Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
Der Krieg in Jugoslawien - eine Herausforderung für Europa
Die CDU/CSU hat eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Karl Lamers das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Krieg in Jugoslawien geht nicht nur weiter, er weitet sich aus. Die Armee bereitet sich darauf vor, Slawonien von Kroatien abzutrennen. Menschen sterben, Kinder liegen verwundet auf den Feldern, Menschen müssen ihre Heimat verlassen - Krieg mitten in Europa.
Ich finde, das besagt mehr als alles andere über die Verantwortung, die Europa hat. Es besagt mehr als alles andere über die Verantwortung, die die Europäische Gemeinschaft hat, zumal wir sehen müssen, daß keineswegs auszuschließen ist, daß sich dieser Krieg auf andere Teile des heutigen jugoslawischen Staats-verbandes ausweitet, ja darüber hinaus.
So sicher, wie wir sein können, daß es keinen großen Konflikt mehr gibt, geben kann - auf Grund dieses Konfliktes dort, im Rahmen des ehemaligen Ost-West-Konfliktes -, so sehr müssen wir doch sehen, daß beispielsweise Ungarn mit Recht besorgt ist. Die Verantwortung Europas hat also nicht geendet, auch wenn offensichtlich ist, daß die Schwierigkeiten Europas, diesen Konflikt erfolgreich zu beenden, nicht gering sind.
Aber ich finde, auch der gestrige Tag gibt keinen Anlaß zur Resignation. Gewiß sind die Entscheidungen, die wir erhofft und vorgetragen haben, noch nicht gefallen. Aber ich finde, der gestrige Tag ist ein bemerkenswerter Tag auch für die deutsche Jugoslawienpolitik, weil durch die Erklärung von Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl klargeworden ist, daß die französische und die deutsche Position sich wesentlich nähergekommen sind. Ich meine sogar, daß wir sagen könnten, daß sie in ihren Grundlinien jetzt völlig übereinstimmen.
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Das wird seine Wirkung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht verfehlen, es wird auch seine Wirkung in Jugoslawien nicht verfehlen, vor allen Dingen bei Serbien, zumal wenn man diese Erklärung unter der Perspektive der dort beschriebenen und von uns voll und ganz mitgetragenen Entwicklung liest, die auch die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens beinhaltet.
Es hat mancherlei Kritik an der Europäischen Gemeinschaft gegeben. Es war nicht immer gerechtfertigte Kritik, denn wir dürfen nicht übersehen, daß es sich bei diesem Konflikt in Jugoslawien um einen ungewöhnlich schwierigen Konflikt handelt. Ob andere eher in der Lage gewesen wären, ihn zu lösen, ist sehr fraglich. Es ist kein Zufall, daß sich die Vereinigten Staaten bei diesem Konflikt außerordentlich zurückhalten.
Vor allen Dingen meine ich, daß die bisherigen Nicht-Erfolge der europäischen Politik kein Anlaß seien, Zweifel an der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Politik zu hegen. Ganz im Gegenteil, dieser Konflikt, ebenso übrigens wie die Golfkrise, beweist die unbedingte Notwendigkeit, daß sich dieses Europa schnellstmöglich zu einer handlungsfähigen Einheit zusammenschließt.
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Auch unter diesem Aspekt ist die gemeinsame deutsch-französische Position von ungewöhnlichem Wert. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, damit die Regierungskonferenz vor allem zur Politischen Union ein Erfolg wird und diese Europäische Gemeinschaft dann handlungsfähiger ist, als sie sich derzeit erweist.
Aber ich wiederhole, es besteht kein Anlaß zur Resignation. Die Verantwortung Europas hat nicht geendet. Sie nimmt sogar noch ständig zu. Wir sollten die Bundesregierung nachdrücklich ermuntern, diesen Weg, den sie jetzt eingeschlagen hat, weiter fortzusetzen, wie ich glaube, trotz allem, Herr Minister, mit größeren Erfolgsaussichten als bislang.
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Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Blutvergießen in Jugoslawien geht weiter. Der Waffenstillstand, von Lord Carrington mühsam vereinbart, wird fortgesetzt gebrochen. Der gewählte Präsident Jugoslawiens verlangt die Befassung des Weltsicherheitsrates. Der jugoslawische Ministerpräsident Marković verlangt die Absetzung des Verteidigungsministers und seines Stellvertreters. Er beschuldigt die Armee, sie entziehe sich der politischen Kontrolle und setze die Kriegsführung trotz des vereinbarten Waffenstillstands fort.
Die Entwicklung der letzten Stunden bestätigt diese Einschätzung, die von der Bundesregierung seit langem eingenommen wird. Die Bundesregierung hat bei dem ersten Außenministerrat der KSZE am 19. Juni 1991 in Berlin eine Entscheidung herbeigeführt, nach der es allein den Völkern Jugoslawiens obliegt, über die Zukunft des Landes zu entscheiden.
Die von der Bundesregierung und der EG unterstützten Bemühungen in Jugoslawien, dieses Ziel mit Verhandlungen zu erreichen, wurden Ende Juni 1991 durch den Militäreinsatz in Slowenien und später durch die massiven Militäraktionen in Kroatien vereitelt.
Für die Bemühungen der EG, von außen den Verhandlungsprozeß zu fördern, hat der Dringlichkeitsmechanismus der KSZE unter deutschem Vorsitz seither die Unterstützung aller KSZE-Mitglieder sichergestellt. Darum werden wir uns auch in Zukunft bemühen.
Dem Ziel einer friedlichen Lösung der Krise durch Unterstützung von außen dienen die auf deutschfranzösischen Vorschlag einberufene Friedenskonferenz in Den Haag und die Vermittlertätigkeit von Lord Carrington ebenso wie die Arbeit der Schlichtungskommission, der auch der Präsident unseres Verfassungsgerichts angehört.
Der Bundeskanzler und der französische Staatspräsident haben in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 19. September noch einmal die Gewaltanwendung in Jugoslawien verurteilt und ein unverzügliches Ende des Blutvergießens gefordert.
Die Bundesregierung unterstützt die Bemühungen des EG-Vermittlers Lord Carrington um die Einhaltung des Waffenstillstands. Alle Streitbeteiligten in Jugoslawien müssen diesen Waffenstillstand unbedingt beachten. Eine Waffenruhe ist die unverzichtbare Voraussetzung für einen erfolgreichen Verlauf der Haager Verhandlungen, damit die Völker Jugoslawiens frei und ohne Zwang ihre Zukunft bestimmen können. Diese Konferenz wurde gestern in Den Haag fortgesetzt. Lord Carrington hat uns anschließend berichtet.
Auf Vorschlag Deutschlands und Frankreichs haben sich die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft und der Westeuropäischen Union gestern mit einer Friedensmission der Westeuropäischen Union in Jugoslawien befaßt. Dabei bestand Einigkeit, daß eine solche Mission zur Unterstützung der Monitoraufgaben der Europäischen Gemeinschaft auch von dieser gewünscht werden muß und daß zwei Bedingungen erfüllt sein müssen. Erstens: Eine
Feuereinstellung muß erfolgversprechend vereinbart sein. Zweitens: Alle jugoslawischen Parteien müssen zustimmen.
Um die Unterstützung durch die KSZE und den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird nachgesucht werden.
Wir begrüßen die Teilnahmebereitschaft anderer KSZE-Staaten an solchen Friedenstruppen der WEU. Polen und die Tschechoslowakei haben eine solche Bereitschaft erklärt.
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Eine militärische Intervention durch die Entsendung von Truppen ohne Zustimmung aller Streitbeteiligten ist nicht beabsichtigt. Sie könnte nur vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen werden. Eine Ad-hoc-Gruppe der Außen- und Verteidigungsministerien der WEU wird am kommenden Montag in Bonn alle mit dem Einsatz einer Friedenstruppe zusammenhängenden Fragen erörtern. Dabei wird sich zeigen, ob fortbestehende Bedenken bei Mitgliedern der EG und der WEU gegen solche friedenserhaltende Missionen überwunden werden können oder nicht. Aus verfassungsrechtlichen Gründen und aus historischen Gründen können sich deutsche Streitkräfte bei einer WEU-Friedensmission in Jugoslawien nicht beteiligen.
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Politisch und materiell werden wir diese Mission mit allen Kräften unterstützen. Die Westeuropäische Union würde mit der Übernahme einer solchen Mission zu einem handlungsfähigen Organ des Friedens im Dienste der KSZE und der Europäischen Gemeinschaft werden. Der deutsch-französische Vorschlag, eine Friedenstruppe der WEU nach Jugoslawien zu entsenden, ist in der Einsicht begründet, daß die dort bereits seit dem 16. Juli 1991 tätige Überwachungsmission der EG in den Krisengebieten nur unter dem Schutz einer ausreichend ausgerüsteten WEU-Truppe wirkungsvoll ihre Aufgabe ausüben kann und die Monitoren auf diese Weise auch zuverlässig gesichert werden können.
Mein italienischer Kollege De Michelis und ich haben außerdem vorgeschlagen, die EG-Monitoren-Mission zu verstärken, um auch in anderen Teilen Jugoslawiens, wo Konflikte möglich sind, aber noch nicht begonnen haben, durch ihre Anwesenheit zur Ausschaltung dieser Konflikte beizutragen.
Auf Bitten der ungarischen Regierung sollen Monitoren an der jugoslawisch-ungarischen Grenze auf ungarischem Staatsgebiet stationiert werden. Solche Monitoren könnten die Einhaltung des schon früher verhängten Waffenlieferungsverbots an der ungarisch-jugoslawischen Grenze, aber auch an anderen Grenzen Jugoslawiens zusätzlich überwachen.
Als Mittel der Friedenssicherung in Jugoslawien müssen auch zusätzliche wirtschaftliche Maßnahmen geprüft werden. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft ist beauftragt, solche Vorschläge vorzulegen.
Nur ein von der EG und der Westeuropäischen Union wirksam überwachter Waffenstillstand kann
Bundesminister Hans Dietrich Genscher
der Haager Friedenskonferenz eine sinnvolle Fortsetzung ermöglichen. Darüber zu entscheiden, ob und wie lange das aussichtsreich erscheint, liegt jetzt in der Hand des EG-Vermittlers Lord Carrington. Er wird seine Entscheidung bis spätestens 26. September treffen. Die Bundesregierung unterstützt seine Bemühungen mit allen Kräften. Sie wird nichts tun, was diese Bemühungen stört.
Zusammen mit Frankreich werden wir uns um ein gemeinsames Vorgehen der EG bemühen. Unterschiedliche Auffassungen der EG bergen die Gefahr in sich, daß sich die jugoslawische Armeeführung ermutigt fühlt. Eine möglichst breite Unterstützung wird jeden Schritt, den wir tun, wirkungsvoller machen. Das gilt für alle denkbaren Konsequenzen, die zu ziehen sind. Das gilt auch für die Frage der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens, die in der Perspektive der Erklärung des Bundeskanzlers und des französischen Präsidenten liegen kann. Wir halten den Schulterschluß mit Frankreich für entscheidend. Der schwere blutige Konflikt in Jugoslawien ist eine Herausforderung an ganz Europa. Die Bundesregierung tut das ihr Mögliche, um zusammen mit ihren Partnern zur friedlichen Lösung der Krise beizutragen.
Angesichts der Kritik, die derzeit an der Europäischen Gemeinschaft geübt wird, möchte ich sagen, daß das sicher nicht ein Argument gegen die Europäische Gemeinschaft sein kann, sondern, so wie das der Kollege Lamers zutreffend ausgeführt hat, ein zusätzliches Argument für die schnelle Herbeiführung der Politischen Union mit handlungsfähigen Entscheidungsmechanismen sein muß.
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Aber, meine Damen und Herren, wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß, wenn es solche handlungsfähigen Entscheidungsgremien geben wird, nicht sichergestellt sein kann, daß in jedem Fall und lupenrein alle deutschen Vorstellungen Politik der Europäischen Gemeinschaft werden.
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Die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft haben gestern noch einmal die Grundsätze bekräftigt, auf denen eine Friedenslösung in Jugoslawien zu beruhen hat.
Erstens: keine Gewaltanwendung.
Zweitens: keine Anerkennung gewaltsam veränderter Grenzen. Es wird keine Prämie auf Gewalt geben.
Drittens: ein umfassender Minderheitenschutz. Das ist ein Appell an Kroatien und an Serbien. Selbstbestimmung und Minderheitenschutz gehören untrennbar zusammen.
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Viertens: die Berücksichtigung aller legitimen Anliegen und Erwartungen.
Die Bundesregierung unterstreicht die Feststellung von Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl, daß das Selbstbestimmungsrecht respektiert wird. Es ist Angelegenheit der Völker, es auf friedlichem, demokratischem Weg auszuüben. Kein Staatsgebilde kann auf Gewalt gegründet werden.
Wir sind uns bewußt, daß weder die EG noch die WEU noch die KSZE gegen den Willen von Streitbeteiligten vorgehen können. Sie können auch nicht dritte Staaten auf die von ihnen beschlossenen Maßnahmen verpflichten. Deshalb haben der französische Außenminister und ich gestern vorgeschlagen, den Weltsicherheitsrat unverzüglich mit der Lage in Jugoslawien zu befassen. Nach den dramatischen Entwicklungen der letzten Nacht drücke ich die Hoffnung aus, daß dieser Vorschlag jetzt die Zustimmung aller EG-Partner finden wird.
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Ich jedenfalls begrüße namens der Bundesregierung den Antrag Kanadas und Österreichs auf Befassung des Weltsicherheitsrates. Wir unterstützen diesen Antrag, und ich bin sicher, Frankreich, das in diesem Monat den Vorsitz im Weltsicherheitsrat führt, wird das auch tun.
Weder Europa noch die Welt dürfen die fortgesetzte Politik der gewaltsam veränderten Tatsachen durch die jugoslawische Volksarmee akzeptieren. Darauf haben die Völker Jugoslawiens Anspruch.
Deutschland, meine Damen und Herren, nimmt in diesem Konflikt Jugoslawiens nicht Partei für das eine gegen das andere Volk in diesem uns so eng befreundeten Land. Wir nehmen Partei für die Frauen und Mütter, die nicht wollen, daß ihre Männer und Söhne in einem sinnlosen Krieg verbluten. Wir nehmen Partei für Frieden gegen Krieg, für Menschenrechte, für Minderheitenrechte, und wir nehmen Partei für das Recht auf Selbstbestimmung. Das ist unsere Verantwortung vor der Geschichte, das verlangen die Grundwerte unserer Verfassung, das ist die Verantwortung des vereinigten Deutschland. Wir werden diese Verantwortung erfüllen mit unseren Partnern in der EG und im Rahmen der KSZE. Nichts, aber auch gar nichts, auch nicht noch so böswillige Unterstellungen werden uns daran hindern, nach diesen Grundwerten zu handeln.
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Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Karsten Voigt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Während wir hier diskutieren, herrscht in Kroatien Krieg. Gepanzerte Einheiten der Armee rücken in großer Zahl gegen Kroatien vor, und die in Den Haag geplante Friedenskonferenz droht zu scheitern, noch bevor sie richtig begonnen hat. Wer ein effektives Handeln der EG in Zukunft will, der muß jetzt ein ineffektives und unglaubwürdiges Handeln der europäischen Regierungen kritisieren. Ich werfe den EG-Außenministern nicht vor, daß sie gestern nicht bereits alle Probleme auf einen Schlag gelöst haben; das war nicht denkbar. Ich werfe ihnen vor, daß sie nicht einmal in der Lage waren, ein gemeinsames glaubwürdiges Konzept zu entwickeln, mit dem den KSZE-Prinzipien der Ge3490
Karsten D. Voigt ({0})
waltfreiheit, der pluralistischen Demokratie, der Achtung der Rechte nationaler Minderheiten und dem Recht auf Selbstbestimmung zumindest schrittweise in Jugoslawien wieder Geltung verschafft worden wäre.
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Die Regierungen Europas haben den Konflikt in Jugoslawien viel zu spät auf die Tagesordnung ihrer Beratungen gesetzt. Sie haben darüber hinaus auch nur unzureichend, zu spät und widersprüchlich auf die Eskalation der Krise in Jugoslawien reagiert.
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Das jugoslawische Militär hat mit seinem bewaffneten Vorgehen in Slowenien und Kroatien die Einheit Jugoslawiens nicht gerettet, sondern endgültig zerstört. Nach der Erfahrung mit diesem Vorgehen der Armee werden sich Slowenien und Kroatien nicht mehr freiwillig im jugoslawischen Staatsverband halten lassen. Wer nach diesen Erfahrungen Slowenien und Kroatien noch im jugoslawischen Staatsverband halten will, der sollte deshalb ehrlicherweise auch sagen, daß er die hierfür erforderliche gewaltsame Unterdrückung des freien Willens der Bevölkerung zu tolerieren bereit ist. Dies kann und will ich als Demokrat nicht.
Das ist die entscheidende Frage an die Europäer. Deshalb sollten die Europäer sich jetzt um der Demokratie willen - nicht, weil sie irgendeinem Nationalismus das Wort reden wollen, sondern um der Demokratie willen - endlich auf ein gemeinsames Vorgehen einigen, das dem Volk Sloweniens und den Völkern Kroatiens den Weg in die Unabhängigkeit eröffnet.
Die Europäer sollten das Streben nach Unabhängigkeit dieser beiden Republiken nicht mehr in Frage stellen, sondern versuchen, den Prozeß der Scheidung möglichst im Sinne der Friedfertigkeit und der Gewaltfreiheit zu beeinflussen. Dazu ist es erforderlich, daß sich die jugoslawische Volksarmee aus Kroatien zurückzieht, so wie sie es vorher in Slowenien getan hat.
Ich bedaure, daß sich die Außenminister der EG gestern nicht auf diese Forderung haben einigen können. Ich bedaure auch, daß die Außenminister gestern zwar über militärische Aktionen diskutiert haben - darauf komme ich gleich noch - , daß sie aber nicht einmal konkrete und gezielte wirtschaftliche Sanktionen gegen die Urheber der Gewalt, d. h. gegen die jugoslawische Volksarmee und Serbien, beschlossen haben.
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Auch der Bundesaußenminister war in diesem Punkt sehr unklar.
In Den Haag hat man über den Einsatz von Friedenstruppen diskutiert, die aber erst entsandt werden können, wenn Serbien zustimmt. Serbien hat aber bereits gesagt, daß es die Entsendung von Friedenstruppen ablehnt. Sie sollen einen Waffenstillstand kontrollieren, den es nicht gibt, weil er nicht eingehalten wird. Die CDU/CSU fordert eine deutsche Beteiligung an WEU-Truppen, obwohl auf Grund unserer deutschen Geschichte keiner unserer Nachbarn eine derartige Beteiligung der Deutschen am Konflikt in Jugoslawien wünscht und obwohl auch die Bundesregierung eine Beteiligung an derartigen WEU-Einsätzen für verfassungswidrig hält.
In Jugoslawien herrscht Krieg, und die EG-Außenminister, die Bundesregierung und die Regierungsparteien reagieren auf diese Eskalation der Gewalt mit einem konzeptionellen Chaos.
Wir fordern im Namen der leidenden Bevölkerung in Jugoslawien, daß die EG-Außenminister und die Bundesregierung endlich zumindest wirtschaftliche Sanktionen beschließen, daß sie gemeinsam auf EG-Ebene zumindest die Gewalttätigkeit der jugoslawischen Volksarmee verdammen, daß sie zumindest den Rückzug der jugoslawischen Volksarmee fordern und zumindest jetzt eindeutig gegen die Verletzung der Minderheitenrechte im Kosovo und in der Wojwodina - insbesondere gegenüber den dort lebenden Ungarn - eintreten; so gewinnt man an Glaubwürdigkeit, wenn wir auch für die Rechte der Serben in Kroatien eintreten.
Man muß jetzt endlich erkennen, daß Jugoslawien, so wie es in der Vergangenheit bestand, für die Zukunft eine Fiktion ist. Es wird sich immer weniger an Zusammenhalt der restlichen Republiken retten lassen, je mehr man am Status quo festhält. Für Slowenien und Kroatien ist es bereits zu spät. Sie werden eigenständige Staaten werden.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Christian Schmidt.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Es ist alles sehr einfach, wenn die Positionen so wären, wie Sie, Herr Kollege Voigt, sie in Ihrer vollmundigen Kritik an der Politik der Europäischen Gemeinschaft dargestellt haben.
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- Sie war doch sehr deutlich. Bei der Frage zum Schluß, als wir alle darauf gewartet haben, welche konkreten Konzepte denn kommen, nannten Sie nur die wirtschaftlichen Sanktionen. Ich bezweifle, daß sich serbische Tschetniks, aber auch die anderen streitenden Einheiten - bis hin zur Bundesarmee - von wirtschaftlichen Sanktionen so weit beeindrukken lassen, daß sie die Kampfhandlungen einstellen.
Nein, ich glaube, die Verhältnisse sind doch etwas komplizierter. Wir sind uns einig in der Beurteilung der krisenhaften Gefahr für ganz Europa und in der Analyse, daß dieser Konflikt mit der unsensiblen Schärfe eines Skalpells klar und deutlich gemacht hat, daß die Europäische Gemeinschaft und die europäischen Institutionen insgesamt bisher nicht gemeinsaChristian Schmidt ({1})
mer wirkungsvoller Außen- und Sicherheitspolitik in der Lage sind.
Ich glaube aber, daß unterstrichen werden muß, was vom Kollegen Lamers wie auch von Außenminister Genscher deutlich gemacht worden ist: Es kommt darauf an, daß die Europäische Gemeinschaft dieses Defizit in der Gestaltung ihrer zukünftigen institutionellen Verfassung ändert. Es wird auf den Gipfel in Maastricht auch in diesem Bereich eine wesentliche Aufgabe zukommen. Es wird notwendig sein, die Instrumentarien zu verbessern, die den Europäern zur Lösung und zur Befriedung solcher regionalen Konflikte zur Verfügung stehen.
Es ist auch zuzustimmen, wenn in der Öffentlichkeit die Kritik geäußert wird, daß der Weg zu einer gemeinsamen Haltung der Europäischen Gemeinschaft, der sich ja nun erfreulicherweise durch die Annäherung von Deutschland und Frankreich auf Grund der Erklärung des Bundeskanzlers und des französischen Präsidenten vom Mittwoch sehr deutlich abzeichnet, und zur Befassung des Weltsicherheitsrates - auf Initiative von Deutschland und Frankreich und auf Initiative Österreichs und Kanadas - für manche lang gewesen ist. Manche Äußerungen - auch bis hin zu denen der europäischen Ratspräsidentschaft - konnten bei uns nicht das Verständnis finden, das wohl erwartet wurde. Es wird nicht genügen, von Kleinstaaterei abzuraten und auch der Gewalt mit der Formulierung Einhalt gebieten zu wollen, man müsse nun die Truppen und die Kasernen von kroatischer Seite, die von der Bundesarmee in Kroatien kontrolliert werden, unbehelligt lassen. Dies trägt nicht zu einer Lösung bei.
Konkret: Was die Bundesrepublik betrifft, so steht sie in der Verantwortung einer europäischen Friedensinitiative. Dazu gehören auch europäische Friedenstruppen. Sie muß sich natürlich die Frage stellen, ob es unserer Position entsprechen kann, sich auch hier wieder völlig außen vor zu halten. Diese Diskussion wird natürlich auch auf der Tagesordnung bei unseren innenpolitischen Diskussionen in den nächsten Jahren stehen.
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- Es wird aber möglicherweise nicht der letzte Konflikt in Europa sein. Es ist wohl etwas kurzsichtig zu glauben, daß der Konflikt in Jugoslawien, der hoffentlich bald beendet ist - ich setze immer noch Hoffnung auf die Friedenskonferenz in Den Haag, die in der nächsten Woche am Donnerstag hoffentlich weitergehen kann - , der einzige in Europa wäre.
Ich will nur daran erinnern, daß es zwischenzeitlich im Süden Jugoslawiens - ich nenne Kosovo - auch noch andere Regionen gibt, die vor ähnlichen Konflikten stehen könnten. Es kommt darauf an, daß die Europäische Gemeinschaft hier ein Konzept anbietet, daß heißen muß: Friedenstruppen, natürlich wirtschaftliche Sanktionen, Mechanismen innerhalb der Politischen Union einbauen, die eine sinnvolle und eine nachhaltige Reaktion bewirken und die es uns darüber hinaus erlauben, unserer europäischen Verantwortung gerecht zu werden. Es reicht nicht, in allen Fällen die europäische Unfähigkeit zu beklagen und politische Entscheidungen auf der Ebene der Weltpolitik, der Außenpolitik nur mit den Amerikanern gemeinsam in Angriff nehmen zu können. Wir müssen europäische Handlungsfähigkeit erreichen und werden dies auf dem eingeschlagenen Wege hoffentlich bald tun.
Vielen Dank
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Das Wort hat der Abgeordnete Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor mehr als zwei Wochen haben wir in der Debatte zur Regierungserklärung am 4. September von dieser Stelle aus bereits festgestellt, daß es aussichtslos ist, auf die Einhaltung von Waffenstillstandsabkommen im serbisch- kroatischen Krieg zu hoffen. Diese Einschätzung hat sich seitdem täglich bestätigt. Es gab seitens der Konfliktparteien nicht einmal einen ernst zu nehmenden Versuch, sich an die getroffenen Vereinbarungen zu halten. Im Gegenteil, noch während in Den Haag in zermürbenden Verhandlungen eine Annäherung der jugoslawischen Vertreter angestrebt wurde - wobei schändlicherweise den nach den Kroaten am stärksten vom Terror bedrohten Kosovo-Albanern nicht einmal ein Platz am Verhandlungstisch eingeräumt wurde - , schufen die kriegführenden Seiten, insbesondere die serbisch dominierte Bundesarmee, vollendete Tatsachen.
Nun kann zwar niemand außerhalb Jugoslawiens für den blindwütigen Haß und die brutale Gewalt verantwortlich gemacht werden, mit denen dieser Konflikt vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgetragen wird, ebensowenig für den systematischen Bruch des mehrfach ausgehandelten Waffenstillstands.
Die Europäische Gemeinschaft muß sich aber trotz aller aufopfernden Bemühungen von Lord Carrington und anderen Politikern - wobei ich auch den Bundesaußenminister nicht ausschließen will - vorwerfen lassen, daß sie viel zu spät, hilflos und inkonsequent auf die sich seit langem zuspitzende Entwicklung in Jugoslawien reagiert hat. Monatelang wurde die Zeit damit vertan, die Fortexistenz eines jugoslawischen Staates zu beschwören, nachdem dieser längst zerfallen war.
Nun kann zu Recht gesagt werden, daß die deutsche Außenpolitik durchaus eher als die der anderen EG-Staaten auf die Verschärfung der Lage reagiert hat. Aber unter den Blinden ist eben der Einäugige König. Auch hierzulande wurden die Warnungen vieler Kenner und aufmerksamer Beobachter der Situation lange Zeit in den Wind geschlagen, und zwar von denselben Leuten, die heute ihr Lieblingskind WEU durch die Aufstellung von Eingreiftruppen aufpäppeln möchten, was nicht nur gefährlich und unrealistisch, sondern auch völkerrechtswidrig wäre.
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Nicht viel erfolgversprechender erscheint die Aufstellung von Friedenstruppen der WEU. Dafür bietet sie ebensowenig wie die EG die notwendigen Voraussetzungen, weder durch Erfahrungen noch durch das
vorhandene Instrumentarium. Außerdem kann niemand ernsthaft mit der Zustimmung Serbiens rechnen.
Welche Konstruktion auch immer bemüht wird, eines muß völlig ausgeschlossen werden: daß deutsche Soldaten beteiligt werden. Das verbietet sich nicht nur aus verfassungsrechtlichen Gründen, sondern vor allem wegen unserer historischen Verstrickung in das Schicksal der Völker Jugoslawiens. Die Erinnerung daran ist nicht nur bei ihnen noch wach, sondern auch in vielen westeuropäischen Ländern. Es bleibt nach dem kläglichen Versagen der EG - ein anderes Wort fällt mir dafür bei bestem Willen nicht ein - und nach dem offensichtlichen Scheitern der Haager Konferenz - auch das sollte nun formell festgestellt und nicht euphemistisch überspielt und auf den nächsten Donnerstag verschoben werden - nur noch eine Möglichkeit: die schnelle Einbeziehung der Vereinten Nationen, die Internationalisierung des Konflikts.
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Auch darüber habe ich schon am 4. September gesprochen. Voraussetzung dafür ist die sofortige völkerrechtliche Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, damit diese als souveräne Staaten den Sicherheitsrat anrufen können.
Aus Sanktionen der Vereinten Nationen ergäbe sich vielleicht eine letzte Chance für eine baldige Beendigung des Krieges. Niemand sollte der Bundesrepublik Deutschland einen Vorwurf machen dürfen, wenn sie sich für die Anerkennung einsetzt. Aber Willy Brandt hat recht, wenn er sagt: Mit Anerkennung droht man nicht. Anerkennung läßt man jemandem zuteil werden. In diesem Fall gibt es dafür einen guten Grund: das allseits akzeptierte Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Selbstverständlich müssen auch die Bemühungen um neue KSZE-Mechanismen verstärkt fortgesetzt werden. Es war für mich bedrückend, in Moskau bei der KSZE-Konferenz zur menschlichen Dimension zu erleben, daß der Krieg und die Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien zwar in allen Köpfen sind, nicht aber - wegen des von etlichen Staaten immer noch favorisierten Konsensprinzips - auf der dortigen Tagesordnung. Die europäische - auch die deutsche - Außenpolitik muß endlich konsequent ihre letzten Möglichkeiten ausschöpfen, damit sie nicht länger den Ereignissen hinterherläuft.
Bleiben Sie mit Ihren Engagement, meine Damen und Herren, nicht hinter dem jener Menschen aus mehreren europäischen Ländern zurück, die in der nächsten Woche in einer Friedenskarawane von Triest nach Sarajevo ziehen werden, und das selbstverständlich unbewaffnet.
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Herr Abgeordneter Günter Verheugen, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wo besteht in der Jugoslawienpolitik eigentlich noch Konsens zwischen uns, und wo hat er sich in den letzten Wochen aufgelöst? Wenn ich die bisherige Debatte verfolge, sage ich: Konsens besteht darin, daß wir alle darin übereinstimmen - das ist wichtig und viel - , daß wir eine friedliche Lösung des Konflikts nach den KSZEPrinzipien wünschen. Herr Kollege Lamers, aber dann hört es schon fast auf.
Die hier erhobene Forderung, den JugoslawienKonflikt durch die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens zu internationalisieren, ist in sich ein bißchen widersinnig. Denn die Internationalisierung im Sinne einer Befassung durch die Vereinten Nationen ist schon lange möglich. Es gibt überhaupt keinen Grund, den Weltsicherheitsrat nicht mit der Jugoslawien-Krise zu befassen.
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- Jetzt schon, schon lange. ({1})
Das Argument, es handle sich um eine rein innere Angelegenheit, ist keineswegs zwingend. Es gibt eine Reihe von Präzedenzfällen, wo die UNO in ähnlichen Situationen gehandelt hat. Die internationalen Auswirkungen dieses Konflikts, die Gefahr für den Frieden in der ganzen Region kann ja nicht bestritten werden. Wer also will, daß dies internationalisiert wird, braucht wirklich nur nach New York zum Weltsicherheitsrat zu gehen. Nach unserer Meinung hätte das längst geschehen müssen.
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Darum begrüße ich es auch sehr, Herr Genscher, was Sie eben gesagt haben: daß die Bundesregierung diesen Ansatz unterstützt.
Die Diskussion über die Rolle der WEU bei den Bemühungen zur Bewältigung der Krise muß ich mit einer ganzen Reihe von schweren Fragezeichen versehen. So wie es gestern im Kommuniqué des Gesprächs von Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterrand formuliert worden ist, ist das eine Einladung an die Konfliktparteien, so lange weiterzumachen, bis eine den territorialen Zustand erreicht hat, den sie haben möchte; und diesen territorialen Zustand, die Grenzen, die z. B. Serbien haben möchte, darf dann eine Friedenstruppe der WEU verteidigen. Dies bedeutet das.
Es bedeutet jedenfalls nicht, daß das Schießen aufhört, bevor nicht irgendeine der Seiten den territorialen Zustand erreicht hat, den sie erreichen möchte. Das ist doch genau der Punkt, und das wissen auch Sie alle ganz genau. Das ist ja alles längst erklärt worden. Wer jetzt trotzdem davon redet, wir brauchten das, und wer davon redet, wir müßten sogar eine deutsche Beteiligung daran haben, dem muß ich unterstellen - das ist keine böswillige Unterstellung, sondern Ausdruck einer tiefen Sorge - , daß es hier um etwas anderes geht, daß damit die Jugoslawien-Krise zum Vehikel benutzt wird, eine Bresche in die öffentliche Meinung zu schlagen für etwas ganz anderes, was man schon lange will, nämlich die Aufstellung von Interventionstruppen der WEU, an der sich auch DeutGünter Verheugen
sche beteiligen. Das steckt nach meiner Überzeugung dahinter.
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Damit hier kein Mißverständnis entsteht: Die Beteiligung deutscher Truppen an Friedenstruppen der WEU oder meinetwegen an Schlimmerem, was einige von Ihnen wollen, kriegen Sie nicht ohne Grundgesetzänderung; das wissen Sie. Damit dies klar ist: Diese Grundgesetzänderung kriegen Sie mit der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion nicht. Das können Sie sich abschminken.
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Wir sind bereit - das haben wir auf unserem Parteitag beschlossen - , einen deutschen Beitrag zu leisten, wenn Friedenstruppen eingesetzt werden müssen. Aber verantwortlich für Friedenstruppen sind die Vereinten Nationen und niemand sonst. Wenn irgendwelche Militärbündnisse, deren Legitimationsbedürfnisse inzwischen größer werden, als ihr Streben nach Existenzberechtigung nach neuen Aufgaben sucht,
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dann kann ich nur sagen: Bleiben Sie bei den bewährten Strukturen, die wir haben! Es kann ja wohl auch nicht so sein, daß die Vereinten Nationen für Konflikte in der Dritten Welt zuständig sind, aber wenn in Europa etwas zu machen ist, dann halten wir sie lieber heraus.
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Meine Damen und Herren, es besteht auch, fürchte ich, kein Konsens in der Frage, wie eigentlich die deutsche und europäische Außenpolitik auf die ganz neu entstandene Lage in Europa reagiert. Es besteht das Problem, daß eine konzeptionell neue Außenpolitik gefragt ist, denn, was wir in Jugoslawien erleben, ist ja nur ein Teil des Problems. Auf dem Balkan und in Osteuropa schlummern die Keime von zumindest einem Dutzend solcher Konflikte. Ich fände es verheerend und verhängnisvoll, wenn wir bei jedem einzelnen dieser Konflikte, die noch kommen werden, so reagieren würden, wie es in den letzten Monaten geschehen ist.
Ich meine, die Europäische Gemeinschaft muß unseren östlichen Nachbarn eine politische Perspektive bieten im Sinne von Parallelität, von Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Es muß die Perspektive der Mitgliedschaft geboten werden.
Wir müssen auch das sicherheitspolitische Vakuum, das in Teilen Europas entstanden ist, durch neue Strukturen füllen; d. h. der KSZE-Prozeß muß vorangetrieben werden.
Im Falle Jugoslawiens möchte ich doch noch sehr deutlich sagen, hier ist das Instrument des wirtschaftlichen Drucks überhaupt nicht ausreichend geprüft und angewandt worden.
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Dieses Land hat eine Waffenproduktion. Wo geschossen wird, müssen Waffen besorgt werden. Wo Waffen
benutzt werden, muß Munition hergestellt werden.
Das geschieht ja. Wo kommen die Rohstoffe her? Wer liefert sie, und wer liefert die Technologie? Welche Möglichkeiten gibt es, die Rüstungsproduktion in Jugoslawien durch wirtschaftliche Sanktionen zu beeinträchtigen? Diese Möglichkeiten gibt es. Hier wäre ein bißchen mehr Phantasie und Kreativität seitens der EG gefragt gewesen.
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Meine Damen und Herren, eine geschäftsführende Bemerkung: Bis jetzt hat fast jeder Redner ein gutes Stück überzogen. Bei den verabredeten fünf Minuten summiert sich dies. Ich bin bisher keinem ins Wort gefallen, weil auch derjenige, dem ich gar nicht ins Wort fallen kann, nämlich der Vertreter der Regierung, der Bundesaußenminister, reichlich von dem Rederecht Gebrauch gemacht hat. Ich glaube, wir tun uns jetzt gegenseitig einen Gefallen, wenn wir uns an die fünf Minuten halten.
Ich weise noch einmal darauf hin: Das gelbe Licht bedeutet, daß der Redner noch eine Minute hat. Wenn das rote Licht leuchtet, ist es aus.
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- Herr Kollege Solms, es verteilt sich gleichmäßig auf die Fraktionen.
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- Ich würde dem Bundesaußenminister doch nicht ganz die Zugehörigkeit zur Fraktion absprechen.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Bruno Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Welt, vor allem Europa, steht mit großer Bestürzung vor der Tatsache des Bürgerkriegs in Jugoslawien.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß Europa durch die Auflösungserscheinungen in den europäischen Vielvölkerstaaten, die jahrzehntelang unter Zentralismus und Staatsbürokratie gelitten haben, vor völlig neue Herausforderungen gestellt worden ist. Mit Bestürzung stellen wir auch fest, daß Krieg - einschließlich Bürgerkrieg - wieder zu einem Mittel der Politik zu werden droht, - ein Zustand, den wir eigentlich für überwunden gehalten haben.
Zugleich werden wir Deutsche kurz nach unserer durch Zusammentreffen historischer Fügungen möglich gewordenen Wiedervereinigung auch mit unserer eigenen Geschichte konfrontiert: Im Baltikum kam es zum Glück zu einer unblutigen Revision der Folgen des Hitler-Stalin-Pakts; der Auflösungsprozeß in der Sowjetunion scheint sich bisher in geordneten Bahnen zu vollziehen. In Jugoslawien hingegen ist ein hochexplosives Gemisch aus nationalen, .lang unterdrückten Leidenschaften entstanden. Serbien versucht nun noch zusätzlich, mit militärischer Gewalt Grenzen zu verändern.
Wir stehen vor der Tatsache, daß Europa zur Fassungs- und Machtlosigkeit verurteilt zu sein scheint.
Es ereilt uns hier, genau wie im Baltikum, unsere eigene Vergangenheit: Die Rolle des Dritten Reichs und deutsche Soldaten auf jugoslawischem Territorium ist dort in einem Maße unvergessen, das es uns verbietet, jemals wieder deutsche Streitkräfte, in welcher Funktion auch immer, dorthin zu entsenden. Für eine solche, von verschiedenen Seiten leichtfertig geforderte Maßnahme wird es mit Sicherheit schon an einem elementaren Grunderfordernis fehlen, nämlich an der Zustimmung aller Beteiligten.
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Nur unter dieser Voraussetzung nämlich wäre eine Konstruktion denkbar, daß unter dem Mandat der KSZE, dem einzigen alle europäischen Staaten umfassenden Gremium, durch eine Aktion der EG- oder der WEU-Mitgliedstaaten, der sich andere KSZE-Mitgliedstaaten anschließen könnten, so etwas wie Blauhelme in das Kampfgebiet entsandt werden könnte.
Einziger Zweck wäre eine Trennung der Kampfparteien nach einem wirksamen Waffenstillstand. Es müßte sich dabei um eine ernstgemeinte, d. h. eine von allen Seiten, einschließlich der Kombattanten, gewollte Waffenruhe handeln, die zugleich mit einer Verpflichtung der streitenden Parteien zu einer geographisch klar nachvollziehbaren Trennung verbunden wäre. Noch ist mehr als zweifelhaft, ob der Waffenstillstand, den Lord Carrington als Vorsitzender der EG-Friedenskonferenz mit den Hauptverantwortlichen ausgehandelt hat, überhaupt Bestand haben wird.
Ein militärisches Eingreifen gegen den Willen eines oder mehrerer Beteiligter, also eine Interventionstruppe, würde schon vom Umfang des Engagements, von der Schwierigkeit der Mission, von der Zahl der einzusetzenden Streitkräfte, von Logistik und Topographie des Geländes her Dimensionen des Golfkrieges - und dazu unter erschwerten Bedingungen - annehmen. Ob dies dann zu einer dauerhaften Befriedung führen würde, ist außerdem mehr als zweifelhaft.
Nein, meine Damen und Herren, wir sind den Beweis schuldig, daß wir durch die Beharrlichkeit friedlicher Verhandlungen, nicht mit der Macht der Waffen europäische Innenpolitik im gemeinsamen Haus Europa betreiben.
Hier wurde von den Vorrednern mehrfach darauf hingewiesen, daß die Institutionen Europas nicht in der Lage seien, so etwas zu bewirken. Es wurde mehrfach darauf hingewiesen, es werde zu zögerlich, zu spät gehandelt. Nun, meine Damen und Herren, es ist immer leicht, so etwas im nachhinein zu behaupten. Wenn Sie genau verfolgt haben, wie konsequent und intensiv die deutsche und die europäische Außenpolitik darauf hingewirkt hat, diesen Konflikt mit friedlichen Mitteln zu begrenzen - das muß unser aller Ziel sein - , dann werden Sie zugeben, daß hier ein hohes Maß an Verantwortung aller europäischen Institutionen, insbesondere der deutschen Außenpolitik, bewiesen worden ist.
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Natürlich sind die jugoslawischen Mütter, die Frauen und Kinder sowie die ins Ausland desertierten
Kameraden der jugoslawischen Volksarmee noch nicht stark genug, um gegen die Fortführung des Mor-dens von sich aus entscheidende Zeichen zu setzen. Daher darf das restliche Europa, das die bitteren Folgen von Haß und Krieg in 40 Jahren enger Zusammenarbeit überwunden hat, nicht aufhören bei dem Versuch, die vorhandenen Probleme und Gegensätze friedlich zu lösen und zu überwinden.
Wenn - und diese Chance besteht noch - es vielleicht in wenigen Tagen zu einer wirklichen und dauerhaften Waffenniederlegung kommt, so ist unsere Mithilfe ein weiteres Mal gefordert. Aber sie gilt vor allem
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, ich komme zum Ende.
Ich möchte hier noch zum Ausdruck bringen, daß ich fest davon überzeugt bin, daß dieses Europa nicht nur den Willen, sondern auch die Fähigkeit hat, in der Zukunft solche Konflikte auf friedlichem Wege beizulegen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hans Koschnick.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Was über Den Haag zu sagen ist, ist gesagt worden; welche Positionen die europäischen Nachbarn und wir eingenommen haben, ist dargelegt worden. Doch bitte ich eines zu bedenken: Im KSZE-Prozeß sind vier oder fünf Vetomächte beteiligt: die Sowjetunion, die USA, England und Frankreich. Wer international wollte und konnte, hätte längst die Frage dahinbringen können. Wir wissen aber, daß zwei der großen Mächte das gar nicht wollen und die beiden anderen westeuropäischen Länder ihre Bedenken haben. Es ist eine der Problematiken, die wir heute festhalten können, daß unsere gemeinsame westeuropäische Position in der Außenpolitik nicht so klar und so eindeutig ist, wie es gelegentlich dargestellt wird.
Die Tatsache, daß sich in Jugoslawien ein Veränderungsprozeß vollzieht, ist längst erkennbar gewesen. Es begann bei der Diskussion um den Kosovo, das zeigte die Verfassungsveränderung für die Vojv'odina, es machte deutlich, was die Slovenen und Kroaten wollten. Und wir haben zugeschaut und haben erst angefangen, uns den Kopf zu zerbrechen, als es brannte.
