Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/6/1991

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. Ich möchte zunächst auf der Ehrentribüne den Speaker des Repräsentantenhauses von Malaysia, Herrn Tan Sri Zahir, mit seiner parlamentarischen Delegation ganz herzlich im Deutschen Bundestag begrüßen. ({0}) Sie sind von Berlin nach Bonn gekommen und reisen nach Baden-Württemberg. Sie sind an der Zusammenarbeit mit uns in einer Weise interessiert, daß ich uns nur wünschen kann, daß weiterhin enge parlamentarische Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern gepflegt werden. Ich wünsche Ihrem Besuch einen guten Verlauf. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache 12/6292. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache 12/654 3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines . .. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 12/656 4. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Verfahren zur Durchführung des Volksentscheides nach Artikel 146 Absatz 2 des Grundgesetzes ({2}) - Drucksache 12/657 Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Wir setzen jetzt die Haushaltsberatungen fort: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 ({3}) ({4}) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes - Drucksachen 12/504, 12/530 Berichterstatter: Abgeordnete Rudi Walther Carl-Ludwig Thiele Ich weise darauf hin, daß über diesen Einzelplan gegen 13.30 Uhr namentlich abgestimmt wird. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ministerpräsident Engholm. (I Ministerpräsident Björn Engholm ({5}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte eine Bemerkung an den Anfang stellen, mit der Altbundeskanzler Helmut Schmidt vor kurzem, wie ich glaube, der großen Mehrheit unseres Volkes und auch vielen in diesem Hohen Hause aus dem Herzen gesprochen hat. Helmut Schmidt sagte: „Selbst wenn die deutsche Einheit dreimal so teuer käme,wie es sich gegenwärtig abzeichnet, und teuer nicht nur im materiellen, sondern vielmehr auch im seelischen und geistigen Sinne, selbst dann würden wir doch nicht auf die Einheit verzichten wollen." ({6}) - Ich wollte mir wenigstens einmal zu Beginn meiner Rede den Luxus des Beifalls des ganzen Hauses gönnen. ({7}) Meine Damen und Herren, dieser schlichte Satz umschreibt die Bedeutung und die Größe der Kraftanstrengung, vor der wir alle stehen. Viele in unserem Volk und auch in der Politik - und ich denke, nicht zuletzt die Sozialdemokraten im letzten Jahr der großen Wahlauseinandersetzung - haben das so gesehen. Allein die Bundesregierung ist mit verstelltem Blick auf diese Dinge zugegangen. ({8}) Ministerpräsident Björn Engholm ({9}) Wir könnten nach meiner Einschätzung auf dem Weg zur Bewältigung dieser unglaublichen nationalen Anstrengung weiter sein, wenn die Bundesregierung von Anbeginn an die Realität im Auge gehabt und den Mut zur Wahrheit besessen hätte. ({10}) Statt aber den Menschen im Osten die volle Wahrheit über die ökonomischen und sozialen Folgen der Einigung zu sagen und die Bürgerinnen und Bürger im Westen über die Notwendigkeit langfristiger, tiefgreifender und großer Opfer voll aufzuklären, wurden wir im Osten wie im Westen - ich weiß nicht, aus welchem Grunde; vielleicht nur blauäugig - hinters Licht geführt. ({11}) Die jüngste Erfahrung zeigt - das ist eine Lehre für alle, die Politik machen - : Wer leere Vesprechungen und Täuschungen sät, der muß Mißtrauen und Skepsis ernten. Das sind die schlechtesten Wegbereiter. ({12}) Wir sind nun, meine Damen und