Warum, meine Damen und Herren, fällt es uns Deutschen so schwer, in dieser Frage Vernunft zu zeigen. Entschuldigung, ich muß mich korrigieren. Ich meine nicht die deutsche Bevölkerung; denn da wissen wir ja bereits durch Umfragen, daß die Mehrheit für ein Tempolimit ist. Man muß diese Frage an die Bundesregierung richten. Die Kraftwerksemissionen haben wir im europäischen Vergleich - auch mit Ihrer Hilfe - beispielgebend reduziert; auch bei der Abwasserreinigung sind wir federführend. Aber, meine Damen und Herren: Ohne Tempolimit behindern wir EG-weite Einigungen auch in anderen Umweltfragen. Meine Damen und Herren, man muß sich folgendes vorstellen: Der Bundeskanzler richtet einen sogenannten Nationalen Rat ein, wir bereiten die Weltklimakonferenz 1992 vor, sind aber nicht bereit, am heutigen Tage auch mit eigener Kraft etwas zu tun, um Schadstoffe zu begrenzen. Schauen Sie sich einmal die heutige Tagesordnung in den Punkten 9 und 10 an. Man muß schon fast einen Glückwunsch aussprechen, wenn jemand versucht, darzustellen, wie unglaubwürdig die Mehrheit dieses Parlaments ist. Sie fordert von Dritten und Vierten etwas, ist aber nicht bereit, mit eigener Kraft, mit Mehrheit hier zu beschließen, daß es zu einem Tempolimit kommt. Durch ein Tempolimit könnten von sofort an erhebliche Emissionen weggewischt werden. Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen einige Zahlen nennen: Bei Tempo 120 auf unseren Autobahnen würden jährlich 410 000 Tonnen Kraftstoff gespart, 30 000 Stickoxide und 1,3 Millionen Tonnen Kohlendioxid weniger in die Luft geblasen; bei Tempo 90 auf Landstraßen würden ca. 250 000 Tonnen Kraftstoff und 1 Million Kohlendioxid gespart; bei Tempo 30 in allen Wohngebieten würden 140 000 Tonnen Kraftstoff und 400 000 Tonnen Kohlendioxid gespart. Summa summarum könnten mit einem Federstrich in der Bundesrepublik pro Jahr mehr als 1 Million Tonnen Kraftstoff und 3 Millionen Tonnen Kohlendioxid entfallen, wenn man unseren Vorschlag, die Lkw-Höchstgeschwindigkeit mit Geschwindigkeitsreglern und elektronischen Fahrtenschreibern wirksam durchzusetzen, noch hinzurechnet. Dies könnte mit einem Federstrich geschehen, meine Damen und Herren. ({4}) Aber, meine Damen und Herren, wir geben die Hoffnung - das prägt die Menschen - ja nicht auf. Während unser Verkehrsminister bei den Promillegrenzen dogmatisch bleibt und ihm die Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen schnurzegal ist, während sich unser Umweltminister nach wie vor nicht so recht an die Sache herantraut und nur gelegentlich in großformatigen Zeitungen andeutet, man könnte mit der SPD darüber reden - es gibt ein „Zeit" -Interview, das jedoch nächste Woche wieder widerrufen wird -, heute morgen im Rundfunk wurde das gleiche wieder formuliert, weiß man nicht, wer sich da durchsetzt: der amtierende Verkehrsminister oder der redende Umweltminister? Diese Frage ist ein bißchen offen. Aber heute besteht ja die Möglichkeit, daß wir hier eine Entscheidung treffen. Meine Damen und Herren, ich sagte, es zeichnet sich eine - wohlgemerkt - Koalition der Vernunft ab. Hier sehe ich, Herr Kollege Müller, die Möglichkeit eines Zusammenarbeitens mit der CSU. Man höre und staune: Dort gibt es einen Umweltarbeitskreis. Dieser Umweltarbeitskreis der CSU formuliert nicht nur deutlich, sondern schreibt sogar nieder, er sei der Auffassung, ein Tempolimit müsse her. ({5}) So bröckelt langsam die Front derjenigen, die unverdrossen der Fiktion der freien Fahrt in einer Zeit nachhängen, meine Damen und Herren, in der die Freiheit des fahrenden Bürgers oft nur noch darin besteht, sich aussuchen zu können, auf welcher Radiowelle er den Stau, in dem er gerade festsitzt, angesagt bekommen möchte. Gottlob sind die Tage gezählt, die die Bundesrepublik als einziger Industriestaat der Welt ohne Tempolimit zubringen muß. Denn die Vernunft, meine Damen und Herren, wird sich durchsetzen. Es bleibt nur noch die Frage an die Kollegen und Kolleginnen der Koalition, wann und wie sie den Absprung schaffen und von der Parole „Freie Fahrt für freie Bürger" zu der Devise „Reisen statt rasen" kommen. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Abgeordneten Dirk Fischer das Wort.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Restriktive Regelungen des Staates bedürfen einer rationalen Begründung, damit Bürgerinnen und Bürger sie akzeptieren. ({0}) Sie dürfen, wenn man die Dinge überprüft, in Wahrheit nicht mehr Schaden als Nutzen stiften, und die Probleme müssen im Verbund und dürfen nicht nur sektoral betrachtet werden. Das sind die Vorgaben, sich diesem Thema in einer vernünftigen Weise zu nähern. Wenn ich das Ergebnis vorwegnehme, würde ich das Zitat aus dem ersten Satz der Begründung des SPD-Antrags, wenn es auf den richtigen Stand gebracht würde, wie folgt formulieren: Geschwindigkeitsbeschränkungen erhöhen die Verkehrssicherheit nicht, senken den Schadstoffausstoß nur minimal und tragen kaum dazu bei, Energie zu sparen. ({1}) Wieviel kann bei uns auf den Straßen überhaupt in sogenannter freier Fahrt gefahren werden? Das Gesamtnetz hat eine Länge von 626 000 km, davon 10 700 km Autobahn. Das ist ein Anteil von 1,7 %. Für 5 500 km gilt kein Tempolimit. Das heißt, wir unterhalten uns hier über ganze 0,8 % des gesamten öffentlichen Straßennetzes in Deutschland, das nicht geschwindigkeitsbeschränkt ist. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schütz?

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Fischer, stimmen Sie mit mir überein, daß es nicht auf den Umfang des Netzes ankommt, sondern auf den prozentualen Anteil des Verkehrs darauf? Und hier liegt es anders. Da haben wir 30 % zu 70 %.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist nicht dargelegt. Die Zahlen, die ich angeführt habe, machen deutlich, über welchen Netzanteil und welches Problem in welcher Dimension wir überhaupt reden, während Sie den Eindruck erwecken, daß wir es hier mit einem umfassenden Problem der Bundesrepublik Deutschland zu tun haben. Das Gegenteil ist richtig.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Lennartz? - Bitte.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß von 100 km, die insgesamt gefahren werden, 27 km auf Autobahnen gefahren werden, daß von 10 Litern pro 100 Kilometer, die verbraucht werden, 3 Liter auf Autobahnen verbraucht werden? Ist Ihnen bekannt, daß auf den von Ihnen angesprochenen 5 500 km Autobahn der CO2-Ausstoß überproportional hoch ist, und ist Ihnen bekannt, daß es dort den höchsten Stickoxidausstoß gibt? Sind das Zahlen, die Ihnen bekannt sind?

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, wenn Sie aufmerksam zuhören würden, würden all diese Fragen von mir in meinem weiteren Beitrag beantwortet werden. Aber Ihre Frage ist ein gutes Beispiel für eine rein eindimensionale und sektorale Betrachtung. Denn ich sage: Gott sei Dank werden fast 29 % aller Fahrleistungen auf ganzen 1,7 % des Netzes abgewickelt. Dabei sind die Autobahnen die sichersten Straßen. Wenn wir die nicht hätten, hätten wir eine Unfallbilanz wie zu Zeiten einer SPD-Regierung im Jahre 1970, ({0}) Dirk Fischer ({1}) als wir bei viel weniger Straßenkilometern, bei einem viel geringeren Kfz-Bestand und, Herr Kollege Lennartz, bei viel geringeren Fahrleistungen fast 20 000 Verkehrsunfalltote hatten; heute sind wir bei einem Drittel dieser Zahl. Deswegen kann ich nur nachhaltig davor warnen, dieses Thema eindimensional zu betrachten, wie das die SPD tut. ({2}) Meine Damen und Herren, unser Problem ist, daß sich die jährliche Fahrleistung nicht gleichmäßig auf alle Strecken verteilt. Wenn bei geschätzten 25 % Autobahnfahrleistung weitgehend freie Fahrt möglich ist, sind das knapp 1 000 km. Nicht alle wollen schneller fahren. ({3}) Nach Einschätzung der BASt nutzen 60 % diese Möglichkeit. Das heißt, es werden durchschnittlich 600 Kilometer, also 4 % bis 5 % der Jahresfahrleistung eines Pkw, schneller als mit der Richtgeschwindigkeit 130 gefahren. Aus anderen Quellen ergibt sich einschließlich kurzzeitig schnellerer Fahrt ein Gesamtanteil von 700 bis 800 Kilometer. Aber auch das sind nur 6 % der Jahresfahrleistung. Ein Pkw wird im Jahr durchschnittlich zwischen 250 und 300 Stunden betrieben. Rund fünf Stunden davon wird er mit Geschwindigkeiten über 130 km pro Stunde gefahren. Das sind ganze 2 % der Jahresnutzungsdauer. Das ist die Dimension, über die wir reden. ({4}) Dort wird Ihr umfassender Beitrag, den Sie behaupten, zu erbringen sein. Die erste Folgerung, die ich ziehe, ist: Es geht hier nicht um wirkungsvolle Politik, sondern um einen Popanz, der bei der SPD besonders stark ausgeprägt ist. ({5}) Der Präsident des Kraftfahrt-Bundesamts in Flensburg, Herr Barth, hat gesagt: „In der Regel wird nicht so schnell gefahren, wie weithin angenommen wird. Wenn es die Straßen- und Verkehrsverhältnisse zulassen, daß man ohne Gefahr auch einmal schneller fahren kann, dann sollte das nicht durch Reglementierung unterbunden werden." ({6}) Verkehrsregeln werden - die Nachbarn haben es ja vorgemacht; Herr Lennartz, Sie wohnen viel zu dicht an den Niederlanden, um das zu ignorieren - nur dann dauerhaft befolgt, wenn sie auch einsehbar sind. Ohne Akzeptanz durch die Autofahrer sind sie kaum durchzusetzen. ({7}) Die Niederlande haben die Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h wieder auf 120 km/h angehoben, weil trotz intensiver Kontrollen nur 20 % der Verkehrsteilnehmer Tempo 100 überhaupt akzeptiert und beachtet haben. ({8}) Tempo 100 auf dem Kölner Autobahnring brachte ähnliche Erfahrungen. Trotz intensivster Radarkontrollen wurde das Tempolimit von mehr als der Hälfte der Autofahrer überschritten. ({9}) Ich kann nur sagen: Ich bin es mittlerweile leid, ({10}) die von Herrn Dr. Antwerpes, dem Regierungspräsidenten von Köln, ({11}) immer wieder in der Öffentlichkeit behaupteten f al-schen Zahlen durch Briefe zu widerlegen. Ich schreibe ihm keinen Brief mehr. Ich nehme nur zur Kenntnis, daß es Methode bei ihm hat, mit Horrorzahlen, die in der Regel 100 % höher als die wirklichen Zahlen sind, zu hantieren. Ich lehne es ab, mich damit überhaupt nur auseinanderzusetzen. Der Abgasgroßversuch 1984/85 lieferte ähnliche Erkenntnisse. Untersuchungen belegen, daß ein Zuviel an Regeln und nicht einsehbare Vorschriften sogar Verstöße provozieren. Ziel der Verkehrsvorschriften muß es sein, den umsichtigen, mitdenkenden Autofahrer zu unterstützen. Daß sich die Autofahrer zunehmend korrekter und verkehrsgerechter verhalten, belegt die Statistik; denn obwohl immer mehr gefahren wird, ist die Zahl der Verurteilungen wegen Vergehen im Straßenverkehr seit 1980 um rund ein Viertel zurückgegangen. Ich möchte an der Stelle - das könnten wir einmal an anderem Orte diskutieren - fragen: Wer sitzt eigentlich in den Autos drin? ({12}) Sie tun so, Herr Lennartz, als ob in den Autos, die auf unseren Straßen fahren, keine SPD-Wähler drin sitzen; denn die möchten Sie mit den Formulierungen, die Sie hier gebraucht haben, doch wohl nicht belegen. ({13}) Dies ist doch ein Ammenmärchen. Meine Damen und Herren, der vernünftige Autofahrer, einschließlich der SPD-Wähler als Autofahrer, ist also keine Utopie, sondern Realität. ({14})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten von Larcher?

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte jetzt im Zusammenhang sprechen. Dirk Fischer ({0}) Die Frage der Überwachung ist angesprochen worden. Die Überwachung muß sicherlich verstärkt werden. Wir wollen keinen Überwachungsstaat. Dies ist weder politisch gewollt noch personell oder finanziell machbar. Aber die Länder müssen wissen, daß ihr Vollzugsdefizit nicht durch den Ruf nach schärferen Gesetzen aus Bonn ausgeglichen werden kann. Verkehrsverhältnisse, Witterung, Tag oder Nacht sowie Topographie lassen für den - ({1}) - Herr Präsident, vielleicht kann man mal klären, ob ich das Wort habe oder der Kollege, der dort Dauerberieselung macht.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Wir wollen uns darauf verständigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß überwiegend der Kollege Fischer das Wort hat. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gern bereit, den Kollegen, wenn er unter Hochdruck steht, zunächst reden zu lassen, und würde mich dann anschließen. Höflichkeit ist bei uns in der Fraktion sehr ausgeprägt, meine Damen und Herren. Diese unterschiedlichen Verhältnisse lassen für den verantwortungsbewußten Fahrer ein Ausfahren seines Wagens bis zur technischen Höchstgeschwindigkeit immer seltener zu. ({0}) Die Unfälle auf unseren Autobahnen sind weniger eine Frage der ausgefahrenen Höchstgeschwindigkeit als vielmehr eine Frage der der Situation nicht angepaßten Geschwindigkeit. ({1}) Fälschlicherweise werden Unfälle durch nicht angepaßte Geschwindigkeit oftmals mit Hochgeschwindigkeitsunfällen verwechselt und gleichgesetzt. Zwar sind fast 30 % sämtlicher Außerortsunfälle mit Personenschäden einer nicht angepaßten Geschwindigkeit zuzuschreiben, aber nur in 8,2 % der Fälle wurde auch die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Das heißt, bestenfalls 2,3 % sämtlicher Außerortsunfälle fallen in einen Geschwindigkeitsbereich, der durch Tempolimit beeinflußt werden könnte. Ich sage hier ausdrücklich: Es gibt Verkehrssituationen, vor allem bei Nebel, bei denen 30 km/h als Geschwindigkeit schon zuviel sind. Ein generelles Tempolimit - zweite Folgerung, meine Damen und Herren - wird Fahrer, die nicht verantwortungsbewußt handeln, ohnehin nicht zur Verhaltensänderung bringen. Da müssen wir andere Maßnahmen überlegen. ({2}) Der mehrjährige Großversuch hat bei uns dazu geführt, daß es seit dem 1. Dezember 1978 eine Richtgeschwindigkeitsempfehlung von 130 km/h gibt, und wir haben in Wahrheit eine Durchschnittsgeschwindigkeit auf den deutschen Autobahnen von 112 km/h. Anderslautende Angaben, die überall behauptet werden, sind durch Messungen nicht belegt. ({3}) Die mit Abstand günstigste Verkehrsunfallentwicklung haben wir auf unseren Autobahnen. Auf 1,7 des Netzes, mit fast 29 % der gesamten Fahrleistung - eine sensationelle Bündelung ({4}) haben wir nur 6 % der Unfälle mit Personenschäden. ({5}) Das heißt, wir haben auf den Autobahnen eine um vieles günstigere Unfallbilanz als im anderen System. Die Autobahnen sind siebenmal sicherer als die übrigen Außerortsstraßen, vierzehnmal sicherer als die Innerortsstraßen. Unser Verkehrsunfallproblem ist der Innerortsverkehr. ({6}) Deswegen sage ich: Laßt Ortsumgehungen bauen, damit der Durchgangsverkehr aus den Ortschaften herauskommt, weil dieses den größten Effekt hätte. ({7}) Meine Damen und Herren, punktuelle Geschwindigkeitsbegrenzungen zu örtlichen Gefahrenlagen bringen etwas: die Aufmerksamkeit wird durch eine differenzierende Regelung erhöht. Im übrigen schauen Sie sich einmal die deutschen Autobahnen an - wie Sie gesagt haben, das einzige Land ohne generelles Tempolimit - und dann die Zahl der Getöteten von Frankreich, Italien, Niederlande, Österreich, USA und Japan. Wir liegen an der Spitze - an der Spitze - : 6,5; USA 15,9, Österreich 15,7 je Milliarde Fahrzeugkilometer. ({8}) Auch dieses macht deutlich, daß Sie hier einen Popanz aufbauen, der durch Zahlen nicht belegt ist. ({9}) Wenn Sie die Bündelung kaputt machen würden, dann würden Sie dazu beitragen, daß die Gleichung längerer Weg - schneller gefahren - kürzere Ankunftszeit zerstört würde. Die Leute würden den kürzeren Weg nehmen. Sie würden also in die Außerortsstraßen gehen, sie würden durch die Ortschaften gehen. Ich kann nur sagen: Ersparen Sie uns dies bitte, weil wir in der Verkehrsunfallbilanz deutlich zurückfallen würden! Eine Verlagerung des Verkehrs in das nachgeordnete System wäre eine einzige Katastrophe. Vierte Folgerung. Durch Verkehrsverlagerungen auf das nachgeordnete Straßensystem würde der Verkehrssicherheit ein völliger Bärendienst erwiesen werden. Gleichzeitig würden Abgasemission und Kraftstoffverbrauch bei einem geringeren Tempolimit nur marginal verringert. Ich habe hier Ausrechnungen - die ich Ihnen gerne überreichen kann, die ich Dirk Fischer ({10}) aber wegen der Kürze der Zeit nicht alle vortragen kann - , die dieses eindeutig belegen. Fünfte Folgerung. Es zeigt sich eindeutig, daß die Einführung eines Tempolimits weder für die gesetzlich limitierten Emissionskomponenten CO, HC, NOX noch für die diskutierte Klimaproblematik bzw. zur Energieeinsparung einen signifikanten Beitrag liefern würde. ({11}) Zur Lärmbelastung würde dieses auch nicht beitragen. Auf Autobahnen ist dieses fast ausschließlich auf den starken LKW-Verkehr zurückzuführen. ({12}) Der Pkw-Verkehr spielt hierbei eine völlig untergeordnete, unbedeutende Rolle. Wir setzen auf moderne Technik. ({13}) Umweltschutzgründe bieten keinen Anlaß, das Tempolimit einzuführen. Das ist das eindeutige Ergebnis des Abgasgroßversuches. Die Bundesregierung hat auf moderne Technik gesetzt. Sie hat 1983 richtig entschieden. Wir werden die Technik fortentwickeln und dadurch weniger Emissionen und einen geringeren Kraftstoffverbrauch ermöglichen. Für ein Tempolimit auf Autobahnen oder eine Absenkung des bestehenden Tempolimits auf anderen Außerortsstraßen besteht weder aus Gründen der Verkehrssicherheit noch aus Gründen des Umweltschutzes eine zwingende Notwendigkeit. Meine Damen und Herren, ich schließe mit einem Zitat, dessen Auffindung ich Sebastian Haffner verdanke: Ihr Arbeiter werdet einst im eigenen Wagen fahren, auf eigenen Schiffen touristisch die Meere durchkreuzen, in Alpenregionen klettern und schönheitstrunken durch die Gelände des Südens, der Tropen streifen, auch nördliche Zonen bereisen. Oder Ihr saust mit Eurem Luftgespann über die Erde im Wettflug mit den Wolken, Winden und Stürmen dahin. Nichts wird Euch mangeln, keine irdische Pracht der Erde gibt es, die Euer Auge nicht schaut. Was je nur Euer Herz ersehnt, was Euer Mund erwartungsschauernd in stammelnde Worte gekleidet, da habt Ihr das leibhaftige Evangelium des Menschenglücks auf Erden! - Und fragt Ihr, wer Euch solches bringen wird? Nun einzig und allein der sozialdemokratische Zukunftsstaat! Dieses im blumigen Stil seiner Zeit ein Flugblatt, das die SPD am 1. Mai 1904 in Hannover zirkulieren ließ. ({14})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile nunmehr das Wort der Frau Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung, die etwas weniger mit dem Thema zu tun hat. Hakenkreuze, „Sieg Heil" und andere eindeutig profaschistische Losungen an der U- Bahn-Station des Bundeshauses zeigen einmal mehr, daß eine Verharmlosung rechtsradikaler, faschistischer und ausländerfeindlicher Tendenzen in diesem Land, wie das z. B. leider in den Beiträgen des Abgeordneten Klinkert und des Bundesinnenministers Schäuble am Mittwoch zum Ausdruck gekommen ist, nicht zugelassen werden darf. Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich zu handeln. Es gilt noch immer: Wehret den Anfängen!