Wir haben dann, das gebe ich ja zu, im KSZE-Prozeß die EG gebeten, die Lösungen voranzutreiben. Die Idee, jetzt mit der WEU zu arbeiten, ist abstrus. Wenn wir etwas erreichen wollen und wir den KSZEProzeß ernst nehmen, dann müssen alle vier anderen Vetomächte eine Verantwortung übernehmen, damit wir hier einen Prozeß der Verständigung erreichen. Wenn sie es nicht wollen, dann müssen wir erkennen, daß der Prozeß am Anfang schon mit so vielen Widerhaken versehen ist, daß ich nicht glaube, daß der
nächste Konflikt durch eine KSZE-Vereinbarung gelöst werden kann. Ich setze darauf, daß es noch eine andere Chance gibt. Aber zu glauben, daß die WEU eine Ersatzlösung bringt, ist nach meiner Meinung weder realistisch noch für die Zukunft eine Lösung.
Wir brauchen eine andere Perspektive. Ich bitte unseren Außenminister, der in vielfältiger Form, sei es in der WEU, sei es in der KSZE, unmittelbar beteiligt ist und verantwortlich ist, doch darüber nachzudenken, wie der KSZE-Prozeß vertieft werden kann, damit alle - die Gebundenen und die weniger Gebundenen - einen Weg finden, hier Ruhe zu schaffen.
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Meine Sorge ist, daß wir eine Selbstbestimmungsdiskussion aufnehmen, die wir nicht durchhalten können. Das Zusammenwachsen beider deutschen Staaten ist in dieser Selbstbestimmung etwas ganz anderes als eine Herauslösung aus einem Staatenverband, der nicht freiwillig geschaffen worden ist. Die Wiederherstellung der Souveränität der baltischen Staaten hat nichts mit der Diskussion zu tun, wie sie jetzt aufbricht. Wer Selbstbestimmung so als Diskussionsanspruch akzeptiert, wird morgen das gleiche für die Tschechoslowakei, übermorgen für Südtirol und für jedes andere Land sagen müssen, und plötzlich stellen wir fest, daß das nicht die Antwort sein kann. Ich warne davor, die Diskussion so zu führen.
Ich sage zugleich: Ob ich es will oder nicht, ist gar nicht mehr wichtig. Das Handeln des jugoslawischen Militärs hat dazu beigetragen, daß es objektiv keinen jugoslawischen Staatsverband mehr geben kann.
Die Fakten sind klar. Es wird eine Selbständigkeit von Slowenien und Kroatien geben, wie immer sie aussehen wird. Aber nur zu sagen, wir machen alles unter dem Begriff Selbstbestimmung, ist eine der größten Gefahren für die europäische Politik. Ich bitte Sie wirklich, nachzudenken, ob das die Frage ist, oder ob wir nicht gemeinsam für mehr Demokratie, für Menschenrechte, für Minderheitenschutz und für anderes mehr eintreten müssen, als über die Sezessionsfrage nachzudenken.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat der Abgeordnete Professor Dr. Scholz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Tragik und Dramatik der Ereignisse in Jugoslawien ist von allen Vorrednern, allen Parteien, allen Fraktionen eigentlich alles Wesentliche gesagt. Die Debatte hat sich ganz wesentlich auch mit dem, was Herr Koschnick eben gesagt hat, zu der Frage hin entwickelt: Was haben wir für Möglichkeiten, sanktionsmäßig, gegebenenfalls sanktionsbewehrt, wirksame Politik in dieser Frage zu machen? Dem möchte ich mich zuwenden.
Ich möchte aber zunächst einen Satz zu der hier mehrfach gehörten Äußerung sagen, daß wir Deutschen aus historischen Gründen in diesem Konflikt nur sehr bedingt Verantwortung übernehmen können.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der Konflikt in und um Jugoslawien - ich glaube, wir müssen heute schon von „um" Jugoslawien sprechen - basiert letztlich auf den Folgen des Ersten Weltkriegs. Wir bewältigen heute nicht die Folgen des Zweiten Weltkriegs allein, sondern wir bewältigen auch die Folgen des Ersten Weltkriegs: willkürliche Grenzziehungen in Europa, das Aufbrechen des Selbstbestimmungsgedankens, den man, Herr Koschnick, nicht mit dem schlichten Satz abbremsen kann: Selbstbestimmung kann nicht Sezession heißen. Selbstbestimmung führt auch zu Sezessionsansprüchen.
({0})
Das ist ein sehr ambivalentes und sehr weites Feld.
Nur, eines möchte ich hier sagen: Wenn man diesen Zusammenhang sieht, muß man begreifen, daß auch wir Deutschen eine buchstäblich historische Mitverantwortung in dieser Frage haben und daß wir nicht etwa umgekehrt argumentieren und sagen können: Aus historischen Gründen sind wir Deutschen nur bedingt zur Mitverantwortung berufen. Ich behaupte: Das Gegenteil ist richtig.
({1})
Vielleicht begreifen Sie das zweite, was Sie gern hören wollen, schneller, wenn ich einen weiteren Satz hinzufüge: Wenn es in diesem Zusammenhang wirklich zu militärischen Sanktionen, militärischen Interventionen kommen sollte - vielleicht ist das nicht mehr abdingbar - , dann wird der Satz - auch ich beschränke mich auf einen Satz - , daß dies alles für uns Deutsche verfassungsrechtlich ausgeschlossen sei, durch die schlichte stereotype Wiederholung nicht wahrer, als er unwahr ist.
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Das Entscheidende ist, daß wir begreifen, daß die europäischen Institutionen im Augenblick noch nicht hinlänglich in der Lage sind, mit Sachverhalten dieser Art, mit Konflikten dieser Art fertigzuwerden.
Ich habe Verständnis für die Position der Vereinigten Staaten, wenn sie sagen: Dies ist ein Konflikt, den zunächst einmal die Europäer selber bewältigen und befrieden müssen. In der Tat, europäische Verantwortung ist in dieser Frage absolut prioritär gefordert.
Aber wir wissen auch: Die Europäische Gemeinschaft verfügt nicht über ein hinreichendes Mandat. Auch die Westeuropäische Union verfügt über kein hinreichendes Mandat. Ebenso ist die KSZE nicht hinreichend sanktionsbewehrt, ist nicht institutionell hinreichend für Konflikte dieser Art gerüstet. Das ist das Problem.
Ich meine, es ist richtig - der Bundesaußenminister hat das hervorgehoben - , daß jetzt ins Auge zu fassen ist und ins Auge gefaßt wird, mit Nachdruck den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anzurufen. Ich meine, dies ist der einzige erfolgversprechende Weg in der derzeitigen Situation.
Auch ich nehme das Wort von Willy Brandt auf, daß man mit Anerkennung nicht drohen kann. Anerken3496
nung ist ein Recht, das sich auf Selbstbestimmmung gründet. Der Selbstbestimmungsprozeß in diesem Vielvölkerstaat, der längst total zerfallen ist, fordert Anerkennung. Das ist die erste Aufgabe der Europäer.
Das zweite ist, im Verbund mit den Vereinten Nationen jetzt für Lösungen zu sorgen. Das kann nicht mehr viel Zeit haben; das kann nicht mehr lange warten. Parallel zu den Bemühungen in Den Haag, die wir unterstützen, muß auch dieser weitere Weg jetzt gegangen werden.
Vielen Dank.
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Herr Abgeordneter Modrow, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Schicksal der Völker Jugoslawiens bewegt seit Wochen den gesamten europäischen Kontinent. Die westlichen Staaten entfalten große diplomatische Aktivität, und die östlichen Nachbarn sind besonders besorgt, weil sie Unruhen auch in ihren Ländern befürchten. Unter diesen Gesichtspunkten erhebt sich die Frage nach den tieferen Ursachen des Konflikts und des Fehlschlagens der bisherigen Bemühungen, ihn zu beseitigen.
Der wirtschaftliche Niedergang und das fehlende Vermögen zum Ausgleich seitens der politischen Hauptkräfte des Landes ließen die alten Nationalitätenkonflikte in ungeheurer Schärfe aufbrechen und eskalieren. Es wäre zu einfach, dabei den politischen Zusammenhang darauf zu reduzieren, daß den ehemaligen kommunistischen Kräften das Versagen und den sogenannten demokratischen Kräften der Wille zur konstruktiven Lösung zugesprochen wird. Dieses Schema ist veraltet; es erfaßt die Dinge weder hier noch anderswo. Aber auch mit der alleinigen Forderung nach Bewahrung des Selbstbestimmungsrechts der Völker lösen sich die Konflikte nicht, wenn nicht die Rechte der Minderheiten gleichrangig behandelt werden.
Die Außenpolitik der Bundesregierung hat mit ihren einseitigen Parteinahmen und Drohungen zur Anerkennung einer der streitenden Seiten Kritik im Ausland ausgelöst und Zweifel an ihrer Berechenbarkeit erzeugt. Unter Mißachtung der komplizierten inner-jugoslawischen und historischen Zusammenhänge und offensichtlich in der Absicht, „Führungspartnerschaft" auszuüben, wie sie der Bundeskanzler angeboten hat, trat sie nicht als konstruktiver Vermittler zwischen den Seiten auf. Sie betrieb zeitweilig eine völlig widersprüchliche Politik, so daß der Vorwurf der Konzeptionslosigkeit nicht lange auf sich warten ließ.
Gewiß muß es respektiert werden, wenn Völker Veränderungen wünschen, sowohl im Sinne möglichst umfassender politischer und kultureller Autonomie als auch in gleicher und letzter Konsequenz als Recht auf einen eigenen Staat. Das Selbstbestimmungsrecht ist aber unteilbar. Das Recht eines Volkes trifft sich dann mit gleichen Rechten der anderen Völker. Es muß deshalb den Konflikt anheizen, wenn ständig mit völkerrechtlicher Anerkennung von Slowenien und Kroatien gedroht wird, während die Rechte der Serben in Kroatien nicht mit gebührender Aufmerksamkeit beachtet werden.
Was wird - so muß doch weitschauende Politik fragen -, wenn z. B. Korsen, Basken, Katalonier oder andere ihr Recht in Anspruch nehmen wollen.
Weit beunruhigender, weil in höchstem Maße belastend, ist die über die Entsendung sogenannter europäischer Friedenstruppen ausgelöste Diskussion. Völlig losgelöst von der Spezifik der jugoslawischen Situation wird dem Einsatz von Militär das Wort geredet. Spätestens seit Vietnam und Afghanistan müßte aber klar sein, daß Konflikte auf diese Weise nicht lösbar sind. Was sich politisch nicht klärt, ist militärisch dauerhaft nicht zu lösen. Solche Abenteuer können aber ganz Europa in den Strudel kriegerischer Konflikte reißen.
Die Bundesrepublik muß solche Pläne aufgeben und darf nicht glauben, in einer günstigeren Lage zu sein, wenn sie - wie am Golf - nur Logistik und Material dafür zur Verfügung stellt. Kriegführende Parteien werden im Zeitalter der Hochtechnologie nicht mehr nur am direkten bewaffneten Einsatz festgemacht. Es sollte jeden Politiker in der Bundesrepublik zur Besinnung auffordern, wenn Vertreter Jugoslawiens, aber auch anderer europäischer Staaten das Agieren der Bundesregierung mit den deutschen Ultimaten vor den beiden Weltkriegen vergleichen. Es darf nicht eintreten, daß die jugoslawischen Völker, denen durch Hitler-Deutschland schweres Leid zugefügt worden ist, das vereinte Deutschland als militärischen Ordnungsfaktor erleben.
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Wenn die Bundesregierung nach dem außenpolitischen Desaster in dem blutigen jugoslawischen Drama wirksam vermitteln will, dann ist zuallererst bei Wahrung des Grundsatzes der Nichteinmischung aktives, konstruktives Handeln geboten, wie es in der Resolution dieses Hohen Hauses am 20. Juni dieses Jahres von allen Fraktionen und Gruppen gefordert wurde.
Mit besonderem Nachdruck muß sie sich für die sofortige Einstellung des Blutvergießens durch alle Bürgerkriegsparteien einsetzen, wie Sie, Herr Außenminister, das mit Recht formuliert haben. Die Probleme müssen im Lande selbst durch Verhandlungen zwischen allen beteiligten Kräften gelöst werden. Das kann niemals mit Erfolg und auf Dauer von außen geschehen. Sanktionen können hier helfen, aber sie werden nur kurzfristige Wirkungen haben.
Zugleich sollte die Bundesregierung durch gute Dienste und ehrliche, unparteiische Vermittlung in der EG, in der KSZE sowie eigenständig mithelfen, ein Umfeld zu schaffen, das letztlich eine Lösung dieser Krise ermöglicht.
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Das Wort hat der Abgeordnete Volkmar Köhler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und KolDr. Volkmar Köhler ({0})
legen! Ich halte es für eine bedenkliche Verkürzung, wenn wir uns bei den Fragen nach der deutschen Handlungsmöglichkeit in diesem Konfliktfeld überaus schnell wieder der Vergangenheit und den historischen Lasten zuwenden.
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Dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Es wird absichtsvoll unter dem Titel „Neue deutsche Gefahr" bis hin zu den unglaublichen Verunglimpfungen des Herrn Außenministers geschürt, um damit ein in Wahrheit schändliches politisches Handeln zu bemänteln.
Tatsächlich haben wir hier eine Situation, der wir auch mit Hinweis darauf, daß unsere Geschichte uns vielleicht Mäßigung auferlegen sollte, in keiner Weise entrinnen können. Denn das, was „Neue deutsche Gefahr" genannt wird, ist in Wahrheit nur eine Verkleidung der Tatsache, daß auf diese Länder Ost- und Südosteuropas große neue politische und wirtschaftliche Probleme zukommen, denen sie sich stellen müssen, was zu großen Turbulenzen, zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Belastungen führt. Bei all dem kann Deutschland auf Grund seines Potentials in Europa nicht anders als eine Rolle spielen; wir können vor diesen Fragen überhaupt nicht weglaufen. Deswegen geht uns das Ganze etwas an.
Ich habe nicht sehr viel Freude daran, in die Händel des Balkans verstrickt zu werden. Es galt in Deutschland lange als kluge Politik, das tunlichst zu vermeiden. Aber angesichts einer Situation, die uns nicht nur menschlich aufs tiefste erschüttert, sondern auch die Gefahr eines erneut ausgreifenden Balkankrieges mit sich bringt, können wir nicht einfach danebenstehen. Wir müssen die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß Osteuropa auf geraume Zeit ein zentraler Faktor europäischer Unsicherheit sein kann. Niemand kann uns diese Last abnehmen. Auch das Hinschieben auf die Vereinten Nationen ändert nichts daran, daß in erster Linie immer wieder die Europäische Gemeinschaft wirtschaftlich und zunehmend auch politisch gefragt ist.
Wir müssen in diesem Zusammenhang sehr klar zum Ausdruck bringen - auch so, daß man es in Belgrad hört - , daß sich derjenige, der im europäischen Haus wohnen will, auch der politischen Kultur dieses Hauses unterwerfen muß. Wer diese in Westeuropa entwickelte Gesittung der Konfliktschlichtung und -beilegung nicht akzeptiert, sondern auf die Waffen vertraut, die noch nie ein Problem gelöst haben, aber immer wieder namenloses Elend mit sich bringen, der darf auf der anderen Seite nicht hoffen, daß wir dann, wenn er vollendete Tatsachen geschaffen hat, über kurz oder lang zur Tagesordnung übergehen und Aufbauhilfe zur Behebung des entstandenen Unheils leisten.
Aus all dem resultiert aber auch: Wenn wir auf längere Zeit mit einem Faktor von Unsicherheit östlich von uns rechnen müssen, haben wir diese Aufgabe zu akzeptieren, und zwar nicht nur im Sinne der Bereitschaft zur wirtschaftlichen Hilfe, sondern auch im Sinne der Bereitschaft zum politischen Handeln. Wir müssen, ohne damit andere Möglichkeiten auszuschließen - dies ist eine Frage der jeweiligen Opportunität politischen Handelns - , Europa handlungsfähiger machen; dies gilt sowohl für die politische Einheit wie auch für im Sinne des Friedensschutzes mögliches militärisches Handeln.
Die 69 % der deutschen Bevölkerung, die laut den Nachrichten des heutigen Morgens mit der Politik der Bundesregierung in bezug auf Jugoslawien unzufrieden sind, und ihre politischen Repräsentanten müssen sich auch fragen lassen, wie lange sie noch die dafür nötigen politischen Entscheidungen verweigern können, damit Europa diese Aufgabe endlich tragen kann.
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Herr Abgeordneter Ulrich Irmer, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren, ich möchte ein paar Aspekte aus dieser Debatte noch einmal aufgreifen: Wir haben die Kritik gehört, die Europäische Gemeinschaft habe versagt, die einen oder anderen hätten viel zu spät reagiert; und wir haben natürlich auch Patentrezepte gehört.
Wenn gesagt wird, Slowenien und Kroatien hätten längst als unabhängig anerkannt werden müssen, dann liegt ja in dieser Behauptung zugleich die Unterstellung, damit könne das grundlegende Problem gelöst werden oder hätte schon früher gelöst werden können. Ich bin der Meinung der Bundesregierung, wie der Bundesaußenminister sie ausgedrückt hat, daß die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens kommen wird, vorausgesetzt, die EG-Staaten handeln hier gemeinsam, möglichst in Abstimmung mit den anderen KSZE-Partnern, mit den USA und anderen; denn wir als Deutsche sollten hier einen Alleingang auf jeden Fall vermeiden.
({0})
Aber erliegen wir doch bitte nicht der Illusion, durch die Anerkennung würde irgend etwas leichter! Hören denn dann die Serben und die Kroaten in der unabhängigen Republik Kroatien auf zu streiten? Wir haben doch das Minderheitenproblem dann überhaupt nicht gelöst. Es gibt geschlossene Siedlungsgebiete der Serben innerhalb Kroatiens. Innerhalb der Gebiete sind wieder Gegenden, wo mehrheitlich Kroaten wohnen. Es ist ein Völkergemisch.
Die Anerkennung, meine Damen und Herren, hat überhaupt nur dann Sinn, wenn zugleich auch von Kroatien die strikte Verpflichtung übernommen wird, ein Minderheitenrecht anzuerkennen und in der Praxis durchzusetzen, wodurch dann endlich das Blutvergießen aufhören könnte.
Bei der Anerkennung muß man auch wissen: Wer die beiden Republiken anerkennt, erkennt ja im gleichen Akt stillschweigend auch Restjugoslawien in seinen Grenzen, wie sie jetzt sind, an. Natürlich ist es richtig: Man darf keine Prämie auf Eroberungen geben. Kroatien muß in den ursprünglichen Grenzen anerkannt werden. Die Eroberungen dürfen dabei nicht berücksichtigt werden. Aber, meine Damen und Herren, was ist denn das Restjugoslawien? Das wird
doch Großserbien sein. Und was machen denn die Serben mit den Albanern im Kosovo, mit der ungarischen Minderheit in der Wojwodina? Was geschieht denn mit Bosnien? Wird nicht die Gefahr bestehen, daß dieses Großserbien in die anderen Provinzen genau das hineinträgt, was wir jetzt in Kroatien erleben? Ist das der Ausweg? Ich bin überzeugt, daß die Politik, die jetzt von den EG-Außenministern formuliert wurde, richtig ist; aber wir dürfen der Öffentlichkeit gegenüber nicht so tun, als ob wir die Patentlösung hätten.
Dann möchte ich noch ein Wort zu den Truppen sagen. Lieber Herr Voigt, Sie haben kritisiert, daß erst nach einem vollzogenen Waffenstillstand Friedenstruppen dorthin sollen, die dann dafür sorgen, daß die Kämpfe nicht wieder losgehen.
({1})
- Ja, ich habe das verstanden, Herr Voigt. Sie haben gesagt: Wenn der Waffenstillstand erreicht ist, dann ist es zu spät, und Serbien hat schon alles erobert. Aber ich bitte Sie, was ist denn die Alternative? Das ist doch eine Patentlösung, die Sie anbieten.
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- Wirtschaftliche Sanktionen, das ist etwas ganz anderes. Es muß dringend geprüft werden,
({3})
ob man denen den Hahn abdrehen kann, ob man sie von der Energiezufuhr absperren kann.
({4})
Aber es soll niemand etwa behaupten, wir könnten Friedenstruppen oder kämpfende Interventionstruppen schicken. Wem würden wir denn diese Soldaten aussetzen? Es kann sich doch niemand der Illusion hingeben, daß irgendein Außenstehender bereit wäre, dort die kämpfenden Truppen auseinanderzuziehen.
({5})
Insofern ist es richtig, daß man sagt: Voraussetzung ist der Waffenstillstand.
Herr Scholz, Sie haben gesagt: Das Grundgesetz läßt es zu, daß sich Deutsche beteiligen. Diese Ihre Behauptung wird auch durch ständige Wiederholung nicht richtig. Sie ist falsch. Unsere Verfassungspraxis spricht dagegen.
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Außerdem stellt sich die Frage im Falle Jugoslawiens
gar nicht; denn ich bin überzeugt, daß es nicht alle
Beteiligten sein werden, die dann sagen: Ja, daran
sollen sich auch die Deutschen beteiligen. Dies halte ich für eine Illusion.
Meine Damen und Herren, ich warne davor, daß wir Illusionen erwecken, daß wir so tun, als hätten wir Patentlösungen. Worauf es jetzt ankommt, ist, die Mechanismen in der KSZE zu stärken. Da müssen wir vom Konsensprinzip herunter; da muß mit qualifizierten Mehrheiten entschieden werden können.
({7})
Wir brauchen ein allgemein in Europa gültiges Recht der Minderheiten, und die KSZE braucht auch ein Instrumentarium, mit dem sie dies durchsetzen kann.
({8})
Es ist angesprochen worden: Europa hat das Problem der vielen Völker. Jeder in Europa ist nur Minderheit. Jenseits der Grenzen ist auch jeder Ausländer. Daran sollten wir uns erinnern. Wir kommen mit dem Prinzip der nationalen Selbstverwirklichung, das dann jeder auch ohne Rücksicht auf die Situation und auf andere ausnützt, nicht weiter, sondern wir müssen zu mehr Toleranz, zu mehr Duldsamkeit, zu einer Achtung aller Völker in ihrer Minderheit kommen. Nur das eröffnet eine Perspektive, damit sich die schrecklichen Dinge, die wir jetzt in Jugoslawien erleben, nicht wiederholen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Gert Weisskirchen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Köhler und Herr Scholz, es geht ja nicht darum, daß wir vor einer Verantwortung davonlaufen wollen;
({0})
im Gegenteil: Es geht darum, daß endlich die richtigen Mittel eingesetzt werden, um unserer Verantwortung gerecht zu werden,
({1})
um wirklich dafür zu sorgen, daß die unterhalb von militärischen Interventionen liegenden Instrumente auch wirklich eingesetzt werden.
({2})
Zum Beispiel wäre es durchaus sinnvoll, jetzt die Frage zu beantworten, ob wir mit Wirtschaftsblockademaßnahmen nicht diejenigen, die da unten auf einanderschlagen, endlich einigermaßen zur Besinnung
Gert Weisskirchen ({3})
bringen könnten. Das ist ein Instrument, das wir jetzt einsetzen könnten.
({4})
- Ich meine Sanktionen bis hin zur Blockade.
({5})
Ich habe gar nichts dagegen. Man muß ganz scharfe und ganz harte Maßnahmen ergreifen, damit militärische Instrumente erst gar nicht eingesetzt werden müssen.
({6})
Herr Scholz und Herr Köhler, das hat allerdings etwas mit unserer historischen Verantwortung zu tun. Denn es gab nicht nur Trianon, und es gab nicht nur den Ersten Weltkrieg, sondern es gab auch den Zweiten Weltkrieg. Dabei haben Deutsche eine schreckliche, eine unselige Rolle gespielt. Allein deswegen darf diese Rolle nicht in irgendeiner Weise wiederholt werden, und man darf sich auch nicht so verhalten, daß andere mißinterpretieren könnten, daß sie wiederholt werden könnte. Das schließt sich für uns vollständig aus!
({7})
Der jugoslawische Autor Brljevic findet in diesen Vorgängen in Jugoslawien in jeder Stunde seine Meinung wieder. Er sagt:
Das Böse widerlegt immer wieder das Gute.
Es käme darauf an, daß wir diesen Satz umdrehen, und es käme darauf an, daß wir alles tun, damit das ein Ende findet, was Grillparzer im Zusammenhang mit all dem, was in Jugoslawien geschehen ist, gesagt hat, nämlich: Auf dem Weg von der Nationalität zur Bestialität sind Millionen von Menschen gemordet worden und umgekommen. Das gilt gerade für diese Region Europas. Niemand darf aber das Recht jedes einzelnen Menschen auf sein persönliches Leben, auf seine Würde und seine Freiheit antasten. Diese Rechte sind universal, und diese Menschenrechte sind kodifiziert. Es kommt darauf an, daß diese Menschenrechte endlich durchgesetzt werden.
Die individuellen und die sozialen Menschenrechte gelten universal. Kein Ethnos, keine Politik, nichts hat einen höheren Wert. Wer nach Europa will - da gebe ich Ihnen recht, Herr Köhler -, der muß sich diesem Gebot unterwerfen. Das haben die Chefs aller KSZE-Staaten, auch Jugoslawiens, mit ihrer Unterschrift am 21. November 1990 unter die Charta von Paris bezeugt:
Wir bekräftigen, daß die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität nationaler Minderheiten Schutz genießen muß und daß Angehörige nationaler Minderheiten das Recht haben, diese Identität ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz frei zum Ausdruck zu bringen, zu wahren und weiterzuentwickeln.
Dieser Satz muß jetzt endlich auch in Jugoslawien zur Geltung gebracht werden. Wir fordern und bitten darum, daß alle zivilen Kräfte in Jugoslawien mithelfen, daß dieser Satz auch durchgesetzt wird.
Ivo Andric, der ja ein Brückenbauer zwischen den Völkern in Jugoslawien war, hat einmal notiert:
Von Osten nach Westen ist in jedem Punkte Teilung.
Mit jeder Zeile seines Werkes hat er gegen die Zerrissenheit unseres Kontinents angeschrieben. Er hat versucht, Brücken zu bauen.
Viele meiner Freunde in den Landschaften Jugoslawiens, die vom Frieden träumen und die in den Alptraum des Krieges gerissen sind, wehren sich mit jeder Faser ihres Herzens gegen den Strudel des chauvinistischen Hasses, der die Völker Jugoslawiens in den Abgrund ziehen kann.
Milan Nikolic und Sonja Licht aus Belgrad, Branko Horvat und Slavenka Drakulic aus Zagreb fordern für viele Millionen aus allen Republiken - sie rufen auf zu einer großen Demonstration am letzten Septembersonntag - : Beendet das Töten jetzt. Erkennt gewaltsam veränderte Grenzen nicht an. Setzt ein internationales Tribunal ein gegen alle, die den Krieg gegen das eigene Volk weiterführen. Helft den unabhängigen Friedensinitiativen, den Müttern, die ihre Söhne vom Militär zurückfordern.
Am letzten Sonntag im September werden sich Zehntausende in Sarajevo versammeln. Sie werden ihren unbeirrbaren Willen zum Frieden bekunden. Ich zitiere aus ihrem Aufruf zu dieser Demonstration:
Es gibt keine Alternative zu geduldigem Verhandeln um Lösungen, die auch den Interessen der anderen gerecht werden und die unabdingbaren Bürger- und Menschenrechte der Minderheiten berücksichtigen... Deshalb, Ihr, unsere Brüder und Schwestern in Jugoslawien, glaubt keinem, der Euch sagt, Ihr müßtet einander Feind sein! Deshalb laßt uns alle nach gewaltfreien und menschlichen Lösungen suchen, die das Vertrauen stärken und gegen jeden Mann, gegen jede Frau, jung und alt, gerecht sind! Deshalb aber vor allem: die Waffen nieder!
Das sagen Menschen in Jugoslawien, Zehntausende von ihnen. Wir als Deutsche sollten ihnen sagen: Wir sind mit Euch, und wir werden mit Euch gemeinsam für diesen Frieden demonstrieren!
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Heribert Scharrenbroich.
({0})
- Es wäre ganz nett, wenn das gemeldet würde.
({1})
Ihre Fraktion, Herr Kollege Scharrenbroich, verhilft uns damit dazu, die Aktuelle Stunde bereits nach 75 Minuten zu beenden.
Vizepräsident Hans Klein
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität ({2})
- Drucksache 12/989 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({3})
Innenausschuß
Ausschuß für Post und Telekommunikation Haushaltsausschuß
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, Hans-Joachim Hacker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anerkannter Beratungsstellen in Suchtfragen
- Drucksache 12/655 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({4}) Innenausschuß
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Beratung in Fragen der Betäubungsmittelabhängigkeit
- Drucksache 12/870 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({5}) Innenausschuß
Ausschuß für Gesundheit
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes
- Drucksache 12/934 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({6}) Rechtsausschuß
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin, Hermann Bachmaier, Hans-Joachim Hacker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - Abschöpfung von Gewinnen, Geldwäsche - ({7})
- Drucksache 12/731 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({8})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache drei Stunden vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Staatsminister Dr. Edmund Stoiber das Wort.
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber ({9}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine sehr verehrten Herren! Die riesigen Gefahren der Organisierten Kriminalität und der Rauschgiftkriminalität haben nach jahrelangen ideologischen Grabenkämpfen Ende 1989 zu einer einheitlichen Beurteilung durch alle Innenminister der alten Bundesrepublik Deutschland geführt. Dies hat letzten Endes nach dramatischen Sitzungen zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf geführt, der sich in dem Gesetzentwurf Bayerns und Baden-Württembergs niedergeschlagen hat.
Ich will auf die Bedeutung der Tatsache hinweisen, daß die Innenminister damals verabredet haben, daß sie selbst und persönlich in die Sitzung des Innenausschusses des Bundesrates gehen und versuchen, die entsprechenden Mehrheiten zu gewinnen. Es ist sicherlich bemerkenswert gewesen, daß am Schluß der Innenminister von Schleswig-Holstein und der Innenminister von Bayern eine gemeinsame Pressekonferenz abgehalten haben, um die Dinge darzustellen.
Es ist ... zu hoffen, daß der Deutsche Bundestag den dringlichen gesetzgeberischen Handlungsbedarf erkennt und Polizei und Justiz kurzfristig das benötigte Instrumentarium an die Hand gibt. Jeder Tag, an dem wir weiterhin darauf warten müssen, vergrößert den Vorsprung und die Gewinne des organisierten Verbrechens.
Derjenige, der diese eindringliche Mahnung und Warnung an uns alle richtet, hat es nicht nötig, mit dramatischen Appellen auf sich aufmerksam zu machen. Er erlebt tagtäglich, was organisierte Kriminalität bedeutet. Er erkennt, welch unglaubliche Brutalität, welch gnadenlose Rücksichtslosigkeit und welch ungeheure Gefahr mit der völlig neuen Art, Verbrechen zu begehen, auf uns bereits zugekommen sind und noch zukommen können. Das Zitat stammt vom Präsidenten des Bundeskriminalamts, Hans-Ludwig Zachert. Er benutzt, um die derzeitige Waffenungleichheit zwischen den Sicherheitsbehörden auf der einen Seite und dem organisierten Verbrechen auf der anderen Seite plastisch darzustellen, das Bild von den Gendarmen in der Postkutsche, die den Straftäter im Privatjet zu verfolgen versuchen.
Das mag etwas überspitzt sein, aber im Kern drückt es das Richtige aus: Die Herausforderung für Staat und Gesellschaft durch die ausgekochten Profis des organisierten Verbrechens können wir mit dem derzeit bestehenden Instrumentarium keineswegs bestehen. Ich spreche hier natürlich auch aus täglicher Erfahrung.
Das Problem ist, daß sich viele Menschen von dem Phänomen „Organisierte Kriminalität" noch relativ wenig betroffen fühlen. Sie wird zwar mit Italien, Spanien oder den Vereinigten Staaten in Verbindung gebracht, aber nicht mit unserem Land. Ebensowenig wird erkannt, daß sich die Organisierte Kriminalität zum Motor der sogenannten Massenkriminalität entwickelt.
Wer meint, die Organisierte Kriminalität nach dem Strickmuster der Mafia, der Camorra, der Ndrangheta, der Cosa Nostra oder der international ebenfalls schon etablierten Nuova Sacra Corona Unita oder der chinesischen Tiraden spiele sich in der BundesrepuStaatsminister Dr. Edmund Stoiber ({10})
blik vor allem in Krimiserien auf dem Bildschirm ab, der irrt gewaltig.
Welcher Freund italienischer Küche ist sich denn darüber im klaren, daß so mancher Wirt oder Pächter einen Teil seiner Rechnung bereits an die Pizza-Mafia abführen muß? Immer mehr, Rechtsstaat hin oder her, benötigen diese Leute zur Eröffnung ihres Gewerbes nicht nur einen Gewerbeschein oder ähnliches, sondern auch die Ablieferung von erpreßten Schutzgeldern an die genannten Organisationen.
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- Auch in Bayern.
({12}) Deswegen rede ich ja auch aus Erfahrung.
Das Operationsfeld dieser Verbrecherbanden beschränkt sich längst nicht mehr auf ihre Ursprungsländer. Die zunehmende Öffnung der Grenzen und die damit einhergehende allgemeine Internationalisierung des Lebens erleichtern es leider nach den Verbrechern, international ihr Unwesen zu treiben. Schon heute wissen wir, daß es einer Reihe von mafiosen Gruppierungen gelungen ist, auch nach Deutschland Verbindungen aufzubauen und Stützpunkte zu eröffnen. Der Aktionsradius vieler Straftäter aus der Szene der organisierten Kriminalität ist bereits heute europaweit und weltweit angelegt.
Durch die politischen Entwicklungen in Europa hat sich die Situation Deutschlands von einer Randlage in eine Mittelpunktlage verwandelt. Prognosen aus berufenem Munde bestätigen die Befürchtung, daß wir angesichts dieser Entwicklungen alle Chancen haben, zur Rauschgift- und OK-Drehscheibe in Europa zu werden. Das bestätigen mir auch meine Gespräche mit den Innenministern aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn und aus der russischen Republik.
Das Bundeskriminalamt hat 1989 und 1990 eine Gruppe von Experten zur Entwicklung der Organisierten Kriminalität befragt. Das Ergebnis der Prognose lautet: Wirtschafts- und Rechtssystem, geografische Lage, Infrastruktur und das gegebene Wohlstandsniveau verschaffen Deutschland höchste Attraktivität für das Organisierte Verbrechen.
Die amerikanischen Sicherheitsexperten gehen davon aus, daß das Bruttoeinkommen des Organisierten Verbrechens in den Vereinigten Staaten 1988 bereits mehr als 1 % des dortigen Bruttosozialprodukts, also etwa 50 Milliarden US-Dollar betragen habe und daß der Einsatz der illegalen Gelder zum Verlust von etwa 400 000 Arbeitsplätzen geführt hat. Denn dieses Geld, das da erwirtschaftet wird, wird nicht verbraucht, sondern natürlich in entsprechende legale Wirtschaftsbereiche hineingesteckt, und dann kann jemand, der auf legale Weise sein Geld verdienen muß, mit solchen Konkurrenten, die sich das Geld durch Verbrechen erwirtschaften, überhaupt nicht konkurrieren.
Die italienische Polizei berechnete, daß der kriminelle Gewinn allein der sizilianischen Mafia im Jahre 1989 auf über 30 Milliarden Dollar zu beziffern sei und daß in Italien jährlich etwa 30 000 Milliarden Lire, also 40 Milliarden DM, allein an erpreßten Schutzgeldern gezahlt werden. Das lesen zwar viele Menschen auch in den Zeitungen in Deutschland mit Interesse; sie verbinden das aber nicht mit einer eigenen Gefährdung. Das unterentwickelte Problembewußtsein ist genauso im Bereich der Rauschgiftkriminalität zu beobachten, außer wenn nahestehende Personen selbst betroffen sind. Selbst gravierende Fälle organisierter Verbrechensbekämpfung in Deutschland werden von der Öffentlichkeit - ich bedauere das außerordentlich - noch nicht als die Warnsignale erkannt, die sie eigentlich sind.
So ermittelt z. B. das Bayerische Landeskriminalamt seit 1989 gegen einen aus Süditalien stammenden ca. 150 Personen umfassenden Clan wegen zahlreicher Fälle des Rauschgift- und Waffenhandels, wegen Schutzgelderpressungen und anderer Delikte. Der Drahtzieher war in Sizilien des Mordes verdächtig; in diesem Fall ist in Bayern zum erstenmal - dies auf Ihren Zwischenruf hin - auch öffentlich deutlich geworden, daß sich bisher nur dem Ausland zugeordnete neue Verbrechensformen auch bei uns auszubreiten beginnen.
In einer bayerischen Großstadt zog eine Zuhältergruppe die Strukturen einer fast offiziellen Verbrecher-GmbH auf, welche die Kontrolle über das gesamte Nachtleben anstrebte. Durch Drohung und Gewalt wurde innerhalb der Gruppe ein Klima der Angst erzeugt, um belastende Aussagen gegenüber der Polizei zu verhindern. Der Einsatz von Strohmännern vernebelte die Verantwortlichkeit der eigentlichen Täter. Unter Verwendung von Codes war die interne Information gegenüber den Zugriffsmöglichkeiten der Polizei abgeschottet. Gelang es den Strafverfolgungsbehörden dennoch, ein Bandenmitglied hinter Schloß und Riegel zu bringen, wurde dieses in der Haftanstalt optimal betreut, um es „bei der Stange zu halten".
Organisierte Kriminalität war hier - und ich kann nur einen Ausschnitt von vielen Fällen schildern - mit Händen zu greifen. Hintergrund und Hintermänner waren jedoch genausowenig aufzuklären wie beim brutalen Mord an einem deutschen Staatsangehörigen asiatischer Herkunft, der mitten auf der Autobahn bei Nürnberg erschossen und von Autos überrollt wurde. Die Spuren führen eindeutig ins organisierte Zockermilieu Frankfurts und anderer süddeutscher Städte. Sie haben vielleicht gelesen, daß eine zufällig anhaltende Studentin, die glaubte, hier helfen zu müssen, mit einem schweren Bauchschuß - und darüber wird bei uns dann nur relativ klein berichtet - lebensgefährlich verletzt worden ist und daß die Täter natürlich noch lange nicht entdeckt werden konnten.
Nun haben wir, meine Damen und Herren, Gott sei Dank noch keine italienischen Verhältnisse, wenngleich ich Ihnen sage, daß die Situation in Italien und zum Teil auch in Spanien erhebliche Probleme für die Integration Europas mit sich bringen wird, denn die Sicherheitsaspekte werden bei der Diskussion um die europäische Integration mit Sicherheit zu weit hinten angestellt. Da werden wir noch blaue Wunder erleben!
Wir haben noch keine süditalienischen Verhältnisse, meine Damen und Herren, aber es gibt Verhältnisse, die sich inzwischen schon längst nicht mehr auf Süditalien beschränken:
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber ({13})
Schon zu Beginn der 70er Jahre ist es der Mafia, der größten Organisation neben der Cosa Nostra, in Italien, aber auch in Amerika gelungen, sich ins politische Spektrum so tief einzuarbeiten und sich dort so tief einzunisten, daß sie die demokratischen Verhältnisse in beiden Ländern ernstlich gefährdet. In Italien ist es bereits so weit, daß - das sagen uns Kollegen aus Sizilien - dort gerade darüber diskutiert wird, wie der Stimmenkauf durch die Mafia in Süditalien künftig unterbunden werden kann.
„Die politischen Machthaber müssen sich eingestehen" , so schreibt der Schriftsteller und Journalist Michele Pantaleone in einer jüngst erschienenen Beilage zur „Neuen Zürcher Zeitung" , „daß der Niedergang der politischen Moral den Boden, in dem das Unkraut Mafia gedeiht, immer fruchtbarer werden läßt" .
Der Hochkommissar für den Kampf gegen das Organisierte Verbrechen in Italien, Domenico Sica, erklärte 1989, mehr als ein Drittel des italienischen Territoriums werde effektiv nicht mehr vom Staat, sondern von der Mafia kontrolliert.
Das darf nicht der Maßstab Europas werden. Die Entfernung nach Italien macht heute nicht mehr wie zu Goethes Zeiten eine Dreiwochenreise erforderlich, sondern Italien ist in zwei Stunden erreichbar.
Tatsache ist auch: Die Organisierte Kriminalität bedroht nicht nur den Staat, bestimmte Wirtschaftszweige oder nur Millionäre, sie bedroht jeden einzelnen. Von Euroscheck-Kriminalität, Handtaschenraub oder Wohnungseinbrüchen kann jeder betroffen sein.
Allein der in der Bundesrepublik jährlich durch Euroscheck-Kriminalität entstehende Schaden liegt nach Angaben des Bundeskriminalamtes bei etwa 70 Millionen DM. Annähernd 170 000 gestohlene deutsche Euroschecks wurden im vergangenen Jahr in Europa betrügerisch eingelöst.
Über diese betrügerischen Einlösungen von Euroschecks kam die Polizei in einem Frankfurter Fall einem weitverzweigten Kartell auf die Spur. Ein Frankfurter Restaurant war die deutsche Zentralstelle. Sie steuerte sowohl die Beschaffung als auch die Verteilung der gestohlenen Euroschecks an „Verwertungsfirmen" in Italien, Frankreich oder Spanien. Sie bezog Euroschecks, Scheckkarten und Ausweispapiere von Hunderten von Tageswohnungseinbrechern, Autoknackern und Taschendieben, die als „freie Lieferanten" tätig waren. Aus Südamerika, meine Damen und Herren, wurden erfahrene Taschendiebe engagiert, die in Kaufhäusern, in Veranstaltungen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln reichlich Beute machten. Das Bundeskriminalamt ermittelte, daß ein Teil des Millionengewinns zur Beschaffung von Kokain in Kolumbien verwendet worden sei. Der Polizei sind etwa 150 Mitglieder dieser kriminellen Organisation in Europa bekannt. Organisiert war das Scheckunternehmen wie ein arbeitsteilig untergliederter Firmenkonzern in dezentraler Führung.
Meine Damen und Herren, wenn Ihnen heute die Scheckkarte oder irgendeine MasterCard oder was auch immer gestohlen wird und Sie das sperren, so kommen Sie mit Sicherheit nicht mehr nach, da das morgen in Südandalusien bereits eingelöst worden ist, weil das ein weit verzweigtes Unternehmen ist, das wir eben nicht mehr in der entsprechenden Weise bekämpfen können.
Im Zusammenhang mit Wohnungseinbrüchen machen Einbrecherbanden ganze Gemeinden unsicher. Sie rauben am hellichten Tage Häuser und Wohnungen aus. Die Polizei zählte im vergangenen Jahr knapp 157 000 Einbrüche. Das bedeutet in Deutschland 430 komplette Ausräumungen von Wohnungen an einem Tag. Das geht natürlich nur noch mit hervorragender Zusammenarbeit und optimaler Logistik.
Hatte es die Polizei früher fast ausschließlich mit Einzeltätern und Banden mit einigen Mitgliedern zu tun, stößt sie heute immer häufiger auf organisierte Kriminelle; zumeist auf sogenannte Straftäterverflechtungen. Es handelt sich um ein Netz von zahlreichen Tätern. Einmal arbeiten sie in dieser, ein anderes Mal in jener Kombination.
Meine Damen und Herren, ich schildere Ihnen dies, weil ich große und meines Erachtens berechtigte Sorgen habe, daß die Entwicklung des Organisierten Verbrechens auch bei uns in Deutschland schlimme Dimensionen annehmen wird, wenn nicht alle für Sicherheit und Strafverfolgung Verantwortlichen an einem Strang ziehen.
Eine Verfestigung der sich abzeichnenden Strukturen des Organisierten Verbrechens können wir nur dann verhindern, wenn wir rechtzeitig, also jetzt, die Voraussetzungen für eine effektive und zeitgemäße Bekämpfung schaffen.
