Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell wurde vereinbart, die heutige Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit - Drucksache 12/1105 -
2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit - Drucksache 12/1107 -
3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze - Drucksache 12/765 -
4. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/1118 -
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall; kein Widerspruch.
Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung und die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:
3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den deutsch-polnischen Verträgen
b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
- Drucksache 12/1103 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({0}) Innenausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen
- Drucksache 12/1104 - Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({1}) Innenausschuß
ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
- Drucksache 12/1105 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({2}) Innenausschuß
ZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP
Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit
- Drucksache 12/1107 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({3}) Innenausschuß
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache nach der Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen am Anfang der parlamentarischen Beratung über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze und über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit.
Beide Verträge bilden ein einheitliches Ganzes. Dies wird bei uns und zeitgleich auch im polnischen Sejm durch die gemeinsame parlamentarische Beratung unterstrichen. Beide Verträge werden gemeinsam ratifiziert und damit auch gleichzeitig international in Kraft gesetzt.
Mit diesen Verträgen liegt uns ein deutsch-polnisches Vertragswerk vor, das Marksteine in der Geschichte unserer beiden Länder und Völker setzt und das damit einen notwendigen Beitrag zu einer neuen Ordnung des Friedens, der Stabilität und der Zusammenarbeit in Europa leistet. Ich bitte Sie namens der Bundesregierung, diesem Vertragswerk Ihre Zustimmung zu geben.
Ich glaube, wir erfüllen damit auch einen Teil des politischen Vermächtnisses von Konrad Adenauer. Am Beginn des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland wies er in der ersten Regierungserklärung auf die politische Aufgabe und die moralische Verpflichtung hin, die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, namentlich, wie er sagte, mit Frankreich und Polen, zu suchen und die Verständigung mit dem Staat Israel und die Aussöhnung mit den Juden in aller Welt zu erstreben.
Mit dem deutsch-polnischen Vertragswerk wollen wir nach leidvollen Kapiteln in der langen Geschichte unserer Länder und Völker nunmehr an die guten Traditionen des friedlichen Zusammenlebens, des fruchtbaren kulturellen und wirtschaftlichen Austauschs und der Begegnung der Menschen anknüpfen.
Meine Damen und Herren, weder Kriege noch Völkermord, weder Verfolgung noch Vertreibung, weder rassische Überheblichkeit noch ideologische Verblendung haben diese Tradition auslöschen können; denn hinter dieser Tradition stand die verbindende Idee der gemeinsamen Freiheit.
Vor 200 Jahren gab sich Polen die erste geschriebene freiheitliche Verfassung Europas. Sie wurde den mächtigen Nachbarn Polens zum Vorwand für die zweite polnische Teilung. Aber sie entfachte bei den Völkern Europas, die nach Freiheit und verfassungsmäßigen Ordnungen drängten, ein Fanal. Dies galt vor allem in den Staaten des zersplitterten Deutschland, in denen die Ideen von Freiheit und nationaler Einheit im Bewußtsein der Bürger immer stärker wurden.
Damals wurde - wir sollten dies nie vergessen - der Grundstock der Freundschaft zwischen Polen und Deutschen aus dem Geist gemeinsamer Freiheit gelegt. In dieser Tradition stand das Hambacher Fest 1832. In einer besonders schweren Stunde der polnischen Geschichte fanden sich deutsche, polnische und französische Patrioten unter dem Wort zusammen:
Ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit, ohne Polens Freiheit kein dauerhafter Friede, kein Heil für die europäischen Völker.
Es ist eine bewegende Erfüllung dieser Worte von
Hambach, daß sich heute Polen in wiedererrungener
Freiheit und Selbständigkeit und Deutschland in wiedergewonnener Einheit und Freiheit die Hand zum Frieden und zu guter Nachbarschaft reichen.
Wer bedenkt, meine Damen und Herren, wie wenige Jahre ihrer langen Geschichte Deutsche und Polen gemeinsam und gleichzeitig unter freiheitlich-demokratischen Verfassungen zusammengelebt haben, kann den Rang des uns heute vorliegenden Vertragswerks ermessen.
Dieses Vertragswerk krönt eine intensive Phase deutsch-polnischer Beziehungen, die 1989, im Jahre der großen europäischen Freiheitsrevolutionen, einen ersten Höhepunkt erlebte.
Polens erneuter Kampf um Freiheit und Selbständigkeit hatte bereits 1980 auf der Danziger Leninwerft begonnen. 1989 geschah der Durchbruch. Er wurde von den Parteien und den gesellschaftlichen Gruppen am Runden Tisch vorbereitet. Nach den Juni-Wahlen wurde Tadeusz Mazowiecki erster nichtkommunistischer Ministerpräsident. Er wies Polen den Weg zur Demokratie, zum Pluralismus und zur Marktwirtschaft. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben ihn dabei von Anfang an nachhaltig unterstützt; denn wir waren der gemeinsamen Überzeugung, daß der Weg der Freiheit, der Weg der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen in anderen Teilen Europas nur dann eine Chance haben würde, wenn er in Polen gelänge.
Der polnische wie auch der ungarische Weg zu Freiheit und Selbständigkeit wurde 1989 zum Hoffnungszeichen auch für die Menschen in der früheren DDR. Am Abend des 9. November 1989, des Tages, an dem die Mauer fiel, sprach ich bei meinem offiziellen Besuch in Polen mit dem heutigen Staatspräsidenten Lech Walesa. Ich werde dieses Gespräch nie vergessen; denn wir waren uns vor allem auch einig, daß die deutsche Einheit jetzt sehr rasch kommen werde. Er hat mir damals zugesagt, den Weg der Deutschen zur Einheit in freier Selbstbestimmung nachhaltig zu unterstützen.
Ich erinnere in dieser Stunde daran, daß Polen zu den ersten Ländern gehörte, die entschieden für die Mitgliedschaft des vereinten Deutschland im Nordatlantischen Bündnis eingetreten sind. Dies lag im Interesse der deutschen, der polnischen und der gesamteuropäischen Sicherheit.
({0})
Meine Damen und Herren, untrennbar mit unserem Weg zur Einheit verbunden war auch die Bestätigung der Grenzen des vereinten Deutschland. Der Deutsche Bundestag und die damals schon frei gewählte Volkskammer der DDR haben in ihren Entschließungen vom 21. und 22. Juni 1990 ihrem Willen Ausdruck gegeben, daß der Verlauf der Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und der Republik Polen durch einen völkerrechtlichen Vertrag endgültig bekräftigt werden sollte. Dieses Votum entsprach dem Willen der großen Mehrheit unseres Volkes, ausgedrückt durch seine frei gewählten Parlamente. Es fand in zwei völkerrechtlichen Verträgen seinen Ausdruck: im ersten Artikel des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, des sogeBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
nannten Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 14. September 1990, und in dem nach Vollzug der deutschen Einheit mit der polnischen Regierung ausgehandelten und am 14. November 1990 in Warschau unterzeichneten Vertrag über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze.
Diese Verträge waren unabdingbare Voraussetzungen dafür, daß wir Deutsche unseren Weg zur Einheit in Frieden und Freiheit im Einvernehmen mit allen Partnern, insbesondere mit allen Nachbarn, vollenden konnten. Aber nicht nur dies: Beide Vertragspartner im Gesamtvertrag waren entschlossen, zugleich ihrer europäischen Friedensverantwortung im Geist des eben erwähnten Hambacher Festes von 1832 gerecht zu werden.
Meine Damen und Herren, es ist für die Geschicke und die friedliche Entwicklung unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung, daß Deutsche und Polen in der Mitte Europas die bestehenden Grenzen achten, Brücken der Begegnung bauen und den friedlichen Austausch verstärken.
({1})
Dies ist zugleich eine Botschaft an andere Völker unseres Kontinents, die aufgerufen sind, eine leidvolle Vergangenheit durch friedlichen Ausgleich zu überwinden und gemeinsam eine Zukunft, gegründet auf Vertrauen und gute Nachbarschaft, aufzubauen.
Als Teil unserer europäischen Friedensverantwortung und damit auch als Teil unserer Botschaft an andere Völker unseres Kontinents bekennen wir uns auch dazu, daß Grenzen nicht nur trennen, sondern endlich auch verbinden sollen. Wir wollen, daß die Menschen dies auch praktisch erfahren. Wir wollen dies vor allem auch an jener Grenze, die Deutschland und Polen trennt.
({2})
Ich bin deshalb mit Nachdruck dafür eingetreten, im deutsch-polnischen Reiseverkehr die Sichtvermerkspflicht abzuschaffen. Wir haben nach schwierigen Verhandlungen unsere Partner im sogenannten Schengener Abkommen für diese Politik gewonnen und konnten im April dieses Jahres den visumfreien Reiseverkehr verwirklichen.
({3})
Ich freue mich, daß trotz bedauerlicher Anfangsschwierigkeiten - diese sind nicht zu leugnen - jetzt Deutsche und Polen diese neue Möglichkeit zum Austausch und zur Begegnung umfassend nutzen. Der Reiseverkehr zwischen unseren Ländern hat sich seit Öffnung der Grenze vervielfacht.
In europäischer Verantwortung setzen wir auch alles daran, zu verhindern, daß die politisch überwundene Grenze sich nunmehr als eine Art Wohlstandsgrenze verfestigt. Aufblühende Grenzregionen und gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit über die Grenze hinweg - dies ist unser Ziel. Nach dem Vorbild und nach den Erfahrungen, die wir in über 40 Jahren vor allem an der Westgrenze unseres Landes gewonnen haben, sollten wir alles tun, um auf diesem Weg möglichst rasch zu vergleichbaren Verhältnissen an Oder und Neiße zu kommen. Wir haben deshalb vorgeschlagen, in einer deutsch-polnischen Kommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit vieles von dem, was wir uns in diesem Zusammenhang wünschen, endlich zu realisieren. Eine entsprechende Vereinbarung wurde im Juni dieses Jahres unterzeichnet.
Aufgabe der Kommission, die ihre Arbeit bereits aufgenommen hat, muß es sein, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Regionen, der Städte und Gemeinden und der Bürger - kurzum: die grenzüberwindende Initiative „von unten" - zur selbstverständlichen Normalität zu machen.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang das ganz besondere Engagement unserer neuen grenznahen Bundesländer für diese Zusammenarbeit. Ich würdige an dieser Stelle insbesondere den großen persönlichen Einsatz von Ministerpräsident Gomolka als Polenbeauftragter der Bundesländer sowie der Ministerpräsidenten Stolpe und Biedenkopf.
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Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang will ich auf eine besonders dringende Aufgabe hinweisen, nämlich auf das Thema grenzüberschreitender Umweltschutz. Wer sich die extrem hohen Umweltbelastungen im oberschlesischen Industriegebiet oder in den Grenzgewässern vor Augen führt, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie groß diese Aufgabe ist. Mit der Gründung eines Umweltrates mit Polen, wie es ihn sonst nur mit unserem Nachbarn Frankreich gibt, haben wir ein Instrument geschaffen, um gemeinsam mit unseren polnischen Partnern diese Aufgabe zu lösen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am 17. Juni dieses Jahres habe ich mit Ministerpräsident Bielecki den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Er gründet auf der gemeinsamen Erklärung, die ich mit Ministerpräsident Mazowiecki am 14. November 1989 in Warschau unterzeichnet hatte. Bereits mit dieser alle Bereiche der Beziehungen umfassenden Erklärung wurde das deutsch-polnische Verhältnis auf eine neue Grundlage gestellt. Mit dem Vertrag, der Ihnen heute vorliegt, werden die politischen Willenserklärungen von 1989 in den Bereich vertraglicher Verpflichtungen erhoben. Der Vertrag ist damit Grundlage und Handlungsrahmen für eine umfassende Zusammenarbeit und zukunftsgewandte Nachbarschaft beider Länder und Völker in einem zusammenwachsenden Europa. Mit diesem Vertrag setzen wir auf eine dynamische Vorwärtsbewegung zwischen unseren Völkern. Sie soll vor allem den Menschen in unseren Ländern zugute kommen.
Wir werden und wollen verstärkt zusammenarbeiten in der Politik einschließlich der Sicherheitspolitik, in Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, im kulturellen Austausch, im Bereich der humanitären Fragen und nicht zuletzt bei der Begegnung der Menschen, vor allem der jungen Generation.
Wir knüpfen für die Zukunft ein dichtes Netz der politischen Konsultationen. Dazu gehört, daß sich die Regierungschefs jährlich treffen und im übrigen in unmittelbarem persönlichen Kontakt stehen. Diese Verabredung hat sich gerade angesichts der jüngsten Ereignisse in der Sowjetunion in den letzten Wochen bereits sehr bewährt.
Mit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag stellen wir unsere Beziehungen, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen, bewußt in den größeren europäischen Rahmen, der durch die Charta von Paris für ein neues Europa gestaltet wird. Polen hat die „Rückkehr nach Europa" in enger Partnerschaft mit Deutschland zum Kernanliegen seiner Reformpolitik gemacht. Ziel ist insbesondere die rasche Annäherung Polens an die Europäische Gemeinschaft. Diese mutige Reformpolitik Polens erfordert die Öffnung zur Gemeinschaft hin, erfordert aber auch die Abstützung durch die Gemeinschaft.
Die Bundesrepublik Deutschland hat die polnische Wirtschaftsreform von Anfang an mit bedeutenden finanziellen Leistungen unterstützt. Insbesondere leisten wir den größten Beitrag zur Lösung des Problems der polnischen Auslandsverschuldung. Natürlich können wir Deutsche - zusätzlich zu den Aufgaben, die sich uns durch die deutsche Einheit stellen - Polen nicht allein helfen, die Folgen von über 40 Jahren kommunistischer Mißwirtschaft zu überwinden. Ich sage auch an dieser Stelle: Gefordert sind die Hilfe und die Unterstützung seitens aller westlichen Industrieländer, vor allem auch der Europäischen Gemeinschaft.
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Aber wir Deutschen stehen als größter Handels- und Wirtschaftspartner in einer besonderen Verantwortung, Polen den Weg zur Europäischen Gemeinschaft zu erleichtern; genau dies sagen wir auch im Nachbarschaftsvertrag zu.
Ich freue mich, feststellen zu können, daß wir dabei mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft übereinstimmen. Der Europäische Rat in Luxemburg und die kürzlich gefaßten Beschlüsse beim EG-Außenministertreffen haben dieses Ziel noch einmal unterstrichen. Dabei wurde einmütig gefordert, die Assoziierungsverträge mit Polen wie auch mit Ungarn und der CSFR bald, d. h. in den nächsten Monaten, fertig zu verhandeln. Diese Reformstaaten erwarten zu Recht, daß die Staaten der Gemeinschaft ihnen rasch und wirksam entgegenkommen. Angesichts mancher banger Erwartungen für die nächsten Monate, insbesondere für den kommenden Winter, kann ich nur unterstreichen: Wer jetzt schnell hilft, hilft in der Tat nicht nur schnell, sondern auch doppelt.
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Meine Damen und Herren, ich begrüße ganz besonders, daß die geplanten Assoziierungsabkommen auch den politischen Dialog der Europäischen Gemeinschaft mit den Reformstaaten verankern. Mit den Assoziierungsverträgen wollen wir ihnen zugleich die Perspektive eröffnen, dann, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten. Auch mit diesen Ländern wollen wir dann in einer größeren Europäischen Union zusammenleben. Es muß Ziel vernünftiger deutscher Politik sein, daß die zukünftige wirtschaftliche und politische Union Europas nicht an den Ostgrenzen Deutschlands endet, sondern daß wir darüber hinaus unsere östlichen und südöstlichen Nachbarn einbeziehen.
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Auch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik will Polen Teil des neuen, ungeteilten Europas sein. Wir wollen dieses Bestreben unterstützen. Polen sieht, wie auch andere Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, im Nordatlantischen Bündnis einen unverzichtbaren Stützpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur. Präsident Walesa hat dies vor kurzem bei seinem Besuch bei der NATO sehr deutlich gemacht. Er hat sich zur Wertegemeinschaft der Demokratien bekannt. Er hat den Sicherheitsverbund zwischen Europa und Nordamerika als unerläßlich bezeichnet, um auch Polens Sicherheit zu gewährleisten.
Ich begrüße diese Aussage. Wir wollen Polen wie auch die anderen mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten dabei unterstützen, enge und vertrauensvolle Beziehungen zu unserem Bündnis zu entwickeln.
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Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg nach Europa wird Polen zurückgelegt haben, wenn es nach den ersten vollständig demokratischen Sejm-Wahlen im Herbst dem Europarat beitritt. Diese erste freiheitliche europäische Organisation verkörpert in besonderem Maße das kulturelle und rechtsstaatliche Erbe unseres Kontinents. Mit der Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention wird Polen sich zu dieser Tradition bekennen.
Im Geiste des neuen Europas regelt der Nachbarschaftsvertrag auch eine Frage, die die deutsch-polnischen Beziehungen lange Zeit belastet hat: die Frage der Minderheiten. Dieses für uns, die Bundesregierung, bei den Verhandlungen zentrale Anliegen ist im Nachbarschaftsvertrag zukunftsweisend und, wie ich denke, vorbildlich geregelt.
Wer sich an die Zwischenkriegszeit oder aber an die Zeit seit 1945 erinnert, kann ermessen, was es bedeutet, daß die deutsche Minderheit in Polen jetzt förmlich anerkannt und daß ihre Entfaltung in der angestammten Heimat nach europäischem und internationalem Rechtsstandard gewährleistet und gefördert wird. Gleiche Rechte gelten selbstverständlich für die bei uns wohnenden polnischen Bürger.
Zukunftsweisende Regelung nach europäischen Standard bedeutet: Erstens. Wichtige KSZE-Dokumente, vor allem das Abschlußdokument der Kopenhagener Menschenrechtskonferenz, die ihrer Natur nach politisch verbindliche Erklärungen sind, werden im deutsch-polnischen Verhältnis in den Rang völkerrechtlicher Verpflichtungen erhoben.
Zweitens. Die Standards aller wichtigen internationalen und europäischen Menschenrechtskonventionen sind vom Vertrag mitumfaßt. Und der Vertrag
berücksichtigt auch schon weitere europäische Entwicklungen, die zu erwarten sind. Ich denke an die künftigen KSZE-Dokumente, die dabei von großer Bedeutung sein werden.
Drittens. Deutsche und Polen entwickeln mit ihrem Nachbarschaftsvertrag den europäischen Standard weiter, etwa mit dem Recht der Minderheit auf gleichberechtigten Zugang zu den Medien ihrer Region und mit der Verpflichtung der Staaten, Fördermaßnahmen der jeweils anderen Seite zu ermöglichen und zu erleichtern.
Viertens. Mit dem Nachbarschaftsvertrag geben wir der gesamteuropäischen Entwicklung der Menschen-und Minderheitenrechte einen deutlichen Impuls.
Wir wissen uns mit alledem im Einklang mit dem besonderen Anliegen, das Papst Johannes Paul II. in diesen Tagen in Mariapocz in Ungarn ausgesprochen hat.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch feststellen, meine Damen und Herren, daß der Nachbarschaftsvertrag auf polnischer Seite wie bei uns unmittelbar - ich unterstreiche dies: unmittelbar - in innerstaatliches Recht umgewandelt wird. Jedermann kann sich wirksamer Rechtsmittel zur Durchsetzung seiner Rechte bedienen.
Nicht zuletzt ist die Minderheitenfrage Gegenstand der vereinbarten politischen und diplomatischen Konsultationen. Sie steht damit - wann immer es notwendig ist - auf der Tagesordnung der jährlichen Treffen der Regierungschefs.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, weitere Verbesserungen des Status der Minderheiten sind aus unserer Sicht wünschenswert. Einige werden sich im weiteren Fortgang des KSZE-Prozesses herausbilden. Andere sind im Briefwechsel der Außenminister konkret angesprochen: offizielle topographische Bezeichnungen in deutscher Sprache, Mitwirkung von Vertretern der Minderheiten an sie betreffenden Entscheidungen und Niederlassungsmöglichkeiten für Deutsche in Polen; hier werden sich im Zuge der Annäherung Polens an die Europäische Gemeinschaft Lösungen abzeichnen, die hilfreich sind für eine gute gemeinsame Zukunft.
Im Briefwechsel der Außenminister ist auch festgehalten, daß sich der Vertrag nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit und nicht mit Vermögensfragen befaßt.
Ich bin überzeugt, daß die in Polen lebenden Deutschen - wie längst die bei uns lebenden Polen - bereits auf der Grundlage des Vertrags umfassende Möglichkeiten zur Wahrung ihrer Identität haben, Möglichkeiten, an die sie selbst noch vor kurzer Zeit kaum glauben konnten.
({9})
Jetzt gilt es, diese Chancen ganz konkret zu nutzen.
Auch über diesen Vertrag hinaus beobachten wir positive Entwicklungen: So gibt es inzwischen in Polen deutschsprachige Radiosendungen, so ist die Nachfrage nach Deutschunterricht in Polen sprunghaft gestiegen. Für die deutsche Minderheit - wie auch für Polen allgemein - werden sehr viel mehr Deutschlehrer benötigt, als wir zur Verfügung stellen können.
({10})
Ich glaube - wenn ich das bei dieser Gelegenheit hinzufügen darf - , daß wir uns sehr bald einmal auch im zuständigen Ausschuß des Parlaments darüber unterhalten sollten, was wir angesichts der dramatischen Veränderungen in Mittel-, Ost- und Südeuropa mehr für unsere Muttersprache tun können und tun wollen.
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Ich will jedenfalls sagen, daß ich dem gegebenen Versprechen bald nachkommen möchte, im Ausschuß darüber mit den Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren und zu Beschlüssen zu kommen, wenn auch Sie dies wünschen; ich wünsche es jedenfalls.
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Nicht zuletzt ist in dieser Aufzählung positiver Entwicklungen zu nennen: Die deutsche Minderheit wird bei den ersten vollständig demokratischen SejmWahlen im Oktober mit eigenen Kandidaten antreten können und auch antreten.
Dies alles, meine Damen und Herren, fügt sich zu einem Gesamtbild: Der Nachbarschaftsvertrag schließt in der Frage der Minderheiten ein leidvolles Kapitel der Geschichte ab und spiegelt einen neuen Geist in den Beziehungen unserer Länder und Völker wider.
Meine Damen und Herren, in neuem Geiste haben wir auch die Türen für die Begegnung der Menschen, insbesondere der jungen Generation, weit geöffnet. Zusammen mit dem Nachbarschaftsvertrag wurde das Abkommen über die Errichtung des deutsch-polnischen Jugendwerkes unterzeichnet. Wir wollen damit an die hervorragenden Erfahrungen mit dem deutschfranzösischen Jugendwerk anknüpfen. Wir wollen durch vielfältige Begegnung und gemeinsame Erfahrungen der Jugend unserer Völker die deutsch-polnische Aussöhnung fest in der jungen Generation verankern und damit - das ist entscheidend - unumkehrbar machen.
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Der Nachbarschaftsvertrag setzt im übrigen auf breitgefächerten Austausch: in Kultur und Wissenschaft, in der Wirtschaft und auf dem Gebiet der beruflichen Aus- und Fortbildung und nicht zuletzt auch bei den Streitkräften. Wer hätte sich vor wenigen Jahren vorstellen können, daß deutsche und polnische Soldaten gemeinsam nach Lourdes pilgern und gemeinsam am Jugendtreffen in Tschenstochau teilnehmen?
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Ich begrüße gerade auch in diesem Zusammenhang die enorme Zunahme der Städtepartnerschaften, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ich nenne als als ein besonders gutes Beispiel den kürzlich unter3248
zeichneten Partnerschaftsvertrag der beiden Hauptstädte Berlin und Warschau.
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Deutsche und Polen haben ihren unverwechselbaren Beitrag zum kulturellen Erbe Europas geleistet. Mit einem umfassenden Kulturaustausch ohne die Fesseln des vergangenen Systems, mit der Eröffnung von Kulturinstituten, der Verstärkung des Sprachunterrichts und vielem anderen mehr öffnen wir die Tore für mehr Verständnis untereinander.
Wir wissen, daß dies auch eine grundlegende politische Bedeutung hat, die wir gerade angesichts der leidvollen deutsch-polnischen Geschichte gar nicht hoch genug einschätzen können. Wer die geistigen und kulturellen Leistungen anderer Völker, vor allem auch der Nachbarn, kennt und achtet, ist gegen Rückfälle in ideologische Verblendung und nationale Überheblichkeit gefeit.
Der Nachbarschaftsvertrag regelt ein humanitäres Anliegen, das uns viele Jahrzehnte schmerzhaft bewußt gewesen ist, jetzt in einem versöhnenden Geist: Er stellt die Gräber, insbesondere auch alle Opfer der Kriege und Gewaltherrschaft, unter den Schutz der Gesetze. Er ermöglicht, daß sie gepflegt und erhalten werden können. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß gerade dann, wenn sich Deutsche und Polen im Gedenken an ihre Toten zusammenfinden, Versöhnung gestiftet werden kann.
Der Bundesregierung ist bewußt, daß seit Jahren im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit beider Länder über ein menschliches und moralisches Anliegen nachgedacht wird, das in der schrecklichen Kriegszeit wurzelt. Es geht darum, polnischen Bürgern, die unter nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen besonders schlimm zu leiden hatten, wenigstens eine gewisse materielle Entschädigung zu bieten. So ist die Errichtung einer eigenen Stiftung vorgeschlagen.
Die Bundesregierung steht hierzu mit der polnischen Regierung in Verbindung und wird dem Deutschen Bundestag sehr bald Lösungsmöglichkeiten vorschlagen. Schon jetzt möchte ich aber betonen, daß es dabei nur um eine Entschädigung in ausgesprochenen Härtefällen gehen kann.
Ferner verweise ich darauf, daß in den Gesamtzusammenhang des deutsch-polnischen Vertragswerks, über das wir heute beraten, auch das Abkommen über soziale Sicherheit gehört. Auch dieses Abkommen schlägt auf dem wichtigen Gebiet der Renten und sonstigen Sozialversicherungsleistungen den in Europa üblichen Weg ein: Jeder erhält Rente von dort, wo er seine Rechte erworben hat. Das Abkommen wird noch in diesem Jahr in Kraft treten.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist sich bewußt, daß das deutschpolnische Vertragswerk, das wir heute beraten, von nicht wenigen unserer Landsleute nicht leichten Herzens akzeptiert wird. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die durch Flucht und durch Vertreibung ihre Heimat jenseits von Oder und Neiße verloren haben.
Jeder, der sich die jahrhundertelange Geschichte des deutschen Ostens vor Augen hält, weiß um die schmerzvollen Gefühle, die in der tiefen Verbundenheit mit der alten Heimat - in Schlesien, in Ost- und Westpreußen, in Pommern und Danzig - wurzeln. Gerade in dieser Stunde gilt diesen Mitbürgern unsere besondere Achtung und herzliche Verbundenheit.
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Auch in den Präambeln der beiden Verträge ist ihrer im Geist der Versöhnung gedacht.
Ich nehme erneut die Gelegenheit wahr, in dieser Stunde die große moralische Kraft, mit der die Heimatvertriebenen bereits 1950 in ihrer Charta von Stuttgart auf Rache und Vergeltung verzichtet haben, zu würdigen. Sie sind damit schon frühzeitig einen ersten großen Schritt zur Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn vorangegangen.
Sie haben sich in dieser Charta auch zur Einigung Europas bekannt. Es ist heute für uns eine beglükkende Erfahrung, daß sich gerade auf dem Weg beider Völker zum vereinten Europa Lösungen abzeichnen, die ein wichtiges Anliegen dieser Mitbürger der Erfüllung näherbringt: beim Wiederaufbau ihrer alten Heimat mitwirken zu können.
Dank des Nachbarschaftsvertrages sind wir zudem mehr als bisher in der Lage, uns für die dort verbliebenen Deutschen einzusetzen. Diese Menschen haben in der Kriegs- und Nachkriegszeit großes Leid erdulden müssen. Sie können zu Recht unsere Solidarität erwarten.
Die von mir geführte Bundesregierung ist deshalb entschlossen, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, daß diesen Menschen ihr Los erleichtert wird, damit sie für sich, für ihre Kinder, für ihre eigenen Familien in der angestammten Heimat eine lohnende Zukunft sehen.
Meine Damen und Herren, der Nachbarschaftsvertrag ermöglicht es auch, Orte und Kulturgüter in den Heimatgebieten, die von deutschen geschichtlichen Ereignissen, von kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen zeugen, zu erhalten. Ja, der Vertrag ruft geradezu dazu auf, auf diesem Gebiet gemeinsame deutschpolnische Initiativen zu ergreifen.
Wir sollten uns auch dieser Aufgabe in Solidarität intensiv widmen. Insbesondere zähle ich dabei auf das Engagement der Heimatvertriebenen, sowohl bei der Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes als auch bei den vielfältigen Aufgaben auf humanitärem und sozialem Gebiet.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch in dieser Stunde und an dieser Stelle den vielen Persönlichkeiten, Gruppen und Organisationen danken, die sich in schwierigen Jahren angesichts zunächst unüberwindlich scheinender politischer und psychologischer Barrieren dafür eingesetzt haben, den Teufelskreis von Unrecht, Rache und Gewalt zu durchbrechen und die deutsch-polnische Verständigung und Versöhnung auf einen guten Weg zu bringen.
({17})
Ich stehe nicht an und möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, Herr Kollege Brandt, dabei meinen besonderen Respekt zu bezeugen.
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Unser besonderer Dank gehört auch dem Beitrag, den die Kirchen beider Länder zur Versöhnung geleistet haben. Unvergessen bleibt das bewegende Schreiben, das die katholischen Bischöfe Polens beim II. Vatikanischen Konzil 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder gerichtet haben - ich zitiere -:
Im allerchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin: Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.
Und die deutschen Bischöfe antworteten:
Eine Aufrechnung von Leid und Unrecht kann uns freilich nicht weiterhelfen.... Wir bitten um Verzeihung.
Im gleichen Jahr erleichterte die Evangelische Kirche mit ihrer Denkschrift den Weg zur Versöhnung der Menschen und zur politischen Verständigung der Staaten.
Unvergessen bleibt auch der Friedensgottesdienst in Kreisau am 12. November 1989 und die ernste Mahnung des Oppelner Bischofs Nossol zur wahren Vergebung, zum gegenseitigen Verzeihen, und zwar aus freier Entscheidung christlicher Nächstenliebe.
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Ich danke auch den vielen Bürgern - ({20})
- Entschuldigung, Herr Kollege, ich habe das doch gerade gesagt.
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- Das ist ein Teil unseres Problems im Haus.
Ich danke auch den vielen Bürgern, die in den schwierigen Jahren des Kriegsrechts bis heute ganz praktisch tätige Nächstenliebe bewiesen haben.
Deutsch-polnische Versöhnung kann nicht durch Regierungen verordnet oder durch Vertragspflichten begründet werden. Im Gegenteil, das Werk der Versöhnung kann nur gelingen, wenn unsere beiden Völker sich dazu bekennen, wenn jeder Deutsche und jeder Pole es auch als seine persönliche Aufgabe annimmt. Mit dem Vertragswerk haben die Regierungen das Feld bereitet für gute Nachbarschaft, enge Partnerschaft, freundschaftliche Zusammenarbeit.
Meine Damen und Herren, selten zuvor hat eine Bundesregierung ein Vertragswerk ins parlamentarische Verfahren eingebracht, zu dessen Inhalt sich der Deutsche Bundestag bereits zuvor so umfassend und zustimmend geäußert hat: Ich erinnere an die überwältigende Mehrheit, mit der der Deutsche Bundestag am 21. Juni 1990 seine Entschließungen über die endgültige Bestätigung der deutsch-polnischen Grenze verabschiedet hat, und ich erinnere an das einstimmige Votum, mit dem sich der deutsche Bundestag am 16. November 1989 die deutsch-polnische Gemeinsame Erklärung zu eigen gemacht hat.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, aus dem Geist dieser Gemeinsamkeit heraus zu einem möglichst einmütigen Votum über das vorliegende Vertragswerk zu kommen. Eine solche Entscheidung würde weit über den Tag hinaus unseren parteiübergreifenden Konsens in einer Grundsatzfrage bekunden, an der hierzulande und auch weltweit der politische Wille und die moralische Statur des vereinten Deutschlands gemessen wird: an unserem Verhältnis zum Nachbarn Polen.
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Jetzt hat der Abgeordnete Hans Koschnick das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute zur Beratung anstehenden Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit geben mir die Möglichkeit, für die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei im Deutschen Bundestag einige grundsätzliche Anmerkungen zu machen und Ihnen zugleich die Zustimmung zu unserem eingebrachten Entschließungsantrag zu empfehlen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir uns in dieser Stunde an die Ansätze einer neuen Politik gegenüber den im Warschauer Pakt vereinten Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas. Es war der Außenminister in der großen Koalition, Willy Brandt, der bereits damals im Einvernehmen mit dem Bundeskabinett die Kurskorrektur des westlichen Bündnisses auf der NATO-Tagung in Reykjavik anregte, eine Kurskorrektur, die im Harmel-Bericht ihre strukturelle Begründung fand.
Es war ein geradliniger Weg, der - wenngleich jetzt von der sozialliberalen Koalition vorangetrieben - über die Verträge von Moskau und Warschau, Budapest und Prag sowie über den nicht minder bedeutsamen Grundlagenvertrag mit der DDR zu einer Auflösung der Eiszeit zwischen Ost und West führte
({0})
und zukunftsgerecht auf der KSZE-Konferenz in Helsinki mit der Schlußakte vom 1. August 1975 zum Grundstein des nun allmählich folgenden Abbaus des Kalten Krieges wurde.
Diese Schlußakte, Politikverpflichtung nicht nur für die in unterschiedlichen Bündnissen vereinten Kontrahenten im Ost-West-Konflikt, sondern besonders bedeutungsvoll wegen der Einbeziehung der blockungebundenen Staaten Europas, eben diese Schlußakte wurde die Basis für ein neues, wenn auch nicht immer störungsfreies Miteinander in Europa.
Dieses Miteinander trug Früchte. Es war von gleicher Bedeutung wie die Einsicht über die unselige Ressourcenverschwendung als Folge des Wettrüstens. Die anwachsende Bereitschaft bei den militärischen
Supermächten USA und UdSSR, sich auch in Fragen globaler Politik zu verständigen, nachdem Michail Gorbatschow den Kurswechsel in der sowjetischen AuBen- und Sicherheitspolitik eingeläutet hatte und durch konkretes Tun für dieses Vorhaben belegte, schuf eine neue Atmosphäre des Vertrauens.
Begleitet war dieser Prozeß, wie wir alle wissen, von einem Prozeß freiheitlicher Entwicklungen in den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes. Am sichtbarsten - neben der intellektuell so beachtlichen Opposition um die Charta 77 in der CSSR - stand für diesen Aufbruch in eine neue freiheitliche Ara die polnische Volksbewegung Solidarnośc. Trotz Diskriminierung und staatlicher Unterdrückung, trotz Kriegsrecht und anderer Maßnahmen polnischer Staatsmacht wurde sie das Symbol für die freiheitlichen Grundbedürfnisse einer civic society, die sich dann, von Polen ausgehend, genau 200 Jahre nach der Großen Französischen Revolution in Mittel- und Südosteuropa Bahn brach.
Auch die Oppositionskräfte in der DDR hatten von dieser Entwicklung profitiert, hatten Mut gewonnen, offen zum Kampf für eine demokratische Perspektive in Freiheit und sozialer Verantwortung anzutreten.
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Auch sie gewannen die Massen und schufen dadurch die Voraussetzung zum Zusammenbruch eines politisch perfiden und ökonomisch zerrütteten Systems. Am Ende dieses Prozesses stand die Erlangung der deutschen Einheit.
Daß dies möglich wurde, verdanken wir in hohem Grade dem freiheitlichen Behauptungswillen von Solidarnośc, der Bereitschaft von Michail Gorbatschow, nicht wie in den Jahren 1953, 1956 oder 1967 die militärischen Machtmittel des damals noch funktionierenden Sowjetimperiums einzusetzen, sondern den freiheitlich-demokratischen Kräften in den bis dahin kommunistisch beherrschten Ländern Raum zu geben.
Doch eines, meine Damen und Herren, darf dabei nicht übersehen werden: Es waren die Chancen des Korbes III der Schlußakte von Helsinki, die die Bürgerrechtsbewegungen im östlichen Machtbereich ermutigten, den Freiheitskampf erneut aufzunehmen.
({2})
Und gegen eben diese Ergebnisse der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, gegen die Beteiligung der Bundesrepublik an der Konferenz in Helsinki hatte die CDU/CSU in den 70er Jahren gekämpft, polemisiert und die damalige SPD/FDPKoalition mit dem Verdacht der Preisgabe heiligster Güter überzogen.
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Es wäre ungemein reizvoll, hier noch einmal alles aufzuzeigen, was denn die CDU/CSU-Fraktion an Vorbehalten, Bedenken und Ablehnungen damals der Offenlichkeit präsentierte. Im Stile der Ausführungen des Kollegen Dr. Dregger zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers am Mittwoch dieser Woche könnte man dann aufzeigen, in welche zeitgeschichtlichen Irrtümer sich andere verstrickt hatten.
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Doch lassen es wir mit diesem Hinweis genug sein. Die breite Zustimmung zu den heute anstehenden Verträgen ist mir wichtiger als ein zeitgeschichtliches Kolleg über Irrtümer in der Politik.
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Sodann gibt es einen weiteren Grund, lieber Kollege Hornhues, für meine Enthaltung in bezug auf Aufrechnung. Hat doch der Herr Bundeskanzler den zeitgeschichtlichen Fehler der CDU/CSU, namentlich auch der CDU/CSU-Ministerpräsidenten im Bundesrat bei der Abstimmung 1972 zum Warschauer Vertrag, eingesehen, er, der damals vergessen hatte, auf Hambach und andere hinzuweisen, und sich jetzt in seiner Regierungszeit bemüht, die sozialliberale Verständigungspolitik gegenüber Polen fortzusetzen. Dabei haben wir ja auch erleben dürfen, wieviel Widerstand er im eigenen Lager zu überwinden hatte, und zwar nicht nur von CSU-Kontrahenten.