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Dr. Dagmar Enkelmann, dies gehört nicht zum Thema. Sie müssen zum Thema sprechen. - Bitte!

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

U-Bahnen haben auch irgendwie mit Verkehr zu tun. ({0}) Aber ich komme zum Thema: Natürlich haben die Gegner der Einführung eines Tempolimits recht: Die bestehenden Probleme werden damit nicht gelöst. Die Lösung der Probleme setzt eine generelle, eine fundamentale Änderung der Verkehrspolitik und komplexe gesamtgesellschaftliche Veränderungen voraus. Die Einführung der vorgeschlagenen Geschwindigkeitsbeschränkungen sind aber ein möglicher Beitrag, die bestehenden vielschichtigen Probleme zu entschärfen und eine weitere Zuspitzung zu verhindern. Erstens zur Verkehrspolitik. Herr Minister Krause, verkehrspolitisch ist dringend ein neuer Ansatz erforderlich. Als Stichpunkte dafür seien genannt: wirksame Maßnahmen zur Dämpfung der Verkehrsnachfrage, u. a. durch Senkung der Mobilitätsanforderungen; konsequente Verlagerung des Güterfernverkehrs von der Straße auf Schienen und Wasserwege; Begünstigung des öffentlichen Personennah- und -fernverkehrs gegenüber dem Auto. Das aber heißt eben Abkehr von einer Politik der Bevorteilung der Automobillobby, wozu konservativliberale Kräfte in diesem Lande aber offenkundig nicht bereit sind. Diese argumentieren mit Umsatzzahlen und lobpreisen das schnelle - natürlich am besten deutsche - Automobil und schlagen zur Bewältigung der immer häufigeren Staus logistische Verbesserungen vor. Abgesehen von der Realitätsferne eines solchen Vorschlages - wie viele Schilder, Ampeln oder sonstige Signale wollen Sie denn auf Bundesautobahnen anbringen, Herr Kollege Fischer? -, berücksichtigt dieser Modus in keiner Weise andere damit in Zusammenhang stehende Probleme, wie Unfallgeschehen, Umwelt- und Energieverbrauch und die, die sich aus dem europäischen Einigungsprozeß ergeben. Auch wird unterstellt, daß die freie Wahl der Geschwindigkeiten eine höhere Verstetigung des Verkehrsflusses zur Folge habe. Das aber ist einer der vielen Denkfehler des Bundesministers für Verkehr und anderer. Verstetigigung ergibt sich viel eher aus der Senkung der Differenzen der Geschwindigkeiten der Verkehrsteilnehmer. Das Unfallgeschehen ist auch so ein Streitpunkt. Natürlich sind sichere Autos eine Maßnahme, Unf all-folgen zu mindern. Noch besser allerdings ist es, die Unfallhäufigkeit überhaupt zu senken, insbesondere die mit Personenschaden bzw. mit Todesfolge. Allein auf brandenburgischen Straßen starben in den ersten sieben Monaten dieses Jahres 503 Menschen, fast 200 mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. ({1}) Das relativiert wohl einiges, was Sie vorhin über das Unfallgeschehen gesagt haben, Herr Kollege Fischer. Experten sind sich einig, daß ein Tempolimit, insbesondere in den Wohngebieten, die Schwere der Unfälle senken wird. Wer es mit dem Schutz des menschlichen Lebens ernst meint, sollte also etwas tun, damit auf bundesdeutschen Straßen weniger abgetrieben wird. Zweitens zur Umweltpolitik: Der Verkehrsbereich gehört zu den größten Umweltverschmutzern. Ihm allein werden etwa 20 % des Kohlendioxidausstosses zugerechnet. Berechnungen des Bundesumweltamtes sagen aus, daß bei Tempo 120 gegenüber der Richtgeschwindigkeit von 130 Kilometer pro Stunde auf bundesdeutschen Autobahnen Schadstoffminderungen bei Kohlenmonoxid von 21 %, Stickoxiden von 12 % und bei Kohlendioxid von 10 % zu erreichen sind. Herr Kollege Fischer, auch diese Zahlen sprechen für sich. Aber selbst geringere Senkungsraten würden schon für die Einführung des Tempolimits sprechen. Wem der Wald tatsächlich am Herzen liegt, sollte unter den Fürsprechern eines Wandels des Temporausches auf unseren Autobahnen zu finden sein. Drittens noch einige wenige Bemerkungen zum europäischen Einigungsprozeß. Immer wieder sind fast euphorische Töne in bezug auf den europäischen Einigungsprozeß zu hören, besonders dann, wenn sich bundesdeutsche Unternehmer und Politiker dabei Vorteile ausrechnen. Wieviel Ignoranz und altbekannte Überheblichkeit werden aber deutlich, wenn Empfehlungen und Erfahrungen der europäischen Nachbarn gerade in bezug auf die Tempolimitierung in den Wind geschlagen werden? - Die Bundesrepublik ist weltweit das einzige Land, in dem es keine Beschränkung der Geschwindigkeit auf Autobahnen gibt. Das sollte doch, so will ich meinen, zu denken geben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist der Herr Abgeordnete Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) Wir debattieren heute über einen Antrag der SPD, ({1}) durch Geschwindigkeitsbegrenzungen - man sollte vielleicht genauer sagen: durch eine Verschärfung der bestehenden Geschwindigkeitsbegrenzungen - mehr Umweltschutz, mehr Verkehrssicherheit und mehr Lebensqualität zu erreichen. Ganz abgesehen davon, daß eine Globallösung all dieser Probleme mit einer Maßnahme ungefähr die gleiche Wirkung hat wie die Pille, die vom Fußpilz bis zum Haarausfall so ziemlich gegen alles wirkt, sollte man sich erst noch einmal den momentan gültigen Sachstand zum Thema „Geschwindigkeitsbegrenzungen" bei uns vor Augen führen, bevor man mit plakativen Forderungen um sich schlägt. ({2}) Vom gesamten Straßennetz der alten Bundesländer - meine Damen und Herren, das sind ca. 500 000 Kilometer - unterliegen bereits 98,6 % , man höre und staune, ({3}) einer Geschwindigkeitsbeschränkung. ({4}) - Ich habe gesagt: alte Bundesländer. Das ist die Einschränkung, die der Kollege Fischer nicht gemacht hat. Ich bitte doch zuzuhören. Die Geschwindigkeitsbeschränkung liegt bei 50 km/h innerorts, 100 km/h auf Landstraßen; in vielen Städten haben wir bereits die unselige 30-Kilometer-Zone. Ich sage „unselig", weil ich in einer solchen wohne, die ohne Rückbau läuft, mit dem Ergebnis, daß sich niemand daran hält. Dazu können wir später noch kommen. Ich füge hinzu: In den alten Bundesländern sind lediglich 8 700 Kilometer Autobahn grundsätzlich ohne Tempolimit, wobei auch auf diesen Strecken ungefähr ein Fünftel durch örtliche Gegebenheiten, durch Baustellen mit einem Tempolimit versehen sind. Die rund 2 000 Kilometer Autobahn in den neuen Ländern sind sowieso von einem Tempolimit belegt, nämlich mit 100 Stundenkilometern, so daß gut ein Drittel der Autobahnen ebenfalls mit Geschwindigkeitsbeschränkungen belegt ist.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Larcher?

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Normalerweise bei meiner ersten Rede nicht, aber bitte.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es tut mir leid, ich wußte nicht, daß es Ihre erste Rede ist. Ich möchte Sie fragen, ob Sie etwas zu den Zahlen sagen können, die unser Kollege zu den Emissionen genannt hat. Stimmen sie, oder können Sie die widerlegen?