Ich habe im Laufe der letzten Jahre, um mich auch persönlich zu informieren, Gespräche mit dem FBI-Chef Sessions, natürlich mit dem BKA-Chef, Herrn Zachert, und mit allen LKA-Chefs und mit dem Interpol-Generalsekretär Reymond E. Kendall geführt. Dazu, meine Damen und Herren, darf ich Ihnen sagen: Alle diese Experten warnen vor einer modernen international organisierten Verbrechensform, hinter der ein gewaltiges Potential an Kapital, Organisationskraft, Logistik und vor allem an skrupelloser krimineller Energie steckt. Sie raten dringend an, daß endlich auch in Deutschland - wir sind in der Internationalität sozusagen am Ende der Skala oder am Ende des Zuges, was die rechtlichen Möglichkeiten anbelangt - schnellstmöglich die nötigen rechtlichen und organisatorischen Schutzvorkehrungen getroffen werden. Ich möchte hier noch einmal auch in diesem Hohen Hause die Aussage von Herrn Sessions deutlich machen. Der FBI-Chef aus Washington hat nicht nur mich - er hat es öffentlich erklärt - , sondern auch Deutschland davor gewarnt, dieselben Fehler wie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu machen und zu spät und eindeutig zu lasch auf eine verhängnisvolle Entwicklung zu reagieren.
({14}) - Lassen Sie das einmal heraus.
Die Reaktion: Die Amerikaner haben in den letzten drei bis vier Jahren ihre gesamte Strategie gegenüber der organisierten und gegenüber der Rauschgiftkriminalität geändert. Das hat natürlich auch bereits Entwicklungen gezeigt. Der südamerikanische Markt
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber ({15})
sucht sich Ersatz für Amerika, und der Ersatz wird über Portugal, über Spanien und vor allen Dingen über Italien geschaffen. Hier haben wir die berühmten Trampelpfade nach Norden, dorthin, wo der Konsum eben auch entsprechend praktiziert wird. Wer das nicht zur Kentnis nimmt, der geht an der Angst und der Sorge - und ich werde dazu etwas sagen - von Hunderttausenden, von Millionen von Menschen in unserem Lande und auch in Europa vorbei.
({16})
Der Kampf gegen das organisierte Verbrechen ist in der Bundesrepublik noch nicht verloren. Aber: Wir dürfen ihn auch nicht verlieren, wenn wir eine Zweiklassengesellschaft in Deutschland verhindern wollen. Darin sehe ich eines der größten, viel zu wenig diskutierten Probleme in unserem Lande.
Zweiklassengesellschaft: Eine begüterte Minderheit, die sich durch private Organisationen vor Verbrechen schützen kann, das ist heute bereits die Oberklasse. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß wir heute in Deutschland bereits mehr private Polizisten als uniformierte Polizisten haben. Wir haben etwa 200 000 Polizeibeamte in Deutschland. Aber wir haben insgesamt bereits 250 000 private Polizisten, die im übrigen
- auch das möchte ich einblenden - vom Datenschutz her bei weitem nicht die gleichen Beschränkungen haben wie die Polizei und deswegen auch in vielen Bereichen schon effektiver sind und von den großen Firmen bereits vor der Polizei geholt und gerufen werden, weil der Schutz für die Firmen durch diese Art der Polizei effektiver ist als durch die Polizei selbst.
({17})
- Das ist eine ganz dümmliche Zwischenfrage, muß ich sagen. Natürlich bin ich für Datenschutz. Aber Sie müssen sich doch mit den Problemen auseinandersetzen. Mit solcher Argumentation werden Sie doch von den Firmen überhaupt nicht ernst genommen.
({18})
Das ist genau der Punkt, an dem diese Leute sagen: Mit denen in der Politik kannst du überhaupt nicht mehr reden; die haben überhaupt keine Ahnung! Das werden Sie durch solche Zwischenfragen hervorrufen, meine Damen und Herren.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmude?
Herr Staatsminister, ist das jetzt anerkannter Sprachgebrauch, daß man Werkschutz und andere Mitarbeiter als private Polizei bezeichnet?
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber ({0}) : Ich habe damit nicht den privaten Werkschutz einer Firma gemeint, sondern ich meine die privaten Organisationen, die Dienste von außen anbieten. Die haben bereits zwischen 220 000 und 250 000 Mitarbeiter, deren Zahl ständig wächst. Sie bieten ihre Dienste an, und ich habe nur darauf hingewiesen, daß diese Organisationen zum Teil außerordentlich effektiv sind - darüber müssen wir uns aber an anderer Stelle einmal unterhalten - und daß vor allem die Datenschutzbestimmungen, die der Polizei heute auferlegt sind - ich habe dazu überhaupt keine Wertung abgegeben - , auf die privaten Organisationen nicht so zutreffen. Das heißt, die können in anderer Weise Daten erheben als die Polizei.
({1})
- Was sind denn „schwarze Sheriffs" anderes? Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Oberbürgermeister von Schoeler in Frankfurt es nicht mehr fertig bringt, die innere Sicherheit mit der staatlichen Polizei zu gewährleisten, und jetzt deswegen ganz besonders gelobt wird, daß er private Polizei in Frankfurt einsetzt und die innere Sicherheit damit zu gewährleisten sucht?
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will das nur zu Ende führen: Ich spreche von der Zweiklassengesellschaft, und ich habe eine Oberschicht angesprochen, die sich heute die Sicherheit durch solche privaten Organisationen erkauft, und die anderen, die sich das nicht leisten können, die eben auf die allgemeinen Sicherheitskräfte angewiesen sind.
Unsere Sicherheitsgesetzgebung aber hat in den letzten Jahrzehnten mit der Liberalisierung des Handels, mit der Reisefreiheit und mit der auch für Verbrechen nutzbaren Infrastruktur nicht Schritt gehalten, und ich sage noch einmal - es gibt da keinen Streit; schauen Sie sich das bitte an - : Wir liegen in der EG in der Gesetzgebung und auch in der Möglichkeit, Verbrechen zu verfolgen, in manchen Bereichen völlig zurück. Wenn Sie eine internationale Zusammenarbeit intensivieren wollen, müssen Sie insgesamt eine ganze Reihe von Punkten unserer Strafprozeßordnung ändern, weil Sie sonst mit Franzosen, Engländern, Italienern in dieser Weise nicht zusammenarbeiten können.
({2})
- Das ist Faktum.
Das dem Hohen Hause heute zur Beratung vorliegende Gesetzespaket soll bestehende und erkannte Defizite abbauen. Ich erzähle Ihnen nur das, was uns Experten aus der gesamten Europäischen Gemeinschaft auf der Innenministerkonferenz dargelegt haben. Ich erzähle das nicht aus dem hohlen Bauch, sondern ich habe mich mit den Dingen intensiv beschäftigt. Ziel muß es sein, Organisierte Kriminalität frühzeitig zu erkennen, gegen sie erfolgreich zu ermitteln und sie dadurch zu bekämpfen. Verbrecherische Strukturen sollen durch besondere Ermittlungsmaßnahmen aufgedeckt werden, nicht nur einzelne strafrechtlich relevante Sachverhalte jeder für sich abgehandelt werden.
Änderungen des materiellen Rechts - Vermögensstrafen, Absenkung der gesetzlichen Voraussetzungen für den Verfall, Pönalisierung der Geldwäsche sowie Strafverschärfungen bei Delikten mit OK-Rele3504
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber ({3})
vanz - sind erforderlich und zu begrüßen. Sie können jedoch nur dann greifen, wenn das Verfahrensrecht Schritt hält.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte noch auf zwei Dinge eingehen. In diesem Gesetz fehlt die Frage der verdeckten Ermittlung und des milieugerechten Verhaltens, und es fehlt die Möglichkeit, technische Geräte bei entsprechenden Gefährdungen einzusetzen. Hier, meine Damen und Herren, werden wir uns noch lange unterhalten. Wir werden das jetzt in diesem Gesetz nicht schaffen - aus den bekannten Gründen. Aber ich sage Ihnen auch: Ohne verdeckte Ermittler kommen wir nicht weiter.
({4})
Es ist eine Unerträglichkeit, in welche Gefahren wir die verdeckten Ermittler gehen lassen, wenn sie nicht einmal leichte kriminelle Taten - verbotenes Glücksspiel, Hausfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt oder ähnliches - begehen können. Wenn ihnen dies verwehrt wird, haben sie keine Arbeitsmöglichkeit und können nicht sicher für uns arbeiten.
({5})
- Wer darüber lacht, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat keine Ahnung, wie wir mit der Kriminalität zu kämpfen haben.
({6})
- Ja, die können Sie haben.
Ein zweites, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Verzeihung, Herr Staatsminister.
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber ({0}): Ich weiß nicht, was das ist; auf dem Rednerpult blinkt es immer.
Sie machen von einem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch. Die Abmachung war, daß Sie 20 Minuten reden. Sie sind zwei Minuten über Ihrer Redezeit, aber Sie können auch 10 Minuten über Ihre Zeit hinaus reden.
Meine Frage ist: Wollen Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Penner beantworten?
Staatsminister Dr. Edmund Stoiber ({0}): Normalerweise gerne, aber wenn ich in bezug auf die Redezeit beschränkt bin und das von der Redezeit der Kollegen abgeht, dann bitte ich um Verständnis; wir können das danach diskutieren.
({1})
- Sie wird nicht angerechnet? - Also bitte, Herr Penner. Es soll nicht der Eindruck entstehen, ich wollte die Frage nicht beantworten.
({2})
- Okay, danke schön. Wir werden noch mehrfach Gelegenheit haben, darüber zu sprechen.
Ich möchte noch auf etwas anderes aufmerksam machen: Im Gesetzentwurf Bayerns war der Kompromiß des Bundesrates bezüglich der technischen Geräte enthalten. Ich sage Ihnen noch einmal: Wie wollen Sie denn in die von mir skizzierte Verbrecherorganisation der Untermafia in Kempten, wo die Mitglieder alle nur aus Adrano, einem Ort in Sizilien, kornmen, die alle nur den süditalienischen Dialekt sprechen und sich abschotten, eindringen? Auch wenn wir eine qualifizierte bayerische Polizei haben, so verfügen wir doch nicht über Leute, die den sizilianischen Dialekt beherrschen, die sich da einschleichen könnten.
Heute haben wir extreme Beweisschwierigkeiten. Und obwohl der Verdacht geradezu mit Händen zu greifen ist, müssen wir Leute dieser Szene freilassen. Dafür haben die Menschen, die Schaden gelitten haben - das sind viele - kein Verständnis.
({3})
Deshalb werden wir ohne technische Geräte überhaupt nicht auskommen.
Wenn mir vom Kollegen Burkhard Hirsch - ich weiß nicht, ob er hier ist - in bezug auf das milieugerechte Verhalten dann entgegengehalten wird: „Sie können doch nicht zulassen, daß da jemand einen Mord begeht! ", dann kann ich nur sagen: So kann man die Diskussion nicht führen; darum geht es doch überhaupt nicht. Es geht um die leichte Kriminalität.
({4})
Wie wollen Sie denn überhaupt jemanden in die Vorszene des Terrorismus einschleusen, der nicht einmal eine Schmiererei oder leichte Kriminalität begehen kann? Diejenigen, die das verhindern wollen, leben an der Wirklichkeit vorbei, und schaffen es dann nicht, die Kriminalität entsprechend zu bekämpfen.
({5})
Es geht auch nicht um die Wanze im Schlafzimmer, sondern es geht mir darum, daß wir die Möglichkeit haben, z. B. in Nebenräumen und in Spielhöllen technische Geräte einzusetzen. Ich habe mich dagegen gewehrt und habe das auch aus dem Gesetzentwurf
- soweit ich die Möglichkeit dazu habe - herausgestrichen, daß man technische Geräte nur dann in Wohnungen einsetzen darf, wenn ein verdeckter Ermittler dabei ist. Ich kann die Gefährdung des verdeckten Ermittlers nicht übersehen, wenn er technische Gerätschaft bei sich trägt. Die Entdeckungsgefahr für den verdeckten Ermittler ist zu groß. Das sind alles junge Leute, die für diesen Rechtsstaat den Kopf hinhalten und Verbrechen verhindern wollen.
Wir haben heute eine Situation, die Sie mir erläutern müssen. Wir haben uns gerade mit dem nordrhein-westfälischen Polizeiaufgabengesetz - ich nehme gar nicht einmal das bayerische - befaßt. Ich habe das sehr sorgfältig gelesen. Da steht drin, daß technische Geräte zur Verhinderung einer Straftat auch in Wohnungen eingesetzt werden dürfen. Aber wie soll ich es dem Polizeibeamten erklären, wenn sich jetzt der Zweck ändert und die Prävention sozuStaatsminister Dr. Edmund Stoiber ({6})
sagen in die Repression, d. h. die Strafverhinderung in eine Strafverfolgung übergeht? Dann muß dieser Polizeibeamte seine Tätigkeit einstellen. Wie soll ich dem das erläutern? Hier sind eine ganze Menge wirklich konkreter Probleme vorhanden.
Wer die Kriminalität - die sich in Form einer arbeitsteiligen, organisierten, zum Teil internationalen Kriminalität darstellt - wirklich bekämpfen will, der muß der Polizei auch die notwendigen technischen Informationen und Möglichkeiten an die Hand geben, um mit diesen Problemen fertigzuwerden.
Wenn Sie vielleicht einem Innenminister eines Landes nicht glauben wollen, dann schauen Sie sich doch einmal die Umfragen an, die ich mit Sorge ansehe. Frau Noelle-Neumann hat es vor ein paar Tagen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vorgetragen, wie auch andere, z. B. die IPOS-Studie des Bundesinnenministeriums, welchen Stellenwert die organisierte Kriminalität und die Angst der Menschen vor der Kriminalität heute hat. Die Zahlen aus dem letzten Jahr, von 1990 bis 1991 sind für mich erschreckend - vom Osten will ich gar nicht erst reden -, sie zeigen welche Angst und welche Sorgen die Menschen aus der spezifischen Situation vor der Kriminalität haben. Das ist ein Thema für sich. Aber daß wir auch im Westen eine Steigerungsrate von 11 % haben macht mich ganz besonders betroffen.
Ich weiß, daß die Rede zeitlich limitiert ist. Es ist schwierig, dieses Thema in dieser kurzen Zeit einigermaßen darzustellen. Aber um eines bitte ich: Ich bitte dieses Hohe Haus, daß der Konsens, der hier von unterschiedlich regierten Kabinetten gefunden worden ist - ich möchte hier ganz besonders die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und die Landesregierung von Hamburg nennen -, ein Konsens, der ohne die enge Zusammenarbeit der Länder Bayern und Baden-Württemberg auf der einen und Hamburg und Nordrhein-Westfalen auf der anderen Seite nicht zu dem Gesetzentwurf geführt hätte, der zum zweiten Mal im Bundesrat war, ein Konsens aus der Bedrohungssituation heraus, der im Bundesrat übergreifend gebildet werden konnte, auch in diesem Hause beibehalten wird.
In diesem Sinne bedanke ich mich sehr herzlich für die Aufmerksamkeit und hoffe auf gute Beratung.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hans de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat kann niemand mehr übersehen, daß auch in der Bundesrepublik Deutschland Rauschgiftdelikte und Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität - ich sage - in erschreckender Form zunehmen. Nur, Herr Staatsminister Stoiber, wir sollten uns sehr davor hüten, Schauergemälde zu inszenieren und mit aufgeputschter Emotion den Eindruck zu erwecken, als müsse jetzt mit größter Schärfe zugegriffen werden.
({0})
Hier sage ich: Maß für Maß. Wir müssen einen kühlen
Kopf bewahren. Greifen wir zu sehr zu, sind wir drauf
und dran, unmäßig in die Privatsphäre des Bürgers einzugreifen. Ich widme meine Rede mehr der Schwierigkeit auf der einen Seite und der Notwendigkeit auf der anderen Seite. Ich denke, es wäre besser gewesen, Sie hätten kühl erörtert, um was es geht und warum einzelne Vorschriften so ausgestattet werden sollen und nicht anders.
Ich sage allerdings auch, wenn der Bürger nicht spürt, daß dieser Staat handelt, wird er weniger bereit sein, die Strafverfolgungsbehörden zu unterstützen und sich auch gegen Erpressungsversuche der organisierten Kriminalität zu wehren. Es würde nicht nur Wasser auf die Mühlen der organisierten Kriminalität bedeuten. Ich sage auch, einher ginge damit sehr wahrscheinlich ein nicht absehbarer Vertrauensverlust in Einrichtungen unserer Demokratie.
Wie Mitte der 70er Jahre vor dem Höhepunkt des Terrorismus erscheint es uns auch angebracht - und die Zeit ist sicher reif - , daß das Parlament reagiert, daß deutlich spürbar Gegenmaßnahmen getroffen werden. Diese - das sage ich aber mit großem Nachdruck in Sonderheit auf die Ausführungen von Herrn Stoiber - müssen und dürfen allerdings nicht nur in Veränderungen oder Verschärfungen von Straftatbeständen, in Verfahrensbestimmungen und Polizeivorschriften liegen. Vollzugsdefizite gibt es hier. Die müssen ausgeglichen werden. Ich sage auch, es sind neue Politiken zu entwickeln, vor allem im Bereich der Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität. Mein Kollege Singer wird hierzu einiges ausführen.
Unsere Arbeit als Parlament darf sich nicht in bloßer Gesetzesmacherei erschöpfen. Wir Sozialdemokraten bejahen Gesetzesänderungen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, grob gesprochen in vier Bereichen:
Antriebsfaktor Nummer eins ist in der Tat das Gewinnen sauberen Geldes. Das Abschöpfen der Gewinne, die Unterbrechung des Geldwaschens und der rasche einstweilige Zugriff des Staates auf vermutete Verbrechensfrüchte müssen deshalb wirklich möglich werden.
({1})
Hierzu liegt seit fast zwei Jahren eine Vorlage der SPD vor. Bestimmungen zu diesem Bereich enthält auch der Vorschlag des Bundesrates, der - auch das sage ich - auf frühere Entwürfe der Bundesregierung zurückgeht. Ich sage Ihnen aber schon jetzt: Hier haben Bundesregierung und Koalition zu lange gezögert. Wären sie früher am Ball gewesen, stünden wir jetzt in diesem Bereich wirklich nicht am Ende des internationalen Geleitzuges.
({2})
Zweitens. Regelungsbedarf besteht ferner neben Veränderungen im Strafgesetzbuch bei den Strafverfahrensvorschriften. Computergestützte Ermittlungsmöglichkeiten - nennen wir das Stichwort: Rasterfahndung - müssen zur Strafverfolgung nutzbar gemacht werden. Moderne Möglichkeiten der Observierung durch Lichtbild- und Tonbandaufnahmen und die Figur des verdeckten Ermittlers sind - und hier formuliere ich etwas anders - rechtsstaatlich abzusichern. Hierzu finden wir Vorschriften des Bundesra3506
tes, und zwar sowohl sozialdemokratisch geführter als auch unionsgeführter Landesregierungen.
Drittens. Fällig sind auch Änderungen im Betäubungsmittelrecht. Aber auch hier haben wir stets beide Seiten zu beachten.
Schließlich muß die Frage angegangen werden, ob und in welchem Ausmaß Beraterinnen und Beratern zur Bekämpfung der Betäubungsmittelabhängigkeit zur Verstärkung ihrer Tätigkeit ein Zeugnisverweigerungsrecht zukommen soll. Hier gibt es Vorlagen sowohl aus dem Bundesrat als auch von der SPD.
Ich sage zu diesem Punkt abschließend, meine sehr verehrten Damen und Herren: Es fällt auf, und es sollte einmal gesagt werden, daß sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen hier mit keiner Vorlage auf das Parkett des Deutschen Bundestages gewagt haben.
({3})
- Jetzt haben wir aber eine neue Wahlperiode. Ihnen wäre es leichtgefallen, auch etwas vorzulegen. Ich frage noch einmal: Warum ist es nicht geschehen?
({4})
Damit ist für einen Betrachter von außen nicht so ganz leicht auszumachen, welche Partei nun eigentlich welche Position vertritt. Um der Sache willen sollte dem aber nicht die allererste Bedeutung zugemessen werden, wiewohl die Unterschiede auch nicht verwischt werden dürfen. Wesentlich ist uns Sozialdemokraten, daß bei aller Notwendigkeit des Handelns durch Eifer und Ehrgeiz nicht das Erfordernis für die absolute Wahrung der Rechtsstaatlichkeit verstellt wird.
({5})
Diese Gefahr besteht durchaus. Ich darf daran erinnern: Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit - für uns in rechtsstaatlich bedenklicherweise und, wie die Erfahrung beweist, auch ohne meßbare Wirkung - das Demonstrationsstrafrecht verschärft - Stichwort: Vermummungsverbot - und den Kronzeugen eingeführt. Was ist dabei herausgekommen? Nichts. Das sollte uns allen zur Warnung dienen.
Den Vorschlägen des Bundesrates - das sage ich in Richtung auf den Bundesminister der Justiz - zur Änderung der Strafprozeßordnung, des Personenstandsgesetzes, der Heilberufsgesetze und des Fernmeldeanlagengesetzes stimmt auch die Bundesregierung erfreulicherweise zu Teilen nicht zu, erhebt Bedenken und verlangt zusätzliche rechtsstaatliche Sicherungen. Das kann nur begrüßt werden. Auch hier gilt der Spruch: Maß für Maß.
Bundesrat und Bundesregierung mit der SPD wollen gleichermaßen - und auch verständlicherweise - , daß mit der Verurteilung der Straftäter aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität die Hand auf deren kriminelle Gewinne gelegt werden kann, um - das ist unser gemeinsames Ziel - den Nerv der Banden und deren Hintermänner wirklich treffen zu können. So weit, so gut. Nur erklärt die Bundesregierung nach den Begründungen des Entwurfs ganz einfach, die Vorschläge des Bundesrates für die Einführung der Vermögenstrafe stimmten mit ihren vorangegangenen Entwürfen überein. Völlig außer acht gelassen werden dabei - das sage ich an die Adresse des Justizministers - die von der Literatur, aber auch von der Praxis berechtigterweise erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken, nach denen die beabsichtigte Vermögenstrafe konfiskatorische Züge hat und deswegen für uns bedenklich ist. Warum wenden Sie sich nicht einfach unserem Vorschlag zu, der noch bei keinem verfassungsrechtliche Bedenken aufgeworfen hat? Der vom Bundesrat vorgeschlagene Straftatbestand der Geldwäsche bringt gegenüber den früheren Vorschlägen der Bundesregierung eine begrüßenswerte Erweiterung.
Nunmehr sollen auch die Entgegennahme, die Annahme, die Anlage oder Verwahrung - so heißt es dort - eines aus einer bestimmten rechtswidrigen Vortat herrührenden Gegenstandes unter Strafe gestellt werden. Wir finden es auch gut, daß nunmehr die leichtfertige Handlungsweise und damit im Kern die grobe Fahrlässigkeit bei der Geldwäsche unter Strafe gestellt werden soll.
Eine Erweiterung ist auch darin zu erblicken, daß jetzt dieser Tatbestand nicht mehr allein auf die Drogenkriminalität bezogen wird, sondern generell gelten soll. Das sind alles begrüßenswerte Änderungen, nur sage ich, das hätten Sie schon haben können, wären Sie ganz einfach unserem Entwurf aus dem Jahre 1989 gefolgt.
({6})
- Schauen Sie es genau an. Wir reden über die Straftatbestände und vergleichen sie. Das sollten Sie sorgfältig abwägen. Wir können das dann im Rechtsausschuß tun.
Zu prüfen bleibt immer noch, ob Sie bei der leichtfertigen Fahrlässigkeit bleiben. Wir meinen, es wäre besser, etwas weiter zu gehen - auch aus Beweisgründen - nämlich die Fahrlässigkeit schlechthin einzuführen. Vorsatz und Leichtfertigkeit nachzuweisen, ist in diesen Bereichen, wie wir alle wissen, so ganz einfach nicht.
Bei alledem sollten wir uns jedoch im klaren sein, daß ein Geldwäschestraftatbestand ohne bindende Bestimmungen für die Banken zur Anzeige verdächtiger Geldbewegungen kaum greifen wird. Hier scheuen Sie sich. Ich frage mich, warum. Das sogenannte Bankgeheimnis muß eben durchbrochen werden! Was in den als kapitalistisch verschrieenen Vereinigten Staaten jetzt schon die Praxis ist, warum soll das nicht in der Bundesrepublik Deutschland möglich sein?
Noch einmal: Wir gehören jetzt schon zum Ende des Geleitzuges. Deswegen, denke ich, sollte es unsere Pflicht sein, hier wirklich Bestimmungen zu treffen, die die Banken verpflichten, gewisse Geldbewegungen anzugeben.
({7})
Rasterfahndungen haben die Strafverfolger schon geraume Zeit angewandt, obwohl es spezifische Regelungen nicht gab. Dasselbe gilt für den verdeckten Ermittler. Mit Bild- und Tonaufzeichnungen ist hantiert worden. Wir bejahen, daß es hierüber entsprechende Vorschriften gibt. Nur sage ich, da kommt der Punkt, wo es wirklich heikel wird, und zwar mehr als heikel. Deswegen zitiere ich ein Wort von Eberhard Schmidt, einen der Mentoren unseres Strafverfahrensrechts, schon aus dem Jahre 1951:
Jede Handhabung von Macht involviert die Möglichkeit des Mißbrauchs. Von den kriegerischen Auseinandersetzungen der Machthaber abgesehen, hat der Menschheit nichts so viel Leid, Qual und Tränen verursacht als die in staatlicher Straftätigkeit sich verwirklichende staatliche Macht. Es ist daher die große Idee des Rechtsstaats, daß der Staat sich selbst mißtraut, seine eigene Macht zügelt und bindet und den erschütternden Erfahrungen Rechnung trägt, die in der Geschichte des Strafrechts mit der Handhabung obrigkeitlicher Macht sich eingestellt haben und sich jedem überwältigend aufdrängen.
Sicher will hier in diesem Raum keiner den „schneidigen Zugriff" des Staates, den schneidigen Staatsanwalt, den schneidigen Polizeibeamten; obwohl ich da manchmal Zweifel hegen mag.
Nur, der wirksame Zugriff der Strafverfolgung darf nicht durch einen Einbruch in das Recht des einzelnen auf die Erhaltung und Sicherung seiner Privatsphäre erkauft werden. Und ein Einbruch ist es schon, wenn wir bedenkliche Regelungen produzieren.
Wir begrüßen unter diesen Aspekten, daß die Rasterfahndung an den Richter und Staatsanwalt gebunden ist, daß es einen Straftatenkatalog gibt, und daß wir eine Subsidiaritätsklausel finden. Nur, auch die Subsidiaritätsklausel muß noch einmal überprüft werden, ebenso wie der Straftatenkatalog.
Ähnliches gilt beim verdeckten Ermittler, wo zum Teil der Richter nicht einzugreifen braucht.
Gravierend sind allerdings die Bestimmungen für den Lauschangriff in der Wohnung. Hier sind wir Sozialdemokraten jedenfalls ganz anderer Meinung als Herr Stoiber persönlich.
({8})
Wir können uns zum Teil sogar auf die Bundesregierung stützen, die sich nicht gescheut hat zu sagen, hier wird der Abs. 2 den Lauschangriff in der Wohnung betreffend, gestrichen, und der Abs. 3 kommt raus, weil sich damit Polizeirecht in die Strafprozeßordnung einschleicht.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist eine der großen Errungenschaften des „Pro memoria" von Savigny und Uhden und des reformierten Strafprozeßrechts - die StPO hat dies übernommen -, daß zwischen Polizei- und Strafrecht fein säuberlich getrennt wird und daß Staatsanwalt und Richter aufpassen, daß sich die Polizei in richtigen, gesetzlich geordneten Bahnen bewegt. Mit dieser, wie ich meine, stolzen Tradition der Strafprozeßordnung dürfen wir im Eifer des Gefechtes nicht brechen. Dafür stehen jedenfalls wir Sozialdemokraten.
({10})
Wenn ich hier im wesentlichen auf das materielle und formelle Strafrecht eingegangen bin, so allein aus Zeitgründen. Mir lag und liegt daran, zu verdeutlichen, in welcher Entscheidungssituation wir uns befinden und - ich sage das langsam und betont - welche Schnittpunkte zwischen dem Erfordernis der Strafverfolgung einerseits und dem Schutz des einzelnen zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit andererseits zu beachten sind.
Das soll jetzt nicht pathetisch verstanden werden, aber: Auf uns lastet wahrhaftig ein hohes Maß an Verantwortung. Wir haben es hier mit den oft zitierten, berühmten „dicken Brettern" zu tun. Ich kann nur sagen - ich sage das betont mit Blick auf die Ausführungen von Herrn Stoiber - : Lassen Sie uns mit Augenmaß bohren!
Vielen Dank.
({11})
Bevor ich dem Abgeordneten Gerster das Wort erteile, gebe ich dem Abgeordneten Hirsch nach § 30 unserer Geschäftsordnung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bayerische Innenminister hat mir in einer übertreibenden Art und Weise eine Meinung unterschoben, die ich so nicht geäußert habe und die ich darum richtigstellen muß.
Er sagt, daß sich ein Polizeibeamter, ein verdeckter Ermittler, milieubedingt verhalten soll. Das ist eine verbale Mogelpackung, weil er in Wirklichkeit fordert, daß der Polizeibeamte eine Straftat begehen können soll. Das genau darf er nicht. Der Rechtsstaat kann Kriminalität nicht dadurch bekämpfen, daß er selber seine Beamten in die Kriminalität hineinschickt.
Es wird gesagt, hier sei ein Preis für den Eintritt in eine verbrecherische Organisation zu zahlen. Dies aber ist ein offensichtlich untaugliches Mittel, weil es dann bei dieser Organisation liegt, die Schwelle der Strafbarkeit so hoch anzusetzen, wie es ihr beliebt. Das genau ist der falsche Weg, der die Polizei diskreditiert, der das Vertrauensverhältnis zwischen Polizei und Bürger in einer unglaublichen Weise belasten würde.
Ich freue mich, daß ich in dieser Ablehnung mit der ganz überwiegenden Mehrheit der Polizei einer Meinung bin.
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Nunmehr erteile ich das Wort dem Abgeordneten Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf mich bei dem Bundesjustizminister bedanken, der auf Grund eines Verfassungsrechtes jetzt hier hätte reden können und auch reden wollte, der aber bereit war, zurückzustehen, weil ich nachher einen dringenden Termin habe, der schlecht verschiebbar ist. Recht herzlichen Dank, Herr Dr. Kinkel!
Eine zweite Vorbemerkung: Herr Kollege Dr. Hirsch, in der Tat gibt es in der Koalition unterschiedliche Bewertungen, was den verdeckten Ermittler angeht. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Wenn man zum verdeckten Ermittler ja sagt - das tun auch Sie unter bestimmten Voraussetzungen - , dann kann man ihm nicht, wenn er sich milieubedingt verhalten muß, die Verantwortung überlassen, was die Strafbarkeit angeht. Man muß vielmehr, wenn man A sagt, auch B sagen.
Das muß natürlich strenge Grenzen haben. Ich bin aber schon der Meinung, man kann ihn nicht dem Milieu überlassen, ihn sogar beauftragen, tätig zu werden, ihm aber dann zumuten, sich bei geringsten Straftaten der Gefahr der Entdeckung preiszugeben. Das paßt nicht zusammen. Wir müssen dieses Problem gemeinsam klären.
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Dies ist allerdings ein sensibles Thema; darin sind wir uns einig. Es ist hochkompliziert und eignet sich nicht für Draufschlagargumente. Wir müssen hier gemeinsam einen Weg suchen.
Herr Kollege de With, wenn Sie glauben, hier Warnungen dahin aussprechen zu müssen, wir sollten uns davor hüten, Schauergemälde zu zeichnen, dann möchte ich Ihnen sagen: Wir zeichnen keine Schauergemälde; es sind Schauergemälde. Denn das Drogenproblem in der Bundesrepublik Deutschland nimmt dramatische Ausmaße an. Ich will nur die Zahl der Rauschgifttoten nennen, die in den ersten acht Monaten dieses Jahres um 65 % auf 1 273 Opfer zugenommen hat. Im letzten Jahr waren es in diesen acht Monaten genau 500 weniger: 773. Diese Entwicklung zeigt an, daß wir zum Jahresende mit 2 000 Rauschgifttoten rechnen müssen, was ein weiterer trauriger Rekord ist.
Ich betreue seit Jahren einen Kreis von Eltern und Familienangehörigen Drogenabhängiger. Wenn man sieht, wie diese Eltern und Verwandten leiden, weil sie mit ansehen müssen, wie sich ihr Sohn, ihre Tochter - oder wer immer - bewußt oder weniger bewußt zugrunde richtet, wenn man sieht, wie ganze Familien, Großfamilien ins Elend gerissen werden, in ein seelisches, geistiges Elend, in ein materielles Elend, wenn man sieht, wie diese Menschen in ihrer Verzweiflung - und zwar nicht, weil sie Rechtsradikale sind - dann die Forderung erheben: „Schafft doch endlich Arbeitshäuser, holt unseren Jungen, wir werden mit der Sache nicht fertig, holt ihn hinter Gitter, hinter Stacheldraht, wir können nicht mehr, wir gehen zugrunde! ", dann wird klar, daß wir handeln müssen. Wer dieses Elend sieht und sich dann so larmoyant hinstellt und sagt, hier werden Schauergemälde gezeichnet, dem ist zu sagen: Das sind keine Schauergemälde, das ist eine der grausamsten Entwicklungen der modernen und freiheitlichen Zeit, daß sich Menschen selbst und ihre Umwelt zerstören. Hier muß der Staat angesichts der Dramatik handeln:
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mit allem Ernst, mit aller Verantwortlichkeit, natürlich unter Bewahrung rechtsstaatlicher Prinzipien,
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aber mit Sicherheit mit völlig neuen Methoden.
Die Zahl der Aufgriffe bzw. die Fahndungserfolge belegen: Die Menge der in die Bundesrepublik Deutschland eingeführten Drogen nimmt ständig weiter zu, wobei der relative Anteil der aufgegriffenen Mengen nicht steigt. Das heißt: Die Zunahme der beschlagnahmten Drogen zeigt im Grunde nur das Anwachsen des Problems und läßt ahnen, wieviel mehr Drogen Jahr für Jahr in die Bundesrepublik Deutschland hineinkommen und den Konsumenten auch erreichen. - Ich darf das zu Ende führen, Herr de With, dann können Sie gerne eine Zwischenfrage stellen. - Man sollte einmal an Hand von Zahlen, die einige Jahre zurückliegen und die uns in Südamerika mitgeteilt wurden, das Problem deutlich machen. Das Problem liegt in folgendem: Der Rohstoff hat - sagen wir - einen Wert von 1 Milliarde. Er wird veredelt und hat dann einen Wert von 50 Milliarden. Wenn er dann auf den Markt kommt, hat dieser Rohstoff einen Wert von 300 Milliarden. Das heißt, hier gibt es Gewinnspannen, die es erlauben, eine Infrastruktur des Verbrechens aufzubauen, die dann in der Tat weltweit greift. Über 95 % des Organisierten Verbrechens wird auf internationaler Ebene abgewickelt.
Ich will einmal in aller Deutlichkeit sagen: Es rührt einen fast an, wenn man sieht, wie bei uns der kleine Polizist - eng an rechtsstaatliche Prinzipien und an Grenzen, an Landesgrenzen, und zwar an Bundesländergrenzen und an nationale Grenzen, gebunden - praktisch atemlos einem Phänomen hinterherläuft. Die Verbrecher haben die besseren Geräte, sie haben die besseren internationalen Verbindungen, sie haben bessere Arbeitsmöglichkeiten.
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Das ist ungefähr so, wie wenn ich mit dem Fahrrad einen Mercedes 300 verfolgen will und glaube, ich könnte den Mercedes auf der Autobahn einholen. Das ist die Relation, und deshalb müssen wir tätig werden.
Bitte schön, Herr Kollege de With, Ihre Zwischenfrage.
Herr Kollege Gerster, wollen Sie zur Kenntnis nehmen, daß auch ich gesagt habe, daß wir die Situation erschreckend fänden und daß es jetzt angezeigt ist, daß das Parlament handelt, daß ich aber auch davor gewarnt habe, hier ein falsches Schauergemälde zu zeichnen, und dazu aufgerufen habe, daß es gelte - weil die Privatspähre tangiert werden kann -, kühlen Kopf zu bewahren und weniger mit Emotionen vorzugehen?
Herr Kollege de With, ich halte Sie für einen redlichen Mann und glaube, daß Sie es ernst meinen. Nur, Ihr Vortrag kam mir vor wie der Vortrag eines Bedenkenrates, der zunächst einmal alle Bedenken vorträgt. Die Wahrheit aber ist: Die Probleme der Welt werden nicht durch Bedenkenträger geregelt, sondern dadurch, daß es Menschen gibt, die forsch anpacken und auch den Mut haben, diese Probleme wirklich zu lösen.
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Also, wenn Sie etwas von meiner Frische übernehmen, lösen wir das Problem gemeinsam.
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- Nicht mit Bedenkenträgerei. Wir müssen wirklich entschlossen an die Lösung der Probleme gehen.
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Meine Damen, meine Herren, wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß das Organisierte Verbrechen, die Organisierte Kriminalität mit dem, so sage ich es einmal, Kernstück der Rauschgiftkriminalität eine Bedrohung unseres Staates, seiner Bürger und insbesondere unserer jungen Mitbürger ist. Das ist eine ganz erhebliche Bedrohung, die gegenüber allen anderen Gefährdungen - auch gegenüber allen anderen Verführungsmöglichkeiten hinsichtlich der Bürger dieses Staates - bedeutend mehr Effizienz aufweist.
Diese Bedrohung ist geeignet, das Vertrauen sowohl in die Schutzfunktion des Staates als auch in die Effizienz der Strafverfolgungsmaßnahmen nachhaltig zu erschüttern. Das heißt, zu dem konkreten Problem etwa bei jungen Leuten und ihren Familienangehörigen kommt hinzu, daß die Bürger zunehmend glauben, dieser Staat sei nicht in der Lage, mit diesen internationalen Verbrecherorganisationen zurechtzukommen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen, um tatsächlich ein weiteres Anwachsen des Organisierten Verbrechens zu verhindern.
Organisierte Kriminalität als besonders qualifizierte Begehungsform von Straftaten unterliegt Entwicklungsgesetzen, die wir in vielfältigen Formen kennen - auch bei der Mafia; aber das will ich jetzt nicht alles vergleichen; natürlich gibt es hier Differenzierungen - : Die Gewinne müssen legalisiert, gewaschen und angelegt werden. Der Umfang der kriminellen Aktivitäten und der Zwang zur Geldanlage erzeugen die Notwendigkeit der Sicherung der Geschäftsgrundlagen zur Geldwäsche und anderen Formen.
Außerdem ist die Organisierte Kriminalität von anderen Kriminalitätsformen zu unterscheiden - ich sagte es bereits - , weil sie ein internationales Phänomen ist und wir darauf angewiesen sind, bei noch bestehenden Grenzen mit nationalen Maßnahmen, aber auch mit internationalen Kooperationsmodellen diesem Problem Herr zu werden.
Letzten Endes hat diese Verbrechensform längst das Europa ohne Grenzen für sich geschaffen. Wir hinken hier nach. Deswegen sage ich immer wieder, wenn die Frage gestellt wird, ob ein Europa mit offenen Grenzen die Kriminalität nicht noch erleichtern werde: Für diese Form der Kriminalität sind die Grenzen längst überwunden.
Folglich müssen wir die Öffnung der Zollgrenzen, der europäischen Grenzen nutzen, um tatsächlich auch den nächsten Schritt zu wagen. Das heißt, wir brauchen eine europaweite Fahndung. Wir brauchen jetzt das, was ich schon oft ein Europäisches Kriminalamt genannt habe, nicht um neue Superbehörden zu schaffen, sondern um die Bekämpfung des internationalen Verbrechens in Abstimmung mit den europäischen Nachbarn und Partnerstaaten gemeinsam zu bewältigen.
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Dabei weiß ich als Innenpolitiker, der für diesen Bereich neben den Kollegen aus der Rechtspolitik mit zuständig ist, genauso wie alle anderen, daß wir es hier natürlich mit einem sozialen und gesellschaftlichen Phänomen zu tun haben, das man nicht allein mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Gesetzen bewältigen kann. Meine Kollegen werden diesen anderen Gesichtspunkt noch ansprechen. Natürlich hat dieses Phänomen, dieses Problem mehrere Facetten. Ich spreche hier zu dem einen Teil; der andere gehört natürlich unverzichtbar dazu.
Jedenfalls ist der heute vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität unserer Meinung nach eine gute und geeignete Grundlage, um das Gesetzgebungsverfahren zügig abschließen zu können. Hierin sind schon seit langem von unserer Fraktion erhobene Forderungen enthalten, die dann auch umgesetzt werden müssen.
Mit der Einführung der strafrechtlichen Rechtsinstitute der Vermögensstrafe, des erweiterten Verfalls sowie des Straftatbestandes der Geldwäsche tragen wir der Erkenntnis Rechnung, daß die organisierten Verbrecher an ihrer empfindlichsten Stelle, nämlich beim Geld, gepackt werden müssen. Die zur Zeit noch geltenden Rechtsvorschriften über den Verfall und die Einziehung greifen in den für die Organisierte Kriminalität typischen Fallgestaltungen viel zu selten, um eine nachhaltige Abschöpfung von Straftatgewinnen zu bewirken.
Im Strafverfahrensrecht werden präzisere Regelungen über die Rasterfahndung - das ist bereits angesprochen worden - und den Einsatz verdeckter Ermittler vorgeschlagen. Außerdem wird der im Bereich der Organisierten Kriminalität wichtige Zeugenschutz erheblich verbessert.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, für die weitere Beratung noch zwei Probleme ansprechen, denen wir noch nachgehen müssen. Das eine ist auf Grund der Intervention des Kollegen Hirsch von mir bereits angesprochen worden. Ich glaube, wir müssen uns bei der Regelung für die verdeckten Ermittler sehr wohl darauf verständigen, was ihnen in dieser Funktion gestattet ist und was nicht. Auch der Polizist als verdeckter Ermittler hat Anspruch auf den Schutz des Staates, wenn er auf diesem schwierigen Feld tätig wird. Wir können ihn nicht einfach gewissermaßen
Johannes Gerster ({4})
blind in diesem Bereich hineinschicken und sagen: Wenn etwas passiert, muß du selbst die Verantwortung tragen. - Der Dienstherr hat hier besondere Pflichten, die wir noch ausgestalten müssen.
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Der zweite Bereich wurde von Herrn Staatsminister Stoiber ebenfalls bereits angesprochen. Wir müssen die Möglichkeiten des Einsatzes von technischen Mitteln, etwa in Geschäftsräumen, noch einmal überprüfen. Wir müssen überlegen - das gilt übrigens für den gesamten Regelungsbereich - , welche Rechtsgüter hier Vorrang haben. Nehmen wir den Lebensschutz, etwa gegenüber jungen Menschen und gegenüber gefährdeten Personen, wirklich so wichtig, daß wir sagen, wir müssen die technischen Möglichkeiten zur Entdeckung dieser Gangster und Großgangster verbessern, oder sind andere Rechtsgüter, zum Beispiel der Schutz von Geschäftsräumen und Wohnungen, wichtiger? Hier muß es eine Interessenabwägung, eine Güterabwägung geben, die wir in vielen Bereichen immer wieder treffen müssen.
Dazu sage ich Ihnen meine persönliche Meinung, die auch von unserem Arbeitskreis Innenpolitik getragen wird. Wir sind der Meinung, daß letzten Endes der Schutz des Lebens Vorrang hat etwa vor Intimschutzsphären des einzelnen Bürgers,
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dies um so mehr, als wir ein Strafrecht haben, das auf den Einzeltäter und die Einzelstraftat Bezug nimmt. Wir haben hier ja gerade das Problem, daß wir bei organisierten Verbrecherbanden zwar an die „untere Etage", die „ausführende Etage" herankommen können. Aber es gibt fast keine Möglichkeit, das Gestrüpp und den Wildwuchs einer derartigen Organisation zu durchforsten. Das heißt: Wenn wir an den Einsatz technischer Mittel denken, dann wollen wir mit diesen Mitteln an die „oberen Etagen" des Verbrechens herankommen. Wir sehen da keinen anderen Weg, als diese Mittel einzusetzen. Wir wollen niemanden ausschnüffelen. Wir wollen nicht ohne Not in die Privatsphäre des einzelnen eindringen. Das muß daher eng begrenzt werden. Aber ich schätze, wir werden eine Bestrafung der „oberen Etagen" des organisierten Verbrechens nur erreichen, wenn wir die technischen Mittel als Möglichkeit nutzen, um an diese Organisationen heranzukommen.