Herren, nach langen Jahren einer schmerzlichen Trennung und - nicht zu vergessen - insgesamt fast zwei Generationen der Unfreiheit im Osten Deutschlands ein Staat geworden. Das ist ein Glück, wie es Völkern in der Geschichte nur selten zuteil wurde. Ich weiß, die Freude darüber in diesem Hause ist ungeteilt. ({13}) Jetzt kommt es darauf an, daß aus diesem Glück nicht neues Unglück für die Menschen im Osten Deutschlands wird. Um es deutlicher zu sagen: Es darf kein neues deutsches Trauma geben, das Trauma der Teilung in Einheit. ({14}) Ich sage das deshalb so nachdrücklich, weil ich glaube, daß dann, wenn wir die Einheit sozial und ökonomisch nicht verwirklichen, verhängnisvolle Folgen nicht nur für unser Volk, sondern auch für den europäischen Einigungsprozeß vor der Tür stünden. Niemand würde gerade uns Deutschen zutrauen, das große gemeinsame europäische Haus mitbauen zu können, wenn uns nicht einmal der Bau des bundesdeutschen Eigenheimes gelänge. ({15}) Meine Partei wird deshalb darum ringen, daß die Einheit ökonomisch kraftvoll und sozial vorbildlich gestaltet wird. Das heißt, wir werden alles tun, was wir als Sozialdemokraten können, um nicht zuzulassen, daß auf Dauer im Zug zur Einheit eine Holzklasse für die Bürgerinnen und Bürger des Ostens und eine Plüschklasse für die des Westens existiert. ({16}) Dieses Ziel, meine Damen und Herren, ist nur erreichbar, wenn wir die Fundamente, auf denen unsere Republik steht, stärken, statt sie zu schwächen. Zu den Fundamenten dieser Republik gehört gewiß nicht zuletzt ein intakter und lebensfähiger Föderalismus. ({17}) Leistungsfähige und finanzstarke Länder mit lebendigen und gestaltungsstarken Kommunen sind eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung unseres Landes. ({18}) Wer den Ländern und den Gemeinden an den Lebensnerv, insbesondere den finanziellen Lebensnerv, geht, wer ihnen damit die Grundlage für die Zukunftsgestaltung vor der Haustür der Menschen nimmt, der geht an den Lebensnerv des gesamten Gemeinwesens. ({19}) Wir stehen heute in der neuen Bundesrepublik vor einer Situation, von der man sagen kann, es gebe ein tief zerklüftetes, mindestens dreigeteiltes Ländersystem. Da ist die Erste Welt; dazu zähle ich Hessen, Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Diese Länder sind auch heute noch stark genug, um ihre Zukunft selbsttätig zu gestalten. Aber wenn Sie mit Herrn Streibl sprechen, dann wird er Ihnen sagen, die Grenzen der finanziellen Autonomie seien auch schon bei ihm in Sicht. Da ist die Zweite Welt: das Saarland, Bremen, Schleswig-Holstein und, ich vermute, mit Abstand Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Diese Länder haben ihre finanzielle Gestaltungskraft bereits weitgehend verloren. ({20}) - In welchem Umfang Sie daran mitgewirkt haben, will ich heute morgen nicht auflisten. Da ist schließlich die Dritte Welt. Das sind die ostdeutschen Länder, für die der Föderalismus eine unglaublich identitätsstiftende Kraft ist, wo der Föderalismus finanzpolitisch aber nur formal auf dem Papier steht und sich nicht wirklich entfalten kann. ({21}) Es ist, meine Damen und Herren, vornehm ausgedrückt, bedrückend, daß die Bundesregierung die Kosten der deutschen Einheit zunächst verkannt, dann verniedlicht und dann weggetäuscht hat, um nach der Bundestagswahl bruchstückweise mit der Wahrheit ans Licht zu kommen. ({22}) Ministerpräsident Björn Engholm ({23}) Ich stimme Frau Matthäus-Maier zu, die gesagt hat: Wahrscheinlich sind wir bei der Bundesregierung von der Wahrheit noch Lichtjahre