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Warten Sie ab, ich bin ja noch nicht am Ende meiner Rede. Ich habe noch einige Minuten Zeit; das kommt schon noch. Darüber hinaus gilt nach mehrjährigem Großversuch, Richtgeschwindigkeit 130 im Vergleich zur Höchstgeschwindigkeit 130, seit dem 1. Dezember 1978 - das hat der Kollege Fischer schon erwähnt - auf Autobahnen und autobahnähnlichen Straßen die Empfehlung, auch bei ansonstigen günstigeren Verhältnissen nicht schneller als 130 km/h zu fahren. Untersuchungen, z. B. von Prognos, haben ergeben, daß bei einer Richtgeschwindigkeit von 130 km/h im Fall des realen Verkehrsablaufes auf Bundesautobahnen eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 114,6 km/h fahrleistungsgewichtet erzielt wird. Eine versuchsweise Einführung eines Geschwindigkeitslimits von 120 km/h im gesamten Autobahnnetz würde eine Reduzierung der durchschnittlichen Geschwindigkeit auf sagenhafte 112 km/h hervorrufen. Wir unterhalten uns also über eine Senkung von 2,6 km/h. ({0}) - Also wissen Sie, ich habe zufälligerweise das Glück, an der A 9 zu wohnen, und habe die Gelegenheit, sowohl die Richtgeschwindigkeit als auch die festen Tempobegrenzungen zu sehen. Dreimal dürfen Sie raten, wo mehr Stauungen und Unfälle passieren. Dabei betrug der Grad der Befolgung der Geschwindigkeitsbeschränkung - das ist wichtig, meine Damen und Herren - ca. 63 %, bei einer weiteren Reduzierung auf 100 km/h würden sich nur noch 26 % der Autofahrer an diese Tempolimits halten. Ich glaube, das steht im krassen Gegensatz zu den Forderungen, die hier seit einigen Tagen gestellt werden. Wenn sich drei Viertel der Bevölkerung ein Tempolimit wünschen, frage ich mich: Wer fährt dann Auto? ({1}) Der Grad der Befolgung der Geschwindigkeitsgebote ist ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung, ob die Maßnahme Sinn macht, z. B. was den Ausstoß von CO2 angeht. Man müßte also, wenn man sie wirklich zum Erfolg bringen möchte, flächendekkend Geschwindigkeitskontrollen einführen. Ich unterstelle, daß selbst die SPD dies nicht will. Sie fügt allerdings in ihrem Antrag hinzu, daß die Länder dafür sorgen sollen, daß das Tempolimit eingehalten wird. In der von mir bereits zitierten Prognos-Untersuchung wurde ermittelt, daß ein normaler Grad der Befolgung der Geschwindigkeitsbeschränkungen eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes durch den Straßenverkehr im Jahre 1987 um eine Million Tonnen - das entspricht 0,8 % - und im Jahre 2005 um 1,9 Millionen Tonnen, was 1,4 % entspricht, jeweils gegenüber dem Nullfall der beiden Jahre ergeben würde. Ich glaube, allein aus diesen Zahlen ergibt sich, daß das Tempolimit in bezug auf die Reduzierung der CO2-Emissionen des Straßenverkehrs nicht die große alleinseligmachende Wirkung erreichen wird. Das Ergebnis des Abgasgroßversuches hat darüber hinaus ergeben, daß bezogen auf NOx selbst beim Tempo 100 auf Autobahnen für die Gesamtbelastungslage nur marginale 1 % als Erfolg bei der Reduzierung der Autoschadstoffe zu erzielen sind. Bei Tempo 120 wären die Ergebnisse kaum meßbar gewesen. Im Hinblick auf die Fortentwicklung der Technik - sparsamere Motoren und bessere Aerodynamik - wären sie heute kaum feststellbar. Hinzu kommt die steigende Anzahl von Fahrzeugen mit gereinigten Abgasen. Der Pkw-Bestand besteht heute bereits zu rund 46 % aus schadstoffreduzierten Pkw. Zirka 20 % des Pkw-Gesamtbestandes der alten Bundesländer hat einen geregelten Drei-Wege-Katalysator. Von den im November 1990 neu zugelassenen Kraftfahrzeugen mit Ottomotor sind rund 97 % mit einem geregelten Dreiwegekatalysator ausgerüstet. Für Otto- und Dieselmotoren zusammen ergibt sich ein Anteil der schadstoffreduzierten neu zugelassenen Pkw von ca. 98 %. Ich füge hinzu: Wenn wir vor einigen Jahren nicht die unselige Krebsgefahrdebatte bei den Dieselfahrzeugen gehabt hätten - es zeichnet sich inzwischen ja ab, daß dieses Gutachten zurückgenommen werden muß - , dann wäre die Bilanz in dieser Hinsicht wahrscheinlich noch besser. ({2}) Nun lassen Sie mich noch zur Verkehrssicherheit kommen. Es ist sicher unbestritten, daß die Zahl der Unfälle 1990 eine steigende Tendenz aufweist. Das Jahr 1990 hat ein Anwachsen der Zahl der Unfalltoten auf Bundesautobahnen in den alten Bundesländern um ein Viertel und insofern eine stärkere Zunahme als auf Außerortsstraßen erbracht. Die Steigerung der Zahl der Unfälle im Jahre 1990 ist allerdings auch auf die besondere Situation der deutschen Einheit, auf deutlich gestiegene Fahrleistungen und insbesondere auf die Anpassungsprobleme der Autofahrer aus den neuen Bundesländern auf den Autobahnen der alten Länder zurückzuführen. Ich verweise da auf die Untermotorisierung durch Trabant oder Wartburg, und ich verweise auch darauf, daß die Ausrüstung mit Wagen westdeutschen Fabrikats am Anfang nicht die beste war. Ich komme aus dem Grenzland, aus Oberfranken. Dort sind alle Ladenhüter, die seit vielen Jahren da standen, nach der Währungsunion blitzschnell aus den neuen Ländern aufgekauft worden. Das hat zweifellos nicht zur Verkehrssicherheit beigetragen. Wenn man aus diesem Sonderereignis allerdings jetzt bereits Schlüsse ziehen wollte, bedeutete dies mit Sicherheit auch, der Gefahr von Fehlschlüssen zu unterliegen. ({3}) Auch der Vergleich in bezug auf Höchstgeschwindigkeiten und der Hinweis auf stärkere Geschwindigkeitsregulierungen im Ausland sind nicht ganz stichhaltig. Die bei der europäischen Konferenz der Ver3802 kehrsminister vorgelegte Statistik für 1989 für die Unfalltoten, gerechnet auf je 1 000 Unfälle mit Personenschäden auf Autobahnen, weist folgende interessante Zahlen auf. Deutschland mit einer Richtgeschwindigkeit von 130 km/h hat 37 Tote zu verzeichnen. In Großbritannien mit einer Höchstgeschwindigkeit von 112 km/h sind es 43. In den Niederlanden mit einer Höchstgeschwindigkeit von damals noch 100 km/h sind es 92. ({4}) In Frankreich mit einer Höchstgeschwindigkeit von 130 km/h sind es 110 Tote. Ich glaube, diese Zahlen sind ein eindeutiger Beweis dafür, daß die bundesdeutschen Autobahnen nach wie vor zu den sichersten Straßen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa zählen. Ein anderes Problem - das wird im Antrag der SPD nicht angesprochen - ist die sogenannte nicht angepaßte Geschwindigkeit. Es passieren mehr Unfälle wegen nicht angepaßter Geschwindigkeit als wegen Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit. ({5}) Fazit: Die FDP kann dem Antrag der SPD so nicht zustimmen. Wir fordern allerdings eine ideologiefreie Diskussion, die einen anderen Verkehrsträger, nämlich die Bahn, nicht nur plakativ fordert, sondern auch tatsächlich unterstützt und einrichtet. ({6}) Dabei, meine Damen und Herren von der SPD, können Sie uns helfen, wenn Sie uns den Art. 87 ändern lassen, und zwar noch in dieser Legislaturperiode. ({7}) Wir brauchen außerdem den Einsatz moderner Verkehrsleitsysteme und einen ÖPNV, der wettbewerbsfähig ist und der, vernetzt und vertaktet, sowohl in den Ballungsräumen als auch in der Fläche den Zubringerverkehr übernimmt, und wir brauchen den Einsatz modernster Technik sowohl für Verkehrsleitsysteme als auch für Verkehrsträger selbst, um das gesteckte Ziel der CO2-Reduzierung tatsächlich zu erreichen. Schaudiskussionen helfen dabei nicht weiter. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der Kollege Friedrich hat bei seiner ersten Rede erstens die Redezeit eingehalten und zweitens auch noch Zwischenfragen und Zwischenrufe überstanden. ({0}) Nun kommt als nächster Redner unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige zu Wort.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist nicht meine erste Rede. Herr Präsident, heißt das, daß ich meine Redezeit nicht einhalten muß? ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bei der ersten Rede ist es immer besonders schwierig.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Richtig. „Viele Gründe für ein Tempolimit" - unter dieser Überschrift erschien am 6. September - Herr Lennartz hat es schon gesagt - in der Wochenzeitung „Die Zeit" eines der eindrucksvollsten Interviews dieses Jahres. Dort hat der Bundesumweltminister mit beispielhafter Konsequenz die Begründung für den heute erstaunlicherweise von der SPD eingebrachten Antrag, der also nicht von der Koalition kommt, gegeben. Das ist für mich erstaunlich, aber ich freue mich darüber, daß er das so gut konnte. ({0}) - Sagen Sie das vielleicht dann, wenn ich zitiert habe, was Herr Töpfer dazu meint. ({1}) Um so verblüffender ist Ihre brüskierende Ablehnung gegenüber dem Begehren der Sozialdemokraten wider die Raserei. Ich habe mir in der letzten Zeit den Vorwurf zugezogen, immer die grünen Gebetsmühlen in Gang zu setzen. Ich werde heute den Bundesumweltminister pur zitieren. ({2}) Herr Töpfer hat in diesem Interview gesagt: Ich glaube, daß wir auch auf den Teilen der Autobahn, auf denen heute noch freie Fahrt gewährt wird, zu einer weiter reichenden Geschwindigkeitsregelung und -begrenzung kommen müssen. Es gibt dafür viele Begründungen. Vor allem: Durch den deutschen und gesamteuropäischen Integrationsprozeß steigt das Verkehrsvolumen drastisch an. Deutschland ist zum Transitland Nummer eins weltweit geworden. Aber es gibt auch umweltpolitische Gründe. Die deutsche Automobilflotte verbraucht bei Tempo 160 die Hälfte mehr Benzin als bei Tempo 120. ({3}) Besser hätten wir das auch nicht formulieren können. Ich glaube, Herr Töpfer hätte, wenn er bei seiner Meinung geblieben ist - vielleicht ist das ja der Fall -, das Zeug zu einem wirklich brauchbaren Verkehrsminister. Ich habe nur die Sorge, daß ihn ein Lob vom Bündnis 90/DIE GRÜNEN beim Kanzler in Ungnade fallen läßt - das ist ja jetzt so Mode - und sich dann in Sachen Verkehr gar nichts mehr bewegt. Die Abgeordneten der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN unterstützen den Antrag der SPD-Fraktion. Einigen Kollegen von uns ist das vielleicht noch nicht ganz genug. Aber ich denke, das ist ein Schritt in die richtige Richtung, in Richtung Vernunft und Umweltschutz. Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, ich hoffe aber auch, daß Sie für die Annahme dieses Gesetzes noch die Bundesratsmehrheit zusammenbekommen. Vielleicht ist die Ablehnung aus Rheinland-Pfalz und Brandenburg, die mir zu Ohren gekommen ist, nur eine vorläufige. Von den Damen und Herren der Koalitionfraktionen wurde in der letzten Zeit die angeblich fehlende Akzeptanz der Tempolimitierung bei der Bevölkerung ins Feld geführt. Wieder schlägt die Wahrheit bei einer Zeitschrift durch. „Auto-Bild" veröffentlichte im September die bisher vom Bundesminister Krause unter Verschluß gehaltenen Umfrageergebnisse. Zumindest nach deren Aussage sind über 60 % der Deutschen für die Geschwindigkeitsbegrenzung, und zwar 56 % im Westen und 89 % im Osten. Bei der Diskussion über die Begrenzung der Geschwindigkeit wird von den Befürwortern des Geschwindigkeitsrausches immer das große Gefühl von Mobilität und Freiheit beschworen. Ich erlaube mir wieder zu zitieren, an dieser Stelle Hermann Lutz, den Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft: Die Sensibilität für den Wert eines Menschenlebens geht zunehmend verloren. Wenn etwa gesagt wird, mit einem Tempolimit würde nicht viel erreicht, allenfalls ein paar hundert Verkehrsopfer weniger, dann frage ich mich schon, was in den Köpfen dieser Geschwindigkeitsfanatiker vorgeht. Nach terroristischen Mordanschlägen wird diskutiert, ob wir die halbe Republik durch Gesetze verändern müssen. Die Verkehrstoten werden dagegen als Tribut an die Mobilität der Gesellschaft einfach hingenommen. ({4}) Sie sollten einfach nur einmal darüber nachdenken, was Herr Lutz damit gemeint haben könnte, und nicht einfach „Quatsch! " sagen. ({5}) Daran habe ich auch am Mittwoch während der Debatte über die Ausländerfeindlichkeit bei manchen Beiträgen denken müssen. Alles in allem bleibt aber noch das Gegenargument, daß sich ja sowieso keiner an dieses Gesetz halten wird. Diesen Eindruck bekommt man tatsächlich. Wenn man auf Ostautobahnen mit Tempo 100 fährt, wird man dauernd von Lkws und Pkws überholt. Man kommt sich wie ein Hindernis vor. Doch wenn wir Gesetze nicht verabschieden sollen, weil sich keiner daran hält, dann werden wir hier sowieso arbeitslos. Sollte die Umsetzung dieses Gesetzes wirklich zusätzliche Kosten oder überhaupt Kosten bereiten, hätte ich eine Idee, wie wir das Geld kurzfristig bekommen könnten. Zwei Wochen konsequente Geschwindigkeitskontrollen in den neuen Ländern, und Sie hätten die Kosten spielend eingefangen. Zwei Wochen konsequente Geschwindigkeitskontrollen in den alten Ländern, und Sie hätten das Geld für den Umzug des Bundestages nach Berlin dazu. ({6}) Wenn diesem Antrag jetzt nicht schon das gesamte Koalitionskollegium zustimmen kann, so erwarte ich doch von den Mitgliedern des Umweltausschusses und der Enquete-Kommission, daß sie so ehrlich sind, hier in diesem Moment als Pioniere für interfraktionellen Umweltschutz ein Zeichen zu setzen. Ich glaube, sie sind moralisch dazu verpflichtet. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Dr. Feige, nur für das Protokoll und damit wir das klarstellen: Wir beraten den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion auf Drucksache 12/616. Ich sage dies, weil Sie zwischendurch von „Gesetzesvorlage" sprachen. Das Wort hat Herr Kollege Steffen Kampeter.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vom Autoverkehr - das sehen wir Umweltpolitiker sehr, sehr deutlich - gehen gravierende Belastungen für unsere Umwelt aus: für Luft, Boden und das Grundwasser. Der Verkehr trägt wesentlich zum Treibhauseffekt bei. Es besteht kein Zweifel, daß beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen der Verkehr eine außerordentliche Belastung darstellt. Trotzdem - dies sage ich als Umweltpolitiker genauso bewußt - ist Mobilität in einer arbeitsteiligen Industriegesellschaft eine unverzichtbare Voraussetzung. Verkehr ist Voraussetzung für Wohlstand, und Wohlstand ist eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung eines technisch hochqualifizierten und damit wirksamen Umweltschutzes. Der Bundesumweltminister Klaus Töpfer hat die klare Vorgabe gemacht, daß in den nächsten Jahren trotz eines weiteren Verkehrsanstieges eine Minderung der Kohlendioxid- und sonstigen Kfz-Emissionen erreicht werden soll. Die klimarelevanten Emissionen betrugen bei CO2 im Jahre 1989 123 Millionen t. Diese sollen bis zum Jahre 2005 im Rahmen des nationalen Reduktionskonzeptes der Bundesregierung um insgesamt 25 % gesenkt werden. Dies ist angesichts der zunehmenden Motorisierung in den jungen Bundesländern eine außerordentlich ehrgeizige Aufgabe, der wir von seiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion volle Unterstützung zusichern. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Meinung, daß die Reduzierung des Zusammenhangs zwischen Umwelt und Verkehr in dem hier vorgelegten Antrag auf die Geschwindigkeitsbegrenzung viel zu kurz greift und auf Grund eindimensionaler Sicht das Problem überhaupt nicht löst. ({0}) Lassen Sie mich einiges aufzählen, was wir für die ökologisierung des Verkehrs erreicht haben. Der Katalysator ist die einschneidendste und für die Umwelt positivste Änderung. Wir werden auf der Umweltministerratstagung im Oktober schärfere Abgasnormen für Pkw und Lkw durchsetzen. Die Kraftstoffe werden schrittweise, aber entschlossen immer schadstoffärmer gestaltet. Heute findet im Deutschen Bundesrat eine Debatte über die Gaspendel- und Saugrüsselverordnungen statt, mit der wir dem Benzol an den Kragen gehen wollen. Ebenfalls wichtig ist die politische Zielvorgabe, daß es zu Beginn des nächsten Jahrtausends zu einer deutlichen Senkung des Flottenverbrauches der Automobile kommen soll. ({1}) - Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie mich ausreden ließen, würden Sie auch noch weitere Elemente unseres erfolgreichen Verkehrs- und Umweltkonzepts hören. Aber das scheint von seiten der Opposition nicht gewünscht zu sein. ({2}) Ich sehe unsere Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft. Ich nenne nur als Stichwort § 40 Satz 2 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Wir wollen diese Verordnung, die unsere Innenstädte schadstoffärmer macht und zu drastischen Einschränkungen des innerstädtischen Pkw- und Lkw-Verkehrs führen kann, als ein scharfes Schwert gegen die Umweltverschmutzung aus dem Verkehr benutzen. Es sind schon mehrfach Untersuchungen des Umweltbundesamts angesprochen worden. In der aktuellen Untersuchung wird festgestellt, daß der Katalysator heute noch immer die beste technische Lösung zur Verringerung von Schadstoffemissionen ist. Aber seine Vorteile sinken mit steigender Geschwindigkeit deutlich. So ergaben erste Auswertungen von Messungen des TÜV beim Anstieg der Geschwindigkeit von 120 auf 145 km/h eine deutliche Zunahme bei Kohlendioxid, Stickoxiden, Kohlenwasserstoff und vor allen Dingen beim Kohlenmonoxid. Diese Untersuchungsergebnisse werden von uns sehr ernst genommen. Wir müssen sie aber vor allen Dingen hinsichtlich ihrer Repräsentativität prüfen, um so Maßnahmen zu diskutieren, die den Kraftfahrer zu einer umweltschonenden Fahrweise bewegen. Dazu gehört unserer Auffassung nach auf den Autobahnen vor allen Dingen eine weiterreichende intelligente Form der Geschwindigkeits- und Verkehrsregelung. Hierzu haben wir im Bundeshaushalt Mittel bereitgestellt. Die Länder rufen diese Mittel allerdings nicht ab. Ich kann auch bei denjenigen, die heute im Bundesrat genau das gleiche Thema, nämlich Geschwindigkeitsbegrenzung, diskutieren, keinen hinreichenden politischen Willen erkennen, das mit den Mitteln, die wir bereitstellen, tatsächlich umzusetzen. Ich komme zum Schluß. Wer die Diskussion über die Umweltbelastung des Verkehrs auf das Tempolimit beschränkt, greift in der Umwelt- und Verkehrspolitik zu kurz. Er nimmt Konzepte von gestern, um die Fragen von morgen zu beantworten. Die Umweltpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßen alle Maßnahmen zur Emissionsverminderung im Straßenverkehr. Die Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre hat dazu sachgerechte Vorschläge erarbeitet. Ein generelles Tempolimit gehört aus guten Gründen nicht dazu. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordneten Elke Ferner.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! „Freie Fahrt für freie Bürger" ist uns noch im Ohr. Die Industrie heult auf und beschreibt den Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen. Im BMV wird ein Abteilungsleiter entlassen, weil er schreibt, was man nicht schreiben darf, nämlich daß es keine ernst zu nehmenden Argumente gegen ein allgemeines Tempolimit gibt. Der Bundesanstalt für das Straßenwesen wird dann noch ein Maulkorb umgehängt. Die Frage entzweit sogar diese Bundesregierung. Der Beschleunigungsminister Krause tritt weiter für die freie Raserei ein. ({0}) Der Ankündigungsminister Töpfer tritt erst für Geschwindigkeitsbegrenzungen ein und wird dann von Krause zurückgepfiffen. ({1}) - Es scheint Sie ja sehr zu treffen, da Sie sich so aufregen. Aber ich wäre dankbar, wenn Sie mir auch zuhören würden. ({2}) Die CSU bzw. der Arbeitskreis Umwelt der CSU öffnet sich allmählich einer Wende in der Verkehrspolitik und fordert ein Tempolimit. Ministerpräsident Teufel - auch er gehört Ihrer Partei an ({3}) sagt in einer Regierungserklärung - ich zitiere - : Die neue Landesregierung wird in eine ernste und offene Diskussion über die Einführung einer Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen eintreten. - Leitlinie: Freie Fahrt für die Vernunft. Stopp der rücksichtslosen Raserei. ({4}) Wir dürfen gespannt sein, ob sich in der Koalition der Drang nach Raserei oder die Vernunft durchsetzen kann. ({5}) Unser Antrag gibt Ihnen Gelegenheit, endlich Farbe zu bekennen. Neueste Unfallzahlen zeigen in dramatischer Weise die Notwendigkeit, ein Tempolimit einzuführen. Für die Autobahnen - sie machen, wie Sie sagten, lediglich 1,7 % des Straßennetzes aus - ist folgendes festzuhalten: Obwohl im Jahre 1990 in den alten Ländern die Gesamtzahl der Verkehrstoten die niedrigste seit Bestehen der Statistik war, ist auf den westlichen Autobahnen die Zahl der Verkehrstoten um 20,3 To gegenüber 1989 gestiegen. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen. Das wäre doch wirklich Grund genug, ein Tempolimit einzuführen. ({6}) Aber es kann doch niemand ernsthaft bestreiten, daß mit steigender Geschwindigkeit die Unfallgefahr mit Verletzungs- und Todesfolge drastisch ansteigt. Das gilt auf der Autobahn und der Landstraße, das gilt natürlich auch in der Stadt. ({7}) Deshalb fordern wir nicht nur: 120 auf Autobahnen und 90 außerorts, sondern auch: in der Regel 30 in geschlossen Ortschaften. - Herr Kollege Fischer, ich hätte mir gewünscht, daß Sie als Hamburger Abgeordneter zu diesem Thema der Geschwindigkeit und Geschwindigkeitsübertretung innerorts ein paar Takte gesagt hätten. ({8}) Wenn für das existierende Leben ebenso konsequent gestritten würde wie gestern für das ungeborene Leben, hätten wir schon lange ein Tempolimit. Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Koalition, können doch nicht ignorieren, daß 25 % aller Todesfälle bei Kindern auf Verkehrsunfälle zurückzuführen sind. ({9}) Schützen Sie existierendes Leben, indem Sie der un-gebremsten Raserei auch und gerade in den Wohngebieten endlich ein Ende bereiten! Auf den Autobahnen ist entscheidend, daß das Maß der Geschwindigkeitsunterschiede die Schwere der Unfälle und ihrer Folgen bestimmt. Es ergibt sich aus den Gesetzen der Physik und der Physiologie: Bei niedrigeren Durchschnittsspitzen und Geschwindigkeitsdifferenzen sinkt die Zahl der Unfälle, und die Schwere der Unfälle nimmt ab. Das ist der Grund für die weltweit bestehenden Tempolimits, und das ist auch der Grund für die in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Geschwindigkeitsbegrenzungen in geschlossenen Ortschaften, auf Landstraßen und Teilen des Autobahnnetzes. ({10}) Das, Herr Professor Krause, sollten Sie als Informatiker doch wohl nachvollziehen können. Logischer geht es nämlich fast nicht mehr. Alle vorliegenden Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, daß eine Dämpfung der Geschwindigkeit und eine Verminderung der Differenzgeschwindigkeit nur zu einem führen kann, nämlich zu Sicherheitsgewinnen. ({11}) Worauf Minister Krause seine Vermutungen über die Wirkungen von Geschwindigkeitsbegrenzungen gründet, bleibt sein Geheimnis. Die Behauptung, ein Tempolimit führe zum sprunghaften Ansteigen der Zahl der Linksfahrer und zu mehr Aggressivität auf den Autobahnen, ist von einem geradezu abenteuerlich niedrigen Stammtischniveau. ({12}) Herr Krause, Sie sagen, es sei nicht vermittelbar, wenn der Bürger nicht die Möglichkeit habe, sonnabends nachmittags etwas schneller zu fahren, um zu seiner Familie zu kommen. Ich will Ihr Bürger- bzw. Bürgerinnen- und Familienbild hier ja nicht kommentieren, ({13}) aber wir wollen doch, daß er oder sie am Samstag sicher ankommt und nicht etwa erst am Dienstag im Sarg. ({14}) Herr Krause, Ihre starre Haltung steht im Gegensatz zu allen verkehrspsychologischen Erkenntnissen. Auch auf das Fahrverhalten hat das Tempolimit positive Auswirkungen. Eine Beschränkung der Spitzengeschwindigkeiten und die Verringerung der Geschwindigkeitsunterschiede führen zu einem homogeneren Verkehrsfluß, ({15}) zu einer ruhigeren Fahrweise und in kritischen Situationen zu mehr Reaktionszeit. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Gefahr von Nebel- und Massenunfällen. ({16}) Darüber hinaus entlastet ein Tempolimit die anerkannt vorsichtiger fahrenden Frauen und älteren Menschen. ({17}) Damit trägt es auch dazu bei, daß ein möglichst hoher Anteil der Bevölkerung Autobahnen angstfrei benutzen kann. Umfragen zeigen außerdem, daß es für Geschwindigkeitsbegrenzungen eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung gibt. Das wissen auch Ihre Beamten, Herr Krause; nur Sie wollen dies nicht wahrhaben. ({18}) Die vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebene Umfrage halten Sie sorgsam unter Verschluß. In dieser Umfrage sprachen sich 56 % der Westdeutschen und 89 % der Ostdeutschen für Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen aus. ({19}) Bleibt die Frage, warum diese Umfrage geheimgehalten wird. Die Antwort scheint zu sein: Es paßt nicht in Ihre Beschleunigungsideologie. Wollen Sie etwa ernsthaft, daß aus vordergründigen ideologischen Gründen das Sterben von Männern und Frauen, von Vätern und Müttern und von Kindern auf den deutschen Autobahnen und besonders in unseren Städten und Gemeinden so weitergehen soll, nur weil unsere Automobillobby angeblich keine Autos mehr verkaufen kann, weil nicht mehr ungehemmt auf diesen Straßen gerast werden kann? Was die Autohersteller anbetrifft, so halte ich sie für fähig, und ich halte sie auch für verpflichtet, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen. ({20}) Das sehen mittlerweile auch führende Manager der Automobilindustrie so. ({21}) Das Panikgeschrei von BMW, die Wettbewerbsfähigkeit sei gefährdet, könnte kaum dümmer sein. Es müßte doch wohl heißen: Gleiche Wettbewerbschancen für alle Autohersteller in Europa! Das müßte dann in der Konsequenz auch heißen: Tempolimit überall in Europa! Aber auch wirtschaftliche Argumente sprechen nicht gegen ein Tempolimit, sondern - im Gegenteil - dafür. Ein Tempolimit erhöht die Leistungsfähigkeit der Autobahnen, spart Sprit, schont die Umwelt und kostet nichts. Statt dessen wollen Sie Verkehrsleitsysteme mit Kosten in Millionenhöhe installieren. ({22}) - Ein Tempolimit wirkt sofort. Wenn Sie unserem Antrag zustimmen und das Gesetz in Kraft ist, wirkt es. ({23}) Fahrzeitgewinne von wenigen Minuten auf mehrere hundert Kilometer können die erschreckend hohe Zahl an Unfalltoten doch nicht rechtfertigen. - Hören Sie doch einmal zu! - Durch diese Unfälle entsteht auch wirtschaftlicher Schaden, von dem Verlust an Menschenleben gar nicht zu reden. Als einziges EG-Land ohne vollständige Tempobeschränkung ist die Bundesrepublik Deutschland in der EG unter großem Druck. ({24}) Sollen Deutschlands Autobahnen das letzte Reservat der freien Raserei in der EG bleiben? Ich denke, das sollten sie nicht. Die Erfahrungen z. B. in Italien zeigen - entgegen dem, was Sie gerade gesagt haben -, ({25}) daß nach Einführung des Tempolimits auf Autobahnen im Sommer 1988 die Zahl der tödlichen Unfälle um 37,5 % zurückgegangen ist. ({26}) Wenn die Verkehrsunfallstatistik bei uns auf Grund eines Tempolimits auch nur um einen einzigen Verkehrstoten zurückgehen würde, dann wäre das allein schon die Sache wert. ({27})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Ferner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fischer?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte die Gedanken in meiner ersten Rede zu Ende führen. Es führt für das europäische Transitland Bundesrepublik kein Weg an einem Tempolimit vorbei. Ich fasse zusammen: Es gibt kein ernstzunehmendes Argument gegen ein allgemeines Tempolimit. ({0}) Wir haben den Streit innerhalb der Bundesregierung zwischen Töpfer und Krause zur Kenntnis genommen. Ich hoffe sehr, daß aus dem AnkündigungsElke Ferner minister Töpfer endlich ein Beschleunigungsminister in Sachen Umwelt und Verkehrssicherheit wird ({1}) und daß der jetzige Beschleunigungsminister Krause mit seiner Aussage, wir bräuchten kein Tempolimit, als Ankündigungsminister enttarnt wird. Das fordert die Verkehrssicherheit, die Wirtschaftlichkeit, die Einigung in der EG, das Energiesparen und der Umweltschutz. Ich hoffe nicht, daß Sie, Herr Krause, in die Annalen der Geschichte als derjenige eingehen werden, den man für weiter steigende Zahlen von Verkehrstoten auf bundesdeutschen Straßen verantwortlich machen wird. ({2}) Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, deshalb: Ersparen Sie Ihrem Minister eine solche Geschichtsschreibung, und stimmen Sie unserem Antrag zu! Seien Sie vernünftig! ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, was ich eben zum Kollegen Friedrich gesagt habe, gilt jetzt natürlich auch für die Kollegin Ferner. Es ist nicht ganz einfach, bei einer großen Zahl von Zwischenrufen hier die erste Rede zu halten. Viele wissen das aus Erfahrung. Nun hat der Herr Bundesverkehrsminister, Dr. Günther Krause, das Wort. ({0})