Meine Damen, meine Herren, wir werden diesen Gesetzentwurf - wie wir das bei allen anderen Gesetzentwürfen auch tun; es handelt sich hier um einen sehr sensiblen und komplizierten Bereich - nach besten Kräften zu durchforsten haben. Wir werden genau hinsehen müssen, was noch wie verbessert werden kann. Wir dürfen jetzt natürlich nicht einäugig ein Ziel verfolgen und andere Ziele aus dem Auge lassen; vielmehr werden Abwägungsprozesse notwendig sein. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind der Meinung, daß es eine ordentliche und solide Beratung geben muß, daß diese aber in den zuständigen Ausschüssen - Innenausschuß, Rechtsausschuß und andere - relativ zügig vonstatten gehen sollte und wir dann wirklich den Mut zur Entscheidung und zum Handeln in bezug auf diese neuen Gesetze haben sollten.
Wie bei jedem Gesetzgebungsverfahren - Herr Kollege Penner, Herr de With - freue ich mich ganz besonders darauf, auch mit den Sozialdemokraten zu streiten. Sie sind alle eingeladen, auf einen Zug aufzuspringen, der uns auf diesem Gebiet ein ganzes Stück weiterbringt.
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Nun erteile ich dem Bundesjustizminister Dr. Kinkel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung ist sich mit dem Bundesrat einig, daß der Organisierten Kriminalität, insbesondere dem internationalen Drogenhandel, mit aller Entschiedenheit Einhalt geboten werden muß. Die Bundesregierung richtet auch eine deutliche und entschiedene Kampfansage an die Organisierte Kriminalität, an die Verbrecherbanden, die mit illegalem Rauschgifthandel aus reiner Profitgier Unglück, Verelendung und Tod anderer Menschen, vor allem auch von Jugendlichen und Kindern, in Kauf nehmen.
Wir hatten - das ist schon angeklungen - bis zum September dieses Jahres 1 340 Drogentote. Im Vergleichszeitraum 1990 waren es 834. Das bedeutet einen schrecklichen Anstieg von rund 62 %.
Die Probleme sind bekannt. Es ist darauf eingegangen worden; ich will nicht weiter darüber sprechen, ich will mich mehr auf die rechtliche Betrachtung konzentrieren.
Trotz unterschiedlicher Auffassungen in einigen Fragen, hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf letztendlich ein einheitliches Ergebnis erreicht.
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Dafür bin ich im Interesse des gemeinsamen Ziels, die Organisierte Kriminalität mit ganzer Kraft zu bekämpfen, dankbar. Ich finde, daß das, was in der Koalition beschlossen wurde, letztlich ein fairer Kompromiß zwischen der effizienten Bekämpfung der organisierten Kriminalität einerseits und unverzichtbaren Freiheitsrechten des Bürgers andererseits, worauf ich besonderen Wert lege, ist.
Ich möchte den Kollegen Schäuble und Stoiber - trotz ungeheuer langwieriger, in der Sache anstrengender und äußerst kontroverser, aber Gott sei Dank zum Schluß erfolgreicher Gespräche - danken; denn wir mußten uns in langen Tages- und Nachtgesprächen mit der Materie wirklich auseinandersetzen und haben das auch getan.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität beruht im wesentlichen - darauf möchte ich doch einmal hinweisen dürfen - auf Vorarbeiten des Bundesjustizministeriums, die in langjährigen Beratungen mit den Bundesländern abgestimmt wurden.
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Wegen der grundsätzlichen Übereinstimmung zwischen Bundesrat und Bundesregierung verzichtet die Bundesregierung darauf, einen eigenen Gesetzentwurf einzubringen; wir haben uns das sehr wohl überlegt. In der Koalition haben wir uns vielmehr darauf verständig, den Gesetzentwurf des Bundesrates im weiteren Gesetzgebungsverfahren - allerdings mit bestimmten Änderungen - zu unterstützen und mitzutragen.
Das Gesamtkonzept des Bundesrates verfolgt im wesentlichen zwei Ziele: Erstens. Im Bereich des materiellen Strafrechts sollen durch die Einführung neuer Rechtsinstitute - Vermögensstrafe und erweiterter Verfall - und des neuen Straftatbestandes der Geldwäsche die rechtlichen Möglichkeiten zur Abschöpfung von Gewinnen aus Straftaten verbessert werden. Diese Maßnahmen dienen dem Zweck, dem internationalen Drogenhandel die finanziellen Grundlagen zu entziehen. Insbesondere zur Bekämpfung der Bandenkriminalität sollen Strafvorschriften im Strafgesetzbuch und im Betäubungsmittelgesetz verschärft und erweitert werden.
Zweitens. Im strafverfahrensrechtlichen Bereich soll das Ermittlungsinstrumentarium der Strafverfolgungsbehörden verbessert werden. Der Einsatz von verdeckten Ermittlern, die Rasterfahndung und der Einsatz technischer Mittel bei der polizeilichen Beobachtung und der Strafverfolgung erhalten erstmals - und ich glaube, das ist ganz wesentlich - eine klare gesetzliche Grundlage. Außerdem soll der Schutz gefährdeter Zeugen verbessert werden.
Über die Vorschläge zur Änderung des Strafgesetzbuches besteht weitgehend Einigkeit. Hier geht es im wesentlichen nur noch darum, daß wir Einzelheiten zum Anwendungsbereich der Vermögensstrafe und zum Tatbestand der Geldwäsche abklären müssen.
In dem Gesetzentwurf der SPD zur Abschöpfung von Gewinn und zur Geldwäsche sieht die Bundesregierung keine überzeugende Alternative zu dem von ihr entwickelten und vom Bundesrat mitgetragenen Gesamtkonzept zur Regelung dieser Teilbereiche.
Auch den Bundesratsvorschlägen zur Verschärfung und Erweiterung von Strafvorschriften im Betäubungsmittelgesetz stimmt die Bundesregierung weitgehend zu. Allerdings hält sie - auch wegen der gebotenen Anpassung an den auch von ihr befürworteten neuen Straftatbestand der Geldwäsche - eine Erhöhung der Strafdrohung auf Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren für die Grundtatbestände der Betäubungsmitteldelikte für sachgerecht. Zum Schutz von Kindern und Jugendlichen sollte nach Ansicht der Bundesregierung künftig auch der Mißbrauch Minderjähriger zum Betäubungsmittelverkehr unter Strafe gestellt werden.
Die vorgeschlagenen Änderungen und Ergänzungen des Strafverfahrensrechts waren erwartungsgemäß die umstrittensten, Herr Kollege Stoiber, hier haben nicht nur die Länder in erneuten Beratungen im Bundesrat gegenüber der Fassung der letzten Wahlperiode Änderungen vorgenommen - ich will nur beispielsweise den jetzt vorgeschlagenen engen Deliktskatalog für die Maßnahmen der Rasterfahndung und des Einsatzes verdeckter Ermittler nennen -, hier hat auch die Bundesregierung am heftigsten um Kompromisse gerungen und ringen müssen.
Das vorliegende Ergebnis ist jedenfalls meines Erachtens gut und vertretbar. Natürlich gibt es Stimmen, die mehr verlangen, die sagen, es sei ein stumpfes Schwert geschaffen worden, andererseits gibt es auch Stimmen, die behaupten, der Rechtsstaat habe zugunsten des Staates, zugunsten der Strafverfolgung zu viele Federn gelassen.
Ich meine, daß die Effektivität der Strafverfolgung gerade bei den modernen, besonders bedrohlichen Kriminalitätsbereichen wie der Rauschgiftkriminalität und der Organisierten Kriminalität gewährleistet sein muß, daß der Rechtsstaat dieser Effektivität aber auch Grenzen setzt.
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Gegenüber dem notwendigen und berechtigten Streben nach dieser geforderten Effektivität in einem Rechtsstaat, wie wir ihn wollen, gibt es auch Unverfügbares. Ich habe das an anderer Stelle hier in diesem Hohen Haus schon mal gesagt. Das Rechtsstaatsprinzip ist ein verfassungsgebotenes Minimum. Eine in alle Lebensbereiche eindringende totale Kontrolle und Überwachung darf es nach meiner Meinung nicht geben.
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Soweit es aber geht, müssen die Verbrechensaufklärung und Verbrechensverfolgung mit rechtsstaatsgemäßen Methoden effektiv gestaltet werden. Darin sind wir uns einig.
Ich meine, daß der vorliegende Entwurf des Bundesrates in diese Richtung geht und den genannten Vorgaben weitestgehend gerecht wird. Es ist zu begrüßen, daß der Gesetzentwurf erstmals - ich wiederhole es - eine klare Rechtsgrundlage für den Einsatz verdeckter Ermittler, den Einsatz technischer Mittel, die Rasterfahndung und auch für die polizeiliche Beobachtung schafft. Hier geht es - dazu will ich mich ausdrücklich bekennen - um unverzichtbare Ermittlungsmaßnahmen.
Zu begrüßen ist auch, daß die jetzt vorliegenden Regelungsvorschläge in vielen Punkten der Stellungnahme der Bundesregierung Rechnung tragen, die diese zu dem in der letzten Legislaturperiode eingebrachten Entwurf abgegeben hat. Erfreulich ist, wie ich meine, insbesondere auch, daß nunmehr für die Ermittlungsmaßnahmen Rasterfahndung und Einsatz verdeckter Ermittler abschließende Deliktkataloge vorgesehen sind. Wenn auch insoweit noch Erörterungsbedarf besteht, ist es doch begrüßenswert, daß die Zulässigkeit dieser Maßnahmen klar auf bestimmte Straftaten beschränkt ist und damit für den Rechtsanwender und für den von den Maßnahmen Betroffenen Transparenz geschaffen wird, soweit es in diesem Bereich überhaupt möglich ist. Dem Charakter der Maßnahmen und den mit ihnen verbundenen Grundrechtseingriffen wird, wie ich meine, damit Rechnung getragen.
Die am heftigsten umstrittenen Fragen waren - darauf haben Herr Kollege Stoiber und auch Herr Kollege Gerster hingewiesen - : Soll es verdeckten
Ermittlern erlaubt sein, technische Mittel heimlich auch in Wohnungen einzusetzen, soll es insbesondere erlaubt sein, in Anwesenheit eines verdeckten Ermittlers in einer Wohung auch Gespräche abzuhören und aufzuzeichnen? Soll es darüber hinaus verdeckten Ermittlern erlaubt sein, milieugerechte Straftaten zu begehen?
Meine Meinung: Der Einsatz von Abhörgeräten in Wohnungen ist unzulässig.
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Das ergibt sich aus dem Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung,
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einem der höchsten Güter unserer Verfassung. Nach dem Willen unserer Verfassungsgeber - Herr Stoiber, ich sehe die Probleme, trotzdem bleibe ich dabei - muß und soll es Räume geben, in denen jeder sicher sein kann, daß er nicht abgehört wird, nämlich die eigene Wohnung.
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Der im Gesetzentwurf des Bundesrates vorgeschlagene sogenannte kleine Lauschangriff, d. h. die vorgeschlagene Zulässigkeit eines Abhörens in Wohnungen in Anwesenheit eines verdeckten Ermittlers als Dokumentation des ohnehin von diesem Mitgehörten, berührt, wenn auch nicht in gleichem Maße, ebenfalls die Unverletztlichkeit der Wohnung. Ich meine, auch auf diese in die Wohnung eindringende Maßnahme sollte und kann verzichtet werden.
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Ermittlungsrelevante und beweiserhebliche Erkenntnisse können gegebenenfalls durch den Zeugen vom Hörensagen oder durch die Vernehmung des anwesenden verdeckten Ermittlers eingebracht und in einer Hauptverhandlung nachgewiesen werden.
Gestrichen werden sollte aus dem Entwurf auch die Regelung der Zulässigkeit des Einsatzes technischer Mittel allein zur Sicherung eines verdeckten Ermittlers. Ich sage: aus diesem Gesetzentwurf. Es handelt sich hier nicht um eine Maßnahme, die dem Gewinnen von Erkenntnissen im Ermittlungsverfahren dient. Es geht vielmehr allein um die Maßnahme, die der Sicherheit des eingesetzten Beamten, mithin der präventiven Gefahrenabwehr dient. Der richtige Regelungsstandort ist nicht die Strafprozeßordnung, sondern sind die Polizeigesetze der Länder, in denen das schon weitgehend steht. Einige neue Landespolizeigesetze bzw. Entwürfe sehen das ja bereits vor. Ich weise noch einmal darauf hin und möchte mit Nachdruck sagen, daß milieugerechte Straftaten des verdeckten Ermittlers nicht zulässig sind. Ich will jetzt nicht wieder lange in die alte Auseinandersetzung eintreten. Wir sind jedenfalls der Meinung, daß das so ist und auch so bleiben sollte.
Nochmals: Der Entwurf verdient in seiner Zielsetzung und Ausgestaltung grundsätzlich Zustimmung.
Ich verweise noch einmal auf den Ergänzungsbedarf im einzelnen, beispielsweise was die Einbindung des Datenschutzbeauftragten in die Maßnahme einer Rasterfahnung betrifft, durch die viele Nichtbeschuldigte betroffen werden, die in den strafverfahrensrechtlichen Kontrollprozeß geraten können.
Bestimmungen zu den offengebliebenen Bereichen, in denen ebenfalls dringender Regelungsbedarf besteht, werden von der Bundesregierung in Kürze ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht. An erster Stelle nenne ich umfassende Dateiregelungen und Akteneinsichtsregelungen für das Strafverfahren. Die Vorbereitungen sind relativ weit gediehen. Ich bin zuversichtlich, alsbald einen die vorliegenden Vorschläge ergänzenden Regierungsentwurf vorlegen zu können. Ich hoffe dabei sehr auf die Mitarbeit der Bundesländer.
Die zunehmende Überschwemmung des europäischen Marktes mit illegalen Drogen hat nicht nur zu hohen Todesraten geführt, sondern auch die Nachfrage gefährlich belebt. Damit hat sich gezeigt, daß eine verstärkte Bekämpfung der Drogenkriminalität allein mit den Mitteln des Strafrechts nicht ausreicht.
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Ebenso wichtig erscheint deshalb, daß die Nachfrage nach illegalen Drogen durch Aufklärung, Beratung und Behandlung Abhängiger so weit wie nur irgendwie möglich verringert wird. Das ist keine leichte Aufgabe; das weiß ich. Es ist leichter, theoretisch darüber zu sprechen, als es in die Praxis umzusetzen. Denn die von illegalen Drogen Abhängigen führen zwangsläufig ein leider sehr oft mit Straftaten verbundenes Leben, das sie scheu und mißtrauisch macht. Sie benötigen daher einen erhöhten Vertrauensschutz, wenn wir von ihnen erwarten, daß sie sich der Drogenberatung öffnen und sich in der Praxis tatsächlich helfen lassen.
Hier kann das im Gesetzentwurf des Bundesrates vorgesehene Zeugnisverweigerungsrecht für die Beratung in Fragen der Betäubungsmittelabhängigkeit Vertrauen schaffen und hoffentlich sicherstellen, daß der Betroffene leichter als bisher den Zugang zu Drogenberatungsstellen findet.
Die Ausdehnung des strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts auf neue Berufsgruppen ist nicht unproblematisch; das wissen wir. Sie kann die Wahrheitsfindung einschränken und die Gefahr von Fehlurteilen erhöhen. Sie bedarf deshalb immer einer besonderen Legitimation.
Während der Konflikt zwischen Berufsgeheimnis und Strafverfolgungsinteressen bei der Beratung Betäubungsmittelabhängiger offensichtlich ist und ein Zeugnisverweigerungsrecht rechtfertigt, habe ich doch Zweifel, ob die Belange einer sachgerechten Suchtberatung auch in den übrigen Beratungsfällen den Ausschluß der Zeugnispflicht erfordern, wie es der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vorsieht.
Bei anderen Suchtformen ist strafbares Suchtverhalten nicht die Regel. Beim Beratungsgespräch werBundesminister Dr. Klaus Kinkel
den, wie ich mir habe sagen lassen, Straftaten nicht typischerweise offenbart.
Der Gesetzentwurf des Bundesrats, dem die Bundesregierung auch insoweit im wesentlichen zustimmt, macht deutlich, daß das Zeugnisverweigerungsrecht nur so weit gehen darf, wie es die Dringlichkeit des Betäubungsmittelproblems zwingend gebietet. Der Entwurf hat daher nur die Suchtberatung in Fragen der Betäubungsmittelabhängigkeit mit einem Zeugnisverweigerungsrecht ausgestattet und von einer Erstreckung auf andere Suchtformen abgesehen. Diese Eingrenzung stellt sicher, daß die Wahrheitsfindung im Strafprozeß nicht unvertretbar eingeschränkt wird. Dabei müssen wir sehr vorsichtig sein.
Ich komme zum Schluß. Die vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwürfe bieten meines Erachtens in Verbindung mit den Stellungnahmen der Bundesregierung eine sehr gute Grundlage für die bevorstehenden Ausschußberatungen. Ich hoffe sehr, daß die Beratungen zügig durchgeführt werden, wobei ich Sie sehr herzlich um Ihre Mitwirkung bitte.
Herr Minister, sind Sie am Schluß noch bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Gern.
Bitte sehr.
Herr Bundesminister, ist die Bundesregierung der Auffassung, daß ihre Bedenken gegen die Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechts auf andere Suchtkonstellationen auch für die Beratung in der Aids-Problematik gelten?
Darüber muß noch nachgedacht werden. Dazu möchte ich mich jetzt an dieser Stelle nicht festlegen. Ich bitte, das zu verstehen.
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Nun hat die Abgeordnete Frau Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es, die Herausforderung anzunehmen, die Organisierte Kriminalität für Staat und Gesellschaft bedeutet. In der seriösen Polizeiforschung über die Kriminalitätsentwicklung wird als Grundvoraussetzung dazu festgestellt:
Im Bereich der organisierten Kriminalität kann von einem durchgreifenden Erfolg erst dann gesprochen werden, wenn sich die Steuerungsmechanismen von Politik, öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft gegenüber jedweden Kriminalitätseinflüssen als weitgehend immun erweisen.
Auffallend ist, daß der Entwurf vor allem in seinen Begründungsteilen bestenfalls versucht, einige Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität unter einen Hut zu bringen.
Verzichtet wird aber - offenbar bewußt - auf die in den Koalitionsvereinbarungen angekündigte Definition der Organisierten Kriminalität. Hätte man diese Definition versucht, so hätte kein Weg an der notwendigen Voraussetzung für Organisierte Kriminalität vorbeigeführt: der Verflechtung von Staat, bzw. Verwaltung, Gesellschaft und Kriminalität.
Jeder Skandal aus den letzten Jahren der Republik, von Barschel bis zur Parteienfinanzierung, vom Berliner Sumpf bis Schalck-Schäuble-Strauß, hätte als Beispiel für die Möglichkeit des Umsichgreifens Organisierter Kriminalität untersucht werden müssen. Statt dessen wurden und werden diese Skandale als individuelle Fehlleistungen ansonsten ganz honoriger Leute behandelt. Organisierte Kriminalität ist so zum Schlüsselwort geworden, mit dem sich die Herren der inneren Sicherheit die Tür zu ihrem Paradies öffnen wollen.
Alle Straftaten und Verbrechen, die mit herkömmlichen Mitteln angeblich nicht zu bekämpfen sind, werden unter den Begriff der Organisierten Kriminalität subsumiert. Die in dem Gesetzentwurf beanspruchten erweiterten Befugnisse des Eingriffs in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger sollen auf das Klauen von Autoradios und Menschenhandel gleichermaßen angewendet werden.
Vergeblich sucht man in dem Entwurf nicht nur eine hieb- und stichfeste Definition. Nicht zu finden ist im Entwurf oder in der ihn seit Monaten massiv begleitenden öffentlichen Auseinandersetzung um die Organisierte Kriminalität auch nur der Hauch eines empirischen Belegs für die ständig behauptete Effizienz der vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeiten. Das ist kein Zufall.
Vorgeschlagen werden vor allem der Einsatz verdeckter Ermittler, der Einsatz akustischer und optischer Überwachungsmittel, Lausch- und Spähangriffe, Rasterfahndung und Zeugenschutz.
Diese Methoden sind nicht neu; sie sollen nur auf einem neuen Niveau legalisiert und damit praktisch uferlos anwendbar gemacht werden. Ihre Wirkung in Sachen Organisierter Kriminalität beschreibt ein Strafverteidiger wie folgt:
Allgemein wird man sagen können, daß Kronzeuge und V-Mann desto effektiver sind, je weniger es sich um organisierte und professionelle Kriminalität handelt.
Der „Spiegel" berichtete, daß bei einer Lauschaktion in Frankfurt innerhalb kürzester Zeit 60 000 Gespräche abgehört worden sind. Anlaß war der Verdacht der Fahnder, ein Führerscheinhandel werde von einer kriminellen Vereinigung organisiert. Ein Offenbacher Amtsrichter erzählte im „Spiegel", daß sich die Anträge auf Lauschangriffe häufig auf die Angabe von V-Leuten stützen, deren Identität nicht preisgegeben wird. Der „Spiegel" kommentierte zusammenfassend:
Bei der Jagd nach Terroristen und den Hintermännern der organisierten Kriminalität geht die Telefonüberwachung meist ins Leere.
Der Grund sind Mobiltelefone und chiffrierte Funknetze.
Die nachweisbare mangelnde Effizienz der Vorschläge ist jedoch nur die eine Seite des Gesetzentwurfs. Die andere Seite ist der umfassende Eingriff in die Individual- und Bürgerrechte. So verschwommen die organisierte Kriminalität dargestellt wird, so präzise werden die Wunderwaffen dargestellt, mit denen das Phänomen angeblich bekämpft werden kann und soll. Entscheidend dabei sind die angeblichen Erfordernisse der polizeilichen Praxis und die Effizienz des Eingreif ens.
Es ist bezeichnend, mit welcher Skrupellosigkeit Bürger- und Individualrechte ausgehebelt und in die Verfügungsgewalt der immer geheimer operierenden Polizei gestellt werden. Dabei ist doch das, was man zu bekämpfen vorgibt, gerade in den etwa 20 Jahren entstanden, in denen die Polizei mehr und mehr diese Fahndungs- und Ermittlungsmethoden praktiziert hat.
Unter dem Vorwand der Bekämpfung der Drogenkriminalität soll die Polizei mit Hilfe von nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden der Informationsgewinnung, mit Rasterfahndung und Lauschangriffen, mit systematischem Einsatz von V-Leuten, Undercover-Agenten und Agents provocateurs weit im Vorfeld eines Tatverdachts sogenannte aktive Informationsgewinnung betreiben. Das Ziel heißt: systematische Verdachtsgewinnung und Verdachtsverdichtung; Verdachtsverdichtung auch dadurch, daß durch akustische und optische Überwachung im Freien, aber auch in geschlossenen Räumen nicht nur Verdächtige, sondern auch Personen, denen eine Verbindung zu einem mutmaßlichen Straftäter unterstellt wird, ausspioniert werden können.
Diesen Methoden müssen natürlich auch die Methoden der Strafprozeßordnung angepaßt werden. Der geforderte Zeugenschutz vor Gericht führt zu einer Aufspaltung der Gerichtsverhandlung in einen öffentlichen Teil und einen Teil, den die Internationale Liga für Menschenrechte als Rückschritt zu mittelalterlichen Geheimprozessen bezeichnet. Dabei ist das Ganze so zukunftsorientiert, daß der Hamburger Strafverteidiger Strate sich angesichts der Ausdehnung des Geheimbereichs der Polizei zu diesem Entwurf folgendermaßen äußert: „Ist die Zukunft der Bundesrepublik die Vergangenheit der DDR?"
Allgemein gesagt, dieser Entwurf räumt auf mit dem sowieso schon kränklichen Legalitätsprinzip, mit dem Grundsatz, polizeiliches Handeln müsse offen erkennbar sein, und dem Grundsatz, daß ein konkreter Tatverdacht vorliegen muß, um polizeiliches Eingreifen zu rechtfertigen.
Verwertungsverbote für personenbezogene Daten werden aufgehoben, vor allem natürlich zur Gefahrenabwehr. Dazu heißt es in den entsprechenden Begründungen: „Die Bandbreite der anderen Fälle, in denen staatlichen Stellen auf solche Informationen angewiesen sind, ist groß. " Eine Regelung im Zusammenhang mit dem Entwurf ist unter diesen Umständen weder angezeigt noch möglich.
Vergeblich sucht man in dem Entwurf deutliche Signale zu spürbaren Entkriminalisierung und Verbesserung der Hilfsangebote für Konsumenten illegalisierter Drogen.
An dieser Stelle möchte ich die Strafverteidigervereinigungen zitieren, die zu diesem Entwurf folgendes sagen:
An dieser in unseren Augen entscheidenden Stelle ist der Entwurf jedoch für den Bereich der BTM-Kriminalität höchst inkonsequent. Denn die Verfasser sehen generell für die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Grundstoffen zur BTM-Gewinnung kein generelles Verbot mit Erlaubnisvorbehalt für Einzelfälle vor, welche die hier ansässige Chemieindustrie einschränken würde, da diese bisher anerkanntermaßen ohne Skrupel die bekannten Basissubstanzen in die Heroin- und Kokainanbaugebiete in großen Mengen exportiert. Statt dessen wird in der vorgeschlagenen Regelung zur BTM-Außenhandelsverordnung ({0}) der wesentlich weichere Weg eines Genehmigungsverfahrens gewählt, dessen Unzulänglichkeit sich für den Bereich der Waffenexporte leider bereits erwiesen hat. Darüber hinaus lehrt die straf- und strafverfahrensrechtliche Praxis, insbesondere zur BTM-Kriminalität, daß effektiv und nachhaltig sozialstaatlich gesteuerte Substitutionsprogramme, etwa wie Methadon, den illegalen Rauschmittelmarkt und seine Profiteure mehr erschüttern als die Steigerung der Strafandrohung gegenüber der Sucht verfallenen und daher kranken Kleindealern.
({1})
Die schon zitierte Internationale Liga für Menschenrechte bezeichnet den Entwurf als
ein untaugliches Mittel zunehmenden Drogenkonsums zurückzudrängen und den internationalen Rauschgifthandel bzw. die Rauschgiftproduktion in ihren illegalen wie legalen Schattierungen zu zerschlagen.
Auch hier zeigt sich das vorrangige Interesse des Staates an einer ausufernden Sicherheitspolitik des Staates, dem die existentiellen Bedürfnisse von Interessen der Drogenkonsumenten genauso zum Opfer gefallen sind wie die Bürgerrechte.
Mafia, Medellin-Kartell, US-Syndikate und seit neuestem die „Russenfamilien" sind die öffentlich verbreiteten Schreckgespenster, mit denen die internationale Dimension des organisierten Verbrechens beschworen wird.
Folgerichtig beansprucht die Bundesrepublik die führende Rolle bei der Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und anderen Formen der organisierten Kriminalität europaweit, ja selbst weltweit.
Staatssekretär Lintner plädiert seit langem für eine europäische Rauschgiftzentrale. Er verweist darauf, daß bezüglich des organisierten Verbrechens zusätzlich Risiken durch die Öffnung im Osten entstanden seien.
Internationale Abkommen in diesem Bereich wurden bereits mit Ungarn und der Sowjetunion geschlossen. Mit der CSFR und Polen werden entsprechende Abkommen angestrebt. Dieses Sicherheitsmodell will die Bundesrepublik in andere Länder exportieren.
Den Bürgerinnen und Bürgern in osteuropäischen Ländern dürften diese Methoden bekannt vorkommen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink.
Herr Präsident! Meine Herren, meine Damen! In der Bundesrepublik-West rechnet man mit 6 Millionen Nikotinabhängigen, 1,5 Millionen behandlungsbedürftigen Alkoholikern und 80 000 bis 100 000 Heroin- und Kokainsüchtigen; und das sind Mindestschätzungen. Nur die letzte Gruppe interessiert die Medien, die Politikerinnen und die Politiker und die Bevölkerung. Denn hier handelt es sich um illegale Drogen, die dem Betäubungsmittelgesetz unterstehen. 1991, das hörten wir schon, kamen über 1 300 Süchtige ums Leben.
Viel mehr Menschen sterben aber an den Folgen der legalen Drogen. Kreislaufversagen, Leberzirrhose und Lungenkrebs sind einschlägige Vokabeln.
Sucht kommt nicht aus der Wortfamilie „suchen", sondern von „siechen", „Seuche", also Krankheit. Vom Gebrauch über den Mißbrauch zur Gewöhnung bis zur Abhängigkeit entwickelt sich die Sucht.
Sucht ist nicht in erster Linie ein medizinisches, sondern ein sozialpsychologisches Problem. Die letzte Station ist der totale Kontrollverlust. Die Süchtigen können sich dann dem Betäubungsmittel aus einem inneren, zwingenden Drang heraus nicht mehr entziehen. Sie brauchen Hilfe. Gleichzeitig verstoßen sie gegen das Strafrecht, und zwar in doppeltem Sinn: einerseits als Drogenkonsumenten, andererseits als Beschaffungskriminelle. „Strafe oder Hilfe", auf diese kurze Formel läßt sich darum das Dilemma der Drogenpolitik bringen.
Die kriminalpolitische Ausrichtung der Drogenpolitik ({0}) will den Kampf mit strafrechtlichen Mitteln, mit der Verschärfung der Gesetze und deren Durchsetzung führen. Man darf bezweifeln, daß dieser Weg zum Erfolg führt. Die Erfahrungen jedenfalls sprechen dagegen. Kriminalpolitische Lösungswege werden überschätzt.
Für die sozialpolitisch-pädagogische Ausrichtung der Drogenpolitik ({1}) ist das Drogenproblem in erster Linie ein Problem der Sozial- und Gesundheitspolitik und erst in zweiter Linie des Strafrechts. Süchtige sind in dieser Hinsicht Kranke, die der Heilung eher bedürfen als der Strafe. Prävention, Therapie und Nachsorge sind die drei Säulen dieser Konzeption.
„Therapie statt Strafe" als drogenpolitische Strategie, das wird bei uns seit 1981 gesagt. Freilich wird man auch auf diesem Weg keine schnellen Wunder erwarten dürfen; zu zäh, zu widrig ist diese Materie. Und doch ist dieser Weg der einzige, der Hoffnung zu wecken vermag.
Viele Verantwortliche in der Suchtkrankenhilfe, den Jugendgerichtstagen, der kriminalpolitischen Arbeitskreise betrachten unsere gegenwärtige Drogenpolitik als ineffizient und intolerant. Sie plädieren für eine vorsichtige Entkriminalisierung des Drogenkonsums, für die Konzentration der Strafverfolgung auf den professionellen Drogenhandel und für eine verbesserte Überleitung aus Strafverfahren und Haftanstalten in die Therapieeinrichtungen, für mehr konventionelle und ambulante Therapieangebote.
Diesen Forderungen können auch Liberale zustimmen. Deshalb sind die vorsichtigen Änderungen in den vorliegenden Gesetzentwürfen zu begrüßen.
Zur Unterstützung der Drogenberatungsstellen muß alles getan werden, was das Verhältnis zwischen dem hilfesuchenden Süchtigen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieser Einrichtungen stärken kann. Das als richtig erkannte Prinzip „Hilfe statt Strafe " verlangt auch eine Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechts auf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Betäubungsmittelbereich der Drogenberatungsstellen. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Allerdings bezweifle ich, daß die im Gesetzentwurf des Bundesrates vorgeschlagene Beschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts nur auf die unmittelbar im Bereich der harten Drogen tätigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Hand und Fuß hat. Sollte man nicht doch allen in die Arbeit der Drogenberatungsstellen eingebundenen qualifizierten Fachkräften ein Verweigerungsrecht zugestehen, und zwar unter genau definierten Bedingungen?
({2})
Ich persönlich bin jedenfalls dafür. Und da bin ich anderer Ansicht als mein Justizminister; denn viele Süchtige sind mehrfach abhängig. Alkohol und Drogen ersetzen nicht nur, sie ergänzen vielfach die harten Drogen. Die Abhängigen und damit auch diejenigen, die ihnen helfen wollen, lassen sich darum nicht einfach den einzelnen Suchtmitteln zuordnen.
Als Feind unserer Gesellschaft nur die illegalen, die harten Drogen auszumachen beruht auf einer Verkennung der wahren Dimensionen des Drogenproblems.
({3}) In dieser Sackgasse befinden wir uns derzeit.
Die Politik der Liberalen zielt darauf ab, in kleinen Schritten, in liberalen Schritten das Problem anzugehen. Dazu gehört die Entkriminalisierung eines großen Teils der Süchtigen. Den Betroffenen zu helfen heißt aber auch, daß wir nicht Jagd auf Erstkonsumenten und auf Konsumenten von Kleinstmengen machen. Deswegen halten wir auch die diesbezüglichen Änderungen im Gesetzentwurf zum Betäubungsmittelgesetz für richtig. Statt dessen müssen wir alle Anstrengungen insbesondere auf internationaler Ebene unternehmen, um die großen Händler und Rauschgiftringe zu ergreifen. Es steht außer Frage, daß in den Ländern genügend Therapieplätze zur Verfügung gestellt werden müssen; denn lange Wartezeiten sind unerträglich.
Wie bekommt man denn einen Süchtigen, der sechs Monate lang auf einen Therapieplatz wartet, aus der Beschaffungskriminalität heraus?
({4})
Hierzu sagen aber die Länder nichts.
Unser Augenmerk muß sich auch auf die Nachsorge richten. Wir müssen mehr schwellenlose Angebote nahe der Drogenszene schaffen. Wir müssen aufsuchende Straßensozialarbeiter ausbilden und, was ganz wichtig, aber auch teuer ist, therapeutische Wohngemeinschaften finanzieren. Unterbleiben aus Kostengründen die Wiedereingliederung ins Berufsleben und die Einbindung in Selbsthilfegruppen, so fallen die ehemals Süchtigen nach kostenintensiver Therapie in ihr altes subkulturelles Milieu zurück - das hat große Faszination - , und der verhängnisvolle Kreislauf beginnt von neuem.
Lassen Sie mich zum Schluß feststellen: Für Therapiewillige und für Therapiefähige sollten unter strikter staatlicher Kontrolle Ersatzdrogen - Methadon bei Heroinsüchtigen bzw. Rauschgift; nachdem sogenannten Züricher Modell - ausgegeben werden können.
({5})
Aber eines muß unumstritten sein: Das Ziel jeder Drogentherapie ist die Abstinenz, also die Befreiung von der Sucht, nicht die Überleitung auf eine Ersatzdroge.
({6})
- Ich weiß. Hätten wir es schon gelöst, so stünden wir nicht hier.
Fazit: Entkriminalisierende Schritte, wie ich sie vorgetragen habe, bedeuten keine Legalisierung und auch keine Verharmlosung von Drogen. Es gilt, Präventionsmaßnahmen für alle Suchtmittel auszuweiten und den Mythos von legalen und illegalen Drogen zu entlarven.
Vielen Dank.
({7})
Nun hat Herr Dr. Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was ist organisierte Kriminalität?
Es ist Kriminalität, die eine wirtschaftliche Macht hat, die es ihr erlaubt, über Märkte im internationalen Maßstab so zu verfügen, daß sie jede einzelstaatliche nationale Gesetzgebung unterlaufen und paralysieren kann.
Es ist Kriminalität, die über eine technologisch so perfekte Logistik verfügt, daß sie mit ihrer Hilfe jede innerstaatliche oder internationale Strafverfolgung außer Kraft setzen kann.
Es ist Kriminalität, die über eine Sanktionsgewalt verfügt, die mit jeder staatlichen konkurrieren kann, und die durch deren Einsatz jede ihr entgegenstehende Widersetzlichkeit brechen kann.
Also ist es klar, daß dieser Art von Kriminalität mit den Mitteln des herkömmlichen Strafrechts oder der internationalen Strafverfolgung nicht wirksam begegnet werden kann. Mit Recht hat man vor allem darauf verwiesen, daß § 73 des Strafgesetzbuchs in dem Maße unwirksam wird, wie Begehung des Verbrechens und Gewinn aus ihm völlig verschiedenen Tätergruppen zuzuordnen sind.
Der Gesetzentwurf des Bundesrats schlägt darum Änderungen des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung, des Betäubungsmittelgesetzes und weiterer Gesetze vor, die den angestauten Problemen abhelfen sollen.
Vorangegangen ist eine intensive Diskussion im Bundesrat und in der Öffentlichkeit, deren Verlauf freilich auch zeigte, daß die ursprünglich von den Ländern Bayern und Baden-Württemberg ausgehende Initiative auf eine ganze Reihe schwerwiegender rechtsstaatlicher und verfassungsrechtlicher Bedenken gestoßen ist, wie sie sich erst kürzlich in einem offenen Brief und in einer Presseerklärung der Strafverteidigervereinigungen niedergeschlagen haben. Man kann sich dieser kritischen Stellungnahme nur anschließen. Und ich tue das.
Aber damit nicht genug. Das Vorgehen des Gesetzesvorschlags ist weit davon entfernt, die Bahnen des traditionellen Strafrechts zu verlassen und einen neuen Ansatz zu finden, was doch als unerläßliche Aufgabe vorausgesetzt war. Wo der Entwurf es dennoch tut, geschieht es in einer Richtung, die alle geäußerten Bedenken nur bestärken kann.
Was sich hier im Rahmen von Strafprozeßordnungsänderungen an Eingriffen in den Datenschutz und die Unverletzlichkeit der Wohnung und der Privatsphäre ankündigt, kann nur als Angleichung an eine Szenerie der Bespitzelung beurteilt werden, auch wenn durch richterliche und ermittlungsrechtliche Formalitäten versucht wird, die Form oder auch nur den Schein von Rechtsstaatlichkeit zu wahren.
Die Sache ist um so schlimmer, als in ganz kurzer Zeit zwei wichtige Gesetzesvorhaben in eine Sphäre der Zwielichtigkeit vorstoßen, die zu betreten die Erfahrungen, die die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten hat machen müssen, uns für immer abhalten sollten. Werden das Abhören, Abfotografieren, das heimliche Einbrechen in Wohnungen dadurch besser, daß man harmlos und amtlich klingende Bezeichnungen dafür findet und sich auf richterliche Anordnung und die Anwesenheit einer berechtigten Amtsperson beruft? Werden beide, Richter und Amtsperson, nicht just durch das diskreditiert, was sie legitimieren und kontrollieren sollen?
Selbst wenn man sich angesichts des Rauschgiftelends und der weltweiten Macht der Drogenmafia auf „Not, die kein Gebot kennt", berufen sollte: Glaubt man denn ernsthaft, im Zeitalter ständiger Abhörskandale irgendeinen Rauschgiftunternehmer durch Telefonüberwachung oder verdeckte Ermittler schrecken zu können? Will der Rechtsstaat Bürger
und Bürgerinnen auf James-Bond-Niveau verteidigen? Hier habe ich wirklich den Eindruck, daß der Gesetzesvorschlag die organisierte Kriminalität unter dem Bild jener Bande von Fahrraddieben sieht, die einst ein italienischer Nachkriegsfilm berühmt gemacht hat.
Daß wir es mit jenem liebenswürdigen Clan von Kleingangstern nicht zu tun haben, beweist nicht zuletzt der finanzpolitische Aspekt des Gesetzes mit seinen Maßnahmen zur Vermögensstrafe und seinen Vorkehrungen gegen Geldwäsche.
Um ganz ehrlich zu sein: Sie muten auf dem Hintergrund gerade der innerdeutschen Finanzskandale hilflos an. Wer will denn im Zeitalter der Nummernkonten Tatbestände klären, wie sie die berechtigte Annahme des neuen § 73 d Strafgesetzbuch beschreibt, oder wer will so die Herkunft von Geldern aus Verbrechen im Sinne des neuen § 261 Strafgesetzbuch klären?
Man braucht nur einmal einen Auszug aus bestimmten Firmenregistern der letzten Jahre durchzulesen, um in dieser Inflation von Gründungen, Auflösungen und Neugründungen an grundsätzliche Grenzen der Identifizierbarkeit zu stoßen. Die Haftungsregeln des Aktien- und GmbH-Gesetzes nehmen sich jedenfalls im Chaos der Scheinfirmen, die nicht nur Waren, sondern ganze Märkte, Kredite und Währungen verkaufen, sehr idyllisch aus.
Wer hier Abhilfe schaffen will, muß das Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Macht und öffentlicher Verantwortlichkeit bzw. Haftbarkeit ganz neu regeln und vor allem erst einmal transparent machen.
Aber damit sind wir beim Kern dieser gefährlichen Erkrankung der Weltgesellschaft, bei der Tatsache, daß dieser verderbliche Gegenmarkt und diese kriminelle Gegenmacht unter den Bedingungen des Schwarzmarkts, der hermetischen Abriegelung von der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Öffentlichkeit entstehen. Diese Abriegelung, diese schwarze Zone der Nichtöffentlichkeit gilt es zu destruieren, wenn wir die organisierte Kriminalität desorganisieren wollen.
Es kommt nicht darauf an, die Telefone der Mafiabosse abzuhören, sondern darauf, den Inhalt ihrer Gespräche dadurch sinnlos werden zu lassen, daß der schwarze Markt, auf dem allein sie agieren und Höchstpreise erzielen können, zusammenbricht. Das wird unter den augenblicklichen Bedingungen der Prohibition niemals gelingen können. Wir versuchen jetzt, was die USA 1919 mit dem Alkohol versucht haben, freilich mit weit verderblicheren Folgen, als sie damals eintraten.
Europa und beide Teile Amerikas sollten gemeinsam erste Schritte zur Austrocknung dieses perniziösen Sumpfes tun. Das vorgeschlagene Gesetz vermag ich noch nicht als einen Schritt in diese Richtung anzuerkennen.
Ich danke.
({0})
Nun hat Professor Dr. Meyer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verbrechen dürfen sich nicht lohnen. Das ist ein Gerechtigkeitspostulat, das in der römischen Rechtstradition wurzelt. Sinnvolles Strafen ist danach überhaupt nicht denkbar, ohne daß dem Täter seine Tatvorteile entzogen werden.
Bis heute wird deshalb in der Literatur die Gewinnabschöpfung als unverzichtbares Element staatlichen Strafens angesehen. Dabei geht es auch um konkrete Tatvorbeugung; denn durch den Zugriff auf die Tatgewinne soll dem Straftäter das Investitionskapital für die Begehung weiterer Taten entzogen werden. Letztlich geht es auch um die Vision eines sozial gerechten Strafrechts, das nicht die Kleinen fängt und die Großen laufen läßt. Denn die Abschöpfung von Verbrechensgewinnen ist eine Sanktion, die naturgemäß nur gegen Täter zur Anwendung kommt, die durch ihr häufig menschenverachtendes Verhalten Gewinne erzielen, z. B. internationale Drogenhändler, Waffenhändler, Umweltstraftäter, Wirtschaftskriminelle.
„Unrecht Gut gedeiht nicht gut" , sagt ein Sprichwort. Stimmt das so? Redet man vielleicht deshalb in Deutschland und weltweit immer häufiger über Gewinnabschöpfung, weil sich Verbrechen in Wirklichkeit doch oft lohnen? In den verschiedenen Bereichen des organisierten Verbrechens haben die Gewinnspannen auch in der Bundesrepublik längst die Milliardengrenze überschritten. Allein für den Heroinhandel schätzt man die jährlichen Gewinne in Deutschland auf 1,5 Milliarden DM. Weltweit übersteigen die Gewinne des internationalen Drogenhandels längst die Billionengrenze.
Was ist zu tun? - Unbestreitbar reicht unser geltendes Recht nicht aus, um die Abschöpfung von Verbrechensgewinnen zu sichern. Die Geldstrafe eignet sich seit der Einführung des Tagessatzsystems nicht mehr für diesen Zweck; denn die Höhe der Tagessätze richtet sich nach dem tatsächlichen oder potentiellen Nettoeinkommen des Straftäters, wobei illegales Einkommen nicht mitgerechnet werden darf. Man würde sonst ja geradezu einen Anreiz für die Begehung neuer Straftaten zwecks Aufbringung der Geldstrafe schaffen.