Ich verhehle deshalb nicht meinen Respekt, Herr Bundeskanzler, vor dieser innenpolitischen Leistung, denn ich weiß genau, wie häufig Nominationen, Wahltermine und ähnliches einer freien Willensentscheidung entgegenstehen. Auch gebe ich dem CDUBundesvorsitzenden recht, wenn er sagt, daß auch außerhalb der parlamentarischen Gremien schwierige Überzeugungsarbeit notwendig war, um am Ende zu einer solchen relativen Geschlossenheit bei dem Grenzvertrag zu kommen, wie wir sie bei den Entschließungen des Bundestages erleben konnten.
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Auch ist es sicher richtig, daß beide Verträge mit einem besonderen Blick auf die Heimatvertriebenen gesehen werden müssen, Menschen die neben materiellen Verlusten, wie sie auch die Bombengeschädigten in unseren Städten erlitten, zusätzlich mit dem Verlust angestammter Heimat fertig werden mußten. Sie haben - und ich folge Ihnen hier, Herr Bundeskanzler - zu Recht auf dieses besondere und eben nicht für alle unsere Bürger gleiche Schickal hingewiesen. Dies haben wir Sozialdemokraten immer gesehen und gewürdigt. Doch daß - aus welchen Gründen auch immer - eben diesen sowieso schon schwer getroffenen Mitbürgern politisch nie zu realisierende Hoffnungen auf eine Rückkehr in eine dann wieder deutsch gewordene Heimat gemacht wurden, ist eine Irreführung, deren Folgen wir noch heute in der Verbitterung mancher Heimatvertriebener spüren.
Ich werfe das, meine Damen und Herren, ausdrücklich nicht nur der CDU/CSU-Fraktion oder der Partei vor; alle demokratischen Kräfte haben in der Zeit des Kalten Krieges hier gesündigt. Nur einige haben früher begriffen als andere, daß der Mut zur bitteren Wahrheit heilsamer ist als die Kultivierung unerfüllbarer Hoffnungen. Heimatverlust, Vertreibung, Um- und Aussiedlung hängen für uns unlösbar mit der Hitlerschen Gewaltpolitik zusammen. Er, sein System,
hat das verspielt, für das jetzt eine endgültige Klärung gefunden wurde. Das ist eine schmerzliche Einsicht zudem, wenn man an die Menschen denkt, die im Sudetenland, an der Wolga oder in Siebenbürgen mit Vertreibung oder Verelendung als von Hitler erzwungene Geiseln seiner menschenverachtenden Politik bestraft wurden.
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Deshalb haben wir auch verstanden, daß sich die Verbände und Landsmannschaften, organisierte Heimatvertriebene also, mit besonderer Intensität bei der Vertragsgestaltung einschalteten, daß sie Obhutrechte geltend machten und wegen der häufig familiären oder nachbarschaftlichen Bindungen die Minderheitenregelungen besonders kritisch beurteilen.
Doch die kritische Wegbegleitung ist das eine, neue unredliche Vorschläge mit erkennbarer Irreführungsabsicht sind das andere. Wer etwa den Oberschlesiern verbindlich erkärte, der Bundestag würde nie dem Grenzvertrag zustimmen, um ihnen dann später die unrealistische Perspektive der Bildung einer autonomen europäischen Region unter dem Schutze der EG als reale Möglichkeit anzudienen, der zerstört notwendiges Vertrauen, der mißbraucht Sorgen und Befürchtungen von Menschen,
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die gerade durch die im Vertrag gefundene, den europäischen Standard auf der Basis der Kopenhagener KSZE-Entschließung absichernde Minderheitenlösung zu einem Erkennen ihrer tatsächlichen staatsrechtlichen Situation, aber auch ihre konkreten Ansprüche auf die Entwicklung ihrer kulturellen Identität geführt werden sollten. Ein mir vorliegender Brief im Namen des Zentralrates der Deutschen Gesellschaft in der Republik Polen vom 15. Juni 1991 bezeugt - jedenfalls für mich - , daß der Verfasser nur auf Grund irrealer Informationen zu seinen Vorschlägen kommen konnte. Das ist alles in allem eine für die betroffenen Menschen wenig hilfreiche Handreichung.
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir Sozialdemokraten werden die Interessen der deutschen Minderheit auch im Kontext zu europäischen Menschenrechts- und Mitgestaltungs- sowie Mitverantwortungsvorstellungen vertreten, wo immer es geboten ist. Wir werden den einzelnen Gruppierungen mit Rat und Tat zur Seite stehen, soweit sie es wollen. Wir werden auch hier den Dialog mit den Vertretern der Flüchtlings- und Vertriebenenorganisationen suchen, die mit uns auf ein europäisches Kooperationsmodell hinarbeiten, um bei bewußter Staatsloyalität - das unterstreiche ich - das kulturelle Erbe weiterhin zu pflegen und Brücken für eine überwölbende europäische Rechtsordnung zu bauen, die Freiheit und Demokratie, verantwortliches Miteinander und kulturelle Eigenentwicklung als gesichertes Verständnis gemeinsamer europäischer Wirklichkeit gewährleistet. Wir sind auf dem Weg.
Die Minderheitenregelungen des Vertrages sind Meilensteine auf diesem Wege. Sie bedürfen aber der rechtlichen Absicherung im innerstaatlichen Bereich der Republik Polen. Kolleginnen und Kollegen des Sejm, des polnischen Parlaments, haben mir noch vor sechs Wochen zugesichert, sich darum zu bemühen, in die sich dem Ende zuneigende Verfassungsdiskussion noch die rechtliche innerstaatliche Bindung von völkerrechtlichen Absprachen einzubringen, um auch dadurch unmittelbar einklagbare Rechte für Minderheiten zu gewährleisten. Das ist im jetzigen Abschlußentwurf vorgesehen. Im gleichen Sinne hatte sich zwei Wochen früher Außenminister Professor Skubiszewski gegenüber einer kleinen Delegation unter der Leitung meines Kollegen Gansel geäußert. Ich bin deshalb nicht skeptisch, daß die abgesprochene Minderheitenregelung von Bestand sein wird. Schließlich hat auch die Republik Polen ein Interesse daran, durch sinnvolle, übertragbare Minderheitenregelung nun ihrerseits einen gleichartigen Schutz ihrer Minderheiten in Litauen, Weißrußland und in der Ukraine einzufordern.
Übrigens können Ihnen, meine Damen und Herren, die Kollegen aus Ihren Reihen, die bei der kürzlich beendeten Genfer Konferenz über Minderheiten dabei waren, berichten, wie gerade die polnische Delegation um einen hohen europäischen Standard warb und auf gemeinsame Verwirklichung drängte. Nichts ist so gut, als daß es nicht besser gemacht werden könnte. Doch was hier die beiden Außenminister ausgehandelt haben, läßt sich sehen und zwingt keinen Partner zum an sich Unmöglichen.
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Hohes Haus! Nach diesem Exkurs auf die Konsequenzen der Schlußakte von Helsinki und auf eine auf europäische Absprachen und Standards basierende Minderheitenregelung wende ich mich noch einmal an die hoffentlich kleine Zahl von Gegnern dieser Vertragswerke und bitte sie, zu bedenken, daß diese Verträge in einem ursächlichen Zusammenhang mit der deutschen Einigung stehen.
Nur durch die Absprachen bei den Zwei-plus-VierVerhandlungen unter Einschluß der Pariser Verhandlungen der beiden deutschen Außenminister Genscher und Meckel mit ihren amerikanischen, englischen, französischen und sowjetischen Kollegen, zu denen der polnische Außenminister hinzugetreten war, konnte eine Lösung für die Herstellung der deutschen Einheit gefunden werden, die von allen europäischen Nachbarn auch für sie als tragfähig empfunden wurde. Wer keine Klarheit über Grenzanerkennung, über friedliches und freundschaftliches Miteinander schaffen wollte, hätte nie die Zustimmung zur deutschen Einheit erlangt.
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Auch die Zusagen von Michail Grobatschow gegenüber Bundeskanzler Kohl über den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland wie seine Zustimmung zum Verbleib des dann größeren Deutschlands in der NATO beruhen mit auf der gezeigten Bereitschaft einer breiten Mehrheit in der deutschen Politik zu einer Politik der unmißdeutigen Verständigung und Aussöhnung mit Polen.
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Diese Aussöhnung, meine Damen und Herren, bedarf nach unserer Auffassung aber noch eines Aktes besonderer Würdigung. Ich spreche hier von der von uns zu gewährenden Unterstützung für die Opfer Hitlerscher Gewaltherrschaft, die sich in deutschen Häftlingslagern befanden und zu Zwangsarbeit gezwungen wurden.
Uns geht es hier nicht um eine Diskussion darüber, warum die DDR nicht - wie wir gegenüber den Menschen aus den westlichen Nachbarstaaten oder Israel - ihren damaligen Partnern in der von der NS-Barbarei so schrecklich getroffenen kommunistischen Staatenwelt mit Wiedergutmachungsleistungen beistand. Die Nachkriegsabsprachen zwischen den Siegermächten hätten dem jedenfalls entsprochen. Uns geht es darum, nicht zu übersehen, daß in Polen viele Tausende von Menschen leben, die Schaden an Leib und Leben durch deutsche Verfolgungsmaßnahmen genommen haben und die zumindest eine moralische Anerkennung ihrer Leiden erwarten.
Wir wissen, daß sich der Bundeskanzler hier in Verhandlungen mit der polnischen Regierung befindet und auch eine Lösung von staatlicher Seite einvernehmlich von beiden Seiten angestrebt wird. Auf die Dringlichkeit dieser Entscheidung habe ich Bundeskanzler Kohl vor geraumer Zeit aufmerksam gemacht, nachdem ich erfahren hatte, wie sonst in der Auf wärmung alter Ressentiments während der Ratifizierungsdebatte im Sejm, mehr aber noch im bevorstehenden Wahlkampf in Polen die guten Ansätze einer bewußt deutsch-polnischen Zusammenarbeit zerredet werden und mit kontraproduktiver Wirkung auf uns zurückschlagen können.
Doch eines wollen wir mit unserem Entschließungsantrag erreichen, auch wenn die Koalition ihn deshalb nicht für unterstützungswürdig hält: Wir wollen Teile der deutschen Wirtschaft zumindest moralisch in die Pflicht zu Mitleistungen für den Entschädigungsfonds nehmen, die Teile jedenfalls, die aus der Zwangsarbeit der polnischen Frauen und Männer ihren damals nicht unerheblichen Profit gezogen haben.
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Gerade jüngste Meldungen über die Nichtbereitschaft zur materiellen Mitleistung für Vorteile aus Zwangsarbeit haben diesen Teil unseres Antrages dringlich gemacht.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie es nicht zu, daß in Fragen von Moral und Gerechtigkeit nur Reuebekundungen und nicht Hilfsleistungen, um nicht von Bußleistungen zu sprechen, geboten werden.
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Treten Sie mit ein für eine Mitleistung dieser Firmen!
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich komme zum Schluß. Über die von uns gesehene besondere Bedeutung der grenznahen und regionalen Zusammenarbeit sowie über die bilaterale Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Umweltschutzes wird mein Kollege Meckel sprechen. Frau Terborg wird mit Schwerpunkt die von uns begrüßte Einrichtung eines deutsch-polnischen Jugendwerkes - wie ich annehme, mit Sitz im Land Brandenburg - behandeln. Ich will deshalb nur die Frage aufwerfen, wie ernst wir es denn in der Bundesrepublik Deutschland und hier im Deutschen Bundestag mit der Zusage der Unterstützung Polens, Ungarns und der ČSFR bei ihren Bemühungen um Aufnahme in die EG nehmen.
Zu oft hörte ich bei verschiedensten Gelegenheiten die Argumentation, zuerst müsse es zur Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft kommen, dann erst könne man vielleicht über eine Verbreiterung nachdenken. Dies wird nicht nur von westlichen Regierungen so zu verstehen gegeben, sondern auch von Kolleginnen und Kollegen aus diesem Hohen Haus.
Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihnen, meine Damen und Herren aus den Fraktionsführungen: Wenn wir hier nicht sehr bald und sehr eindeutig erklären, daß diese Zusage der Bundesregierung wirklich ernst gemeint ist und von uns unterstützt wird, also kein Lippenbekenntnis ist, dann sehen wir alt aus in den Ländern, die auf ihre Weise einen Beitrag zur deutschen Einigung geleistet haben.
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Lassen Sie es nicht zu, daß hier das Mißtrauen wächst, man wolle die mitteleuropäischen Länder Polen, ČSFR und Ungarn dauerhaft mit Assoziierungsabkommen abspeisen.
(
Das will doch keiner!)
Wir wissen um die Dauer des Weges, aber wir wollen mit Polen und Tschechen, Slowaken und Ungarn in einer Europäischen Gemeinschaft vereint sein. Eine solche Gemeinschaft entspricht einem alten Anliegen der Sozialdemokratie zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Die Form zu diesem Europa muß noch gefunden werden. Maastricht, Herr Bundeskanzler, ist nicht mehr sehr weit entfernt. Die Regierungen der Mitgliedstaaten der EG müssen Ende des Jahres bekennen, wie sie es mit einem künftig geschlossenen Europa halten.
Bleiben Sie, Herr Bundeskanzler, bei Ihrer Zusage für Polen; Sie können sich auf die Zustimmung der Gutwilligen verlassen.
Meine Damen und Herren, damit habe ich zur Sache gesagt, was ich für notwendig halte. Ich muß aber noch etwas zum Verfahren sagen. Das gebe ich ausdrücklich zu Protokoll. Anders, als es der Herr Bundeskanzler sagte, hat nicht die Bundesregierung das Verfahren hier eingeleitet, sondern es waren die beiden Koalitionsfraktionen. Die SPD-Bundestagsfraktion beanstandet, daß die hier vorliegenden Gesetzentwürfe zur Ratifizierung der Verträge nicht, wie üblich und geboten, von der Bundesregierung in den Gesetzgebungsgang eingebracht wurden, sondern von den Koalitionsfraktionen.
(
Aber Sie kennen doch die Gründe!)
Unsere Forderung ist: Kommen Sie zurück zum üblichen parlamentarischen Verfahren.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die uns heute zur Beratung vorliegenden Verträge mit Polen bilden eine komplementäre Einheit: Der eine, welcher die Grenze zwischen Deutschland und Polen feststellt, zieht einen Schlußstrich unter den Streit der Vergangenheit, nicht unter die Vergangenheit als solche; der andere über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit weist in die Zukunft. Er wäre ohne den ersteren nicht möglich. Beide Verträge sind Grundlage für die Verwirklichung einer Vision: Frieden in vollem Sinne des Wortes zwischen Deutschen und Polen und eine gemeinsame Zukunft Deutschlands und Polens in Europa.
Meine Fraktion dankt allen, die diesem Vertrag durch ihre mühselige, ja oft quälende Arbeit zum Teil seit Jahrzehnten den Weg bereitet haben, vorab - der Bundeskanzler hat es auch getan - den beiden großen Kirchen, die die ersten Breschen in die Mauer des Schweigens, des Mißtrauens, ja zum Teil des Hasses geschlagen haben. Danken möchten wir aber auch den ungezählten kleinen Gruppen und Millionen deutscher Bürger, die - wie etwa bei der großen Paketaktion und durch vieles kleine unbekannte Tun - das Bild der Deutschen bei den Polen freundlicher, d. h. menschlich gestaltet haben. Auch ohne diese Kärrnerarbeit wären diese Vertragstexte nicht möglich geworden.
Für die Mühe und die Klugheit, die erst den Erfolg dieser großen Arbeit ermöglicht haben, dankt meine Fraktion der Bundesregierung. Sie dankt allen ungezählten Beamten aus dem auswärtigen Amt, dem Bundeskanzleramt, die daran mitgewirkt haben, und sie dankt Ihnen, Herr Außenminister, für Ihren unermüdlichen Einsatz, der weit über den Beginn der Arbeit an diesen Verträgen in eine Zeit hinausreicht, als der Weg zur deutsch-polnischen Versöhnung noch sehr viel steiniger und das Ziel noch keineswegs in Sicht war.
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Ein Wort des Dankes möchte ich auch an diejenigen Kollegen von der SPD richten, die sich in der Vergangenheit mit ganzem Herzen für die Verständigung und Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen eingesetzt haben. Das gilt beispielsweise und nicht zuletzt für den Kollegen Koschnick, der hier gesprochen hat, und das gilt natürlich vorab für den Kollegen Willy Brandt. Diesen Dank hier auszusprechen fällt um so leichter, als ja gerade auch der Kollege Koschnick und vorher der Kollege Brandt - etwa bei seiner Rede aus Anlaß der gemeinsamen Erklärung Kohl/Mazowiecki - ihre Anerkennnung hier nachdrücklich zum Ausdruck gebracht haben.
Angesichts dieser in der Tat ungewöhnlichen Erfolge dieser Bundesregierung und vorab des Bundeskanzlers in der Ostpolitik tragen Sie, Herr Kollege
Koschnick - das hat man eben wieder gemerkt; ohnehin ist das Leben für die Opposition kein Zucker-schlecken - , ein schweres Los, war es doch gerade dieser Politikbereich, Herr Kollege Vogel, war es doch gerade die Ostpolitik, wo die Opposition nicht müde wurde, in den schwärzesten Farben zu malen,
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war es doch gerade die deutsche Polenpolitik, die sie in den Fängen unbelehrbarer Vertriebenenfunktionäre wähnte.
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Bei einer solchen wirklich nicht beneidenswerten Lage, wo sich Kassandra als Jahrmarktsprophetin erweist, ist es in der Tat nicht nur im Interesse der Sache, sondern auch im Interesse des eigenen Ansehens am besten, anzuerkennen, was anerkennenswert ist, wie es Willy Brandt und auch Hans Koschnick nach einigen notwendigen Pflichtübungen getan haben.
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Jedermann, meine Kolleginnen und Kollegen, wird verstehen, ja es als zwingend erwarten, wenn ich ein besonderes Wort des Dankes an den Bundeskanzler richte. Der Bundeskanzler hat gewissermaßen die dicken Brocken aus dem Weg geräumt. Er hat immer wieder im richtigen Augenblick die entscheidenden Hindernisse, vor allem durch seine Begegnungen mit Premier Mazowiecki und Premier Bielecki, überwunden. Er hat das deutsch-polnische Verhältnis nicht nur, wie man so sagt, zur Chefsache, sondern er hat die Aussöhnung und, darauf fußend, die Freundschaft zwischen Polen und Deutschland zu seiner Herzenssache gemacht.
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Er hat gesehen, Sie haben gesehen, Herr Bundeskanzler, daß dies nur gelingen kann, wenn dabei auch die deutschen Sicherheitsinteressen, die deutschen Anliegen, unter ihnen nicht zuletzt die Anliegen der Vertriebenen, Berücksichtigung finden. Ihre Ausdauer, die Sie wie oft in vergleichbaren Situationen mit unverständiger und manchmal auch unduldsamer Kritik bezahlen mußten, hat sich wieder einmal gelohnt.
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Denn in der Tat, wer hätte es noch bis vor kurzem für möglich gehalten, was dieser Vertrag an Entfaltungsmöglichkeiten für die Deutschen in Polen, vor allem in Oberschlesien, enthält. Dazu wird der Kollege Koschyk sicher gleich mehr sagen.
Auch ich möchte an dieser Stelle ein Wort an die Vertriebenen richten. Ich weiß, wie schmerzlich Ihnen bewußt ist, daß der Freundschaftsvertrag erst durch die vorangegangene Feststellung der Grenze zwischen Deutschland und Polen möglich wurde und damit untrennbar mit dem endgültigen Verlust Ihrer Heimat verbunden ist. Auch für mich, der ich alle Wurzeln meiner Herkunft im westlichen Teil unseres Landes, im Rheinland, finde, ist dieser Verlust Ost3254
deutschlands ein tiefer Schmerz. Wieviel mehr ist er es für Sie, die Sie den Schrecken und die Schmach der Vertreibung aus Ihrer Heimat ertragen mußten. Das ist ein Elend und ein Leid, das Unrecht war und das nicht durch das vorausgegangene unvorstellbare Leid, das Deutschland über Polen gebracht hat, gerechtfertigt werden kann.
Aber wir alle sollten uns erinnern, daß die Übertragung der Oder-Neiße-Gebiete nicht das Werk Polens gewesen ist und daß Polen sie mit dem Verlust seiner Ostgebiete bezahlen mußte, wie anders auch immer deren ethnischer Charakter im Vergleich mit den deutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße gewesen sein mag.
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Aber auch für Sie, die Vertriebenen, ist nur der Weg nach vorn offen. Auch Sie müssen sehen, daß Deutschland, wollte es dieses Mal seine Einheit im Einvernehmen mit Europa erreichen, keine andere Wahl hatte.
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Deutschland, verehrte Kolleginnen und Kollegen, gegen den Rest der Welt, das haben wir zweimal in diesem Jahrhundert mit katastrophalen Folgen für uns und für ganz Europa versucht.
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Aber es ist nicht nur diese Logik der Macht, die unseren Schritt unvermeidlich machte. Es ist auch die Logik der Geschichte und des Verstehens der Folgen des eigenen Tuns in ihr. Es ist vor allem die Frucht der Einsicht, daß Frieden nur dann einkehren kann, wenn die Drehung der Rachespirale ein für allemal beendet und an ihrer Stelle ein gemeinsamer Weg in eine gemeinsame Zukunft geebnet wird.
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Genau dies versucht der Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrag. Ich bitte Sie, ich bitte die Vertriebenen, diesen Weg gemeinsam mit uns zu gehen.
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Eine gemeinsame Zukunft und Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen kann es nur geben, wenn auch Polen, meine Damen und Herren, ein Leben in Würde, d. h. in Selbstachtung führen kann. Würde bedeutet ein Leben in Freiheit und in Demokratie; aber es bedeutet auch ein Leben in einem materiellen Wohlergehen, das sich an dem einzig verständlichen Maßstab für Polen messen kann, nämlich dem seines westlichen Nachbarn. Es bedeutet also ein Leben frei von Not und erniedrigender Dürftigkeit.
Deutschland kann Polen dabei helfen. Das sollten wir nicht als Last, nein, das sollten wir als Chance begreifen.
Diese Chance, meine Damen und Herren, ist sicher das Ergebnis einer deutschen Politik, die über vier Jahrzehnte aus der Geschichte gelernt hat. Aber sie erscheint mir doch zugleich auch als uns - gestatten Sie bitte diesen etwas ungewöhnlichen Ausdruck - von einem gütigen Geschick zugedacht. Jedenfalls ist diese Rollenverteilung zwischen Deutschland und Polen gewiß nicht das selbstverständliche Ergebnis der Geschichte, soweit wir sie im vergangenen Jahrhundert zu verantworten hatten.
Diese Rollenverteilung erlegt uns die Pflicht zu mehr Großmütigkeit, zu mehr Großzügigkeit, ja, wenn es nicht vielleicht zu anmaßend klänge, würde ich sagen: zu mehr Weisheit auf. Wir müssen verstehen, daß manches, was uns an einzelnen polnischen Vorgängen zuweilen verstört, Ausdruck verletzten Selbstwertgefühls ist. Wir müssen erkennen, daß nationales Selbstbewußtsein und Selbstsein, das sich ganz plötzlich nicht länger wie über lange Zeit, ja wie über Jahrhunderte gegenüber zwei übermächtigen Nachbarn und sodann bis vor kurzem in der Gegnerschaft, in der feindseligen Abgrenzung, gegenüber einer imperialistischen Hegemonialmacht und dem von ihr aufgezwungenen System artikulieren kann, sondern das sich nun in sich selbst finden und im Miteinander der Nationen ausdrücken muß, notwendigerweise Zeit zur Neuorientierung braucht.
Wir müssen sehen, daß das Verhältnis zu Deutschland notwendigerweise ambivalent ist. Zwar haben Deutsche und Polen ja keineswegs immer nur ein negatives Verhältnis gehabt oder die Deutschen in Polen immer nur eine verhängnisvolle Rolle gespielt, im Gegenteil: Die Beispiele gegenseitiger Befruchtung sind beeindruckend. Aber die Deutschen haben nicht nur gemeinsam mit den Russen Polen dreimal in einem Jahrhundert geteilt. Der Überfall Hitler-Deutschlands und die Greuel gegenüber der Zivilbevölkerung und die Pläne über die Zukunft dieses Landes sind natürlich noch im Gedächtnis dieses stark und - wenn ich das anmerken darf - mir manchmal zu stark in historischen Kategorien denkenden und empfindenden Volkes.
Nun, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist Deutschland, obgleich der Geschlagene dieses Krieges, der moralische Outcast von 1945, heute die stärkste Macht in Europa. Deutschland ist dasjenige Land, auf das die Polen ihre Hoffnungen setzen, ja setzen müssen.
Ich meine, jedermann bei uns, wirklich jeder Bürger, aber vorab wir, die politisch Verantwortlichen, müßten verstehen, daß dies für die Polen eine schwierige Lage ist. Deswegen sollten wir auch nicht jedes uns befremdlich erscheinende Wort aus Polen übelnehmerisch vermerken; wir sollten uns vielmehr an die alte Erfahrung erinnern, daß Geben leichter ist als Nehmen.
Es gilt noch ein Weiteres zu sehen: Die Erfahrung mit unseren Transferleistungen in die frühere DDR zeigt, daß sich die Hilfe beim wirtschaftlichen Wiederaufbau auch materiell bezahlt macht, sicher im Falle Polens nach einer etwas längeren Zeit, als dies im Falle der früheren DDR geschieht.
Aber wichtiger ist doch noch, daß es, wenn es gelingt, das schwierige Verhältnis zwischen Deutschen und Polen fruchtbar zu gestalten, nicht nur materiell und ideell für die Polen von Nutzen ist, sondern daß es für die Achtung der Deutschen vor sich selbst und für ihr Ansehen in der Welt ein gar nicht hoch genug zu
veranschlagender Gewinn wäre. Das ist die große Chance, die sich uns jetzt bietet und die wir ergreifen müssen, wollen wir uns nicht eines Tages eingestehen müssen, daß wir versagt haben.
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Aber natürlich muß sich dieser grundlegende Aspekt in den konkreten Herausforderungen, die sich uns stellen, bewähren, und diese konkreten Herausforderungen sind immer weniger national, sondern immer mehr nur noch grenzüberschreitend, nur noch gemeinsam zu bewältigen. Ich denke dabei beispielsweise an die Probleme der Umweltbelastungen ebenso wie an unsere gemeinsame Verpflichtung, den Menschen in der Dritten Welt zu helfen. Aber auch die gemeinsame Sicherheit in Europa und Europas Beitrag zur Friedenssicherheit und Freiheit in der Welt gehören dazu.
Gerade mit Blick auf die alten, nun wieder aufbrechenden Konflikte im östlichen Teil unseres Kontinents können Deutsche und Polen jetzt ein Beispiel dafür geben, wie zwei Völker ihr schwieriges und gespanntes Verhältnis überwinden und mit einem Neubeginn ihre gemeinsame Zukunft in einem Europa ohne Grenzen gestalten. Dabei können die Deutschen in Polen und die Vertriebenen ebenso einen besonderen Beitrag leisten wie junge Menschen aus Deutschland und Polen, ohne deren Engagement die Einigung Europas nicht vollendet werden kann. Das zeigt noch einmal deutlich die zukunftsweisende Bedeutung des Abkommens über das deutsch-polnische Jugendwerk und der Vereinbarung über die Rechte der Minderheiten in Polen, wie sie im Nachbarschaftsvertrag festgelegt sind.
Da es sich also im Kern bei dem deutsch-polnischen Verhältnis nicht zuletzt um das versehrte polnische Selbstwertgefühl, um die Selbstfindung Polens handelt, stehen wir vor einer wahrhaft schwierigen, ja heiklen Aufgabe. Es wäre sehr gut, wenn sich Polen nicht allein auf Deutschland angewiesen sähe. Daher fand ich das Treffen zwischen dem deutschen, dem französischen und dem polnischen Außenminister vor wenigen Tagen in Weimar, Herr Bundesaußenminister, eine ausgezeichnete Idee.
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Ich bitte auch an dieser Stelle Frankreich ganz herzlich, sich seiner besonderen historischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt zu sein. Das gilt nicht zuletzt für die auch von Ihnen, Herr Kollege Koschnick, angesprochene zentrale Erwartung, die Polen uns gegenüber und natürlich gegenüber allen unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft hat, daß wir ihm nämlich helfen, so schnell wie möglich Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft zu werden.
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Herr Kollege Koschnick, ich sehe hier auch nicht einen Widerspruch zwischen Vertiefung und Erweiterung. Vertiefung der Gemeinschaft ist in der Tat die Voraussetzung, um das prioritäre Ziel, die Erweiterung um die neuen Demokratien im Osten unseres Kontinents, zu erreichen.
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Diese Politik Polens ist übrigens ein schlagender Beweis für meine Überzeugung, die ich schon öfters formuliert habe: Die deutsche Zukunft liegt nicht im Osten; die Zukunft des Ostens liegt im Westen.
Bei einem Treffen von deutschen und polnischen Politikern im März 1989 sagte ein deutscher Teilnehmer, er wünsche sich, die Deutschen würden so national, wie die Polen es bereits seien. Ein polnischer Teilnehmer entgegnete ihm darauf, das wünsche er sich nicht. Er wünsche sich vielmehr, daß die Polen so europäisch würden, wie die Deutschen es bereits seien. Ich gestehe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß ich dieses mich tief berührende Kompliment als das schönste Kompliment - und auch als eine Anerkennung - empfinde, das ich je von einem Nicht-Deutschen gehört habe. Beweisen wir durch unsere Politik gegenüber Polen die Berechtigung dieses Kompliments, und tragen wir dadurch dazu bei, daß der mit ihm verbundene Wunsch, ein europäisches Polen, Wirklichkeit werde.
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Zu einer Zwischenintervention hat der Abgeordnete Duve das Wort.
Herr Kollege Lamers, ich stimme Ihrer Rede weitgehend zu. Sie haben aber eine Bemerkung gemacht, die mich zu dieser Intervention veranlaßt.
Ich denke, wir sollten unsererseits nicht von versehrtem Selbstwertgefühl eines anderen Volkes, mit dem wir diesen Vertrag schließen, sprechen. Wir sollten uns in diesem Fall einer herablassenden Beurteilung sozusagen der Seelenlage eines Nachbarn enthalten.
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Ich finde, wir haben an der polnischen Geschichte so viel versehrt, daß die seelischen Reaktionen und das, was die Polen heute untereinander diskutieren, von uns eigentlich nicht mit dem Begriff „versehrtes Selbstwertgefühl" beurteilt werden sollte.
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Das ist die einzige kleine Kritik, die ich an Ihren Bemerkungen anzubringen habe.
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Möchten Sie noch antworten, Herr Kollege Lamers? - Bitte!
Frau Präsidentin! Herr Kollege Duve, meine Kollegen haben eigentlich schon gesagt, was ich entgegnen kann: Das war gewiß nicht als herablassende Kritik an dem polnischen Selbstverständnis gedacht. Durch alles, was ich vorab gesagt
habe, habe ich doch wohl zum Ausdruck gebracht, daß Polen leider allen Grund hat, sich versehrt zu fühlen, und versehrt ist, und zwar nicht zuletzt durch Deutsche, aber übrigens nicht allein durch Deutsche; denn in den letzten Jahrzehnten war es ja ein anderer Nachbar. Eine Herabsetzung Polens lag mir jedenfalls wirklich fern.
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Das Wort hat jetzt der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die heute dem Deutschen Bundestag vorliegenden Verträge markieren einen Wendepunkt im deutsch-polnischen Verhältnis. Deutsche und Polen wenden sich der gemeinsamen Gestaltung einer friedlichen Zukunft in Europa zu. Die Tragweite des Wandels in unserem Verhältnis zu Polen erfaßt jeder, dem die leidvolle Geschichte unserer beiden Völker gerade in diesem Jahrhundert bewußt ist: die Folgen der von Hitler-Deutschland gegen Polen gerichteten Gewaltpolitik, aber auch das von Deutschen erlittene Leid.
Diese beiden Verträge weisen den Weg zur Versöhnung zwischen unseren Völkern. Sie sind Ecksteine beim Bau einer Ordnung des Friedens, der Freiheit und der Zusammenarbeit in Europa. In Polen hat der Geist der Freiheit alle Versuche der Unterdrückung überdauert.
Mit der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze haben wir einen historischen Schritt vollzogen. Dieser Vertrag durchbricht ein für allemal den Teufelskreis von Unrecht und neuem Unrecht.
Die Bestätigung der bestehenden deutsch-polnischen Grenze war auch ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Vollendung der Einheit Deutschlands und die Durchsetzung von Freiheit und Demokratie in Mittel- und Osteuropa und in der Sowjetunion bestätigt die Richtigkeit des Weges, der mit dem Warschauer Vertrag, mit den anderen Ostverträgen und mit der Schlußakte von Helsinki beschritten wurde.
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Der Beginn dieses Weges ist untrennbar verbunden mit den Namen Willy Brandt und Walter Scheel.
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In ihren Entschließungen vom 21. und 22. Juni 1990 haben der Deutsche Bundestag, die damals schon frei gewählte Volkskammer der DDR und der Bundesrat ihrem Willen Ausdruck gegeben, daß der Verlauf der Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und der Republik Polen durch einen völkerrechtlichen Vertrag endgültig bekräftigt werden sollte. Wir haben den darin zum Ausdruck gebrachten Willen des deutschen
Volkes im Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, im sogenannten Zwei-plusVier-Vertrag, am 14. September 1990 und im deutschpolnischen Grenzvertrag vollzogen. Mit der Unterzeichnung des Vertrages über die Bestätigung der deutsch-polnischen Grenze ist das deutsche Volk, ist Deutschland seiner europäischen Friedensverantwortung gerecht geworden.
Wir Deutsche sind uns dabei bewußt, daß der deutsch-polnische Grenzvertrag nichts aufgibt, was nicht längst vorher verloren war als Folge eines verbrecherischen Krieges und eines verbrecherischen Systems.
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Wir sind uns auch bewußt: Wir hätten ohne diesen Vertrag die einmalige historische Chance verspielt, die Einheit Deutschlands wiederzuerlangen.
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Keinem Deutschen fällt die Entscheidung zum Abschluß des Grenzvertrages leicht. Für diejenigen, die ihre Heimat verloren haben, die das Leid der Vertreibung erfuhren, ist sie besonders schmerzlich. Ihren Gefühlen und ihrer Friedensverantwortung gilt in dieser Stunde unsere besondere Achtung. Der Verlust der Heimat ist ein schweres Opfer. Unser Gedenken gilt denen, die bei der Vertreibung ihr Leben verloren haben.
Unsere Empfindungen nehmen unserer Entscheidung nichts von ihrem Rang als Beitrag zum Frieden in Europa. Sie nehmen ihr nichts von ihrer Bedeutung für eine neue europäische Zukunft. Sie machen das tiefe Bewußtsein, das heute die Deutschen in europäischer Friedensverantwortung bewegt, nur noch deutlicher.
Wir wissen, daß nicht nur Deutsche als Folge des Krieges ihre Heimat verloren haben. Auch Polen mußten ihre Heimat aufgeben.
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Wir hoffen, daß aus dieser gemeinsamen Erfahrung gemeinsames Verständnis erwachsen möge.
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Der Grenzvertrag und der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit bilden ein Ganzes. Beide Verträge sind untrennbare Seiten des einen Blattes, das einen leidvollen Abschnitt beendet und ein neues, in die gemeinsame Zukunft weisendes Kapitel eröffnet. Es geht heute um den umfassenden Ausbau unserer Beziehungen zu Polen. Der Vertrag steckt diese Felder ab : Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, kultureller Austausch, menschliche Begegnungen und nicht zuletzt die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung und Überwindung der Umweltschäden.
Der politischen Zusammenarbeit unserer beiden Regierungen wollen wir auf der Grundlage des Vertrages eine neue Qualität geben. Der Vertrag sieht regelmäßige Treffen auf allen Ebenen, auch auf der Ebene der Regierungschefs, vor. In der Praxis füllt meine Zusammenarbeit mit meinem polnischen KolBundesminister Hans-Dietrich Genscher
legen Skubiszewski längst die von dem Vertrag vorgegebenen Normen aus. Schon jetzt verzeichnen wir die Zunahme des Jugendaustausches, der Städtepartnerschaften, die Intensivierung der regionalen Zusammenarbeit.
Die drei gleichzeitig mit dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit am 17. Juni dieses Jahres hier in Bonn geschlossenen zusätzlichen Abmachungen legen weitere Grundlagen für einen Ausbau der praktischen Zusammenarbeit mit Polen.
Mit dem deutsch-polnischen Jugendwerk sollen die Begegnungen zwischen unseren beiden Völkern vertieft und erweitert werden. Wir müssen der jungen Generation beider Länder eine dauerhafte, breite Grundlage für ein freundschaftliches Verhältnis zu unserem polnischen Nachbarn legen, so wie uns das im Verhältnis zu Frankreich gelungen ist.
Wir haben eine Kommission für grenznahe und regionale Zusammenarbeit gegründet. Der regionalen Zusammenarbeit insbesondere im grenznahen Bereich kommt für unser Verhältnis zu unseren Nachbarn im Osten in Zukunft die gleiche Bedeutung zu, wie sie sie im Verhältnis zu unseren westlichen Nachbarn seit langem besitzt. Das gilt nicht nur für Polen; das gilt genauso für die CSFR.