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Erreichung der mit dem Antrag verfolgten Ziele - mehr Umweltschutz, mehr Verkehrssicherheit und Lebensqualität - sind die geforderten allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzungen nach einheitlicher Auffassung der Bundesregierung ({0}) ungeeignet, unverhältnismäßig und zum Teil kontraproduktiv. ({1}) Das gilt zunächst für die insbesondere für die Autobahnen geforderte allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie ist nach Auffassung der Bundesregierung weder aus Gründen der Verkehrssicherheit noch aus Gründen des Umweltschutzes erforderlich. Ich will das begründen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wetzel?

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Ich gestatte immer eine Zwischenfrage, wenn die Zeit nicht angerechnet wird.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, könnten Sie uns vielleicht den Grund dafür erklären, warum Sie sich - offensichtlich abweichend von den Vorlagen aus Ihrem Haus - über die folgenden Äußerungen Ihres Hauses hinweggesetzt haben? Zum Tempolimit heißt es dort unter dem Punkt „Zusammenfassung" : Nach allen nationalen und internationalen Untersuchungen und Erfahrungen führt ein akzeptiertes ({0}) und überwachtes Tempolimit zu niedrigeren Durchschnitts-, Spitzen- und Differenzgeschwindigkeiten und vermindert damit deutlich die Zahl der Unfälle und in noch größerem Maße die Schwere der Unfallfolgen. Es wird dann im folgenden darauf hingewiesen, daß bei „dem Stellenwert, den diese Frage hat, und der Sensibilität einer evtl. Abwägung zwischen Sicherheit, Umweltschutz und wirtschaftlichen Auswirkungen " es besserer Entscheidungsgrundlagen bedarf, als sie derzeit im BMV aufbereitet sind.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Dr. Wetzel, Sie sollen fragen, keinen Vortrag halten.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe nur zitiert, keinen Vortrag gehalten. - Würden Sie uns bitte den Grund dafür erklären, warum Sie sich über diese Außerungen Ihres Hauses hinweggesetzt haben und offensichtlich zu einer anderen Meinung gekommen sind? ({0})

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Vielleicht können wir - das auch nur nebenbei - uns darauf verständigen, daß der Minister eine eigene Meinung haben darf. Aber ich werde in meinem Gespräch mit Ihnen beweisen, daß sich die Differenzgeschwindigkeiten in akuten Verkehrssituationen nicht nur von der Höchstgeschwindigkeit her, sondern natürlich auch von der angemessenen Geschwindigkeit her berechnen lassen. Ich weiß nicht, ob Sie in die Annalen eingehen wollen mit der Behauptung, Unfälle bei Nebel würden bei einem Tempolimit von 130 km/h beseitigt. ({0}) Dort sind Geschwindigkeiten von 30 bis 50 km/h erforderlich. Das zum Thema Differenzgeschwindigkeit. Ich werde das abhandeln. Richtig ist, daß die Zahl der Unfälle und die Anzahl der tödlich Verletzten auf den Autobahnen im Jahr 1990 gestiegen ist. Dabei müssen aber zwei wesentliche Gesichtspunkte zur Kenntnis genommen werden, bevor man Schlußfolgerungen zieht: Auch auf den Autobahnen sind nicht die höheren und zum Teil über der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h liegenden Geschwindigkeiten Ursache für die meisten Unfälle. Unfallursache ist vielmehr die im Einzelfall, also z. B. bei schlechter Witterung oder bei dichtem Verkehr, nicht situationsangepaßte Geschwindigkeit. Normalerweise sollte man nach der Ursache auch die Wirkung definieren. Hierzu kann ich - im Gegensatz zu Ihnen - aus einer Vielzahl von Ursachen und Erkenntnissen eine für die Antragsteller sicherlich völlig unverdächtige Quelle zitieren. ({1}) Der Bericht einer vom hessischen Minister für Wirtschaft und Technik eingesetzten Expertenkommission über die Perspektiven zur Sicherheit im Straßenverkehr aus dem Jahre 1990 sagt dazu - ich zitiere - : Wir sind grundsätzlich der Auffassung, der Kraftfahrer soll seine Geschwindigkeit regeln, d. h. sie anpassen, statt sich die Geschwindigkeit vom Staat regeln zu lassen. Geschwindigkeitsverhalten fängt zuallererst im Kopf an. ({2}) - Das kann ja ein Thema der Zwischenfrage werden. Zweitens. Ein wichtiger Umstand wird von den Befürwortern eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen aus meiner Sicht völlig übersehen. Wie sich bei entsprechenden Untersuchungen abzeichnet, konzentrieren sich die Unfälle auf Autobahnen im wesentlichen auf einige Schwerpunkte im Autobahnnetz. Es handelt sich also nicht um eine streckenunabhängige generelle Steigerung der Unfallzahlen. Hier ist entsprechend anzusetzen. Dazu liegen entsprechende Untersuchungen vor. Ich kann sie Ihnen auch zustellen. Es ist also keine Lösung des Verkehrssicherheitsproblems, den Autofahrer mit dem Konzept der Antragsteller in der falschen Sicherheit eines allgemeinen Tempolimits zu wiegen, denn, zugespitzt formuliert - ich möchte das hier noch einmal deutlich sagen -, mit 120 km/h in die Nebelbank löst dieses Problem, diesen entscheidenden Schwerpunkt, überhaupt nicht. ({3}) Die Bundesregierung ist vielmehr der Auffassung, daß es erfolgversprechender und sinnvoller als starre Tempolimits ist, dort, wo besondere Gefahren liegen oder die Verkehrsdichte es erfordert, mit rechnergestützten Verkehrsbeeinflussungsanlagen flexibel auf die Faktoren zu reagieren, die die Verkehrssicherheit beeinflussen ({4}) wie z. B. in den genannten Witterungsverhältnissen, im -

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren - einen Moment bitte, Herr Minister -, ich meine, Zwischenrufe sind gestattet, das wissen wir alle, und sie beleben auch die Debatte; aber der Redner muß wenigstens noch zu Wort kommen können und seine Argumente vortragen können. Ich bitte, das zu beachten. ({0})

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Damit wird konkrete Sicherheitsvorsorge betrieben. Gleichzeitig können so der Verkehrsstrom flüssig gehalten und damit Staus und Umweltbelastungen vermieden und schnell abgebaut werden, denn wenn die Nebelbank erreicht ist - mit 120 km/h Höchstgeschwindigkeit erreicht ist - , ist es zu spät. Es muß im Vorfeld der im Volksmund so genannten Nebelbank eine Geschwindigkeitsreduzierung durch entsprechende Verkehrsleiteinrichtungen bereits eingesetzt sein, ({0}) um eine Geschwindigkeit von 30, 40 oder 50 km/h, die dann der Situation angemessen ist, zu realisieren. Das ist der Sachzusammenhang. So halte ich mich an die Grundgesetze über Differenzgeschwindigkeiten. Das ist richtige Politik aus unserer Sicht. ({1}) Ich halte deshalb an dem Programm fest, das für die Verkehrsbeeinflussungsanlagen auf Autobahnen bis 1995 Mittel in Höhe von 550 Millionen DM vorsieht, wobei wir etwa 100 Millionen Mark in den neuen Bundesländern einsetzen. Ich möchte nochmals verstärkt betonen, daß der Mittelabfluß für solche die Verkehrssicherheit beeinflussenden Systeme von den Ländern in den letzten Haushalten nicht ausreichend genutzt worden ist.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lennartz?