Der Verfall nach § 73 StGB setzt den Nachweis der deliktischen Herkunft des Vermögens voraus. Die insoweit im englischen „Drug Trafficking Offences Act" von 1986 vorgesehene Umkehr der Beweislast, wonach eine widerlegbare Vermutung dafür spricht, daß das gesamte gegenwärtige Eigentum eines verurteilten Drogenhändlers Erlös aus Drogenhandel sei, stößt aus deutscher Sicht auf verfassungsrechtliche Bedenken.
Wir brauchen also neue Instrumente, um Verbrechensgewinne abschöpfen zu können. Über dieses Ziel besteht Einigkeit. Aber über die besten Lösungen müssen wir noch streiten. Der Bundesratsentwurf, der insoweit auf einen Entwurf der Bundesregierung von 1989 zurückgeht, enthält teilweise andere Vorschläge als der von der SPD-Fraktion vorgelegte Entwurf zur Abschöpfung von Gewinnen und zur Geldwäsche.
Dr. Jürgen Meyer ({0})
Die Auseinandersetzung, Herr Justizminister, wird darüber zu führen sein, welche Lösungsvorschläge rechtsstaatlich überzeugend sind und welche nicht. Wir sehen in einigen Punkten des vorliegenden Entwurfes mit dem einprägsamen Titel OrgKG erhebliche und im Laufe der weiteren Gesetzesberatungen unbedingt auszuräumende Risiken, nicht nur, weil wir gemeinsam dem Rechtsstaat verpflichtet sind, auch wenn wir Unrecht bekämpfen. Wir müssen uns auch fragen: Wollen wir wirklich den Verbrechern der organisierten Kriminalität den Triumpf gönnen, daß eine gegen sie verhängte Sanktion vom Bundesverfassungsgericht wegen Verfassungsverstoßes für null und nichtig erklärt wird
({1})
oder daß ein befreundeter Staat ein Ersuchen um Rechtshilfe bei der Durchsetzung einer Sanktion ablehnen muß, weil diese nicht rechtsstaatlich ist?
Genau dieser Gefahr setzt sich die Bundesregierung bei dem von ihr vorgeschlagenen neuen Instrument der Vermögensstrafe aus. Diese sieht nämlich die Abschöpfung des Vermögens von Straftätern auch dann vor, wenn es nachweisbar legal - etwa durch versteuertes Einkommen, Erbschaft oder ähnlich - erworben worden ist. Es wird noch nicht einmal vermutet, daß das Vermögen aus der abgeurteilten oder einer anderen Straftat stammt. Insoweit geht man noch weit über die englische Regelung hinaus, die bei uns als verfassungsrechtlich nicht haltbar beurteilt wird. Nach dem vorgeschlagenen § 43 a des Strafgesetzbuchs soll die an sich verwirkte Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren nach einem Umrechnungsmaßstab, der das private Geheimnis der Entwurfsverfasser ist, ermäßigt werden; nebenbei eine Möglichkeit des Freikaufs von Strafe, die weniger vermögenden Tätern verschlossen bleibt.
Es ist nicht verwunderlich, daß der Strafrechtsausschuß des Europarates die Vermögensstrafe aus dem einschlägigen Rechtshilfeübereinkommen ausdrücklich ausgeklammert hat. Wenn es nach der Bundesregierung geht, wird uns also demnächst beispielsweise die Türkei, die wir im Zusammenhang mit der Todesstrafe oft über Rechtsstaatlichkeit belehrt haben, erklären, Rechtshilfe bei der Abschöpfung des Vermögens eines Drogenhändlers in der Türkei könne man leider nicht gewähren, weil das türkische Verfassungsgericht im Jahre 1988 die bis dahin in der Türkei vorgesehene Vermögensstrafe für rechtsstaatswidrig erklärt hat. Ähnliches gilt für Belgien, Dänemark, die Niederlande und andere Europaratsstaaten. Ist es denn, frage ich das Bundesjustizministerium und Sie, Herr Minister, so schwer einzusehen, daß man grenzüberschreitende Kriminalität - und darum geht es doch bei der organisierten Kriminalität - wirksam nur bekämpfen kann, wenn man auch mit Rechtshilfe rechnen kann?
({2})
Das Gegenkonzept der SPD beruht auf Untersuchungen, die im Auftrage des Bundeskriminalamtes im Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht durchgeführt werden und 1989 unter dem Titel „Gewinnabschöpfung bei Betäubungsmitteldelikten" vom Bundeskriminalamt veröffentlicht worden sind. Wir wollen mit dem von uns vorgeschlagenen § 44 a des Strafgesetzbuchs, daß ein Straftäter, der sich durch seine Tat unrechtmäßig bereichert hat, zur Zahlung eines dem Wert des Erlangten entsprechenden Geldbetrages zu verurteilen ist. Der Strafcharakter dieser neuen Sanktion besteht darin, daß nicht nur, wie es beim Verfall als Maßnahme schwerlich anders möglich ist, die Bereicherung abgeschöpft wird, also tatsächliche oder angebliche Kosten für Drogenkuriere, Schmuggelfahrzeuge, Bestechungsgelder, Scheinfirmen und ähnliches nicht abgezogen werden dürfen. Wir sagen: Nicht die Bereicherung, sondern das Erlangte ist herauszugeben.
Selbstverständlich muß die Gesamtstrafe schuldangemessen sein. Und wir wollen, daß die neue Sanktion nicht, wie es Bundesregierung und Bundesrat bei der Vermögensstrafe jedenfalls vorerst vorsehen, auf Drogenstraftaten beschränkt wird. Wir wollen keine Sonderrechte für oder gegen Drogentäter. Verbrechen sollen sich nicht lohnen. Das gilt auch für Waffenhändler, Umweltstraftäter, Wirtschaftskriminelle und andere Täter, wobei wir über eine Beschränkung der neuen Sanktion auf Verbrechen durchaus mit uns reden lassen.
In anderen Bereichen geht uns der vorliegende Entwurf des Bundesrates noch nicht weit genug. Während die Regierung bei der Vermögensstrafe gegen Drogenhändler offensichtlich aufs Ganze gehen will, haben wir ein jahrelanges Zaudern bei der Einführung der Strafbarkeit der Geldwäsche beobachten müssen. Bekanntlich ist organisierte Kriminalität ohne das Waschen schmutziger Gelder nicht lebensfähig. Sie ist angewiesen auf die Unterstützung durch Banken, Versicherungen, Immobilienmakler und andere Einrichtungen, die z. B. die abgegriffenen Scheine aus dem Straßenverkauf von Drogen und die Schwarzgelder in privaten Tresoren in blütenweiße Konto- oder Grundbuchauszüge oder Versicherungspolicen verwandeln. Hat sich etwa die Bundesregierung von der durchaus verständlichen Kritik einiger Vertreter des Kreditgewerbes an der künftigen Strafbarkeit der Geldwäsche bei der Anhörung im Rechtsausschuß des Bundestages im März vergangenen Jahres ernsthaft beeindrucken lassen?
Die SPD-Fraktion hat in mündlichen und schriftlichen Anfragen immer wieder darauf hingewiesen, daß wir durch eine Reihe von Übereinkommen - nicht nur durch das in der Entwurfsbegründung allein erwähnte Übereinkommen der Vereinten Nationen von 1988, sondern auch durch verschiedene von uns mit-verabschiedete Empfehlungen des Europarates und der Europäischen Kommission und schließlich durch die EG-Richtlinie vom 10. Juni 1991 - seit langem verpflichtet sind, einen Straftatbestand der Geldwäsche zu schaffen. Fast alle europäischen Nachbarländer sind uns vorausgegangen. Es begann sich bereits herumzusprechen, daß die Bundesrepublik ein besonders sicheres Anlegerland für kriminelle Gewinne sei. Nun kommt ein Entwurf, nicht etwa der Bundesregierung, sondern des Bundesrates. Kein gutes Bild, das die Bundesregierung hier abgibt.
({3})
Dr. Jürgen Meyer ({4})
- Wenn Sie sagen, Herr Kollege, daß die Bundesregierung ausnahmsweise ein gutes Bild abgibt, dann könnten wir uns in anderen Zusammenhängen auf diese Feststellung schon verständigen.
({5})
Nun endlich kommt dieser Entwurf. Wir werden bei den weiteren Beratungen sehr kritisch prüfen, ob die jetzt endlich vorgelegte Strafvorschrift weit genug in den Fahrlässigkeitsbereich hineingeht. Zur Schonung von Geldinstituten und anderen Vermögensanlegern, die ihre Augen vor der kriminellen Herkunft bei ihnen angelegter Gelder verschließen, besteht keinerlei Veranlassung. Warum eigentlich soll das Geschäft mit der organisierten Kriminalität nach § 261 des Strafgesetzbuches in der Entwurfsfassung nur bei Vorsatz und „Leichtfertigkeit" hinsichtlich der kriminellen Herkunft von Anlagegeldern strafbar sein? Ist es gerecht, Herr Justizminister, daß die Unterstützung, ja die Ermöglichung schwerster Kriminalität nur bei Leichtfertigkeit, also grober Fahrlässigkeit, bestraft wird, während etwa die eher alltägliche Körperverletzung im Straßenverkehr und andere Delikte mittlerer Schwere schon bei einfacher Fahrlässigkeit bestraft werden?
Übrigens sind die rechtsvergleichenden Hinweise in der Entwurfsbegründung unvollständig. Denn in der bereits erwähnten Freiburger Untersuchung ist nachzulesen, daß es in den USA, wo man über die größten Erfahrungen mit der Bekämpfung von Geldwäsche verfügt, strafbewehrte Berichtspflichten über Vermögenstransaktionen von mehr als 10 000 US-Dollar gibt. Trotzdem wird dort inzwischen vielfach gefordert, auch die fahrlässige Geldwäsche unter Strafe zu stellen. Die Bundesregierung schlägt keines von beiden vor.
Ein weiterer Punkt. Mit der an die Vermögensstrafe gekoppelten Beschlagnahmeregelung im Entwurf von § 111 o der Strafprozeßordnung erhält die Strafverfolgungspraxis Steine statt Brot. Die Beschlagnahme soll von einer praktisch unmöglichen Prognose der künftigen Verhängung von Vermögensstrafe abhängen. Wir wollen mit einer praktikablen Beschlagnahmeregelung der Erfahrung Rechnung tragen, daß sich grenzüberschreitend operierende Kriminelle häufig dem Strafverfahren durch Absetzen ins Ausland entziehen, wobei sie ihr Vermögen dorthin transferieren und für die Begehung weiterer Straftaten investieren. Dem soll durch die Erweiterung der in § 443 der Strafprozeßordnung schon heute vorgesehenen Vermögensbeschlagnahme auf Drogen- und Waffenhändler sowie die Täter schwerster Umweltdelikte Rechnung getragen werden, sobald - so steht es ja im Gesetz - Anklage erhoben oder Haftbefehl ergangen ist. Es handelt sich um ein Instrument der Verfahrenssicherung, aber auch der Verbrechensverhütung, das nach unserer Auffassung gezielt gegen organisierte Kriminalität eingesetzt werden sollte.
Gestatten Sie mir bitte eine abschließende Bemerkung zu der im Bundesratsentwurf vorgesehenen Regelung für den Einsatz verdeckter Ermittler.
Als sich im Jahre 1983 die turnusmäßig stattfindende Strafrechtslehrertagung erstmals mit diesem Instrument befaßte, habe ich mich - das ist jetzt acht
Jahre her - in einem Referat mit großem Engagement dafür eingesetzt, derartige Einsätze rechtsstaatlich zu gestalten. Inzwischen habe ich Zweifel, ob das überhaupt möglich ist. Der verdeckte Ermittler, der für längere Zeit in die kriminelle Szene eintaucht, läßt sich kaum noch kontrollieren, jedenfalls nicht von der Staatsanwaltschaft oder gar einem Richter.
Kürzlich hatte sich der Petitionsausschuß des Bundestages mit dem Hilferuf eines ehemaligen Undercover-agent zu befassen, der nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst von seinem früheren Dienstherrn fallengelassen worden war. Der ehemalige verdeckte Ermittler erklärte dem Petitionsausschuß, daß er bei konspirativen Einsätzen im Rahmen der unorthodoxen Verbrechensbekämpfung Kopf und Kragen riskiert habe und nun vor dem Nichts stehe.
Ich halte es für richtig, diese Seite eines zweifelhaften Geschäfts ebenso zu sehen wie das Problem der Verstrickung unbescholtener Bürger in Schuld und Strafe durch das gängige Mittel der Tatprovokation.
Ich komme gleich zum Schluß, Herr Präsident.
Vor diesem Hintergrund habe ich es als besonders unerfreuliches Doppelspiel der Bundesregierung empfunden, daß der Herr Justizminister anläßlich der Verabschiedung des vorliegenden Bundesratsentwurfes stolz verkündete, daß die von Bayern und Baden-Württemberg geforderte Möglichkeit verdeckter Ermittler, milieubedingte Straftaten zu begehen, ausdrücklich nicht mehr vorgesehen sei. Gleichzeitig erklärte der Bundesinnenminister eine entsprechende Gesetzesänderung für „aus polizeilicher Sicht sinnvoll"
Was gilt denn nun? Im Klartext heißt das doch: Derartige Straftaten von Staatsbeamten sollen nach Auffassung der Bundesregierung zwar nicht im Bundesgesetz, wohl aber unter dem Etikett der Vorfeldermittlungen in den Landespolizeigesetzen zugelassen werden.
Herr Professor, ich habe ja mit Wohlwollen Ihre Ankündigung zur Kenntnis genommen, daß Sie bereit sind, sich an die Redezeit zu halten. Sie haben aber inzwischen ganz deutlich überschritten.
Ja, ich bin in zwei Sätzen am Ende und nehme nur einen Teil der Redezeitverlängerung des Herrn Stoiber in Anspruch.
Dann hoffe ich, daß da nicht zuviel Kommas drin sind; okay.
Es verwundert nach diesen widersprüchlichen Äußerungen der Bundesregierung also nicht, daß gegenwärtig im Landtag in Stuttgart ein solches Polizeigesetz beraten wird, während gleichzeitig ein Untersuchungsausschuß in Stuttgart aufzuklären versucht, ob der Innenminister und das Landeskriminalamt für die Begehung von Straf taten im Rahmen der sogenannten Spielkasinoaffäre verantwortlich sind.
Diese Vorgänge, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mit rechtsstaatlichen Kategorien nichts mehr zu tun. Ein Rechtsstaat, der durch seine Beamten Straftaten begeht, gibt sich letztlich selbst auf.
Dr. Jürgen Meyer ({0})
Demgegenüber halte ich mich an den Satz - das ist meine abschließende Bemerkung -, den der Bundesgerichtshof einmal zum Beweisrecht sinngemäß so formuliert hat: Es geht im Strafprozeß zwar um die Aufklärung der Wahrheit, aber nicht um jeden Preis. - Von diesem rechtsstaatlichen Gedanken sollten wir uns bei der weiteren Beratung der uns vorliegenden Gesetzentwürfe leiten lassen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat nun der Abgeordnete Hörster.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Anbetracht des Tages und der Tageszeit und in Anbetracht des Umstandes, daß ich als Christdemokrat grundsätzlich geneigt bin, barmherzig zu sein, will ich versuchen, nicht alles vorzutragen, was ich aufgeschrieben habe, sondern auf das einzugehen, was hier schon vorgetragen worden ist und wo ich eine andere, abweichende Meinung vertrete.
({0})
Zunächst: Es ist nicht das erste Mal, daß wir uns in diesem Haus mit diesen Fragen befassen. Auch in der vergangenen Wahlperiode haben sich Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung mit diesen Themen befaßt. Aber bei all diesen Beratungen ist immer wieder ein Punkt aufgetreten, den auch Frau Kollegin Funke-Schmitt-Rink hier vorgetragen hat, nämlich die Mär, als seien Innen- und Rechtspolitiker die Leute, die glaubten, mit den Mitteln des Strafrechtes allein sei das Problem der Drogen und der organisierten Kriminalität zu lösen.
Ich empfehle dringend, den Nationalen Rauschgift-bekämpfungsplan einmal nachzulesen, wo in epischer Breite dargelegt ist, welche Maßnahmen auf dem Gebiet der Rehabilitation und der Prävention ergriffen werden müssen, um hier wirksam die Drogen- und die Rauschgiftsucht zu bekämpfen.
({1})
- Ganz zurückhaltend bitte, Herr Singer. Ich vermute, daß Sie gewisse Kenntnisse über die Verfassungssituation haben und wissen, daß in diesem Bereich die Bundesländer entscheidend zuständig sind und hier eine Zuständigkeit des Bundes, gesetzgeberisch tätig zu werden, fehlt.
Deswegen würde ich mir sehr wünschen, daß der Sonderkonferenz der Innen-, Justiz-, Jugend- und Kultusminister vom 30. März 1990 - das ist auch schon mehr als ein Jahr her - weitere Konferenzen folgten, damit nun tatsächlich auf dem Gebiet der Prävention und Rehabilitation etwas geschieht. Das kann die Bundesregierung und kann der Bundestag beim besten Willen nicht regeln, weil er gesetzlich gehindert ist, das zu tun.
Wir als Innen- und als Rechtspolitiker haben im Bereich der Bekämpfung des Rauschgifthandels doch die Aufgabe, für das Gebiet, für das wir zuständig sind, nämlich den Bereich der strafrechtlichen Verfolgung, die Voraussetzungen zu schaffen, damit die Ergänzung zu den anderen Gebieten, der Prävention und Rehabilitation, stimmt.
Es ist gerade im Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan gesagt worden, daß Abhängige Kranke sind. Das ist eine damit dokumentierte Feststellung, die es vielleicht bislang in dieser Deutlichkeit nicht gegeben hat. Nur unter diesem Gesichtspunkt läßt sich z. B. die Frage des Zeugnisverweigerungsrechtes für Drogenberater erörtern. Denn wenn es Kranke sind, dann gilt im Grunde genommen eine ähnliche Rechtsetzung wie im Bereich der Heilberufe.
Nur, über eines sollte man sich nicht hinwegtäuschen: Das hat im Umkehrschluß natürlich zur Folge, daß sich derjenige, der die Beratung und die Behandlung nicht aufsucht, obwohl er sich künftig, wenn das Zeugnisverweigerungsrecht Recht wird, dort in einem geschützten Bereich befindet, verstärkt dem Vorwurf aussetzt, daß er in der Illegalität bleiben will, obwohl er große Chancen hätte, herauszukommen, ohne befürchten zu müssen, sich damit gleich dem Staatsanwalt und den Richtern auszuliefern.
Ich meine, daß wir in diesem Zusammenhang wirklich alle Maßnahmen, die notwendig sind, um Rauschgift und organisierte Kriminalität zu bekämpfen, sehen müssen.
Ich halte es für ganz besonders wichtig, daß sich der Bundesrat im Zusammenhang mit der Diskussion im vergangenen Jahr die Mühe gemacht hat, sich nicht auf das Rauschgift zu beschränken, sondern alle Formen der organisierten Kriminalität zu erfassen. In der Tat - ohne jetzt auf die Details der Vermögensstrafe und des erweiterten Verfalls einzugehen - : Es wäre wirklich eine hirnrissige Situation für das Gericht, wenn einem wegen Rauschgifthandels Angeklagten, der auch zugäbe, daß er über große Vermögenswerte verfügt, aber erklärte, daß diese leider nicht aus dem Rauschgifthandel entstanden seien, sondern aus dem Betreiben von vier Bordellen, dieses Vermögen dann verbleiben müßte. - Dies war ja einmal die Diskussionslage in der vergangenen Wahlperiode. Der Bundesrat hat hier das Verdienst, daß er die Formen der organisierten Kriminalität, die alle ineinander verwoben sind, in eine Gesamtschau gebracht hat.
Aus diesem Grunde, Herr Kollege Professor Meyer, habe ich große Sympathie für Ihre Überlegungen - gemeint ist das Ziel - zur Frage der Vermögensstrafe. Es ist notwendig, unser Ziel, das wir erreichen wollen - ich will jetzt nicht in eine rechtstheoretische Betrachtung eintreten - , nicht nur auf den Drogenhandel zu begrenzen, sondern andere Formen der organisierten Kriminalität mit einzubeziehen; denn das paßt an sich in den Duktus der Überschrift dieses Gesetzes. Ich bin sehr dafür, daß wir einen vernünftigen Weg ermöglichen, um auch über das materielle Strafrecht an die Gewinne heranzukommen, die im Bereich der organisierten Kriminalität angehäuft werden.
Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren - und ich will dem Kollegen Eylmann, der sich hierzu noch im Detail äußern wird, keineswegs vorgreifen - : Alles, was wir im Bereich des Strafrechts und des Betäubungsmittelrechts an neuen StraftatbestänJoachim Hörster
den oder Verschärfungen schaffen, ist nichts als weiße Salbe, wenn wir nicht zugleich dafür sorgen, daß die Ermittlungsbehörden das Instrumentarium bekommen, um auf rechtsstaatlicher Grundlage an die Täter heranzukommen, sie zu überführen und vor die Gerichte zu stellen; denn die effektivste Prävention im Strafbereich ist doch immer die, daß Täter damit rechnen müssen, zur Verantwortung gezogen und verurteilt zu werden. Deswegen halte ich es für unverzichtbar, daß Regelungen über den Einsatz verdeckter Ermittler getroffen werden; halte ich es für unverzichtbar, daß der Einsatz technischer Mittel geregelt wird; halte ich es für unverzichtbar, daß wir auch im Bereich des Abhörens zu Maßnahmen kommen, die es auf rechtsstaatlicher Grundlage ermöglichen, an die Straftäter heranzukommen.
Ich muß bei allem Respekt vor dem Herrn Justizminister, dem ich ja durch eine freiwillige Koalition durchaus sehr verbunden bin, doch einmal darauf hinweisen: Herr Justizminister, nehmen Sie mal daran teil, wenn ein Hausdurchsuchungsbefehl ausgeführt wird, wenn 20 Kriminalbeamte in eine Wohnung reingehen, jede Schublade aufkramen, in die Tagebücher der Leute hineingucken, auch noch - was weiß ich - die Haarlocke eines Kindes begutachten, die sich Eltern aufgehoben haben; die Unterhosen zählen und anderes mehr. Da wird in den intimsten Bereich des Lebens in einer Wohnung eingegriffen, und niemand zweifelt daran, daß im Interesse der Strafverfolgung so etwas auf einer rechtsstaatlichen Grundlage möglich sein muß.
Deswegen frage ich: Ist es denn nun wirklich der Mühe der Edlen nicht wert, darüber nachzudenken, wie man auf einer rechtsstaatlichen Grundlage angesichts der Bedrohung durch die organisierte Kriminalität, die ja von jedem hier unstreitig dargestellt worden ist, auch technische Mittel überprüfbar, richterlich überprüfbar, einsetzen kann. Ich vermag nicht zu verstehen, warum das nicht gehen soll. Ich vermag es rational nicht nachzuvollziehen.
Herr Kollege Dr. Ullmann, was Ihre Erfahrung mit einem Überwachungsstaat betrifft - ich bitte um Nachsicht, ich kann das nicht nachvollziehen, ich habe nie einen erlebt, ich bin in einer freien Gesellschaft groß geworden, und ich werde alles daransetzen, daß das eine freie Gesellschaft bleibt.
({2})
Wir können sicherlich nicht die beiden Systeme, das System des Überwachungsstaates, der Ihre Erfahrungen prägt, und das System richterlicher Maßnahmen und gesetzlich kontrollierter Ermittlungsbehörden, in einen Topf werfen. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, diese Differenzierung vorzunehmen.
({3})
Ich räume gerne ein, die besonderen Kenntnisse in diesem Zusammenhang, die bei den Damen und Herren der PDS vorliegen mögen, habe ich nicht.
({4})
- Wahrscheinlich nicht.
Ich möchte zum Abschluß noch einen Punkt ansprechen, der mir auch wichtig erscheint. Im Zusammenhang mit dem Überwachungsstaat ist immer wieder ein Klima erzeugt worden, als wäre es eigentlich die Tendenz unserer Polizeibeamten, unserer Staatsanwaltschaften und Behörden, nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln zu arbeiten.
Ich bin weit davon entfernt, zu behaupten, dort würde alles fehlerfrei laufen. Auch in meinem Beruf als Anwalt muß ich gelegentlich eine andere Auffassung zu diesem Thema vertreten. Aber im Grundsatz bin ich davon überzeugt, daß unsere Polizei und unsere Ermittlungsbehörden rechtsstaatlich arbeiten und daß sie aus freien Stücken, nicht weil sie genötigt sind, sondern auch aus eigener Überzeugung versuchen, das Recht einzuhalten. Deswegen kann ich das Mißtrauen, mit dem man hier den Ermittlungsbehörden begegnet, überhaupt nicht verstehen.
Am Schluß noch eine Bemerkung zu dem Vorschlag der SPD, was die Geldwäsche anbetrifft: Herr Professor Meyer, vielleicht sollten wir uns auch einmal über die Möglichkeit des Art. 305 Abs. 2 und 3 des Schweizerischen Strafgesetzbuches unterhalten. Ich bin schon der Auffassung, daß Fahrlässigkeit genügen muß, um die Geldwäsche strafbar zu machen; denn sonst kann die Vorschrift leicht ins Leere gehen. Dann haben wir uns so verhalten wie jemand, der Mehl im Mund hat, blasen will, aber dabei das Mehl im Mund behalten möchte. Das müssen wir völlig emotionslos überdenken. Ich bin schon der Auffassung, daß wir, wenn wir ergebnisorientiert denken, eine Chance haben, in dieser Frage zu einem breiteren Konsens zu kommen.
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- Leichtfertigkeit halte ich persönlich für unzureichend; das habe ich in der letzten Wahlperiode hier schon vorgetragen. Ich habe ausdrücklich auf die Vorschriften des Schweizerischen Strafgesetzbuches verwiesen. Die Schweiz steht ja nicht im Verdacht, ein Land zu sein, in dem der Umgang mit Geld als etwas Schändliches angesehen wird. Deswegen halte ich das für ein gutes Beispiel.
Ganz am Rande, nur damit es erwähnt wird: Ich halte es für sehr gut, daß der Bundesrat auch auf die Frage des Handels mit den chemischen Grundstoffen eingegangen ist, die in den Drittländern zur Herstellung von Rauschgift dienen. Alle, die schon in Drittländern waren und geschimpft haben, weil dort Rauschgift hergestellt wird, haben uns immer wieder gesagt: Es wäre viel schwieriger, das Rauschgift herzustellen, wenn man verhindern könnte, daß die Grundstoffe, die zur Herstellung des Rauschgiftes notwendig sind, in diese Länder eingeführt werden.
Deswegen bin ich sehr dankbar, daß sich der Bundesrat dieses Themas angenommen hat. Die Bundesregierung hat dazu noch Erläuterungen unter dem Gesichtspunkt gegeben, es müsse alles auf den neuesten Stand gebracht werden. Aber mir erscheint hinsichtlich des Weges insoweit Einigkeit zu bestehen, daß die Ausfuhr dieser chemischen Grundstoffe
kontrolliert werden muß, sowohl was die Mengen als auch was die Empfänger anbetrifft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe sehr, daß die Beratungen im Rechtsausschuß zügig durchgeführt werden können, daß wir zu einem breiten Konsens kommen und daß wir die Ergebnisorientierung vor mögliche ideologische Betrachtungen stellen.
Vielen Dank.
({6})
Nun spricht die Abgeordnete Frau Köppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die praktische Wirkung dieses uns vorliegenden Gesetzentwurfes wird bescheidener sein, als die Befürworter es verheißen. Gerade die vorgesehenen Änderungen der Strafprozeßordnung schaffen weniger etwas Neues als vielmehr die Legalisierung einer langjährigen Praxis. Der Einsatz verdeckter Ermittler durch die Polizei und der Einsatz von Wanzen und anderen Gerätschaften beim Verfassungsschutz gehören schon seit langem zum Standardrepertoire der Sicherheitsapparate.
Wenn zahlreiche Bürgerrechtsorganisationen heute wie bereits in den Diskussionen über vorangegangene Gesetzesinitiativen erneut ihre Stimme erheben, dann tun sie das, weil sie genau wissen, daß die hier vorgesehene Ausweitung staatlicher Zugriffsrechte auf die Intimsphäre der Bürgerinnen und Bürger nur ein weiterer Schritt in das Europa der Sicherheitsdienste sein wird. Das Drehbuch scheint längst geschrieben zu sein. Heute wird der längst übliche Einsatz verdeckter Ermittler im Gesetz verankert. Morgen dürfen diese halbkriminellen Geheimpolizisten wohl leichte Straftaten begehen, und übermorgen - was ist übermorgen?
Die von der Bundesregierung in bestimmten Bereichen - wie beim verdeckten Ermittler - angestrebten Abstriche von den Maximalforderungen ändern nichts an meiner Einschätzung, daß dieses Gesetz das bundesdeutsche Straf- und Strafprozeßrecht in zentralen Bereichen zum Nachteil der Bürgerinnen und Bürger verändern wird.
Trotz der richterlichen Anordnungskompetenz bei polizeilicher Beobachtung und der Verhältnismäßigkeitsprüfung vor dem Einsatz verdeckter Ermittler ist dieses Gesetz eine Aufforderung an die Dunkelmänner, noch mehr zu fordern.
({0})
Der Auftritt eines angeblichen Leiters der zuständigen Abteilung im Bundeskriminalamt in der ZDFSendung „Studio 1" am vergangenen Mittwoch läßt ahnen, daß die Demontage der bürgerlichen Freiheitsrechte keineswegs beendet ist. Mit dem Rücken zur Kamera hat er die Zuschauerinnen und Zuschauer über die Begehrlichkeiten informiert.
Meine Damen und Herren, die Machenschaften eines Herrn Mauss, von dem in letzter Zeit verdächtig wenig zu hören war, sollten uns mit Nachdruck an die
Gefahren erinnern, die daraus entstehen, wenn der Staat selbst kraft Gesetzes das von ihm selbst geschaffene und mit Gewaltmonopol gegenüber dem Bürger durchgesetzte Recht nach eigenem Gutdünken außer Kraft setzen kann. Eine halbkriminelle Geheimpolizei wird nicht dem Recht und der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen, sondern mit ungerechten Methoden seine eigenen Grundlagen untergraben. Als Bürgerin der früheren DDR weiß ich genau, wovon ich da rede. Ohne unzutreffende Vergleiche anstellen zu wollen,
({1})
möchte ich sagen: Ein bißchen Stasi für den guten Zweck werden Sie niemals erreichen.
Halbkriminelle Geheimpolizisten, Wanzen, Rasterfahndung und ähnliche Errungenschaften einer Überwachungsbürokratie sind eine Scheibe der Rechtsstaatlichkeit, die abgeschnitten werden sollte. Die häppchenweise Annexion des Strafrechts und des Strafprozeßrechts durch das Polizeirecht ist eine weitere Scheibe. Die Vorverlagerung des Strafrechts in den Bereich der Umfeldkriminalisierung und der echten oder angeblichen Vorbereitungshandlung ist gefährlich. Der Anfang wurde beim Terrorismus gemacht. Heute ist es die Gruppenkriminalität. Und was ist es morgen?
Versuche haben Sie bereits unternommen. Ich erinnere Sie an die Regelung zur Befürwortung von Gewalt, die Sie nur dank des massiven Widerstandes der Öffentlichkeit 1988 nicht durchsetzen konnten.
Frau Abgeordnete Köppe, wie ich sehe, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Hörster!
Frau Köppe, wir haben vor einigen Wochen das Außenwirtschaftsgesetz beraten und im Zusammenhang damit auch die strafrechtlichen und zollrechtlichen Ermittlungsmethoden erörtert, um Waffenhändlern und Leuten, die mit sensiblen Materialien handeln, auf die Spur zu kommen. Dort ist der Rahmen der Ermittlungsmöglichkeiten gar nicht weit genug ausgedehnt worden; das ist teilweise sogar bei der Union auf rechtsstaatliche Bedenken gestoßen. Das haben Sie aber damals alles befürwortet. Warum wollen Sie im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität und den Rauschgifthandel vergleichbare Ermittlungsmethoden nicht als zulässig erachten?
Das trifft so nicht zu. Wir befürworten in keinem Fall zum Beispiel Telefonüberwachungen. Das stimmt einfach nicht.
({0})
Es handelt sich bei den neuen Regelungen um ähnliche Dinge. Ich denke, daß kriminellen Handlungen
nicht beizukommen ist, indem der Staat selbst krimiIngrid Köppe
nell wird. Ich denke, daß darin auch die Gefahr liegt.
Ich erinnere Sie des weiteren an Versuche, Sitzblockierer wegen versuchter Nötigung zu belangen. Die Beweisschwierigkeiten der Polizei sollen so umgangen werden, daß Beziehungs- und Verdachtsdelikte an die Stelle der beweisbaren Tat treten. Das Strafrecht wird zur Schrotflinte, bei der auch schlechte Schützen davon ausgehen dürfen, wenigstens irgend etwas zu treffen.
Ich bedaure, daß bei der Frage der Vorschriften über die Vermögensstrafe und des -verfalls eine große Koalition der Parteien am Werke ist. In den vergangenen parlamentarischen Anhörungen sind zahlreiche kritische Stellungnahmen veröffentlicht worden. Die flächendeckende Vermögenseinziehung, das sogenannte Bruttoprinzip, läßt sich nicht in Einklang bringen mit dem Gedanken des Ausgleichs des eingetretenen Schadens. Über die Rücknahme der ungerechtfertigten Bereicherung hinaus wird eine Verschlechterung der Vermögenssituation herbeigeführt, die nicht einmal an den individuellen Schuldnachweis gekoppelt ist. Mir ist schleierhaft, wie Sie diese Regelung mit der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes und dem Schuldprinzip im Strafrecht in Einklang bringen wollen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie insbesondere im Drogenbereich wirksame Erfolge anstreben, müssen Sie an die Ursachen herangehen und Ihre Drogenpolitik grundlegend ändern. Mit polizeilichen Maßnahmen, denke ich, kommen wir nicht weiter. Die Gewinne der Drogenbosse können Sie nur dann beschneiden, wenn Sie den Betroffenen direkte Hilfe leisten und sie aus der Abhängigkeit von den Drogenkartellen befreien.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich appelliere an Sie, sensibler als die von Ihnen geführten Landesregierungen mit den Bürgerrechten umzugehen. Ihr Gesetz zur Zeugnisverweigerung für Suchtberater, das von einem richtigen Ansatz ausgeht, kann den Schaden, der durch das Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität entsteht, nicht ausgleichen.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete van Essen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwürfe sehen eine Fülle von Verbesserungen bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität und insbesondere der Drogenkriminalität vor. Auch die FDP begrüßt das. Dennoch möchte ich gleich zu Beginn davor warnen, das vordringliche Mittel in geänderten Gesetzen zu sehen, wie es insbesondere bei einigen Innenministern beliebt ist; wir haben heute morgen ein Beispiel dafür erlebt. Kriminalität wird in erster Linie und am besten von einer ausreichenden Zahl Polizeibeamter bekämpft, die die schon bestehenden Gesetze konsequent anwenden. Es wäre hilfreich, wenn der eine oder andere emotional tönende Innenminister erst einmal hier den Schwerpunkt seiner Aktivitäten setzen würde.
Ich verstehe auch die Klage von Herrn Stoiber gar nicht, die er heute morgen in bezug auf die privaten Sicherheitsdienste geäußert hat. Er hat doch die Änderung selbst in der Hand. Schließlich ist auf den Umstand hinzuweisen, daß die Schwarzen Sheriffs, die von ihm angesprochen worden sind, zuerst in der bayerischen Landeshauptstadt aufgetreten sind.
({0})
- Zu Recht, Herr Kollege.
Nach Überzeugung aller Experten gibt es in unserem Land noch keine Organisierte Kriminalität, die mit der Mafia, der Camorra in Neapel oder der Cosa Nostra in den Vereinigten Staaten zu vergleichen wäre. Aber die vor kurzer Zeit erfolgte Verurteilung eines Staatsanwalts in Nordrhein-Westfalen, der sich von einer organisierten Glücksspielbande hatte kaufen lassen, ist ebenso ein Warnsignal wie Schießereien in der Berliner Innenstadt unter sowjetischen Schutzgelderpressern und Drogenhändlern.
Ich begrüße sehr, daß durch die Einführung der Vermögensstrafe und des erweiterten Verfalls der Zugriff gezielt dort möglich ist, wo die stärkste Triebfeder in diesem Verbrechensbereich liegt, nämlich bei den immensen Gewinnen, die mit dem Drogenhandel und bestimmten Formen des schweren Diebstahls, der Hehlerei und insbesondere des Glückspiels erzielt werden können. Ich war im letzten Jahr an dem gerade genannten Vorgang mit dem Staatsanwalt beteiligt und überrascht, daß ein illegales Spielcasino eine monatliche Gewinnerwartung von einer Million DM hatte. Das zeigt deutlich, daß wir dort intensiver zugreifen müssen.
Diese Zugriffsmöglichkeiten werden notwendigerweise durch eine Strafvorschrift für die Geldwäsche ergänzt. Wer gesehen hat, wie das Medellin-Kartell Riesensummen aus dem Drogenhandel - auch durch die Einschaltung deutscher, zum Teil kleiner Kreditinstitute - wäscht, weiß, wie dringend notwendig gerade diese Vorschrift ist. Über Einzelheiten - das sage ich an die Adresse der SPD ({1})
können wir uns mit Sicherheit unterhalten. - Bei Ihnen weiß ich das, Herr Hörster. Ich sage es nur ausdrücklich gegenüber der SPD.
Die Beweislage im Bereich der Organisierten Kriminalität ist oft besonders schwierig, weil Zeugen in starkem Maße bedroht und eingeschüchtert werden. Maßnahmen des Zeugenschutzes haben sich in den letzten Jahren immer dringender - im Rotlichtmilieu habe ich es selbst erlebt - als notwendig erwiesen.
Für ebenso erfreulich halte ich es, daß die Rasterfahndung als modernes Fahndungsmittel und der Einsatz verdeckter Ermittler nun auch gesetzlich geregelt und rechtsstaatlich abgesichert werden. Bei der Rasterfahndung, die zu einer Vielzahl von Daten auch Unbeteiligter führt, halten wir allerdings die Unterrichtung der Datenschutzbeauftragten über diese
Maßnahme für dringend erforderlich; insoweit unterstützen wir die Bundesregierung.
Nun zu einem Thema, das in der heutigen Diskussion schon eine erhebliche Rolle gespielt hat. Die FDP ist der Auffassung, daß den verdeckten Ermittlern kein Freibrief für kleine Straftaten ausgestellt wird.
Ein verdeckter Ermittler ist vielen Anfechtungen ausgesetzt und ist in der Gefahr, in das kriminelle Milieu mit seinen immensen Verdienstmöglichkeiten abzugleiten. Gerade die Fürsorge für diese Beamten gebietet es, daß sie sich im Einzelfall - wenn die Notwendigkeit unumgänglich besteht - begründet entscheiden, an einer Straftat teilzunehmen oder sie selbständig zu begehen.
Mich hat die Auffassung eines Kollegen aus der Staatsanwaltschaft besonders überzeugt, der als einer der erfahrensten Ermittler in der Organisierten Kriminalität in Deutschland gilt. Er weist darauf hin, daß sich der Einsatz verdeckter Ermittler nur im Bereich der schweren Kriminalität lohnt, in dem die Begehung kleiner Delikte keinerlei Eindruck erzeugt. Mit dem Diebstahl von Eiern qualifiziert man sich in diesem Milieu nicht für die Spitze.
Im übrigen - und auch das muß angesprochen werden - hält das Strafrecht eine Fülle von Regeln bereit, Polizeibeamten im verdeckten Einsatz nach der Begehung von im Einzelfall unumgänglich notwendigen Straftaten zu helfen. Kein Polizeibeamter ist deswegen bisher verurteilt worden; und das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.
Die FDP hat sich auch gegen den Lauscheinsatz gewandt. Sie hat sich dabei nicht von den schlimmen Erfahrungen des Überwachungsstaates DDR beeinflussen lassen. Strafverfolgung in der Demokratie unterscheidet sich in erfreulich vielen Dingen vom Staatssicherheitsdienst und von der Polizei in der Diktatur.
({2})
Das sage ich an die Adresse von Bündnis 90/GRÜNE, insbesondere unserer Kollegin Köppe. Wenn die Kollegin Köppe Polizeibeamte als Dunkelmänner bezeichnet, ist das eine schlimme Entgleisung.
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Aber ich möchte auch auf folgendes hinweisen: Unsere Verfassung schützt in Art. 13 des Grundgesetzes die Unverletzlichkeit der Wohnung und läßt damit ohne Verfassungsänderung, die niemand will, das Einbringen von Abhörgeräten und das Abhören der Wohnung von außen nicht zu. Auch darauf muß hingewiesen werden: das Bundesverfassungsgericht legt den Begriff der Wohnung weit aus, so daß u. a. auch Hotelzimmer und Betriebsräume dazu gehören.
Des Einsatzes technischer Mittel bedarf es im übrigen nicht notwendig zur Beweissicherung, soweit der Beamte selbst anwesend ist. Er steht nämlich dann als Zeuge zur Verfügung. Die technischen Mittel am Körper des Beamten stellen im übrigen im Falle des Entdecktwerdens ein hohes Lebensrisiko für diesen dar. In den Fällen, in denen technische Mittel ausnahmsweise zur Sicherung des Beamten notwendig sind, geben die Polizeigesetze der Länder dafür eine ausreichende Grundlage.
Aus dem Bereich des Betäubungsmittelrechts möchte ich noch zwei Dinge kurz erwähnen, die mich vor meiner Wahl in den Bundestag sehr beschäftigt haben. Es ist nun endlich eine rechtlich einwandfreie Grundlage für Substitutionsbehandlung wie etwa die Abgabe von Methadon in § 13 des Betäubungsmittelgesetzes vorgesehen.
({4})
Dies ist angesichts der jüngsten Beschlüsse der ärztlichen Organisationen zu diesem Problembereich, aber auch der positiven Erfahrung des nordrhein-westfälischen Versuchsprogramms zur Abgabe von Methadon sehr zu begrüßen. Nachdrücklich von der Praxis gewünscht wurde auch die Klarstellung, daß die zur Aids-Vorsorge dringend notwendige Abgabe von Einmalspritzen keinen Straftatbestand erfüllt. Ich danke hier besonders meinem Parteifreund Peter Caesar, der als rheinland-pfälzischer Justizminister dieses Problem als erster aufgegriffen hat. Beide Maßnahmen, sowohl die Abgabe von Methadon als auch die Abgabe von Einmalspritzen, erfolgen seit Jahren. Es hat immer wieder auf Grund von Strafanzeigen Ermittlungsverfahren wegen dieser Verstöße gegeben. Ich mahne eindringlich an, vor neuen gesundheitspolitischen Maßnahmen die rechtlichen Grundlagen sorgfältig zu prüfen und gegebenenfalls vorher zu schaffen. - Vielen Dank.