Ich würdige insbesondere das Engagement der neuen Bundesländer, die die Aufgabe der Zusammenarbeit mit ihren neuen, demokratisch legitimierten Partnern aufgenommen haben.
Die Gründung des deutsch-polnischen Umweltrates ist eine Antwort auf die Probleme, die sich für Deutsche und Polen beiderseits der Grenze gemeinsam stellen. Angesichts der großen Schäden, die in über 40 Jahren sozialistischer Herrschaft entstanden sind, liegt hier eine große Aufgabe.
Die verschiedenen Felder deutsch-polnischer Zusammenarbeit fließen ein in den Prozeß, in dem ein konföderales Europa der Subsidiarität entsteht. Es gilt jetzt, die Netze der Kooperation immer dichter zu knüpfen, die die Völker und Staaten über einst trennende Grenzen hinweg auf allen Ebenen in der ganzen Breite des Lebens miteinander verbinden. Indem wir das tun, eröffnen wir den neuen Demokratien unserer östlichen Nachbarn die Perspektive einer Rückkehr nach Europa, eine Perspektive, die für sie auch materiell und menschlich erfahrbar wird. Hier dürfen keine neuen Trennmauern entstehen, die sich diesmal durch unterschiedlichen Lebenstandard, durch Armut und Reichtum, auszeichnen. Das Ziel polnischer Politik ist die Rückkehr nach Europa, zu dem Polen seiner politischen Tradition und seiner Kultur nach immer gehört hat.
Die gemeinsame Begegnung mit meinem polnischen und meinem französischen Kollegen am Geburtstag Goethes in der vergangenen Woche in Weimar hat die Perspektiven gezeigt, die wir heute schon in Europa haben. Der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit verknüpft die Neugestaltung unseres bilateralen Verhältnisses zu Polen mit der Heranführung unseres polnischen Nachbarn an die Europäische Gemeinschaft. Diese Zielrichtung findet seine Entsprechung in dem Vertrag, den Frankreich mit Polen geschlossen hat. In dem Maße, wie die Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft ihren Partnern in den sich entwickelnden neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas eine europäische Perspektive aufzeigen, leisten sie einen Beitrag zur Absicherung der dort in Gang gekommenen Reformen von Wirtschaft und Gesellschaft zur Schaffung gesamteuropäischer Stabilität.
Wir sind uns mit unseren europäischen Nachbarn einig, den Prozeß der Assoziierung der Staaten Mittel-und Osteuropas an die Europäische Gemeinschaft weiter zu beschleunigen. Wir tun das mit dem Ziel der vollen Mitgliedschaft dieser Staaten in der Europäischen Gemeinschaft.
Polen hat sich selbst ein mutiges und ein kohärentes Reformprogramm verordnet. Der zähen Konsequenz bei der Durchführung des Programms zollen wir Respekt. Mehr denn je kommt es heute darauf an, zur Stabilität Polens beizutragen. Unser östliches Nachbarland sieht sich mehr denn je Belastungen gegenüber, die nicht nur eine Folge des eigenen inneren Wandels sind, sondern auch der revolutionären Umwälzungen an seinen Grenzen. Die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen verstehen wir auch als Beitrag zur Integration Polens in die Weltwirtschaft und auch in dieser Hinsicht zu seiner wirtschaftlichen Stabilisierung. In dem Vertrag bekennt sich die Bundesrepublik Deutschland zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung Polens im Rahmen einer voll entwickelten sozialen Marktwirtschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser Stunde denken wir in besonderer Weise an die Deutschen, die heute in Polen leben. Sie sollen wissen, daß die neue europäische Ordnung, die wir wollen, das neue Verhältnis zwischen Deutschland und Polen es auch ihnen ermöglichen sollen, sich dort, wo sie leben, in einem Polen der Freiheit und der Demokratie zu entfalten und ihre Identität zu bewahren.
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Eine befriedigende Regelung für die Rechte der deutschen Minderheit in Polen war ein zentrales Anliegen unserer Verhandlungen über den Nachbarschaftsvertrag. Wir haben in dem Vertrag eine rechtlich gesicherte Grundlage für die Existenz und die Entfaltung der deutschen Minderheit in der angestammten Heimat erreicht. Die wesentlichen Teile des europäischen Standards für Minderheitenrechte, wie er insbesondere im Dokument des Kopenhagener Treffens über die menschliche Dimension der KSZE sowie in den Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats niedergelegt ist, wurden durch den Vertrag völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben.
Sowohl die Bundesregierung als auch unsere polnischen Vertragspartner sind sich bei ihren Verhandlungen darüber einig gewesen und haben es auch gewollt, daß mit einer solchen Regelung über das bilaterale Verhältnis hinaus eine Fortentwicklung des europäischen Minderheitenstandards erfolgt. Die Festschreibung der im Kopenhagener Dokument nur als politisch verpflichtend vereinbarten Regelungen ist
eine völkerrechtliche Verfestigung des europäischen Minderheitenstandards.
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Der Nachbarschaftsvertrag mit seinen Minderheitenregelungen wird auch auf polnischer Seite unmittelbar in innerstaatliches Recht umgewandelt. Darüber hinaus wurde vereinbart, daß Fragen der Minderheiten auch auf höchster politischer Ebene erörtert und gegebenenfalls nach gegenseitiger Absprache eine gemischte Kommission zur Behandlung solcher Fragen eingerichtet werden kann. Ich bin zuversichtlich, daß die in Polen lebenden Deutschen auf der in dem Vertrag gelegten Grundlage ihre Identität wahren und entwickeln können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das deutsch-polnische Vertragswerk weist über das bilaterale Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völkern hinaus. Dieses Vertragswerk ist ein wichtiger Baustein zum Aufbau einer gesamteuropäischen Ordnung des Friedens, der Freiheit und der Zusammenarbeit, die alle Völker Europas und auch die nordamerikanischen Demokratien einschließt. Auf diesem Wege sind West und Ost von politischen wieder zu geographischen Begriffen geworden.
An die Stelle von ideologisch bestimmter Konfrontation ist mit der Überwindung der Blöcke ein europäischer Grundkonsens über Menschenrechte, über die Prinzipien von Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit sowie der freien Marktwirtschaft und die umfassende solidarische Zusammenarbeit mit dem Ziel des Zusammenwachsens und der Einigung Europas getreten.
Diese neue Epoche der europäischen Geschichte ist möglich geworden, weil Deutschland seine Einheit in Freiheit wiedererlangt hat, weil die neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa durch den revolutionären Freiheitswillen der Bürger ihre Souveränität wiedererlangt haben und weil sich die Sowjetunion Europa und der Welt geöffnet hat.
Deutschland und Polen verbinden sich mit diesen Verträgen dauerhaft und gleichberechtigt wie niemals zuvor in ihrer Geschichte. Ein polnischer Teilnehmer des Hambacher Festes von 1832 erklärte:
Nie waren zwei Nationen eine der anderen würdiger als die deutsche und die polnische. Nie war zwischen Völkern ein schönerer und festerer Bund geschlossen als jetzt zwischen Deutschen und Polen. Möge er unsere spätesten Nachkommen noch beglücken!
Eine bittere Zeit folgte danach. Jetzt haben wir eine neue Chance. Streben wir nach einem solchen Glück, Deutsche und Polen, demokratisch und frei, in Achtung und in Freundschaft, in einem geeinten, einem neuen Europa!
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Es spricht jetzt der Abgeordnete Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Namen der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE begrüße ich den heute zur ersten Beratung vorgelegten deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Wir sind davon überzeugt, daß die Ratifizierung dieses Vertrages eine wichtige Voraussetzung für das gute Zusammenleben zweier großer europäischer Völker ist.
Zugleich wissen wir, daß ein staatlicher Vertrag allein dauerhafte freundschaftliche Beziehungen zwischen zwei Völkern nicht zu stiften und zu sichern vermag. In der ehemaligen DDR haben wir jahrzehntelang erleben müssen, wie unterhalb der offiziellen Freundschaftsbekundungen gegenseitige Abneigung, Mißachtung und oftmals auch Feindseligkeit zwischen Deutschen und Polen geduldet, ja bei Bedarf sogar von der Politbürokratie und der Staatssicherheit manipulativ erzeugt wurde.
Es ist eine wichtige Erfahrung der mittel- und osteuropäischen Demokratiebewegungen, daß vor allem das aktive Engagement von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen dazu beiträgt, daß sich Toleranz, Verständnis und Freundschaft zwischen Völkern entwickeln können. Das gilt in besonderem Maße für solche, deren Beziehungen durch so leidvolle Erlebnisse geprägt sind, wie sie Polen und Deutsche in diesem Jahrhundert machen mußten.
Mir wird jener ältere Mann unvergeßlich bleiben, der mir vor 20 Jahren in einer polnischen Kleinstadt ein Zimmer vermietete und mir dabei in einem knappen Satz mitteilte, er könne zwar deutsch, aber seit seine ganze Familie im KZ umgekommen sei, würde er es nicht mehr sprechen, und darauf müsse ich mich einlassen. Am darauffolgenden Tag blieben wir stumm. Dann begann ich, ihm mit Hilfe eines Wörterbuchs auf polnisch Fragen über das Wetter, die Preise und die Haustiere zu stellen. So ging das mehrere Tage. Etwa am fünften Tag antwortete er zu meiner Überraschung auf deutsch und blieb von nun an dabei. Er zeigte mir die Fotos seiner Eltern, seiner Geschwister, seiner Frau. Wir sprachen über die Arbeit, die Grenzen, die Regierungen. Am nächsten Tag reiste ich ab.
Über ähnliche Erlebnisse berichten unsere Kinder und werden voraussichtlich auch noch unsere Enkel berichten. So mühsam ist das und wird das auch bleiben. Da hilft auch kein Hinweis auf die späte Geburt.
Der Vertrag, über den wir heute sprechen, wird ein gutes und tragfähiges Fundament bilden, auf dem vielfältige Formen von Begegnung und Zusammenarbeit wachsen können. Das gilt für staatliche Einrichtungen, für deutsch-polnische Kommissionen und Konsultationen, für das deutsch-polnische Jugendwerk, das hoffentlich bald seine Arbeit aufnehmen wird, oder auch für die geplante europäische Universität in Frankfurt/Oder, die sich den deutsch-polnischen Beziehungen hoffentlich auf besondere Weise widmen wird.
Das gilt vor allem für viele unabhängige deutschpolnische Initiativen. Als Beispiel nenne ich das AnnaMorawska-Seminar, das jahrelang ungeachtet staatlicher Behinderungen unter Beteiligung der Aktion
Sühnezeichen, der Kirchen sowie polnischer und ostdeutscher Dissidenten abgehalten wurde und nun auch unter den neuen Bedingungen seine Arbeit fortsetzt.
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Das gilt für viele neue Begegnungszentren, die jetzt entlang der Oder-Neiße-Grenze entstehen.
Die Anerkennung dieser Grenze ist ebenso wie der Sturz der totalitären Diktaturen in Polen und der DDR eine Voraussetzung dafür, daß eine neue Kultur der Begegnung, des Austauschs und der gemeinsamen Aufarbeitung der Geschichte entstehen kann.
An dieser Stelle will ich die besondere Bedeutung würdigen, die die aufrechte Haltung polnischer Menschen für die Herausbildung der neuen Situation in Europa hatte. Erinnern Sie sich an die Streiks der Werftarbeiter und Bergleute seit 1956, an die Gründung der Solidarnosc durch Lech Walesa und andere, an Dissidenten wie Adam Michnik, die sich auch durch mehrfachen Gefängnisaufenthalt nicht von ihrem Weg abbringen ließen, an ihre heimlichen Begegnungen mit den tschechoslowakischen Oppositionellen der Charta 77 an der polnisch-tschechoslowakischen Grenze, an weltberühmte Künstler und Schriftsteller wie Andrzej Wajda und Zbigniew Herbert, die es vorzogen, in Jaruzelskis Internierungslager zu gehen, anstatt sich mit dem System zu arrangieren, an diejenigen, die die ersten, mühevollen Schritte zur Demokratie gingen, wie Tadeusz Mazowiecki! Erinnern Sie sich auch an den polnischen Runden Tisch, der das Modell wurde für alle ähnlichen Versuche der Konsensfindung zwischen den Kräften der demokratischen Erneuerung! Wir werden nicht vergessen, daß vieles, was in Polen geschah, ganz außerordentliche Impulse in der DDR ausgelöst hat und schließlich auch unmittelbar dazu beigetragen hat, daß die deutsche Einheit möglich wurde.
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Die Erinnerung an die hinter uns liegenden Mühen und die Genugtuung über die neuen Möglichkeiten, die durch die vorgelegten deutsch-polnischen Verträge sichtbar werden, sollte uns aber nicht die Augen vor neuen Herausforderungen verschließen lassen.
Seit einigen Monaten gibt es den visafreien Verkehr zwischen Deutschland und Polen. Dessen Vereinbarung war für die Polen ein wichtiger vertrauensbildender Schritt. Auch für die deutschen in den neuen Bundesländern hatte sie eine große Bedeutung, wenn man bedenkt, daß Polen neben der Tschechoslowakei in den 70er Jahren das wichtigste Reiseland für sie gewesen ist und für die meisten von ihnen in den 80ern verschlossen blieb.
Daß es ein richtiger Schritt war, zeigt sich auch darin, daß allen damaligen Warnungen zum Trotz die prophezeiten großen Einwanderungsströme, gegenseitigen Feindseligkeiten und rechtsradikalen Massendemonstrationen ausgeblieben sind, wenngleich auch die Aktivitäten der relativ kleinen Neonazigruppen und die Zunahme von Gewalt allemal Anlaß zur Beunruhigung bleiben.
Der visafreie Verkehr zwischen Deutschland und Polen ist heute schon europäische Normalität. Wir verfolgen es jedoch mit Sorge, wenn Polen gleichsam die Rolle eines Pufferstaats zugewiesen werden soll, der osteuropäische Einwanderer von den deutschen Grenzen fernhält. Die alte Bundesrepublik war zur Zeit der Mauer gewissermaßen vor den Auswirkungen osteuropäischer Krisen geschützt, auch wenn sie sich das nicht eingestanden hat. Nun darf nach dem Fall der einen Mauer an der polnischen Ostgrenze keinesfalls eine neue errichtet werden.
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Der Weg nach Europa führt über die Freizügigkeit für alle Europäer.
Angesichts der großen Umwälzungen in der Sowjetunion dürfen wir nicht die Probleme Polens vergessen. Das Rücktrittsangebot von Bielecki war ein deutliches Signal dafür, daß sich die Reformpolitik in Polen erst am Anfang eines schwierigen Weges befindet, daß sie unsere ganze Unterstützung braucht, wie auch die demokratischen Parteien und Bewegungen unserer Solidarität bedürfen.
Der deutsch-polnische Vertrag schlägt auch in der Frage der Minderheiten ein neues Kapitel auf. Er gibt der deutschen Minderheit in Polen die Chance, zu gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern zu werden. Er verpflichtet uns, die Rechte der polnischen Minderheit in Deutschland zu achten. Besonders hervorheben möchte ich die durch den Briefwechsel eingeräumte Möglichkeit, daß diese Rechte auch auf die polnischen Staatsbürger in Deutschland ausgedehnt werden. Diese Passage des Vertragswerkes könnte ganz neue Räume in den Fragen der Minderheitenrechte öffnen.
Aus den Reihen von Vertriebenenverbänden sind leider noch immer Äußerungen zu vernehmen, die die deutsch-polnischen Verträge in Frage stellen. Die daraus entstehenden Irritationen bei unseren polnischen Nachbarn können sich als Hindernis erweisen, wenn es darum geht, die Verträge mit Leben zu erfüllen. Wir sind der Meinung, daß die staatlichen Mittel für solche Verbände gekürzt bzw. dergestalt umgewidmet werden sollten, daß mit ihnen deutsch-polnische Gemeinschaftsprojekte gefördert werden können.
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Abschließend ein Wort zur Entschädigung der polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. Es ist für uns beschämend, wie trotz der von allen polnischen Regierungen vertretenen berechtigten Forderungen die Lösung dieses Problems immer wieder von Bundesregierung und Bundestag verschleppt wurde. Wir setzen uns für die schnellstmögliche Gründung einer Stiftung zugunsten dieser Opfer des NS-Regimes ein, deren Mittel u. a. auch von den Firmen erbracht werden sollten, die aus der Ausbeutung der Zwangsarbeiter Gewinn gezogen haben. Die Behandlung des deutsch-polnischen Vertrages ist ein guter Anlaß, dieses Thema erneut aufzugreifen. Wir bitten alle Fraktionen dieses Hauses, unserem diesbezüglichen Antrag zu folgen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Modrow das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden Verträge sind wesentlicher Bestandteil der vertraglichen Regelungen zur Herstellung der deutschen Einheit. Sie stellen die Beziehungen des vereinigten Deutschlands mit Polen hoffentlich auch für eine weite Zukunft auf eine neue, solide Grundlage. Zugleich liegt in ihnen die Chance, in den Beziehungen zu diesem unmittelbaren östlichen Nachbarn ein wirklich neues Kapitel aufzuschlagen. Sowohl der Grenzvertrag mit der eindeutigen Bestätigung der heutigen Grenzen und der territorialen Integrität Polens als auch die Vereinbarungen zur umfassenden Zusammenarbeit für ein Zusammenwirken, das eindeutig Polen fördert und stabilisiert sowie soziale Unterschiede abbaut, und zur Einhaltung der Menschenrechte und der Rechte der nationalen Minderheiten sind dabei von besonderem Wert.
Ausgehend von einer solchen Bewertung, die dem Sinn nach auch der der Bundesregierung durchaus entspricht, ist um so weniger verständlich, daß diese Verträge erst heute zur Ratifizierung vorgelegt werden. Die Regierung tat sich äußerst schwer, den Schritt zur endgültigen Anerkennung der Grenzen, wie sie im Vertrag von Zgorzelec bereits 1950 erfolgt war, zu tun und damit den Ballast der Vergangenheit hinter sich zu lassen.
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- Fragen Sie einmal in Ihrer eigenen Fraktion nach, und dann reden wir über all diese Dinge. Bringen Sie dieses Thema dort auf den Tisch, wo es hingehört.
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Dies ist eine Erwartung, die Ministerpräsident Mazowiecki in der Beratung und Begegnung mit der Regierung der nationalen Verantwortung der Deutschen Demokratischen Republik im Februar 1990 in Warschau und auch bei den Vieraugengesprächen, die wir gemeinsam geführt haben, mit dem Blick auf das vereinigte Deutschland nachhaltig zum Ausdruck brachte.
Diese Verträge, wie auch das Deutsch-Polnische Jugendwerk, die bilaterale und regionale Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern werden zu Recht als Bausteine des europäischen Vertrages der friedlichen Entwicklung in Europa gesehen und werden diesen Prozeß fördern. Damit können sich Wege zur echten Versöhnung mit Polen öffnen. Das ist besonders bedeutsam nach der langen gemeinsamen, oft tragisch verlaufenden Geschichte.
Aber auch in Zukunft werden Deutsche und Polen mehr denn je aufeinander angewiesen sein, wenn im Zentrum Europas wieder Stabilität einziehen soll. Wenn man mitunter von ungleichen Verträgen mit den östlichen Staaten hört und dabei die in der Tat nicht geringen finanziellen Mittel im Auge hat, so soll hier mit Nachdruck gesagt werden: Die Ungleichheit bei den Opfern im Zweiten Weltkrieg und bei den zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten polnischen Bürgern darf dabei niemand vergessen.
Auch wenn in Europa gewaltige Veränderungen vor sich gehen, bleiben für die Zukunft vor allem gesicherte, völkerrechtlich anerkannte Grenzen die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Grenzfragen waren in Europa immer eng mit der Frage Krieg oder Frieden verbunden. Auf die Eindeutigkeit und Endgültigkeit der Anerkennung dieser Grenzen darf nicht der geringste Schatten eines Zweifels fallen.
Schon die das Vertragswerk begleitenden Losungen, wie „Schlesien ist unser" und „Verzicht ist Verrat" belasten jedes Bemühen um Aussöhnung.
Es ist alles andere als vertrauensbildend, wenn jetzt die Fraktion der CDU/CSU und auch die FDP im nachhinein die Substanz dieser beiden Verträge verringern möchten. Hat sich die Bundesregierung schon einmal überlegt, wie es auf die polnische Seite wirken mag, wenn plötzlich, durch nichts zu rechtfertigen, mit der Aufnahme von Tiefflügen über den neuen Bundesländern NATO-Kampfflugzeuge an den Grenzen Polens auftauchen?
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Das sind falsche Zeichen. Das hat mit Einfühlsamkeit und Vertrauen absolut nichts zu tun.
Polen braucht dringender denn je unsere wirtschaftliche Unterstützung und Zusammenarbeit. Davon hängt in hohem Maße das Schicksal der deutschpolnischen Aussöhnung ab. Gelingt es nicht, das sich ständig vergrößernde Wohlstandsgefälle so ausgleichen zu helfen, daß die Menschen ihre Perspektive im eigenen Land sehen, werden viele Verpflichtungen dieser Verträge ein Stück Papier bleiben. Hier helfen auf Dauer weder Abschottungen noch Zoll- und Polizeimaßnahmen.
Soll die Oder-Neiße-Grenze nicht zur endgültigen Grenze zwischen Arm und Reich werden, bedarf es völlig neuer Wege. Ansätze sehen wir in der Schaffung von Regionen nutzbringender Zusammenarbeit, wie sie mit der Bildung einer Euro-Region Sachsen-Südliches Polen und Tschechisch Böhmen in Aussicht genommen wurde. Hierbei bedarf es aber nicht einer Halbherzigkeit und Zögerlichkeit im Herangehen, sondern einer besonderen Förderung auch durch die Bundesregierung.
Solche regionalen Konzepte könnten auch für die Wirtschaft in den östlichen Bundesländern förderlich sein und den Anschluß an traditionelle Märkte bringen. Nicht Kredite, die neue Schulden bringen, sondern wirtschaftliche Kooperation ist gefordert.
Eine wirkliche Versöhnung zwischen Polen und Deutschen verlangt eine Wandlung im Bewußtsein der Menschen. Es geht nicht darum, vergessen zu machen, wieviel Leid mit dem Ende des Krieges und der Umsiedlung verbunden war. Gerade weil auch
meine Wiege in diesem Gebiet stand, möchte ich sagen: Das Leid von damals ist nicht aufzuheben. Das Leid von damals darf sich nicht wiederholen. Es darf heute auch kein größeres Leid für polnische Bürger geben. Die Gewährleistung der Grenze ist dafür die einzige Garantie.
Es ist zu begrüßen, daß für die deutsche Minderheit in Polen die KSZE-Bestimmungen über Minderheitenrechte zugrunde gelegt wurden. Wir verbinden dies zugleich mit der Hoffnung, daß diese großzügigen Regelungen zur kulturellen, sprachlichen, religiösen und politischen Entfaltung nicht mißbraucht werden. Nur aus ständigen Begegnungen erwachsen wirkliche Nachbarschaft und Freundschaft, Vertrauen und Versöhnung.
Bedauerlicherweise sind aber wichtige Fragen offen. Das gilt vor allem für die Frage der im Kriege zwangsweise verliehenen deutschen Staatsangehörigkeit, die Abschaffung der sogenannten Statusdeutschen sowie die klare Zurückweisung der Vermögensansprüche der Ausgesiedelten an Polen
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und die lange überfällige Regelung der Entschädigung für ehemalige polnische Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter und anderer NS-Opfer. Diese Frage fällt keineswegs in den Bereich der Reparationen. In den meisten Fällen handelt es sich um die Wiedergutmachung von barbarischen Ausbeutungs-, Verfolgungs- und Unterdrückungsakten der nazistischen Okkupationstruppen und des Okkupationsregimes, an denen sich letztendlich Unternehmen deutscher Konzerne bereichert haben. Es ist höchste Zeit, daß die Bundesregierung auch hier ihrer Verantwortung gerecht wird.
Meine Damen und Herren, dem Bundestag kommt bei der parlamentarischen Kontrolle der Regierung und der staatlichen Institutionen eine große Verantwortung zu, wenn diese Verträge, denen die PDS/ Linke Liste ihre Zustimmung gibt, mit Leben erfüllt und über das damit Erreichte hinausgeführt werden sollen. Die Verträge mit ihrer europäischen Dimension gewinnen durch die Ereignisse in der Sowjetunion und in Jugoslawien noch weiter an Bedeutung, sollen sie doch über die Garantie der Grenze hinaus Vertrauen und Freundschaft zwischen den Völkern in Europa schaffen.
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Nun erteile ich dem Abgeordneten Lowack das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Strategie der Regierungskoalition hat mir, abweichend von der ursprünglichen Ordnung, einen Platz in der Debatte zugewiesen, mit dem ich innerlich noch etwas zu kämpfen habe: nach dem Kollegen Modrow und vor dem Kollegen Koschyk, der dann die mit der Regierung abgestimmte Zukunft darstellen wird. Lieber Hartmut, du und ich, wir beide als Gladiatoren in der Debatte, das ist für mich eine sehr merkwürdige Situation. Auch das möchte ich einmal klar herausstellen.
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- Ja, jeder hat seine Blümchen im Kopf, lieber Kollege Wolfgang Bötsch.
Eine der größten Katastrophen und Tragödien Europas in diesem Jahrhundert waren die von Haß, Ungerechtigkeit und Kurzsichtigkeit getragenen Verträge von Versailles, St. Germain und Trianon. Ein Mitglied meiner Familie, die von mir sehr verehrte Großmutter, „Mutter der Heimatvertriebenen", wie ihr Titel war, war Mitglied im Paritätischen Ausschuß, der
- besetzt mit zwei Deutschen, zwei Polen und einem französischen General an der Spitze - die Streitigkeiten bei der Wiederherstellung Polens nach dem Ersten Weltkrieg schlichten, das ethnische Auseinanderhalten bewerkstelligen sollte. Sie hat die Tragödie miterlebt, in der damals mit einer Einseitigkeit, die wir heute nicht mehr verstehen, über 2 Millionen Deutsche durch die Mehrheitsverhältnisse in diesem Ausschuß in einen Staatsverband hineingepreßt wurden, zu dem sie nicht gehören wollten; darüber zu entscheiden lag nie in ihrer eigenen Macht. Sie hat die tragische Entwicklung in Oberschlesien erlebt, als polnische Freischärler damals versucht haben, Fakten zu schaffen und diesen Teil Deutschlands für sich in Anspruch zu nehmen. Sie hat auch die völkerrechtswidrige Abtrennung eines Teils Oberschlesiens erlebt.
Europa hat damals die Entscheidung erlebt, die dazu geführt hat, daß 3,5 Millionen Sudetendeutsche in einen Staatsverband hineingepreßt wurden, und zwar aus der nationalistischen tschechischen Haltung Beneschs heraus - ein Problem, das bis heute noch ungelöst ist. Europa hat die Tragödie des Zerfalls der Donau-Monarchie und vor allen Dingen des künstlichen Gebildes Jugoslawien erlebt, worunter wir heute immer noch zu leiden haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung: Sowenig die Pariser Vorortverträge Bestand vor der Geschichte hatten, sowenig werden die polnischen Verträge, die hier zur Ratifizierung anstehen, Bestand haben. Es gibt eine Reihe fundamentaler Fehler und ungelöster Probleme.
Wenn die Bundesregierung allen Ernstes weiterhin behauptet, es habe die deutsche Einheit nicht ohne diese Verträge gegeben, dann belastet sie die deutsche Einheit, denn die deutsche Einheit ist auf dem Hintergrund des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen vollzogen worden, und das wurde anerkannt. Wer behauptet, diese Entscheidung habe in der einstündigen Verhandlung mit Skubiszewski damals in Paris angestanden, der sagt der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit. Hier werden Dinge aufgebaut, die uns in der Zukunft belasten.
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Die Verträge bauen nicht auf der geschichtlichen Wahrheit auf. Es war doch nicht die bürgerlich-polnische Regierung, die die Abtretung oder die Vertreibung haben wollte. Es war Stalin, und es waren seine
polnischen Schergen in der polnischen kommunistischen Partei, die das damals durchgesetzt haben. Die Wahrheit läßt sich auf Dauer nicht verbergen.
Die Frage des Eigentums, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Ja, was sagt denn die Bundesregierung den Deutschen? Der Bundeskanzler schreibt ihnen Briefe auf Anfragen: Jawohl, das deutsche Eigentum wird nicht tangiert; bitte wenden Sie sich an den Finanzminister. - Der Finanzminister sagt: Das geht mich nichts an. - Dann soll doch diese Bundesregierung so offen und so ehrlich sein und den Vertriebenen reinen Wein einschenken und sagen: Ihr habt nichts zu erwarten; die Kriegsfolgen sind nun einmal so verteilt worden, daß ihr am meisten darunter zu leiden habt. - Diese Art, mit Schicksalen umzugehen, ist unerträglich - und das noch mit dem Schicksal von Millionen von Menschen.
Diese Verträge, meine sehr verehrten Damen und Herren, leisten leider einer Entwicklung Vorschub, die uns noch sehr viel Sorgen bereiten wird. Sie sind keine Vorbereitung etwa für eine Europäisierung, für eine Föderalisierung, sie sind ein Vorschub für den polnischen Zentralismus. Wenn ich mich heute auch mit vernünftigen Polen unterhalte und sage: Bereitet doch Polen für Europa vor, schafft Regionen in Polen!, dann ist die Antwort: Nein, das polnische Bewußtsein ist auf Warschau gerichtet. Wer uns dieses Bewußtsein nimmt, nimmt uns unser Polentum. - Das kann doch nicht die Antwort für die Zukunft sein. Das können wir nicht akzeptieren.
Ich habe leider das große Problem, Herr Präsident, daß mir nur eine unendlich kleine Redezeit zugebilligt wurde. Ich darf dazu kurz eines sagen: Ich bin persönlich Betroffener, 1942 in Gleiwitz geboren. Ich habe alle Grausamkeiten einer Flucht - Mutter mit sechs Kindern - durch die Tschechoslowakei erlebt. Ich bin Präsident der Bundesdelegiertenversammlung der Schlesier. Ich bekenne mich dazu. Es ist wahrscheinlich das höchste repräsentative Amt, das man für die Schlesier haben kann. Ich stelle fest: Niemals, weder als Mitglied des Bundestages noch des Auswärtigen Ausschusses, noch in der Eigenschaft als Präsident der Bundesdelegiertenversammlung, noch in meiner Eigenschaft als Jurist und Staatsrechtler bin ich jemals von der Bundesregierung gefragt oder beigezogen worden. Ich halte das Verfahren, daß ich hier nur in drei oder vier Minuten zu diesen Dingen Stellung nehmen kann, für schmählich, auch für das Parlament und auch für die Menschen, die ich zu vertreten habe.
Herr Abgeordneter Lowack, es steht mir fern, den Inhalt Ihrer Rede zu kommentieren, aber ich lege Wert auf die Feststellung, daß nicht die Regierung die Reihenfolge der Redner bestimmt, sondern ausschließlich der amtierende Präsident.
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Nun hat das Wort der Abgeordnete Koschyk.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst einige Bemerkungen zu dem, was Sie, Herr Modrow, gesagt haben. Ich will Ihnen nicht die Ehre antun und meine kostbare Redezeit vergeuden, um zuviel zu Ihnen Stellung zu nehmen. Aber ich habe mich bei Ihren Worten daran erinnert, daß ich im Oktober des Jahres 1989 in Warschau gewesen bin, als die damals in der deutschen Botschaft befindlichen Landsleute aus der ehemaligen DDR aus dieser Botschaft ausreisen konnten. Wir wissen alle, Herr Modrow, was dann in Dresden passiert ist, als die Züge mit den Deutschen aus Warschau und Prag durch Dresden gefahren sind und wer damals in Dresden für das Niederknüppeln derjenigen, die auf die Züge aufspringen wollten, die Verantwortung mitgetragen hat.
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Ein Wort zu meinem Freund und Kollegen Ortwin Lowack: Lieber Ortwin, ich achte deinen Standpunkt, und ich werde immer dafür eintreten, daß man dir für deinen Standpunkt Respekt zollt. Aber, lieber Ortwin, wir sollten nicht anfangen, zwischen den guten und den besseren Vertriebenen zu unterscheiden.
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Es gibt viele bei den Vertriebenen, die deiner Meinung sind. Es gibt aber auch viele, die meiner Meinung sind. Ich finde, es tut einer Schicksalsgruppe, die jetzt mit einer neuen rechtlichen und politischen Wirklichkeit fertig werden muß, sehr gut, wenn es bei ihr eine Bandbreite gibt und unterschiedliche Meinungen zum Tragen kommen.
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Wenn der Deutsche Bundestag heute mit der Beratung der deutsch-polnischen Verträge beginnt, so begleiten dies viele Menschen in unserem Land mit Hoffnung auf eine neue Phase der deutsch-polnischen Beziehungen. Aber - davor dürfen wir die Augen nicht verschließen - viele sind auch skeptisch, ja pessimistisch, ob es gelingen kann, daß Deutsche und Polen nach den großen historischen Belastungen dieses Jahrhunderts und auf der Grundlage dieser Verträge einen neuen Anfang finden können.
Bischof Alfons Nossol von Oppeln, den der Bundeskanzler bereits erwähnt hat, der für das gedeihliche Zusammenleben von Deutschen und Polen in seiner oberschlesischen Diözese so unendlich viel geleistet hat und dem wir darüber hinaus im großen wie im kleinen sehr viel an wertvollen Impulsen für die deutsch-polnische Verständigung und Aussöhnung zu verdanken haben, hat in seiner Fastenpredigt dieses Jahres gesagt, daß es ohne wahre deutsch-polnische Versöhnung im Zentrum Europas kein vereintes Europa mit durchlässigen Grenzen geben wird. Ein Satz aus der Predigt von Bischof Nossol wird bei denjenigen Deutschen und Polen, die in der jüngsten Vergangenheit persönlich großes Leid erfahren haben, vielleicht sehr wenig Zustimmung finden, nämlich, daß es bei der Versöhnung „nicht an erster Stelle um das Vergessen erfahrenen Unrechts und Verbrechens, sondern um den aufrichtigen Willen" geht, „aufzuhören, dies immer wieder vorzuwerfen; denn dadurch wird echter Heroismus der Verzeihung und wahrer Versöhnung verhindert" . Der Bischof fuhr fort, daß es nicht einfach ist, „eine Brücke zu bauen vom vorwerHartmut Koschyk
fenden zum verzeihenden Gedenken, vom schmerzlichen zum großherzigen Gedenken".
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Für die Jugend in beiden Völkern, die von persönlicher Betroffenheit erfahrenen Unrechts und Leids frei ist, ist dieser Brückenbau leichter. So sehr es richtig ist, bei der deutsch-polnischen Zukunftsgestaltung auf die junge Generation zu setzen, um so weniger können und dürfen wir darauf verzichten, die von Leid und Unrecht betroffenen Generationen in beiden Völkern für diesen Brückenbau im Sinne der Worte von Bischof Nossol zu gewinnen.
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Deshalb war es so wichtig, daß im Vorfeld der deutsch-polnischen Verträge, aber auch des deutschtschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrages der Bundeskanzler persönlich und Mitglieder seiner Regierung soviel Mühe darauf verwandt haben, bei den betroffenen Heimatvertriebenen auf unserer Seite um Verständnis für die Politik der Bundesregierung zu bitten und zu werben.
Herr Kollege Koschnick und Fast-Namensvetter, Sie haben vorhin einen zeitgeschichtlichen Rekurs vorgenommen. Auch ich möchte das kurz tun.
Zur Zeit der damals neuen deutschen Ostpolitik hat es diese Rücksichtnahme und den Versuch der Einbindung der Vertriebenen nicht in dem Ausmaß gegeben, wie das der deutsche Bundeskanzler vor diesen schwierigen Verträgen versucht hat. Und weil Sie die Leistungen der damaligen sozial-liberalen Koalition als Voraussetzung für die heutige Politik sehr stark herausgestellt haben, möchte ich noch eines sagen: Sie sind damals in Ihrer Polen-Politik ein Stück zu kurz gesprungen. Sie als Sozialdemokraten haben in Polen in bezug auf Ihre Gesprächspartner sehr lange auf die falschen Pferde gesetzt. Daß Sie jetzt mit den richtigen Leuten sprechen und Ihren wichtigen Beitrag für die Entwicklung hin zu einer stabilen Demokratie in Polen leisten, begrüßen wir.
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Das gilt auch für die dort lebenden Deutschen, Herr Koschnick. Sie waren für viele in Ihren Reihen lange ein Tabu. Sie waren dann für viele von Ihnen ein Stein des Anstoßes. Ich freue mich aber, daß Sie jetzt beginnen, die Deutschen dort mit Ihrem Herzen zu entdekken.
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Unsere Fraktion wird für eine intensive Einbeziehung der Vertriebenen und der Deutschen in der Republik Polen in die Ausgestaltung des Nachbarschaftsvertrages Sorge tragen. Dem diente eine Anhörung unserer Fraktion zu diesem Thema. Dabei konnten wir uns erneut davon überzeugen, welch eindrucksvolles Engagement gerade die Vertriebenen bei der Betreuung der heute dort lebenden Deutschen leisten. Dem diente ein Besuch der Kollegin Steinbach-Hermann und mir in der vergangenen Woche in Schlesien. Die Vertreter der deutschen Minderheit dort haben mich und Frau Kollegin Steinbach gebeten, dem Herrn Bundeskanzler zu übermitteln, daß er weiterhin ihr Vertrauen hat. Sie haben ihn gebeten, wenn er es ermöglichen kann, bei seinem nächsten offiziellen Besuch in Polen auch sie in Oberschlesien zu besuchen. Und wenn an diesem Wochenende der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe nach Warschau reisen wird, dann ist es für Wolfgang Bötsch selbstverständlich, daß er vorher nach Breslau und Oppeln gehen wird, um sich dort auch die Sorgen und Anliegen unserer deutschen Landsleute anzuhören.