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Ich würde vorschlagen, daß wir vielleicht am Ende der Argumentation die Zwischenfragen stellen. ({0}) Die mit diesen Anlagen mögliche Verkehrsflußsteuerung wird von der überwiegenden Mehrzahl der Kraftfahrer als notwendig akzeptiert und deshalb auch beachtet werden. Ein weiterer Gesichtspunkt spricht gegen ein generelles Tempolimit auf den Autobahnen. Die Befürworter des Tempolimits zitieren regelmäßig eine statistische mittlere Pkw-Geschwindigkeit von 134,3 km pro Stunde. Nicht erwähnt wird dabei jedoch, daß dieser statistische Wert nur für diejenigen Meßstrecken gilt, auf denen die Autobahnbenutzer freie Geschwindigkeit durch freie Sicht, günstige Wetterlage, fehlende Verkehrsstausituationen usw. haben. ({1}) Demgegenüber schätzt die Bundesanstalt für Straßenwesen, daß bei Berücksichtigung der alltagstypischen Bedingungen auf unseren Autobahnen, also einschließlich Wetterlagen und Verkehrsbehinderungen, die mittlere Pkw-Geschwindigkeit im gesamten AutoBundesminister Dr. Günther Krause Bahnnetz wesentlich niedriger ist, nämlich zur Zeit bei 119 km pro Stunde. Diese Tatsache muß man, meine Damen und Herren, erst einmal zur Kenntnis nehmen, bevor man politische Schlußfolgerungen ziehen will. Im übrigen werden Gespräche mit der Polizei Ihnen bestätigen, daß ein generelles Tempolimit auf Autobahnen - das ist zur Zeit nämlich das Problem in den neuen Bundesländern - nur durch verstärkte Überwachung seiner Einhaltung zu einem nennenswerten Absinken der Durchschnittsgeschwindigkeiten führen würde. Eine verstärkte Überwachung durch die Polizei würde aber an finanzielle und personelle Grenzen der Länder stoßen, wie schon die Praxis bei der Überwachung der heutigen Lkw-Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen zeigt. ({2}) Diese wird schon heute durch die Polizei nicht geleistet werden können. ({3}) - Ich denke, ich brauche auf den Zuruf nicht zu antworten. Ich fasse zusammen: Verkehrssicherheitsgründe rechtfertigen ein generelles Tempolimit auf Autobahnen nicht, sondern sprechen eher dagegen. Differenzierte Maßnahmen gegen Unfallschwerpunkte - das ist der richtige Weg. Vor allen Dingen muß Unfallvorsorge getrieben und eine der Verkehrssituation angemessene Geschwindigkeit dem Kraftfahrer in Form von Geboten vorgeschlagen werden, beispielsweise von 50 km/h im Nebelbereich. ({4}) Meine Damen und Herren, auch aus Umweltschutzgründen ist ein allgemeines Tempolimit wenig sinnvoll. Das Ergebnis des unter den Bedingungen des Alltags durchgeführten Abgasgroßversuchs hat gezeigt, daß selbst eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h nur eine Reduzierung von 1 % der Schadstoffe bringt. In diesem Zusammenhang ist es günstiger, nicht die absolute Zahl von 30 000 t, sondern die Reduzierung der Schadstoffe um 1 % anzuführen. Die Versuche haben bewiesen, daß zuallererst die Verhinderung der Staus selbst, nämlich in der konkreten Verkehrssituation den Verkehrsfluß vernünftig zu regeln, ({5}) einen wesentlich höheren Anteil an der Reduzierung beispielsweise auch der CO2-Emission bringen wird. ({6}) Ich denke, etwas mehr Intelligenz im gemeinsamen täglichen Umgang, unterstützt von technischer Intelligenz auf den Straßen, wird dieses Problem in den nächsten Jahren lösen helfen. ({7}) Ich würde Sie bitten, daß Sie die Länderregierungen, in denen Sie vertreten sind, auffordern, die Mittel für Systeme der Verkehrsbeeinflussung von der Bundesregierung besser abzurufen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort zu einer Zwischenbemerkung nach § 27 der Geschäftsordnung hat unser Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Angesichts der Diskussion in den letzten Tagen hatte ich die Hoffnung, daß diese Frage, die heute in dieser Runde diskutiert wurde, eine ganz andere Auseinandersetzung, auch in der Qualität, erfährt. Insbesondere erscheint es mir so, als ob es in den Ausschüssen - im Umweltausschuß, in der Enquete-Kommission, aber auch im Verkehrsausschuß - jeweils eine unterschiedliche Logik der Behandlung gibt. Diese unterschiedliche Logik sehe ich auch zwischen den Fraktionen. Es tut mir leid, daß im Verkehrsausschuß ein - sicherlich im Rahmen eines größeren Gesamtkonzepts - von der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE eingebrachter Antrag auf Einrichtung einer Enquete-Kommission für ein integriertes Verkehrskonzept, für mehr Verkehrssicherheit und Umweltschutz abgelehnt wurde. Es mag sein, daß es an dem etwas großen Paket lag, das vielleicht nicht alle mittragen konnten. Wir werden prüfen, inwieweit wir diesen Antrag herauslösen können. Ich denke, dieser Antrag ist - im Sinne eines Aufeinanderzugehens oder, wie der Bundesminister gefordert hat, im Sinne von mehr Intelligenz im gemeinsamen Umgang - notwendig, um damit wenigstens zu erreichen, daß wir überhaupt begreifen, welche Argumente wir gegenseitig anbieten.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, wollen Sie noch antworten? - Das ist nicht der Fall. Dann sind wir damit am Ende dieses Tagesordnungspunktes. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/616 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 11 und den Zusatztagesordnungspunkt 6 auf: 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski, Johannes Gerster ({0}), Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Wolfgang Lüder, Gerhard Ru3810 Vizepräsident Helmuth Becker dolf Baum, Dr. Olaf Feldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Förderung der Deutschen und ihrer Kultur im östlichen Europa und jenseits des Urals sowie des ostdeutschen Kulturerbes in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 12/844 -Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu den deutschen Minderheiten in Osteuropa und östlich des Urals - Drucksache 12/1188 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({2}) Innenausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Zunächst erteile ich das Wort Frau Kollegin Dr. Roswitha Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen erhält eine ungeahnte Aktualität, denn er dient vor allem der Förderung der deutschen Minderheiten im östlichen Europa und klingt damit wie eine Antwort auf die Erklärung des russischen Minderheitenministers Leonid Prokopjew. Er versprach vor wenigen Tagen - das ging durch die Presse - , daß noch in diesem Jahr wahrscheinlich anläßlich des Kongresses der Rußland-Deutschen im Oktober die verbindliche Grundsatzerklärung zur Errichtung einer deutschen Wolgarepublik erfolgen wird. Damit ist eine umfassende Konzeption einer Minderheitenpolitik Deutschlands und Europas noch notwendiger geworden, als es bisher schon war. Einen Beitrag dazu soll der vorliegende Antrag leisten. Das besonders eindrucksvolle, ja man muß wohl sagen, spektakuläre Ereignis der Wiedererrichtung der deutschen Wolgarepublik nach Jahrzehnten grausamster Vertreibung und Unterdrückung der RußlandDeutschen wird von anderen Zeichen neu erwachter Verständigungs- und Versöhnungsbereitschaft begleitet. Die Möglichkeiten, die die umwälzenden Veränderungen ist Ost-, Mittel-, Ost- und Südosteuropa und die diesbezüglichen Verträge bieten, werden von den dort lebenden Deutschen wie von den hier in der Bundesrepublik ansässigen, namentlich den aus jenen Gebieten stammenden, immer stärker genutzt. Die wissenschaftliche, kulturelle und künstlerische Zusammenarbeit blüht in einem Maße auf, wie wir es uns noch vor kurzem kaum vorstellen konnten. Es entstehen Gemeinschaftsprojekte, und sie bieten viel Ermutigendes. So haben z. B. deutsche und polnische Wissenschaftler beschlossen, die Ereignisse im Stettin der Jahre 1945 und 1946 gemeinsam aufzuarbeiten. In diesen Tagen findet in Königsberg, also Kaliningrad, eine Ausstellung ostpreußischer Künstler statt. Sie wird dort, in Kaliningrad, vom Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg mitveranstaltet. Eine Begegnung deutscher und polnischer Studenten und Schüler wurde vor kurzem in Krakau durchgeführt. Vor zwei Wochen nahmen die Repräsentanten der heute polnischen Stadt Graudenz am Bundestreffen der heimatvertriebenen Graudenzer in Köln teil. Zuvor hatten sie im Juni gemeinsam in Graudenz der 700jährigen Geschichte dieser Stadt gedacht. Der Vertreter des polnischen Botschafters sprach in Köln davon, daß die Vertriebenen auf Grund ihrer emotionalen Verbundenheit mit ihrer Heimat Mittler der Verständigung von Polen und Deutschen seien. Ihnen komme eine Brückenfunktion zu. Das genau ist der Wunsch, die Absicht, sogar auch die Diktion, die wir hier verwenden. Wir können diesem Petitum und diesem Wort nur nachhaltig zustimmen. Viele ähnliche Beispiele wachsender Verständigungsbereitschaft und damit auch des Zusammenwachsens Europas im europäischen Osten wären zu nennen. Dies und die seit Jahren andauernden intensiven Bemühungen der Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen um die Bewahrung des kulturellen ostdeutschen Erbes, das geistig fortleben soll, mögen Trost sein für die vielen Heimatvertriebenen und ihre Familien, die in diesen Monaten über den endgültigen Verzicht der staatlichen Zugehörigkeit ihrer Heimat zu Deutschland von tiefer Trauer erfüllt sind. Trotz aller ermutigender Beispiele für die künftige Entwicklung sind die jetzigen Schwierigkeiten der noch in den Staaten des ehemaligen Ostblocks lebenden und ausharrenden Deutschen groß. Das wurde in einer Anhörung deutlich, die im August dieses Jahres von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion durchgeführt wurde. Ich freue mich, daß der Antrag der SPD jetzt zu einer weiteren großen öffentlichen Anhörung führen wird. Ich halte das für sehr sinnvoll. An der Anhörung im August nahmen Vertreter der Deutschen aus den Siedlungsgebieten in Osteuropa und den ehemaligen deutschen Ostprovinzen teil. Die Schilderungen waren zum großen Teil bedrückend, stimmten aber doch auch ein wenig zuversichtlich. Materielle, vor allem aber auch geistige Hilfe ist dringend notwendig - das kann man als Fazit aus dieser Anhörung ziehen. So bat z. B. der Vertreter der ungefähr 22 000 Ungarn-Deutschen dringend um ein überall vernehmbares Wort aus der Bundesrepublik, daß diese Deutschen vom Mutterland nicht vergessen sind. Die menschliche Verbundenheit sei letztlich ausschlaggebend dafür, daß Hoffnung statt Resignation und damit auch der Wille, zu bleiben statt auszusiedeln, wachsen. Beeindruckend war denn auch, daß nicht die Bitte um materielle Hilfen die Diskussion bestimmte, sondern der dringende Wunsch nach Deutschlehrern, daDr. Roswitha Wisniewski mit die Sprache, die Grundlage der geistigen Identität, aber auch die Grundlage der Verbundenheit mit dem Mutterland, erhalten bleibt bzw. nach den Jahren des Verbots wiederbelebt wird. Die Bundesregierung sollte gerade diesen Wunsch sehr ernst nehmen und alle zur Verfügung stehenden Mittel - auch solche unkonventioneller Art, z. B. die Entsendung pensionierter Lehrer - zu dessen Erfüllung einsetzen. Angesichts eben dieses Wunsches und der ermutigenden Zeichen beginnender Versöhnungsbereitschaft, die ich eingangs erwähnte, hebe ich gem hervor, wie wichtig es ist, daß es in den Jahren 1988 bis 1993 das Aktionsprogramm der Bundesregierung zur Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit gibt. Als es verabschiedet wurde, ahnten wir alle nicht, welche Veränderungen eintreten würden, die die Durchführung dieses Aktionsprogramms nun auf eine völlig neue Grundlage stellen. Aber es ist wahrlich zur rechten Zeit gekommen. Vieles von dem, was darin steht, konnte natürlich noch nicht umgesetzt werden. Aber wenn wir dieses nicht immer freudig begrüßte Programm nicht hätten und wenn wir jetzt erst mit der Konzeption und der Durchführung sozusagen von vorn beginnen müßten, dann wären die Schwierigkeiten ungleich größer, als sie es ohnehin sind. Durch die Existenz dieses Programms war es möglich, eine ganze Reihe kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen aufzubauen oder deren Arbeit auf stabileren Grundlagen fortzuführen und professioneller zu gestalten. Dadurch konnten sie nun die jetzt immens wachsenden Anforderungen und Aufgaben unverzüglich in Angriff nehmen. Die Nachfrage, auch aus den neuen Bundesländern, steigt weiter. Das Aktionsprogramm zur Förderung der ostdeutschen Kulturarbeit ist somit ein wichtiger Baustein für das Werk der Verständigung, das sich nun vor uns entfaltet. Die jetzt vom Innenministerium und vom Auswärtigen Amt eingeleiteten grenzüberschreitenden Hilfsmaßnahmen - von denen berichtet wird und die übrigens auch spürbar sind, was Betroffene oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestätigen, wenn man mit ihnen spricht - , werden in guter Zusammenarbeit durchgeführt. Dieses Werk betrifft die traditionelle Kulturpolitik, die im verstärkten Maß für die vielfach erst jetzt erreichbaren deutschen Minderheiten in den Aussiedlungsgebieten durchgeführt werden muß. Es umfaßt auch soziale und gemeinschaftsfördernde Maßnahmen. Sie werden vor allem vom Bundesinnenministerium getragen. Neben den sozialen Hilfen, z. B. zur Sicherstellung des Lebensunterhalts durch Lebensmittel und sonstige soziale Leistungen, medizinische Hilfen, Medikamente und Einzelfallversorgung, Ausstattung von Krankenhäusern mit medizinischen Geräten und Krankenwagen, Altenbetreuung durch Ausstattung von Altenheimen und „Essen auf Rädern", sind gemeinschaftsfördernde Maßnahmen für die deutschen Minderheiten von größter Bedeutung. Jahrzehnte lang mußten diese Menschen in der Vereinzelung leben, ohne daß sie ihre Muttersprache in der Öffentlichkeit gebrauchen durften. Die wichtigsten kulturellen Maßnahmen, die also sozusagen zum Wiederaufforsten der deutschen Sprache führen, sind: Einrichtung von Begegnungsstätten und deren Ausstattung mit Büchern, Zeitungen, Tonband- und Video-Einrichtungen, Durchführung von Seminaren, Begegnungsreisen, beruflichen Fortbildungsveranstaltungen, Ausstattung von Internaten, Kindergärten, Kinderheimen, Förderung des außerschulischen Deutschunterrichts, Bereitstellung deutschsprachiger Liederbücher, Lehrbücher, Zeitungen, auch von Büromaterial, die Unterstützung deutschsprachiger Medien wie Zeitungen und Verlage, die Ausstattung kirchlicher Einrichtungen zur Durchführung deutschsprachiger Gottesdienste, die karitative Jugend- und Altenarbeit. Dies alles verstehen wir unter dem Begriff kulturelle Breitenarbeit. Sie wird vom Bundesinnenministerium durchgeführt. Das Auswärtige Amt leistet die grundsätzliche kulturelle Arbeit. Diese kulturelle Breitenarbeit ist - ich sagte es schon - zur Unterstützung des Wiederaufbaus der kulturellen Identität unverzichtbar. Sie bedarf dringend des weiteren Ausbaus und verdient die volle Anerkennung und Unterstützung des Deutschen Bundestags. ({0}) - Meinetwegen können wir auch gern sagen: Mut schaffen zum Bekenntnis zu der vorhandenen Identität. ({1}) Denn wir haben gerade in dieser Anhörung hören müssen, daß die Zahl derer, die sich jetzt wieder zu ihrer deutschen Abstammung bekennen, sprunghaft gestiegen ist. Diese Zahl ist gegenüber der Zahl derer, die das früher wagten, enorm. Dies alles leistet, wie mir scheint, einen sehr wichtigen Beitrag für die Inhalte der im Entstehen begriffenen europäischen Minderheitenpolitik, die ja eigentlich erst in Umrissen greifbar wird. Das gilt natürlich auch für die wirtschaftsbezogenen Hilfen. Allein sie werden auf Dauer Perspektiven zum Bleiben in den deutschen Siedlungsgebieten namentlich für die jungen Menschen bieten. Deswegen müssen investive Hilfen etwa beim Aufbau von Produktionseinrichtungen und von beruflicher Bildung und Fortbildung im Vordergrund der Bemühungen stehen. Hilfe zur Selbsthilfe, dieses erprobte und bewährte Prinzip, wird auch hier seine Wirkung nicht verfehlen und allmählich zum Abbau der konsumtiven Hilfen führen. Die Arbeit des Bundes und der zahlreichen sie durchführenden Personen, Gruppen und Verbände wird bisweilen mit Mißtrauen verfolgt oder gar diffamiert. ({2}) - Kommt gleich. ({3}) - Des Bundes, unserer Bundesregierung, unterstützt durch das Parlament. - Das geschieht meines Erachtens vor allem aus Unkenntnis und durch Hochspielen vereinzelter Entgleisungen, die natürlich gelegentlich erfolgen. Lassen Sie mich daher feststellen: Es muß eine Selbstverständlichkeit sein, daß die Verträge der Bundesregierung mit den Regierungen der betroffenen Staaten, insbesondere mit Polen, respektiert werden und die Grundlage der Arbeit bilden. Es muß andererseits ebenso selbstverständlich von allen gesellschaftlichen Kräften in Deutschland erwartet werden, daß sie diese Arbeit mittragen. Lassen Sie mich daher die Gelegenheit ergreifen, den wichtigsten Einrichtungen, die sich ganz besonders der mühevollen sozialen Betreuungsarbeit unterziehen, hier öffentlich zu danken, so wie es auch in dem vorliegenden Antrag zum Ausdruck kommt. Ich danke also der Arbeiterwohlfahrt, dem Bund der Vertriebenen, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und den universitären Einrichtungen, der Caritas, dem Diakonischen Werk der EKD, dem Deutschen Roten Kreuz, dem Goethe-Institut, den Sozialwerken der Landsmannschaften, dem Verein für das Deutschtum im Ausland, dem Institut für Auslandsbeziehungen, der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen, Inter Nationes, dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern und allen anderen betroffenen Ministerien und staatlichen Stellen. ({4}) Zu danken ist aber auch den zahllosen Privatpersonen und Vereinen, die z. B. durch Päckchenaktionen - ich habe das in meinem Wahlkreis mehrmals erlebt - unendlich viel zur Verständigung und zum Aufbau grenzüberschreitender menschlicher Verbindungen beitragen. Schließlich danke ich auch den wissenschaftlichen Einrichtungen und den einzelnen Wissenschaftlern, die gerade durch ihre sachliche Auseinandersetzung mit den historischen und kulturellen Gegebenheiten zu einer Gesamtschau in einer imponierenden europäischen Weite und damit zur geistigen Bewahrung und Bewältigung der Vergangenheit und zur Grundlegung künftiger Fortentwicklung von so etwas wie gutnachbarlicher Verbundenheit beitragen. Ich nenne als Beispiele neben den bekannten und bewährten Einrichtungen die soeben neu entstandene Stiftungsprofessur in Leipzig mit einer angeschlossenen Forschungsstelle zur deutschen Literatur im östlichen Europa und die in Greifswald entstehende Stiftungsprofessur zur pommerschen Sprache und Geschichte. Am Beispiel dieser beiden Einrichtungen wird deutlich, daß auch die neuen Länder zur Mitwirkung bereit sind, die ihnen von ihrer Geschichte und von ihrer geographischen Lage her natürlich besonders aufgetragen ist. Machen wir uns also ans Werk, damit sich dieses große Friedens- und Versöhnungswerk entwickeln kann und die Folgen verhängnisvoller Politik und auch zweier Kriege überwinden hilft! Wir brauchen vor allem das, was Alfred Dregger einen geistigen Marshall-Plan genannt hat. Er ist für die Länder notwendig, die durch den real existierenden Sozialismus in vielfacher Hinsicht zugrunde gerichtet wurden. ({5}) - Nein, nicht Marschall-Stab, sondern Marshall-Plan, der sicher auch bei Ihnen, lieber Herr Duve, in bester Erinnerung sein wird. ({6}) Darüber wird in den Ausschüssen zu verhandeln sein. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmt der Überweisung der vorliegenden Anträge gern zu. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile dem Abgeordneten Freimut Duve das Wort.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich dachte, wir seien in dieser Sache schon näher beieinander. Aber sowohl der Antrag als auch Ihre Rede zeigen, daß wir doch noch sehr viel miteinander diskutieren und auch leisten müssen. Der wesentliche Unterschied zu der Art, wie wir vor vier, fünf oder sechs Jahren darüber diskutiert haben, ist doch, daß wir jetzt überall in Osteuropa Demokratien haben. Die deutschen Bürger dort müssen sich an der Demokratie erfreuen können, d. h. sie müssen eine Möglichkeit haben, an dieser Demokratie mitzuwirken. Der demokratische Prozeß ist doch der entscheidende Unterschied zu all dem, was vorher war. ({0}) Ich vermisse, daß Sie in dem Antrag, in der Benennung, auch in dem Begleittext zum Haushalt erkennen lassen, daß hier eine fundamentale Veränderung vorliegt. Die Menschen dort leben nicht mehr in Diktaturen. Das, was in den 70er und 80er Jahren, auch schon in den 60er Jahren, an ostdeutscher Kulturpolitik gemacht worden ist, war sehr dadurch bestimmt, daß wir es mit Diktaturen zu tun hatten. Geschichte ist sozusagen enteist worden. Sie ist jetzt wieder lebendig. In dieser Geschichte spielt auch die Geschichte der verschiedenen Völker und Minderheiten im jetzigen demokratischen Prozeß eine neue, andere Rolle als in jener Zeit, als sich das nicht artikulieren konnte. Daher müssen wir die Grundsatzfrage klären, welchen Begriff wir von der vielhundertjährigen Gegenwart der Deutschen in Osteuropa haben, die niemals singularisiert und vereinzelt waren und die keine Insellage hatten, sondern im Gespräch, im Disput, im Streit auch mit anderen, mit vielen anderen - mit Litauern, mit Polen - gelebt und ihre Kultur auch so entwickelt haben. Ich freue mich, daß die Frau Kollegin der Anhörung jetzt zustimmt. Ich versuche schon seit drei bis vier Jahren, diese Anhörung durchzubringen. Das war weder im Innenausschuß noch im Außenausschuß leicht. Die FDP, Herr Lüder, war dafür. Aber es ist nicht gelaufen. Allerdings ist jetzt eine neue Lage vorhanden. Ich finde es gut, wenn wir ein grundsätzliches Gespräch haben. Sie haben eine Anhörung gemacht, wir haben eine gemacht. An dieser Anhörung war sehr bemerkenswert - wir haben ja auch Herrn Dr. Czaja und Herrn Koschyk eingeladen -, daß der ehemalige Generalsekretär des Bundesverbands der Vertriebenen an dieser Debatte in gar keiner Weise, nicht einmal durch Zuhören, teilnimmt, obwohl die enge Verbundenheit mit solchen Verbänden sozusagen eine Herzensangelegenheit der CDU-Fraktion ist. Vielleicht kann er aus irgendwelchen Gründen nicht. Sie werden mir das jetzt erklären. Aber ich bin etwas erstaunt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Duve, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Dr. Wisniewski?