({5})
Nun hat das Wort der Abgeordnete Singer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute erneut mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität befassen, sollten wir uns zunächst noch einmal die Situation vor Augen führen. Aus der letztmals allein für das Gebiet der alten Bundesrepublik vom Bundeskriminalamt veröffentlichten Kriminalstatistik für das Jahr 1990 ergibt sich als herausragender Trend ein ganz erheblicher Anstieg bei den Betäubungsmittelstraftaten, während die Gesamtzahl der insgesamt begangenen Delikte weitgehend stabil blieb. Für das Jahr 1990 wurden im Berichtszeitraum 4,45 Millionen Straftaten erfaßt. Das sind lediglich 2,2 % mehr als im Vorjahr. So dramatisch die Entwicklung im Rauschgiftsektor ist, so wenig hatte Herr Innenminister Stoiber hier Anlaß, dieses Schauergemälde zu zeichnen, von dem er sich wohl Eindruck hier im Bundestag und eine Beförderung seiner gesetzgeberischen Absichten, mit denen er sich nur teilweise im Bundesrat durchsetzen konnte, versprechen mag. Wir haben 1990 insgesamt 1 478 Drogentote gezählt. Das kann sich inzwischen noch leicht nach oben verändert haben. Darauf wird meine Kollegin Schaich-Walch noch eingehen; aber es sind rund 500 mehr als im Jahr davor und doppelt so viele wie 1988. Insgesamt hatten wir über 103 000
Rauschgiftstraftaten registriert, was einen Anstieg von 10,2 % gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Entsprechend hat auch die Menge des sichergestellten Rauschgifts erheblich zugenommen: 847 kg Heroin, 2,4 Tonnen Kokain und 13,6 Tonnen Cannabis-Produkte. Es ist noch gar nicht lange her, daß Sicherstellungsmengen lediglich in Kilogramm angegeben wurden. Jetzt sprechen wir von Tonnen. Das macht deutlich genug, wie dramatisch die Entwicklung verläuft.
Der organisierte Handel mit illegalen Drogen, ihr Konsum, die Beschaffungs- sowie die Folge- und Begleitkriminalität entwickeln sich zu einem der wichtigsten und bedrückendsten Probleme unserer Gesellschaft. Wir wissen aber auch, daß es keine Patentlösung für das Drogenproblem gibt. Wir wissen weiter, daß die ausschließlich repressiv orientierte Handlungsstrategie, wie sie die Bundesregierung bevorzugt, gescheitert ist.
({0})
- Herr Sauer, ich werde auf den Drogenbekämpfungsplan gleich ausführlich eingehen. Das läßt sich auch durch Antworten der Bundesregierung auf meine Anfragen vom April belegen. Das kommt alles noch, nur Geduld.
Mir ist es deshalb besonders wichtig, zu Beginn meiner Rede darauf hinzuweisen, daß für die SPD Vorbeugung, d. h. Prävention und Suchtprophylaxe, und Hilfe für den Abhängigen mindestens den gleichen Stellenwert erhalten müssen wie die Maßnahmen der Strafverfolgung. Prävention muß Lebensbedingungen schaffen, die dem Konsum und Mißbrauch von Drogen begegnen und den Einstieg in die Abhängigkeit verhindern.
Hilfen dienen zur Sicherung des Lebens bei Abhängigkeit, zur Umorientierung, aber auch zum Ausstieg. Repression hat sich vorrangig und in erster Linie gegen die organisierte Rauschgiftkriminalität, also gegen den Großhändler, zu richten. Wir wollen dem Grundsatz „Hilfe statt Strafe" endlich den Stellenwert verschaffen, der in Sonntagsreden von Politikern immer wieder beansprucht wird. Der Verelendung langjährig Abhängiger kann nur mit sozialtherapeutischen Maßnahmen begegnet werden, nicht mit den Mitteln von Strafverfolgung durch Polizei und Justiz.
({1})
Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr - Herr Hörster, hören Sie zu - mit großem publizistischem Getöse den nationalen Drogenbekämpfungsplan vorgestellt und verabschiedet. Wer danach glaubte, die verantwortlichen Stellen würden dem Problem nunmehr die erforderliche Aufmerksamkeit widmen, muß sich bitter enttäuscht sehen.
Meine Anfrage vom April dieses Jahres, was die Bundesregierung bisher zur Umsetzung des nationalen Drogenbekämpfungsplans unternommen habe, ist so pauschal und so dürftig beantwortet worden, daß man sich fragen muß, ob die Probleme überhaupt erkannt worden sind. So heißt es - ich zitiere jetzt -, daß im Bereich der Prävention auf Bundesebene zahlreiche Aktivitäten durchgeführt worden seien. Das steht im Widerspruch zu Ihrer Äußerung, Herr Hörster.
({2})
Denn Sie sagen, das sei alles Ländersache. Prävention ist Bundessache. Dafür haben wir nämlich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Wenn die gesamte Prävention Ländersache wäre, dann sollten wir im Zuge allgemeiner Sparprogramme - das wäre ein Vorschlag für Herrn Möllemann - doch die Bundeszentrale abschaffen, wenn sie insofern keine Aufgaben hätte.
Es wird darauf hingewiesen, daß die Bundeszentrale einiges in Angriff genommen habe. Ohne die Bemühungen der Bundeszentrale schmälern zu wollen, über die wir uns von der Arbeitsgruppe Drogenpolitik der SPD-Bundestagsfraktion durch einen persönlichen Besuch in Köln-Merheim informiert haben, muß doch die Feststellung erlaubt sein, daß in der Öffentlichkeit von den angeblichen Präventionsmaßnahmen, den Aufklärungs- und Verhinderungsmaßnahmen für den Drogenkonsum bisher so gut wie nichts bekannt geworden ist.
({3})
Der Verweis auf die Kampagne „Keine Macht den Drogen" wirkt geradezu lächerlich.
({4})
Soll es denn etwa alles sein, daß man einige Fußballertrikots mit dem Spruch „Keine Macht den Drogen" bedruckt und dann erwartet, daß ein Jugendlicher sich am Samstagnachmittag beim Besuch eines Fußballspiels das anguckt und abends davon Abstand nimmt, die entsprechenden Mittel einzunehmen?
Noch lächerlicher wirkt das Vorhaben der Bundesregierung, jetzt 78 000 Großplakate mit demselben Spruch über die ganze Republik zu verbreiten. Versprechen Sie sich davon wirklich eine Beeinflussung oder hoffen Sie, damit Eindruck auf Jugendliche und Konsumenten zu machen, die dann möglicherweise vom Konsum abgehalten werden können?
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Also, ich empfehle der Bundesregierung, sich in diesem Punkt einmal das Projekt Vida in Portugal anzusehen. Ich habe es getan.
({6})
Dieses Projekt ist von der Weltgesundheitsorganisation geradezu als beispielhaft und vorbildlich bezeichnet worden. Die Bundesregierung sollte sich schämen, daß ein so kleines und armes Land wie Portugal im
Bereich der Drogenprävention ideenreicher und gescheiter vorgeht, als sie selber es hier der Öffentlichkeit präsentieren kann.
Meine Damen und Herren, bis heute kann kein Mensch eine Antwort darauf geben, wie Sucht und Abhängigkeit entstehen. Um so wichtiger wäre es, die Forschung in diesem Bereich zu verstärken. Wenn ich mir ansehe, wieviel Geld von der Bundesregierung für unsinnige Forschungsvorhaben, wie z. B. die bemannte Raumfahrt, zum Fenster hinausgeworfen wird, frage ich mich ernsthaft, warum im Bereich der Drogenforschung nicht mehr getan wird.
Auf meine Anfrage, ebenfalls vom April, hat die Bundesregierung geantwortet, daß zur Zeit erst der Forschungsbedarf analysiert und ermittelt wird und daß erst im nächsten Jahr ein neuer Förderungsschwerpunkt für die Drogenforschung beschrieben und definiert werden soll.
Wenn man sich soviel Zeit läßt und so zögerlich an die Dinge herangeht, dann klaffen Reden und Tun auseinander; dann kann man sich als Koalitionsabgeordneter - leider ist Herr Gerster nicht mehr hier - nicht hier hinstellen, die dramatischsten Schauergemälde zeichnen und sich dann mit der Untätigkeit der von diesen Fraktionen verantworteten Regierung abfinden. Es zeigt auch, wie desinteressiert und zögerlich die Bundesregierung an das Problem herangeht.
An dieser Stelle möchte ich konkret zum vorliegenden Gesetzentwurf überleiten, der ja bekanntlich vom Bundesrat und nicht etwa von der Bundesregierung vorgelegt worden ist. Ich halte auch das eigentlich für ein Armutszeugnis.
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- Aber nicht überzeugend, Herr Sauer; das war doch nicht überzeugend. Das paßt ins Bild. Wir haben diesen Gesetzentwurf bereits in der vergangenen Legislaturperiode einmal beraten.
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- Der sah anders aus; das ist richtig. Aber es war ein Gesetzentwurf, über den man sich nicht einigen konnte. Herr Hörster, die Tatsache, daß man sich nicht einigen konnte, beruhte auf Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Koalition.
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Ich habe Ihnen im November vergangenen Jahres vorgehalten: Lassen Sie uns über das Zeugnisverweigerungsrecht für Suchtberater eine Einigung herbeiführen - damals bestand weitgehend Einigkeit -, lassen Sie uns die Maßnahmen gegen Geldwäsche und die Gewinnabschöpfung, in welcher Form auch immer, verabschieden. Dazu ist es nicht gekommen. Man kann sich nicht vor die Öffentlichkeit stellen und sagen: „Das ist alles unwahrscheinlich dringlich und muß gemacht werden, wir müssen hier Tätigkeiten entfalten! ", während man bei der Gesetzesberatung so zögerlich vorgeht. Das ist nicht glaubwürdig.
Die Bundesregierung war auch nicht in der Lage, aus ihren eigenen Berichten über die Entwicklung der Rechtsprechung in Betäubungsmittelstrafsachen und über die Betäubungsmittelproblematik insgesamt - die Berichte sind ja sehr interessant und auf schlußreich und bestätigen uns in vielen Bereichen - die erforderlichen gesetzgeberischen Schlüsse zu ziehen. Sie hat sich vor der Arbeit gedrückt und diese den Ländern überlassen.
Wir haben vor vielen, vielen Monaten eigene Entwürfe zur Geldwäsche und für Gewinnabschöpfung vorgelegt. Mein Kollege Professor Meyer hat hierzu ausführlich Stellung genommen. Wir sind auch in den Anhörungen vor dem Rechtsausschuß bestätigt worden, daß unsere Positionen diejenigen sind, die vor dem Verfassungsgericht Bestand haben werden.
Herr Abgeordneter Singer, sind Sie bereit, eine Frage zu beantworten?
Aber selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Hörster.
Herr Kollege Singer, sind Sie bereit zuzugestehen, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion in der vergangenen Wahlperiode lediglich zwei Gesetzentwürfe zu dem isolierten Problem der Geldwäsche und der Gewinnabschöpfung vorgelegt hat? Sind Sie zweitens bereit zuzugestehen, daß ein wesentlicher Gesichtspunkt zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität darin besteht, nicht nur im materiellen Recht, sondern auch im Strafverfahrensrecht Änderungen herbeizuführen, die eine Überführung der Täter bewirken, und daß dies die Gründe waren, die dazu geführt haben, daß wir in der letzten Wahlperiode nicht mehr im Schweinsgalopp den Gesetzentwurf des Bundesrats beraten konnten?
Herr Hörster, für eine Oppositionsfraktion, die das alles ohne den Apparat der Regierung machen muß, ist es ja schon etwas, zwei Gesetzentwürfe umfangreicher Art vorzulegen. Ich bin eigentlich sehr stolz darauf, daß uns das gelungen ist.
({0})
- Der Entwurf zur Geldwäsche und zur Gewinnabschöpfung ist wesentlich umfangreicher. Das, was Sie sagen, Herr Hörster, stimmt nicht. Ich halte es für ganz beachtlich, als Oppositionsfraktion so etwas vorzulegen. Sie als Koalitionsfraktionen haben es ja nicht geschafft. Zu ihren Punkten bezüglich des Strafverfahrensrechts komme ich noch.
Ich wiederhole: Die Entwürfe hätten schon längst Gesetz und Recht sein können. Wenn das alles so dringlich und dramatisch ist, wie Sie es darstellen, sind Ihre Untätigkeit und Ihr Zögern niemandem zu erklären, es sei denn - das steht in meinem Redemanuskript - , Koalitionsquerelen haben eine frühzeitige Verabschiedung verhindert.
So wichtig und so richtig es ist, im materiellen Strafrecht Lücken zu schließen, so vernünftig ist es unserer Meinung nach, auf neue Formen der Kriminalität mit neuen Methoden zu antworten. Aber, meine Damen und Herren, unsere Verfassung setzt entscheidende Grenzen. Wir haben die Menschenwürde zu beachten und das Rechtsstaatsprinzip als verfassungsfestes Minimum für jede Form von Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte unserer Bürger.
({1})
Eine wirksame Strafverfolgung ist als Verfassungsforderung anerkannt, Herr Ullmann, jedoch läßt sich dadurch nicht alles rechtfertigen. Ein dem Beschuldigten zu gewährendes faires Ermittlungs- und Strafverfahren gebietet in besonderem Maße den verantwortungsvollen Einsatz von Strafverfolgungsmitteln, die Wahrung der Verhältnismäßigkeit, klare Rechtsgrundlagen und sichere Kontrollen. In einem Polizeistaat wie der untergegangenen DDR mag die Strafverfolgung äußerst effektiv gewesen sein - doch wer von uns will eigentlich in einem solchen Staat leben?
Unter diesem Gesichtspunkt wird der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf, den nach meiner Information vier Bundesländer auch in der jetzt vorliegenden Kompromißform abgelehnt haben, in den Ausschüssen des Bundestags einer sehr kritischen Prüfung unterzogen werden müssen. Wir begrüßen es, daß in dem jetzt vorliegenden Entwurf der von uns immer wieder geforderte Richtervorbehalt bei fast allen Verfolgungsmaßnahmen vorgesehen ist. Wir begrüßen es auch, daß die Straftatenkataloge, die die Eingriffe rechtfertigen - wie Rasterfahndung, verdeckter Ermittler, polizeiliche Beobachtung - , wesentlich enger gefaßt sind und auf wirklich schwere Straftaten beschränkt wurden.
Jedoch werden wir beim verdeckten Ermittler auf keinen Fall auf die Absichten, wie sie von Herrn Gerster und Herrn Stoiber wieder geäußert worden sind, nach denen diese verdeckten Ermittler Straftaten begehen dürfen, eingehen. Das kommt für uns aus folgender Erwägung nicht in Frage. Man ist sowohl in Terroristenkreisen wie auch in den Kreisen der organisierten Kriminalität nicht so einfältig, den Neuling, der zu einer solchen Organisation stößt, sich nur eben gerade einmal am Glückspiel beteiligen zu lassen. Um ihn auf seine Zuverlässigkeit prüfen zu können, wird man ihm alsbald abverlangen, daß er sich auch an Kapitalverbrechen beteiligt. Das kommt doch wohl für uns alle nicht in Frage. Ein Kriminalbeamter, der als verdeckter Ermittler arbeitet und sich an einem Mord beteiligt, ist doch schlicht und einfach unvorstellbar.
({2})
So etwas darf man noch nicht einmal denken, auch nicht im Hinterkopf behalten. Deswegen sind all diese Vorschläge mit rechtsstaatlichen Forderungen völlig unvereinbar.
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Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zwingt uns bereits seit längerem, eine saubere rechtliche Grundlage für den verdeckten Ermittler zu schaffen. Ich sage es noch einmal für die SPD: Der verdeckte Ermittler darf sich nicht an Straftaten beteiligen, er darf die gerichtliche Wahrheitsfindung nicht erschweren, und er darf die parlamentarische Kontrolle nicht aushebeln. Unter diesen Umständen sind wir bereit, die Praxis, die schon lange im Schwange ist, wenn auch nur auf der Grundlage von Verwaltungsvereinbarungen, gesetzlich abzusegnen und mitzutragen.
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- Der verdeckte Ermittler fängt auch jetzt schon Straftäter, Herr Hörster. Fahren Sie zum Bundeskriminalamt, und unterhalten Sie sich mit den Experten dort; diese werden Ihnen mehr erzählen. Sonst wären die verdeckten Ermittler, die zur Zeit ja keine Straftaten begehen dürfen - und das soll auch so bleiben -, in der Vergangenheit völlig uneffektiv gewesen. Das wird vom BKA und von den Landeskriminalämtern heftig bestritten.
Lassen Sie mich zum Schluß noch kurze Ausführungen zur Frage des Zeugenschutzes machen. Es ist richtig, daß in den letzten Jahren der Zeugenschutz ein immer größeres Problem geworden ist, daß sich immer weniger Mitbürger überhaupt bereit finden, als Zeuge im Strafverfahren zur Verfügung zu stehen, weil sie Angst vor Repressalien, vor Rachemaßnahmen von Gangstern und dergleichen haben. Aber auch hier muß man fein aufpassen, um nicht über das Ziel hinauszuschießen. Wenn ich mir ansehe, auf welche Art und Weise Manuel Noriega in Miami zur Zeit der Prozeß gemacht wird, wo den Belastungszeugen aus dem Gangstermilieu nicht nur eine neue Identität, ein neuer Aufenthaltsort, ein Versteck und dergleichen zugesichert werden, sondern von der Staatsanwaltschaft auch noch insgesamt 1,5 Millionen US-Dollar als finanzielle Zuwendung für diese Zeugen ausgeschüttet werden, dann möchte ich wissen, was das noch an Beweiswert für ein wirklich unabhängiges Gericht darstellen soll, ob man mit solchen Methoden wirklich organisierte schwere Kriminalität wirksam bekämpfen kann.
Ich bin darüber hinaus froh, Herr Bundesminister, über Ihre klare Stellungnahme gegen das Abhören in Wohnungen. Da sind Sie mit uns vollkommen auf einer Linie. Wir werden als SPD wahrscheinlich dem Bundesjustizminister sehr viel näherstehen als den Vertretern von CDU und CSU. Ich bin ausgesprochen dankbar, daß Frau Funke-Schmitt-Rink hier erklärt hat, daß unser Entwurf zum Zeugnisverweigerungsrecht eher ihren Beifall findet als der der Regierung. Sie gehen an einer Erkenntnis vorbei, daß wir nämlich heute kaum noch den Mono-user im Rauschgiftbereich haben. Wir haben den Vielschlucker, den Polytoxikomanen.
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- Das ist ein schweres Wort, wofür ich auch lange geübt habe. Weil das so ist, können Sie das Zeugnisverweigerungsrecht nicht nur auf den Drogenberater beschränken, der sich mit einem Betäubungsmittelabhängigen befaßt, sondern müssen den Kreis weiter ziehen. Wenn ich bedenke, wem alles Zeugnisverweigerungsrechte zustehen - Steuerberatern und sonstwem - , glaube ich, daß dieser Bereich eher schutzwürdig und von uns als wichtiger zu betrachten ist als die von mir erwähnten Bereiche. Auch da sehe ich den
Beratungen im Rechtsausschuß, im Innenausschuß und im Gesundheitsausschuß mit großer Spannung entgegen. Ich glaube, wir werden aus dem in den Ansätzen vernünftigen Entwurf noch etwas Vernünftiges machen. Ich wünsche uns erfolgreiche, vernünftige Beratungen.
Ich muß noch einen Antrag stellen, Herr Präsident. Ich meine, daß wir alle Vorlagen unter den jetzt behandelten Tagesordnungspunkten auch dem Gesundheitsausschuß zur Mitberatung überweisen müssen, nicht nur den Entwurf zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, sondern alle Vorlagen, denn sie betreffen die Zuständigkeit und die Fachkompetenz des Gesundheitsausschusses ebenfalls. Ich wäre also froh, wenn wir den Überweisungsvorschlag noch ergänzen könnten.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Abgeordnete Roland Sauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Singer, Sie haben offensichtlich den Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan nicht gelesen, wenn Sie hier behaupten, wir und die Bundesregierung würden die Repression in den Vordergrund stellen. In diesem Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan ist klar von der Gleichwertigkeit von Prävention und Prophylaxe, von Therapie und Beratung und der Repression die Rede. Dann müssen Sie meiner Meinung nach schon seriöser argumentieren und nicht mit solchen Unwahrheiten hier versuchen, Stimmung zu machen.
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Der Bund hat eine Vielzahl von Modellprogrammen aufgelegt, - ich komme nachher noch darauf zurück - , wo er in der Verantwortung steht. Sie wissen auch, daß die Verantwortung für Beratung, für Therapie und für Rehabilitation letztlich bei den Ländern und Kommunen liegt.
Wir könnten bei den Therapieplätzen einmal einen Vergleich zwischen Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen anstellen. Dann würden Sie sehr schlecht aussehen, Herr Kollege Singer.
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- Darauf kommen wir auch noch.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Gesetzentwürfe zur Drogenbekämpfung, die heute in erster Lesung behandelt werden, sind ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Drogenmafia, aber gleichzeitig auch gegen die Drogensucht.
Wir beraten damit auch eine ganze Reihe von Maßnahmen, die schon im Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan vorgeschlagen wurden. Wir verzeichnen erschreckende Zahlen im Bereich der Rauschgifttoten und der -abhängigen. In diesem Jahr stehen 2 000 Drogentote zu befürchten, und man spricht von 100 000 Rauschgiftabhängigen. Deswegen ist es wichtig, die Drogenpolitik nun entscheidend auszubauen.
Das Ziel des Gesetzentwurfs zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität ist, die Polizei und Justiz zu stärken, um den Kampf gegen die Drogenmafia und die Drogendealer intensiv mit allen rechtsstaatlichen Mitteln führen zu können.
Die Gesetzentwürfe zum Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater und zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes zeigen auf der anderen Seite, wie wichtig es ist, neben einer wirksamen Repression, wie ich schon gesagt habe, Prävention und Prophylaxe sowie Beratung und Therapie entscheidend zu verstärken. Wir brauchen in allen Bundesländern eine klare Linie in der Drogenpolitik, so wie sie von der Bundesregierung praktiziert wird. Es muß Klarheit geben über den Weg, den wir im Kampf gegen die Sucht gehen wollen.
Und dabei - ich sage dies mit großem Nachdruck - ist die Legalisierung der Drogen ein Irrweg.
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Schon die Forderung nach einer Legalisierung der Drogen stellt eine schlimme Verharmlosung der Opiatsucht dar. Sie würde die Probierschwelle für die jungen Menschen noch weiter senken.
Wir müssen vielmehr den Drogenabhängigen, die ja Kranke sind, beim Ausstieg aus der Sucht helfen. Daher müssen in allen Ländern genügend niederschwellige Angebote vorhanden sein und genügend Entzugs- und Therapieplätze bereitgestellt werden. Die SPD-Länder, Herr Kollege Singer, geben viel Geld für generelle Methadon-Programme aus und haben dann kein Geld mehr für Therapieplätze. Diese aber sind wichtig.
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Nun stellen natürlich diese Maßnahmen, die wir heute in erster Lesung zu beraten haben, nur einen ersten Teil von Maßnahmen dar, die wir ergreifen müssen, um zu Erfolgen im Kampf gegen die Drogen zu kommen.
Prävention und Prophylaxe müssen noch wirksamer durchgeführt werden, da sich in der Vergangenheit gezeigt hat: Gut konzipierte Präventionsprogramme sind bei jungen Menschen erfolgreich. So ist nach einer Repräsentativumfrage der Anteil der Drogenerfahrenen bei Zwölf- bis Vierzehnjährigen rückläufig. Dies ist mit auf diese Präventionsprogramme zurückzuführen.
Ich denke hier vor allem an die vom Bund finanzierte mobile Drogenprävention. Wir versuchen jetzt in allen Ländern mit viel, viel Geld, diese Prävention durchzuführen. Aber - und dies ist nicht so abzutun, wie es Herr Singer getan hat - ich denke auch an die vom DFB gestartete Aktion „Keine Macht den Drogen". Es müssen noch mehr Spitzensportfachverbände mit ihren Idolen kommen, die Maßstäbe für die junge Generation setzen, den Drogen den Kampf anRoland Sauer ({4})
zusagen und sie zu ächten. Dies ist eine ganz, ganz wichtige Sache bei der Sensibilisierung unserer jungen Generation, nicht zu den Drogen zu greifen.
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Dabei müssen natürlich alle unsere Programme bei den legalen Drogen beginnen, beim Alkohol, beim Nikotin. Sie dürfen nicht zum Alltag der jungen Generation und der Erwachsenen gehören. Die rund 1,5 Millionen bis 2 Millionen Alkoholabhängigen und die 800 000 Medikamentensüchtigen sind für unsere junge Generation sicher kein gutes Vorbild. Es gibt in vielen Bundesländern zu wenige klinische Entzugs- und Therapieplätze. Drogenabhängige müssen aber die Möglichkeit haben, einen klinischen Entzugsplatz und dann nahtlos einen Therapieplatz in verhältnismäßig kurzer Zeit zu bekommen. Hier darf es in keinem Bundesland zu langen Wartezeiten kommen. Wenn ein Drogenabhängiger zwei Jahre auf einen Therapieplatz warten muß, dann ist es vielfach zu spät.
Darum sind auch die beiden Modellprogramme des Bundes, Herr Singer, das sogenannte Verstärker- oder Boosterprogramm, sowie die Kompakttherapie der richtige Weg. Hier wird auf einer niederschwelligen Basis versucht, den Drogenabhängigen zu helfen.
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Bezeichnend ist der Zusammenhang zwischen dem besonderen Mangel beim Angebot an Therapieplätzen und der Vorliebe für Methadon-Programme. Die beiden besten Beispiele sind hier auf der einen Seite Nordrhein-Westfalen und Hamburg mit ihrer Methadon-Euphorie und auf der anderen Seite das Methadon-Programme ablehnende Baden-Württemberg. Baden-Württemberg hat die Zahl der Therapieplätze in diesem Jahr von 500 Plätzen auf 600 erhöht, was immer noch zu wenig ist. Auf rund 10 000 Abhängige kommen nun 600 Therapieplätze, während in Nordrhein-Westfalen bei über 20 000 Abhängigen lediglich 500 Therapieplätze vorhanden sind.
Die Zahlen zeigen: Gerade die Länder, die wenige Therapieplätze haben, haben einen ganz besonderen Drang zu generellen, zu umfassenden Methadon-Programmen. Den Ausweg in Methadon-Programmen zu suchen ist eine Flucht vor dem Problem. Es führt kein Weg an einer drogenfreien Therapie vorbei. Methadon-Programme wenden sich nur - das wissen Sie vielleicht nicht - an eine Gruppe der Abhängigen, an die Heroinsüchtigen. Die anderen Süchtigen bleiben unberücksichtigt. Da wir immer mehr Mehrfachabhängige haben, ist die Gruppe der reinen Opiatabhängigen äußerst selten geworden. Dies müssen Sie bei Ihren Überlegungen durchaus respektieren und akzeptieren.
Umfassende Methadon-Programme sind kein Weg aus der Sucht, sondern staatlich unterstützte Sucht. Der Staat - ich sage das so - wird damit zum Dealer. Von der einen Droge wird auf die andere Droge umgestiegen. Die Erfahrungen mit generellen Methadon-Programmen in der Schweiz, in Schweden, in den USA sowie in den Niederlanden sind niederschmetternd. Sie zeigen, die Probleme werden nur verschoben. Daher sind für uns generelle Methadon-Programme nicht zu verantworten.
Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann Methadon nur eine Möglichkeit in besonders begründeten und kontrollierten Einzelfällen mit streng umrissenen Indikationen sein, z. B. bei lebensbedrohenden Zuständen im Entzug, bei schweren konsumierenden Erkrankungen, bei drogenabhängigen Schwangeren sowie bei Aidskranken mit manifester Erkrankung. Diese Indikationen, die wir schon lange vertreten, finden sich jetzt in den neuen Richtlinien wieder, die zwischen dem Bundesausschuß der Ärzte und den Kassen vereinbart worden sind und zum 1. Oktober in Kraft treten sollen. Sie stellen für uns keinen Einstieg in generelle Methadon-Programme dar.
Noch ein Wort zum Zeugnisverweigerungsrecht: Wir müssen das Vertrauensverhältnis zwischen Drogenabhängigen und Beratern verbessern; denn wir müssen alles tun, damit junge Drogenabhängige in die Beratung kommen, sich einem Berater anvertrauen. Darum bin ich voll für das Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater. Die Informationen, die der Drogenabhängige dem Berater anvertraut, dürfen nicht später den Gerichten mitgeteilt werden. Nur so wird die Hemmschwelle zur Beratung abgebaut. Ich bitte auch die Kollegen, die gewisse Zweifel haben, gerade im Interesse der Drogenabhängigen, die aus diesem schlimmen Teufelskreis herauskommen wollen, ihre Bedenken zurückzustellen und diesem Zeugnisverweigerungsrecht zuzustimmen. Wir dürfen die jungen Drogenabhängigen nicht stigmatisieren, nicht kriminalisieren; wir müssen ihnen helfen.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit der Änderung des Betäubungsmittelgesetzes noch ein Problem ansprechen, das wir unbedingt bei den Ausschußberatungen lösen müssen. Wir müssen den Klein- und Straßenhandel von professionellen Dealern unterbinden. Hier ist die Bestimmung des § 29 Abs. 5 des BtMG zu ändern. In diesem Paragraphen wird dem richtigen Grundsatz „Hilfe vor Strafe, Therapie vor Strafe" Rechnung getragen, indem von einer Bestrafung bei Eigenverbrauch in geringer Menge abgesehen werden kann. Mit dem Hinweis auf diese Bestimmung verschleiern nun professionelle Dealer ihren Rauschgifthandel. Sie legen mit größeren Mengen Depots an und locken in der offenen Szene mit geringen Mengen junge Drogenabhängige an. Die regelmäßige Schutzbehauptung, der Besitz der Kleinmenge diene dem Eigenverbrauch, wird dann von den Staatsanwaltschaften und den Gerichten sehr oft anerkannt.
Diese Lücke im Gesetz muß dringend geschlossen werden. Dabei darf der Grundsatz „Hilfe vor Strafe, Therapie vor Strafe" aber natürlich nicht aufgegeben werden. Wir müssen der Polizei endlich ein Instrumentarium an die Hand geben, die professionellen Kleindealer wirksam bekämpfen zu können. Tun wir dies nicht, werden die offenen Szenen in den Großstädten weiter zunehmen. Der Bürger wird an diesem demokratischen Rechtsstaat verzweifeln.
Ich komme zum Schluß. Wir müssen unsere Bemühungen in vier Bereichen verstärken. Die Prävention muß intensiviert werden. Die drogenfreie Therapie muß ausgebaut werden. Die repressiven Maßnahmen
Roland Sauer ({7})
müssen noch wirksamer werden. Und schließlich - das ist heute überhaupt nicht angesprochen worden - müssen wir den Drogenursprungsländern helfen, dort alternative landwirtschaftliche Produkte anzubauen und auch die Vermarktung durchzuführen.
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Denn es nützt nichts, den Anbau zu betreiben, wenn wir diese alternativen Produkte nicht abnehmen. Dies ist ein weltweites Problem, wie dieses Drogenproblem überhaupt nur weltweit zu lösen ist.
Wir sind jetzt alle aufgerufen, den Drogen den Kampf anzusagen. Dies gehört zu den wichtigsten Aufgaben der nächsten Zeit.
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Wir müssen die Drogen ächten. Dabei müssen wir gerade den jungen Menschen sagen: Drogen lösen keine Probleme. Es geht um unsere junge Generation. Es geht damit auch um unsere Zukunft.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort hat nun Frau Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch.
Verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es klang für mich vorhin sehr positiv, als der Kollege von der CDU/ CSU-Fraktion sagte, auch er sehe die Gleichwertigkeit von Hilfe und Strafe. Nur muß ich Ihren Ausführungen jetzt entgegensetzen, daß Sie sie vielleicht sehen, aber nicht umsetzen; denn diese Gleichwertigkeit haben Sie, was das BtMG betrifft, in den letzten Jahren nicht umgesetzt. Es erscheint mir so, daß diese Umsetzung auch jetzt nicht stattfinden soll.
Sie mahnen hier die Verantwortung der Länder und der Kommunen an. Ich kann Ihnen darauf erwidern, daß die jetzigen Änderungsvorschläge aus dem Bundesrat, also von den Ländern und Kommunen, gekommen sind, weil die Situation der Drogenszene in der Bundesrepublik durch zunehmende gesundheitliche und soziale Verelendung der Drogengebraucherinnen und -gebraucher gekennzeichnet ist. Das tägliche Sterben - Sie haben die Todeszahlen vorhin genannt - gehört in unseren Großstädten inzwischen zum Alltag.
Ich möchte hier aber - einmal abgehend von dem, was meine Kolleginnen und Kollegen vorhin in die Diskussion eingebracht haben - etwas mehr auf die Menschen eingehen, die das betrifft. Wir haben über die hohen Todeszahlen gesprochen. Ich möchte aber einmal fragen, wie dieser Tod denn aussieht.
Die Todesursachen sind vielfältig. Häufig sind sie auf die Umstände zurückzuführen, unter denen Drogenabhängige ihre Sucht leben müssen. So spritzen sich Heroinabhängige Überdosierungen oder benutzen verunreinigten Stoff, weil ihnen die Zusammensetzung unbekannt ist. Dieser sogenannte Goldene Schuß ist meist kein Freitod, sondern öfter ein Unfall oder eine Folge der katastrophalen gesundheitlichen Situation der Drogenabhängigen. Sie sterben in unseren Großstädten in Parks, in Bahnhofstoiletten oder Absteigen.
Oft tritt der Tod auch als Spätfolge des unter unhygienischen Bedingungen stattfindenden Drogenkonsums auf. Der Konsum findet wie das Sterben ebenfalls in Bahnhofstoiletten und Parks statt. Spritzen werden mit Toilettenwasser aufgezogen; saubere Spritzen sind vielerorts nicht vorhanden. Zum Aufkochen werden alte Dosen oder Kronkorken benutzt. Angst vor der Verfolgung, von der Sie meinen, daß sie für die Abkehr vom Drogengenuß so hilfreich sei, führt zu Hektik, und in der Dunkelheit der Verstecke werden die Venen durchstochen.
Eine weitere gesundheitliche Folge dieser Bedingungen ist die HIV-Infektion und die darauf folgende Aids-Erkrankung. Die Ansteckung erfolgt entweder durch den gemeinsamen Gebrauch einer Spritze oder durch sexuelle Kontakte mit anderen Drogenabhängigen. Deshalb müssen wir dringend Wege finden, um die Ausbreitung der Krankheit über den Weg der Drogen zu verhindern.
Drogenabhängige konsumieren öffentlich, d. h. in der Öffentlichkeit zugänglichen Räumen. In den Städten werden Erwachsene und Kinder mit der Verelendung und dem Tod der Abhängigen direkt konfrontiert. Das führt mit steigender Zahl der Süchtigen zu immer größeren Schwierigkeiten in der Bevölkerung. Es muß uns klar sein, daß dies bereits zu pogromähnlichen Stimmungen in verschiedenen Großstädten geführt hat. Ich meine, daß wir alle dazu verpflichtet sind, Wege zu suchen, die dieses vermeiden und zur Entspannung beitragen.
Das war eine relativ kurze Beschreibung. Aus meiner Frankfurter Erfahrung heraus könnte ich in diesem Bereich noch sehr viel deutlicher werden. Ich erlebe es praktisch täglich, wenn ich vom Bahnhof komme.
Wenn ich die Situation betrachte, muß ich mich fragen: Was ist denn bisher aus bundespolitischer Sicht geschehen, um diese Entwicklung aufzuhalten? Ich kann nur feststellen: Es ist wenig, es ist viel zuwenig, und vieles, was bisher geschehen ist, ist weitgehend falsch gewesen.
Die bisherige Politik ist weitestgehend dafür verantwortlich, daß wir die jetzigen Zustände haben. Mit guten Vorsätzen - die ich durchaus unterstelle - hat die repressive Politik der Verelendung, dem Tod, der Kriminalisierung, der Beschaffungskriminalität und der sozialen und gesundheitlichen Unverträglichkeit der Szene den Weg freigemacht.
({0})
Ich werfe hier nichts vor. Ich möchte lediglich die Augen öffnen für die Realität. Und Realität ist, daß die bisherige, vorwiegend repressive Politik keine positiven Auswirkungen auf das gesamte Drogenproblem hatte. Das wird bewiesen durch die ständig ansteigende Zahl der Drogentoten, die Verelendung der Szene, die wachsenden negativen Auswirkungen für die im Umfeld lebenden Personen, die ständig wachsenden sozialen Spannungen in den Kommunen und die weitere Zunahme der Zahl der Drogengebraucherinnen und -gebraucher. Dem Drogenhandel - wie
wir heute früh hörten - wurde allerdings kein Schaden zugefügt.
Wir meinen: Die Politik der Repression hat versagt. Die Entwicklung belegt dramatisch, daß Strafandrohung, insbesondere bei Drogendelikten, keine präventive Wirkung besitzt. Makabererweise ist es ja auch so, daß der Drogenkonsum in den Gefängnissen nicht aufhört. Untersuchungen haben belegt, daß zuvor „Cleane" im Strafvollzug zu Fixern wurden, weil sie dort zum erstenmal Zugang zu Drogen bekommen haben. Wie so viele Probleme kann auch das Suchtproblem nicht mit dem Strafrecht gelöst werden. Für den Alkoholgebrauch kommt ja glücklicherweise auch niemand auf die Idee, es so zu handhaben. Ich danke ausdrücklich der Kollegin von der FDP, die einmal auf den Zusammenhang zwischen den illegalen und legalen Drogen hingewiesen hat.
Der vorliegende Entwurf zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes ist bemüht, ein paar Schritte zu tun, um die Situation in der Drogenszene und bei den Strafvollzugsbehörden zu entlasten. Ich bin hier einer Meinung mit dem Kollegen von der CDU/CSU, daß wir neue bundeseinheitliche Regelungen brauchen, die die Grundlage für gleiche Behandlung des Problems bei den Strafvollzugsbehörden, bei Gericht, im Sozialwesen und auch in der Gesundheitsbetreuung schaffen.
Ich sehe nämlich, die Städte, die den Drogenbenutzern zur Zeit gute Angebote z. B. mit Methadon-Programmen und gesundheitlicher Betreuung anbieten, leiden unter einem stetig wachsenden Drogentourismus. Das kann ich eindrucksvoll mit Zahlen belegen: In Hamburg waren 1990 30 % der neu erfaßten Benutzer harter Drogen keine Hamburger. Bei den Drogentoten belief sich die Zahl der Auswärtigen auf 10 %. In Frankfurt ist es noch deutlicher: 1990 waren über die Hälfte der erfaßten Drogenbenutzer keine Frankfurter. 33 % kamen aus Hessen, und 25 % kamen aus den hochlöblich gepriesenen Bundesländern Bayern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg.
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Sie verlagern ganz einfach Ihre Programme.
Diese Städte werden durch ihre menschenwürdige Politik ungewollt inzwischen zu Drogenhochburgen. Der finanzielle Druck wächst. Die ständig weiter ausufernde Beschaffungskriminalität macht ordnungspolitische Maßnahmen notwendig, die die Probleme allerdings nicht beseitigen.
Mit dieser Bestandsaufnahme möchte ich Ihnen die Dringlichkeit einer Umorientierung in der Drogenpolitik vor Augen führen. Wir haben keine Zeit mehr für moralisierende Betrachtungen und Wunschträume von einem drogenfreien, positiven Leben für alle, wie erstrebenswert dies auch immer sein mag. Ich meine, Politik muß jetzt auch zu pragmatischem Handeln werden.
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Als erste Schritte habe ich Ihnen folgendes vorzuschlagen: Wir müssen so schnell wie möglich die Voraussetzungen dafür schaffen, daß bundesweit unter denselben Bedingungen eine breite Palette von Hilfsangeboten geschaffen wird. Zu dieser Palette muß neben den bisherigen Angeboten auch die Therapiemöglichkeit mit Ersatzstoffen, d. h. mit Methadon, gehören.
Sucht ist eine Krankheit, die bei unterschiedlichen Menschen auch unterschiedlich therapiert werden muß. Schaut man sich die Drogenkarrieren an, so wird das sehr deutlich. Die einen begeben sich mehr oder weniger freiwillig in eine Langzeittherapie, wenn sie das Glück haben, einen Therapieplatz zu ergattern. Zum Teil ist diese Therapie erfolgreich; das ist bei 25 bis 35 % der Fall. Wiederum andere gehören zur Gruppe der Selbstheiler, deren Alter meist etwa 30 Jahre beträgt. Dort ist die Erfolgsquote etwa genau so hoch wie bei den Langzeittherapien. Dann bleibt aber noch eine große Gruppe übrig. Das sind diejenigen, die sozial und gesundheitlich verelenden, früher oder später als Opfer der Sucht unter Bedingungen, unter denen sie süchtig sind, sterben werden. Diese letzte Gruppe der Süchtigen können wir mit niederschwelligem und weichem Entzug erreichen. Die Erfahrung mit existierenden Methadon-Programmen zeigt, was mit dieser Behandlung erreicht werden kann. Man schickt ja Abgeordnete immer auf Reisen, und Reisen soll ja auch bilden. Da wundert es mich sehr, daß es bei der CDU nicht angekommen ist, daß man in Amerika mit solchen Programmen sehr positive Erfahrungen gemacht hat. 90 To derer, die mit Methadon behandelt wurden, haben mit Heroinkonsum aufgehört. Die Kriminalisierungsrate in New York sank deutlich. Die Hepatitisfälle fielen um 40 %. Bei Aids-Infizierungen lag die Rate bei Leuten im Methadon-Programm bei 10 % gegenüber 30 % bei solchen, die nicht mit Methadon behandelt wurden.
Die soziale Integration der Abhängigen kann bewirkt werden. Wir wissen inzwischen aus den Ergebnissen von Nordrhein-Westfalen, daß 29 % zu Beginn des Programms noch Arbeitsverhältnisse hatten. Inzwischen ist dieser Anteil auf 38 % gestiegen.
Ich glaube, daß die Chancen, die diese Therapieform bietet, von uns nicht einfach verschenkt werden können, weil wir sagen: Wir bestehen auf der absoluten Abstinenz, und das von Anfang an. Ich denke, ein Teil dieser Therapie kann die Abstinenz sein. Es muß uns dabei aber klar sein, daß es eine Gruppe von Menschen gibt, die über viele Jahre so manifest abhängig sind oder deren Gesundheitszustand so schlecht ist, daß man davon ausgehen sollte, ihnen bis zu ihrem Lebensende die Krücke Methadon zumindest zuzugestehen.
Um an dieses Ziel zu gelangen, ist die Ausweitung der jetzigen Methadontherapie erforderlich. Ich meine, im Betäubungsmittelgesetz müßten schnellstens die Voraussetzungen dafür geschaffen werden.
Ich möchte noch einmal betonen: Es geht uns nicht um Substitution statt Therapie, sondern es geht uns um Substitution als ein Teil von Therapie.
Zur neuen Vorlage möchte ich sagen, daß wir sehr damit einverstanden sind, wie die Spritzenvergabe geregelt werden soll. Wir sind aber auch der festen Überzeugung, daß die soziale und gesundheitliche
Rehabilitation der Drogenabhängigen die Entkriminalisierung des Erwerbs und Besitzes illegaler Drogen zum Eigengebrauch berücksichtigen sollte. Zugleich soll mit diesem Schritt verfolgt werden, daß es zu einer Entlastung der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte kommt. Aus diesem Grund ist die Einfügung des § 31 a sinnvoll und zu begrüßen. An die Regierung richte ich die dringende Bitte: Überdenken Sie Ihre Stellungnahme, und trennen Sie sich von der Idee, daß Repression im Betäubungsmittelgesetz tatsächlich präventive Wirkung hat. Hier, meine ich, muß man andere Wege gehen, allerdings auch nicht den Weg der Werbemaßnahmen über Fußballtrikots.
Jetzt möchte ich noch zu den NUB-Richtlinien kommen, die hier angesprochen worden sind und die so sehr begrüßt worden sind. Es ist zu begrüßen, daß die Methadonvergabe als kassenärztliche Leistung festgeschrieben werden soll. Ausgesprochen problematisch ist jedoch die Indiaktion, die in diesem Katalog festgelegt worden ist. Hier erfolgt eine Einschränkung der Vergabestrukturen in jetzt laufenden Methadon-Programmen. Der Kreis derer, die eine Substitutionsbehandlung haben können, wird drastisch eingeschränkt. Laufende Projekte wie z. B. die „Methadongestützte Ausstiegshilfe" in Frankfurt müssen eingeschränkt werden oder gehen finanziell voll zu Lasten der Kommunen.