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Wir begrüßen es sehr, daß es bereits zu einer intensiven Zusammenarbeit der Vertriebenen mit den in ihrer Heimat lebenden Deutschen, aber auch - was für uns genauso wichtig ist - mit ihren polnischen Mitbürgern gekommen ist. Und der Bundeskanzler hatte recht, wenn er in seiner Regierungserklärung im Januar davon gesprochen hat, daß die Öffnung unserer östlichen Nachbarn für Europa auch das Verständnis für das unverlierbare historische, kulturelle Erbe hat wachsen lassen, das Deutsche dort in mehreren Jahrhunderten aufgebaut haben. Wir spüren auch in Polen, daß man sich dort jetzt für dieses unverlierbare kulturelle und historische Erbe mitverantwortlich fühlt und daß man es mit uns gemeinsam erforschen, pflegen und erhalten will. Gerade gemeinsame Projekte auf historisch-kulturellem Gebiet können einen sehr wichtigen und entscheidenden Beitrag für die Verständigung leisten. Denn nur mit der wachsenden Kenntnis von kulturellen und historischen Zusammenhängen, die wir ja gerade im deutsch-polnischen Verhältnis so umfassend haben, werden auch das gegenseitige Verständnis und echte Verständigung wachsen.
Wir nehmen erfreut zur Kenntnis, daß viele Vertriebene, vor allem kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen der Vertriebenen, mit einer Verständigung von unten längst begonnen haben. Es gibt gemeinsame Ausstellungen, Tagungen, Begegnungen aller Art, auch von Kulturschaffenden und Wissenschaftlern. Längst werden Heimatkreise der Vertriebenen in ihren schlesischen, ostpreußischen und pommerschen Heimatstädten, in den Rathäusern und Kirchen offiziell empfangen, und es nehmen offizielle Vertreter aus Polen an Vertriebenentreffen in der Bundesrepublik Deutschland teil. Aus den Patenschaften von Städten, Kreisen und Gemeinden der Bundesrepublik Deutschland für die Heimatstädte, -kreise und -gemeinden von Vertriebenen entwickeln sich - durch den Anstoß von Vertriebenen und durch ihr Engagement - zunehmend deutsch-polnische kommunale Partnerschaften. Es sind dann wieder die Vertriebenen, die dann die Hilfe für dort organisieren: für Krankenhäuser, Alten- und Kinderheime und für den Aufbau kommunaler Selbstverwaltung.
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Auch auf polnischer Seite gibt es zahlreiche positive Beispiele einer praktischen Verständigung von unten, etwa derart, daß über 30 polnische Priester aus oberschlesischen Gemeinden in diesem Sommer in der Bundesrepublik geweilt haben, um als Polen die deutsche Sprache zu erlernen, um ihren deutschsprachigen Gemeindemitgliedern deutsche Gottesdienste
und deutschsprachige Seelsorge anbieten zu können.
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Ich meine - dazu wird bei den Haushaltsverhandlungen Gelegenheit bestehen müssen -, wir sollten gerade derartige, auf Verständigung, Begegnung, Austausch angelegte Projekte finanziell unterstützen.
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Ich möchte an einem Tag wie dem heutigen eine polnische Persönlichkeit würdigen, die nicht so sehr im Rampenlicht der Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen der letzten Jahre stand, aber viel dafür getan hat, nämlich Senator Jan Joszef Lipski, der in Polen zum Unrecht der Vertreibung, aber auch zur deutschen Geschichte und Kultur Schlesiens, Ostpreußens, Pommerns Bemerkenswertes zu einer Zeit gesagt hat, als dies in Polen noch Gefahr für Leib und Leben bedeutete. Und wenn heute der polnische Botschafter in der Bundesrepublik Deutschland, Janusz Reiter, sagt: „Die Steine in Breslau sprechen auch deutsch, und sie haben sehr viel auf deutsch zu berichten, sehr viel", so zeigt dies, daß unsere Beziehungen wirklich vor einer neuen Qualität stehen.
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Für diese Weiterentwicklung der Qualität steht der Nachbarschaftsvertrag. Er ist nicht Endpunkt, sondern Anfang einer Entwicklung. Er ist nicht der eng begrenzende Rahmen des Bildes der deutsch-polnischen Nachbarschaft, sondern er ist das Handwerkszeug für die Maler dieses Bildes, an denen es jetzt liegen wird, die Farben richtig zu mischen und die Pinselstriche richtig zu setzen.
Und es ist doch sehr bemerkenswert - darauf wurde heute viel hingewiesen - : Noch ehe dieses Bild der Nachbarschaft vollendet ist, beginnt dieser Vertrag bereits Vorlage für andere wichtige Verträge wie den deutsch-tschechisch-slowakischen Nachbarschaftsvertrag zu sein. Herr Koschnick, Sie haben recht: Er ist Vorlage auch für Verträge, die Polen jetzt mit Weißrußland, der Ukraine und Litauen schließen wird.
Ich meine, der Nachbarschaftsvertrag bietet ein Beispiel, wie man große Belastungen und Verkrampfungen der Vergangenheit für heute und in Zukunft durch einen verbindlichen und - das ist sehr wichtig - auf die europäische Dynamik angelegten Minderheitenschutz lösen kann, aber auch durch umfassende grenzüberschreitende Zusammenarbeit, vor allem in geschichtlich belasteten Grenzregionen. Diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit darf sich nicht nur auf Wirtschaft, Verkehr, Technik und Umwelt erstrecken, sondern sie ist gerade im kulturellen und historischen Bereich so wichtig. Besonders dadurch - das sollten wir sehen - kommt sie dem dem Menschen innewohnenden Wunsch nach, sich mit seiner näheren Umgebung zu identifizieren und im historischen, aber auch im gegenwärtigen Sinn Heimat erfahren zu können.
Kriege und Vertreibungen habe über Deutsche und Polen in diesem Jahrhundert unendlich viel Leid gebracht und für Millionen von Menschen auf beiden Seiten zum Verlust der Heimat geführt. Menschen wurden entwurzelt, nicht nur im materiellen Sinne - und ich stimme zu: auch im materiellen Sinne gibt es noch offene Fragen - , sondern auch besonders im geistigen Sinn. Deshalb wird es so wichtig sein, Deutschen und Polen, die dieses Schicksal miteinander verbindet, Heimat wieder erfahrbar zu machen; nicht nur geistig abstrakt, sondern durch Leben und Erleben vor Ort, ungehindert durch Grenzen jeder Art, unbedroht von Intoleranz oder gar von Unterdrükkung der Identität, Sprache, Kultur, aber auch der wirtschaftlichen Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit.
Ich möchte schließen mit einem Wort des Ostpreußen Siegfried Lenz, was Heimat für den Menschen bedeutet: „Heimat" - so Siegfried Lenz - „das ist für mich nicht allein der Ort, an dem die Toten liegen! Es ist der Winkel vielfältiger Geborgenheit, es ist der Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Gefühl, ja selbst im Schweigen aufgehoben ist, und es ist der Flecken, an dem man wiedererkannt wird; und das möchte doch wohl jeder eines Tages: wiedererkannt, und das heißt: aufgenommen werden! "
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Das Wort hat der Abgeordnete Meckel.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! An diesem Vormittag wird in Frankfurt/Oder die Europa-Universität eröffnet, an der Deutsche und Polen, europäische und außereuropäische Studenten gemeinsam werden studieren können. Polen hat an diesem Projekt großes Interesse und will daran mitarbeiten. In Brüssel wird heute erwartet, daß es im Ministerrat bei den Abstimmungen zu den Assoziierungsverträgen der EG mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zu wichtigen Fortschritten kommt. Beides zeigt: Das, was hier heute zur Debatte steht, ist keine bloße Theorie, sondern ein sich schon vollziehender Prozeß, und darüber können wir froh sein.
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Es hat lange gedauert, bis wir diese Verträge hier vorgelegt bekamen und nun verhandeln können. Was den Vertrag über gute Nachbarschaft betrifft, Herr Bundeskanzler, so ist es unangemessen, dies den wechselnden Regierungen Polens zuzuschreiben, wie Sie es vorgestern getan haben. Die Optionen Polens haben sich in dieser Zeit nicht verändert. Wir hatten es die ganze Zeit mit demselben erfahrenen Außenminister Skubiszewski zu tun. Dagegen ist uns das Hin und Her in den Regierungsfraktionen noch gut im Gedächtnis.
In der Frage der Grenze war es im letzten Jahr manchmal belastend, wie von Ihrer Seite aus innerparteilichen und wahltaktischen Gründen das auch von Ihnen als notwendig Erkannte behindert und verzögert wurde.
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Im Juli letzten Jahres beim dritten Außenministertreffen von Zwei plus Vier in Paris hat die BundesreMarkus Meckel
gierung im letzten Augenblick zugestimmt, daß Grenz- und Nachbarschaftsvertrag unterschieden werden und erst der Grenzvertrag - und hier zitiere ich - „innerhalb der kürzestmöglichen Zeit nach der Vereinigung ... unterzeichnet und dem gesamtdeutschen Parlament zugeleitet wird". So die Erklärung von Herrn Genscher und mir in Paris. Genau das aber war den Polen verständlicherweise sehr wichtig.
Sie, Herr Kanzler, haben das später in Frage gestellt und im November im Gespräch mit Ministerpräsident Mazowiecki diese Zusage von Paris faktisch zurückgenommen. Deshalb wird über den Grenzvertrag entgegen der Pariser Erklärung erst jetzt und mit dem Nachbarschaftsvertrag gemeinsam abgestimmt, ob - wohl er schon seit zehn Monaten fertig ist.
Jetzt aber sind wir glücklicherweise soweit und haben Verträge vor uns, die wir nur begrüßen können, sind sie doch der Abschluß eines langen Prozesses, der mit der Denkschrift der EKD und dem erwähnten Briefwechsel der Bischöfe Polens und Deutschlands seine Vorboten und dem Kniefall Willy Brandts in Warschau seinen Anfang hatte.
Wir aus der DDR, die über Jahrzehnte per Staatsdoktrin offizielle Freunde Polens waren, zugleich aber wohlabgeschirmt von Einflüssen aus dem Nachbarland, besonders nachdem Solidarnosc entstanden war, waren von der eigenen Geschichte und der daraus erwachsenden Verantwortung abgeschnitten.
Mit der Erklärung der Volkskammer nach der freien Wahl im März 1990 stellten wir uns bewußt in diese belastete deutsche Geschichte und gleichzeitig in die Versöhnungsgeschichte, die mit Willy Brandts Namen verbunden ist, und erklärten u. a. die deutschpolnische Grenze an Oder und Neiße für unverletzlich. Auch das war ein Markstein auf dem Weg zu diesen Verträgen.
Nach der deutschen Vereinigung und mit diesen Verträgen ist im deutsch-polnischen Verhältnis nun fast alles neu zu gestalten.
An der für alle Zeiten anerkannten deutsch-polnischen Nachkriegsgrenze an Oder und Neiße begegnen sich zwei demokratische Staaten. Das ist neu. Gerade angesichts der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ist deutlich, daß wirklich gute Nachbarschaft nur zwischen demokratischen Staaten gedeiht, da nur hier freie, vielfältige und vertrauensvolle Beziehungen zwischen den Menschen möglich sind.
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Lange Zeit waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen von der Frage der deutschen Minderheit belastet. Mit dem Nachbarschaftsvertrag hat Polen jedoch eine Vorreiterrolle übernommen, indem es erstmals die KSZE-Aussagen zu Minderheitenfragen in einem zwischenstaatlich und völkerrechtlich bindenden Vertrag für sich festgelegt hat. Damit kann es ein Beispiel für andere Staaten in Ost-, und, wie ich denke, auch Westeuropa sein.
Schon seit Antritt der Regierung Mazowiecki änderte sich für die deutsche Minderheit viel. Bei meinen Reisen nach Polen in diesem Frühjahr und Sommer ist sehr deutlich geworden, daß viele Polen, vor allem dort, wo sie mit Deutschen zusammenwohnen, wie in Oberschlesien, dieses Zusammenleben und die daraus erwachsenden Kontakte nach Deutschland als eine Chance und einen Gewinn für ihr Land ansehen.
Ebenso wächst bei der deutschen Minderheit selber die Erkenntnis, daß ihr Wohl von der Entwicklung Polens insgesamt abhängt. Sie ist zunehmend bereit, in Polen Verantwortung zu übernehmen, d. h. dann faktisch für Deutsche und Polen gemeinsam in den Städten, Dörfern und Regionen, in denen sie gewählt sind.
Vertreter der deutschen Minderheit werden wahrscheinlich auch dem neuen demokratisch gewählten Sejm angehören und dort natürlich Verantwortung für die Entwicklung des ganzen Landes tragen. Wir halten das für wichtig und unterstützen es.
Dabei wollen wir Sozialdemokraten verstärkt den Kontakt auch zu der deutschen Minderheit in Polen suchen. Sie braucht Kontakte zum gesamten politischen und gesellschaftlichen Spektrum in Deutschland. Auch die deutsche Finanzhilfe sollte sie künftig auf vielerlei Wegen über das Auswärtige Amt erreichen.
Gewiß gibt es bei den Deutschen in Polen noch manches Mißtrauen. Die Vertreibung der Deutschen nach 1945, die Nichtanerkennung als deutsche Minderheit und manch andere schlimmen Erfahrungen in der Vergangenheit mit dem stalinistischen Staat in Polen sind noch nicht verarbeitet. Manchmal ist das innere Bewußtsein noch nicht gewachsen, daß Polen jetzt demokratisch ist und daß in der kurzen Zeit der Demokratie der deutschen Minderheit schon ungeheure Veränderungen zugewachsen sind.
Unsere ganz besondere Aufmerksamkeit und Förderung müssen wir auf die Region beiderseitig der Grenze lenken. Staatliche Planungen aller politischen Ebenen dürfen an dieser Grenze nicht aufhören. Raumordnungs- und Verkehrsplanungen und Umweltschutzaufgaben sollten stets in Kooperation mit dem polnischen Nachbarn durchgeführt werden.
Die schwierige Geschichte dieser Grenze muß durch die Förderung vielfältiger Kontakte und Zusammenarbeit über die Grenze hinweg überwunden werden.
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Das darf nicht nur Sache der Kommunen bleiben und nicht nur von ihnen finanziert werden müssen. Manches geschieht hier schon auf allen Ebenen. Doch muß es weiter ausgebaut und stabilisiert werden.
Wir brauchen an dieser deutschen Grenze, die heute noch gleichzeitig die Grenze der EG ist, die gezielte wirtschaftliche Förderung durch den Bund und die Europäische Gemeinschaft. Eine solche Förderung sollte auch Bestandteil der Assoziierungsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei sein, die, wie der Vertrag mit Ungarn, bald verabschiedet Weden sollten.
Die Länder brauchen unsere Hilfe, d. h. sowohl das Geld als auch unser Know-how, ständige Kontakte und Beratungen für die Umgestaltung im Lande und
die Ausbildung der Menschen. Alle Hilfe aber geht ins Leere, wenn vorhandene Produktionskapazitäten ruiniert werden, weil selbst konkurrenzfähige Waren keinen Absatz finden. So brauchen sie eben unsere Märkte, die wir durch den Protektionismus der EG nicht verschließen dürfen.
Trotz aller Schwierigkeiten, die das für die EG und natürlich auch für uns bedeutet, ist daher eine Marktöffnung auch für landwirtschaftliche Güter sowie Textil- und Stahlprodukte von absoluter Notwendigkeit für diese Länder.
Künftige Hilfen für die Sowjetunion und andere benachbarte Republiken sollten nicht nur aus dem eigenen EG-Überschuß kommen, sondern auch durch gestützte Kredite an die jeweiligen Länder für Waren z. B. aus Polen abgedeckt werden. Das schafft Vertrauen in eine funktionierende, nicht durch Protektionismus verzerrte Marktwirtschaft, die ja gerade gelernt werden will.
Meine Damen und Herren, der erste Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit Polen mußte vor 21 Jahren noch gegen den heftigen Widerstand eines großen Teils dieses Hauses erkämpft werden. Heute hingegen finden die deutsch-polnischen Verträge einen breiten politischen Konsens. Daraus erwächst meine Hoffnung, daß diese Verständigung alle gesellschaftlichen Bereiche des Lebens erfaßt und damit zu einer umfassenden Aussöhnung zwischen beiden Völkern führt.
Ich danke Ihnen.
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Nun spricht der Abgeordnete Ulrich Irmer.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein besonderer Tag: Das deutsche Parlament nimmt die Beratungen über die Verträge auf, die die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen auf eine neue Grundlage stellen sollen. Wir sind uns bewußt, daß nicht wenige unserer Mitbürger an diesem Tag auch Schmerz empfinden. Wir sollten darüber nicht leicht hinweggehen. Die Vertriebenen und Füchtlinge, die in den ehemaligen deutschen Ostgebieten ihre Heimat hatten, sind durch die Folgen von Hitlers Krieg besonders schwer getroffen. Hierfür verdienen sie Verständnis und Mitgefühl.
Ich habe allerdings kein Verständnis für die wenigen - ich betone, es sind wenige; ihre Menge verhält sich umgekehrt proportional zu ihrer Lautstärke -, die mit Sprüchen wie „Verzicht ist Verrat" die Geschichte fälschen. Sie wollen nämlich dadurch den Eindruck erwecken, als sei es unser demokratischer Staat, der für den Verlust der Ostgebiete verantwortlich sei.
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Verantwortlich für den Verlust der Ostgebiete ist der Hitler-Krieg. Der Verlust der Ostgebiete ist eine logische Folge dieser Aggression damals.
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Insofern kann ich auch nicht der Wertung zustimmen, der Abschluß des Grenzvertrages sei der Preis für die Einheit, wie es gelegentlich gesagt worden ist. Es ist zwar richtig, daß auch nicht ein einziger in der Welt der deutschen Vereinigung zugestimmt hätte, wären wir nicht bereit gewesen, die jetzige Grenze als endgültig anzuerkennen. Der Preis aber war längst bezahlt, ehe die Einheit auch nur denkbar erschien. Es war der bittere Preis für den Tod und die schrecklichen Leiden, die Nazi-Deutschland Millionen und aber Millionen von Menschen zugefügt hatte.
Heute kommt es darauf an, meine Kollegen, in die Zukunft zu schauen. Die Verträge sind ein guter Rahmen für den Ausbau freundschaftlicher, nachbarschaftlicher Beziehungen. Es kommt jetzt darauf an, das in die Praxis umzusetzen, aus Paragraphen Leben zu machen.
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Ich glaube, wir dürfen nicht dabei stehenbleiben, lediglich die Verträge auszufüllen. Polen lebt, wie wir alle wissen, wie die anderen jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa in einer außerordentlich schwierigen Zeit. Die katastrophalen Folgen von 40 Jahren sozialistischer Zwangswirtschaft müssen im wirtschaftlichen und im menschlichen Bereich überwunden werden. Auch gibt es eine tiefe Besorgnis in diesen Ländern über die eigene Sicherheitslage. Es ist ganz logisch, daß man auf uns schaut, auf uns Deutsche, aber auch auf uns Europäer in der EG, und erwartet, daß wir helfen. Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, daß die Assoziierungsverhandlungen mit diesen Ländern jetzt beschleunigt werden sollen. Ich bin auch froh darüber, daß in diesen Assoziierungsverträgen dann ausdrücklich die Perspektive für den späteren Erwerb der Vollmitgliedschaft in der EG eröffnet werden soll. Aber ich habe meine Zweifel, ob dies alles schon ausreicht.
Der Bundeskanzler hat vorher völlig zu Recht gesagt: Wer schnell hilft, hilft doppelt. Ich möchte hinzufügen: Wer richtig hilft, hilft doppelt.
Da stimme ich dem Kollegen Meckel ausdrücklich zu: Was ist das denn eigentlich, wenn wir in der EG sagen: Ja, wir helfen zwar, aber die Produkte, die diese Länder haben, dürfen sie bei uns nicht verkaufen. Ich weiß, daß solche Äußerungen Verdruß schaffen. Die Branchen, die hier betroffen sind, Landwirtschaft, Textil, Kohle und Stahl, sind auch bei uns Problembranchen; ich weiß es. Aber ist es nicht irgendwie aberwitzig, Produkte von Ländern nicht abzunehmen, die dringend auf die Erlöse aus diesen Produkten angewiesen sind? Ich meine, da ist ein Umdenken bei uns, vor allem bei unseren Partnern in der EG, angebracht. Ich bitte die Bundesregierung ausdrücklich, daß sie bei den EG-Partnern gegenüber in den Verhandlungen in Brüssel und anderswo darauf hinwirkt, daß man hier für die wirklichen Bedürfnisse Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und all der anderen offener wird.
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Meine lieben Kollegen, ich möchte noch eine Anregung geben. Wir wissen, daß der Erwerb der Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft beUlrich Irmer
stimmte wirtschaftliche Voraussetzungen erfordert, die, sagen wir einmal, in den nächsten fünf Jahren nicht zu erwarten sind. Das ist völlig klar. Aber genügt es dann, zu sagen: Aber wenn die mal soweit sind, dann sind sie in unserem Klub willkommen, und bis dahin assoziieren wir uns zwar, aber sonst geschieht nichts. Ich meine, das reicht nicht aus. Wir müßten etwas Phantasie darauf verwenden, was wir denn sonst tun könnten.
Ich bin natürlich nicht für ein Europa à la carte, wo sich jeder das für ihn Passende aussucht und das wegläßt, was ihm gerade nicht behagt oder was er im Augenblick noch nicht bringen kann.
Zumindest in einem Bereich könnten wir die Tür zu unseren östlichen Nachbarn aber schon weiter aufreißen, als das bisher vorgesehen ist. Es gibt nämlich die Europäische Politische Zusammenarbeit. Wer sagt denn eigentlich, daß sie da nicht schon hinzugezogen werden könnten, wer sagt denn, daß sie dort nicht mit am Tisch sitzen sollten?
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Gerade die dramatischen Ereignisse in der Sowjetunion, die wir in diesen Wochen erlebt haben, haben die Sicherheitsfrage in den Ländern zwischen dem, was die Sowjetunion war, und der EG völlig neu aufgeworfen. Die Leute haben dort Angst gehabt; man konnte es spüren. Ich war in den Tagen gerade in Prag. Sie brauchen es, daß wir ihnen die Hand entgegenstrecken und sagen: Ihr müßt nicht erst nach Europa gehen, ihr seid längst da. Wir wissen und akzeptieren das, und wir sind bereit, die Konsequenzen daraus zu ziehen.
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Die EG heißt - ich hoffe bewußt - nicht westeuropäische Gemeinschaft, sondern sie heißt Europäische Gemeinschaft. Diese anderen europäischen Länder müssen durch Taten und nicht nur durch Bekenntnisse das Gefühl einer ganz selbstverständlichen Zugehörigkeit und damit auch das Gefühl größerer Sicherheit bekommen. Dadurch könnten wir ihnen den Weg zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft ein gutes Stück weiter ebnen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Thema der Entschädigung für Zwangsarbeiter sagen. Das ist ein sehr trauriges Kapitel. Wir haben uns in diesem Hause in anderem Zusammenhang schon des öfteren damit befaßt.
Die Bundesregierung hat mir zugesagt, daß hierfür eine anständige, vernünftige, großzügige Lösung getroffen wird. Ich möchte die Bundesregierung gern beim Wort nehmen. Ich möchte auch den Gedanken aufgreifen, daß eigentlich nicht einzusehen ist, daß die vorgesehene Stiftung nur aus öffentlichen Töpfen gespeist wird. Warum sollten eigentlich nicht auch die Firmen oder ihre Rechtsnachfolger, die seinerzeit ja von diesen Greueln mit profitiert haben, zur Kasse gebeten werden? Das wäre nur recht und billig.
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Herr Präsident, meine lieben Kollegen, mit Recht ist die Regelung des Minderheitenstatus in den Verträgen gewürdigt worden. Wir alle wissen - die Ereignisse in Jugoslawien zeigen es besonders deutlich -, daß das Problem nationaler Minderheiten eines der zentralen Probleme europäischer Politik überhaupt ist. Ich freue mich darüber, daß es gelungen ist, in dem deutsch-polnischen Vertrag hierfür eine wirklich zukunftsweisende Regelung zu finden. Wir brauchen dann natürlich darüber hinaus ein europäisches Abkommen, das für alle verbindlich ist; denn übersteigerte Nationalismen und das Auseinanderbrechen von Staaten mit dem Ergebnis von Ministaaten, die Balkanisierung Europas, kann wohl nicht die Lösung sein. Eine solche Entwicklung läßt sich aber nur verhindern, wenn ein verbindliches Minderheitenrecht geschaffen wird, das dafür sorgt, daß sich nationale Minderheiten da wohlfühlen und entfalten können, wo sie leben.
Ich möchte abschließend danken, und zwar dem polnischen Volk, das durch seinen Mut und durch seinen Freiheits- und Reformwillen so viel dazu beigetragen hat, die schier unglaublichen Veränderungen in Europa herbeizuführen, die wir erleben durften. Ich möchte danken der großen Mehrheit der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, die trotz allem Schmerz erkannt hat, daß nur Versöhnung den Weg in eine friedliche Zukunft eröffnet. Dank sagen möchte ich auch dieser Bundesregierung, insbesondere dem Bundesaußenminister - er ist übrigens aus bekanntem Anlaß auf dem Weg nach Brüssel, und deshalb kann er hier nicht mehr anwesend sein -, der beharrlich und unbeirrt über die Jahrzehnte hinweg zur rechten Zeit das Richtige gesagt und getan hat, um unser Verhältnis zu Polen in Ordnung zu bringen.
Ich wünsche mir, daß nach leid- und schuldvoller Vergangenheit jetzt Freundschaft wird zwischen Polen und Deutschen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Terborg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden Abkommen, über die wir ab heute entscheiden, markieren ein wichtiges Datum in der wechselvollen und leidvollen deutsch-polnischen Geschichte. Für mich ist das ein historisches Datum. Ich scheue mich nicht, dieses in den letzten Monaten so oft gebrauchte und mißbrauchte Wort zu benutzen.
Von heute an werden beide Völker auf eine unverkrampftere Art miteinander umgehen können. Die Grenzfrage, die uns über so viele Jahre den Zugang zueinander versperrte, ist entschieden; sie ist endgültig entschieden. Dabei ist es im Grunde völlig unerheblich, ob wir diese Zäsur mit mißverständlichen Zusatzerklärungen - der Antrag der Regierungskoalition ist so eine - garnieren oder nicht. Ich denke, wir sollten den Blick nach vorn richten auf einen Weg, den wir Sozialdemokraten mit unserem Entschließungsentwurf vorzeigen.
Der heutige Tag beschließt ein Kapitel in der Geschichte beider Länder und eröffnet ein neues Kapitel, eröffnet eine Zeit, die von uns allen viel verlangt, damit das Zusammenspiel beider Völker im europäischen Maßstab Wirklichkeit werden kann.
Dabei können wir es uns nicht so einfach machen wie die Außenminister Frankreichs, Polens und der Bundesrepublik mit ihrer Weimarer Erklärung; denn - das sage ich Ihnen - das Miteinander in Europa muß mit mehr als nur mit hehren Postulaten und wohlfeilen Absichtserklärungen erfüllt sein.
Ich will einige nennen: Ein Europa der offenen Grenzen - das wollen wir doch alle - wirft auch das Problem der Wanderungsbewegungen aus den verarmten Ländern Osteuropas in die Weststaaten auf. Das ist nicht nur ein deutsch-polnisches Problem: Es tangiert die Sowjetunion im Umbruch; es tangiert das zerbröckelnde Jugoslawien; es tangiert Albanien, Rumänien und andere Staaten.
Den Eisernen Vorhang, der Gott sei Dank gefallen ist, können wir nicht durch einen papierenen aus Reisedokumenten und Visastempeln ersetzen. Verlangt ist eine Kanalisierung der Wanderungsbewegungen durch bilaterale - besser noch: durch multilaterale - Vereinbarungen über ein neues Statut für Wanderarbeitnehmer in Europa. Diese Abkommen müssen einen zeitlich befristeten, sicher auch zahlenmäßig kontingentierten Zugang zu westlichen Arbeitsmärkten eröffnen, und sie müssen dabei tarifliche und gesellschaftliche Mindeststandards enthalten.
Auf Polen bezogen wird dieser Transfer nicht zuletzt über die polnische und die deutsche Arbeitsverwaltung gesteuert werden müssen. Ich gebe zu: Das ist vorerst eine Notlösung; dennoch muß sie schnell gefunden werden.
Wichtiger noch ist der Aufbau lebensfähiger marktwirtschaftlich orientierter Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa, ist die Neuorganisierung des Miteinander im gesamteuropäischen Wirtschaftsraum, ist die zügige Erweiterung der Gemeinschaft.
Ich kann gut verstehen, wenn Polen bei diesem Prozeß Unterstützung und Hilfe von seinen großen westlichen Nachbarn erwartet. Ebenso selbstverständlich ist es, daß dies nicht allein eine deutsch-polnische Angelegenheit ist, sondern eine Forderung an alle westlichen Industriestaaten. Schritte, die wir jetzt zu tun haben, sind im Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vorgezeichnet. In unserer Entschließung erinnern wir daran.
Schon bei der Dimensionierung des deutsch-polnischen Jugendwerkes wird man auch den Austausch junger Arbeitnehmer einschließen müssen. Einander begegnen, voneinander lernen muß auch heißen, daß es zu einem Transfer des wirtschaftlich-technischen Arbeitnehmer-Know-how kommt. Ich denke, in der ferneren Perspektive muß dieses deutsch-polnische Jugendwerk in ein gesamteuropäisches münden und für die jungen Menschen in allen Staaten Europas eine neue Perspektive bieten.
In den Art. 20, 21 und 22 des Vertrages wird die so heikle Frage der deutschsprachigen Minderheit in Polen und deren kultureller Identität und Fortentwicklung angesprochen. Die Grundsätze sind klar herausgearbeitet worden. Einer zusätzlichen Interpretation, wie die Koalition das in ihrer Entschließung versucht, bedarf es nicht. Viel wichtiger ist, wie wir das kulturelle Leben der deutschsprachigen Minderheit unterstützen können. Dazu wird man nicht notwendigerweise neue Mittel aufbringen müssen; man muß die vorhandenen, so scheint es mir, gezielter einsetzen.
Um es konkret zu machen: Es kommt nicht darauf an, Subventionstöpfe der Vertriebenenverbände global zu bedienen. Vielmehr kommt es darauf an, unseren Generalkonsulaten mehr Handlungsspielraum für eine Förderung vor Ort einzuräumen.
Ich erlaube mir die persönliche Bemerkung, daß ein Deutschlehrer, eine deutschsprechende Kindergärtnerin bessere Botschafter deutscher Kultur in Polen sein können als etwa ein Funktionär der Landsmannschaft der Schlesier,
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dem der heutige Grenzvertrag nach wie vor wie purer Verrat an der deutschen Sache vorkommt. Die ersteren, denke ich, sollten wir fördern, den letztgenannten allenfalls bedauern.
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Ich glaube, es ist keine Vermessenheit, wenn wir auf die Menschen in beiden Ländern setzen, für die die unglückliche Vergangenheit der Polen und der Deutschen Geschichte ist und Anlaß zugleich, es künftig besser zu machen. Ganz sicher ist es uns als Deutschen verwehrt, aus der Geschichte auszusteigen.
Weil das so ist, werden wir uns auch um das Schicksal der polnischen Zwangsarbeiter im Hitler-Deutschland nicht länger herumschwindeln können. Es ist bezeichnend, daß unsere Aufforderung an die Bundesregierung, dieser Personengruppe materielle Hilfe anzubieten, im Koalitionstext nicht erscheint. Eine Wiedergutmachung ist dieser Personengruppe bis heute vorenthalten worden. Ich finde, das ist peinlich und unverantwortlich zugleich. Diesen Teil der Geschichte haben wir zu bereinigen, und zwar als Staat und als Wirtschaft, die seinerzeit aus der Zwangsarbeit erhebliche wirtschaftliche Vorteile gezogen hat. Alle, die die Geschichte vergessen oder verdrängen wollen, werden letztlich von ihr eingeholt. Auch für uns gibt es keine Ausnahme. Deshalb denke ich, daß wir hier nachbessern müssen. Ich appelliere an die Koalition, die künftige gute Nachbarschaft nicht mit einer Leiche im Keller beginnen zu wollen. Ich hoffe deshalb sehr, daß die hier heute gemachte Ankündigung des Bundeskanzlers bald in die Tat umgesetzt wird.
Lassen Sie mich ein letztes sagen, und ich meine das sehr ernst: Nach wie vor habe ich die große Sorge, was wohl geschieht, wenn noch auf Jahre hinaus das Erlebnis Demokratie für die Polen und für viele andere Mittel- und Osteuropäer einhergeht mit einer Absenkung des Lebensstandards und einer jahrelangen Durststrecke der Entbehrungen. Das bekommt den Menschen nicht, das bekommt der Demokratie nicht, und das bekommt Europa nicht. Also ist schnelle, ist
globale Hilfe angesagt. Europas Investitionen in Demokratie und Frieden müssen Investitionen in die wirtschaftliche Zukunft dieser Länder sein. Die Lebenschancen der Menschen in Mittel- und Osteuropa sind die dauerhafteste Friedensdividende, die wir erwarten können und für die wir alle gemeinsam, die Deutschen, die westeuropäischen Völker, die USA, Kanada und Japan, in Vorleistung gehen müssen, und zwar in Polen, aber eben nicht nur in Polen.
Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß ich immer wieder versucht habe, den deutsch-polnischen Verständigungsprozeß in einen gesamteuropäischen Rahmen zu stellen. Das schmälert die Einzigartigkeit des Vertragswerkes nicht. Das relativiert auch nicht die Pflichten und Aufgaben, die unserem Land aus diesem Vertrag erwachsen. Was wir heute tun, ist ein erster beherzter Schritt in eine gesamteuropäische Zukunft. Je überzeugender der Deutsche Bundestag diesen Schritt bei den späteren Abstimmungen tun wird, um so tragfähiger werden die Grundstrukturen dieses Vertrages sein, zum Wohle der Deutschen und der Polen und des ganzen Europa.
Deshalb beantrage ich im Namen der SPD-Bundestagsfraktion die Überweisung an die Ausschüsse.
Vielen Dank.
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Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Abgeordnete Hornhues das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Abschluß dieser Debatte heute morgen zunächst das Allerwichtigste feststellen: Der Deutsche Bundestag hat die Schlußberatungen der uns vorliegenden Verträge mit dem erkennbaren Bild einer sehr großen Einmütigkeit begonnen. Ich glaube, das ist das, was in bezug auf die Wünsche, die übergebracht werden müssen, Hoffnung für die Zukunft gibt.
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Es gehört bei solchen Debatten zur üblichen Routine, daß die Opposition nach Haaren in der Suppe sucht und manchmal sogar einige findet, daß die Regierungskoalition die Regierung lobt, manchmal auch ein wenig über den grünen Klee. Man ist versucht, es bei dieser Routine zu belassen. Gleichwohl muß ich noch auf einen Dollpunkt zurückkommen, Herr Kollege Koschnick, weil er auch bei Ihnen eine Rolle gespielt hat. Herr Meckel hat sehr stark das Hickhack um die Verträge kritisiert und gesagt, es habe sehr lange Zeit gedauert und ähnliches mehr. Sie haben den Kanzler gelobt, weil er sich am Ende irgendwie durchgesetzt habe.
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Wir begrüßen, loben und unterstützen unseren Regierungschef nicht deshalb, weil er sich durchgesetzt hat, sondern weil es ihm gelungen ist, dieses Vertragspaket auf den Weg zu bringen, und weil er den Versuch gemacht hat, den Weg nicht gegen die Heimatvertriebenen, sondern mii ihnen zu gehen und manch kleine Qual und aus Ihrer Sicht vielleicht überflüssige Diskussion hingenommen hat. Das ist der entscheidende Punkt. Dies ist wichtiger als manches andere, weil es auf lange Frist friedensstiftend wirkt und letztlich die Basis dafür bildete, daß der Kollege Koschyk, vor dem ich wegen seiner Rede tiefen Respekt habe, heute morgen diese Rede hat halten können. Herr Kollege Koschyk, dafür möchte ich Ihnen auch namens meiner Fraktion Respekt und herzlichen Dank aussprechen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion begrüßt das Vertragswerk und ist zutiefst davon überzeugt, daß es dem Wunsch der übergroßen Mehrheit der Deutschen entspricht, Verständigung und Versöhnung mit den polnischen Nachbarn zu finden. Wir sind der Überzeugung, daß dieses Vertragswerk deswegen die große Chance hat, weil es von dem Bestreben geprägt ist, nicht nur die leidvollen Kapitel der Geschichte abzuschließen, sondern auch deutlich zu machen, daß Deutsche und Polen nicht nebeneinander, sondern miteinander in Europa eine europäische Zukunft suchen wollen.
Das deutsch-polnische Vertragswerk ist ein entscheidend wichtiger Bestandteil in der Entwicklung zu einem neuen Europa. Die Einbettung des deutschpolnischen Verhältnisses in die neue europäische Architektur macht ihn - das ist heute schon mehrfach angedeutet und gesagt worden - zu einem beispielhaften und weitsichtigen Dokument. Ich bin versucht, den Außenminister oder andere zu bitten, diesen Vertrag und seine Vorgeschichte komplett zu nehmen und in Seminaren, Vorträgen und Diskussionen blitzartig in einem Teil Europas, in Jugoslawien, allen zu erzählen, weil auch diese Region Europas Frieden und Befriedung nur wird finden können, wenn am Ende der Entwicklung auch dort so etwas ähnliches wie ein solcher Vertrag stehen wird. Was dort geschieht, ist heillos; auf Panzer, auf Macht, auf Gewalt, auf Haß ist Zukunft nicht zu bauen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir übernehmen mit diesem Vertrag besonders die Verpflichtung, uns für Polens Weg nach Europa zu engagieren.