entfernt. ({24}) Bedrückend ist auch, daß die Bundesregierung ein Steuer- und Abgabenpaket vorlegt, das sozial völlig asymmetrisch ist. Es ist unter Solidaritätsgesichtspunkten eine Absurdität, Bezieher kleiner Einkommen kräftig zu belasten, jetzt auch noch Bergleuten ans Existenzleder zu wollen und zugleich die Großen unserer Gesellschaft mit Vermögensteuerstreicheleinheiten zu versehen. ({25}) Aber für uns als Länder und für unsere Gemeinden besonders bedrückend ist etwas anderes. Wir haben uns im Einigungsprozeß nachdrücklich engagiert. ({26}) Wir haben aus eigenen Mitteln, bevor die Bundesregierung anfing, auch nur einen Finger zu rühren, eigenständig Programme im Osten finanziert und die ersten Personaltransfers vorgenommen. ({27}) Wir zahlen als Bundesländer bis zum Jahr 2025 in den Fonds Deutsche Einheit. Damit diejenigen unter Ihnen, die natürlich keine Ahnung haben, wie es in den Ländern aussieht, wissen, was das heißt: Für ein kleines Land wie Schleswig-Holstein bedeutet allein der Fonds Deutsche Einheit eine Belastung von über 6 Milliarden DM. Wer darüber lacht, hat das Mandat nicht verdient, mit dem er hier sitzt. ({28}) Sie wissen, daß wir in einem schwierigen Prozeß das Steueraufkommen so verteilt haben, daß alle Ostpartner inzwischen daran partizipieren. Vor uns steht - wir wissen noch nicht, in welchen Größenordnungen, weil uns die endgültigen Planungen der Bundesregierung nicht bekannt sind - ein ständiger Verlust von Bundesmitteln bei Gemeinschaftsaufgaben und sonstigen Projekten. Das heißt, wir - auch die schwächeren unter uns Ländern - tragen diese Lasten, weil wir wollen, daß Deutschland so schnell wie möglich sozial und wirtschaftlich zusammenwächst. Wir haben jedoch kein Verständnis dafür - das sollten Sie eigentlich begreifen - , daß sich der Bund jetzt allein neue Finanzquellen erschließt, aber seelenruhig zusieht, wie Länder und Gemeinden weiter ausbluten. ({29}) Am Ende dieses Weges hängen zwei Drittel oder mehr der Länder und Gemeinden an der goldenen Leine des Bundes und am finanzpolitischen Zügel des Bundesfinanzministers. Mit dieser Politik - ich bitte Sie, das ernst zu nehmen; die meisten von Ihnen kommen ja aus Wahlkreisen in Ländern und Gemeinden, in denen sie direkt gewählt werden - wird der Föderalismus ausgehöhlt und die Macht der Zentrale gestärkt. Dies ist eindeutig wider den Geist unserer Verfassung. ({30}) Ich sage Ihnen, es ist verhängnisvoll auch für das, was Menschen empfinden, wenn sie sehen, daß wir uns zunehmend für den Aufbau des Ostens finanziell engagieren - was selbstverständlich ist -. Wenn sie zugleich sehen, daß in den schwachen Ländern und den ausgebluteten Kommunen in den Kindergärten der Putz von den Wänden herunterrieselt, wird die Lust zum Teilen dadurch nicht gefördert. ({31}) - Herr Austermann hat gerade eingeworfen - ich wiederhole es, weil Sie es nicht alle gehört haben -, das sei eine Beleidigung für die Kommunalpolitiker. ({32}) Herr Austermann, ich wäre fast geneigt, Ihnen anzubieten, mit Ihnen die vielfältigen Etappen Ihrer Kommunalpolitik einmal nachzuwandern, um Ihnen dort die Klassenzimmer, wo es so aussieht, zu zeigen. ({33}) - Herrn Kubickis Zwischenruf habe ich nicht gehört. Das ist vielleicht besser so. Meine Damen und Herren, wir haben gestern den 100. Geburtstag der IG Metall in Frankfurt gefeiert. ({34}) Auch viele, die heute hier sitzen, sind gestern dort gewesen. ({35}) - Der eine oder andere, den ich noch von früher kenne, hat zu der Zeit, als wir gemeinsam im Parla2064 Ministerpräsident Björn Engholm ({36}) ment