Psychosoziale Betreuung kommt in diesen Richtlinien nicht vor. Denn die Finanzierung der psychosozialen Betreuung ist völlig ungesichert. Sozialmedizinische Begründungen werden als Behandlungsgrund nicht anerkannt. Dazu kann ich nur sagen: Wir waren laut Richterspruch vom 17. Mai schon einmal sehr viel weiter. Der BGH hat dort ganz ausdrücklich sozialmedizinische Gründe als Indiaktion für Substitution anerkannt.
Ich möchte hier nicht alle negativen und einschränkenden Bestimmungen aufführen. Ich richte jedoch die dringende Bitte an Frau Hasselfeldt, den Richtlinien in dieser Form nicht zuzustimmen. Denn so, wie sie jetzt vorliegen, bedeuten sie ein Weniger an Hilfe. Was meiner Meinung nach in allen Beiträgen, auch wenn sie das Problem qualitativ unterschiedlich gesehen haben, zum Ausdruck kam, war, daß wir mehr Hilfe brauchen und nicht weniger.
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Ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Horst Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es scheint mir angebracht zu sein, gegen Schluß der Debatte noch einmal einige grundsätzliche Ausführungen zu machen.
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- „Gegen Schluß der Debatte" habe ich erklärt. Herr Kollege Kleinert hat das richtig verstanden.
Wenn wir uns mit der Diskussion darüber beschäftigen, wie wir besonders gefährliche Erscheinungsformen der Kriminalität am besten bekämpfen wollen, müssen wir uns immer wieder folgende Ausgangslage vor Augen führen: Freiheit der Bürger ist immer Freiraum für mehr Verbrecher. Es gibt eben keine Gesellschaft ohne Verbrecher. Je mehr sich der Staat aus der Reglementierung und Überwachung der Lebensgestaltung der einzelnen Bürger zurückzieht, desto ungestörter können sich kriminelle Tendenzen entwickeln. Die Situation in den früheren Ostblockstaaten und auch, Herr Kollege Ullmann, in den neuen Ländern gibt dafür ein beredtes Zeugnis.
Aber auch in den alten Ländern ist immer deutlicher geworden: Die freie Entfaltung eines jeden einzelnen Bürgers ist nicht nur vom Schutz vor staatlichen Übergriffen abhängig, sondern auch davon, daß der Bürger vor Zugriffen krimineller Mitbürger geschützt wird. Dem Ladenbesitzer nützt die schönste Gewerbefreiheit nichts, wenn ihn der Staat nicht vor Schutzgelderpressern wirksam schützt. Und der Bürger wird sich auf Dauer für das grenzenlose Europa bedanken, wenn die Kehrseite des Wegfalls der Grenzkontrollen darin besteht, daß das Rauschgiftangebot, dem seine Kinder ausgesetzt sind, immer reichhaltiger wird.
Das Dilemma jeder polizeilichen Tätigkeit, die der Verbrechensverhütung und -aufklärung dient, ist nun die Unkenntnis vom Tatverdächtigen am Beginn der Ermittlungen. Wenn in einem Hotel mit 100 Gästen ein Mord geschieht, dann muß die Polizei das Recht haben, in die Freiheitsräume aller 100 Gäste nachforschend einzudringen, auch wenn von vornherein feststeht, daß 99 Hotelgäste mit dem Mord nichts zu tun haben.
Im Bereich der organisierten Kriminalität sind mittlerweile Zustände eingetreten, daß Straftäter, die sich daran beteiligen, kein nennenswertes Risiko mehr eingehen überführt zu werden. Dieses Faktum leugnen heißt die Realität leugnen. So ist es nun einmal.
Die organisierte Kriminalität konzentriert sich auf Deliktsbereiche, die hohe kriminelle Gewinne garantieren und bei denen zugleich das Risiko der Entdekkung dadurch vermindert wird, daß es entweder keine unmittelbaren Opfer gibt, oder die Opfer nicht bereit sind, Anzeigen zu erstatten oder auszusagen.
Wenn der Staat aus falsch verstandener Liberalität hinnimmt, daß hier für das organisierte Verbrechen Freiräume entstehen, in denen es sich nahezu ungehindert ausbreiten kann, wird er das Vertrauen der Bürger verlieren. Der Schutz des Bürgers vor Verbrechen ist eine elementare, ja, vielleicht sogar die elementarste Aufgabe des Staates. Wenn der Bürger zu der Erkenntnis kommt, daß der Staat, aus welchen Gründen auch immer, diese Aufgabe nicht mehr erfüllt, dann greift er zur Selbsthilfe. Privat organisierte und bezahlte Sicherheitskräfte, die dann leider Gottes nicht mehr der Kontrolle des Staates unterliegen, was wir doch alle nicht wollen, sind dann die logische Folge. Wir brauchen nur in die USA zu sehen, aber wir haben diese Erscheinungsform ja auch schon bei uns.
Überall, wo diese private Selbsthilfe auftaucht, hinterläßt der Staat eine Lücke, die der Bürger dann selbst ausfüllt.
Der vorliegende Gesetzesentwurf sieht schärfere Strafen für Straftaten der organisierten Kriminalität
vor und verbessert die Abschöpfung der durch kriminelle Betätigung erlangten Gewinne. Dies ist notwendig, sollte aber in seiner Wirkung nicht überschätzt werden. Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn.
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Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, daß höhere Strafen ihre abschreckende Wirkung dann verlieren, wenn der Straftäter nur ein geringes Risiko läuft, gefaßt zu werden. Also müssen wir den Strafverfolgungsbehörden ein effektiveres Ermittlungsinstrumentarium an die Hand geben; denn zahlenmäßig vergrößern können wir den Apparat ja nicht nach Belieben. Effektiver ermitteln heißt zugleich - darüber sollte man sich keine Illusionen machen - weiter hineingreifen in die Freiheitsräume möglicherweise unbeteiligter Bürger.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist der eher vorsichtige Versuch, diese zusätzlichen Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte unbeteiligter Bürger auf ein Mindestmaß zu beschränken und dennoch die Erforschungsmöglichkeiten bei der Aufklärung organisierter Verbrechen zu verbessern. Ob dies gelingen wird, dessen bin ich mir durchaus nicht sicher.
Wir erhoffen uns eine verbesserte Verbrechensaufklärung durch die gesetzliche Regelung des Einsatzes verdeckter Ermittler und des Einsatzes akustischer und optischer Überwachungsgeräte, durch eine Normierung für die Rasterfahndung und die polizeiliche Beobachtung und schließlich durch die Verbesserung des Zeugenschutzes vor Gericht.
Nicht nur der illegale Rauschgifthandel, sondern auch die sonstigen Formen der organisierten Kriminalität sind gegenüber den herkömmlichen Ermittlungsmaßnahmen weitgehend immun. Die Strafverfolgungsbehörden müssen daher zu Ermittlungsmethoden greifen, die es erlauben, in das Innere der kriminellen Organisation einzudringen. Das geht nur mit dem Einsatz verdeckter Ermittler und durch die Einschaltung von Vertrauenspersonen.
Ob die vorgesehenen Regelungen für den Einsatz des verdeckten Ermittlers diesem wirklich ermöglichen, so zu arbeiten, daß er das Vertrauen der kriminellen Szene erringen kann, wird im Zuge des weiteren Gesetzgebungsverfahrens noch sorgfältig zu prüfen sein. Wir werden uns dann auch einmal darüber informieren müssen, wie viel verdeckte Ermittler wir in der Bundesrepublik denn überhaupt noch haben, die bereit sind, unter den gegenwärtigen oder auch den zukünftigen Bedingungen zu arbeiten.
Ich nehme die Einwendungen des Kollegen Hirsch, die er auch heute noch einmal vorgetragen hat, durchaus ernst. Es stellt sich aber die Frage, ob sie wirklich tragfähig sind und ob wir letztlich nicht auch hier bei einer Güteabwägung landen.
Die sogenannte Rasterfahndung nutzt die Möglichkeiten der automatisierten Datenverarbeitung für Zwecke der Strafverfolgung. Notwendigerweise ist damit ein Eingriff in das Recht auf die informationelle Selbstbestimmung verbunden. Dies erfordert selbstverständlich rechtliche Begrenzungen, die auch auf einer Güteabwägung beruhen.
Der Entwurf scheint mir diese Grenzen sicherlich nicht zu weit, eher eng zu ziehen. Das gleiche gilt für den Einsatz technischer Mittel, also für das Abhören und die Aufzeichnung des nicht öffentlich gesprochenen Wortes innerhalb und außerhalb von Räumen sowie für die Anfertigung von Bildaufnahmen.
Wer angesichts der großen Zurückhaltung dieses Entwurfs bei der Erweiterung polizeilicher Ermittlungsmöglichkeiten den Gesetzentwurf als Ende des liberalen Rechtsstaats definiert und den Eindruck erweckt, als plante die Bundesregierung die Rückkehr zum obrigkeitsstaatlichen Polizeistaat, der betreibt Demagogie.
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Herr Kollege Ullmann, ich verstehe durchaus, daß Sie unter einer ganz besonderen Erfahrung leben. Sehen Sie bitte aber auch die Gefahr, daß Sie glauben, unser Staat sei ähnlich oder könne sich so ähnlich entwickeln wie die frühere DDR.
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- Er wird nicht ähnlich. Wir sind von dem perfekten Überwachungssystem des SED-Staats meilenweit entfernt.
({4})
Gestatten Sie mir, meine sehr verehrten Damen und Herren, abschließend noch eine persönliche Bemerkung: Meine Haltung zu einem Thema, das in den letzten Tagen intensiv diskutiert worden ist, mag deutlich gemacht haben, daß mir - wenn ich das so ausdrücken darf - liberale Denkweisen nicht völlig fremd sind. Ich sehe durchaus Grenzen und Schranken für die Macht und auch für die Möglichkeiten des Staates. Der Grundsatz „in dubio pro libertate" ist nicht einer der schlechtesten.
({5})
Andererseits plädiere ich hier wie auch bei anderen Themen mit Nachdruck dafür, zunächst einmal die Realität zu erkennen und nicht mit schönen Worten im abstrakten Raum zu diskutieren.
({6})
Was haben wir z. B. bei der Asyldebatte erlebt? Wir haben das Asylverfahrensrecht in den letzten zehn Jahren, glaube ich, fünfmal nachgebessert. Nach zwei Jahren mußten wir wieder nachbessern. - So war die Situation. Jetzt wollen Sie schon wieder nachbessern.
Schließlich werden wir um etwas, was wir von Anfang an gesagt haben, doch nicht herumkommen: Lassen wir es bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität nicht zu, daß wir immer mit halben Lösungen arbeiten und uns dann wieder die Wirklichkeit überholt. Der Bürger darf nicht zu der Auffassung kommen, daß der Staat auf diesem Gebiet nur wie ein Papiertiger agiert. Wenn das, was wir jetzt beschließen wollen - wir wollen dies und werden es noch sorgfältig beraten - , nicht den gewünschten Erfolg hat, dann stehen wir in ein bis zwei Jahren wieder
unter dem Druck der Bürger vor der Notwendigkeit, erneut nachzubessern.
Vielen Dank.
({7})
Meine Damen und Herren, als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt der Abgeordnete Detlef Kleinert das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich habe als Hannoveraner die bayerische Landesregierung immer beneidet, wie geschickt sie es verstanden hat, eine Fülle von Flugverbindungen, die den Omnibusverkehr in ländlichen Gemeinden leicht übertreffen, zwischen München und Bonn herzustellen. Trotz all der Flugverbindungen bin ich aber jetzt nicht in der Lage, Herrn Stoiber zu sagen, was ich von seinen Ausführungen halte. Das bedauere ich zutiefst.
({0})
Es läßt sich aber nun einmal nicht ändern.
Mich hat insbesondere fasziniert, daß uns Herr Stoiber hier vorgetragen hat, wir hätten einen Nachholbedarf in unseren gesetzlichen und organisatorischen Regeln gegenüber Ländern wie Großbritannien und Frankreich. Er erwähnte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich Italien, an welcher Stelle ich besonders aufmerksam wurde; denn wir haben zwar unsere Probleme - wir wollen sie nicht verkennen - , aber wir wollen doch nicht sagen, daß es offenbar die italienischen Methoden gewesen sind, die die organisierte Kriminalität in besonderer Weise eingedämmt und zurückgehalten hätten.
({1})
Das erschien mir etwas seltsam.
Aber nun: Ich habe die Ehre gehabt, auch in der sozialliberalen Koalition die Debatten hier mitzuerleben, und mich der Verantwortung dafür gegenübergesehen - wie alle anderen auch - , was wir tun können, um der organisierten Kriminalität und insbesondere der Rauschgiftkriminalität zu begegnen. Bei diesen Gelegenheiten haben wir uns schweren Herzens, aber, wie ich meine, keineswegs wirkungslos, in einer Fülle materiell-strafrechtlicher und auch verfahrensrechtlicher Dinge bewegt, immer angefeuert von den Rufen der CDU/CSU-Opposition, daß dies alles nicht genug sei und viel besser werden müsse und was diese sozial-liberale Regierung für eine schändliche Versagerpolitik betreibe. Weil ich das von beiden Seiten kenne, finde ich es heute etwas possierlicher und kann es mit mehr Gelassenheit hören, wenn versucht wird, nun wiederum dieser Regierung - von seiten der jetzigen Opposition - pflichtgemäß am Zeuge zu flicken.
Wichtiger wäre es allerdings wohl doch, auf die Sache einzugehen, und das haben ja alle Redner getan. Sie haben versucht, das etwas anzuheizen, und es wäre schön gewesen, wenn wir richtig Streit gekriegt hätten. Aber aus der Sache ist, wie jeder weiß, kein Streit zu schlagen. Hier ist die Bundesregierung verantwortlich; in den Ländern ist mal diese und mal jene
Koalition verantwortlich. Alle sind irgendwo beteiligt, und alle wissen selbstverständlich auch, daß wir nicht die Mittel und deshalb oder obendrein auch nicht die Erfolge haben, die wir uns bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität dringend wünschen.
Ganz verkehrt ist es natürlich - derjenige, der mir gestern abend erklären wollte, wie gut es uns noch geht, ist leider jetzt nicht hier - , zu sagen: Wenn es bei uns noch nicht ganz so schlimm ist wie in anderen Ländern, haben wir auch keine Veranlassung, jetzt besondere Anstrengungen und zusätzliche Anstrengungen zu unternehmen. Wenn es passiert ist, wenn sich organisierte Kriminalität erst einmal eingewurzelt hat, dann ist es zu spät.
({2})
Bei den Beträgen, die da fließen, die da frei werden - Herr van Essen hat ein Beispiel, ein, wie ich meine, noch verhältnismäßig kleines Beispiel genannt -, kann man nicht nur Staatsanwälte, sondern ganz andere Leute einkaufen. Ich darf mir bei dieser Gelegenheit einmal den Hinweis an Ihre Erinnerung erlauben: Das Bandenunwesen hat in den Vereinigten Staaten von Nordamerika wesentlich mit der Prohibition begonnen.
Wenn man mit einer Sucht der Menschen nicht richtig umgeht und wenn man all das, was an Fürsorge, an Aufklärung, an Warnung, an Verständnis aufgewendet werden muß, um mit einem tatsächlichen oder vermeintlichen Übel - bei Alkohol bin ich da verhältnismäßig locker ({3})
fertig zu werden, schon versucht hat und trotzdem nicht weiß, wie man damit umgehen soll, dann holt man sich Gangs an den Hals, die in den Vereinigten Staaten bis zum heutigen Tage existieren und dort Probleme bereiten, von denen man nicht mehr loskommen kann.
Deshalb muß man vorbeugen; denn die Verhältnisse sind nicht mehr so, wie zu der Zeit, in der in Hannover ein namhafter Strafverteidiger seine Aschenbecher im Wartezimmer ostentativ angekettet hatte. Das waren einfache und klare Verhältnisse. Er wußte: Die klauen alle. Er hat sie auch wissen lassen, daß er das wußte. Er war der Anwalt, sie waren die Kriminellen.
So einfach ist es im Bereich der organisierten Kriminalität nicht mehr. Da wird man nicht mehr wissen, wer eigentlich bei wem Mitarbeiter ist und auf der Besoldungsliste steht.
({4})
Da werden sich die Anwälte nicht mehr erlauben, ihren Mandanten so deutlich zu zeigen, daß sie zwar beruflich für sie tätig sind, aber daß sie sonst nicht viel mit ihnen gemein haben, sondern da haben wir ein Dickicht, eine Verfilzung bis hinein in Staatsstellen. Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen, und deshalb bedarf es äußerster Anstrengungen.
Es ist hier mit dem Gesetzentwurf sehr viel Positives angesprochen. Wir werden deshalb eine vernünftige Unterhaltung miteinander führen.
Detlef Kleinert ({5})
Wir haben zwei erheblich wichtige Streitpunkte. Der eine betrifft den verdeckten Ermittler, der andere betrifft das Abhören in Wohnungen. Natürlich müssen wir uns fragen, ab wann es nicht mehr lohnt, den Rechtsstaat mit Mitteln zu verteidigen, die ihn nicht mehr als Rechtsstaat erscheinen lassen. Das ist schwer. Da kann man nicht sagen: ja oder nein, heiß oder kalt, schwarz oder weiß, sondern da muß man immer wieder ringen. Es fiele uns einiges etwas leichter, wenn das allseits verstanden würde.
Ich habe z. B. vermißt, daß Herr Stoiber einmal erklärt, wie die Wandschmierereien, die er als Einstiegskriminalität erwähnte, mit dem Problem zusammenhängen, daß seine verdeckten Ermittler nicht sizilianisch können. Kann man das irgendwie durch Wandschmierereien lernen? Das ist mir nicht klargeworden.
Es gibt noch einige weitere Probleme. Ich glaube, das wichtigste ist dies: Wir haben sehr häufig Minister
- das betrifft auch gleich den nächsten Punkt mit dem Abhören; Herr Präsident, wenn ich vielleicht noch ein Sekündchen Zeit bekommen könnte -, die sich vor ihre Leute stellen.
({6})
Es ist eine semantisch ungewöhnlich subtile und auch ungewöhnlich heuchlerische Formel, mit der man sich von seinen Leuten distanziert,
({7})
indem man sagt, daß man sich vor sie stellt. Das ist in
diesem Bereich hervorragend zu beobachten. So kann
ich nicht erwarten, daß der kleine Beamte seinen Kopf
- es ist gefährlich, was da zu tun ist - buchstäblich zu Markte trägt, wenn sich der Minister dann ganz großartig vor ihn stellt, schon zu erkennen gebend, daß jener es ja nötig hat, daß man sich vor ihn stellt. Damit stellt man nicht die gebotene Einheit von der Spitze bis zum letzten Ausführenden her, um hier zu einer wirklich gemeinsamen Anstrengung zur Bekämpfung der Kriminalität zu kommen. Aber dieser gemeinsamen Anstrengung bedarf es.
Wir sind überzeugte Föderalisten, weil wir der Meinung sind: Entscheidungswege müssen kurz sein; es müssen möglichst viele Leute an den Entscheidungen beteiligt sein. Man muß irgendwo noch ein wohnliches und erkennbares Umfeld haben. Wir sind deshalb als Niedersachsen jederzeit bereit, auch für Bremen einzutreten
({8})
und gute Nachbarschaft zu pflegen.
Aber Föderalismus heißt doch nicht Schwarzer Peter spielen. Es ist doch der Sache nicht angemessen, wenn es hier heißt: Nordrhein-Westfalen hat dies und das getan, und ihr habt das und das versäumt. Alle haben sich viel Mühe gegeben, und sie haben dabei auch einiges versäumt. Sachliche Kritik kann weiterhelfen, dieses Schwarze-Peter-Spielen nicht. Alle müssen sich anstrengen, vom Minister bis zum wirklich handelnden Beamten und wir hier auch. Deshalb hören wir doch mit den kleinlichen Vorwürfen auf, die wir von beiden Seiten - man tauscht ja deshalb gelegentlich - schon gehört haben, sondern arbeiten wir daran, hier einen Schritt weiterzukommen zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität.
Herzlichen Dank.
({9})
Herr Kollege Kleinert, das waren natürlich mehrere „Sekündchen", die wir draufgelegt haben.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der fünf Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen
({1})
und - wie wir inzwischen interfraktionell festgestellt haben - auch an den Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung. - Das ist einvernehmlich. Gibt es dazu noch andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Zusatzpunkte 5 und 6 auf:
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 12/1154 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({2})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie und Senioren
Haushaltsausschuß
ZP 6 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 12/1155 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({3})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Familie und Senioren
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Paul Hoffacker.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionsfraktionen bringen heute einen Gesetzentwurf ein, der bereits in den Koalitionsvereinbarungen für diese Legislaturperiode angekündigt worden ist.
Im einzelnen handelt es sich um folgende Punkte: Erstens die Herabsetzung der Obergrenze bei der 15prozentigen Zuzahlung für Arzneimittel von 15 DM auf 10 DM und die Einführung einer Mindestzuzahlung von 1 DM; zweitens die Verdoppelung der Bezugsdauer bei Kinderkrankengeld und die Heraufsetzung der Altersgrenze von 8 auf 12 Jahre bei kranken Kindern; drittens die Klarstellung beim Anspruch auf
nichtärztliche sozialpädiatrische Leistungen; viertens die Erleichterung bei der Vorversicherungszeit für Pflegeleistungen; fünftens die Einführung einer gleitenden Härteregelung bei Zahnersatz und sechstens die Entlastung der Versicherten im Beitrittsgebiet bei den Härtefallregelungen.
Ich will mich in meinem Beitrag im wesentlichen auf die Punkte 1 und 6 beschränken. Ich möchte sagen, daß diese Novellierung aus einer ersten Überprüfung der Auswirkungen des Gesundheits-Reformgesetzes von 1989 erfolgt ist. Diese Reform hat - wie Sie wissen - zu großen Einsparungen bei den Krankenkassen und zu erheblichen Beitragsentlastungen bei unseren Beitragszahlern geführt. Dies ist selbst bei der SPD, die sich ständig gegen die Reformbemühungen gestemmt hat, nicht zu bestreiten. Das heißt allerdings nicht, daß nicht eine noch bessere Sozialverträglichkeit einzelner Bestimmungen der Gesundheitsreform möglich ist. Für die CDU/CSU und die FDP ist dies eine Verpflichtung. Wir verfolgen damit weiter die Linie, die Beiträge stabil zu halten
({0})
bzw. nach unten zu korrigieren, um die Sozialabgaben möglichst geringzuhalten.
({1})
Dies kommt allen Beitragszahlern zugute und liegt in der konsequenten Verfolgung der Politik der Koalitionsfraktionen.
({2})
Es galt deshalb, Karl Hermann Haack, zunächst die schwierige Frage der Arzneimittelzuzahlung, die im Gesetz festgeschrieben ist, zu lösen. - Wir wissen - viele wissen es nicht; deshalb betone ich es - , daß das geltende Recht vorsieht, daß ab Januar 1992 alle nichtfestbetragsgeregelten Medikamente mit einer Zuzahlung von 15 % oder 15 DM versehen sind. In der Koalition haben wir uns darauf verständigt, diese Zuzahlung auf höchstens 10 DM zu begrenzen, wobei ich noch eimal hervorheben möchte, daß alle festbetragsgeregelten Medikamente weiterhin zuzahlungsfrei sein werden. Diese Errungenschaft wollen wir uns erhalten. Deshalb erstrecken sich unsere Ausführungen auf die nichtfestbetragsgeregelten Medikamente.
Nun hat auch die SPD einen Gesetzentwurf präsentiert. Sie präsentiert mit ihrem Gesetzentwurf einen Schieberantrag. Die Kulissenschieberei wird ganz deutlich, weil sie ihre Regelung auf 1994 begrenzt,
({3})
um möglichst viel Wahlkampfmunition für die kommende Wahl festzuhalten. Die SPD hat keine Alternative und auch keine Vorstellungen,
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mit welchen Mitteln sie das Ziel der Gesundheitsreform erreichen will.
Natürlich weiß ich, Klaus Kirschner: Es kann eigentlich nur so sein, daß Sie diesen Zeitpunkt ausgewählt haben,
({5})
um uns mit dieser alten Klamottenkiste der SPD wieder zu langweilen. Das wollen wir nicht, weil wir diese Vorstellung nämlich nicht teilen.
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Wenn mir jetzt vom Kollegen von der SPD vorgehalten wird - wir wollen den Freitagnachmittag nicht noch verlängern - , daß ich diese Regelung gerne auf das Jahr 1996 ausgedehnt sähe, dann muß ich sagen: Das ist richtig. Aber wir wollten Zeit gewinnen, um die Auswirkungen des Gesundheits-Reformgesetzes mit den neuen Entwicklungen auf dem europäischen Binnenmarkt zu verbinden und die Einsparmöglichkeiten auszuschöpfen.
Diese Überlegungen sind auch bei der gegenwärtigen Gesetzesregelung möglich. Die SPD bietet außer einer Zeitverschiebung nichts an. Deshalb lehnen wir ihren Gesetzentwurf ab.
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Herr Kollege Dr. Hoffacker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Bitte.
Herr Kollege Kirschner, bitte!
Herr Kollege Hoffacker, ist Ihnen eigentlich bekannt, daß das, was Sie als „alte Klamotten" bezeichnen, nämlich das, was wir damals bei den Beratungen über das Gesundheits-Reformgesetz an Änderungsanträgen eingebracht haben, ein in sich geschlossenes Konzept beinhaltet, das Sie zwar nicht teilen, das aber marktwirtschaftlich ausgerichtet ist?
Zweitens zu dem, was Sie jetzt als Lösung anbieten: Bei der Verabschiedung des Gesetzes sind doch Regierung und Koalition davon ausgegangen, daß bis zum 1. Januar 1992 80 % des gesamten ArzneimittelUmsatzes festbetragsmäßig erfaßt sind. Ist Ihnen bekannt, daß das bis heute aber nur bei 30 % gelungen ist?
Herr Kollege Kirschner, ich komme darauf gleich zu sprechen. Sie haben jetzt schon einen Satz meines Beitrages vorweggenommen.
({0})
Die alten Klamotten kann man zwar neu aufmachen, aber sie gewinnen dadurch nicht an Glanz.
({1})
Nun meine ich, daß es richtig ist, wenn die SPD behauptet, daß bei der Gesetzgebung davon ausgegangen worden ist, in der Zeit bis 1991/92 eine Festbetragsquote von etwa 80 % zu erreichen. Das ist nicht zu bestreiten. Es ist auch ein neues Verfahren. Es stimmt auch, daß diese Festbetragsquote bis heute
nicht erreicht ist. Warum soll man darüber streiten? Fakten sind Fakten, und die muß man zur Kenntnis nehmen.
({2})
Nun fragt sich natürlich jeder - und das ist wichtig - : Wo liegt der Grund für eine solche Nichterfüllung dieser Quote der Festbeträge? Nach dem Sozialgesetzbuch ist es Aufgabe der Selbstverwaltung, die Festbeträge festzusetzen. Zugegebenermaßen ist die Festsetzung dieser Festbeträge keine leichte Aufgabe. Es war eine neue Aufgabe, keine leichte Aufgabe, und wir wissen, daß dies mit sehr viel Arbeit verbunden ist. Dennoch, so meine ich, meine Damen und Herren, haben wir zu prüfen, ob der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, die festbetragsfähigen Arzneimittel zu ermitteln. Bisher hat die Bundesregierung davon abgesehen, im Wege der Ersatzvornahme, die das Gesetz ja vorsieht, tätig zu werden. Ich muß aber hier sagen, daß in der Fraktion der CDU/CSU ganz deutlich die Forderung erhoben worden ist, alle Möglichkeiten auszuloten und auch die Möglichkeiten und Wege, die die Ersatzvornahme für die Festsetzung von Festbeträgen vorsieht, auszunutzen.
Das klingt in diesem Zusammenhang sehr hart, stellt aber klar, daß wir nicht mit dem Ergebnis zufrieden sind, das die Selbstverwaltung in diesen vergangenen zwei Jahren zutage gefördert hat. Sie wird sich dazu äußern müssen, warum diese Kritik, die wir vorbringen, berechtigt ist oder ihrer Meinung nach unberechtigt ist. Jedenfalls stehen wir nicht an, von der Regelung im Sozialgesetzbuch abzusehen, im Wege der Ersatzvornahme auf der Regierungsebene auch hier nachzuhelfen.
Im Zusammenhang mit der Zuzahlungsregelung nehmen wir eine Angleichung der für die Sozialklausel maßgeblichen Einkommensgrenzen in den neuen und den alten Bundesländern vor. Dies ist ein hartes Stück Arbeit gewesen; und ich bin all denjenigen, die dazu beigetragen haben, daß wir zu einer solchen Lösung haben kommen können, sehr dankbar. Wir sehen vor, daß ab Januar 1992 für alle Bürger in Deutschland eine einheitliche Einkommensgrenze für die Zuzahlungsregelung festgestellt und auch im Gesetz festgehalten wird.
Was heißt das konkret? Lassen Sie mich das an ein paar Beispielen deutlich machen. Ein Alleinstehender darf heute in den alten Bundesländern
({3})
bis 1 344 DM verdienen, ohne daß er zuzahlungspflichtig wird. Das heißt, namentlich die Versicherten in den unteren Einkommensbereichen waren beim Bezug von Arzneimitteln zuzahlungsfrei.
Dagegen beträgt diese Einkommensgrenze für einen vergleichbaren Alleinstehenden in den neuen Bundesländern nur 700 DM. Wenn wir hier keine Korrektur vornähmen, würde die Zuzahlungspflicht also bereits mit DM 701 beginnen. Dies kann nicht in Ordnung sein, denn dann würden wir den größten Teil aller Einkommensbezieher in den neuen Bundesländern zuzahlungspflichtig machen. Das kann sich eine Koalition, die sich der Sozialpolitik verpflichtet weiß und die auf einen Ausgleich hinarbeitet, nicht leisten. Deshalb haben wir die Einkommensgrenze in den neuen Bundesländern der in den alten Bundesländern angeglichen, so daß namentlich viele Rentner und die Bezieher niedrigerer Einkommen, die finanziell Schwachen, auch davon begünstigt werden.
({4})
Auch die Versicherten in den alten Bundesländern stehen sich besser - auch das muß der Ergänzung halber gesagt werden - , weil die Belastungen bei allen Arzneimitteln, die bis zu 20 DM kosten, geringer sind als bei der noch gültigen Rezeptblattgebühr von 3 DM. Hier muß man leidenschaftslos rechnen und nachdenken; dann kommt man nämlich ebenfalls zu dem klaren statistischen Ergebnis, daß für diese Bezieher etwa die Hälfte aller zuzahlungspflichtigen Verordnungen erfaßt werden. Das heißt, 50 % aller Verordnungsmaßnahmen, aller Rezepte, werden damit niedriger eingestuft, als es bisher der Fall ist. Ich finde, das ist bei allem Buhei, das hier namentlich von den Kollegen der SPD schon geübt worden ist, etwas, was Sie selbst, wenn Sie sich die Augen mal wischen, lesen könnten und auch zugeben müßten.
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Nun kritisiert die SPD natürlich, daß mit dieser Angleichung der Einkommensgrenzen die gesetzlichen Krankenkassen höhere Ausgaben haben. Das ist klar; das ist auch so. Aber sie hat nicht etwa zur Kenntnis genommen, daß wir damit die Bezieher niedriger Einkommen besserstellen wollen, sondern sie redet schon wieder vom Abkassieren und von all diesen bösen, unmoralischen Dingen, die sich diese Regierungskoalition zuschulden kommen lassen wolle.
({6})
- Ja, Klaus, der Herr Dreßler hat in der „WAZ" - das ist ein bei uns weitverbreitetes Blatt - da ganz unanständige Worte gebraucht. Die würde ich als ein Christenmensch aus Wuppertal, wenn ich da bei Johannes Rau wohnte, nie in den Mund nehmen. Ich meine, man sollte ihm doch einmal sagen, daß das keine guten Vokabeln sind. Ich finde, daß die SPD hier ihre soziale Härte zeigt. Das muß man ganz deutlich sagen. Das meine ich auch ganz ernst, daß Sie, wo wir in den neuen Bundesländern großzügig für die Krankenversorgung namentlich der wirtschaftlich wenig gut situierten Bürger etwas tun, uns das neiden.
Vor diesem Hintergrund ist es natürlich sehr interessant, den sozialpolitischen Eiertanz, den die Sozialdemokraten in letzter Zeit aufführen, zu verfolgen.
({7})
- Jetzt muß ich Ihnen wehtun, denn jetzt muß ich den SPD-Vorsitzenden Engholm zitieren. Der hat ja davon gesprochen, daß es soziale Wohltaten gebe, die man nicht weiter unters Volk bringen dürfe,
({8})
und daß es überlegenswert sei, die überwiegend automatische Anpassung von Sozialleistungen an die Wirtschaftsentwicklung in Einzelfällen auch einmal auszusetzen.
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Für einen kultivierten Menschen ist allein dieses Wort von der technischen Anpassung ja schon etwas ganz Schlimmes. - Das hat der Herr Engholm gesagt. Das muß wohl der SPD-Vorsitzende sein, der hier auch schon mal gesprochen hat.
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Nun, die Reaktionen in der Sozialdemokratie sind natürlich bekannt. Der Kollege Andres - der ist ja jetzt gar nicht da, das tut mir richtig leid - hat seinen Vorsitzenden mit den Worten kritisiert, daß der Begriff „Wohltat" für eine sozialpolitisch ausgerichtete Partei nicht angemessen sei. Und der Herr Hirlinger hat sogar geglaubt, er sei von allen guten Geistern verlassen. Das finde ich eigentlich schlimm; man sollte ihm beistehen.
({11})
Diese Angleichung der Einkommensgrenzen ist natürlich auch finanziell zu verantworten, wenn man lesen kann und wenn man also über die KV 45 hinausschaut; denn die Betriebsergebnisse der Krankenkassen in den neuen Ländern haben gute Zahlen. Da haben wir beispielsweise Einnahmen von Januar bis April von etwa 7 Milliarden Mark und Ausgaben in den fünf Monaten von Januar bis Mai von etwa 5 Milliarden. Das heißt, wir haben einen Überschuß von etwa 2 Milliarden Mark eingenommen, ein Zeichen der hohen Moral in der Zahlungsverpflichtung, die die Bürger in den ehemaligen DDR-Gebieten zeigen. Daran können sich sogar viele von uns ein gutes Beispiel nehmen.
Nun würde ich sagen, daß die Ausgaben, die jetzt für die Bürger in der DDR höher ausfallen - etwa 0,8 bis 1,2 Milliarden DM -, auch mit aus diesem Fundus gezahlt werden müssen. Wir finden, daß es keine unmoralische Zuweisung ist, wenn wir sagen, daß dies auch geschehen muß, ohne daß die Krankenkassenbeiträge erhöht werden. Wir leisten damit einen ganz entscheidenden Beitrag zum Zusammenwachsen unseres Volkes, zur noch schnelleren Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in Ost und West. Ich verhehle auch nicht, daß dies natürlich dazu dient, schneller zu einer einheitlichen Haushaltsführung der Kassen in Ost und West zu kommen, um hier auch eine Solidaritätsmarge auf dem Wege des Zusammenwachsens zu setzen.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang lassen Sie mich noch ein Wort zur Beitragsgestaltung sagen. Im Gesetz steht, daß die Deckelung von 12,8 % in den neuen Bundesländern am 31. Dezember dieses Jahres endet. Nun stellt sich die Frage: Kann man denn in der gegenwärtigen Situation bereits die Freigabe der Beitragsgestaltung verfügen bzw. das Gesetz so bestehen lassen? Wir sind der Meinung: ja. Diese Bestimmung kann bestehenbleiben. Das heißt, daß ab 1. Januar 1992 eine freie Beitragsgestaltung auch in den neuen Bundesländern vonstatten gehen kann.
Ich denke, daß all die sogenannten unerledigten Rechnungen, die noch liegen, ebenfalls aufgearbeitet werden können. Denn auch hier belegen die Zahlen der Kassen, daß die Beitragseinnahmen von elf Monaten noch vorliegen und daß die Beiträge von zehn Monaten ausgegeben worden sind. Das heißt, wir haben einen Überhang von etwa 10 %. Dies muß man leidenschaftslos sehen. Ich glaube, daraus kann man die wirklich klare Folgerung ziehen, daß wir hiermit einen Weg beschreiten, der wiederum auf verträgliche Art und Weise zu einer größeren Annäherung der beiden Teile, Ost und West, führt.
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Meine Damen und Herren, das ist auch von der Finanzministerin von Schleswig-Holstein, von Frau Heide Simonis, bestätigt worden, die immerhin eine Parteifreundin von Karl Hermann Haack und von Klaus Kirschner ist. Ich meine, wir sollten auf uns wirken lassen, daß sie heute in der „NRZ" - auch das ist eine Zeitung, die man immer zusammenhalten muß, damit nicht die rote Tinte herunterläuft - erklärt, daß drei der fünf neuen Bundesländer zusammen einen Kassenüberschuß von mehr als 1,4 Milliarden DM haben. Der Überschuß aller Ostländer - so Frau Simonis - sei wahrscheinlich noch höher, weil Sachsen und Thüringen bisher zum Stichtag Ende Juni keine Angaben gemacht hätten. Auch diese Äußerung darf ich hier unkommentiert stehenlassen.
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Ich bitte, dem Antrag der Koalitionsfraktionen zuzustimmen und den Antrag der SPD abzulehnen. Herzlichen Dank.
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Herr Kollege Hoffacker, Sie haben einmal von den Bürgern der DDR gesprochen. Ich glaube, wir stimmen darin überein, daß wir ins Protokoll „der ehemaligen DDR" schreiben.
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Meine Damen und Herren, nun hat unser Kollege Karl Hermann Haack das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Hoffacker, das, was der Parteivorsitzende Engholm erzählt hat, erfüllt Sie mit Freude. Ich würde aber nicht so reden wie Sie, wenn ich wüßte, daß ich im Glashaus sitze. Ich erinnere an Ihre Diskussion über den § 218, an die finanzpolitische Begleitmusik und an die Auseinandersetzungen, die Sie dabei geführt haben. Dabei ist doch klar: Familienpolitiker haben andere Konzeptionen als Finanzpolitiker. Die muß man irgendwann zusammenbinden. So hat es auch Björn Engholm gemeint. Die gesamte Aufregung darüber verstehe ich nicht.
({0})
Karl Hermann Haack ({1})
Die die Regierung stellenden Fraktionen aus CDU/ CSU und FDP haben den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesundheits-Reformgesetzes zur ersten Lesung vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf enthält insgesamt sechs Punkte, die ich politisch werten möchte.
Wir finden es richtig, daß Sie eine Korrektur im Bereich des Kinderkrankengeldes vornehmen. Ebenso unterstützen wir die Neuordnung von Vorversicherungszeiten für die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen. Zu Recht - so meinen wir - erfolgen im sozialpädiatrischen Bereich Klarstellungen in unserem Sinne. Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind Korrekturen, die seit dem Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes dringend notwendig geworden sind.
Wenden wir uns nun der Bewertung weiterer Bestimmungen des Gesetzentwurfes zu: erstens der Neuordnung der Selbstbeteiligung, die wir als Abkassierungsmodell Nr. 2 bezeichnen, zweitens der Neuregelung des Zahnersatzes und drittens der Härtefallregelung für die neu beigetretenen Länder.
Hierzu darf ich aus dem Text der Begründung des Gesetzentwurfs zitieren:
Die Erfahrungen mit der Gesundheitsreform zeigen: Die Reform ist richtig angelegt und hat sich insgesamt bewährt. Eine Reform der Reform ist deshalb nicht erforderlich.
Was ist nun Realität? Ich rufe uns noch einmal einen Punkt aus der Debatte bei der Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes im Jahre 1988 in Erinnerung. Bundesarbeitsminister Blüm, damals für die gesetzliche Krankenversicherung zuständig, hat die Neuordnung des Arzneimittelmarktes über die Konstruktionen Festbetragsregelung, Negativliste und Richtgrößenwerte als Herzstück der Reform bezeichnet. Mit diesen drei Eckpunkten zur Neuordnung des Arzneimittelmarkts sollte die Preispolitik der pharmazeutischen Industrie diszipliniert werden. Ihr sollten quasi die Giftzähne gezogen werden.
Auf der anderen Seite etablierte die Regierung ein Abkassierungsmodell 1, indem sie ein System der Selbstbeteiligungen und Leistungskürzungen einführte, um durch diese Einsparungen, wie sie sagt, die Pflege finanzieren zu können. Sie nannte dieses Vorgehen ein berechtigtes Umschichtungsmodell. Wir haben es als ein Abkassierungsmodell bezeichnet. Ich denke, die Stimmen aus der Bevölkerung damals haben uns recht gegeben; sie geben uns auch heute noch recht.
({2})
Betrachten wir nun das Rechnungsergebnis des ersten Quartals der gesetzlichen Krankenversicherung im Rechnungsjahr 1991, bezogen auf die Westgebiete. Es wird deutlich, daß Ihnen in der gesamten Krankenversicherung die Ausgaben davonlaufen. An der Spitze stehen die Ausgaben für Heil-, Hilfs- und Arzneimittel mit zusammengenommen 19,1 %, also fast 20%.
Betrachtet man die Einnahmen aus dem ersten Quartal, so läßt sich unschwer erkennen, daß die gesetzliche Krankenversicherung West dabei ist, ihre Rücklagen aufzuzehren. Die Krankenkassen in den alten Bundesländern schließen ihr Rechnungsergebnis mit einem vorläufigen Defizit von 1,8 Milliarden DM ab. Das heißt konkret, die gesetzliche Krankenversicherung West steht nach zwei Jahren Gesundheits-Reformgesetz in den roten Zahlen.
Halten wir fest: Seit dem 1. Januar 1989 ist dieses Gesetz in Kraft. Es ist nicht gelungen, die Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung zu stabilisieren. Im Gegenteil, überall mehren sich die Anzeichen dafür, daß es zu Ausgabenexplosionen kommen wird.
Meine Damen und Herren, die Probleme von heute, die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung, sind die ungelösten Probleme von gestern. Nichts anderes ist zu diesem Sachverhalt zu sagen.
Nun zur Selbstbeteiligung, dem Abkassierungsmodell Nr. 2. Ihrem Gesetzentwurf entnehmen wir, daß die Neuordnung der Selbstbeteiligung bei Heil-, Hilfs- und Arzneimitteln dazu führen soll, die Mehrausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung um 300 Millionen DM zu reduzieren. Das heißt im Klartext, Sie kassieren 300 Millionen DM von den Versicherten ab.
Ich möchte Ihnen den politischen Punkt dieser neuerlichen Unverschämtheit der Regierung, bei Kranken, Behinderten und Langzeitkranken abzukassieren, beschreiben. Herr Präsident, ich erlaube mir, dabei auf die erste Lesung des Gesundheits-Reformgesetzes in der letzten Legislaturperiode zurückzugreifen. Damals hatte ich Ihnen zum Festbetragsmodell Nachfolgendes prophezeit. Ich zitiere aus der 78. Sitzung am Freitag, dem 6. Mai 1988, also in der 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages:
Ich sage Ihnen drei Punkte zu dem Festbetragsmodell. Das Festbetragsmodell ist der von der FDP gewollte Einstieg in die Selbstbeteiligung von 15 % bei Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln und damit eine Strafsteuer für Kranke; denn bis 1991
- also bis heute werden beispielsweise auf dem Arzneimittelmarkt lediglich ein Drittel erfaßt ... Gehen wir also davon aus: 1991 ein Drittel im Festbetrag, der Rest 15 % Selbstbeteiligung.