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Dies ist nicht nur eine Frage von Ökonomie, nicht nur eine Frage von Kultur, von kultureller Zusammenarbeit, sondern es ist auch eine Frage von Sicherheit. Ich wollte eigentlich auf Herrn Kollegen Modrow gar nicht mehr eingehen; das lohnt auch nicht, weil er nicht mehr da ist. Deshalb trotzdem zu Protokoll: Niemand in Polen hat Sorge wegen NATO-Flugzeugen an der deutsch-polnischen Grenze. Im Gegenteil: Die Polen hätten ganz gerne, daß auch ihre Flugzeuge NATO-Flugzeuge wären; sie würden sehr gerne mitfliegen. Das formuliert man in der Regel diplomatischer, anders und nicht so öffentlich, entspricht aber so ungefähr der Wahrheit.
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- Auch da haben wir die Verpflichtung, Herr Kollege
Koschnick, dieses Sicherheitsbedürfnis Polens ernst
zu nehmen. Ich freue mich, daß die ersten, ein wenig
seltsamen Reaktionen auf diese Sicherheitsbedürfnisse aus Richtung NATO, aus Richtung Westen zugunsten einer vernünftigen Betrachtung weitgehend gewichen sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns wird von daher in besonderer Weise wichtig sein, daß wir uns, wie ich gesagt habe, für den Weg Polens nach Europa engagieren. Aber damit wir uns nicht übernehmen - wir tun ja manchmal so, als könnten wir alles alleine - möchte ich noch einmal für unsere Fraktion unterstreichen, was heute morgen schon gesagt worden ist, wie notwendig es nämlich ist, daß dieser Weg gemeinsam gegangen wird und daß wir immer wieder unsere Freunde im Westen und anderswo bitten müssen, mitzuhelfen und mitzugehen, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten; vor allen Dingen das letztere ist von besonderer Bedeutung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man dankt - das ist heute vielfach an dieser Stelle geschehen -, hat man vielen zu danken. Man hat denen zu danken, die wegen der gemeinsamen europäischen deutsch-polnischen Zukunft den Weg mit wehem Herzen trotzdem mitgehen. Man hat denen zu danken, die in mühseliger Kleinarbeit, als es noch nicht so leicht war, Wegbereiter waren, in Deutschland wie in Polen, jenen Millionen, die damals spontan viel für ein menschliches Miteinander getan und geholfen haben, als das Kriegsrecht über Polen hereinbrach. Man muß auch jenen in Polen danken, die zu einer Zeit, als es dort Hochverrat war, für sich, für ihre Partei und für ihr politisches Denken eine neue Deutschlandpolitik formuliert haben, jenen Politikerinnen und Politikern der Solidarnosc, die zu einer Zeit, als es schier undenkbar war, zu glauben, daß so etwas kommen könne, sagten, eine sichere Zukunft Polens liege in einem geeinten, vereinigten Europa.
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Als die Solidarnosc dies formulierte, war das Hochverrat. Heute kann man solche Sätze, wie Sie wissen, leichter bekommen. Aber daran soll in dieser Stunde erinnert werden, damit es nicht vergessen wird.
Dies ist die Basis des Denkens, die Hoffnung auf Zukunft gibt, daß manches, was hier noch mit dem Begriff Hoffnung, daß es auch so wird, umschrieben wird, tatsächlich Realität wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, den wir heute beraten, behandelt - als wichtiges Anliegen unsererseits formuliert - Fragen der Rechte der deutschen Minderheit in Polen. Ich habe gerade gesagt: Bei manchem muß man noch hoffen, daß es klappt, daß es gutgeht. Herr Kollege Koschnick hat die Notwendigkeit der Gesetzgebung in Polen angesprochen. Dies alles ist wichtig. Ich spreche auch an, was wir auch in unseren Reihen noch an Anfragen dazu haben, ob es nicht ein wenig klarer, präziser hätte formuliert werden können. Das ist der Sinn und der Hintergrund unseres Antrags. Frau Kollegin, wenn Sie ihn einmal insgesamt lesen, stellen Sie fest: Er ist gar nicht so schlecht. - Was die schönen Worte angeht, die Sie alle heute morgen gesagt haben, die ja zum Teil auch völlig neu waren, nämlich, wie schön es sei, daß die Minderheitenrechte anerkannt würden, so muß ich sagen: Vor kurzem
hätte dies mancher in diesem Hause so noch nicht formuliert, hätte sich nicht so lobend darüber geäußert.
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Herr Kollege Koschnick, Sie wissen genau, wovon ich rede.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, dies sollte uns veranlassen, zu überlegen, ob es nicht sinnvoll, notwendig und richtig ist, diesen Antrag so zu sehen, nämlich als einen Wunsch, eine Erwartung, eine Hoffnung, von der ich allerdings glaube, daß sie weitgehend wird realisiert werden können. Ich kann mich noch an meinen ersten Besuch in Polen vor Jahren erinnern, als ein mich begleitender Diplomat meines Landes Schweißperlen auf die Stirn bekam, als ich es mit den damaligen Umschreibungskünsten nicht hinkriegte, die man anwendete, um nicht einen Eklat auszulösen, die Heimatvertriebenen zu benennen. Ich konnte das nicht. Ich habe das Wort nicht behalten und habe schlicht „die Vertriebenen" gesagt. - Wenn ich die Entwicklung von damals bis heute betrachte und sehe, welcher Weg gegangen worden ist, dann gibt mir dies die ziemlich sichere Hoffnung, daß vieles besser klappen wird, als mancher Skeptiker dies erwartet.
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Herr Dr. Hornhues, ich nehme an, Sie lassen eine Frage des Abgeordneten Koschnick zu.
Ja, bitte!
Herr Kollege Hornhues, würden Sie eine Lösung darin sehen, daß wir gemeinsam unsere Anträge in den Ausschuß geben und versuchen, eine Klärung zu bekommen und eine Fassung zu finden, die wir gemeinsam tragen können?
Herr Kollege Koschnick, soweit ich das sehe, werden wir ja gleich die Anträge an den Ausschuß überweisen. Ich komme auch noch auf einen Punkt zu sprechen, der Ihnen Hoffnung geben wird, daß es gelingen kann, dies so zu tun, wenn Sie bereit sind, einmal die eine oder andere Passage bei uns, die uns sehr wichtig ist, wohlwollend zu prüfen. Ich glaube, daß in den Fachberatungen die Tür noch lange nicht zu ist. Wir haben uns ja ernsthaft noch gar nicht bemüht, eine gemeinsame Entschließung hinzukriegen.
({0})
Da wir erst am Anfang der Beratung stehen, ist das ja auch sinnvoll.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Erklärung des Bundeskanzlers von heute vormittag, daß die Bundesregierung mit der polnischen Regierung in Verbindung steht, um für die polnischen Bürger, die unter nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen besonders schlimm zu leiden hatten, eine Regelung, etwa durch eine Stiftung, zu finden, eine Regelung, die zumindest eine gewisse materielle Entschädigung bietet. Wir haben zur Kenntnis genommen und begrüßen es, daß der Bundeskanzler gesagt hat, er gehe
davon aus, daß sehr bald - so wörtlich zitiert - dem Bundestag Vorschläge von der Bundesregierung unterbreitet werden können.
Wir gehen jetzt in die Ausschußberatung über die Verträge. Die Verträge selbst - das ist Tradition - werden dabei nicht mehr verändert werden, aber es wird manches verändert und diskutiert werden können, was in die Zukunft weist. Als jemand, der sich über Jahre auch um die auswärtige Kulturpolitik gekümmert hat, habe ich natürlich mit besonderem Wohlgefallen die im Manuskript nicht vorgesehenen Sätze meines Bundeskanzlers über die auswärtige Kulturpolitik und die Kulturbeziehungen gehört. Ich bin ziemlich sicher, daß irgend jemand der Bundesregierung mitteilen wird, daß das gesamte Hohe Haus, also inklusive der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf die konstruktiven Vorschläge der Bundesregierung wartet, die wir dann wohlwollend beraten werden.
({1})
- Ja, das haben wir schon öfter gesagt. Ich habe es jetzt noch einmal angemahnt, Herr Kollege Lamers, damit es im Protokoll vermerkt ist.
Wir gehen jetzt in die Schlußberatung zu den Verträgen. Dabei wird für manchen die Frage sein: Was wird daraus? Das wird wichtig sein; denn letztlich wird nicht der Buchstabe, sondern der Geist, mit dem beide Seiten, die Menschen in beiden Ländern, darangehen werden, aus den Verträgen Leben zu machen, lebendiges Miteinander zu machen, entscheidend dafür sein, was daraus wird.
Wenn ich daran denke, daß die Radiostation, die Deutsche in Kattowitz betreiben, ihre Arbeit unter das Motto „Versöhnung und Zukunft" gestellt hat, kann ich nur sagen: Ein besseres Motto für die gesamte künftige Entwicklung kann man sich nicht wünschen. Es ist hervorragend.
Wenn, wie ich weiß, auf polnischer Seite auch dieser Vertrag als ein wichtiger Teil des Weges von Polen nach Europa gesehen wird, dann lassen Sie mich mit der Anmerkung schließen, daß wir der festen Hoffnung sind, daß wir nicht ohne Grund sagen können: Liebe polnische Nachbarn, dieser Vertrag soll ein Stück weit auch unser „Herzlich Willkommen" in Europa sein.
Danke schön.
({2})
Damit sind wir am Ende der Debatte über die Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den deutsch-polnischen Verträgen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/1103 bis 12/1105 und 12/1107 zu überweisen, und zwar wie folgt: zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß. Der Entschließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/1119 soll an dieselben Ausschüsse und zusätzlich an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Gibt es dazu noch weitere Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 und den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
4. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze
- Drucksache 12/899 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({0}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
ZP3 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Außenwirtschaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Gesetze
- Drucksache 12/765 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({1}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, daß wir eine Aussprache von einer Dreiviertelstunde beschließen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann können wir die Aussprache beginnen.
Zunächst einmal hat der Abgeordnete Kittelmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute zum wiederholten Male über ein Reizthema, das in der Öffentlichkeit - zu Recht - mit überaus großer Sensibilität verfolgt wird. Damit ruht das öffentliche Auge natürlich besonders wachsam auf uns Mandatsträgern und unserer besonderen Verantwortung, einer Verantwortung, der wir uns gerade in der heiklen Frage des Rüstungsexports immer bewußt bleiben müssen und der wir uns nicht zuletzt wegen der kritischen Aufmerksamkeit, die uns in diesem Rahmen gerade aus dem Ausland zuteil wird, stellen sollten.
Daß hier von einigen seit längerer Zeit auf uns gezeigt wird, die zunächst doch lieber ihre eigene Position hätten kritisch hinterfragen sollen - damit meine ich Frankreich, England und die USA -, bleibt unbestritten, sollte uns aber nicht aus unserer besonderen Verantwortung entlassen. Ich habe mehrfach in Debatten hier in diesem Rahmen auf unsere historische Hypothek verwiesen.
Mir scheint aber auch ein zweiter Gesichtspunkt von besonderer Bedeutung zu sein, der mit der Funktion der Parteien, ihrer Reputation und Akzeptanz bei unseren Wählern im eigenen Land zusammenhängt, nämlich daß unser politisches Wollen in der Öffentlichkeit häufig nicht deutlich wird. Hier, meine Damen und Herren, bitte ich die Opposition um ihre Aufmerksamkeit.
Es läßt sich meines Erachtens kaum noch vermitteln, daß wir in einer so wichtigen Frage, in der größter
Handlungsbedarf besteht, noch immer nicht zu einer gemeinsamen Entscheidung gefunden haben.
({0})
- Frau Fuchs, Sie wissen doch gar nicht, worum es hier geht.
({1})
- Entschuldigung, daß ich Sie beim Lesen gestört habe.
({2})
Dies, obgleich unmittelbar nach dem Debakel des Golfkriegs und den offenkundigen Verstrickungen einiger deutscher Firmen der Wirtschaftsminister und die Regierungskoalition unverzüglich initiativ geworden sind.
Tatsächlich muß unter diesen Bedingungen der Eindruck entstehen, daß die Sozialdemokraten nicht dazu beitragen, Lösungen für die komplexen Probleme zu finden, sondern sich ausschließlich parteipolitisch produzieren.
({3})
Damit werden Entscheidungsprozesse nicht nur auf fatale Weise behindert, sondern die Glaubwürdigkeit des Auftrags der Parteien in Frage gestellt. Ich fordere die SPD deshalb nachdrücklich auf, ihren Widerstand gegen die geplanten Restriktionen endlich aufzugeben.
Meine Damen und Herren der Opposition, Sie stehlen sich aus der Verantwortung, wenn Sie auf der einen Seite die deutsche Wirtschaft anklagen, den Wirtschaftsminister kritisieren und selbst aber auf der anderen Seite den Weg zu einer strengen Exportregelung blockieren. Eine solche Taktik ist schlechthin unglaubwürdig.
({4})
- Schreiben Sie das alles ins Protokoll, damit ich die Zwischenrufe nachlesen kann!
Was wollen wir mit dem Gesetz? Erstens: besonders restriktive Regelungen im Rüstungsexport, um illegale Rüstungsexporte zu unterbinden, zweitens: ein entsprechendes Instrumentarium, um bereits im präventiven Bereich wirkungsvoll vorgehen zu können, drittens: drastische Strafen bei Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz. Viertens muß es im Anschluß an das Gesetz endlich eine europaweit harmonisierte Exportregelung geben.
Lassen Sie mich kurz einige Punkte ausführen. Wir werden uns in diesem Hause darüber einig sein, daß die äußere Sicherheit der Bundesrepublik, das friedliche Zusammenleben der Völker und die auswärtigen
Beziehungen der Bundesrepublik herausgehobene, besonders zu achtende Rechtsgüter darstellen. Die Unantastbarkeit dieser Schutzgüter machen es erforderlich, daß wir gegen illegale Rüstungsexporte nicht erst dann vorgehen dürfen, wenn sie bereits getätigt sind. Gefahr für andere Völker und außenwirtschaftlicher Schaden sind dann ein Tatbestand, dem wir anschließend mühsam hinterherhinken. Die Aufklärung muß also vor Begehung der Straftaten erfolgen. Das ist unausweichlich.
Wenn sich die Bundesrepublik aus diesem Grunde entschieden hat, dem Zollkriminalinstitut die Möglichkeit einzuräumen, den Post- und Telefonverkehr von Unternehmen und Personen zu überwachen, so geschieht das vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nämlich der Schutzbedürftigkeit der aufgeführten Rechtsgüter. Aus diesem Grunde läßt sich auch der Eingriff in das Grundrecht des Art. 10 des Grundgesetzes durchaus rechtfertigen. - Der Kollege Eylmann wird auf diese Frage noch vertiefend eingehen.
In Zukunft soll es also darum gehen, eine Lücke des bisherigen Außenwirtschaftsgesetzes zu schließen, da die bislang allein zur Verfügung stehende Rechtsverordnung nicht länger wirkungsvoll greift und auch rechtlich nicht weiter vertretbar ist. Sie ist vor allen Dingen dann nicht mehr vertretbar, wenn wir gerade im Einzelfall etwas erreichen wollen. Es besteht also Handlungsbedarf.
({5})
Mit dieser Ermächtigung und den unabdingbaren Regelungen im präventiven Bereich hoffen wir einen wirksamen Beitrag zu effektiverer und besonders restriktiverer Rüstungsexportkontrolle zu leisten. Diesen wichtigen Entscheidungsprozeß hier zu unterlaufen, halte ich von den Sozialdemokraten für schlichtweg unverantwortlich.
Zwei Dinge müssen allerdings klar sein: Die Genehmigungsverfahren müssen zügig ablaufen, damit die deutsche Wirtschaft im gängigen Export nicht Nachteile erlangt und es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.
({6})
Unnötige Verzögerungen müssen durch eine entsprechende generelle Ausstattung der Stellen ausgeschaltet werden. - Das sind die Arbeitsplätze, die auch Ihre Wähler brauchen.
Es ist schlechterdings untragbar, wenn sich ein Exporteur über Verschleppungen im Genehmigungsverfahren beklagen muß, weil der zuständige Beamte gerade drei Wochen Urlaub macht. Beschwerden dieser Art, Herr Staatssekretär, häufen sich, und sie kommen bei Ihnen wahrscheinlich auch an. Hier müssen vom Wirtschaftsministerium dringlich strukturelle Vorkehrungen getroffen werden. Das ist dem Deutschen Bundestag mehrfach versichert und von uns auch gefordert worden. Die deutsche Industrie hat ihre Unterstützung der verschärfenden Maßnahmen zugesagt. Um so mehr ist es notwendig, jede Form von langfristigen Wettbewerbsnachteilen zu verhindern.
Ganz entscheidend wird es sein, ob es der Bundesrepublik gelingt, auf eine EG-weite Exportpolitik zu drängen und sie schließlich auf hohem Niveau festzulegen. Ich habe mehrfach betont, daß allein nationale Regelungen nach Vollendung des Binnenmarktes wirkungslos bleiben. Wertvolle Zeit, europaweit auf extrem strenge Regelungen hinzuwirken, ist durch die Blockierung des Gesetzentwurfes bereits verstrichen. Gemeinsame Normen und effiziente Kontrollen auf europäischer Ebene sind von herausragender Priorität. Im Europäischen Parlament und in der Kommission wird glücklicherweise in diesem Sinne verhandelt.
Auch die Erklärung des G-7-Gipfels des vergangenen Jahres zum Transfer konventioneller Waffen und zu der Nichtverbreitung von ABC-Waffen verpflichtet uns auf drei Prinzipien: auf den Grundsatz der Transparenz, der Konsultation und schließlich auf den Grundsatz des Handelns. Und genau darum geht es: Wir können es nicht länger zulassen, daß bei Zwischenfällen in Krisengebieten und kriegerischen Auseinandersetzungen wie zur Zeit des Golfkrieges über illegale Verstrickungen der deutschen Wirtschaft durch kriminelle Machenschaften einzelner spekuliert wird. Lassen Sie uns dem Grundsatz des Handelns genügen und einen Schritt in die richtige Richtung gehen, mit der Auflage, diesen Schritt zum Maßstab gesamteuropäischen Vorgehens und Vorangehens zu machen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Herr Abgeordneter Bachmaier, jetzt haben Sie das Wort. Dann brauchen Sie sich nicht mehr nur auf Zwischenrufe zu beschränken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz der bitteren Erfahrungen der letzten Jahre ist unser geltendes Rüstungsexportrecht nach wie vor völlig unzureichend. Auch die zahlreichen illegalen deutschen Rüstungsexporte in den Irak haben bis heute nicht dazu geführt, Instrumente zu entwickeln, um diesen hochkriminellen tödlichen Machenschaften einzelner Unternehmen wirksam zu begegnen. Ohne die Hilfe einer erklecklichen Zahl deutscher Unternehmen wäre der Irak - daran muß man immer wieder erinnern - nicht in der Lage gewesen, sein Potential im Bereich der Massenvernichtungswaffen und der Raketentechnologie in wenigen Jahren aufzubauen.
({0})
Man kann es nicht oft genug sagen: Jahrelanger grenzenloser Schlendrian bei der deutschen Rüstungsexportkontrolle hat mit dazu beigetragen, unseren Namen zu besudeln und uns in tödliche Verstrickungen zu bringen.
({1})
Allen Versuchen, zu einer verbesserten Rüstungsexportkontrolle und zu verbesserten strafrechtlichen Ahndungsmöglichkeiten zu kommen, war bis in die jüngste Zeit hinein allenfalls ein geringer Erfolg beschieden. Exportförderungsideologien hatten eben
immer den Vorrang vor einer wirksamen Kontrolle dieser trüben Machenschaften.
Das beste Anschauungsmaterial dafür liefert nach wie vor der illegale Export einer ganzen Giftgasfabrik nach Libyen und die äußerst komfortable strafrechtliche Behandlung des Herrn Hippenstiel-Imhausen, der ja für dieses widerliche Verbrechen lediglich drei Jahre Freiheitsstrafe erhielt und der offensichtlich noch immer seinen millionenschweren Gewinn nicht herausgeben muß.
Wer erwartet hatte, daß den verbalen Bekundungen der Koalitionsparteien endlich auch wackere Taten folgen würden, sieht sich heute - nach den IrakErfahrungen - ebenso getäuscht wie nach dem Rüstungsexportskandal nach Libyen.
Der sogenannte legale Rüstungsexport, von dessen Einschränkungen die Bundesregierung nichts wissen will, hat in den zurückliegenden Jahren eine dramatische Steigerung erfahren: Er hat sich in wenigen Jahren buchstäblich verdoppelt, ein bemerkenswerter und äußerst zweifelhafter Erfolg Ihrer Regierung. Es sind wahrlich bemerkenswerte Rekorde - Herr Kittelmann, davon reden Sie nicht - , die diese Regierung auf diesem Felde zu verzeichnen hat. Dabei geht es durchaus auch ganz anders - davon reden Sie auch nicht -, wie uns das Beispiel Japan zeigt. Man kann auch nicht müde werden zu wiederholen, daß die wirksamste Form, den illegalen Rüstungsexport zu unterbinden, darin besteht, auch den legalen Rüstungsexport drastisch zu beschneiden
({2}) oder ihn am besten ganz zu unterbinden.
Aber die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen zur Beschränkung des legalen und des illegalen Rüstungsexports haben Sie bereits vor der Sommerpause verworfen. Sie haben damit auch deutlich gemacht, daß Sie zu einer grundlegenden Neuorientierung der Rüstungsexportpolitik - trotz aller vielfältigen verbalen Bekenntnisse - nicht bereit sind.
Um wenigstens einen kleinen Schritt bei den Ahndungsmöglichkeiten gegen den illegalen Rüstungsexport voranzukommen, haben wir in den Ausschüssen des Bundestages und insbesondere im Vermittlungsausschuß alle nur erdenklichen Kompromißmöglichkeiten ausgelotet und unsere Kompromißbereitschaft immer wieder unter Beweis gestellt.
({3})
Alle von uns eingebrachten Vermittlungsvorschläge sind an der starren und kompromißlosen Haltung der Bundesregierung und derjenigen gescheitert, die ihr im Vermittlungsausschuß geholfen haben.
({4})
Nicht ein einziger offizieller Vermittlungsvorschlag von Ihnen hat in mehreren Sitzungen das Licht des Vermittlungsausschusses erblickt.
({5})
Sie haben eine absolute Blockadehaltung an den Tag gelegt. Sonst war von Ihnen in den Ausschußsitzungen nichts zu hören.
({6})
Ausschließlich die Bundesregierung hat es deshalb auch zu vertreten, daß wir bis heute noch nicht einmal die geringsten gesetzlichen Konsequenzen aus den zahlreichen Verstößen gegen Bestimmungen beim Export in den Irak und in andere Länder gezogen haben. Es ist vielmehr so, wofür Sie, Herr Kittelmann, gerade eben wieder ein beredtes Zeugnis abgelegt haben, daß die Weichmacher bereits wieder am Werke sind.
({7})
- Das ist ja offenkundig. Wer die Ohren einigermaßen aufmacht, der merkt auch, daß die Phase des Abklingens, des Verharmlosens und der gesamten dazugehörenden Terminologie, die uns seit Jahren hinreichend bekannt ist, wieder in vollem Zuge gefahren wird.
({8})
- Ich empfehle Ihnen dasselbe, was Sie vorhin anderen empfohlen haben: Lesen Sie es doch bitte nach!
Wie gesagt, ausschließlich die Bundesregierung hat diesen traurigen Zustand heute zu vertreten.
Trotz vielfältig geäußerter verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Bedenken hält die Bundesregierung an ihrem offensichtlich vorrangigen Ziel fest, das Zollkriminalinstitut zu einem weiteren Geheimdienst auszubauen, der ohne ausreichende rechtsstaatliche Kontrolle eine flächendeckende Telefonüberwachung nach Gutdünken - man könnte auch sagen -, nach Gutsherrenart vornehmen kann.
({9})
Wir schlagen in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf, den wenigstens zu lesen sich lohnt, Herr Kittelmann,
({10})
einen rechtsstaatlich einwandfreien und dem Legalitätsprinzip unterworfenen Weg vor. Er sieht vor, daß dann, wenn der Verdacht besteht, daß Vorbereitungen für einen illegalen und strafbaren Rüstungsexport getroffen werden, unter der Sachherrschaft der Staatsanwaltschaft und nicht eines nach Opportunitätsgesichtspunkten handelnden politischen Organs, in diesem Fall des Bundesfinanzministers, Telefonüberwachungen möglich sind.
Wir wollen auch - davor zucken Sie auch zurück - diese hochkriminellen Vorbereitungshandlungen unter Strafe stellen. Sie hingegen schrecken, aus welchen Gründen auch immer, davor zurück, Vorbereitungshandlungen für verbotene und gefährliche Rüstungsexporte überhaupt mit Strafe zu belegen, erklären aber andererseits, daß gerade diese Vorbereitungshandlungen einer Telefonüberwachung zugänglich sein müssen, um illegalen Rüstungsexport zu bekämpfen. Diesen Widerspruch müssen Sie uns erst einmal erläutern. Im Klartext: Sie möchten gerne die gesetzliche Ermächtigung dafür haben, nach Ihren jeweiligen Opportunitätserwägungen Abhöraktionen durchzuführen oder, wenn es Ihnen opportun erscheint, davon Abstand zu nehmen.
({11})
Wir meinen, daß das Post- und Fernmeldegeheimnis ein hochsensibles verfassungsrechtlich geschütztes Gut ist, in das nur unter strikter Wahrung strenger Legalitätsprinzipien von den dazu ermächtigten Organen der Strafrechtspflege eingegriffen werden kann.
({12})
Abhörermächtigungen, die es politischen Instanzen ermöglichen, darüber zu befinden, ob, wann, wer, in welchem Ausmaß abgehört werden soll oder nicht, haben in unserem Rechtssystem nichts zu suchen, zumal nach den Vorgaben des Gesetzentwurfes auch noch eine Vielzahl gänzlich unverdächtiger Personen mit überwacht werden können und wohl auch mit überwacht werden sollen. Aus unseren Erfahrungen in mehreren Untersuchungsausschüssen, die sich mit illegalen Rüstungsexporten befaßt haben, wissen wir ganz genau, daß es solch dubioser Instrumente gar nicht bedarf, um dem illegalen Rüstungsexport wirkungsvoll zu begegnen.
Daß ausgerechnet eine Regierung, die über Jahre hinweg keinen Finger krümmte, um illegalen Rüstungsexporteuren das Handwerk zu legen, und die die politische Verantwortung dafür trägt, daß der legale Rüstungsexport dramatische Zuwachsraten zu verzeichnen hat, nunmehr Generalvollmachten erhalten will, flächendeckend nach ihrem jeweiligen Gutdünken abzuhören oder nicht, läßt nichts Gutes ahnen, meine Damen und Herren.
({13})
Der saarländische Justizminister Arno Walter hatte schon recht, als er am 7. Juni im Bundesrat darauf hinwies, daß der Rechtsstaat - so wörtlich - „solche Stasi-Methoden präventiver Ausforschung ohne konkreten Tatverdacht und ohne Legalitätskontrolle" nicht vertrage.
Auch dadurch, daß Sie nunmehr in Ihrem neuen Entwurf eine Pflicht zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft über Einleitung und Durchführung von Abhörmaßnahmen vorsehen, wird die Situation nicht besser. Die Staatsanwaltschaft gehört in diesen Fällen nicht auf die Zuschauerbank - sie sollte nach den für sie geltenden strikten Regeln die Sachherrschaft über derart sensible Eingriffe haben. Opportunitätsgesichtspunkte politischer Instanzen haben hier nichts verloren.
Meine Damen und Herren, wir bleiben dabei: Wir brauchen keinen grenzlosen Überwachungsstaat, um
den illegalen Rüstungsexporteuren das Handwerk zu legen. Der Rechtsstaat ist stark genug, um diese Aufgabe mit rechtsstaatlich einwandfreien Mitteln zu lösen.
({14})
Wenn Sie noch weiterer Erläuterungen bedürfen, lesen Sie doch bitte einmal die Rede des Koalitionsabgeordneten Dr. Hirsch nach, die er hier im März im Bundestag gehalten hat.
Herzlichen Dank.
({15})
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Kolb das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Bachmaier hat eingangs seiner Ausführungen gesagt, die geltenden Regelungen des Außenwirtschaftsrechts seien unzureichend. Herr Bachmaier, ich muß Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Wir könnten längst ein Gesetz haben, das den Ansprüchen besser gerecht wird. Aber das ist am Widerstand der SPD-Opposition im Bundesrat gescheitert. Die SPD hat überdies ihr Verhalten mit der bösen Verleumdung gekrönt, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen hätten an einer besseren Regelung überhaupt kein Interesse.
({0})
Ich darf Ihnen sagen, Sie haben sich geirrt. Der Gesetzentwurf liegt heute in den wesentlichen Kernpunkten unverändert vor. Der Bundeswirtschaftsminister und die Koalitionsfraktionen lassen keinen Zweifel aufkommen, für wie wichtig sie die Gesetzesverbesserung halten.
Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle drauf verzichten, nochmals alle Regelungen des neuen Gesetzes wie Strafverschärfung, Bruttoabschöpfung und Einzelfallermächtigungen für den Wirtschaftsminister zu kommentieren. Darüber besteht, soweit ich sehe, Einvernehmen. Auslöser des Streits ist formell die Frage der Befugnisse des Zollkriminalinstituts, Herr Bachmaier. Im Kern geht es dabei um die Frage: Prävention von Straftaten im Außenwirtschaftsrecht, ja oder nein. Soll das Abhören im Vorfeld von Straftaten präventiv möglich sein - das ist unser Ansatz -, oder soll das Abhören nur im Rahmen der Strafverfolgung, also nach einem Verfahren nach der StPO, möglich sein - so die SPD? Wir meinen: Prävention ja. Es darf uns bei Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz nicht ausschließlich um die strafrechtliche Sanktionierung inkriminierten Verhaltens gehen. Es muß darüber hinaus unser besonderes Anliegen sein, illegale Ausfuhren von vornherein zu verhindern und damit Schaden für die Bundesrepublik Deutschland und auch den Ruf ihrer Exportwirtschaft gar nicht erst aufkommen zu lassen. Kurzum: Kriminelle Energie muß gebremst werden, bevor Güter illegal ausgeführt werden können, bevor eine Straftat begangen wird.
Der Vorschlag der SPD, das Außenwirtschaftsgesetz derart auszubauen, daß die Strafbarkeit schon bei
Vorbereitungshandlungen beginnt, ist meines Erachtens rechtssystematisch bedenklich.
({1})
An sich straflose Vorbereitungshandlungen werden kriminalisiert, um sie hinterher abhören zu können. Dabei - auch das will ich deutlich sagen - bleibt die SPD-Vorlage einem Grundproblem verhaftet: Die Anwendbarkeit des § 100a der Strafprozeßordnung setzt einen nicht unerheblichen und auf Tatsachen begründeten Anfangsverdacht voraus. Da müssen Sie sich allerdings fragen lassen: Woher bekommen Sie denn Tatsachen, die den begründeten Verdacht rechtfertigen?
({2})
Wie soll das praktisch funktionieren? Ich denke, der Anfangsverdacht kann oft nur schwer und daher regelmäßig zu spät festgestellt werden, vor allen Dingen zu spät, um einen illegalen Export zu verhindern.
Ich will nicht leugnen, daß uns Liberale der aus Gründen der Prävention erforderliche weitere Eingriff in die Grundrechte des Art. 10 des Grundgesetzes schwerfällt. Das ist auch der Grund, weshalb wir erhebliche rechtsstaatliche Sicherungen vorgesehen haben. Voraussetzung für eine Abhörmaßnahme ist, daß die Erforschung des Sachverhalts auf andere Art nur schwer möglich oder aussichtslos wäre. Sie ist also Ultima ratio.
({3})
Herr Abgeordneter, würden Sie eine Zwischenfrage beantworten?
Ich denke, daß ich in meiner Rede so weit fortgeschritten bin, daß die Frage wahrscheinlich nicht mehr paßt. Aber bitte.
Doch, doch, das paßt schon, Herr Kollege. - Ist Ihnen bekannt, daß nicht einmal die Amerikaner ein Abhören im eigenen Lande unter den Umständen zulassen, die Sie hier wollen?
Das kann ich kurz beantworten: Es ist mir nicht bekannt.
Ich fahre dann fort.
({0})
Die Abhörmaßnahme muß also Ultima ratio sein. Die Unterrichtung der Staatsanwaltschaft und die grundsätzliche gerichtliche Zustimmung sind Voraussetzung. In diesem Zusammenhang sei mir auch der Hinweis gestattet, Herr Bachmaier, daß die Kritik verfehlt ist, es bleibe der politischen Opportunität vorbehalten, über die Verwendung der ermittelten Ergebnisse zu entscheiden.
({1})
Das Zollkriminalinstitut ist verpflichtet, die Staatsanwaltschaft über die Ergebnisse zu unterrichten. Diese Mitteilungspflicht stellt sicher, daß die Staatsanwaltschaft jederzeit Zugriff auf das Verfahren nehmen kann, sobald sich zureichende Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat ergeben.
({2})
Ich möchte auch noch ein Wort zu der Anmerkung des sozialdemokratischen Landesministers Arno Walter loswerden, der von Stasi-Methoden präventiver Ausforschung gesprochen hat. Ich finde, Herr Bachmaier, das ist Stammtischniveau auf niederster Ebene. Es verharmlost in unzulässiger Weise die kriminellen Schandtaten von Mielke und seinen Genossen. Wer so spricht, hat wenig politisches Feingefühl und sollte sich wirklich nicht zum Hüter des demokratischen Rechtsstaates aufspielen.
({3})
Meine Damen und Herren, noch ein Punkt, der mir sehr wichtig ist, zum Abschluß. Wir müssen Sorge tragen, daß mit den Verschärfungen der Bestimmungen wegen einzelner schwarzer Schafe nicht Wettbewerbsnachteile für die deutsche Exportwirtschaft im internationalen Vergleich entstehen. Das große Problemfeld ist nun einmal das der Dual-use-Güter. Hier müssen wir uns zum einen national um eine weitere Beschleunigung der Kontroll- und Erfassungsverfahren bemühen. Ich wiederhole gerne, was mir gegenüber dazu von Vertretern der Exportwirtschaft geäußert wurde: Kontrolle ja, aber kontrolliert schnell! Zum anderen muß eine internationale Harmonisierung der Kontrollvorschriften erreicht werden. Die deutsche Wirtschaft darf nicht deshalb Schaden nehmen, weil andere Länder eine schärfere Kontrollpraxis verweigern. Die Bundesregierung bleibt hier aufgefordert, initativ zu werden. Sie hat dabei unsere Unterstützung.
Danke.
({4})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Lederer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute erneut über das Thema Rüstungsexport reden, dann hat sich im Prinzip nur eines geändert: Das ist die Existenz des SPD-Gesetzentwurfs, der die Kritik am Aufbau eines vierten Geheimdienstes, wie er im Regierungsentwurf mit Befugnissen für das Zollkriminalinstitut geschaffen wird, zu Recht aufgreift. Mehr hat sich allerdings auch nicht geändert.
Ziel beider Entwürfe ist im Prinzip lediglich die Einschränkung illegaler Waffenexporte; die legalen bleiben nach wie vor weitgehend unberührt. Dabei ist doch der eigentliche Skandal, wenn wir z. B. an den Golfkrieg zurückdenken, in welchem Milliardenumfang deutsche Rüstungskonzerne, z. B. MBB, zum Teil über Rüstungskooperation mit Frankreich, an der Aufrüstung des Regimes von Saddam Hussein beteiligt waren. Waffen „Made in Germay" gehören - das übrigens auch schon zu Zeiten der früheren SchmidtRegierung - zu den Exportschlagern der deutschen Wirtschaft. Solange das so bleibt, bedeutet das mit anderen Worten: Regierungen, die diese Politik fortsetzen, und Rüstungsfirmen der Bundesrepublik sind am Morden in vielen Regionen der Welt beteiligt.
Das Problem beim Rüstungsexport ist - das dürfte Ihnen allen bekannt sein - nicht die Mißachtung von Außenwirtschaftsgesetz und Kriegswaffenkontrollgesetz. Das Grundproblem sind die legalen Exporte von Bauteilen, technischem Wissen und Herstellungsanlagen - legal, weil nicht genehmigungspflichtig oder weil genehmigt. Die Exporteure wissen, wie großzügig die Genehmigungen erteilt werden. Deswegen werden die Gesetzentwürfe nichts an den grundlegenden Problemen des Rüstungsexports ändern. Die Aufrüstung der Staaten in Krisengebieten durch die Bundesrepublik Deutschland geschieht zu weiten Teilen völlig legal, schlicht der Rationalität des Marktes folgend. Und wenn hier von Exportwirtschaft so geredet wird, als ob es um Kleider oder um Nahrungsmittel ginge, dann wird das auch hieran deutlich.
Wer die Exporte der todbringenden Ware Rüstung wirklich verhindern will, muß Rüstungsexporte vollständig und wirksam unterbinden. Der Kollege Bachmaier hat das angesprochen. Wir bedauern nach wie vor, daß Sie unserer Forderung nach tatsächlichem Verbot des Rüstungsexports, und zwar nicht nur zwischen Nicht-NATO-Ländern und der Bundesrepublik, nicht zustimmen können.
Da sind zum einen die politischen Akteure, die ihre Außenpolitik militärpolitisch abstützen wollen und dafür ihre nationalstaatliche Rüstungsindustrie benötigen. Das ist im Moment insbesondere hier aktuell: Die Bundesregierung will den macht- und militärpolitischen Handlungsspielraum erweitern und entdeckt beispielsweise in einer Studie flugs vitale Interessen im Nahen Osten. Schon jetzt ist im übrigen klar, daß die kleinen Restriktionen, die hier möglicherweise beschlossen werden, im europäischen Rahmen noch in diesem Jahr wieder fallen werden. Das hat Herr Bangemann bereits deutlich geäußert.