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Duve, wissen Sie vielleicht, daß Herr Koschyk gern hier gesprochen hätte? Er war ja auch als Redner eingeteilt. Er muß aber leider - oder erfreulicherweise - bei einer großen Veranstaltung für Heimatvertriebene anwesend sein.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut; aber meines Erachtens wäre sein Platz bei einer solchen Debatte hier im Hause. ({0}) - Herr Bohl, Sie werden mich niemals dazu bringen, aufzuhören, nur weil Sie meinen, daß ich aufhören soll; dazu haben Sie nicht die Figur und nicht die Gestalt. ({1}) - Das ist genau die Größenordnung, die man ihm zumessen sollte. Bei dieser Anhörung, die wir veranstaltet haben, hat Klaus von Bismarck einen interessanten Gedanken gebracht, der uns in der Diskussion weiter beschäftigt hat. Ich denke, das sollte ein bißchen der Leitgedanke bei einer Neuformulierung sein - ich habe es soeben schon gesagt - : Die Deutschen in Osteuropa, im heutigen Polen, die Schlesier, sind nur zu begreifen in ihrer Nachbarschaft durch viele Jahrhunderte mit anderen, und die anderen sind nur in ihrer Nachbarschaft zu den Deutschen zu begreifen. Ich habe z. B. bis vor kurzem nicht gewußt, daß es schon immer 200 000 bis 300 000 preußische Litauer gab, die Litauisch sprachen, aber gern zu Preußen gehören wollten. Das sind lauter kleine Vorgänge, um die wir uns intensiver kümmern müssen. Die Deutschen sind aus ihrer Nachbarschaftsverflechtung zu begreifen. Daran hat uns Klaus von Bismarck, der wußte und weiß, wovon er spricht, erinnert. Ich denke, daß alle Konzepte, die bisher zur sogenannten ostdeutschen Kulturpolitik vorhanden waren, diesem Anspruch nicht Genüge getan haben. Wenn wir uns jetzt tatsächlich zu einer Anhörung und Neudefinition bereitfinden könnten, wäre ich sehr froh. Darum finde ich, verehrte Kollegin, es sehr problematisch, daß Sie in Ihrem Antrag von Hilfe in den „Aussiedlungsgebieten" sprechen. ({2}) Was heißt eigentlich Aussiedlungsgebiet? Wieso sagen Sie, es gebe Aussiedlungsgebiete? Aussiedlung heißt, daß jemand aktiv etwas betreibt. Gleichzeitig steht dann im Antrag, man solle möglichst vermeiden, daß die Leute kommen. Die Autoren sollten sehr sorgsam mit der Sprache umgehen. Daß wir uns schon hier im Parlament gegenüber der Sprache, von der hier so viel geredet wird, so verhalten, daß wir plötzlich den Begriff „Aussiedlungsgebiete " auf einer amtlichen Drucksache haben und gleichzeitig sagen, sie sollen nicht kommen, finde ich skandalös. Nehmen Sie diesen Begriff zurück! Im Hinblick auf die Gefahr, die darin liegt, daß man eine Kultur in einer großen kulturellen Mischlandschaft nur so vereinzelt sieht, wie wir es oft getan haben und wie es oft auch in der Arbeit der Verbände angelegt war - das kann man aus vielen Texten ersehen - , zitiere ich zum Schluß Siegfried Lenz. Siegfried Lenz ist in seinem Roman „Heimatmuseum" diesem Thema sehr nachgegangen. Er hat den Museumsdirektor in Lucknow sagen lassen, wie er, Siegmund Rogalla - manchmal hat ihn Siegfried Lenz mit „Zy" und machmal mit „Si" geschrieben, um auszudrücken, daß er sozusagen beides sei - gezwungen worden sei, aus den Belegen der Geschichte im Auftrag des Deutschen Reiches wie ein Erbsenzähler die brauchbaren Belege hierhin und die unbrauchbaren dorthin zu legen. Ich zitiere aus den Anweisungen aus Berlin, wie sie Lenz in seinem Roman bringt: Zuerst kam auf dem Postweg eine Verfügung aus Königsberg; darin wurden wir aufgefordert, das Inventar unseres Museums neu zu katalogisieren. ({3}) Was sie vor allem verlangten: die Aussonderung jeglichen Inventars, das slawischen Ursprungs war oder dessen Herkunft nicht exakt bestimmt werden konnte. Wo Zweifel bestanden, sollten wir uns dazu entschließen, den Gegenstand einzuziehen. Er berichtet hier von einer realen Praxis in den 40er Jahren. Die Germanisierung ganz Osteuropas fing auch im Museum an und lief mit der Geschichte. Er geht hier auf eine Kulturvorstellung ein, die meint: Laßt uns einen Scheinwerfer auf die Vergangenheit werfen, der in einer sehr gemischten sozialen und kulturellen Landschaft jeweils nur eine Gruppe beleuchtet, so daß die anderen vergessen werden. Wie viele Leute haben mir in meiner Kindheit immer erzählt, daß Baltikum war so etwas wie deutsch? Auch hier ist der Richtstrahler immer nur auf die Deutschen im Baltikum gezielt worden. Heute sprechen auch die Polen davon, wie sie nach der Vertreibung der Deutschen, die sie heute Gott sei Dank als eine schimpfliche Tat anerkennen, die Scheinwerfer der Geschichte sehr selektiv auf nur einen Teil der Vergangenheit der Region geworfen haben, nämlich auf den polnischen Teil. Auch das wird heute in Polen neu diskutiert, weil die Demokratie solche Diskussionen jetzt erlaubt. Alle Historiker Osteuropas belegen, daß es in Wahrheit überall eine Geschichte des Miteinanders war, die viel länger friedlich als kriegerisch verlief. Wir erinnern aber im wesentlichen nur an die gewaltsamen Auseinandersetzungen. Aus begreiflichen Gründen hat diesen Aspekt die bisherige Arbeit der ostdeutschen Kulturpolitik sehr wenig beachtet. Ich denke, es wäre gut, wenn wir uns gemeinsam nach einer solchen Anhörung verständigen könnten, auch in der Sprache, in der Wortwahl der ganzen Sache eine neue Philosophie zu geben, eine Philosophie, die diesem Versöhnungsauftrag, der vor uns liegt, und den Demokratiechancen, die wir in Osteuropa nutzen müssen, gerecht wird. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wolfgang Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor zwei Wochen haben wir hier im Plenum des Deutschen Bundestags die Beratungen über das deutsch-polnische Vertragswerk aufgenommen. Der Antrag, den die Koalitionsfraktionen heute zur Beratung stellen, fügt sich bewußt und gewollt in den Rahmen dieses Vertragswerks und auch der zu erwartenden Vertragswerke ein. Er will den Zielen dieser Vertragswerke dienen. Das Thema, das uns heute beschäftigt, ist auch über den Rahmen dieses Hauses hinaus aktuell. In dieser Woche weilt eine Delegation aus der Russischen Republik in Deutschland. Gestern morgen war die Delegation mit Herrn Minister Leonid P. Prokopjew, dem Vorsitzenden des Staatskomitees der RSFSR für Nationalitätenfragen und der Kommission bei der Regierung der RSFSR für die Angelegenheiten der Deutschen, im Plenum auf der Ehrentribüne. Im Trubel der gestrigen Debatte blieben die hohen Gäste anonym. Ich meine, wir sollten ihnen heute nachträglich für ihren Besuch bei uns danken. ({0}) Der Antrag greift über den bilateralen Bereich der abgeschlossenen oder abzuschließenden Verträge hinaus. Wir wollen mit ihm die grundsätzliche Plattform dafür legen, daß drei Ziele erreicht werden: Erstens. Wir wollen den Deutschen, die im östlichen Europa und jenseits des Urals leben, ein Zeichen dafür setzen, daß wir mit unseren politischen und finanziellen Mitteln dazu beitragen wollen, daß ihnen eine Perspektive zum Verbleiben in ihrer jetzigen Heimat gegeben wird. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Das berührt nicht die Frage, ob es nicht doch gelingt, die Sowjetdeutschen aus ihrem jetzigen Wohngebiet in ihre alte Heimat in der Sowjetunion, in Rußland, zurückzubringen. Aber wir wollen, daß sie dort bleiben können. Wir wollen, daß die Möglichkeiten verbessert werden, mit denen wir schon bisher geholfen haben. Herr Duve, da Sie den Ausdruck Aussiedlungsgebiete" kritisieren, sage ich: Er ist vielleicht ein bißchen zu sehr regierungspragmatisch oder -dogmatisch gewählt, mit Termini, nach denen Abrechnungen laufen. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen darüber nachzudenken, ob wir hier einen politisch greifenden Ausdruck finden, der auch der heutigen und morgigen Situation gerecht wird und sich nicht nur am Gestern orientiert. Das wird eine der Aufgaben sein, mit denen wir uns im Ausschuß auseinanderzusetzen haben. ({1}) Bei diesem Antrag geht es uns insbesondere darum, daß die kulturellen Belange - Erhaltung der Sprache, kulturelle Veranstaltungen, Publikationen, Austausch von Wissenschaftlern und anderen Multiplikatoren - der deutschen Minderheiten in diesen Staaten stärker als bisher gefördert werden. Dies ist ein wichtiger Beitrag der deutschen auswärtigen Kulturpolitik. Es ist Kulturpolitik im Ausland. Das bedeutet zugleich, daß diese Politik konkret nur im Einvernehmen mit den betroffenen Regierungen, z. B. mit der Regierung der Republik Polen, nur gemeinsam mit der Regierung der Sowjetunion und den Regierungen der Staaten der Union, in denen die deutschen Minderheiten leben, vereinbart werden kann, ({2}) und zwar zwischen der Bundesrepublik Deutschland und diesen Regierungen. Die Bundesrepublik Deutschland wird in auswärtigen Belangen - so habe ich es gelernt - durch das Auswärtige Amt vertreten, sofern das keine Angelegenheit ist, bei der der Kanzler das politische Sagen gemeinsam mit dem Außenminister wahrnimmt. Der Notar der Bundesrepublik ist der Außenminister, wie sich das aus Völkerrecht und Verfassung ergibt. In diesen Fragen kann es darüber gar keinen Streit geben. ({3}) Lassen Sie mich, über den Antrag hinausführend, auf eines aufmerksam machen, worauf uns gerade die russische Delegation hingewiesen hat: So wichtig und notwendig es ist, daß wir den Bereich der Förderung der Kultur und der kulturellen Identität in den Gebieten, in denen die Deutschen als Minderheiten leben, unterstreichen, so notwendig ist es auch, daß wir uns als Parlament mit der Bitte an unsere Wirtschaft wenden, daß auch sie ihren Beitrag zur praktizierten Solidarität im ökonomischen Bereich wahrnehmen sollte. Wir sollten die Wirtschaft auch ermuntern, Investitionen und Kooperationen gerade in den Gebieten, in denen Deutsche als Minderheit leben, zu verstärken. ({4}) Wir werden auch prüfen müssen, ob wir unseren Antrag nicht vielleicht noch um diesen Punkt ergänzen. Denn ohne ein wirtschaftliches Engagement in diesen Ländern, ohne einen wirtschaftlichen Aufschwung dort, wird es schwieriger sein - ich will mich zurückhaltend ausdrücken - , den Weg zu gehen, den wir alle für notwendig halten. Wir wollen unserer Verantwortung gegenüber den Deutschen in diesen Ländern gleichermaßen gerecht werden, wie wir den Respekt vor der Souveränität dieser Staaten wahren wollen. Deswegen muß es gemeinsam mit den Regierungen gehen. Seitdem diese Staaten nun wirklich demokratisch strukturiert sind, wird es auch den demokratisch gewählten Regierungen unseres Landes und der Länder drüben gelingen, hier gemeinsame Wege für die Menschen zu finden. Ich bin damit einverstanden - ich schließe an das an, was Frau Wisniewski erklärt hat -, die Anhörung durchzuführen, weil wir das Wissen vertiefen wollen. Wir wollen den Weg in die neue Zeit mit Sachverstand, Sachkunde und unter Einbeziehung der Bürger gehen. Der zweite Punkt des Antrages ist folgender: Mit der Herstellung der Einheit Deutschlands vor einem Jahr und der bevorstehenden Verabschiedung des Gesetzes zum deutsch-polnischen Vertrag und später zu den anderen Verträgen findet die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges ihren Abschluß, eine Zeit, in der viele unserer Mitbürger viel verloren haben. Mit dem Verlust der Heimat haben die Aussiedler und die früher Vertriebenen auch die Stätten aufgegeben, in denen und an denen sie ihr kulturelles Erbe wahren konnten. Ich betrachte es als eine der Hauptaufgaben, die die Vertriebenen und ihre Verbände stets mit großem Engagement wahrgenommen haben, daß die Stätten der Pflege der ostdeutschen Kultur und Geschichte - heute müssen wir sagen: der früher ostdeutschen Kultur und Geschichte - nicht ins Vergessen geraten. Niemand darf und kann geschichtslos dastehen. Dies wahrzunehmen und aufzugreifen ist eine der wichtigen Aufgaben auch staatlicher Politik. Gerade wegen der endgültigen Regelung der Grenze, gerade weil Deutschland jetzt und auf Dauer in den Grenzen dieser Bundesrepublik Deutschland existiert, müssen wir hier mit unserer Bundesrepublik Deutschland - aber bitte auch auf die ostdeutschen Bundesländer verteilt; lassen Sie uns das Kultur- und Geschichtserbe der früher ostdeutschen Gebiete nicht nur im heutigen Westdeutschland wahren - verstärkt das geschichtliche und kulturelle Erbe aus den historischen Reichs- und Siedlungsgebieten wahren und pflegen. Schließlich drittens: Durch Krieg und Nachkriegszeit sind vielfach deutsche Kulturgüter von europäischem Rang der Gefahr des Zerfalls und der Zerstörung ausgesetzt. Hier geben uns die Anerkennung der Realitäten in Europa und die neuen Gemeinsamkeiten der Demokraten auf unserem Kontinent die Chance, Verfall und Zerstörung zu vermeiden. Dies können und dürfen wir nicht den ärmeren Staaten im Osten allein überlassen. Sie werden ihren Beitrag dazu leisten. Aber wir müssen auch hier mithelfen. Die drei Forderungen dieses Antrags gehören zusammen, sie bilden eine Einheit auf der Grundlage der Verträge und des Zusammenwachsens Europas: Erstens. Wir wollen, daß die Deutschen in ihren angestammten Gebieten in Osteuropa als nationale Minderheiten, aber eben in ihrer Heimat leben können. Dazu wollen wir ihnen helfen. Dies ist auch ein Beitrag zur multikulturellen Gesellschaft in Europa. ({5}) Zweitens. Wir wollen das kulturelle Erbe der Vergangenheit nicht dem Vergessen anheimfallen lassen. Deswegen unterstützen wir die Arbeit derer, die sich diesem Werk besonders verpflichtet wissen. Drittens. Wir wollen gemeinsam mit den Regierungen der osteuropäischen Staaten dazu beitragen, daß nicht zerstört wird, was bewahrt werden sollte. Wir leisten damit einen Beitrag auch zur Versöhnung in Europa. Nicht durch Verdrängen des Vergangenen, nur durch Auseinandersetzung mit der Vergangenheit können wir Zukunft gestalten. Nicht durch Zerstörung des Erbes, sondern durch seine Pflege werden wir den Herausforderungen der Zukunft gerecht. Danke. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herrn, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden vorliegenden Anträge finden von ihrem inhaltlichen Anliegen her die Zustimmung der PDS/Linke Liste, und zwar zumindest aus zwei Gründen: Erstens hat der Deutsche Bundestag eine hohe Verantwortung für die Pflege, den Schutz, die Bewahrung und die Förderung des deutschen Kulturerbes gleichermaßen wie - darüber ist bisher nicht gesprochen worden - für die Förderung des zeitgenössischen künstlerischen Schaffens nicht nur in den Alt- und Neuländern, sondern auch in Ost- und Südosteuropa. Zweitens - das ist eben von Herrn Lüder schon gesagt worden - geht unser Blick auf das vereinigte Europa. Unsere Erfahrungen der letzten Jahre besagen, daß das kulturelle Leben ein nicht unwesentlicher Faktor im Vorfeld der Wiedervereinigung Deutschlands gewesen ist und auch bei dem Prozeß des Werdens eines einheitlichen Deutschland eine nicht unwesentliche Rolle spielen wird. Gestatten Sie mir, obwohl ich damit schon sagen könnte, meine Rede sei zu Ende, auf vier Probleme des Antrags der Koalitionsfraktionen aufmerksam zu machen. Erstens. Mir scheint, daß Klarheit bezüglich der Begriffe geschaffen werden muß, damit es keine Mißverständnisse gibt. Die Überschrift des Antrags der Regierungsfraktionen lautet „Förderung der Deutschen und ihrer Kultur im östlichen Europa und jen3816 seits des Urals sowie des ostdeutschen Kulturerbes in der Bundesrepublik Deutschland". Im Text des Antrags heißt es im Gegensatz dazu: „Die Bundesrepublik Deutschland trägt eine besondere Verantwortung für die deutsche Kultur in den früheren ostdeutschen Provinzen Pommern, Ostpreußen, Westpreußen, Schlesien und in den deutschen Siedlungsgebieten in mittel-, südost- und osteuropäischen Ländern. " Das ist ein Unterschied. ({0}) - Herr Bohl, ich weiß, Sie sind heute erst einmal im Protokoll aufgeführt. Ich verstehe, daß Sie ab und zu etwas sagen, damit Sie noch einmal im Protokoll auftauchen. Das brauchen Sie für Ihren künftigen Weg. Ich habe Verständnis dafür. ({1}) Zweitens. Ich mache auf den Begriff ostdeutsches Kulturerbe aufmerksam. Auch dieser Begriff ist etwas problematisch, zumal im letzten fast halben Jahrhundert der Begriff „ostdeutsches Kulturerbe" oder „Ostdeutschland" für die ehemalige sowjetische Besatzungszone und die DDR benutzt wurde. Übrigens hat die Regierung dies heute durch Herrn Dr. Wieczorek ebenfalls gesagt, indem er formuliert hat, er möchte als Ostdeutscher eine Bemerkung machen. Drittens. Ich weiß nicht, was Sie mit „ihrer Kultur" meinen. Wenn Sie der Auffassung sind, daß damit auch die zu Kultur gewordene Lebensweise, die die Deutschen in anderen Ländern Europas aus der Kultur ihrer jetzigen Heimatländer aufgenommen haben, gemeint ist, kann man dem zustimmen, wie man auch zustimmen kann, daß man meint, es sei nur das deutsche Kulturerbe gemeint. ({2}) - Man muß deutlicher machen, was gemeint ist, weil „ihr Kulturerbe" natürlich ein viel, viel umfassenderer Begriff ist, als er im Antrag behandelt zu sein scheint. Zu dem Begriff „Aussiedlungsgebiet" ist hier gesprochen worden. Ich glaube, es gibt Übereinstimmung darüber, einen besseren Begriff zu finden. Viertens. Die Maßnahmen, die wir vorsehen, dürfen nicht zu einer Bevorzugung der Deutschen gegenüber den mitwohnenden Angehörigen anderer Nationalitäten führen. Deshalb ist der Vorschlag, den Herr Lüder hier formuliert hat, wirtschaftsbegleitende Programme zu entwickeln und zu realisieren, meines Erachtens vernünftig. Das folgende sage ich insbesondere mit Blick auf die Zeitschrift „Infodienst für deutsche Ausländer" vom Juli 1991, wo eine Kommentierung Ihres Antrags dahin erfolgt ist, daß mit diesem Antrag keine Tür aufgestoßen werden darf, auf die Prozesse der Erlangung der Selbstverwaltung von außen über uns einzuwirken. Das wird eine Aufgabe der Deutschen in den Ländern, in denen sie jetzt leben, bleiben. Danke. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herrn Helmut Schäfer, das Wort.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung kann dem Anliegen des Entschließungsantrages voll zustimmen. Wir wollen, daß durch unsere Hilfsmaßnahmen dazu beigetragen wird, den rund 3,5 Millionen Deutschen eine Zukunftsperspektive in ihrer angestammten Heimat zu geben. Lassen Sie mich allerdings auch anmerken, daß der Begriff „Aussiedlungsgebiete" nicht unbedingt der glücklichste ist. ({0}) Aber ich habe den Eindruck, daß Sie bereit sind, ihn zu ändern. Er würde ja geradezu suggerieren, daß die von uns begrüßte Alternative des Bleibens nicht mehr bestünde. Dieses Ziel schien jahrzehntelang unerreichbar; denn Grundvoraussetzung für unsere Hilfsprogramme zugunsten der deutschen Minderheiten ist die Akzeptanz der Minderheiten durch Regierung und Bevölkerung des jeweiligen Partnerlandes. Heute wird niemand in diesem Haus bestreiten, daß wir in den letzten Jahren sehr wesentliche Verbesserungen der tatsächlichen und rechtlichen Lage der Minderheiten erreicht haben. Kulturelle und sprachliche Eigenständigkeit der deutschen Volksgruppen werden auch dort wieder anerkannt, ja, sogar gefördert, wo sie über lange Zeit hinweg abgestritten und tabuiert worden waren. In dem Kopenhagener Dokument über die menschliche Dimension der KSZE ist ein europäischer Standard der Minderheitenrechte erarbeitet worden, der auch in die bilateralen Verträge, die wir zur Zeit mit den Regierungen in Mittel-, Südost- und Osteuropa abschließen und abgeschlossen haben, Eingang gefunden hat. Mit diesen Verträgen ist eine rechtlich gesicherte Grundlage für die Existenz und die Entfaltung der deutschen Minderheiten in ihren Heimatländern erreicht worden. Lassen Sie mich nur einige wichtige Elemente nennen: Die Deutschen können selbst darüber entscheiden, ob sie in ihrer bisherigen Heimat bleiben oder nach Deutschland übersiedeln wollen. Die Minderheiten können sich in ihrer jetzigen Heimat offen zu ihrer deutschen Volkszugehörigkeit bekennen und ihre kulturelle und sprachliche Identität entfalten. Die Bundesregierung, sonstige deutsche Institutionen wie auch Privatpersonen haben das Recht, über Grenzen hinweg Kontakte zu diesen Minderheiten zu erhalten und zu entwickeln. Das schließt natürlich nachhaltige Hilfsmaßnahmen ein. Die Bundesregierung bemüht sich nach Kräften, diese neuen Chancen konkret zu nutzen. Ihre Hilfsmaßnahmen werden im wesentlichen vom Bundesministerium des Innern und vom Auswärtigen Amt durchgeführt. Dabei besteht gute Zusammenarbeit. Die Aufgabenteilung bedeutet, daß die kulturellen Förderungsprogramme aus den Mitteln des Auswärtigen Amtes, soziale und gemeinschaftsfördernde Maßnahmen einschließlich wirtschaftlicher Förderung aus Mitteln des Bundesministeriums des Innern finanziert werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Duve?

Not found (Gast)

Herr Kollege Duve, Ihre Frage darf aber nicht auf meine Redezeit angerechnet werden. Ich muß darauf bestehen; denn ich wollte mich - sie merken das meinem Tonfall an - beeilen, damit Herr Sielaff noch zum Zuge kommt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Er will diese Gelegenheit noch einmal nutzen. - Bitte, Herr Kollege Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, ist Ihr Lob der guten Zusammenarbeit so zu verstehen, daß Sie an der Aufgabenteilung zwischen Innenministerium und Auswärtigem Amt und an dem Auftreten von Organisationen, die jeweils aus dem einen oder dem anderen Haushalt im Ausland finanziert werden, überhaupt nichts auszusetzen haben und daß Sie auch künftig eine Veränderung dieser Lage nicht anstreben?