Im Klartext heißt das: Das, was Ihnen 1988 prophezeit worden ist, ist heute tatsächlich eingetreten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Sie stehen heute an demselben Punkt wie 1988. Das, was ich Ihnen namens der SPD-Fraktion prophezeit habe, nämlich das Scheitern des Festbetragsmodells, ist tatsächlich eingetreten. Ich frage die Regierung: Haben Sie eigentlich in der Zwischenzeit keine Briefe von chronisch Kranken erhalten? Haben Sie keine Briefe von Vertretern der älteren Generation erhalten, die Sie darauf aufmerksam gemacht haben, zu welchen schwerwiegenden Belastungen Ihr damaliges Abkassierungsmodell geführt hat? Haben Sie keine Stellungnahmen von den Wohl3540
Karl Hermann Haack ({3})
fahrtsverbänden, den Kirchen, der Arbeiterwohlfahrt, der Caritas, den Behindertenorganisationen erhalten, die Ihnen ebenso wie in der Vergangenheit auch bei Ihrem neuesten Streich, nämlich der Etablierung des Abkassierungsmodells 2, dazu raten, von diesem Vorhaben Abstand zu nehmen?
Sieger der heutigen Veranstaltung, meine Damen und Herren, ist die FDP. Der Vertreter der FDP, Herr Dr. Thomae, läßt keine Gelegenheit aus, die Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung durch ein Mehr an Selbstbeteiligung zu forcieren. Der neueste Hit ist die Selbstbeteiligung an den Hotelkosten in den Krankenhäusern. Ich übe mich erneut in der Prophezeiung: Wie bereits mit Einführung des Gesundheits-Reformgesetzes, dessen Kernstück das großartige Abkassierungsmodell war, hat Ihnen die FDPFraktion erneut die Garotte der Selbstbeteiligung um den Hals gelegt. Sie werden in dieser Legislaturperiode erneut erleben, daß Ihnen die FDP das sozialpolitische Würgeeisen noch mehr zuzieht, und ich sage Ihnen, daß es nicht hilft, daß der Bundesarbeitsminister z. B. im Pflegestreit zwischen FDP und CDU die katholische Soziallehre von Nell-Breuning zitiert. Zitate helfen hier nicht weiter; nur Handeln hilft weiter.
Was ist der Vorschlag der SPD? Wir schlagen vor, es zu einer Verschiebung des Gesetzes kommen zu lassen, damit die Regierungsfraktion ihre Schularbeiten machen kann. Auch die Frau Ministerin hat sich in der Vergangenheit dahin geäußert, daß dies ein gangbarer Weg wäre. Sie können sich also anschließen, Frau Ministerin.
Die Härteklausel zum Zahnersatz bedeutet die Beendigung eines sozialpolitischen Skandals. Auch damals hat die FDP zusammen mit dem Freien Verband der Zahnärzte versucht, ein Tor in der Ablösung von der Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung hin zum Erstattungssystem aufzustoßen. Das korrigieren Sie jetzt. Wenn Sie dies gewissermaßen als eine sozialpolitische Wohltat werten, sage ich Ihnen: Sie beenden damit partiell einen sozialpolitischen Skandal.
Zum Beitrittsgebiet ist zu sagen: Wir haben bei dem Einigungsvertrag darüber debattiert, ob es nicht richtig sei, daß auch die gesetzliche Krankenversicherung in der DDR ähnlich wie die Rentenversicherung einen Anschubfinanzierungsbetrag bekommen sollte. Sie wissen, daß in dem Einigungsvertrag 400 Millionen DM kreditiert worden sind. Wenn wir heute über die Einführung der Härteklausel in den neuen Beitrittsgebieten reden - wir wissen, daß damit 60 % der Bevölkerung, der Leistungsempfänger, erfaßt werden und daß diese 60 % mit zwischen 0,8 und 1,3 Milliarden DM die Kassen im Osten belasten werden -, so wird hier noch einmal deutlich, daß damaliges politisch falsches Handeln zu diesen heutigen Regelungen führt, die Sie als ein besonderen Vorteil dieses Gesetzes darstellen.
Wir sind also der Auffassung, daß das, was Sie in diesen drei Punkten vorgelegt haben, noch zu harten Auseinandersetzungen in den Beratungen führen wird. Wir fordern Sie auf, unseren Weg zu gehen, zunächst einmal alles zurückzustellen, bei der Festbetragsregelung drei Jahre zu warten und dann zu sehen, wie sich der Arzneimittelmarkt weiter entwickelt hat.
Herzlichen Dank.
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Der nächste Redner ist der Herr Abgeordnete Dr. Bruno Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, die Erfahrungen mit dem Gesundheits-Reformgesetz haben bewiesen, daß dieses Gesetz richtig angelegt war und sich insgesamt bewährt hat.
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- Ich habe mir große Mühe gegeben, mich in dieses Reformgesetz hineinzufinden. Das darf ich Ihnen versichern.
Wer wie die SPD die Erfolge der Gesundheitsreform zerreden will, hat, so glaube ich, noch nicht verstanden, daß wir ohne dieselbe die Grenzen der Finanzierbarkeit unseres Gesundheitswesens vermutlich bereits jetzt weit überschritten hätten.
({1})
Nur der Reform ist es, glaube ich, zu verdanken, daß wir durch die Einführung von mehr Wirtschaftlichkeit und vor allen Dingen mehr Wettbewerb auch in Zukunft sicherstellen können - das ist, glaube ich, ganz besonders wichtig - , daß wir in Deutschland über eines der weltbesten Gesundheitssysteme verfügen.
({2}) Das ist, glaube ich, unbestritten.
Wer dabei allerdings meint, dies ginge stets ohne steigende Kosten vor sich, der verkennt, so glaube ich schon, die Wirklichkeit. Veränderungen der Altersstruktur, zunehmende medizinische Erkenntnisse, Weiterentwicklung der Medizintechnik und bessere Bezahlung bestimmter Berufsgruppen verursachen Kosten, die keine Reform verhindern kann und auch nicht verhindern will. Erforderlich ist jedoch, daß wir alles im Gesundheitswesen Machbare tun, um die dadurch verursachten Kostensteigerungen durch Erhöhung der Leistungsfähigkeit und Verbesserung der Wirtschaftlichkeit aufzufangen.
Die Koalition hat sich anläßlich der Verabschiedung des Gesundheits-Reformgesetzes darauf verständigt, daß die Auswirkungen geprüft und eventuell notwendige Anpassungen auch vorgenommen werden. Wir haben diese Absicht noch einmal in unserer Koalitionsvereinbarung vom 16. Januar 1991 bekräftigt, und die heute hier vorgelegten Veränderungen sind das Ergebnis dieser Beratungen.
Lassen Sie mich aus diesem Paket, das schon hinlänglich gewürdigt worden ist, als strittigen Punkt vor allem den Arzneimittelbereich herausgreifen. Wir haben in den letzten Tagen eine erhebliche Meinungsmache gegen die Zuzahlungsregelung erlebt. Offensichtlich haben diejenigen, die von unsozialen Regelungen oder gar von unerträglichen Belastungen der Patienten sprechen, die Regelung entweder nicht verDr. Bruno Menzel
standen, oder es geht ihnen letztlich um etwas anderes als das immer wieder herausgestellte Wohl der Patienten.
Ich habe mit großem Interesse gelesen, daß das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen ermittelt hat, die Zuzahlung belaste insbesondere die alten Menschen, und zwar genau um 2,50 DM pro Monat zusätzlich. Wer dies unsozial oder gar unerträglich nennt, hat mit Sicherheit noch nicht gerechnet. Und üblicherweise übersehen die Kritiker der Selbstbeteiligung auch immer wieder, daß Bürgern mit niedrigem Einkommen und chronisch Kranken durch besondere Härtefall- und Überforderungsregelungen Rechnung getragen wird.
Meine Damen und Herren, man sollte das hier einmal sagen: Wer heute Sozialpolitik betreibt, der kann sich sehr schnell als ein hervorragender Sozialpolitiker profilieren, wenn er immer wieder in die scheinbar unerschöpflichen Töpfe unserer sozialen Sicherungssysteme hineingreift und Wohltaten verteilt. Aber ich glaube, es ist unvergleichlich schwieriger und es gehört mehr Mut dazu, auch zu sagen, wie denn das, was wir verteilen, finanziert werden soll. Zur verantwortlichen Sozialpolitik, meine ich, gehört dieses unumstritten dazu.
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- Warum nicht?
Wenn die Gesundheitsministerin, übrigens mit vollem Recht, darauf hinweist, daß wir nicht für 1992, wohl aber für 1993 erneut mit steigenden Krankenkassenbeiträgen zu rechnen haben, dann sollten wir die Ehrlichkeit und den Mut besitzen, rechtzeitig nach Möglichkeiten zu suchen, dieser Entwicklung vorzubeugen.
Wir Liberalen sind davon überzeugt, daß wir den ständig steigenden Arzneimittelkonsum und - wohlgemerkt - den Arzneimittelmißbrauch sowie die damit verbundenen Kostensteigerungen ohne eine Selbstbeteiligung nicht dauerhaft positiv beeinflussen können.
Meine Damen und Herren, ich habe zwar einiges vom „Abkassieren" gehört - und ich habe sicherlich gut gehört - , aber nichts davon bemerkt, daß man zumindest uns auch zugesteht, daß das nicht nur ein Abkassieren ist, sondern daß damit auch versucht wird, Steuerungsinstrumente einzuführen. Auch dies sollte nicht vergessen werden.
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Wer die Selbstbeteiligungsregelung mit dem Argument hinausschieben will, es sollten erst mehr Arzneimittel als bisher durch die Festbetragsregelung erfaßt sein, der übersieht zwei Sachverhalte. Zum einen haben wir Liberalen gemeinsam mit vielen Fachleuten niemals die Erwartung gehegt - und haben dies auch offen ausgesprochen - , daß mehr als 50 % aller Arzneimittel mit den Festbeträgen erfaßt werden können. Zum anderen verbindet sich mit einem Festbetrag keineswegs die automatische Zuzahlungsfreiheit eines Medikamentes. Wer dies behauptet, hat es auch noch nicht verstanden. Ein Festbetrag ist nichts anderes als ein Erstattungshöchstbetrag. Wenn der Arzneimittelpreis diesen Höchstbetrag überschreitet, dann hat der Patient die Differenz aus der eigenen Tasche zuzuzahlen.
Die Koalition sieht die mit dem Gesundheits-Reformgesetz geschaffenen marktwirtschaftlichen Prinzipien mit ihrem heutigen Gesetzentwurf bestätigt. Dadurch, daß wir den Höchstbetrag der Selbstbeteiligung auf 10 DM begrenzt und gleichzeitig besonders weitreichende Sozialregelungen für die neuen Bundesländer vorgesehen haben, ist es uns, glaube ich, gelungen, eine sozialpolitisch ausgewogene und gerechtfertigte Lösung mit vernünftigen Anreizen zu einem sparsamen Umgang mit Arzneimitteln und vor allem auch zur Belebung des Preiswettbewerbs zu verbinden.
Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Monaten, ergänzend zu dieser Novelle des SGB V, die Reform der Krankenhausfinanzierung anzugehen haben. Denn mittlerweile haben auch die Pflegesatzsteigerungen in den Krankenhäusern mit ungefähr 10 % wieder eine Größenordnung erreicht, die die Sorge der Krankenkassen um Beitragssatzstabilität sehr berechtigt erscheinen läßt.
Herr Menzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Dr. Menzel, wenn Sie sagen, Sie hätten mit dem GRG einen sparsamen Umgang mit Arzneimitteln erreicht, können Sie hier dem Hause einmal sagen, wie sich der Arzneimittelumsatz von der Menge her im ersten Halbjahr 1991 entwickelt hat?
Ja, sicher kann ich das. Das kann man überall nachlesen. Er ist um etwa 9,5 % gestiegen.
({0})
- Nein, Moment mal. Ich habe Ihnen ja gesagt, wir wollen noch einen Steuerungseffekt haben. Denn ich denke, Herr Kollege Kirschner, Sie sind sich doch sicher mit mir darin einig, daß ein überwiegender Teil dieser Steigerung vom Patienten nicht immer genommen worden ist, sondern irgendwo herumliegt,
({1})
daß also zuviel gekauft worden ist. Wir müssen also versuchen, einen Steuerungsmechanismus aufzubauen, der nicht nur, wie Sie immer sagen, ans Abkassieren denkt, sondern mit dem wir auch darauf einwirken wollen, daß ein sinnvoller Umgang mit Medikamenten herbeigeführt wird. Darüber sind wir uns
doch sicherlich einig. Habe ich damit Ihre Frage beantwortet?
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Ich bin gern bereit, sie zu beantworten.
Ich denke jedenfalls, die Einführung von mehr Marktwirtschaft und die Aufgabe des Selbstkostendeckungsprinzips bei gleichzeitiger Möglichkeit zur Gewinnerzielung in Krankenhäusern ist ebenfalls zwingend erforderlich - damit sind wir beim nächsten Thema - , damit wir der uns gemeinsam gestellten Aufgabe der Anhebung des Standards des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern auf das Niveau der alten auch in vollem Maße entsprechend können. Nachdem aber offensichtlich - ich bitte darauf zu achten - auch in der SPD ein Umdenken über die Finanzierungsmöglichkeiten sozialer Leistungen begonnen hat, kann ich nur hoffen, daß dies endlich seinen Ausdruck auch in der Bejahung von mehr Marktwirtschaft und mehr Wettbewerb findet.
({3})
Gesundheitswesen und Ökonomie sind keine Gegensätze. Vielmehr braucht eine leistungsfähige Medizin das Fundament einer gesunden Ökonomie. Die Erfahrung der letzten Jahre hat uns alle gelehrt, daß wir dies nur durch mehr Marktwirtschaft und nicht durch mehr Planwirtschaft erreichen können. Darin haben wir große Erfahrungen.
({4})
Meine Damen und Herren, das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Dr. Ursula Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Menzel, wer, was, wie, warum noch nicht verstanden hat, das liegt wohl an den grundsätzlichen Auffassungen, die man zu einem Problem hat.
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Das ist das Problem.
„Die Erfahrungen mit der Gesundheitsreform zeigen: Die Reform ist richtig angelegt und hat sich insgesamt bewährt." So steht es in dem Gesetzentwurf. Meine Frage ist: Wer kann das letztendlich beweisen? Da sehe ich das Problem schon eher so, wie in der Zeitung „Die Zeit" beschrieben - ich zitiere -:
Der Traum war kurz, gestört schon lange; jetzt gab es ein böses Erwachen. Die Reform wird reformiert. Ihre Untauglichkeit ist nun auch offiziell eingestanden.
({1})
Das Kernstück Festbeträge erwies sich als weich, und die Beulen tragen wieder einmal die Patienten davon.
Geplant war, daß für den größten Teil der Medikamente - wie in anderen westeuropäischen Ländern übrigens üblich, jedenfalls in wesentlich höherem
Ausmaß als hier - bis 1992 Festbeträge existieren. Aber bislang einigte man sich gerade bei 35 % - andere sagen: 30 %; die Zahlenangaben sind unwesentlich unterschiedlich - auf diesen Festbetrag. Der Patient hat also in der überwiegenden Zahl der Fälle gar nicht die Wahl eines zuzahlungsfreien Medikamentes, und auch die Ärzte - vor allem in den neuen Bundesländern - wird das durchaus ab und zu in Konflikte bringen; das könnte ich mir jedenfalls vorstellen.
Die Krankenkassen hatten vorgeschlagen, die Veränderung zur Selbstbeteiligung für einen Zeitraum von zwei Jahren auszusetzen. Selbst Frau Hasselfeldt wollte dies. Aber auf Drängen der FDP wird nun dieser Gesetzentwurf doch vorgelegt.
Die Begründung, daß mit diesen Maßnahmen der Selbstbeteiligung eine Steuerung des Arzneimittelverbrauchs erreicht werden soll, klingt im ersten Moment vielleicht noch nicht einmal unlogisch. Daß das nicht so sein wird, ist sicher; sonst hätte die Pharmaindustrie ganz sicher schon andere Kommentare abgegeben. Sie, die Pharmaindustrie, reiht sich ein in den vielstimmigen Proteststurm, hat aber ganz offensichtlich andere Motive. Wo bleibt hier eigentlich ihr Beitrag zur Kostendämpfung.
Steuerung des Arzneimittelmarktes hin und her; aber welchen Ausweg hat schließlich ein Kranker, der auf ein Medikament angewiesen ist? Unseres Erachtens ist die Konstruktion der Durchsetzung von Festbeträgen im Ansatz falsch. Niemals werden Pharmaindustrie und andere an der Findung von Festbeträgen beteiligte Institutionen zu raschem Handeln stimuliert. Anstatt für Tempo bei den Festbetragsverhandlungen zu sorgen, wird das Gerangel mit entsprechenden Begründungen letztendlich auf dem Rücken der Beitragszahler ausgetragen.
Wahrscheinlich ist nicht allein das komplizierte Verfahren schuld am Schneckentempo. Ich frage: Wer bremst da und in wessen Interesse eigentlich?
Die enorme Zuzahlung - um nicht die geplante 15 DM-Grenze anwenden zu wollen, sondern die 10 DM-Grenze - sehen wir nicht als sozialverträglich an. Diese Umwandlung auch noch, wie in der Gesetzesbegründung geschehen, als Herabsetzung des Höchstbetrages bei der Zuzahlung zu deklarieren, empfinden wir, gelinde gesagt, als etwas höhnisch, assoziiert dieser Titel doch ein Abgehen von den bisherigen 3 DM und nicht die tatsächliche Heraufsetzung um 7 DM auf 10 DM; ich sehe es eben so.
Wir stimmen deshalb dem Gesetzentwurf der SPD zu, das Inkrafttreten dieser Regelung um drei Jahre zu verschieben, um „Zeit für eine grundlegende gesetzliche Neuordnung des Marktes für Arzneimittel zu erreichen". Ein tatsächlich neuer Ansatz wird nötig sein; denn daß die PharmaIndustrie nur ein Ziel kennt - den Profit zu steigern - , haben wir alle hier ja erst unlängst zu spüren bekommen und wohl auch nicht vergessen. Es ist ja noch nicht so lange her. Ein neuer Ansatz muß allerdings die gesamte Gesundheitsreform und, aus meiner Sicht, eigentlich das gesamte Gesundheitswesen umfassen.
Nun zu einem anderen Aspekt. Als weiteres Wunder seines Jahrhundertwerkes hat Herr Blüm damals
sinkende Beiträge versprochen. Mittlerweile zeigt der Kostenpfeil allerdings nach oben. Die festen Krankenversicherungsbeiträge in den neuen Bundesländern werden freigegeben. Es kommt mit Sicherheit wieder zu einer zusätzlichen Belastung, auch für die neuen Bundesbürger.
Ich will das auch begründen: Solange die kassenärztliche Versorgung eine Monokultur ist - für mich auch eine Art zentralistisches Bewirtschaftungsmodell - , werden sich die Prinzipien der Umlegung der Kosten auf den Patienten durchsetzen. Das ist für mich logisch.
Ein kleines Beispiel: Volkswirtschaftlich - und sicher auch oft für den Patienten - ist es besser, in einer langen Zeit wenig Spritzen zu verwenden als viele Spritzen in kurzer Zeit. Aber die Wirtschaftlichkeit der Praxisunternehmen verlangt genau das Gegenteil. Für mich ist das ein Paradoxon, aber, wie gesagt, durchaus logisch. Patientenrechte sind offensichtlich nicht vorgesehen. Die Kosten werden steigen, besonders auch in den neuen Bundesländern.
Wenn ich außerdem noch an die Sorgen und Ängste der Ärzte denke, die sich in der DDR gerade niedergelassen haben und sehr viele Kredite aufgenommen haben, und wenn ich ferner an die Mietexplosion für die Praxisräume denke, dann verstehe ich, daß die Ärztinnen und Ärzte ihr Heil in der Erhöhung der Preise für ihre Leistungen sehen werden, die oftmals gar nicht erforderlich wäre. Es zahlt letztendlich der Beitragszahler. Da werden Sie wahrscheinlich auch nicht widersprechen können.
Um noch einen anderen Aspekt anzusprechen - damit komme ich zum Schluß - : Gerade was den Krankenstand anbelangt, werden so niedrige Raten wie zur Zeit in Ostdeutschland - ich beziehe mich jetzt auf einen Artikel - vom Kapitalismus weltweit nicht erreicht. Krankenstände korrespondieren ganz offensichtlich auch mit sozialer Unsicherheit. Dieser Auffassung muß ich mich anschließen. Aber mit Gesundheit als Menschenrecht hat das wohl alles nichts zu tun.
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Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, nunmehr erteile ich der Bundesministerin für Gesundheit, Frau Gerda Hasselfeldt, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion in den letzten Wochen hat gezeigt, daß wohl allein die von uns jetzt vorgeschlagene Zuzahlungsregelung für Arzneimittel mehrheitsfähig ist. Andere, die Versicherten mehr entlastende Vorschläge, haben offensichtlich ebenso wenig eine Chance wie diejenigen, die eine noch stärkere Eigenbeteiligung einfordern.
Die Neuregelung wird sicherlich nicht jeden zufriedenstellen. Aber gerade angesichts der etwas einseitigen Darstellung des Sachverhalts in der Öffentlichkeit sollte man, denke ich, schon deutlich darauf hinweisen, daß die Neuregelung, die wir jetzt vorhaben, eindeutig besser und sozial verträglicher ist als die bisherige. Ich begründe Ihnen das auch sehr gerne.
Erstens. Wir senken den Zuzahlungshöchstbetrag von 15 DM auf 10 DM. Liebe Frau Kollegin Fischer, wenn Sie dies nicht glauben, dann empfehle ich Ihnen, den Gesetzestext zu lesen, wo schwarz auf weiß steht, daß, wenn nichts geschieht, der Zuzahlungshöchstbetrag ab 1. Januar 1992 15 DM pro Arzneimittel beträgt.
Wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen, Frau Ministerin?
Ja, bitte schön.
Frau Ministerin, ich habe das ganz anders ausgedrückt. Mir sind die 15 DM für sich genommen schon unlogisch. Von diesem Standpunkt bin ich ausgegangen. Daß das jetzt eine scheinbare Herabsetzung ist, ist mir auch klar,
({0})
aber mehr auch nicht. Für mich ist es unsozial.
Frau Kollegin, Sie können nicht sagen, es sei eine scheinbare Herabsetzung, wenn es eine faktische Herabsetzung ist; denn es steht im Gesetzestext so.
Frau Dr. Fischer, außerdem sollten Fragen gestellt werden. Sie haben einen Kommentar gegeben.
({0})
Ich sehe das gerne nach, Herr Präsident.
Zum zweiten. Wir entlasten die Versicherten in den neuen Ländern. Dies ist ein ganz wichtiger Aspekt. Mit der Vereinheitlichung der Einkommensgrenzen bei den Härteklauseln erreichen wir nicht nur soziale Gerechtigkeit zwischen Ost und West, sondern wir erreichen auch, daß dort etwa die Hälfte aller Versicherten zunächst von jeder Zuzahlung befreit sind.
({0})
Dies gilt vor allem für die Rentnerinnen, für die Rentner, für diejenigen mit niedrigem Einkommen. Dieser sozialpolitische Aspekt wird in Ihrem Entwurf, in dem Entwurf der SPD, total vernachlässigt.
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Bei Ihnen wäre es so, daß jemand, der beispielsweise 1 000 DM verdient, im Westen nicht zuzahlen müßte, im Osten aber sehr wohl zuzahlen müßte - unabhängig von der Höhe. Diese soziale Ungerechtigkeit be3544
endigen wir, diese wird auf eine gerechte Basis gestellt.
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Drittens. Im Ergebnis, meine Damen und Herren, stellen wir sicher, daß die Versicherten künftig für etwa die Hälfte aller zuzahlungspflichtigen Verordnungen weniger als bisher bezahlen müssen. Das gilt immer dann, wenn das Medikament bis 20 DM kostet, und dies betrifft insbesondere auch die Naturheilmittel. Ich weise darauf ganz besonders hin, weil es in der Öffentlichkeit in den letzten Tagen immer heißt, es wird in jedem Fall teurer. Man muß dies sehr differenziert betrachten.
Viertens. Gegenüber der bisherigen fixen Zuzahlung je Arzneimittel hat die prozentuale Zuzahlung einen erheblichen Vorteil. Sie verringert nämlich den Anreiz, Großpackungen zu verordnen, und bremst damit die steigenden Arzneimittelausgaben.
({3})
Trotz all dieser Vorteile, die ich dargestellt habe, verhehle ich auch nicht, daß wir um diese Regelung innerhalb der Koalition hart gerungen haben. Wir haben uns bei diesem Kompromiß aufeinander zubewegt. Ich möchte aber eines noch besonders hervorheben, das für mich persönlich zum Wichtigsten gehört. Das ist die Tatsache, daß für Festbetragsarzneimittel auch in Zukunft die Zuzahlungsfreiheit für die Versicherten beibehalten bleibt.
({4})
Das betrifft immerhin ein gutes Drittel des gesamten Arzneimittelmarktes.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Haack?
Frau Ministerin, ich habe diese Formulierung bei Ihnen des öfteren gehört. Meine Frage: Wer wollte denn die Nicht-Zuzahlung bei der Festbetragsregelung abschaffen?
Dies war innerhalb der Koalition ein wichtiges Thema. Wenn Sie die Zeitungen aufmerksam gelesen hätten, dann, Herr Haack, hätten Sie dieses vielleicht auch einmal gelesen. Es war eine Diskussion. Ich sprach davon, daß wir darum auch sehr hart gerungen haben. Dies ist im übrigen kein Geheimnis.
Diese Regelung stand zur Diskussion. Daß wir sie erhalten haben, meine Damen und Herren, wird sich mit Sicherheit weiter auszahlen. Das Festbetragssystem hat schon jetzt zu einer Entlastung von etwa 1 Milliarde DM geführt. 525 Millionen DM bei den Kassen, die indirekt natürlich auch die Beitragszahler entlasten, und weitere 475 Millionen DM durch den Wegfall der Zuzahlung direkt bei den Versicherten. Daraus zu schließen, wie gelegentlich von Ihnen, von den Kolleginnen und Kollegen der Opposition, und auch heute wieder zu hören, daß das Festbetragssystem gescheitert sei, ist allein angesichts dieser Größenordnungen, angesichts der Verbesserungen gerade für die Versicherten eine völlig falsche Einschätzung der Tatsachen.
({0})
Diese Erfolge zeigen auch, daß es ein Fehler wäre, Ihnen zu folgen, Herr Haack, und das Festbetragssystem an sich aufzugeben. Dies wäre allein schon deshalb falsch, weil Sie zwar - jetzt zitiere ich auch Ihren Gesetzentwurf - eine „grundlegende Neuordnung des Arzneimittelmarktes" fordern, aber keinen einzigen Halbsatz darauf verschwenden, was Sie eigentlich vorhaben. Wir sagen den Bürgern deutlich, was wir wollen.
Deshalb verschweige ich auch nicht die Tatsache, daß bisher weit weniger Festbeträge vereinbart worden sind, als dies ursprünglich erwartet worden war. Ich sage auch deutlich, dies kann, dies darf so nicht bleiben. Die Gremien der Selbstverwaltung müssen diesen gesetzlichen Auftrag schneller umsetzen. Ich werde jedenfalls nicht tatenlos zusehen, daß es z. B. immer noch keinen Festbetrag für Insulinpräparate gibt. Allen möglichen Schwierigkeiten zum Trotz darf es nicht sein, daß einzelne Patienten, nicht nur Zuckerkranke, überhaupt kein Präparat ohne Zuzahlung bekommen können. Deshalb lasse ich auch derzeit prüfen, wie mehr und schneller zuzahlungsfreie Festbeträge vereinbart werden können.
({1})
Gegebenenfalls werde ich auch nicht darauf verzichten, den Bundeswirtschaftsminister zu bitten, gemeinsam mit mir, wie es im Gesetz vorgesehen ist, entsprechende Festsetzungen zu treffen. Das ändert nichts daran, daß die Selbstverwaltung selbstverständlich Vorrang hat. Aber sie muß auch wissen, daß dieser Vorrang im Interesse der Versicherten jetzt auf dem Prüfstand steht.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Zuzahlungskompromiß hat natürlich auch eine Kostenseite.
({2})
Erstens. Durch die bundesweite Angleichung der Härteklauseln werden die Versicherten in den neuen Ländern im ersten Jahr um ca. 1 Milliarde DM entlastet. Die damit verbundene Belastung der Kassen wird mit der positiven Einkommensentwicklung zurückgehen. Wir werden sehen, daß sie sehr schnell zurückgehen wird.
Zweitens. Die 15 %ige Zuzahlungsregelung entlastet die Kassen um ca. 300 Millionen DM.
Drittens. Gleichzeitig führen die weiteren Leistungsverbesserungen zu Mehrausgaben in etwa der gleichen Höhe.
Diese Leistungsverbesserungen kommen in der ganzen Diskussion auch der letzten Tage mir persönlich ein bißchen zu kurz. Sie dürfen angesichts der Debatte über die Problematik der Arzneimittelzuzahlung nicht vergessen werden.
An der Spitze der Leistungsverbesserungen steht eine ganz wichtige familienpolitische Maßnahme, nämlich die Verlängerung der Freistellung bei der Pflege erkrankter Kinder, übrigens eine Vervierfachung der Dauer für Alleinerziehende, damit verbunden auch die Anhebung der Altersgrenze der Kinder von acht auf zwölf Jahre.
({3})
Darüber hinaus wird Schwerpflegebedürftigen die Inanspruchnahme der Kassenleistungen dadurch erleichtert, daß künftig die Vorversicherungszeit von 15 Jahren ausreicht, eine Regelung, die auf Grund vieler Zuschriften, vieler persönlicher Schicksale, die davon betroffen waren, gefunden wurde.
({4})
Für die von den Versicherten zu tragenden Zahnersatzkosten wird eine stufenweise Eigenbeteiligung eingeführt und damit die Verbindung zur persönlichen Leistungsfähigkeit des einzelnen Versicherten, des einzelnen Patienten stärker hergestellt. Außerdem machen wir endlich Schluß mit dem Hin und Her zwischen der Krankenversicherung und der Sozialversicherung, wenn es um behinderte Kinder geht, nämlich dann, wenn es um die Betreuung, um die Behandlung und Therapie in sozialpädiatrischen Einrichtungen geht.
Die mit diesem Gesetzentwurf verbundenen Kosten, meine Damen und Herren, stellen für sich genommen keine Gefährdung der Leistungsfähigkeit der Kassen dar. Allerdings übersehe ich nicht, daß die Ausgaben der Kassen seit einem Jahr schon wieder stärker steigen als die Einnahmen. Dies - und nicht die heute diskutierten Leistungsverbesserungen - gefährdet den weiteren Erfolg der Gesundheitsreform. Ich sage bewußt: den weiteren Erfolg der Gesundheitsreform, weil das, was schon bei den Beitragssätzen zum Ausdruck kam, nämlich nicht nur Stabilität, sondern auch Senkung, ein Erfolg der Gesundheitsreform ist, den wir nicht vergessen sollten.
({5})
Auf Grund des Zeitdrucks, eine sozialverträgliche Zuzahlungsregelung zu beschließen - angesichts des 1. Januar 1992, für den die 15 % und 15 DM im Gesetz stehen - , war es nicht möglich, schon jetzt mit entsprechenden Maßnahmen gegenzusteuern. Ich sage aber auch ganz deutlich: Das bedeutet nicht, daß wir darauf verzichten werden. Die möglichen Wege sind vorgezeichnet. Es kommt ganz wesentlich darauf an, daß die Selbstverwaltung die vorhandenen Instrumente endlich umsetzt. Allzuviel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Entweder erfüllt sie die ihr übertragenen Aufgaben, oder wir werden ihr dabei durch entsprechende gesetzliche Maßnahmen helfen. Die Bundesregierung steht auf jeden Fall auch weiterhin zu ihrem Grundsatz, der da heißt: Gesundheit muß bezahlbar bleiben.
Ich danke Ihnen.
({6})
Als letzter Redner dieser Debatte hat das Wort Herr Dr. Martin Pfaff.
Herr Präsident! Frau Bundesminister! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Schon wieder muß die Regierungskoalition handwerkliche Mängel bei ihrer Gesetzgebung und dies bei ihrem vielgerühmten Jahrhundertwerk, dem sogenannten Gesundheitsreformgesetz zugeben und dieses Gesetz so schnell korrigieren. Schon wieder muß sie eingestehen, daß dieses Gesetz offensichtlich mit einer sehr heißen Nadel gestrickt worden war und jetzt schon reparaturbedürftig ist. Und schon wieder ist das - ja, ich muß sagen, es tut mir wirklich leid, dies sagen zu müssen - , was nach dieser sogenannten Nachbesserung herauskommt, sozial- und gesundheitspolitisch wohl eher als Rückschritt denn als Verbesserung zu bezeichnen.
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- Ich werde dies gleich begründen, Herr Hoffakker.
Schon wieder - dies sage ich auch mit ganz besonderem Bedauern - wird die neue Gesundheitsministerin, die doch mit so guten Vorsätzen begonnen hat, wiederum über den verlängerten Arm der Pharmaindustrie im Kabinett in die Knie gezwungen.
({1})
Ich sage es noch einmal, ich muß dies mit großem Bedauern feststellen, weil ich sehr große Hoffnungen, auch wenn ich in der Opposition bin, mit den Zielsetzungen der Frau Bundesminister verbunden habe.
({2})
In der breiten Bevölkerung, Frau Bundesminister, werden die Regelungen, die wir heute diskutiert haben, sicher nicht mehrheitsfähig sein.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schon nach zwei Jahren, auf jeden Fall im letzten Herbst, war schon klar - Sie, Frau Bundesminister, haben es ja selbst zugegeben - , die Gesundheitsausgaben stiegen und steigen weiter, schneller als die Einnahmen, und steigende Beiträge sind bereits angekündigt. Das Gesetz hat damit bei der Steuerung der Wirklichkeit - es war nicht die Wirklichkeit selbst, die Sie beschworen haben -, sondern das Gesetz hat bei der Berechnung der Kostendynamik und bei der Sicherung der Beitragsstabilität eindeutig versagt.
Mit dem jetzigen Gesetzentwurf müssen Sie nach drei Jahren eingestehen, daß auch das sogenannte Herzstück dieses Gesetzes - so hat es ja Norbert Blüm mehrfach bezeichnet - , nämlich die Einführung von Festbeträgen an offensichtliche Grenzen gestoßen ist; denn die meisten Hersteller senkten sehr wohl ihre Preise als Antwort auf die Festbeträge. Es sind in der Tat, Frau Bundesminister, Einsparungen - in Anführungszeichen - von 1 Milliarde DM entstanden. Das möchte ich einmal in aller Deutlichkeit sagen.
({4})
Aber die Pharmaausgaben - jetzt sollen Sie nachdenklich sein, verehrter Herr Kollege - sind trotzdem gestiegen, und zwar in dem Bereich, der von den Festbeträgen nicht erfaßt war. Vor allem die neueren innovativeren Arzneimittel sind teilweise sehr teuer geworden. Deshalb sage ich, das Ziel der Kostendämpfung ist auch in diesem Bereich eindeutig verfehlt worden.
({5})
Herr Kollege Pfaff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hoffacker?
Sehr gerne.
Herr Professor, wollen Sie bestreiten, daß die Pharmaindustrie bei den zuzahlungspflichtigen Mitteln die Preise immer angeglichen hat an die Generica und damit auch den Markt entlastet hat und unsere Beitragszahler dadurch günstiger in den Genuß beim Bezug der Arzneimittel kamen?
Herr Dr. Hoffacker, ich hatte gerade gesagt, daß bei den festbetragsregulierten Arzneimitteln eine deutliche Absenkung stattgefunden hat. Aber von denselben Firmen sind die anderen nicht betroffenen Arzneimittel im Preis angehoben worden, so daß im Endeffekt und im Klartext eigentlich hier ein Taschenspielertrick gespielt worden ist. Da nützt es mir doch nicht, wenn ich auf die eine Karte schaue, aber auf der anderen Seite wird mehr hereingeholt als das, was eingespart wird. Das ist es, was ich moniere.
({0})
- Ja, die Umsetzung hat sich sehr viel schleppender vollzogen. Das ist mehrfach gesagt worden. Es ist auch richtig, daß die Probleme der Umsetzung, der Blockierung nicht nur bei der Anhörung im Jahre 1988 - ich war ja als Sachverständiger selbst dabei - , sondern auch in diesem Hause richtig prognostiziert worden sind. Und da geht es eben nicht an, Frau Bundesminister, daß der Schwarze Peter an die Selbstverwaltung weitergereicht wird.
Ich meine, diese Bundesregierung sollte den Mut haben, sich zu den Folgen ihres eigenen Handelns zu bekennen. Auf jeden Fall, so meine ich, sollte sie auch dafür sorgen, daß das komplizierte Verfahren für die Gruppenbildung der Stufen 2 und 3 jetzt vereinfacht wird; sonst wird eine zügige Umsetzung nicht möglich sein.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der sozialpolitische Auftrag einer gesetzlichen Krankenversicherung ist doch eigentlich sehr einfach und für jedermann verständlich. Danach sollte jeder Mann, jede Frau, jedes Kind bei Krankheitseintritt Leistungen nach dem Bedarf, nur nach dem Bedarf und nicht nach der Zahlungsfähigkeit, bekommen und in Anspruch nehmen sollen. Danach sollte jedes Mitglied einen Finanzierungsbeitrag nach der Leistungsfähigkeit, sprich: nach der Höhe des Einkommens, leisten. In genialer Einfachheit sind mit diesen Prinzipien die Grundlagen unserer sozialen Krankenversicherung gelegt worden.
Gemessen an dem sozialpolitischen Auftrag eben dieser Krankenversicherung sind Selbstbeteiligungen grundsätzlich abzulehnen, weil sie die Inanspruchnahme über den Preis steuern und damit soziale Ungerechtigkeit produzieren. Gemessen an diesem sozialpolitischen Auftrag stellen Festbeträge eine deutlich bessere Option dar als die Selbstbeteiligung,
({2})
auch, Herr Dr. Menzel, wenn wir von den Festbeträgen eine andere Auffassung haben und auch, Frau Bundesminister, wenn die Festbetragsregelungen ohne Zuzahlungen, die Sie jetzt weithin als sozialpolitische Großtat darstellen, eigentlich selbstverständlich sein müßten.
Die Erwartungen der Pharmaindustrie gehen natürlich in die Richtung, mit Festbeträgen eine variable Form der Selbstbeteiligung einzuleiten. Aus der sozialpolitischen Sicht aber geht es doch darum, daß das, was erforderlich, angemessen, nach den Regeln der ärztlichen Kunst ist, zu einem Preis ohne Zuzahlung zu leisten ist.
({3})
- Die Festbetragsregelung hat eine so lange Geschichte. Sie hat nicht nur einen langen grauen Bart; sie ist von verschiedenen Gruppierungen in vielfältiger Form schon formuliert worden. Niemand war aber so naiv, anzunehmen, daß man über 30 % des Marktes eine Entlastung der Pharmaausgaben insgesamt erreichen könnte. Ein gespaltener Markt führt zu Ausweichreaktionen; das ist doch das Problem, nicht die Idee des Festbetrages an sich, Herr Dr. Hoffacker.
Es ist, auch gemessen an diesen sozialpolitischen Auftrag, eine deutliche Entlastung der Versicherten durch den Wegfall der Arzneimittelgebühr entstanden. Beklagenswert ist aber, daß durch diese Verzögerungen gerade die Versicherten mit den höheren Gesundheitsausgaben - das sind eben eher die Alten als die Jungen, das sind eben eher die Frauen als die Männer - stärker betroffen werden. Deshalb, Frau Bundesminister, sind diese Regelungen auch frauenfeindlich; das möchte ich hier in aller Deutlichkeit sagen.
({4})
Deshalb sind gerade die chronisch Kranken und die Multimorbiden, trotz Härtefall- und Überforderungsklausel, die besonderen Opfer dieser Verzögerungen.
({5})
Die 15%ige Selbstbeteiligung - das kann man doch leicht nachrechnen - wird auf jeden Fall eine zusätzliche Belastung für diese Gruppen bringen. Da
nutzt das Trostpflaster der Reduzierung von 15 DM auf 10 DM sehr wenig.
({6})
- Die Härtefallregelung ist hier schon mitberücksichtigt.
({7})
Ich meine, dies als Entlastung zu bezeichnen, stellt eine äußerst fragwürdige Beurteilung dar. Wollen wir doch einmal ein wenig bei den Fakten bleiben, Herr Dr. Hoffacker.
({8})
Man muß ja kein Mathematiker und auch noch nicht sehr lange in diesem Hohen Hause anwesend sein, um diese einfache Rechnung nachvollziehen zu können. Jedes Nichtfestbetragsmedikament, das mehr als 20 DM kostet, wird in der Zukunft für den Versicherten, was die direkte Zuzahlung betrifft, teurer. Das ist eindeutig die Mehrzahl der Medikamente; denn der Durchschnittsbetrag bei Medikamenten liegt zur Zeit bei ca. 30 DM. Das ist so.
({9})
Der Gesetzentwurf der Koalition stellt nur dann eine Entlastung dar, wenn Medikamente über 67 DM kosten; das sind heute nur 13% der Verschreibungen. Das, das allein, ist das Ausmaß der sozialpolitischen Großtat.
({10})
Im Klartext: Für die meisten, vor allem für die Kranken, die Alten und die Frauen, wird diese Gesetzesvorlage, Frau Bundesminister, eine erhebliche Belastung darstellen; denn die bisherigen Zahlungen durch die Arzneimittelgebühr haben schon 40 % der Bevölkerung freigehalten, nämlich die Kinder, die Jugendlichen, die chronisch Kranken und die Personen, die eben kaum Arzneimittel in Anspruch genommen haben. Weitere 20 % bezahlten nur 8 DM.
Gemessen an der jetzigen Regelung bedeutet dies eine eindeutige Ausweitung der Selbstbeteiligungszahlungen. Deshalb meine ich: Sie ist eigentlich nicht zu rechtfertigen.
Die zusätzliche Belastung der Versicherten beträgt 580 Millionen DM. Da tröstet es mich sehr wenig, Frau Bundesminister, daß die Kassen in Höhe von 300 Millionen DM entlastet werden. Der bittere Kern des Koalitionsentwurfes - ich muß es hier sagen - , auch wenn er in sozialpolitischen Wohltaten verpackt ist, ist, daß hier eine Zuzahlung, eine zusätzliche Belastung von 580 Millionen DM jährlich für die kranken Menschen bei uns entsteht.
Was wollen Sie eigentlich - und damit komme ich zum Schluß - mit dieser Regelung bewirken? Entweder setzen Sie eine Zuzahlung sehr niedrig an, dann ist sie relativ unwirksam, dann können Sie sie vergessen; oder Sie setzen sie so hoch an, wie es teilweise schon geschieht und in der Diskussion ist, dann müssen Sie es unter sozialpolitischen Gesichtspunkten erst recht vergessen.
Die Steuerungswirkung ist zweifelhaft und fragwürdig. Länder mit Selbstbeteiligung haben keineswegs geringere Ausgaben, auch Policen mit Selbstbeteiligung zeigen keine besseren Effekte.
Deshalb fordern wir ein Aussetzen dieser Regelung, bis die Festbetragsregelung eine Chance hat, umgesetzt zu werden. Deshalb fordern wir, daß die Instrumente des Gesundheits-Reformgesetzes umgesetzt werden, wie sie sind. Deshalb fordern wir, daß echte Strukturreformen umgesetzt werden, die bei Überkapazitäten, bei fehlsteuernden Anreizen in der Honorierung, bei Organisationsstrukturen und beim Krankenhaus ansetzen.
Die SPD-Fraktion wird entsprechende eigene Entwürfe einbringen, wenn Sie es nicht tun. Denn eines ist klar, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition: Spätestens im nächsten, allerspätestens im übernächsten Jahr werden Sie vor dem Scherbenhaufen Ihrer Kostendämpfungspolitik stehen, und spätestens dann, wenn nicht bei Philippi, werden wir uns wiedersehen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/1154 und 12/1155 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 12/1154 soll außerdem nach § 96 unserer Geschäftsordnung dem Haushaltsausschuß überwiesen werden. Der Gesetzentwurf auf der Drucksache 12/1155 soll nicht an den Haushaltsausschuß überwiesen werden.
Gibt es anderweitige Vorschläge? - Ich höre keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, daß am Donnerstag, dem 26. September 1991, keine Fragestunde und keine Aktuelle Stunde stattfinden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 25. September 1991, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.