({0})
- Dann sollten Sie die Äußerungen von Herrn Bangemann genau studieren, Herr Kittelmann.
Die zweite Gruppe ist die bundesdeutsche Industrie, die in erster Linie an den Rüstungsprodukten gut verdient.
Zum dritten ist hier das Militär zu nennen, das immer gern das modernste Spielzeug haben will.
Sowohl der Koalitionsentwurf als auch der Entwurf der Sozialdemokraten doktern nur an den Symptomen herum. Abrüstungspolitische Perspektiven - von friedenspolitischen ganz zu schweigen - sind darin nicht zu finden. Aus diesen Gründen werden wir beide Entwürfe ablehnen.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als gestern abend der nächtliche Wind die Materialien des Kollegen Bachmaier in Bonn zu verwehen drohte, habe ich unter tätiger Mithilfe einer Kollegin von der FDP dafür gesorgt, daß sie nicht verlorengingen.
({0})
So großzügig gehen die Regierungsparteien mit der Opposition um. In der Sache selbst hat das natürlich seine Grenzen.
Meine Damen und Herren, daß wir diesen Gesetzentwurf heute erneut vorlegen müssen, ist das Ergebnis einer von der SPD im Bundesrat angezettelten Prinzipienreiterei par excellence.
({1})
Es waren doch die SPD-regierten Bundesländer, die verhindert haben, daß der Gesetzentwurf, den wir hier schon im März verabschiedet hatten, Gesetzeskraft bekommt. Sie haben das abgelehnt, weil Sie das darin vorgesehene Recht des Zentralen Zollfahndungsamtes, in bestimmten, sehr eng begrenzten Fällen ({2})
mit richterlicher Zustimmung; das haben Sie immer vergessen - eine Post- und Fernmeldeüberwachung durchzuführen, nicht akzeptieren wollten.
({3})
Wie der von Ihnen inzwischen vorgelegte Gesetzentwurf beweist, sind Sie aber keineswegs gegen eine solche Überwachung. Sie wollen ihr nur eine andere gesetzliche Grundlage geben und meinen, damit einen rechtsstaatlicheren Weg zu gehen,
({4})
während Sie in Wahrheit, wie ich Ihnen nachweisen werde, weit vom Pfade der rechtsstaatlichen Tugend abweichen.
({5})
Dabei nehmen Sie in Kauf, daß Sie auf diese Weise nun schon monatelang den doch auch von Ihnen für dringend notwendig gehaltenen Prozeß einer Verschärfung der Vorschriften im Außenhandelsrecht blockieren. Ihr Verhalten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, beweist deshalb nicht nur eine kleinkarierte juristische Prinzipienreiterei; Ihr Verhalten beweist auch, daß Sie zwar reich an Worten Ihre Entrüstung über den illegalen Waffenexport äußern, aber arm an Taten sind, nämlich wenig zur Verhinderung desselben tun.
Herr Abgeordneter Eylmann, dies veranlaßt den Abgeordneten Bachmaier, eine Zwischenfrage zu stellen. Möchten Sie diese auch beantworten?
Aber gern, wenn es nicht angerechnet wird.
Herr Eylmann, ist Ihnen bekannt, daß wir auch bereit waren, den Teil mit den Strafsanktionen und den Gewinnabschöpfungsmöglichkeiten, über den wir uns nach mühsamer Diskussion einigen konnten, vorab zu verabschieden und die Abhörfragen auszuklammern? Ist Ihnen bekannt, daß dies an den Koalitionsparteien und nicht an der SPD gescheitert ist? Das alles könnte doch längst Gesetz sein; das wissen Sie doch.
({0})
Ich kann Ihnen nur entgegenhalten, daß mit einer bloßen Verschärfung der Strafen nicht geholfen ist, sondern daß es entscheidend darauf ankommt, den Export von Waffen tatsächlich zu verhindern.
({0})
Es muß verhindert werden, daß sie über die Grenze gehen! Sie wollen nur nachträglich bestrafen, während wir schon im Vorfeld, wie es in der Diskussion immer verlangt worden ist, verhindern wollen, daß die Waffen über die Grenze gehen.
({1})
Ich meine, in diesem Hause sollte Einigkeit darüber bestehen, daß wir das bereits im Vorfeld verhindern wollen und daß das sehr viel wichtiger ist. Das ist gerade auch von der Opposition immer verlangt worden.
Sie scheinen nun solche präventiven Maßnahmen zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Oder fürchten Sie sie vielleicht doch nicht? In Nordrhein-Westfalen jedenfalls nicht. § 18 des nordrhein-westfälischen Polizeigesetzes aus dem Jahre 1990 erlaubt der Polizei z. B. präventiv die Erhebung personenbezogener Daten durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel zum Abhören und Aufzeichnen des gesprochenen Wortes, soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen werden sollen. Das ist zweifellos eine sehr weitgehende Ermächtigung. Sozialdemokraten sehen ja manchmal etwas realistischer, wenn sie in der Regierungsverantwortung stehen, als wenn sie hier in Bonn in der Opposition sind.
Ich will diese Ermächtigung nicht kritisieren. Ich frage mich allerdings, ob Sie die Zulässigkeit präventiver Maßnahmen, die mit Eingriffen in Persönlichkeitsrechte verbunden sind, allein nach dem Standort der betreffenden Vorschrift beurteilen. In einem Landespolizeigesetz halten Sie das offenbar für zulässig, in einem Außenwirtschaftsgesetz nicht.
Aber es kommt ja noch viel widersinniger. Wir wollen unter bestimmten Voraussetzungen den Eingriff in das Post- und Fernmeldegeheimnis zulassen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, daß schwerwiegende Straftaten nach § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes geplant sind. Wenn ich eine Straftat plane, ist das rechtlich noch kein strafbarer Versuch, wie wir alle wissen, denn ein Versuch liegt erst dann vor, wenn der Täter aus dem Stadium des Planens heraustritt und unmittelbar zur Ausführung der Straftat ansetzt.
Nur bei Verbrechen im technischen Sinne - Mindeststrafe: ein Jahr; das haben Sie hier gar nicht beantragt - sind auch wegen des besonderen kriminellen Gehalts Vorbereitungshandlungen strafbar.
Ihr Trick besteht nun darin, daß Sie nur deshalb, weil Sie überwachen wollen, an sich straflose Vorbereitungshandlungen strafbar machen. Sie haben das anfangs gar nicht beantragt. Erst als es um die Überwachung ging, ist Ihnen eingefallen: Das wäre ja ein einfacher Weg; wir machen das alles strafbar, und dann können wir nach der Strafprozeßordnung vorgehen.
Das ist wirklich ein sehr bedenklicher Weg. Er bringt kein Mehr an Rechtsstaatlichkeit, sondern ein Weniger, wie ich Ihnen gleich noch darlegen werde.
Möchten Sie auch dem Abgeordneten de With eine Antwort auf seine Zwischenfrage geben? - Bitte.
Herr Kollege Eylmann, räumen Sie ein, daß das Strafgesetzbuch in gravierenden Fällen durchaus die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen kennt und daß nach Ihrem Entwurf der Finanzminister allein, wenn Verzug droht, für drei Tage das Abhören anordnen kann, was eine ziemlich einmalige Regelung ist?
Zu Ihrer letzten Frage: Das ist richtig. Dabei vergessen Sie aber zu erwähnen, daß er innerhalb von drei Tagen die Zustimmung des Landgerichts einholen muß.
({0})
Was Ihre erste Frage angeht, so habe ich doch ausgeführt: Bei Verbrechen im technischen Sinne - Mindeststrafe: ein Jahr - ist die Vorbereitungshandlung strafbar. Das steht im Strafgesetzbuch.
Aber Sie selber haben nicht beantragt, daß die Straftaten in der Neufassung des § 34 Verbrechen sein sollen. Erst später im Zuge der Diskussion, als Sie merkten, Sie würden wohl nicht darum herumkommen, Überwachungen vorzunehmen, ist Ihnen eingefallen, diese Vorbereitungshandlungen zu Straftaten umzudeklarieren.
Ich bleibe dabei: Das ist ein juristischer Trick. Er ist rechtsstaatlich bedenklich, weil er ein Schritt zum Gesinnungsstrafrecht ist.
({1})
- Es ist ein Schritt zum Gesinnungsstrafrecht! Es hat schon seinen guten Grund, daß wir nicht bloße Entschlüsse, die überhaupt nicht nach außen dringen und vielleicht auch gar nicht nach außen dringen sollen, strafbar machen. Das ist ja der tiefere Hintergrund der Regelung im Gesetz über den Versuch. Man muß zur Straftat ansetzen.
({2})
Ich bleibe dabei: Sie haben es nur aus dem Grund strafbar gemacht, weil Sie abhören wollen.
({3})
Es wird auch nach Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht weniger oder mehr abgehört als nach unserem. Das ist das Entscheidende. Das versuchen Sie zu vernebeln. Es ist wirklich kein juristisches Meisterstück, was Sie hier abliefern.
Wir halten mit unserem Gesetzentwurf an der eingeschlagenen Linie fest. Dieser Gesetzentwurf ist, wenn er hier verabschiedet wird, nicht zustimmungsbedüftig. Wir können also dieses Gesetz gegen die Mehrheit des Bundesrates durchsetzen.
Somit ist es ein weiteres Mal die Koalition, die dafür sorgt, daß wir weitere Schlupflöcher des illegalen Waffenexports verstopfen und damit unserer besonderen historischen Verpflichtung, von der hier schon die Rede war, gerecht werden.
Ich wiederhole: Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, zeigen sich ein weiteres Mal reich an Worten, aber arm an Taten.
({4})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Eylmann, ich freue mich, zu hören, daß die Koalitionsparteien etwas gegen den Rüstungsexport unternehmen wollen. Ich hoffe, sie dehnen ihre Bemühungen umgehend auf die legalen Rüstungsexporte aus. Denn vor etwas mehr als einem Jahr hat der Irak mit legal exportierten deutschen Waffen den Kuwait überfallen, und mit legal exportierten deutschen Waffen bedrohte der Irak monatelang Israel. Der von den Alliierten unter Führung der USA geführte Krieg gegen den Irak wurde auch damit begründet, man könne nicht ausschließen, daß der Irak u. a. mit deutscher Hilfe in kürzester Zeit in der Lage sein könnte, Atomwaffen herzustellen.
Der von deutschen Unternehmern und deutschen Politikern, die diese gewähren ließen, mitverursachte Krieg hat Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet. Die genauen Zahlen kennen wir noch immer nicht, und wir werden sie wohl nie erfahren, weil keine der beiden Seiten Interesse an der Wahrheit hat.
Klar ist nur, daß Saddam Hussein trotz des Krieges immer noch an der Macht ist, daß die Bevölkerung weiter unter seinem beispiellosen Terror leiden muß, daß Zehntausende von Kindern an den Folgen des Embargos, an den Folgen der Zerstörungen des Krieges leiden oder gestorben sind. Es gibt kein schlimmeres Beispiel für die Auswirkungen deutscher Rüstungsexport-Politik als dieses Beispiel Irak.
Als alles zu spät war, bot die Bundesregierung großzügig ihre Hilfe an. Ein Chemiewaffenexperte des Auswärtigen Amtes durfte an der UNO-Inspektion teilnehmen.
Als die Staatsanwälte im Imhausen-Prozeß händeringend nach deutschem Sachverstand suchten und einen Experten aus dem Kreis bundesdeutscher Behörden gewinnen wollten, der ihnen ein Gutachten erstellt, das die Chemiewaffen-Pläne des Dr. Hippenstiel-Imhausen bestätigen könnte, teilte die Bundesregierung den Ermittlern bedauernd mit, daß leider keiner der Beamten über das nötige Wissen verfüge.
({0})
Frau Abgeordnete Wollenberger, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Nein.
({0})
Dann fahren Sie bitte fort.
Jetzt, wo sich mögliche Straftaten deutscher Unternehmen der Verjährungsgrenze nähern, möchte die Bundesregierung Aufklärung von den Vereinten Nationen über die Ergebnisse der Experten-Kommission, was die Beteiligung deutscher Unternehmen an den Waffenproduktionen des Irak angeht, als ob nicht der einfache Blick in die Genehmigungsbescheide des Bundesamtes für Wirtschaft der Bundesregierung hier wesentlich mehr und vor allem bereits viel früher hätte helfen können.
Wenn wir heute endlich wieder, mehr als ein Jahr seit Ausbrechen der Kuwait-Krise, über die Verschärfung der Rüstungsexportgesetze diskutieren und endlich die vor einem Jahr gegebenen vollmundigen Versprechen einlösen wollen, darf eines nie in Vergessenheit geraten: Die Auskünfte, die die Bundesregierung jetzt von den Vereinten Nationen haben will und hoffentlich schnell bekommt, damit die Gerichte noch tätig werden können, hat sie gar nicht nötig. Nach übereinstimmenden Schätzungen unabhängiger Experten wird der größte Teil des bundesdeutschen Rüstungsexports in Länder der Dritten Welt völlig legal abgewickelt. Ca. 95 % der Exporte werden vom Bundesamt für Wirtschaft in Eschborn genehmigt. Die meisten dieser Genehmigungen beziehen sich auf den Abschnitt C der Ausfuhrliste, die sogenannten Dual-use-Güter, Produkte, die auch militärisch verwendbar sind. Alle im Zusammenhang mit dem Irak bekanntgewordenen Rüstungsprojekte, z. B. die Kanonenfabrik in Tadschi und viele andere, wurden vom BAW und damit von der Bundesregierung unter diesem Abschnitt C der Anlage zur Außenwirtschaftsverordnung ganz offiziell genehmigt.
Da wir heute über die Verschärfung der Gesetze diskutieren, muß ich leider mit aller Schärfe und Deutlichkeit sagen: Der nächste „Fall Irak" ist vorprogrammiert, wenn wir in dem Schlüsselbereich der Dualuse-Produkte des Abschnitts C nichts ändern.
Es ist leider keine Polemik, wenn ich mitteile, daß die vor kurzem den Parlamentariern erstmals zur Verfügung gestellte Übersicht des Bundeswirtschaftsministeriums über die Genehmigungen aller Rüstungsexporte in alle Länder der Welt hauptsächlich Genehmigungen nach dem Abschnitt C umfaßt. Es handelt sich hier also um völlig legale Rüstungsexporte.
Aber - und das ist der Skandal der heutigen Debatte - genau hier will die Bundesregierung und wollen die Koalitionsfraktionen, die den heutigen Entwurf zur Verabschiedung vorschlagen, nichts ändern.
Verstöße gegen Exportbestimmungen nach Abschnitt C, z. B. durch Falschdeklarationen, wie eben angesprochen, sind nach den neuen Gesetzesvorschlägen nach wie vor keine Straftaten, sondern Ordnungswidrigkeiten, die mit einer Maximalstrafe von 1 Million DM belegt werden können. Diese Summe ziehen die Unternehmen aus der Portokasse ab und kalkulieren sie von vornherein als vertretbares Risiko ein.
Tiefes Mißtrauen gegenüber den Exportbestimmungen ist also angesagt. Es wird - das möchte ich abschließend sagen - durch das unwürdige Gesetzgebungsverfahren genährt, daß wir seit einem halben Jahr erleben müssen. Sie von den Regierungsfraktionen wissen genau, daß die Opposition von SPD und GRÜNEN im Bundesrat und von SPD und Bündnis 90/ DIE GRÜNEN im Bundestag wohlbegründete, rechtsstaatlich zwingende Argumente gegen Ihren Vorschlag haben, dem Zollkriminalinstitut viel zu weitgehende Überwachungsrechte z. B. beim Brief- und Telefongeheimnis einzuräumen. Trotzdem weigern Sie sich, den Gesetzentwurf ohne die beanstandeten ZKI-Befugnisse einzubringen. Sie spekulieren auf billige Polemik: Angeblich ist es jetzt die Opposition, die in Wirklichkeit seit zehn Jahren auf die schlimmen Praktiken des illegalen Rüstungsexports aufmerksam macht, die jetzt etwas blockieren will. In vielen Zeitungsartikeln werden Sie daher zu Recht beschuldigt, die überfallartige Einbringung der ZKI-Komponenten als Tischvorlage im zuständigen Ausschuß habe nur dem Zweck gedient, das von Ihnen so ungeliebte Gesetz zur schärferen Kontrolle des Waffenexports doch noch zu Fall zu bringen.
({0})
Bündnis 90/GRÜNE bekräftigen ihre Position: Wir fordern ein generelles Exportverbot für Waffen und Rüstungsgüter, das im Grundgesetz verankert ist. Nur wenn es keinerlei Handlungsspielraum für Todeshändler gibt, können Kriege verhindert werden.
Ich danke Ihnen.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Kolb das Wort.
Frau Kollegin Wollenberger, ich möchte hier mit Nachdruck gegen Ihre Ausführungen protestieren, mit denen Sie den Eindruck erweckt haben, als ob die bundesdeutsche
Wirtschaft mit legalen Exporten zum Krieg im Irak beigetragen hätte. Das ist ausgesprochen falsch.
({0})
Ich finde es sehr bedauerlich, wenn Sie sich weigern, die von Ihnen aufgestellten Behauptungen durch eine Zwischenfrage überprüfen zu lassen.
Ich möchte Sie doch auch im Interesse des Ansehens unserer Wirtschaft im Ausland bitten, künftig auf derart pauschale und nicht nachweisbare Behauptungen zu verzichten.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Schwanhold.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich überlasse das Urteil über die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe gerne der interessierten Öffentlichkeit. Ich bin sicher, daß die interessierte Öffentlichkeit, übrigens genauso wie Herr Hirsch von der FDP, unseren Vorschlag als denjenigen betrachtet, der der Rechtslage und der Notwendigkeit zum Handeln gerecht wird.
Vereint sind wir auf beiden Seiten des Hauses in dem Wunsch, das Außenwirtschaftsgesetz und die entsprechenden Strafbestimmungen zu verschärfen. Verletzungen dieser Gesetze, auch Vorbereitungshandlungen, von denen wir von seiten der Wirtschaft hören, daß sie noch immer wieder vorkommen, wie die unerlaubte Ausfuhr von Waffen und Dual-useGütern, müssen frühzeitig erkannt und verhindert werden. Dazu haben wir unseren Vorschlag gemacht. Aspekte der Vergangenheit, Verstöße und kriminelle Vorgehensweise von Teilen der Industrie machen dieses Gesetz notwendig.
Herr Kittelmann, mir klingeln die Ohren, wenn ich höre, daß Sie von Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie sprechen. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie ist im wesentlichen dadurch eingeschränkt, daß sich die Exporteure des Todes selbst in Mißkredit bringen und deshalb nicht mehr im Ausland anerkannt und angesehen sind.
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?
Bitte schön.
Herr Kollege, vielleicht handelt es sich auch um ein Mißverständnis. Ich gehe davon aus, daß Sie wissen, daß die Dual-useProdukte etwa 50 % unserer gesamten Exporte ausmachen. Meine Bemerkung bezieht sich darauf, daß diejenigen, die mit Rüstungsexport gar nichts zu tun haben, aber einer Kontrolle unterliegen, Anspruch darauf haben, daß sie schnell, zügig und unbürokratisch die Genehmigung erhalten, weil sie sonst im internationalen Wettbewerb benachteiligt sind.
Über Fragen des Verfahrens, Herr Kittelmann, kann man sich durchaus unterhalten. Es ist nicht sinnvoll, wenn Entscheidungen, die sehr schnell zu treffen sind, acht oder zehn Monate offenbleiben. Aber unsere Gesetzesvorlage bemüht sich darum, die Industrie schlechthin vor den schwarzen Schafen zu schützen, und genau darum geht es.
Immerhin ist damit die Feststellung als Frage verstanden worden.
Das geschieht gelegentlich an anderer Stelle auch.
Der Irak-Bericht hat sicher auch nur einen Teil der tatsächlichen Verfehlungen der Vergangenheit aufgedeckt, und ich befürchte, daß wir immer wieder angesprochen werden, Herr Kittelmann, und immer wieder am Pranger der Weltöffentlichkeit stehen.
Der Bundeswirtschaftsminister hat sich wohl nicht zu Unrecht in der Vergangenheit den Ruf eines Lobbyisten der Rüstungsindustrie erarbeitet. Wir begrüßen es außerordentlich, wenn der Bundeswirtschaftsminister angesichts der Erkenntnisse aus dem IrakKrieg seine Lehren gezogen hat und sich auf dem Weg vom Saulus zum Paulus befindet. Wir werden ihn auf diesem Weg nachhaltig unterstützen. Zu fragen bleibt allerdings, wo seine auch hier angekündigten Initativen geblieben sind, auf internationaler Ebene die EG-Rüstungsexporte zu regeln. Dies wird sicher schwer, aber wir werden ihn dabei unterstützen, und das ist unerläßlich. Nur muß die Initiative von ihm kommen, und dort hat er Handlungsdefizite.
Verfahrenswege und Genehmigungen sowohl im Dual-use-Bereich als auch im Waffenbereich müssen international abgestimmt werden. Auch hier gibt es Handlungsdefizite von seiten des Bundeswirtschaftsministers.
Als weitere Frage muß aufgeworfen werden, inwieweit der Minister Möllemann im Rahmen der EG Initiativen ergriffen hat, um Modelle der Kooperation mit Drittländern zu unterbinden und auch diese Exporte unter Exportbeschränkungen zu stellen. Es ist eben kein Fortschritt bei der Beschränkung von Rüstungsexporten, wenn deutsche Firmen zwar nicht direkt liefern dürfen, letztlich aber in Form von Kooperation mit neuen Ländern dennoch aus Drittländern deutsche Waffen in Krisengebiete geliefert werden. Dies macht 70 % der deutschen Waffenexporte aus.
Zu fragen bleibt auch, welche Initiativen der Bundeswirtschaftsminister wo gestartet hat, um die Dualuse-Beschränkungen über den Abschnitt A hinaus und über die Länderliste H hinaus auf alle Waren und Dienstleistungen vorzunehmen, die für den militärischen Einsatz Verwendung finden sollen. Ich halte dies für unerhört wichtig, weil wir natürlich auch von
seiten der Industrie bedrängt werden, Aufweichungen z. B. in der Länderliste H vorzunehmen. Hier scheint es wichtig zu sein, eine gemeinsame Initiative zu starten.
Wir sind außerdem bereit, auch das Recht zur Außenwirtschaftsprüfung auf Anordnung der Bundesregierung erneut zu verschärfen, und wir sind bereit, über den § 44 des Außenwirtschaftsgesetzes zu diskutieren.
Schließlich stelle ich - auch dies ist im Rahmen der Diskussion um den Golfkrieg und die Beteiligung deutscher Waffen und Dual-use-Technik an der Versorgung des Irak erörtert worden - die Frage: Wann wird ein Bericht der Bundesregierung über alle genehmigten Waffenexporte erstellt und vorgelegt? Es wäre hilfreich für den Bundestag, diesen Bericht und diese Liste zu bekommen.
Gestatten Sie mir abschließend eine Bemerkung, die sich auf den Herrn Bundespräsidenten bezieht, der kürzlich nachhaltig die Verfassungsdebatte angemahnt hat. Im Rahmen dieser Debatte sind die Sozialdemokraten bereit, daran mitzuwirken, daß grundgesetzliche Regelungen für ein Verbot aller Waffenexporte über den Bereich der NATO hinaus getroffen werden, und dies ist als Einstieg unbedingt notwendig.
Sie sehen, Herr Bundeswirtschaftsminister, es gibt eine Fülle weiterer Anregungen, die die Sozialdemokraten Ihnen vorlegen und bei deren Umsetzung sie zur Mitarbeit und zur Mithilfe bereit sind, um Rüstungsexporte für die Zukunft drastisch zu reduzieren, damit die deutsche Wirtschaft und die deutsche Politik in der Zukunft nicht wieder am Pranger der Meinung der Weltöffentlichkeit stehen, wie es im Golfkrieg der Fall war. - Dies werden Prüfsteine für den Bundeswirtschaftsminister auf seinem Weg zum Paulus sein.
({0})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Beckmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schwanhold, zunächst einige Klarstellungen zu Ihren Bernerkungen. Sie haben gefragt: Was tut die Bundesregierung, um über die Länderliste H hinauszugehen und hier weitere Eingrenzungen vorzunehmen? - Ich bitte Sie, dazu einen Blick in den § 5 c zu werfen. Dann werden Sie sehen, daß unsere Bemühungen dort schon ihren Niederschlag gefunden haben.
Im übrigen ist es richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland die anstehenden Probleme nicht allein lösen kann, sondern daß sie diese Probleme nur im internationalen Kontext, auf EG-Ebene und gemeinsam mit den internationalen Partnern bewältigen kann. Deswegen hat die Bundesregierung bei den zurückliegenden Konferenzen, beim Weltwirtschaftsgipfel, aber auch im EG-Ministerrat, mehrfach sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es nicht die Bundesrepublik Deutschland allein sein kann, die den
Rüstungsexportbegrenzungen das Wort redet, sondern daß wir das nur im Zusammenhang mit unseren Partnern in der Welt erledigen können. Die Initiativen werden fortgesetzt. Ich bitte Sie, Herr Kollege Schwanhold, das auch zur Kenntnis zu nehmen.
Frau Kollegin Wollenberger, ich möchte eines richtigstellen, denn die ganze Diskussion leidet natürlich darunter, daß die Fakten falsch gesetzt werden. Sie haben hier eben wieder eine Behauptung aufgestellt, die einfach nicht zutrifft. Es hat keine deutschen Kriegswaffenexporte in den Irak gegeben. Sie haben hier ein großes Leidensgemälde dargestellt, was ich verstehen kann - schrecklich war das alles, was dort geschehen ist -; dies ist aber nicht vor dem Hintergrund deutscher Kriegswaffenexporte in den Irak geschehen. Das stimmt einfach nicht.
Zwei weitere Daten möchte ich dem Hohen Hause noch einmal verdeutlichen, weil sie für die deutsche und für die internationale Diskussion wichtig sind. Der deutsche Anteil an den Waffenverkäufen in die Dritte Welt betrug im letzten Jahr 0,5 %. 0,5 % ist also der deutsche Anteil. Man könnte zwar sagen „Am besten gar nichts" - das würde ich vielleicht noch mit unterstreichen - , aber man muß die Relativität der Dinge ein wenig sehen: Deutschland 0,5 %!
Der Anteil des Kriegswaffenexports an unserem gesamten Exportvolumen, am Exportvolumen der Bundesrepublik Deutschland, hat im letzten Jahr 0,3 % betragen.
({0})
Ich will damit nur verdeutlichen , daß man die Dinge in der Relation richtig sehen muß, daß man also nicht so tun sollte, als wäre die Bundesrepublik Deutschland der Kriegswaffenexporteur in der Welt, als hinge unsere Volkswirtschaft von diesen Dingen ab
({1})
und als setzte sich die Bundesregierung deswegen mit Nachdruck für diese Dinge ein. Im Gegenteil: Wir haben ganz andere Sorgen.
({2})
- Bitte schön, Herr Bachmaier!
Eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bachmaier.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß sich die legalen deutschen Waffenexporte von 5,3 Milliarden DM im Jahre 1988 auf 13 Milliarden DM im Jahre 1990 erhöht haben, sich also binnen dreier Jahre mehr als verdoppelt haben?
Herr Kollege, das ist eine Zahl, die mich nicht überrascht; denn Sie müssen z. B. den Sonderschiffbau und auch den Export in NATO-Länder oder in NATO-ähnliche Länder einbeziehen. Deswegen verändern sich die Relationen doch schon
einmal erheblich. Insgesamt bleibt es natürlich bei dem Zahlenwerk, das ich hier eben genannt habe.
({0})
Frau Wollenberger hat jetzt noch um das Wort zu einer Zwischenfrage gebeten.
Herr Präsident, ich möchte jetzt zu meinen eigentlichen Ausführungen kommen. Ich bitte dafür um Verständnis. Sonst komme ich nicht mehr zur Sache selbst, Frau Kollegin. Ich stehe Ihnen aber gern gleich noch zum Gespräch zur Verfügung.
Meine Damen und Herren, zur Verbesserung der Exportkontrollen enthält dieser Gesetzentwurf vor allem drei wesentliche Punkte, nämlich erstens eine Einzeleingriffsermächtigung für den Bundeswirtschaftsminister bei eilbedürftigen Einzelfällen - solche Fälle gibt es ja immer wieder -, zweitens eine erhebliche Strafverschärfung bei Verstößen, insbesondere auch bei UN-Wirtschaftssanktionen, und drittens eine Vorfeldaufklärung durch das Zollkriminalinstitut, und zwar notfalls auch durch Beschränkungen des Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnisses.
Die Unterschiede zu dem vorangegangenen Gesetz bestehen vor allen Dingen in zwei Punkten: Erstens. In diesem Entwurf fehlt die Vorschrift, die im Gesetzesbeschluß des Bundestages die Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates ausgelöst hatte. Es handelte sich dabei mehr um eine technische Vorschrift zur Umsetzung von EG-Recht in nationales Recht.
Zweitens. Der neue Gesetzentwurf nimmt Bedenken auf, die im Bundesrat gegen die Ermächtigung des Zollkriminalinstituts zu Eingriffen in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis erhoben wurden. Jetzt sind umfangreiche Verpflichtungen des ZKI zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft über solche Eingriffe vorgesehen. Meine Damen und Herren, ich halte das für eine wesentliche Verbesserung des ursprünglichen Textes. Insoweit war auch die Kritik des Bundesrates hilfreich.
Die Unterrichtung der Staatsanwaltschaft gewährleistet die unerläßliche Koordinierung der Maßnahmen, um illegalen Exporteuren ihr kriminelles Handwerk besser legen zu können. Sie bedeutet also ein Plus an Effektivität, und sie bedeutet auch ein Mehr an rechtsstaatlicher Klarheit.
Die obligatorische Unterrichtung der Staatsanwaltschaft soll zugleich die befürchtete Verselbständigung des ZKI gegenüber der Staatsanwaltschaft als Verfolgungsbehörde ausschließen. Der Schutz der Privatsphäre des Bürgers bleibt weiterhin Verfassungsgebot. Es gilt, die Barrieren im Bereich dieses Schutzes zu respektieren.
Keinesfalls dürfen die vorgeschlagenen Eingriffe zum Schutz des Friedens und des menschlichen Lebens zum Anlaß genommen werden, den bisher bestehenden Katalog für Telefonkontrollen ins Uferlose auszuweiten. Die Bundesregierung nimmt insoweit die auch hier heute geäußerten Bedenken sehr ernst. Wir haben deshalb im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre des Bürgers den vorliegenden Text sehr eng mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz zusammen erarbeitet, und wir haben mit ihm Einvernehmen erzielt.
Auf der anderen Seite möchte ich klarstellen: Die vorgeschlagenen Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sind zum Schutz höchster Verfassungsgüter - des Friedens und des menschlichen Lebens - notwendig.
({0})
Die nicht nachlassenden Bemühungen einiger fremder Staaten, sich Rüstungsgüter oder Komponenten dazu aus dem Bundesgebiet illegal zu beschaffen, erfordern eine Verbesserung der Vorfeldaufklärung. Die Erfahrungen mit raffinierten illegalen Beschaffungsbemühungen des Irak - selbst während des Embargos -, z. B. auch unter Verwendung von Um-wegadressen, zeigen klar die Notwendigkeit einer solchen Vorfeldaufklärung.
Von den Entwürfen der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen unterscheiden sich die Entwürfe der Opposition vor allem in dem Verzicht auf die Eingriffsbefugnis des Zollkriminalinstituts. Aber es genügt nicht, wie es die Opposition vorschlägt, die Strafbarkeit von Beschaffungsaktivitäten im Bereich illegaler Exporte lediglich vorzuverlagern. Das kann auch keine Aufgabe der Staatsanwaltschaft sein, sondern bedarf einer für präventive Aufgaben geeigneten Behörde wie des Zollkriminalinstituts. Es geht nämlich vor allen Dingen um Prävention.
Meine Damen und Herren, zur verfassungsrechtlichen Seite der Gesetzesänderungen möchte ich hier keine weiteren Ausführungen machen; das hat der Kollege Eylmann hier sehr nachdrucksvoll getan.
Lassen Sie mich zum Schluß herzlich darum bitten, daß Sie alle diesem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen Ihre Unterstützung gewähren und die Beratungen in den Ausschüssen rasch durchführen.
Vielen Dank.
({1})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/765 und 12/899 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft sowie zur Mitberatung an den Innenausschuß und den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Claudia Nolte, Norbert Geis, Dr. Maria Böhmer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Detlef Kleinert ({0}), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eiVizepräsident Helmuth Becker
nes Gesetzes zur Änderung adoptionsrechtlicher Fristen ({1})
- Drucksache 12/1106 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2}) Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster der Herr Abgeordnete Dr. Michael Luther.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der CDU/CSU-Fraktion danke ich der Bundesregierung für die schnelle Ausarbeitung und Einbringung des Gesetzentwurfs zur Änderung der adoptionsrechtlichen Fristen. Erst am 19. Juni dieses Jahres haben wir hier im Bundestag den dringenden Handlungsbedarf zu diesem Thema festgestellt.
Es kann und darf nicht sein, daß sozialistisches Unrecht, das an vielen Familien durch Zwangsadoptionen in verachtenswerter Weise verübt worden ist, lediglich aus einem formalen Grund, nämlich des Ablaufs der Antragsfrist auf Rückgängigmachung von Adoptionsverfahren nach dem Recht der DDR, auf ewige Zeiten festgeschrieben ist.
In Kenntnis der sogenannten Zwangsadoptionen sieht schon der Einigungsvertrag die Möglichkeit vor, in Anlehnung an die Regelungen des BGB auf Grund von Anträgen bei Vormundschaftsgerichten durchgeführte Adoptionen gerichtlich überprüfen und gegebenenfalls aufheben zu lassen. Bei der Ausarbeitung des Einigungsvertrages gingen alle Beteiligten jedoch davon aus, daß das Problem so überschaubar ist, daß solche Anträge auf Aufhebung der Zwangsadoptionen innerhalb eines Jahres nach Vollendung der rechtlichen Einheit Deutschlands gestellt werden können. Diese Annahme kann leider aus heutiger Sicht nicht aufrecht erhalten werden.
So ist z. B. nach bisher geltendem Recht die Kenntnis des jetzigen Aufenthaltsortes der betroffenen Kinder für die leiblichen Eltern wichtig; denn nur bei dem für den Aufenthaltsort der Kinder zuständigen Vormundschaftsgericht können sie einen Antrag auf Aufhebung der Zwangsadoption stellen.
Deshalb sind drei sehr begrüßenswerte und kluge Regelungen getroffen worden. Erstens ist dankenswerterweise die Frist für einen Antrag auf Aufhebung einer Zwangsadoption bis zum 2. Oktober 1993 verlängert worden.
Zweitens ist es zu begrüßen, daß in den Fällen, in denen der genaue Aufenthaltsort nicht feststellbar ist, jedes Vormundschaftsgericht als zuständig anzusehen ist.
Drittens. Da die politische Motivation des Staates DDR bei einer Zwangsadoption nicht in der offiziellen Entscheidung festgehalten ist, ist es richtig, wenn nach dieser Gesetzesänderung alle Adoptionen nach dem Familiengesetzbuch der DDR, die die Zustimmung der leiblichen Eltern nicht erforderten, geprüft werden können. Hier werden auch die Stasi-Akten hilfreich sein. Zugleich wird eine individuelle Prüfung möglich, ob der Annehmende an einer etwaigen politischen Einflußnahme beteiligt war und diese Verstrickung eine Aufhebung des Annahmeverhältnisses auch und gerade im Kindesinteresse erfordert.
Viertens. Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich vor, daß der jeweilige Richter den Antrag auf Aufhebung der Zwangsadoption sehr sorgfältig im Hinblick auf die Interessen des Kindes und seine bereits stattgefundene Eingewöhnung in die Adoptivfamilie zu prüfen hat. Dies bedeutet, daß eine rechtswidrige Zwangsadoption dann trotzdem nicht aufgehoben wird, wenn das Wohl des Kindes dem entgegensteht.
Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen, daß Adoptionsverfahren in der ehemaligen DDR, die nach den Kriterien des BGB Rechtens gewesen wären, nicht mehr aufgehoben werden dürfen.
Insgesamt scheint mit diesem Gesetzentwurf ein optimaler Ausgleich zwischen den Interessen der leiblichen Eltern, deren Kinder zwangsadoptiert wurden, auf Wiederbegründung der familiären Einheit und den Interessen und dem Wohl des Kindes, das sich bereits über einen längeren Zeitraum und gut in seiner Adoptivfamilie eingelebt hat, gelungen zu sein. Ich bitte daher die mit dem Gesetzentwurf befaßten Ausschußkollegen um eine zügige und positive Beratung.
({0})
Das Wort hat nun Frau Abgeordnete Margot von Renesse.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema, mit dem wir es hier zu tun haben, ist eine besonders herzzerreißende Hinterlassenschaft eines auch in menschlicher Hinsicht brutal und unrechtmäßig handelnden Staates. Es erinnert mich an die Erschütterung, die ich vor vielen Jahren hatte, als ich von einem Vorgang bei holländischen Vormundschaftsgerichten hörte. Dort hatten jüdische Eltern während des Zweiten Weltkriegs und nach der deutschen Besetzung das Land verlassen müssen und ihre Kinder zum Teil bei holländischen Eltern gelassen, nach außen hin als deren Kinder, um sie zu schützen. Sie kamen nach Jahren zurück und wollten ihre Kinder wiederhaben. Einzelprüfungen ergaben in einer Reihe dieser Fälle, daß es nicht zu einer Rückgabe der Kinder kommen konnte.