Not found (Gast)

Herr Kollege Duve, es geht mir hier darum, die sinnvolle Zusammenarbeit von zwei Häusern der Bundesregierung herauszustellen. Sollte es gelegentlich da oder dort eine Schwierigkeit geben, obliegt es der Opposition, sie deutlich zu machen. Lassen Sie mich deshalb nur noch zu den kulturellen Förderungsprogrammen des Auswärtigen Amtes sprechen. Für die unmittelbare Minderheitenförderung sind 1990 und 1991 jeweils rund 10 Millionen DM bereitgestellt worden. Darüber hinaus kam aber auch das generelle Förderungsinstrumentarium der auswärtigen Kulturpolitik teilweise den deutschen Minderheiten zugute, so daß die tatsächlichen Aufwendungen wesentlich höher lagen. Der Schwerpunkt unserer kulturellen Hilfsmaßnahmen lag beim Ausbau des Deutschunterrichtes im Schulbereich: Entsendung von Lehrern, Ausbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen für Deutschlehrer, Bereitstellung und Entwicklung von deutschen Unterrichtsmaterialien sowie Förderung des Ausbaus deutschsprachiger Zweige an Schulen, Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. Dazu gab es auch die Unterstützung beim Aufbau von Bibliotheken und deutschsprachigen Theatern - auch das ist sehr wichtig - sowie deutschsprachigen Medien. Meine Damen und Herren, um die Kulturprogramme im kommenden Jahr entsprechend den Bedürfnissen der deutschen Minderheiten durchführen zu können, ist natürlich eine erhebliche Steigerung der Haushaltsmittel nötig. Dem schnell wachsenden Bedarf können wir sonst nicht mehr entsprechen. Außerdem stehen wir vor neuen Aufgaben. Zwei Stichworte dazu: unsere Unterstützung bei der dringend erwünschten Einführung muttersprachlichen Unterrichts den es bisher praktisch nur in Rumänien gibt, sowie in der Sowjetunion die Perspektive einer Wolga-Republik, über die - Herr Kollege Lüder hat darauf hingewiesen - in dieser Woche sehr intensive Gespräche in Bonn geführt worden sind. Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Schluß noch folgenden Hinweis: Kulturelle Hilfen sind unverzichtbar für den Prozeß des Sichwiederfindens der deutschen Minderheiten. Wir sind uns im klaren darüber, daß sie allein nicht ausreichen. Die politische Gesamtsituation sowie die wirtschaftliche Lage im jeweiligen Land entscheiden natürlich über den Verbleib oder die Aussiedlung. Hier ergibt sich eine besondere Verantwortung auch unserer Außenpolitik bei der Umsetzung unserer Förderungspolitik. Hilfsmaßnahmen für die deutschen Minderheiten üben erheblichen Einfluß auf unsere Beziehungen zu diesen Ländern insgesamt aus. Regierung und Öffentlichkeit in diesen Ländern beobachten mit Aufmerksamkeit, manchmal auch mit Besorgnis nicht nur das Verhalten der Minderheiten in ihren Ländern, sondern auch, in welcher Weise die Bundesregierung auf sie Einfluß nimmt. Es muß deshalb an uns liegen, in den Ländern Mittel- und Osteuropas die Erkenntnis zu stärken, daß unsere Hilfe für die deutschen Minderheiten letztlich dazu dienen muß, unser partnerschaftliches Verhältnis - in Zukunft hoffentlich auch unser freundschaftliches Verhältnis - zu unseren östlichen Nachbarstaaten weiterzuentwickeln. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Kollegen Horst Sielaff das Wort.

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Hauptargument für die Aussiedlung vieler Deutscher aus Ost- und Südosteuropa war: Wir verlieren unsere eigene Identität, weil wir die Muttersprache verlieren; unsere Enkel werden nicht mehr deutsch sprechen, und die Pflege unserer deutschen Kultur, der Kultur unserer Eltern und Großeltern, ist nicht mehr möglich. Die Förderung deutscher Kultur im Ausland, insbesondere in Ost- und Südosteuropa, hat deshalb heute, wie ich meine, eine Bedeutung, die über kulturpolitische Aspekte im engeren Sinne hinausgeht. Es sind Hilfen, die die Menschen bewegen können, in ihrer jetzigen Heimat zu bleiben. Wir begrüßen deshalb, Herr Staatsminister, die Bemühungen der Bundesregierung, die Einrichtung von deutschen Begegnungsstätten und Sprachkursen, von kulturellen Initiativen, Handwerksbetrieben und vielen andern mehr in Ost- und Südosteuropa zu unterstützen. Dafür stehen 1990/91 insgesamt 20 Millionen DM zur Verfügung. Es wäre gut gewesen, wenn es diese Hilfe, wie ich meine, schon vor sechs, sieben Jahren gegeben hätte und wenn sie massiver eingesetzt worden wäre, denn viele Deutsche haben inzwischen ihre Heimat verlassen. Ich meine, trotz der schwierigen Situation in den Ländern wäre eine verstärkte Hilfe auch schon früher möglich gewesen. ({0}) Klagen, daß man zu wenige Deutschlehrer und kein ausreichendes Unterrichtsmaterial habe, die von den Deutschen aus Ungarn, Polen, Rumänien und der UdSSR geführt werden, hören wir weiterhin - Frau Kollegin Wisniewski hat darauf hingewiesen - , und zwar trotz dieser Hilfen. Ich meine in der Tat, daß deshalb vermehrte Anstrengungen notwendig sein werden. ({1}) Meine Damen und Herren, deutsche Kulturarbeit in Ost- und Südosteuropa löst bei manch einem im Land, aber insbesondere auch im Ausland noch immer Unbehagen aus. Es heißt, dies sei Deutschtümelei oder gar kultureller Chauvinismus. Wir meinen: Die Pflege deutscher Kultur in Ost- und Südosteuropa kann und muß Brückenfunktion haben, die Verständigung, Überwindung von Vorurteilen und Interesse an der jeweils anderen Kultur fördert. Herr Duve hat im einzelnen darauf hingewiesen. So darf auch die materielle Hilfe für die Deutschen andere Nationalitäten nicht ausschließen. Gemeinsame Projekte von Deutschen und Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit verdienen daher, wie ich meine, besondere Förderung. Das Nebeneinander, gegenseitiges Kennenlernen und die wechselseitige Beeinflussung sollten Ziel unserer Förderungsmaßnahmen sein. Ich plädiere dafür, die Förderung mit großer Behutsamkeit und Umsicht zu betreiben. Das gilt gerade dann, wenn wir dabei sind, auch im wirtschaftlichen Bereich zu helfen. Ich glaube, es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob die anderen damit womöglich auf der Strecke bleiben oder benachteiligt würden. Wir müssen alles vermeiden, was aus dem Nebeneinander verschiedener Kulturen neue Nationalitätenkonflikte entstehen läßt. Anläßlich der endlich absehbaren Wiedereinrichtung der autonomen Wolga-Republik für die Deutschen in der Sowjetunion ist dies von besonderer Bedeutung. Für die im Wolgagebiet lebenden Russen und anderen Nationalitäten darf nicht der Eindruck einer Zweitklassierung entstehen. Es bedarf deshalb genauer Überlegungen, wie man mit dieser neuen positiven Situation umzugehen gewillt ist. Es muß darüber hinaus verhindert werden, daß die Pflege deutscher Kultur zum Instrument von Verbänden oder gar einzelnen Funktionären und ihren Interessen wird. ({2}) Meine Damen und Herren, damit meine ich Verbände und Funktionäre nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch vor Ort. Es ist wenig hilfreich für deutsche Kulturarbeit im Ausland, wenn in deutschen Begegnungsstätten massenweise mehr oder weniger sinnvolle Verbandszeitschriften verteilt werden, bundesdeutsche Zeitungen in ihrer Vielfalt aber nicht ausreichend zu finden sind. ({3}) - Das ist richtig, Herr Kollege. - Dem Eindruck, der mancherorts in der Vergangenheit entstanden ist, man müsse, um Förderung aus Deutschland zu erhalten, Mitglied eines bestimmten Verbandes sein, muß der Boden entzogen werden. ({4}) Unser Antrag hat das Ziel, Effektivität und Inhalte der Fördermaßnahmen zu überprüfen. Das liegt auch im Interesse der Verbände, die zum Teil hervorragende Arbeit leisten; das wollen wir gar nicht bestreiten. Aber ich glaube, man sollte diese Arbeit von Zeit zu Zeit überprüfen. Ein Verband, der vernünftig arbeitet, wird dies auch begrüßen. Darüber hinaus muß gewährleistet sein, daß den neuen politischen Gegebenheiten in den Ländern Ost- und Südosteuropas Rechnung getragen wird. ({5}) Ich möchte zum Schluß noch eines sagen: Wir haben hier im Deutschen Bundestag bisher - zumindest in den letzten Jahren - mit großer Einmütigkeit, wie ich meine, für die Belange der Deutschen in Ost- und Südosteuropa nicht nur gerungen, sondern wir sind sogar gemeinsam dafür eingetreten. Wir sollten jetzt nicht Porzellan auf dem Rücken der Deutschen in Ost- und Südosteuropa zerschlagen, wie es beispielsweise, meine Damen und Herren von der CDU, gestern gerade wieder Herr Koschyk, im Pressedienst Ihrer Partei nachzulesen, mit, wie ich meine, nicht hilfreichen Unterstellungen gegen die Sozialdemokraten getan hat. ({6}) Ich meine, wir sollten, da es endlich ohne Probleme möglich ist, weiterhin nüchtern, aber tatkräftig - vielleicht noch tatkräftiger - Hilfe gewähren, um den Menschen dort das Bleiben zu erleichtern, damit die Aussiedlung nicht als einzige Alternative stehenbleibt. Ich habe den Eindruck, daß Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, leider zu spät gemeinsam mit uns für dieses Bleiben eingetreten sind und daß von daher sicherlich manche Hilfe zu spät kommt.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Sielaff, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen? - Bitte, Frau Dr. Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß Herr Koschyk gemeint und auch deutlich gesagt hat, daß wir nicht durch die Streichung des Art. 116 eine Torschlußpanik hervorDr. Roswitha Wisniewski rufen und auf diese Weise zu großen Auswanderungsbewegungen animieren dürfen? ({0})

Horst Sielaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002172, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin, Sie haben nur einen Teil dieser Presseerklärung zitiert. Ich ergänze das jetzt aus dem Kopf. Herr Koschyk hat gesagt, daß die Sozialdemokraten die Deutschen in der Sowjetunion verunsichern würden. Wer so etwas heute erklärt, verstärkt die Unruhe bei manchen Menschen. Jetzt sage ich Ihnen noch ein Zweites: Es mag sein - ich möchte das gar nicht bestreiten, Herr Bohl -, daß Herr Koschyk in seiner Funktion beim Bund der Vertriebenen manche Dinge frühzeitig, gut und vernünftig gemacht hat, ({0}) manche auch weniger gut. Sich aber jetzt als der Verwalter der Interessen der Deutschen gerade in der Sowjetunion aufzuspielen und so zu tun, als würde man dieses Thema jetzt entdecken, ist sicherlich nicht redlich. Ich glaube, daß der Herr Staatsminister Schäfer schon lange vor Herrn Koschyk da war. Ich war noch früher da. Es war leider so, daß sich die Unionspolitiker in den letzten Jahren gerade um die Deutschen der Sowjetunion äußerst zurückhaltend gekümmert haben. Insofern sollte auch Herr Koschyk in dieser Frage zurückhaltender sein. Er hilft den Menschen in Ost- und Südosteuropa mit dieser Polemik nicht. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/844 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 12/1188 soll - in Abweichung vom Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung - zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nunmehr die für heute letzten Punkte der Tagesordnung, den Tagesordnungspunkt 12 und den Zusatztagesordnungspunkt 7, auf: 12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/ Linke Liste Einrichtung einer Stiftung zum Schutz und zur Bewahrung der Stätten des antifaschistischen Widerstands - Drucksache 12/1117 Überweisungsvorschlag : Innenausschuß ({0}) Rechtsausschuß ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Dr. Willfried Penner, Wolfgang Thierse, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mahn- und Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 12/1189 - Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Finanzausschuß Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Interfraktionell ist für die gemeinsame Aussprache eine Runde mit Fünf-Minuten-Beiträgen vereinbart worden. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin in der etwas unglücklichen Situation, einen Antrag meiner Gruppe begründen zu müssen und zur gleichen Zeit einen Antrag der SPD zu finden, der aus meiner Sicht weiterreichend ist und - das sage ich selbstkritisch - auf Einseitigkeiten, die leider in unserem Antrag enthalten sind, verzichtet. Ich sage das deshalb, weil zur Aufarbeitung der Geschichte gehört, daß wir uns nicht nur um die Stätten des faschistischen Terrors und des antifaschistischen Widerstandes bemühen müssen, sondern daß es auch um Orte der Trauer und um Orte geht, in denen Opfern des Stalinismus zu gedenken sein wird. ({0}) Wie nötig das ist, - ({1}) - Ja, manche haben eine späte Einsicht, manche überhaupt nie eine Einsicht; das unterscheidet uns manchmal. Wie nötig das ist, beweisen aktuelle Ereignisse, beweisen Ravensbrück und Hoyerswerda. Wir werden auch darauf verwiesen, daß der Krakauer Appell vom Juni 1991 und der Antrag zum 11. Ordentlichen Kongreß der FIR vom Juni 1991 diese Probleme in den Blickpunkt stellen. Wenn ich sage, daß wir uns auch für Gedenkstätten verantwortlich fühlen müssen, in denen der Opfer des Stalinismus zu gedenken sein wird, schließt das für mich ein, daß wir uns weniger von politischen Augenblicksemotionen leiten lassen sollten, sondern die historischen wissenschaftlichen Arbeiten derer zur Kenntnis nehmen, die auf diesem Gebiet gearbeitet haben, und dabei auch verhindern sollten, eine Auffassung zu propagieren, daß das gesamte Territorium der DDR zu einem Gedenkort des Stalinismus gemacht wird. Ich finde den Antrag der PDS gut und richtig, ich finde den Antrag der SPD weitergehend. Ich kann im Augenblick nicht im Namen meiner Gruppe sprechen; aber ich kann mir vorstellen, daß, wenn in der Ausschußarbeit in den SPD-Antrag ausdrücklich und namentlich der Schutz und die Bewahrung der Stätten des antifaschistischen Widerstandskampfes in seiner ganzen Breite aufgenommen wird, wir unseren Antrag zurückziehen können und unsere Stimme dem Antrag der SPD-Fraktion geben können. Danke.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile nunmehr das Wort dem Abgeordneten Michael Stübgen.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Keller, obwohl Sie jetzt Ihren Antrag zurückgenommen haben ({0}) - angekündigt haben, daß Sie ihn zurücknehmen wollen ({1}) - darf ich bitte weiterreden - , werde ich trotzdem darauf eingehen, weil ich nämlich auch nachweisen möchte, daß Ihr Antrag nicht zufälllig einseitig war, sondern daß die Art und Weise und die Terminologie Ihres Antrags exemplarisch sind für die Politik Ihrer Partei bis in die heutigen Tage. ({2}) Grundsätzlich ist für mich anzumerken, daß die Unterhaltung von Gedenk- und Mahnstätten nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes eindeutig - und das sollten Sie sich auch bei Ihrem Antrag genau anschauen - in die Kompetenz der Länder und Kommunen fällt. Nach dieser Aufgabenverteilung kommt für den Bund nur eine Beteiligung an Gedenkstätten gesamtstaatlichen Charakters in Frage. Darauf hebt auch der Einigungsvertrag ganz deutlich in Art. 35 ab, nach dem, wie gesagt, ein gesamtstaatliches Interesse vorliegen muß, um eine ausnahmsweise Förderung durch den Bund zu ermöglichen. Da die PDS und, nach Ihren Zurufen zu schließen, auch Sie von der SPD bezeichnenderweise den Einigungsvertrag nicht zu kennen scheinen, werde ich die folgende Stelle zitieren. Es handelt sich hier um Art. 35 Abs. 4, der wie folgt lautet: Die bisher zentral geleiteten kulturellen Einrichtungen gehen in die Trägerschaft der Länder oder Kommunen über, in denen sie gelegen sind. Eine Mitfinanzierung durch den Bund wird in Ausnahmefällen, - ich wiederhole: Ausnahmefällen insbesondere im Land Berlin, nicht ausgeschlossen. Es ist für mich nicht zufällig, aber bezeichnend, daß die PDS weder das Grundgesetz noch den Einigungsvertrag zur Kenntnis nimmt. Außerdem hat sich mit dieser Problematik der Haushaltsausschuß des Bundestages schon im Oktober 1990 befaßt, und es bleibt die von der Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt erbetene Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes in diesem Bereich abzuwarten. Zum anderen muß zu dem Antrag, eine Stiftung zu errichten, bemerkt werden, daß in den Hauptsitzländern dieser Gedenkstätten für die Opfer des Nazi-Regimes bereits Landesstiftungen - z. B. in Brandenburg und Thüringen - eingerichtet worden sind und daß überhaupt die Frage ist, ob sich das lohnt und in welcher Weise da noch eine Bundesstiftung tätig werden könnte. Meiner Ansicht nach stünde es gerade der PDS als historischer Nachfolgerin der SED besser zu Gesicht, daß sie, wenn sie schon einen solchen Antrag stellt, auch die Opfer und Widerständler gegen den SED- und Stasi-Terror einbezieht. ({3}) In der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gibt es nur ein dem Nazi-Terror - ({4}) - Bitte, stellen Sie doch eine Zwischenfrage, wenn Sie das wollen; ansonsten lassen Sie mich ausreden. ({5}) Ich habe Sie auch ausreden lassen. Wir haben Ihre Konsorten vierzig Jahre lang - leider zu lange - ausreden lassen. Meines Erachtens gibt es in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nur ein dem Naziterror vergleichbares Unrecht, und das sind die Machenschaften des Stalin-Regimes und dessen Fortführung im SED- und Stasi-Terror. Es ist meines Erachtens längst überfällig, daß sich die PDS ihrem eigenen historischen „Erbe" stellt. ({6}) Mahnmale für die ermordeten Bürger an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze müßten von wissenschaftlichen Dokumentationen über das menschenverachtende System des Stalinismus, das Sie in sehr deutlicher und eindringlicher Weise weitergeführt haben, die Grenzsperranlagen sowie die Arbeit des Staatssicherheitsdienstes begleitet werden, der Ihnen wahrscheinlich auch nicht unbekannt ist, der in menschenrechtswidriger Weise bespitzelt, denunziert, erpreßt, Existenzen zerstört, physisch und psychisch mißhandelt hat. ({7}) - Das steht heute nicht zur Debatte, aber Sie sollten einmal genau hinschauen. Sie haben von der DDR wahrscheinlich noch sehr wenig zur Kenntnis genommen. Die Staatssicherheit war „Schwert und Schild der Partei", der SED. ({8}) Die CDU hat zwar in der Tat in einigen Bereichen eine nicht besonders gute Rolle gespielt. Aber das ist heute nicht die Thematik. Im übrigen möchte ich zu der Thematik anmerken, daß uns bei der Pflichtbesichtigung des Konzentrationslagers Sachsenhausen, die ich als Schüler mitgemacht habe - ich selber hatte das zweifelhafte Vergnügen, zehn Jahre sozialistische Volksbildung genießen zu dürfen - , niemand darauf hingewiesen hat, daß die dort vorhandenen Anlagen nach dem Krieg ohne Unterbrechung in gleicher Weise weiter genutzt worden sind - und das jahrelang. Dies ist beileibe kein Einzelfall: In meinem Wahlkreis, in Mühlberg, wurden erst kürzlich Massengräber von Opfern des stalinistischen Terrors gefunden, nicht zu zählende, namenlose Opfer. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die einseitige Forderung der PDS nach dem Erhalt von Gedenkstätten des antifaschistischen Widerstandes - die Terminologie ist schon verräterisch - ist der wiederholte Versuch der Geschichtsklitterung, worin diese Partei allerdings 40 Jahre lang reichlich Erfahrung sammeln konnte. ({9}) Diese Tatsache allerdings schließt nicht aus, daß sich der Bund nach Maßgabe der verfügbaren Haushaltsmittel in Einzelfällen an der Förderung von Mahn- und Gedenkstätten beteiligt. Dazu müßten Förderanträge - das ist schon in großer Zahl geschehen - für konkrete Projekte vom jeweiligen Land und der Trägerorganisation gestellt werden. Es muß geprüft werden, ob es sich dabei um exemplarische, gesamtstaatlich bedeutsame Gedenkstätten handelt. Und es muß natürlich eine ausreichende Mitfinanzierung der Länder gesichert sein. ({10}) Lassen Sie mich zum Schluß in einem Satz noch darauf hinweisen, daß der in der Begründung des PDS-Antrages genannte konkrete Fall Ravensbrück in der Sache längst geklärt ist. ({11}) Er war auch schon am 5. September 1991, dem Zeitpunkt der Einbringung Ihres Antrags, geklärt. Ihre Partei scheint der Geschichte auch hier weit hinterherzuhinken. Der Supermarkt wird nicht an der ursprünglich geplanten, sondern an einer anderen Stelle der Stadt gebaut. Ich begrüße dieses Ergebnis ausdrücklich. Es sei erwähnt, daß sich Ministerpräsident Stolpe, als „Landesvater" für derartige Entscheidungen zuständig, sehr viel Zeit gelassen hat, endlich Stellung zu nehmen. Der zuständige Bürgermeister und der zuständige Landrat haben lange Zeit allein die Fehler ausbaden müssen, die sie - unter dem unheimlichen Druck, unter dem sie stehen - tatsächlich gemacht haben. Aber ich glaube, wir können uns einig sein. Das, was hier zählt, ist das Ergebnis, das ich, wie gesagt, ausdrücklich begrüße. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordneten Marianne Klappert.