saßen, intelligentere Zwischenrufe gemacht. Das lange Sitzen schleift offensichtlich ab. ({37}) Das Motto des gestrigen Geburtstages der IG Metall lautete: „Dem Leben Zukunft geben". Wie sieht es mit „Dem Leben Zukunft geben" in der Realität unserer Politik aus? Daß nach bald einem Jahrzehnt wirtschaftlichen Booms in der Bundesrepublik die Zahl der Armen in unserer Gesellschaft gewachsen ist - siehe die Zahl der Sozialhilfeempfänger - , ist für eine reiche Republik extrem beschämend. ({38}) Damit kein falscher Eindruck entsteht: Niemand kann der Regierung einen Vorwurf daraus machen, daß es überhaupt Armut gibt. Aber daß eine Regierung keine Konzepte zur Bekämpfung der Armut entwirft und daß wir nach den vielfältigen Kürzungen in der Sozialpolitik wieder auf dem Weg sind, aus Sozialpolitik so etwas wie Wohltätigkeit zu machen, das ist bedrückend. ({39}) Wir machen der Regierung auch nicht den Vorwurf, daß es auf den deutschen Straßen mehr Kraftfahrzeuge gibt. ({40}) Aber daß Sie den öffentlichen Verkehr in den letzten Jahren ständig weiter schwächten und die deutschen Straßen ins Chaos laufen ließen, das offenbart eine bedrückende Perspektivlosigkeit. ({41}) Daß es Wohnungsungleichgewichte bei sich schnell entwickelnden Gesellschaften gibt, wird jeder Regierung passieren können. Aber daß eine Regierung - noch zu einem Zeitpunkt, da bereits sichtbar Hunderttausende auf der Suche nach bezahlbaren Wohnungen sind - von Vollversorgung spricht, ist für mich völlig unverständlich. ({42}) Der Vorsitzende der IG Metall, Herr Steinkühler, hat gestern beim IG-Metall-Jubiläum gesagt, die Menschheit stehe über kurz oder lang vor der Existenzfrage ihrer eigenen Gattung, wenn sie weiter so verantwortungslos mit den Gütern der Erde umgehe. ({43}) Daß die Umweltzerstörung global in einem unglaublichen Maß voranschreitet, dafür können wir alle nur bedingt etwas - außer unter dem Gesichts punkt, daß wir alle Teil des Weltwirtschaftssystems sind; da liegt eine große Verantwortung. Aber daß die ökologische Umgestaltung der gesamten Industrie- und Konsumgesellschaft, von der wir wissen, daß sie keine Alternative kennt, als Thema am Kabinettstisch keinen Platz hat, offenbart die Perspektivenlosigkeit der Regierung. ({44}) Daß schließlich Millionen Menschen in aller Welt ihre Heimat verlassen müssen und sich zunehmend auf den Weg in die reicheren Staaten des Westens machen, dafür kann man keine nationale Regierung verantwortlich machen. ({45}) Aber daß in Bonn das Asylrecht zu einer variablen Abwehrmasse dieses Problems gemacht wird, statt ein modernes Einwanderungsrecht - auch europäisch - zu schaffen, ist ein Versäumnis. ({46}) Ich glaube, hinter alldem, was man an Perspektiven in der Regierungspolitik vermißt, steht so etwas wie ein tiefer ideologischer Unterschied, wobei ich inzwischen fest davon überzeugt bin, daß die Ideologen ihren Platz mehr in der Rechten Deutschlands haben denn in der Linken. ({47}) Dahinter steht eine ausgeprägte Vorstellung, die unsterbliche Idee des Laisser-faire, nämlich daß sich Probleme im Selbstlauf regulieren. ({48}) Daß viele, die bei Ihnen sitzen - nicht zuletzt auch in der liberalen Partei - , dieser Idee anhängen, ist seit langem bekannt. Deshalb müssen Sie sich auch nicht schämen, denn Sie stehen doch meistens dazu. ({49}) Ich muß nur sagen: Eine Politik, die glaubt, man könne menschliche Nöte, strukturelle Defizite sich im Selbstlauf erledigen lassen, versagt vor den großen Gestaltungsaufgaben unserer Zeit und der Zukunft. ({50}) Meine Damen und Herren, die Gestaltung