Es gibt kaum etwas Schrecklicheres, als wenn einem ein Kind genommen wird, ohne daß man etwas dafür kann. Das Interesse dieser Eltern, für die ein Kind zu haben ein biographischer Vorgang von unverrückbarem Gewicht ist, ist auch von einem Gesetzgeber zu berücksichtigen. Darum bin ich auch für die Verlängerung der Fristen. Es ist auch wichtig, daß Kinder erfahren, daß ihre Eltern sie nicht verraten und nicht vernachlässigt haben, auch wenn sie bei ihren Adoptiveltern bleiben sollten.
Ich halte es für richtig, daß die Bremsen des geltenden Rechts, von einem behutsamen Gesetzgeber erfunden und hoffentlich von behutsamen Vormund3284
schaftsrichtern gehandhabt, in jedem Einzelfall zum Tragen kommen, die zweifache Bremse der Aufhebung - mein Vorredner hat sie schon genannt - , den nicht vorhandenen Automatismus der Sorgerechtsentscheidung und den nicht vorhandenen Automatismus einer Rückgabe in einen anderen Haushalt. Denn auch die identitätsprägenden Beziehungen von Kindern selbst zu Pflegeeltern, die das Sorgerecht nicht haben sollten, werden im Gesetz geschützt.
Ich denke noch darüber nach - darüber werden wir im Rechtsausschuß zu reden haben -, ob nicht auch angesichts der möglicherweise sehr langen
- sehr langen! - Adoptionsbeziehungen ein Weg gefunden werden muß, um es nicht durch den knallharten Verfahrensablauf zu einer möglicherweise kindeswohlgefährdenden Verunsicherung kommen zu lassen. Es fragt sich, ob man den normalen Ablauf
- Entgegennahme des Antrags, Ausfindigmachen der Anschrift, Zustellung und dann Abwarten der Rückäußerung und dergleichen - wählt, sondern ob man möglicherweise auch die Zustellung anders, eventuell über Jugendämter, erfolgen lassen muß, damit Kinder nicht erschüttert werden. Denn wir müssen einfach respektieren, daß das Verfahren selbst zu tiefen Identitätskrisen bei Kindern führen kann. Es gibt kaum etwas, was behutsamer als die identitätsstiftende Wirkung von Familien gehandhabt werden muß.
Ich danke.
({0})
Meine Damen und Herren! Das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
({0})
- Selbstverständlich.
In der nüchternen Gesetzessprache hört sich die notwendige Forderung nach Änderung adoptionsrechtlicher Fristen harmlos, unbedeutend und eigentlich sehr unwichtig an. Ein Blick hinter diese Formulierungen und auf die Sachverhalte, die diese Fristverlängerung dringend und eilbedürftig erforderlich machen, offenbart uns ein ganz dunkles Kapitel in der Familienpolitik der ehemaligen DDR: Trennung der Kinder von politisch mißliebigen Eltern gegen oder ohne deren Willen, Vermittlung der Adoption an Dritte, eine menschenverachtende Praxis unter dem SED-Regime, die nicht hinweggeleugnet werden kann.
Was unter dem Vorwand, zum Wohl des Kindes zu handeln, von SED-Behördenwillkür angerichtet wurde, kann nicht wiedergutgemacht werden wie so vieles von der Hinterlassenschaft des selbstverständliche Grundrechte in unserem Sinne negierenden Systems.
Warum ist nun eine solche Fristverlängerung wichtig, und zwar eine Fristverlängerung, die über den 2. Oktober diesen Jahres - da läuft sie ab - um weitere zwei Jahre hinausgeht? Wichtig ist sie, weil sich aus Unterlagen inzwischen ergibt, daß die nach dem Familiengesetzbuch der ehemaligen DDR mögliche Annahme an Kindes Statt gegen oder ohne den Willen der Eltern mißbraucht wurde.
Vielfältige Sachverhalte, die wir jetzt vielleicht auch noch gar nicht alle überblicken können, sind denkbar: Nötigung inhaftierter Eltern, in die Adoption einzuwilligen, Flucht der Eltern als Grund, ihre Einwilligung als entbehrlich zu betrachten, Entziehung des Erziehungsrechts politisch mißliebiger Eltern oder eben Ersetzung der Einwilligung durch Gericht. Eine Übersicht über diese Fälle und abschließende Zahlen liegen bisher nicht vor.
Die Frist läuft - wie schon von meinen Vorrednern und Vorrednerinnen gesagt - am 2. Oktober ab. Mit dem Gesetzentwurf greifen wir einen Antrag der Koalitionsfraktionen an die Regierung auf, diese Frist um zwei Jahre zu verlängern. Das ist, glaube ich, notwendig und sinnvoll, weil es neben diesen schwierigen Sachverhalten auch vielfältige praktische und verfahrensrechtliche Probleme geben wird. Deshalb ist eine gesetzgeberische Beratung, auch eine zügige Beratung, ganz dringend geboten. Der Gesetzentwurf muß in den nächsten vier Wochen verabschiedet werden.
Machen wir uns nichts vor: Den leiblichen Eltern und den Kindern zugefügtes Leid, die Zerstörung von Familienbanden, möglicherweise auch von Lebensglück können mit diesem Gesetzentwurf nicht wiedergutgemacht oder rückgängig gemacht werden. Deshalb sollten wir - darin stimme ich auch Frau von Renesse zu - in der gesetzgeberischen Beratung wirklich sehen, daß im Vordergrund auch dieses Gesetzes das Wohl des Kindes steht, daß wir nicht bürokratisch und gesetzgeberisch nüchtern vorgehen und daß wir das wirklich als erstes Ziel im Auge haben. Deshalb bitte ich Sie alle: Beraten Sie mit, unterstützen Sie den Gesetzentwurf, so daß wir ihn so schnell wie möglich verabschieden können! - Vielen Dank.
({1})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordneten Dr. Barbara Höll.
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte grundsätzlich erklären, daß wir jeglichen politischen Mißbrauch des Adoptionsrechts verurteilen. Da der vorliegende Gesetzesentwurf und seine Begründung durch den Justizminister allerdings nicht ausschließlich an diesem Anliegen orientiert sind, finden Sie meine Billigung nicht.
Justizminister Kinkel begründete den vorliegenden Gesetzentwurf unlängst mit dem nach und nach offenbar gewordenen Ausmaß politisch motivierter Zwangsadoptionen in der früheren DDR. Dieser Begründung steht jedoch entgegen, daß es von 1973 bis 1990 in der DDR zwar 5 693 Klagen auf Ersetzung der elterlichen Einwilligung zur Adoption gegeben hat;
ebenso hat es aber in den Altbundesländern z. B. von 1982 bis 1990 3 283 solcher Adoptionen gegeben.
Allerdings ist in diesem Zusammenhang anzumerken, daß der Bundesregierung für die ehemalige DDR bislang ein Ausmaß von sechs Fällen mit erhärtetem Verdacht und in weiteren 15 Fällen Verdachtsmomente auf politisch motivierte Adoptionen ohne elterliche Einwilligung bekannt sind. Hierfür besteht Regelungsbedarf.
Wenn jetzt eine Verlängerung der Fristen für den Antrag auf Aufhebung der Adoptionen, die ohne elterlich Einwilligung erfolgten, auf drei Jahre vorgenommen werden soll, dann dürfte dies nur auf eindeutig definierte politisch mißbräuchliche Fälle beschränkt werden. Da es sich bei den bisher bekanntgewordenen Verdachtsfällen ausschließlich um volljährige Kinder handelt, sollte in diesen Fällen, wenn sie sich als begründet erweisen, eine Aufhebung auch nur mit Zustimmung des Kindes erfolgen.
Die mit diesem Gesetzesentwurf angestrebte Eröffnung der rechtlichen Möglichkeiten einer Infragestellung aller Annahmeverhältnisse, die in der DDR ohne Einwilligung der Eltern begründet worden sind, läßt sich meines Erachtens auch nicht mit den familienrechtlichen Regelungen des BGB vereinbaren. Es ist nicht rechtsstaatlich, weil erstens nach § 1747 Abs. 4 elterliche Einwilligung zur Adoption nicht erforderlich ist, wenn Eltern zur Abgabe einer Erklärung dauernd außerstande sind oder deren Aufenthalt dauernd unbekannt ist, und zweitens nach § 1762 Abs. 2 über drei Jahre bestehende Annahmeverhältnisse nicht aufhebbar sind.
Mein Anliegen ist es, zu einem sensiblen Umgang mit dem Adoptionsrecht aufzufordern. Eine solche vorgeschlagene Ausweitung würde in nicht zu rechtfertigender Weise die entstandenen Familienbindungen von mehr als 5 000 Familien verunsichern. Mit einem solchen Gesetz würde die von den Regierungsparteien allerorts betriebene politisch-moralische Demontage der Würde von Bürgern der ehemaligen DDR auf spezifische Weise rechtlich ergänzt.
Mit Rechtsstaatlichkeitsprinzipien unvereinbar halte ich auch die in der Begründung angelegte gesetzliche Festschreibung einer politischen Diskriminierung aller Adoptiveltern in der ehemaligen DDR, deren Annahmeverhältnis ohne die Einwilligung der Eltern der an Kindes Statt Angenommenen zustande kam.
Ich hielte es vielmehr für unerläßlich, erstens den Rechtsanspruch der an Kindes Statt Angenommenen und der Adoptiveltern auf Schutz ihrer auf gesetzlicher Grundlage eingegangenen Familienbindung zu garantieren und zweitens öffentlich klarzustellen, welche Adoptionen, die in der DDR ohne Einwilligung der Eltern von an Kindes Statt Anzunehmenden vollzogen wurden, unaufhebbar fortbestehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordneten Hannelore Rönsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Dr. Höll, Sie können davon ausgehen, daß dieser Staat sehr sensibel mit den Befindlichkeiten der Eltern und der Kinder umgeht. Ich meine, daß es gerade dieses Thema verdient, daß wir alle gemeinsam versuchen, begangenes Unrecht eines Unrechtstaates wiedergutzumachen.
Die Aktenfunde im Mai vergangenen Jahres in Ost-Berlin und in den fünf neuen Bundesländern haben deutlich gemacht, mit welcher Menschenverachtung der ehemalige DDR-Staat und die Herrschenden dort Menschenopfer von denen gefordert haben, die ihnen politisch mißliebig waren.
({0})
Unser Rechtsstaat muß dieses Unrecht wiedergutmachen.
({1})
Ich bin sehr froh, daß der Justizminister die Fristverlängerung auf den 2. Oktober 1993 angenommen hat. Ich habe das sehr früh angeregt, weil ich der Meinung war, daß man den Familien, denen Unrecht geschehen ist, entgegenkommen und ihnen die entsprechende Zeit gewähren muß.
Wir haben es mit Adoptierten zu tun, die zum großen Teil lange erwachsen sind und die starke Familienbindungen zu den Adoptiveltern entwickelt haben. Wir haben es mit Eltern zu tun, denen Kleinkinder weggerissen wurden. Es sind Familienbeziehungen gewachsen und Familienbeziehungen gestört worden. Es muß jetzt unsere Aufgabe sein, bei diesem Thema die Befindlichkeiten der Familien, insbesondere die der Kinder, sehr sensibel wahrzunehmen.
Mir ist es als Familienministerin ein ganz besonderes Anliegen, darauf hinzuwirken, daß wir helfen können. Mir geht es auch um das Rechtsstaatliche. Mir geht es aber im besonderen darum, daß wir Famlien Unterstützung geben und daß wir den jungen Menschen, die jetzt 20 Jahre und älter sind, helfen, mit ihrer Lebenssituation fertigzuwerden. Ich habe deshalb zu einer Konferenz am 10. September 1991 eingeladen. Dort wollen wir all die momentan vorliegenden Fälle besprechen und versuchen, Hilfestellungen für Familien zu geben, denen die Kinder entrissen wurden, aber auch für Familien, denen die Kinder vielleicht jetzt weggenommen werden, weil sie sie damals adoptiert haben. Wir wollen ferner den jungen Menschen Hilfestellung geben.
Ich meine, auch dieses Thema verdient es, daß wir gemeinsam daran arbeiten, daß wir uns gemeinsam daran orientieren, wie wir Familien und die betroffenen Adoptivkinder am besten unterstützen können.
({2})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN stimmt dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Die juristische Lösung, die für das
Konrad Weiß ({0})
überaus schwierige Problem gefunden wurde, und die Verfahrensweise sind sinnvoll und dem Problem angemessen. Die vorgesehene Frist von drei Jahren für eine Antragstellung sollte ausreichend sein. Die Grenze, die durch § 1761 des BGB zum Wohle des Kindes gezogen wird, sollte hinlänglich vor Mißbrauch schützen.
Dennoch wird es schwierig bleiben, die politische Motivation einer Adoption zweifelsfrei zu erkennen. Hier überträgt der Gesetzgeber dem Richter die alleinige Verantwortung. Es muß natürlich gewährleistet sein, daß ältere Kinder dort, wo es noch in Frage kommt, mit entscheiden können und daß der Kindesentscheidung bei zunehmendem Alter auch zunehmendes Gewicht beigemessen wird.
Bei allen Entscheidungen muß das Wohl des Kindes die oberste Priorität haben, auch wenn das unter Umständen für die leiblichen Eltern eine schreiende Ungerechtigkeit ist. Eltern, die den Antrag auf Aufhebung einer Adoption stellen, sollten deshalb nicht nur von Juristen, sondern, wie ich meine, auch von Psychologen und Seelsorgern betreut werden.
Die Zwangsadoptionen aus politischer Motivation sind eines der scheußlichsten Verbrechen des SEDRegimes. Hier zeigt sich die ganze Menschenverachtung, die ganze Unmenschlichkeit. Wiedergutmachen läßt sich das Unrecht einer Zwangsadoption nicht. Eine zerrissene Familie wieder zu heilen wird nur in Ausnahmefällen gelingen.
Wir, meine Damen und Herren, sollten darüber wachen, daß Richter, Erzieher und Beamte, die bei politisch motivierten Adoptionen mitgewirkt haben, nie wieder etwas mit Kindern zu tun haben und nie wieder ein öffentliches Amt bekleiden dürfen. Wir sollten auch dafür sorgen, daß diejenigen, die für dieses Verbrechen politisch verantwortlich sind, vor Gericht gestellt werden.
Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich dafür zu sorgen, daß der SED-Generalsekretär Honecker und daß die DDR-Volksbildungsministerin Honecker ausgeliefert werden. Frau Honecker ist für dieses schreckliche Verbrechen unmittelbar verantwortlich.
({1})
Die freundliche Diplomatie der Bundesregierung in dieser Frage ist unerträglich. Daß diese Frau sich vor einem deutschen Gericht zu verantworten hat, das ist das mindeste, was wir für ihre Opfer, die vergewaltigten Kinder und die entmündigten Eltern, tun können.
Vielen Dank.
({2})
Meine Damen und Herren, am Schluß der Debatte hat der Bundesminister Dr. Klaus Kinkel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erst vorgestern habe ich an dieser Stelle gesagt: Der ganze Umfang des SED-Unrechts ist immer noch nicht bekannt. Für den Punkt, den wir heute behandeln, gilt das leider genauso.
Auch in den politisch motivierten Zwangsadoptionen des SED-Unrechtsregimes liegt tiefe Menschenverachtung; es ist bereits darauf hingewiesen worden. Dabei geht es einmal um das Leid der Eltern, vor allem aber auch um das der Kinder dieser Eltern, deren Belange uns ganz sicher besonders am Herzen liegen müssen.
Bereits Mitte der 70er Jahre tauchten Meldungen auf, nach denen in der ehemaligen DDR Kinder politisch mißliebiger Eltern gegen oder ohne den Willen ihrer Eltern aus ihren Familien herausgelöst und von Dritten adoptiert worden sind. Von gesicherten Erkenntnissen, in wie vielen Fällen und mit welchen Begründungen dies geschah, waren wir beim Abschluß des Einigungsvertrages leider noch weit entfernt.
Gleichwohl hat sich der Vertag der Problematik dieser Zwangsadoptionen angenommen. Die leiblichen Eltern sollen unter bestimmten Voraussetzungen einen Antrag auf Aufhebung von unter dem Recht der ehemaligen DDR begründeten Adoptionen bis zum 2. Oktober 1991 stellen können. Der Einigungsvertrag ging davon aus, daß diese Frist ausreichend sein würde, um allen betroffenen Eltern eine Überprüfung der unrechtmäßig begründeten Annahmeverhältnisse zu ermöglichen.
In jüngster Zeit - auch darauf ist schon hingewiesen worden - rufen jedoch Aktenfunde den Verdacht hervor, daß der Einfallsreichtum der DDR-Behörden ganz offensichtlich bei der Ausübung ihrer menschenverachtenden Praxis noch größer war, als wir es uns bisher vorstellen konnten. So haben sich beispielsweise inhaftiert gewesene Eltern jetzt Gott sei Dank an die Öffentlichkeit gewandt, denen die Einwilligung in die Adoption ihres Kindes im wahrsten Sinne des Wortes abgenötigt worden ist.
Der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundesjustizministerium ausgearbeitet wurde - es ist jetzt ein Entwurf der Koalitionsfraktionen, wofür ich dankbar bin -, erweitert deshalb die Möglichkeiten für eine Überprüfung der in der ehemaligen DDR begründeten Adoptionen. Er verlängert die Frist, innerhalb derer eine solche Überprüfung beantragt werden kann. Der Aufhebungsantrag kann außerdem zukünftig bei jedem Vormundschaftsgericht gestellt werden.
Die Zielsetzung dieses Entwurfs begrüße ich vorbehaltlos. Ich meine aber, daß es bei der jetzt gefundenen Frist auch bleiben sollte, und zwar gerade im Interesse der Kinder. Jede Adoption, auch die fehlerhafte, gegen elementare Elternrechte verstoßende Adoption, begründet ein Kind-Eltern-Verhältnis, das sich im Normalfall zur gelebten Familie entwickelt. Das Wohl des Kindes erfordert deshalb eine rasche Klärung seiner künftigen persönlichen Verhältnisse.
Die adoptierten Kinder sind inzwischen erwachsen, und es könnte sein, daß eine Rückgängigmachung der Adoption eher neues Leid schaffen würde statt altes zu heilen. Das wollen wir aber nicht. Oberster Maßstab für die Frage der Aufhebbarkeit einer Adoption muß deshalb das Kindeswohl bleiben.
Die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes kann auch dazu beitragen, das in der ehemaligen DDR begangene Unrecht wiedergutzumachen. Wir müssen dann aber auch dafür sorgen, daß alle möglicherweise betroffenen Eltern Kenntnis von den ihnen eröffneten Möglichkeiten haben, um die notwendigen Schritte einzuleiten. Dafür wird die Bundesregierung sorgen.
Ich möchte - wie vorgestern - noch einmal darauf hinweisen, daß die Überwindung des SED-Unrechts vor allem ein innerer Prozeß ist, der in erster Linie von den Opfern bewältigt werden muß. Das Vergangene kann auch in diesem Bereich leider niemand ungeschehen machen, aber vielleicht kann es gelingen, mit dieser Vergangenheit den inneren Frieden zu machen und sich versöhnt der Zukunft zuzuwenden.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen: Herr Abgeordneter Weiß, Sie sprachen Frau Margot Honecker und eine, wenn ich es recht im Kopf habe, höfliche - Ihrer Auffassung nach wohl zu höfliche - Justiz an. Ich habe mich vor dieser Debatte selbstverständlich sachkundig gemacht.
Wir leben im Rechtsstaat, aber wem sage ich das. Wir müssen deshalb auch akzeptieren, daß nur dann, wenn wirklich persönliche Schuld besteht und nachgewiesen werden kann, eine strafrechtliche Verurteilung in Frage kommt. Gegen Frau Honecker läuft derzeit, soweit ich unterrichtet bin, kein Ermittlungsverfahren bei einer deutschen Staatsanwaltschaft. Das müssen wir, das sollten wir, jedenfalls für den Augenblick, auch akzeptieren.
({0})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesordnungspunkt liegen nicht vor.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/1106 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge, Ergänzungen? - Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die beiden letzten Punkte unserer heutigen Tagesordnung, Punkt 6 der Tagesordnung und Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung, auf:
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschleunigung der Planungen für Verkehrswege in den neuen Ländern sowie im Land Berlin ({0})
- Drucksache 12/1092 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({1})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
ZP4 Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern
- Drucksache 12/1118 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({2})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zur Einbringung des Gesetzentwurfs hat der Bundesverkehrsminister Dr. Günther Krause das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Europa hat sich grundlegend verändert. Die deutsche Einheit, der fortschreitende Demokratisierungsprozeß in Osteuropa, aber vor allem auch in der Sowjetunion, die Vollendung des europäischen Binnenmarktes Ende nächsten Jahres und die Bildung eines europäischen Wirtschaftsraumes sind Fakten, die hier in der Bundesrepublik Deutschland eine dynamische Verkehrspolitik erfordern, denn Deutschland wird die Verkehrsdrehscheibe Nummer eins in Europa.
Zu den wachsenden Verkehrsströmen in Nord-SüdRichtung kommt jetzt auch ein ständig steigendes Verkehrsaufkommen in West-Ost-Richtung hinzu. Innerhalb Deutschlands wird der Ost-West-Verkehr im Zeitraum von 1988 bis zum Jahre 2010, also in nur 22 Jahren, um mehr als das Siebenfache im Güterverkehr und um mehr als das Achtfache im Personenverkehr steigen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer?
Bitte schön.
Herr Minister, Sie haben soeben auf die Zunahme des Nord-SüdVerkehrs und des Ost-West-Verkehrs hingewiesen. Teilen Sie auch in diesem Kontext die Auffassung Ihres Kabinettskollegen Töpfer, daß zur Bewältigung dieses zunehmenden Verkehrsaufkommens, aber auch aus anderen Gründen eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung notwendig sei,
({0})
und haben Sie sich mit dem Minister zwischenzeitlich auf eine gemeinsame Haltung verständigen können?
({1})
- Doch.
Ich denke, die Beantwortung dieser Frage geht nicht von meiner Redezeit ab, weil wir eigentlich ein wichtigeres Thema haben.
Ich habe mich mit dem Kollegen Töpfer natürlich geeinigt, daß es dabei bleibt, daß die rund 2 % noch nicht von einer Geschwindigkeitsbeschränkung betroffenen Straßen auch weiterhin nicht mit einem Tempolimit belastet werden.
({0})
Das marode Verkehrsnetz in den neuen Bundesländern ist den Anforderungen schon heute längst nicht mehr gewachsen. Ich möchte die Zahl achtfach doch noch einmal in Prozent ausdrücken: Zuwachs um 800 %.
Ein völlig veraltetes Schienennetz, das nur geringe Fahrgeschwindigkeiten erlaubt - ich hoffe, daß Sie die Geschwindigkeitsbegrenzung nun nicht auch noch auf die Eisenbahn ausdehnen wollen -, wenige Fernstraßenverbindungen, in nicht ausreichendem verkehrssicheren Zustand, verschwindend wenige Ortsumgehungen, ein für moderne Binnenschiffahrt unzureichend ausgebautes Wasserstraßennetz sind nicht nur Verkehrsengpässe, sondern auch gravierende Hemmnisse für Investitionen, die einen kräftigen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern in Gang setzen sollen; denn bei jeder Investitionsentscheidung stellt sich für jedes Wirtschaftsunternehmen heute sofort die Frage nach der Verkehrsanbindung.
Ein rascher Aufbau der Verkehrsinfrastruktur ist damit dringend notwendig, aus der Sicht der Regierung lebenswichtig für die neuen Bundesländer.
Planungsverfahren, die unumstritten 10, 15, ja sogar 20 Jahre dauern, erfordern Zeiträume, die wir uns in dieser komplizierten Situation in den neuen Bundesländern nicht leisten können. Das sind die nüchternen Tatsachen, von denen wir auszugehen haben. Das ist die Basis, und wir sitzen hier zusammen, um auf dieser Basis neue Lösungen zu schaffen.
Wir brauchen eine Straffung des Planungsverfahrens, damit wir die enormen Mittel, die der Bund für den Ausbau der Verkehrswege in den neuen Bundesländern bereitgestellt hat und weiter bereitstellen wird, auch tatsächlich investieren können. Deshalb ist es dringend notwendig, daß sobald wie möglich das Gesetz zur Beschleunigung der Planungen für Verkehrswege in den neuen Ländern sowie in dem Land Berlin in Kraft gesetzt wird - mit der wichtigen Ergänzung, daß bis in die westdeutschen Wirtschaftsräume hinein dieses Gesetz wirksam werden kann.
Das Beschleunigungsgesetz strafft und konzentriert förmliche Verfahrensschritte. An der Qualität der Planung werden keine Abstriche gemacht. Bürgerbeteiligung und Rechtsweggarantie bleiben erhalten.
({1}) - Auch Sie bekommen noch das Wort.
Umweltverträglichkeitsprüfung und Bürgerbeteiligung haben sich bewährt. Wir stehen zu diesen Elementen eines demokratischen Verwaltungsverfahrens. Die Verkürzung und Konzentration der Verfahren werden nichts an den materiellen Prüfungsmaßstäben ändern. Der Gesetzentwurf konzentriert die Linienbestimmung für alle Verkehrsträger beim Bundesverkehrsministerium. Er ermöglicht dadurch eine stärkere Einflußnahme auf die Beschleunigung der vorbereitenden Planung.
Es bleibt den Ländern wie bisher überlassen, ob sie zur Prüfung der Raumverträglichkeit ein formelles Verfahren nach Landesrecht durchführen wollen oder, wie es bis vor kurzem beispielsweise noch in Nordrhein-Westfalen üblich und anerkannt war, ohne besondere Verfahren die Raumverträglichkeit des Vorhabens prüfen wollen. Ich meine, in Nordrhein-Westfalen wurde in den letzten Jahren auch vernünftige Verkehrspolitik gemacht. Da werden Sie mir zustimmen.
({2}) - Teilweise, das ist richtig.
Im Planfeststellungsverfahren verkürzen sich Fristen für die Verwaltungsbehörden.
Der Gesetzentwurf konzentriert das verwaltungsgerichtliche Verfahren auf eine Instanz, nämlich auf den Rechtsweg zum Bundesverwaltungsgericht. Dieses Gericht ist Garant für eine rechtsstaatliche und einheitliche Rechtsprechung in der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Damit können die Bürger in den neuen Bundesländern sicher sein, daß ihnen umfassender Rechtsschutz gewährt wird.
Wenn wir in absehbarer Zeit von Mecklenburg-Vorpommern bis Sachsen tatsächlich leistungsfähigere, menschen- und umweltgerechtere Verkehrsbedingungen haben und nicht in den Planungen stekkenbleiben wollen, dann müssen wir diesen Gesetzentwurf so bald wie möglich verabschieden. Das Beschleunigungsgesetz wird für alle Planungen beim Bundesverkehrswegebau gelten, nicht nur für die Straße. Es soll vor allem bei der Schiene Elektrifizierung und Linienbegradigung, bei der Straße den Bau von Ortsumgehungen, natürlich auch den Neubau von Straßen, bei der Wasserstraße Ausbauvorhaben zügiger als bisher ermöglichen. Es wird außerdem auch für den öffentlichen Personennahverkehr wie z. B. im Straßenbahn- oder U-Bahn-Bau gelten. Vor allem aber soll in die Schiene investiert werden. So liegt der Anteil der Bahn am Verkehrshaushalt für das Jahr 1992 bei über 50 %, wobei 72 % dieser Mittel Investitionen in die Schiene sind. Der Löwenanteil der Investitionen entfällt hierbei auf die Deutsche Reichsbahn, in 1992 mit einer Steigerung um mehr als 3,6 Milliarden DM. Das sind im Vergleich zum Vorjahr erhebliche Steigerungen.
Wem die Förderung der Bahn nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, der muß nach dem ersten Schritt, der Bereitstellung der Mittel, auch den zweiten tun, nämlich sich für die Verkürzung der Planungszeiten entscheiden.
Vielen Dank.
({3})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordneten Dr. Margrit Wetzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ist es ähnlich wie mit Schalk-Golodkowski, Strauß und dem BND: Die Wahrheit liegt im verborgenen.
({0})
Das Gesetz zielt darauf ab, „die Planungszeiten für Verkehrswege in den neuen Bundesländern so zu verkürzen, daß so schnell wie möglich deren Zustand verbessert werden kann. " Das ist eine Fehlleistung.
Was heißt das denn? Wollen Sie den Zustand der vorhandenen Verkehrswege so schnell wie möglich verbessern, oder - und das ist etwas völlig anderes - wollen Sie die Planungszeiten für solche Verkehrswege verkürzen, die neue Verkehrsströme bündeln sollen? Ich sage: Wir müssen beide Zielsetzungen realisieren.
({1})
Das Gesetz behandelt aber nur die Beschleunigung der Verkehrswegeplanungsverfahren und nicht die Verbesserung der Leistungsfähigkeit der vorhandenen Verkehrswege in den neuen Ländern. Das ist bereits der erste gravierende Mangel.
({2})
Wir bezweifeln im übrigen entschieden, daß der vorgelegte Gesetzentwurf das Teilziel der Planungsbeschleunigung tatsächlich erreichen kann. Der Gesetzentwurf „verzichtet" auf die erste Stufe im Planungsverfahren, das Raumordnungsverfahren mit integrierter Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung. Dieser sogenannte Verzicht ist ein Eingriff in die föderalistische Ordnung des Grundgesetzes, das den Ländern die Aufgabe der Raumordnung und Landesplanung zuweist. Die neuen Bundesländer haben noch keine entsprechenden landesrechtlichen Bestimmungen. Sie haben noch kein ausreichendes Personal und noch wenig Erfahrung. Dies darf aber kein Grund sein, den verfassungsrechtlichen Rahmen föderalistischer Aufgabenteilung anzutasten, sondern muß umgekehrt Ansporn zu Amts- und Verwaltungshilfe sein, den neuen Ländern beim Auf- und Ausbau der Planungsbehörden schnell und unbürokratisch zu helfen. Die Bundesregierung weiß das.
({3})
- Die Bundesregierung weiß das; sie braucht gar nicht zuzuhören. Denn sonst hätte sie nicht dem Bundesrat beschieden, daß der Verzicht auf das Raumordnungsverfahren im weiteren Gesetzgebungsverfahren geprüft werden müsse. Bei dieser Prüfung, Herr Krause, werden wir kräftig nachhelfen, weil wir nämlich die Planungsfähigkeit der Länder und den Föderalismus überhaupt stärken wollen und nicht die Machtkonzentration bei Ihnen.
({4})
Der Hinweis im Gesetzentwurf, die Ersetzung des Raumordnungsverfahrens durch die Linienbestimmung bedeute nicht, „daß es den Ländern untersagt ist, nach landesrechtlichen Bestimmungen - soweit solche in den neuen Ländern vorhanden sind - Raumordnungsverfahren innerhalb der dreimonatigen Frist ... durchzuführen. " Diese Bestimmungen haben die neuen Länder nicht Herr Krause. Auch die Verlängerung der Frist durch den Bundesrat auf vier bis sechs Monate ändert nichts daran, daß so etwas blanker Zynismus ist und jedem Praktiker wie ein schlechter Witz vorkommen muß. Diese Fristsetzung ist fachliche Inkompetenz: Stärke 10 auf der nach oben offenen Krause-Skala.
({5})
Die neuen Bundesländer haben weder ausreichende Grundlagendaten für umfassende Verkehrsplanung noch ausdiskutierte Zielkonzepte für die strukturelle Entwicklung der Räume. Die Abwägung wirtschaftlicher und städtebaulicher Belange mit verkehrspolitischen Zielen, zu denen auch die Selbstverpflichtung zur CO2-Reduzierung, Verkehrsvermeidung, die Umlenkung von Verkehrsströmen auf Bahn und ÖPNV gehört, ist für die eigenständige Landesplanung, also gerade jetzt, zu Beginn der Etablierung einer marktwirtschaftlichen Ordnung, unglaublich wichtig, weil es gilt, mögliche Konflikte so frühzeitig wie möglich zu erkennen und Lösungen auch für komplexe Problemstellungen zu finden.
({6})
Das kann nur ein solides Raumordnungsverfahren leisten.
({7})
- Hören Sie erst einmal zu, und dann können Sie kommentieren.
({8})
Dazu gehört unverzichtbar auch wirksame Umweltvorsorge, d. h. eine materielle, eine frühzeitige UVP, die zusammen mit der Öffentlichkeitsbeteiligung in hohem Maße eine entlastende und damit beschleunigende Wirkung auf die übrigen Planungsverfahren hat. Sie aufzugeben heißt, Konflikte auf die letzte Planungsphase, nämlich das Planfeststellungsverfahren mit den dort gesetzten engen Fristen, zu verlagern, statt rechtzeitig alternative Möglichkeiten zu prüfen und anstehende Probleme zu erkennen. Insofern führt sich das Beschleunigungsgesetz, Herr Krause, selbst ad absurdum.
({9})
Die im Entwurf vorgesehene Konzentrationswirkung über die Linienbestimmung durch den Verkehrsminister soll solide Planung und verantwortungsvolle Abwägung ersetzen - ein Feigenblatt vor die politische Blöße derer, die sich vor der eigenen Verantwortung für schnelle Entscheidungen drükken
({10})
und sie im fernen Bonn einem allmächtigem BMV überlassen wollen.
({11})
Das Volk, das auf die Straße gegangen ist, um demokratische Rechte zu erstreiten, bleibt nun, wo es um wichtige infrastrukturelle Entscheidungen geht, draußen vor der Tür des Verkehrsministeriums.
({12})
Statt mehr Demokratie und echter Aufbauhilfe gilt für die neuen Länder: konzentrierte Macht beim BMV durch Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse.
({13})
Das gilt erstens für die Linienbestimmung ohne verbindliche Rückkopplung mit den Ländern.
Das gilt zweitens im Hinblick auf die Verordnungsermächtigung für die Linienbestimmung zwischen den neuen Ländern und sogenannten - nicht weiter definierten - Wirtschaftszentren der alten Länder. Ich bin sicher, daß diese Wirtschaftszentren wie Pilze aus dem Boden schießen werden - ebenso wie die Truppenreduzierung der Bundeswehr plötzlich den Nebeneffekt hat, daß die ganze Bundesrepublik nur noch aus strukturschwachen Regionen besteht. Genau das gleiche werden wir hier erleben.
({14})
- Lesen Sie das nachher nach und begründen Sie das dann.
Drittens. Diese Linienbestimmungskompetenz
- speziell die für die Wirtschaftszentren - eröffnet darüber hinaus einen mittelbaren oder unmittelbaren
- das zu beurteilen muß ich anderen überlassen - Einfluß des Verkehrsministers auf den Gerichtsstand in den alten Ländern. Das bedeutet einen Übergriff der Exekutive auf die Gerichtsbarkeit. In welchem Land leben wir denn eigentlich?
({15})
In jedem Fall bedarf dies wohl einer sehr gründlichen Überprüfung auf verfassungsrechtliche Haltbarkeit.
Viertens. Konzentrierte Macht ist auch über das Institut der Plangenehmigung für - ich bitte Sie, zuzuhören - „Bau und" - nicht näher definierte - „Änderung von Verkehrswegen" gegeben. Da bei der Plangenehmigung auch noch die zweite Stufe der UVP und die Öffentlichkeitsbeteiligung entfallen, wird die einzige „Öffentlichkeit" in einem solchen Verfahren durch die von der Genehmigung Betroffenen dargestellt. Das muß man sich einmal ganz deutlich vergegenwärtigen.
Fünftens. Die Verkürzung des Rechtsweges auf eine Instanz, nämlich das Bundesverwaltungsgericht - aus vermeintlicher Rücksicht auf die noch nicht bestehende Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern -, ist doch nur als logische Konsequenz dessen anzusehen, daß die gesamte Planungsverkürzung zu einem gewaltigen vorhersehbaren Anstieg der Zahl der Klagen führen wird. Das dient nun aber ganz gewiß nicht dem raschen Bau von Verkehrswegen. Ich habe den entschiedenen Eindruck, die Regierung drückt sich vor der Amtshilfe zum Aufbau der Planungsbehörden und der Gerichtsbarkeit in den neuen Ländern. Das Verkehrswegebeschleunigungsgesetz wird damit de facto zu einem Verkehrswegeverzögerungsgesetz.
Die neuen Länder haben eindeutig einen Sonderstatus. Das vorhandene umfangreiche Straßen- und Schienennetz der neuen Länder ist unstrittig über weite Strecken in desolatem Zustand. Die Erschließungsqualität hingegen entspricht durchaus jener westlicher Bundesländer. Wer es ernst meint mit der Angleichung von Lebensverhältnissen, mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen, muß konzentriert die verfügbaren Finanzmittel in die Sanierung der vorhandenen Verkehrswege lenken.
Die Ernsthaftigkeit dieses Bemühens spricht sich die Bundesregierung selbst ab, denn bereits ganz kurze Zeit nach der Verabschiedung des Haushalts 1991 - das war im Mai oder Anfang Juni 1991 - hat mir Herr Gröbl in Beantwortung einer Anfrage mitgeteilt - ich zitiere wiederum - :
Die Ausgabenentwicklung in den neuen Bundesländern erlaubt es, von den seinerzeit zu Lasten der Altländer in die Neuländer umgeschichteten Investitionsmitteln in Höhe von i Milliarde DM nunmehr 500 Millionen DM wieder zurückzuleiten. Dies ist den Ländern mit Ministerschreiben vom 11. Juni 1991 mitgeteilt worden.
({16})
Das ist ein Skandal gegenüber dem Parlament. Das war nämlich eine Woche später.
({17})
Wenn Sie wirklich positive Beschäftigungseffekte in den neuen Ländern schaffen wollen, dann spielen Sie bitte nicht mit gezinkten Karten.