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe soeben erfreut festgestellt, daß der Kollege der PDS doch lernfähig ist. Ich denke - und das geht an Sie -, wir sollten so etwas unterstützen. Ich darf meine Rede mit einer Feststellung beginnen: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. " Deshalb ist es nach Ansicht der Sozialdemokraten unabdingbar, die Erinnerung an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte wachzuhalten. Und jede Erinnerung an diese blutige Nacht in unserer deutschen Geschichte muß einem dreifachen Ziel dienen: zum einen dem Ziel, das Bewußtsein dafür zu stärken, daß niemand die Vergangenheit so einfach abschütteln kann, auch der nicht, der nicht unmittelbar teilhatte an dieser Vergangenheit, als sie noch schreckliche Gegenwart war; zum zweiten dem Ziel, die Einsicht zu fördern, daß sich so etwas nie wiederholen darf, ({0}) daß nicht noch einmal eine Diktatur - ganz gleich, welcher Couleur - die Chance erhalten darf, die Macht zu erlangen, ({1}) und letztlich, daran zu erinnern, daß es auch in dieser Zeit das andere Deutschland gab, das sich unter Einsatz und Verlust des eigenen Lebens nicht abfinden wollte mit diesem terroristischen Regime und das ganz andere Vorstellungen hatte über die Zukunft Deutschlands. Mahn- oder Gedenkstätten können dabei sehr hilfreich sein. In den letzten Jahren sind zahlreiche solcher Gedenkstätten errichtet worden, häufig durch Initiative von Einzelpersonen und Gruppen, deren Engagement nicht selten - lokal wie regional - zu schweren politischen Auseinandersetzungen führte, ja manchmal sogar zu mehr oder weniger schwerwiegenden Repressalien. Wenn sich also die Bundesregierung an der Finanzierung und den Unterhaltungskosten dieser Gedenkstätten beteiligen will, dann ist das auch eine Anerkennung dieser Arbeit. Wir Sozialdemokraten begrüßen diese Initiativen ausdrücklich, vor allem auch deshalb, weil wir hinsichtlich dieser Mahnstätten keine zentralistischen Vorgaben und Steuerungen haben wollen. Wohin es führen kann, wenn das Erinnern an die Vergangenheit gleichsam von oben herab, also staatlich verordnet wird, machen die Vorgänge um das KZ Ravensbrück deutlich. Eine so unsensible Planung wie die, auf diesem Gelände einen Supermarkt errichten zu wollen, wäre nicht möglich gewesen, wenn diese Gedenkstätte von der Bevölkerung als wichtiges Mahnmal an deutsche, gesamtdeutsche Schuld akzeptiert worden wäre. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Klappert, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte gern weitermachen. Die Akzeptanz einer Mahn- oder Gedenkstätte läßt sich nicht per Dekret verordnen, und auch das Geschichtsbewußtsein läßt sich nicht durch noch so gut gemeinte Gesetze fördern. ({0}) Hier ist Überzeugungsarbeit zu leisten. Verordnungen und Verfügungen sind dabei wenig hilfreich. Der uns vorliegende Antrag der PDS offenbart typisch die frühere DDR-Haltung: auf dem Verordnungswege festzulegen, wessen sich das Volk erinnern und wessen es gedenken soll. Wir Sozialdemokraten plädieren dagegen nachdrücklich für eine finanzielle Förderung der Initiativen von unten, und wir begrüßen es, daß in den Haushaltsplänen 1991 und 1992 Mittel dafür zur Verfügung gestellt wurden. Wir fordern allerdings die Bundesregierung noch einmal nachdrücklich auf, die schon mehrfach angemahnte Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten nun endlich vorzulegen, damit allen Betroffenen und Interessierten die Kriterien einer möglichen Förderung bekannt werden. Was nun die Förderung von Mahn- und Gedenkstätten in den neuen Bundesländern betrifft, muß nach Ansicht der Sozialdemokraten sichergestellt sein, daß die Förderung nicht „einäugig" ist. Eine selektive, nur auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkte Erinnerung darf es dort wie hier nicht geben. Zwar sollte jeder Eindruck einer Gleichsetzung von nationalsozialistischer und stalinistischer Schuld vermieden werden. Was in der Zeit von 1933 bis 1945 in deutschem Namen geschehen ist, ist singulär und mit nichts zu vergleichen. Die Lager des NS- Staates waren andere als die in der Nachkriegszeit, aber es muß auch an die Opfer des Stalinismus erinnert werden. Eine einseitige Fixierung auf eine bestimmte Opfergruppe darf es nicht geben. Das ist nicht nur ein Gebot historischer und politischer Redlichkeit, das sind wir vor allem auch den Opfern, und zwar allen Opfern aller Gewaltsysteme auf deutschem Boden schuldig. ({1}) Darüber hinaus sollten nach Ansicht der sozialdemokratischen Fraktion nur solche Mahn- und Gedenkstätten gefördert werden, die, wie es unser Antrag formuliert, in ihrer Konzeption die Instrumentalisierung durch die SED überwunden haben und die in ihrer personellen Besetzung einen Neubeginn gewährleisten. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erinnerung an die blutigen Zeiten in der Geschichte unseres Volkes, wie sie in diesem Jahrhundert kulminierten, muß wachgehalten werden, damit sich Ereignisse, wie sie im Nationalsozialismus und in der Folgezeit vorkamen, nicht wiederholen können. Zur Aufrechterhaltung und Festigung dieser Erinnerung sind Mahn- und Gedenkstätten unabdingbar. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nun hat der Abgeordnete Wolfgang Lüder das Wort.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Jahre 1991 über Gedenkstätten für die Opfer deutschen staatlichen Unrechts zu sprechen ist für uns Liberale nur möglich, wenn wir an alle Opfer staatlichen Unrechts in Deutschland denken, ({0}) und zwar sowohl an die des NS-Terrors als auch an die des SED-Terrors. ({1}) Ich formuliere bewußt so, weil ich meine, daß wir verkürzen, wenn wir nur von Opfern des Stalinismus sprechen. Dieses Regime hat mehr Opfer - auch aus anderen Gründen - hervorgebracht als nur die, für die Stalin die Schuld trifft. ({2}) Herr Keller, ich habe zwar polemisches Verständnis dafür, daß die PDS in ihrem ursprünglichen Antrag - bei allem Respekt vor dem, was Sie heute gesagt haben; ich komme darauf gleich zu sprechen -, die Verantwortung für Zeiten, die sie selbst zu vertreten hat, als sie noch SED hieß, vergessen machen will - aber dann, bitte schön, sollten Sie auch die Sprache des Sozialismus ablegen. Sie haben erklärt, daß Sie sich auf den Antrag der SPD zurückziehen wollen. Ich finde das gut, weil ich meine, daß wir damit eine gute Grundlage haben. Wir werden im Ausschuß bezüglich der Ausgestaltung noch über das eine oder andere reden müssen. Aber den Grundsatz dieses Antrages halte ich für eine Plattform, auf der wir uns verständigen können müßten. ({3}) Doch müssen wir dann auch sehen, daß wir auch die Sprache der letzten 40 Jahre aus dem Ostteil unseres Landes ablegen müssen. Für uns kommt es darauf an, die Opfer zu ehren und nicht zu differenzieren zwischen den antifaschistischen Widerstandskämpfern und den übrigen Opfern. ({4}) Ich habe genug gelesen über Ehrenpensionen und anderes, um hier sagen zu können: Ein Antrag, in dem antifaschistischer Widerstand geehrt werden soll, findet wegen der Auslegung dieses Wortes über die vergangenen 40 Jahre hinweg bei mir keine Zustimmung. ({5}) Wir ehren die Opfer und unterscheiden bei einem Opfer des NS-Terrors nicht, ob der Betreffende verfolgt wurde, weil er Jude war oder Sinti. Wir unterscheiden nicht zwischen Opfern, die wegen ihres humanen Einsatzes als Katholiken, wegen ihrer aufrechten Predigt als Protestanten, wegen ihres demokratischen Engagements als Liberale oder Sozialdemokraten oder wegen ihres politischen Eintretens für den Kommunismus im KZ saßen. Wir ehren alle Opfer des Terrors. Sie aber übernehmen mit der ursprünglichen Formulierung Ihres Antrags - die auch noch besteht -, mit der Wiederholung der Terminologie Ihrer Partei aus den 50er Jahren die Worte „antifaschistischer Widerstand" , was nur zu neuem Unrecht führte in dem Teil der Republik, der jetzt unserer Republik beigetreten ist. Meine Damen und Herren, ich habe mit Interesse und Aufmerksamkeit den Antrag der SPD gesehen. Ich wiederhole, was ich gesagt habe: Auf diesen Antrag können wir aufbauen. Ich gebe nicht mein Wort, daß wir jeden Satz jetzt schon unterschreiben können - das wäre sicherlich auch zu früh. Doch bildet dieser Antrag den Ansatz, den wir brauchen, nämlich das Ehren von Opfern staatlichen Terrors, den wir erlebt haben - unter dem NS-Regime vor 50 Jahren, aber auch 40 Jahre lang bis zum 3. Oktober letzten Jahres. Wir müssen - und da übernehme ich, Frau Klappert, das, was Sie gesagt haben; ich mache keine Gleichschaltung - die Differenzierung wohl sehen. Doch wollen wir die Opfer ehren und diese Ehrung als Auftrag der politischen Bildung an die zukünftigen Generationen weitergeben. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, bevor Herr Staatssekretär Lintner das Wort hat, gibt es noch die Gelegenheit zu einer Intervention. - Bitte schön!

Stefan Schwarz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte ganz kurz einige Sätze sagen: Ich halte das, was in dem SPD-Antrag hier vorgeschlagen wird, für wirklich vernünftig und für eine gute Grundlage. Ich möchte aber trotzdem eine Bemerkung zu dem Redebeitrag von Herrn Keller machen. Ich bin antitotalitär erzogen worden. Die Frau Kollegin von der SPD hat gesagt, es gehe um das Erinnern. Ich möchte an uns appellieren, daß wir auch darauf achtgeben, wie und mit wem wir uns erinnern. Ich kann nicht vergessen, weil es zum Erinnern gehört, daß Herr Keller als ehemaliger Kulturminister der DDR und seine Partei, die sich jetzt PDS nennt, einen hohen Anteil an Zensur, Unterdrückung von Wahrheit usw. hatten. Ich bitte uns sehr, bei allen Möglichkeiten, die wir zur Zusammenarbeit finden müssen, daß wir nicht vergessen, mit wem wir uns vor den Menschen, insbesondere in den neuen Ländern, hinstellen, um uns zu erinnern. Das heißt also, ich bin sehr dafür, daß wir das aufarbeiten, in beide Richtungen aufarbeiten, daß wir aber darauf achtgeben, daß wir die Menschen nicht beleidigen, indem wir uns jetzt mit den ehemaligen Tätern an die Opfergedenkstätten stellen. Schönen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Jetzt hat zu einer Zwischenbemerkung nach § 27 Dr. Dietmar Keller das Wort.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege! Sie werden mich auch bei der richtigen und notwendigen Selbstkritik bei der Aufarbeitung der DDR-Geschichte uneingeschränkt in einer Reihe mit denen finden, die bereit sind, das zu machen. Die Publikationen, die ich seitdem herausgegeben habe, die Sie offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen konnten, sprechen davon, daß ich an einer ehrlichen Aufarbeitung dieser Geschichte nicht nur interessiert bin, sondern daß das eine der Aufgaben sein wird, die mich den Rest meines Lebens beschäftigen werden. Ich muß Sie allerdings um Fairneß bitten. Wenn Sie mich persönlich als ehemaligen Minister für Kultur ansprechen, muß ich Ihnen sagen, daß meine erste Entscheidung nach meiner Wahl zum Minister für Kultur war, alle Verbote, Aufführungsverbote, Manuskriptverbote, und Restriktionen im kulturellen Bereich aufzuheben - ohne Einschränkung. ({0}) - Sie haben mich hier in meiner damaligen Funktion als Minister für Kultur angesprochen. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nunmehr hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Eduard Lintner, das Wort.

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum guten Schluß ein paar Bemerkungen aus der Sicht der Bundesregierung zum Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste machen. Erstens. Die Errichtung und Unterhaltung von Mahn- und Gedenkstätten ist nach der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes grundsätzlich eine Angelegenheit der Länder und der Kommunen. Dieser Aufgabenbereich wird bisher auch nahezu ausschließlich von diesen Ebenen wahrgenommen. Dem Bundesminister des Innern liegt allerdings eine Vielzahl von Anträgen zur Förderung von Gedenkstätten an nationalsozialistisches Unrecht, an die Opfer des Stalinismus, an die Berliner Mauer und die Grenzsperranlagen vor. Aus diesem Grund hat auch der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages im Jahre 1990 die Bundesregierung gebeten, eine Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten zu erarbeiten. Mit dieser Gesamtkonzeption sollen die Voraussetzungen einer Bundesbeteiligung sowie die Verfahrensweise in diesem grundsätzlich den Ländern zuzuordnenden Aufgabenbereich festgelegt werden. Die Überlegungen hierzu sind bei uns im Hause noch nicht abgeschlossen. Ich darf aber bereits jetzt auf folgende Gesichtspunkte hinweisen: Wegen der geschilderten verfassungsrechtlichen Situation kann für den Bund eine Beteiligung an Mahn- und Gedenkstätten nur unter dem Gesichtspunkt der gesamtstaatlichen Bedeutung in Frage kommen. Art. 35 des Einigungsvertrages eröffnet nur vorübergehend die Möglichkeit, solche Einrichtungen in den neuen Ländern, an Stelle der Länder, muß ich hinzufügen, zu fördern. Die Voraussetzung gesamtstaatlicher Bedeutung wird nur bei wenigen exemplarischen Einrichtungen vorliegen. Selbst in diesen Fällen wird es aber zunächst Sache der Länder und Kommunen sein, entsprechende Vorstellungen zur Errichtung und inhaltlichen Gestaltung dieser Gedenkstätten zu entwickeln. Insbesondere in den neuen Ländern bedarf es aus heutiger Sicht grundlegender wissenschaftlicher Untersuchungen für die künftigen Konzeptionen. Eine Fortführung der einseitigen und geschichtsverfälschenden Darstellung, wie sie in der ehemaligen DDR gepflegt wurde, kann jedenfalls für uns nicht in Frage kommen. ({0}) Zweitens. Vor diesem Hintergrund sehe ich - abgesehen von der insoweit ohnehin fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes - auch keinen Grund für ein Gesetz zur „Garantie der Unantastbarkeit der Stätten des antifaschistischen Widerstandes und ihres Schutzes vor kommerziellem Mißbrauch", wie Sie es formuliert haben. Es wird eine gesellschaftspolitische Aufgabe sein, für eine der geschichtlichen Wahrheit entsprechende Fortentwicklung der Mahn- und Gedenkstätten zu sorgen und sie vor Übergriffen und Mißbrauch zu schützen. Ich kann hier auf das Bezug nehmen, was ich aus der Debatte heraus zu diesem Thema an Bekenntnissen und Erläuterungen noch mitbekommen habe. Auch die Forderung, meine Damen und Herren, zu diesem Zweck eine Stiftung nach Bundesrecht einzurichten, wäre verfassungsrechtlich problematisch. Eine solche Stiftung des Bundes ist im übrigen überflüssig, weil die Hauptsitzländer der möglichen Gedenkstätten in den neuen Ländern, Brandenburg und Thüringen, bereits mit der Errichtung von Stiftungen für ihre Mahn- und Gedenkstätten befaßt sind. Der Bund wird sich selbstverständlich an den Überlegungen hierzu - soweit dies von den Ländern gewünscht wird - beteiligen und nach Verabschiedung der angekündigten „Gesamtkonzeption zur Beteiligung des Bundes an Mahn- und Gedenkstätten" seiner gesamtstaatlichen Verantwortung gerecht werden. Möglicherweise kommt ja sogar noch eine gemeinsame Initiative des Hauses zustande, was wir sehr begrüßen würden. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der beiden Vorlagen auf den Drucksachen 12/1117 und 12/1189 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen bei den Wochenendterminen, die jetzt folgen, viel Erfolg und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. Oktober 1991, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.