der sozialen Einheit Deutschlands und die Bewältigung unserer großen Zukunftsaufgaben erfordert Opfer von uns allen, im Westen wie im Osten. Wer Opfer verlangt, muß Opfer gerecht verteilen; denn wir wissen, daß die Menschen nur dann bereit sind, sich an Opfern zu beteiligen, wenn sie wissen, daß es dabei gerecht zugeht. Sozialdemokraten haben Ihnen dazu seit langem vernünftige Vorschläge gemacht. ({51}) - Frau Matthäus-Maier hat das gestern in aller Ausführlichkeit wiederholt. ({52}) Ministerpräsident Björn Engholm ({53}) - Die Kollegen sind wohl nicht hier gewesen. ({54}) - Mit Verlaub, ich habe die Debatte dort verfolgt, wo auch Sie es gelegentlich tun: am Bildschirm. ({55}) Ich wiederhole gern, was Sie nicht gehört haben: Wir sind für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe für Besserverdienende, aber nicht für die Belastung in der Breite und besonders der unteren Schichten unseres Volkes. ({56}) Wir schlagen Ihnen vor, eine befristete Arbeitsmarktabgabe zu erheben, damit einen Solidaritätsbeitrag auch die leisten, die in der Vergangenheit frei ausgegangen sind. ({57}) Wir schlagen Ihnen - darüber ist gestern nachdrücklich gesprochen worden - über harte, aber sozial vertretbare Sparmaßnahmen hinaus insbesondere den Verzicht auf neue militärische Großprojekte vor, deren Nutzen für die Zukunft allseits in Zweifel gezogen wird. ({58}) Ich schlage Ihnen, damit wir im Föderalismus ein Stück neuen Ausgleichs schaffen, ferner vor: Beteiligen Sie die Länder und die Gemeinden am Mineralölsteueraufkommen zur Kompensation ihrer überproportional starken Belastungen, die sie jetzt zu verzeichnen haben! ({59}) Meine Damen und Herren, vor uns liegt kein kurzer Zeitabschnitt, sondern, wie ich glaube, ein ganzes Jahrzehnt einer immensen Anstrengung für den Aufbau und die Modernisierung der fünf neuen Länder im Osten Deutschlands ebenso wie für die Lösung der bisher ungelösten großen Zukunftsaufgaben. Die Talsohle in den neuen Ländern läßt sich verkürzen, wenn dieses Haus den Vorschlägen folgt, die die SPD in ihrem Nationalen Aufbauplan gemacht hat. Sie kennen die Punkte. Ich werde sie sehr kurz wiedergeben. Wir haben Ihnen vorgeschlagen - das wäre wirklich eine Innovation großen Stils in der Arbeitsmarktpolitik - , jetzt mit aller Kraft ausschließlich neue Arbeit und Qualifizierung zu fördern, aber nicht die nutzlose Arbeitslosigkeit. ({60}) - Ich fahre mit Ihnen einmal dorthin, wo dieses Prinzip angewandt wird und wo wir, weil dieses Prinzip angewandt wird, unter vergleichbaren Weltmarktbedingungen Arbeitslosenquoten von 2 % und weniger haben. Daß es funktioniert, kann man in Skandinavien sehr deutlich sehen. ({61}) - Sagen Sie mir doch einmal, wie hoch Sie die Arbeitslosigkeit in Schweden oder Norwegen nach Ihrer Kenntnis einschätzen! ({62}) - Es gilt das gute alte deutsche Sprichwort: Erst informieren, dann denken und dann zwischenrufen. Das macht allemal mehr Sinn! ({63}) Wir haben vorgeschlagen, die industrielle Substanz und die industrielle Struktur in den östlichen Ländern nicht völlig zusammenbrechen zu lassen, sondern das zu sanieren, was konkurrenzfähig gemacht werden kann, um es anschließend zu privatisieren. Wir sind, wie ich glaube, auf diesem Weg inzwischen eine Etappe weiter - was ich für einen Fortschritt halte -. ({64}) - „Wir" heißt doch wohl, daß das eine gemeinsame Angelegenheit des deutschen Volkes und des gesamten Parlaments und nicht nur der CDU/CSU-Fraktion ist. ({65}) Flächendeckende Beschäftigungsgesellschaften könnten ein richtiger Weg dafür sein. Wir