({18})
Ein Sofortprogramm für Sanierungsmaßnahmen bedarf keines zeitaufwendigen Planungsvorlaufs. Nur der schnelle und zielgerichtete, realisierbare Einsatz der Haushaltsmittel kann Verkehrswege verbessern und zugleich eine weitere Veränderung des ModalSplit zu Lasten der Bahn und zu Lasten des ÖPNV verhindern.
Wir werden im Zuge der Gesetzesberatungen eine beispielhafte Liste der notwendigen Maßnahmen vorlegen, die ohne Planungsrecht schnell umsetzbar sind und die Effizienz der Verkehrsinfrastruktur innerhalb kürzester Zeit erheblich steigern können.
({19})
- Keine Zauberflöte.
Ein Sonderrecht, zumal ein Recht, das möglicherweise mit dem Grundgesetz kollidiert, wäre nur dann zu verantworten, wenn anders Beschleunigungseffekte nicht zu erzielen und wenn alle nach dem geltenden Recht bestehenden Beschleunigungsmöglichkeiten ausgeschöpft wären. Dies aber ist eindeutig nicht der Fall.
Die Dringlichkeit der Verfahrensbeschleunigung steht außer Zweifel. Planungszeiten von Jahrzehnten sind auch für die alten Länder nicht akzeptabel. Wir fordern deshalb - ich betone das ausdrücklich - eine effektive Planungsbeschleunigung durch volle Ausschöpfung der Spielräume des geltenden Rechts für ganz Deuschland - ich betone noch einmal: für ganz Deutschland - statt eines einseitigen Rechtsabbaus in den neuen Bundesländern.
Deshalb, Herr Krause: Ziehen Sie Ihren unseriösen Gesetzentwurf zugunsten eines vernünftigen Beschleunigungsprogramms zurück.
Frau Abgeordnete Dr. Wetzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte sehr, Herr Kollege.
Sind Sie bereit, gnädige Frau, der Öffentlichkeit gegenüber zu bestätigen, daß Herr Ministerpräsident Stolpe in Potsdam, als wir mit dem Verkehrsausschuß dort zu Besuch waren, zwei Dinge erklärt hat, nämlich erstens, er brauche das Beschleunigungsgesetz, damit die Wirtschaft in Gang komme, und zweitens, es ginge nicht an - so fast wörtlich - , daß zwei Leute eine Verkehrsmaßnahme kaputtmachen könnten, die 98 Leute haben wollten?
Das kann ich Ihnen in Teilen bestätigen. Soweit ich mich erinnere, war es nicht Herr Stolpe, sondern Herr Wolf. Wir haben mit Herrn Wolf Diskussionen geführt, in denen wir uns einig waren, daß eine Beschleunigung erfolgen muß. Ich gebe durchaus zu, daß ich Herrn Wolf deutlich gefragt habe, ob er nicht alle Kraft daransetzen müsse, die Planungskompetenz im eigenen Land zu behalten, um von dort aus eine echte Verfahrensbeschleunigung zu betreiben. Das sage ich in aller Deutlichkeit. Wir waren uns einig: Beschleunigung muß sein.
Herr Wolf hat auch gesagt, daß die Erfahrungen der neuen Bundesländer noch nicht ausreichten, um sich mit einem Gegenkonzept gegen diesen Vorschlag zu stellen. Wir werden abwarten, wie es in Zukunft sein wird, ob möglicherweise auch der Verkehrsminister von Brandenburg unserem Beschleunigungsprogramm zustimmen wird. Warten wir es einfach ab.
({0})
Ich möchte Ihnen Beispiele für Verfahrensbeschleunigungen nennen, die möglich sind, ohne das Planungsrecht anzugreifen: Erhalt des Raumordnungsverfahrens, der materiellen Umweltverträglichkeitsprüfung und der Öffentlichkeitsbeteiligung, massive Aufstockung der Planungsmittel, ausreichende Planungskapazitäten innerhalb und außerhalb der Verwaltungen, Amts- und Verwaltungshilfe für die neuen Bundesländer, Projektmanagement, d. h. projektbegleitende kompetente Arbeitsgruppen, die auch komplexe Problemstellungen gezielt einer Lösung zuführen können.
Unbedingt müssen die hohen Anforderungen an die zeitraubenden Voruntersuchungen reduziert werden. Zum Beispiel durch standardisierte Zeitablaufspläne und die Festlegung von Ausschlußkriterien läßt sich ohne raumordnerische Abstriche Zeit sparen.
Im Raumordnungsverfahren kann auf überhöhte Detailgenauigkeit verzichtet werden. Pläne im Maßstab 1 : 25 000 z. B. kosten weniger und sparen Zeit.
Auch wollen wir, Herr Krause, den bürokratischen Aufwand, der durch Beteiligung des Bundesministeriums für Verkehr entsteht, verringern. Für Baumaßnahmen unter 10 Millionen DM brauchen wir wirklich keine verwaltungsinternen Genehmigungsverfahren auf Bundesebene. Vielleicht noch nicht Sie, aber zumindest die Kollegen vom Fach wissen, daß das allein neun Monate Zeitgewinn mit sich brächte.
({1})
- Nein, das war keine Wessi-Arroganz. Ich denke, es ist keine Arroganz, zu sagen, daß Herr Krause bestimmte Erfahrungen aus der Praxis noch nicht haben kann.
({2})
- Die gleiche wie Sie.
Einer ernsthaften Prüfung würdig erscheint mir auch der Vorschlag der Länder Hessen und Niedersachsen, das förmliche Linienbestimmungsverfahren wegfallen zu lassen und in das Raumordnungsverfahren zu integrieren. Zumindest prüfen sollte man diesen Gedanken.
({3})
Wir sind selbstverständlich auch für die Einführung straffer - aber ausreichender - Fristen.
Wir werden Ihnen im Zuge der Beratungen eine Reihe weiterer möglicher Verfahrensbeschleunigungen vorschlagen, die wir für machbar halten, aber
- ich betone das noch einmal - Planungsbeschleunigungen im ganzen Deutschland.
Wir erklären ausdrücklich unsere Bereitschaft zur konstruktiven Mitarbeit an allen mit dem geltenden Recht zu vereinbarenden Beschleunigungsmöglichkeiten für Planungsverfahren in der Bundesrepublik.
Wir verlangen aber, daß mit der schnellen Sanierung der vorhandenen Verkehrswege Ernst gemacht wird.
Wir erwarten, daß den neuen Bundesländern alle demokratischen Mitwirkungsrechte zugestanden werden, die für die weitere Entwicklung der Länder und die Gestaltung einheitlicher Lebensverhältnisse von Bedeutung sind.
Wir fordern gleiche demokratische Möglichkeiten für alle und nicht ein Gesetz, das jetzt schon so unsolide ist, wie die Planungsverfahren in den neuen Ländern werden sollen.
({4})
Da ich davon ausgehe, daß Sie unserem Vorschlag, den Gesetzentwurf sofort zurückzuziehen, nicht folgen, beantrage ich für die SPD-Fraktion hilfsweise die Überweisung an die Ausschüsse.
({5})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ekkehard Gries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will der Kollegin sogleich antworten: Ich beantrage in der Hauptsache die Überweisung an den Ausschuß,
({0})
weil wir diesen Gesetzentwurf natürlich behandeln wollen und uns nicht auf Ausflüchte und ideologische Leerformeln einlassen können, einfach im Interesse der Sache und der Menschen.
Die Herstellung der deutschen Einheit liegt fast ein Jahr zurück. Es ist ein schwieriger Umstellungsprozeß, der ja auch die Haushaltsberatungen hier vorgestern und gestern wesentlich beeinflußt hat. Wir müssen nach 40 Jahren Mißwirtschaft sozialistischer und kommunistischer Cliquen
({1})
das marktwirtschaftliche System einführen.
Wir alle miteinander wissen - ich brauche das nicht zu wiederholen - , daß eine vernünftige Verkehrsinfrastruktur wirklich eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür ist - unseren Bürgern hier wird es vielleicht noch deutlicher als früher - , daß die Wirtschaftsstruktur funktionieren kann.
({2})
- Es gibt keinen Streit. Herr Schäfer. Ich rede jetzt nicht über Tempo 120 und anderes. Es gibt überhaupt viel weniger Streit zwischen uns. Es gibt bei Ihnen nur keine Verantwortung und keine Bereitschaft, zu entscheiden. Vieles von dem, was die Kollegin hier gesagt hat, kann ich unterstreichen. Da sind wir überhaupt nicht auseinander. Wir werden das auch im Ausschuß feststellen. Sie müssen aber auch einmal handeln. Da Sie es nicht tun, müssen wir es tun. Wir sind auch überzeugt, daß wir das Richtige tun werden.
20 Jahre Planungszeiträume wie bei uns? Das ist keine Chimäre. Jeder von uns, der hier in den alten Ländern gelebt hat, weiß, daß ein Planungsvorlauf zwischen 10 und 20 Jahren die Regel war. Das ist natürlich für den Aufschwung Ost tödlich; das können wir uns da nicht leisten, und das können wir auch den Menschen dort drüben überhaupt nicht zumuten, weder auf den Straßen noch auf den Schienen, noch auf dem Binnenwassersektor. Ich bin dem Minister eigentlich sehr dankbar dafür, daß ich in ihm jetzt einmal einen entschiedenen Befürworter der Binnenschiffahrt gefunden habe und daß wir die Binnenschiffahrt etwas stärker in den Mittelpunkt rücken, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Ich denke, daß die Koalition und die Regierung, die ein Gesamtkonzept anstreben, bei dem die 17 Projekte der deutschen Einheit über Maßnahmengesetze finanziert und geplant werden sollen, auf dem richtigen Wege sind. Darüber reden wir jedoch heute nicht; ich will es auch nicht vertiefen. Ich sage nur, das gehört zum Gesamtkonzept. Das sind nämlich Dinge, die sofort gemacht werden müssen. Sie können mit Leerformeln arbeiten, wie Sie wollen; Sie können vor Mitleid über die negativen Zustände in den neuen Ländern triefen: All dies nützt überhaupt nichts, wenn man nicht anfängt. Deshalb brauchen wir die Maßnahmengesetze. Aber wir brauchen das Beschleunigungsgesetz auch für alle anderen Verkehrsprojekte.
Kommen Sie nicht immer mit dem Schreckgespenst Straße. Der Minister hat schon darauf hingewiesen, daß die Schiene in der gleichen Weise wie die Binnenschiffahrt betroffen ist und daß der ÖPNV in der gleichen Weise wie der Fernverkehr tangiert ist.
Wir, die wir das Beschleunigungsgesetz vertreten, müssen uns selber davor hüten, Illusionen zu wecken. Selbst nach Inkrafttreten des Beschleunigungsgesetzes werden wir noch Planungszeiträume zwischen fünf und zehn Jahren haben, die, wenn wir uns die Aufgaben ansehen, die vor uns liegen, im Grunde noch viel zu lang sind.
Seien wir doch einmal ehrlich: Wenn wir solche Planungsprozesse von 10 bis 20 Jahren beim Aufbau der alten Bundesrepublik gehabt hätten, dann liefen wir heute immer noch mit dem Pappkarton herum.
({3})
Das ist natürlich alles viel schneller gegangen. So muß es jetzt in einer besonderen Situation auch drüben geschehen.
Das Beschleunigungsgesetz hat in erster Linie die Verwaltung und nicht die Bürger als Adressaten. Wir verkürzen die Fristen der Verwaltung; diese soll sich gefälligst einmal sputen.
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Sie haben das Raumordnungsverfahren erwähnt. Ich komme aus dieser Branche. Ich kenne das von der kommunalen und der Landesebene her. Es ist nämlich keine Bundessache.
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- Dann sehen Sie sich einmal an, wie lange das gedauert hat und wer darin herumfummelt.
Wenn man Raumordnungsverfahren unbefristet ganz allein rot-grünen Landesregierungen überläßt, dann - das sage ich Ihnen - kommt man gar nicht mehr in die Situation der LinienbestimmungsverfahEkkehard Gries
ren; dann ist nämlich das Jahrhundert vorbei. Das ist doch die Realität.
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Wir müssen auf der anderen Seite dafür sorgen, daß die Beteiligung der Öffentlichkeit, der Bürger, und die Belange des Umweltschutzes nicht zu kurz kommen; das ist überhaupt keine Frage. Deshalb haben wir aus der FDP-Fraktion heraus eine entsprechende Anregung gegeben. Darüber können wir reden. So, wie Sie es dargestellt haben, besteht in der Sache Konsens, auch wenn wir in Details auseinanderlaufen. Wir können dieses Gesetz ja auch verbessern. Wir haben bisher kaum ein Gesetz der Regierung erlebt, das nicht verbesserungsbedürftig gewesen wäre. Wir wollen das Raumordnungsverfahren, aber nicht als Verhinderungsinstrument, sondern befristet und möglicherweise auf die wichtigsten Punkte konzentriert, so daß wir dann am Ende auch zu einer Entscheidung kommen.
Wir können Parallelverfahren haben. Wir wollen die Umweltbelastungen vorher geklärt wissen. Wir wollen ja einen möglichst breiten Konsens, bis es am Ende in das Linienbestimmungsverfahren beim Minister geht. Das bedeutet dann aber auch, die Befristung zu akzeptieren.
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Ich bin froh, daß der Bundesrat selber die Vier-plusZwei-Regelung angeboten hat. Das muß auch gehen; dann muß man sich eben beschränken und sich ein bißchen sputen.
Insofern sind wir völlig d'accord. Wir werden das im Ausschuß noch eingehend behandeln.
Die Umweltverträglichkeitsprüfung bleibt, ebenso die Bürgerbeteiligung. Das Raumordnungsverfahren kann und soll, wo es gewollt wird, durchgeführt werden.
Wir sollten uns hüten - das klang bei Ihnen, Frau Kollegin Wetzel, ein bißchen durch -, die neuen Länder zu bevormunden. Ob sie nun eine Verwaltung haben oder eine solche langsamer oder schneller aufbauen, sie sind zuständig; sie haben die Kompetenzen. Diese sollten auch am Ende bei ihnen liegen. Wir sollten hier keine ideologischen Schaukämpfe führen.
Ich bedauere, daß Sie sich von der SPD - ich sage das ganz deutlich; ich stehe nicht im Verdacht, ein Sozialistenhasser zu sein - in dieselbe Situation wie vor der Bundestagswahl bringen, als alles zu schnell ging. Sie wissen heute, daß Oskar Lafontaine nicht nur nicht gewonnen, sondern total verloren hat und daß Sie auch mit Ihrer Politik gescheitert sind.
Wir würden dies alles heute nicht mehr bekommen. Es mußte gehandelt werden. Wir behandeln hier einen Sachbereich, in dem ebenfalls gehandelt werden muß. Es hat keinen Zweck, jetzt wieder alles ideologisch aufzupeppen, große Wunschgebilde zu schaffen und Illusionen zu entfachen. Wir müssen hier jetzt wirklich handeln.
Wir sind bereit, über Verbesserungen zu reden. Es hat jedoch überhaupt keinen Zweck, hier nur zu reden und dann nicht zu entscheiden. Selbstzweifel und Zweifel an der Effizienz des Gesetzes, das ja noch gar kein Gesetz ist - es ist ein Entwurf -,
({8}) bringen uns überhaupt nicht weiter.
Ich bitte Sie: Haben Sie doch ein bißchen mehr Verständnis für die Situation der neuen Länder, für die katastrophale Lage der Verkehrsinfrastruktur, für die Notwendigkeit und die Begründetheit bestimmter Sonderrechte, die wir dort einführen müssen. Wir sind dazu bereit, um das zu erreichen, was Sie auch gesagt haben: Chancengleichheit zwischen Ost und West, Lebensstandard, Vergleichbarkeit der Infrastrukturen. Das ist unser Hauptziel, meine Damen und Herren. Ich appelliere an die Opposition, sich wirklich zu besinnen und nicht wieder zu spät zu kommen. Wir sind jedenfalls bereit, diesen Gesetzentwurf durchaus in dem Sinne zu verbessern, wie Sie das in Grundzügen hier angedeutet haben.
Aber es bleibt dabei: Es gibt Befristungen, es gibt gebündelte und parallele Verfahren, damit wir schnell entscheiden können, um diesen Ländern zu helfen, die es bitter notwendig haben.
Vielen Dank.
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Die nächste Rednerin ist Frau Abgeordnete Jutta Braband.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn Herr Krause mittlerweile einen Gang zurückschalten mußte, hält er ungeachtet der Proteste von Umweltverbänden, Bürgerinitiativen und Politikerinnen und Politikern aus Ost und West an seinem Beschleunigungsgesetz fest. Getreu der Logik, viel hilft viel, soll das Problem des rasant wachsenden Verkehrsaufkommens in den neuen Bundesländern mit Zubetonierung von Landschaft gelöst werden. Was nottut, Herr Krause, ist ein integriertes Gesamtverkehrskonzept für die gesamte Bundesrepublik mit einer klaren und eindeutigen Priorität für die Bahn und den öffentlichen Personennahverkehr, eingebettet in eine Raumordnungs- und Siedlungsstrukturpolitik, die die erzwungene Mobilität drastisch reduziert. Was wir nicht brauchen, ist die beschleunigte Wiederholung der verkehrspolitischen Fehler der 60er und 70er Jahre in diesem Land hier.
Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR steht ein Schienennetz zur Verfügung, das von der Netzdichte her, gemessen an der Bevölkerungsdichte, grundsätzlich ausreicht, ja sogar noch 50 % dichter ist als das durch Streckenstillegungen stark reduzierte Schienennetz in den alten Bundesländern. Ähnliches gilt für die Straßenverkehrswege.
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Eine Instandsetzung und Modernisierung der vorhandenen Netze, insbesondere des Schienennetzes, brächte, eingebettet in eine ökologisch und sozial verträgliche Verkehrspolitik, eine tatsächliche Verbesserung der Verkehrs- und vor allem der Lebensverhält3294
nisse, anders als das undemokratische Machwerk Beschleunigungsgesetz.
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Nach heutigen Erkenntnissen sind über Flächensteuerung und Standortpolitik erhebliche Verkehrseinsparungen in den Regionen möglich, ohne daß wirtschaftliche Möglichkeiten eingeschränkt werden.
Eine Verteuerung des Straßenverkehrs bis zur kompletten Deckung seiner Kosten, auch der ökologischen und sozialen Folgekosten, ist ebenso unerläßlich wie eine Abbkehr von so unsäglichen Praktiken wie der Lagerhaltung auf der Straße.
Ein Konzept für die Regionalisierung von Wirtschaftsräumen ist dringend erforderlich. Die von Herrn Krause immer wieder zitierte Gleichung - Straßenbau gleich Arbeitsplätze gleich wirtschaftlicher Aufschwung - ist der falsche Ansatz und geht so einfach nicht auf. Straßenbau ist Großmaschinenarbeit, wie Ihnen allen bekannt sein dürfte und folglich kapital- und nicht pesonalintensiv. Erfahrungen aus dem ländlichen Raum belegen zudem, daß nach Abschluß der Baumaßnahmen kaum positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt dort festzustellen sind. Ganz im Gegenteil werden durch den Fernstraßenbau eher Pendlerströme ausgelöst und Kapital und Kaufkraft in die Ballungszentren abgezogen.
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Eine auf das Auto fixierte Bleifußpolitik, wie die Bundesregierung sie betreibt, lehnen wir grundsätzlich ab. Das Beschleunigungsgesetz ist zudem eine Beschneidung der wenigen, von Bürgerinneninitiativen erkämpften demokratischen Elemente im Planungswesen. Es stellt eine ganz besondere Form von Demokratieabbau dar. Es steht zu befürchten, daß bei Planungs- und Genehmigungsverfahren von großtechnischen Anlagen in Zukunft ganz ähnliche Wege beschritten werden sollen.
Dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/GRÜNE zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern stimmen wir uneingeschränkt zu. Hier ist der Ansatz formuliert, der unseres Erachtens allein zu einer Verbesserung der Verkehrssituation unter Beachtung aller ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Komponenten führt. Es würde uns freuen, wenn Sie, Herr Krause, sich entschließen könnten, Ihre Politik in Richtung auf ein Tempolimit zu beschleunigen.
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Ich finde, das ist die einzige Art von Beschleunigung, die wir hier brauchen können.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Horst Gibtner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir verschlägt es fast die Sprache, wenn ich lese und hier im Plenum wieder höre - damit meine ich insbesondere meine beiden Vorrednerinnen - , was SPD-Politiker und andere Oppositionsgruppen gegen den Entwurf des Beschleunigungsgesetzes ins Feld führen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Braband, es geht ja gar nicht nur um Straßenbau. Dies hier hat auch überhaupt nichts damit zu tun, daß vorhandene Verkehrswege in ihrem Zustand verbessert werden könnten, ohne daß wir das Beschleunigungsgesetz hätten. Man muß das Gesetz lesen. Dann weiß man genau, worum es geht.
Für einen Vertreter der neuen Bundesländer ist es absolut unerklärlich, meine Damen und Herren, daß jemand, der angeblich für den Aufschwung Ost ist - wozu ja wohl auch unbestritten der Ausbau der Verkehrswege gehört - , gegen ein solches Gesetz sein kann.
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Offensichtlich wollen Sie, meine Damen und Herren, den Aufschwung Ost nicht. Zumindest gönnen Sie ihn nicht dieser Regierung und dieser Koalition.
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Sie fallen damit aber auch den Politikern Ihrer eigenen Partei, der SPD, in den Rücken, die in den neuen Bundesländern vor Ort Verantwortung tragen, und Sie versündigen sich damit auch an den Menschen, die in den neuen Bundesländern leben und arbeiten bzw. sich nach einem neuen Arbeitsplatz sehnen.
Zum Zustand der Verkehrswege in der ehemaligen DDR sind schon sehr viele Zahlen und Bewertungen vorgetragen worden. Ich möchte diesen Zustand wie folgt kurz charakterisieren:
Schienenwege, Straßen und Wasserstraßen entsprechen im wesentlichen dem Ausrüstungsstand der 30er Jahre, ihr Zustand ist aber wesentlich schlechter als damals, weil diese Wege nur auf Verschleiß gefahren worden sind und zuwenig zu ihrem Erhalt bzw. gar zu ihrem Ausbau getan wurde. Diese Verkehrswege - das wissen wir alle, meine Damen und Herren - halten den Ansprüchen des geeinten Deutschland nicht stand.
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Wie sollen sie dann europäischen Anforderungen oder gar dem Verkehr nach der Jahrtausendwende genügen?
Wir sind uns doch hoffentlich einig darüber, daß dieses Dilemma schnellstens beseitigt werden muß.
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Nun frage ich Sie: Wie soll das mit einem Planungsrecht und einer Arbeitspraxis bewältigt werden,
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die nach Ihren eigenen westdeutschen Erfahrungen Vorbereitungszeiträume von 20 Jahren in Anspruch nehmen? - Da helfen doch keine Appelle und auch keine Forderungen nach noch höheren Hochhäusern mit noch viel mehr Beamten. Da hilft nur neues Recht, meine Damen und Herren!
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Es ist eine Demagogie, zu behaupten, dabei würden Bürgerrechte beschnitten und werde der Umweltschutz mit Füßen getreten.
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Das kann man nur Menschen einreden, die den Gesetzestext nicht kennen. Sie zählen offensichtlich auf deren Unwissenheit.
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- Frau Dr. Wetzel, selbstverständlich werden sich die zuständigen Ausschüsse - das ist schon gesagt worden - mit dem Entwurf des Beschleunigungsgesetzes sachkundig befassen müssen. Zur Einstimmung auf diese verantwortungsvolle Aufgabe möchte ich jetzt sagen, was wir wollen und tun müssen:
Erstens. Wir wollen natürlich die volle Berücksichtigung von Bürgerinteressen - das war eines der Hauptziele der friedlichen Revolution in der damaligen DDR - , aber wir wollen nicht endlose Verfahren mit wegen des langen Zeitablaufs immer neuen Generationen von Bürgervertretern.
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Der einzelne darf dem Allgemeinwohl dienende Vorhaben nicht nach seinem Belieben verzögern können.
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Zweitens. Wir wollen natürlich auch die volle Berücksichtigung der Umweltfragen - auch dies war ein lange verfolgtes Ziel der Opposition gegen die SED - , aber wir wollen die Umweltverträglichkeitsprüfung einmal zusammenfassend und gründlich,
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und wir wollen uns nicht immer wieder in großen Zeitabständen mit neuen Taktiken auseinandersetzen müssen. Mehr ist es doch nicht!
Drittens. Wir wollen selbstverständlich auch eine voll umfängliche Planung auf der Verwaltungsseite, aber unter Bündelung des Sachverstands, und wir wollen nicht eine Aufsplitterung auf unzählige verschiedene Stellen und Instanzen mit dem einzigen Ergebnis einer unerträglichen Planungsverzögerung.
Bei diesem Gesetzesvorhaben wissen wir uns in Übereinstimmung mit vielen Bürgern in ganz Deutschland, insbesondere mit den Menschen in den neuen Bundesländern, die schnelle Verbesserungen sehen wollen.
Wir wissen uns einig mit den Unternehmen, die in den neuen Bundesländern arbeiten wollen. Wir wissen uns aber auch einig mit den Arbeitnehmervertretern in den neuen Bundesländern, die neue Arbeitsplätze schaffen und die alten erhalten wollen.
Nur, mit Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, sind wir uns selbstverständlich nicht einig. Sie wissen nämlich, daß der einzige Weg, die nächste Bundestagswahl nicht wieder so haushoch zu verlieren, für Sie darin liegt, die Bemühungen für einen Aufschwung im Osten, die Bemühungen um eine durchgreifende Verbesserung im Osten mit all ihren positiven Wirkungen auf Gesamtdeutschland zu torpedieren, um dies später der jetzigen Regierung anzukreiden.
Aber dieses Spiel haben wir durchschaut. Es ist ein schäbiges Spiel. Da werden wir nicht mitspielen. Die Mehrheit dieses Hohen Hauses wird Ihren Versuch vereiteln.
Wir werden an der Verbesserung der Lebensverhältnisse weiter arbeiten und würden dies gern mit Ihnen gemeinsam tun.
Danke schön.
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Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Herrn Dr. Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich fühle mich in Übereinstimmung mit sehr vielen Menschen in den neuen Ländern, was die Entwicklung der Verkehrswege betrifft, Es gibt gute Gesetzesentwürfe, weniger gute, und es gibt sogar mangelhafte Gesetzesvorhaben - und jetzt das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz.
Schon der Titel des Gesetzes soll uns suggerieren, daß mit diesem Projekt den tatsächlichen Interessen der Bürger in den neuen Ländern entsprochen wird. Es stimmt: In Ostdeutschland, in den neuen Ländern, herrscht eine hohe Ungeduld. Die Menschen wollen so schnell wie möglich den gleichen Lebensstandard haben wie in der alten Bundesrepublik. Nach dem Zusammenbruch des ganzen Systems suchen sehr viele Menschen nach neuem Halt, und sie glauben schnell - ich meine, leider manchmal zu schnell - Argumenten, die ihnen kurzfristig Aufschwung versprechen, ohne ihnen langfristig eine Perspektive geben zu können.
Dieser Gesetzentwurf ist offenbar selbst außerordentlich beschleunigt entwickelt worden; denn ansonsten hätten die wirklich bremsenden Planungspraktiken berücksichtigt werden können. Die Hauptverluste im Planungsablauf liegen nämlich bei der Voruntersuchung und im Raumordnungsverfahren. Der größte zeitliche Verlust liegt also in einem Verfahrensabschnitt, der als reines Behördenverfahren ge3296
rade der öffentlichen Beteiligung bisher nicht zugänglich war.
Die relativ hohen Verzögerungen im Raumordnungsverfahren sind vermutlich gerade darauf zurückzuführen, daß eine erstmalige Beteiligung Dritter oder Betroffener zu spät stattfindet und die Mängel, etwa der Trassenfindung, erstmals im Vorverfahren offenbart werden und teilweise aufwendig durch neue Begutachtungen repariert werden müssen.
Aus verschiedenen Äußerungen des Bundesverkehrsministers schlußfolgere ich aber auch, daß er in den Protesten von Bürgerinitiativen, Fachverbänden und einzelnen betroffenen Bürgern eine besondere Bremse im bisherigen Planungsverfahren sieht. Aber anstatt die Beteiligung dieser großen Gruppe von angeblichen Störenfrieden in einer frühen Planungsphase vorzusehen, soll deren Mitspracherecht weiter erheblich eingeschränkt und auf inakzeptable Zeiträume zusammengestrichen werden.
Alle das bestehende Planungsrecht verändernden Vorschläge gehen jedoch genau in die falsche Richtung. Sie zerstören durch die Machtkonzentration auf den Bundesminister sinnvolle föderale Planungsprinzipien. Sie behindern durch extrem kurze Fristen in der Verfahrensordnung, einschließlich der späten und teilweise ausbleibenden Zusammenarbeit mit den Fachverbänden, eine umweltschonende Verkehrswegeneubaupolitik.
Eine Reihe von Projekten möglicher Maßnahmegesetze sind Angriffe auf die letzten naturnahen Biotope im Osten. Ich weiß aus eigenem Erfahren, daß es dort keine grundlegende Biotoperfassung gibt. Wenn wir jetzt einfach mit so kurzen Fristen planen und bauen, dann sind teilweise nicht einmal Zeiträume von der Dauer einer Vegetationsperiode da, um die genaue Erfassung noch nachvollziehen zu können.
Die Methode „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" und dann einfach darüber hinweggehen ist undemokratisch. Und gerade auch Demokratie wollen die Menschen in den fünf neuen Ländern lernen. Sie wollen mitbestimmen, was sie selbst betrifft.
Die Einschränkung der rechtsstaatlichen Möglichkeiten des Anrufens eines Gerichtes werden auf eine, dann auch noch fernliegende Instanz reduziert. Wer von den Bürgern in den neuen Ländern hat denn überhaupt den Mut, bereits das Bundesverwaltungsgericht anzurufen,
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um seine Interessen einzubringen? Wenn er dann nach Jahren recht bekommt, dann ist das Ganze vorbei - denn das hat ja nicht einmal aufschiebende Wirkung -, dann hat er die Autobahn im Wohnzimmer. Dann hat er recht und nichts weiter.
Unter dem Punkt „Alternativen" steht im Gesetz: „Keine". Ich glaube, der Verkehrsminister war nicht einmal bereit, Alternativen überhaupt zu erwägen und darüber nachzudenken.
Auch die Begründung von Dr. Laufs in der Debatte, daß die vielen Verkehrstoten auf den ostdeutschen Straßen diesen beschleunigten Neubau notwendig machen, ist absurd. Die wahnsinnige Raserei, das gnadenlose Überschreiten der Höchstgeschwindigkeiten wird doch nicht durch Straßenneubau verhindert.
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Die neuen Rennbahnen werden sogar ziemlich sicher wesentlich mehr Tote hervorbringen. Es reicht doch, wenn man an die Vernunft appelliert.
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Ich möchte jetzt nicht mit der Diskussion über die Geschwindigkeitsbegrenzungen beginnen. Aber ich glaube, das ist sehr notwendig.
Notwendig ist auch ein integriertes Verkehrskonzept für die Länder, das sich an dem zu erwartenden, auch regional mitbestimmten Verkehrsbedarf orientiert. Unser Antrag dazu liegt vor; er enthält unsere Vorstellungen. Meine Redezeit ist vorerst abgelaufen, so daß ich darauf nicht mehr im Detail eingehen kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus unserer Sicht auch nicht nachbesserbar. Das Bundesverkehrsministerium muß seine Hausaufgaben endlich wirklich machen. Der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form erinnert mich eher an die Bauanleitung für ein Autobahnraststätten-Spülklo, bei dem man den Wasseranschluß vergessen hat. Es sind nicht nur Autoabgase, die zum Himmel stinken.
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Meine Damen und Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es hier? - Ausschließlich darum, eine sichere Rechtsgrundlage für die Verkehrsplanung in den neuen Bundesländern unter den besonderen Bedingungen herbeizuführen. Leider haben Rot und Grün bereits im Vorfeld lautstark gegen den Gesetzentwurf Front gemacht. Aber ich glaube, die Positionen sind damit sehr klar geworden; denn für die Menschen, die eine bessere Verkehrsinfrastruktur dringend brauchen und die den Dreiklang Infrastruktur-Aufschwung-Arbeitsplätze kennen, ist damit deutlich, daß die einen das ganze Thema emotionsgeladen behandeln und mit Stichworten wie „Generalangriff auf Umwelt" und „einseitiger Rechtsabbau" belegen und auf der anderen Seite die Koalition sachlich sagt: Abbau des Infrastrukturdefizits durch vertretbare Beschleunigung der Planung auf sicherer Rechtsgrundlage. Wann ist jemals die Wahlmöglichkeit für den Bürger draußen deutlicher gewesen als bei diesem Punkt? Ich finde, es ist für unsere Debatte im Ausschuß sowie in der zweiten und dritten Lesung und für die Darstellung dieses Sachverhalts in der Öffentlichkeit wichtig, daß dieses ganz klar wird.
Für die CDU/CSU-Fraktion ist das Ziel als solches nicht disponibel, weil für uns eben Aufschwung Ost und Beschäftigung für Menschen dort nicht aufgeDirk Fischer ({0})
schoben werden dürfen. Nein, für uns geht es darum, Druck für die Menschen zu machen; das ist das Entscheidende. Viel zu lange Planungen behindern den Aufschwung in den neuen Bundesländern und erschweren die baldige Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Ablehnung würde eben bedeuten, Frau Kollegin: Keine Verkehrswege, keine Wirtschaftsansiedlung, keine besseren Chancen für Tourismus,
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keine Arbeitsplätze, und das für einen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren. Da kann man nur sagen: Dank SPD.
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Warum eigentlich? Die SPD will die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur durch Übernahme der westlichen Planungsgepflogenheiten um 20 Jahre verschieben. Glauben Sie doch nicht, daß Sie mit den Kinkerlitzchen im Planungsverfahren, die Sie uns anbieten, die ja auch jetzt schon möglich gewesen wären - es hat nur nicht funktioniert - , diese Zeit auch nur ansatzweise einholen können! Die SPD sieht nicht die Verantwortung für die Menschen in den neuen Bundesländern. Will denn die SPD eigentlich leugnen, daß das Erbe des real existierenden Sozialismus eben ein real existierendes Verkehrsnetz von erbärmlicher Qualität ist,
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ein Netz, das dem sprunghaften Wachstum des Verkehrs durch die Öffnung der Grenzen in Deutschland und zu Osteuropa in keiner Weise gewachsen ist? Ist denn die SPD eigentlich nicht der Ansicht, daß schnelles Handeln geboten ist, um die Zahl der Unfalltoten und -verletzten zu reduzieren? Herr Dr. Feige, Sie haben diesen wesentlichen Faktor bei der Verbesserung unserer Unfallbilanz völlig unterschlagen, ja sogar bestritten. Es ist nach aller Expertenmeinung ein entscheidender Faktor gewesen, daß wir die Verkehrsinfrastruktur verbessert haben. Gerade der Bau von Ortsumgehungen und die Bündelung des Verkehrs auf Bundesautobahnen sind ein ganz wesentlicher Faktor dafür, daß wir trotz massiv angestiegenen Verkehrsvolumens seit 1970 die Zahl der Unfalltoten in den alten Bundesländern auf ein Drittel haben herunterdrücken können.
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Es wäre wirklich ein Schabernack, wenn wir dies ignorierten und zu den falschen Schlußfolgerungen kämen.
Warum ein Gesetz? - In einem Rechtsstaat müssen außergewöhnliche Maßnahmen einer rechtlichen Überprüfung standhalten. Dafür bietet das Gesetz eine sichere Grundlage.
Der Verwaltungsaufbau kommt in den neuen Bundesländern unterschiedlich gut voran. Damit ist nicht sichergestellt, daß die Beschleunigungsvorschläge der Planungsexperten überall gleichmäßig umgesetzt werden. Das Gesetz schafft dafür gleiche Voraussetzungen.
Zur raschen Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse kann das Sonderrecht für die neuen Bundesländer auch befristet gelten. Dennoch wird es im Verkehrswegebau keine Hauruckverfahren geben. Am Ende der Befristung wird der Auftrag des Gesetzgebers zu überprüfen und neu zu entscheiden sein.
Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf vorgelegt. Der Bundesrat hat, wie ich glaube, in einem eigentümlichen Widerspruch zu den Einlassungen der SPD-Bundestagsfraktion dazu sehr sachlich Stellung genommen. Wir müssen in unseren Beratungen in den Ausschüssen alle vorgetragenen Aspekte sorgsam abwägen. Raumordnung, Umweltschutz, Bürgerbeteiligung und Rechtsschutz werden dabei nicht auf der Strecke bleiben. Aber für die CDU/CSU ist - ich wiederhole das noch einmal - kein disponibles Ziel, auf die Beschleunigung der Planung von Verkehrswegen zu verzichten.
Die SPD muß jetzt, inbesondere auf Grund ihrer Bundesratsmehrheit, entscheiden, ob sie konstruktiv den Weg mit der Bundesregierung gehen will oder ob sie die Verantwortung für viele Jahre des Stillstandes in den neuen Bundesländern übernehmen will. Bundesratsmehrheit kann eben auch einmal sehr unbequem sein. Man muß sich entscheiden: Man kann in diesem Fall nicht die übliche verbale Quadratur des Kreises praktizieren, die Sie, Frau Kollegin, heute beinahe modellhaft vorgeführt haben. Nein, es ist wirklich eine große Stunde der SPD: Sie muß Verantwortung übernehmen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/1092 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache 12/1118 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich hoffe, daß nach dem Sinn der Debatte das erzielt wird, was Inhalt der Überschrift ist, nämlich die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern. Dazu wünsche ich gute Beratungsergebnisse.
Wir sind am Ende der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, 18. September, 13.00 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.