müssen in die Infrastruktur investieren, von Verkehrswegen über Telekommunikation, von Altstadtsanierung bis Umweltschutz. ({66}) - Lassen Sie mich doch ausreden! Ich empfehle Ihnen dringend, sich als Vorbild das von Ihnen früher einmal verlachte, von der sozialliberalen Koalition gemachte Zukunftsinvestitionsprogramm anzusehen. Dann wissen Sie, wie man so etwas macht. ({67}) Wir brauchen eine nachhaltige weitere Verstärkung beim Aufbau des öffentlichen Dienstes. Ich glaube, daß wir unsere Kommunen insgesamt ermuntern könnten, in partnerschaftlicher Zusammenarbeit den Gemeinden im Osten Deutschlands noch ein Stück mehr Unterstützung zu geben. ({68}) Ministerpräsident Björn Engholm ({69}) Dabei muß dem Aufbau des demokratischen Rechtswesens ein besonderes Gewicht zukommen. Bei aller Bedeutung von Eigentumsfragen muß die neue Richterschaft wesentlich dazu beitragen, erlittenes Unrecht für die Opfer des alten stalinistischen Systems wiedergutzumachen. ({70}) Ich bin wie mein Freund Oskar Lafontaine, ({71}) auf dessen Buckel und gegen dessen Wahrhaftigkeit Sie eine Wahl gewonnen haben - da sollte schon ein Stück Dankbarkeit vorhanden sein! -, ({72}) und die Sozialdemokraten der Meinung, daß wir schonungslos die Wahrheit sagen müssen. ({73}) Die Wahrheit ist: Der Weg zum Ziel der inneren Einheit der Deutschen wird schwerer, er wird dornenvoller, und er wird länger, als es die größten Berufsoptimisten dieser Regierung dem deutschen Volk erzählt haben. ({74}) Man muß dem Internationalen Währungsfonds nicht auf Heller und Pfennig folgen. Wenn aber der IWF prognostiziert, daß wir für ein Jahrzehnt Investitionen in einer Größenordnung von 1,7 Billionen DM benötigen,davon mehr als ein Drittel im öffentlichen Bereich, dann zeigt das die Dimension, vor der wir stehen. Wer die Zahlen des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf im Kopf hat, der kommt im großen und ganzen zu ähnlichen Einschätzungen der Größenordnung. Das sind immense Herausforderungen. Ich bin trotz der Dimension und der Größenordnung dieser Aufgabe sicher, daß wir den Weg erfolgreich beenden werden. Wir werden ihn erfolgreich beenden, wenn besonders die Menschen in Ostdeutschland das sichere Gefühl haben, daß wir sie auch auf einer längeren Wegstrecke solidarisch begleiten und nicht im Stich lassen. ({75}) Wir werden den Weg erfolgreich beenden, weil wir wissen, daß es zur Bewältigung dieser Aufgabe keine Alternative gibt, weder eine soziale noch eine ökonomische Alternative. Versagen wir dabei sozial, verlieren wir unsere moralische Legitimation. Versagen wir beim Aufbau des Ostens ökonomisch, dann werden die Folgen dieses Versagens auch die Volkswirtschaft im westlichen Teil Deutschlands immens gefährden. Also müssen wir durch und den Weg erfolgreich beenden. ({76}) Um Herrn Austermann und Herrn Kubicki ein Stück entgegenzukommen: ({77}) Wir können es ja mit der norddeutschen Devise halten, die lautet: Es ist besser, heute unter Opfern Deiche zu bauen, als darauf zu hoffen, die Flut nehme Vernunft an. ({78}) Meine Damen und Herren, würde man dem Motto der gestrigen Tagung der IG Metall, „Dem Leben Zukunft geben", folgen, dann hieße das auch, den Neubeginn in Deutschland nach der Einigung der Deutschen für eine neue Periode der Reformen in Deutschland zu nutzen. Es ist meine Überzeugung und die meiner Fraktion und meiner Partei, Entschuldigung, Hans-Jochen: unserer Fraktion und meiner Partei: ({79}) Wer sich nicht weitgestreckte Ziele setzt, der tritt auf der Stelle. - Oder um es mit Gustav Heinemann zu sagen: Wer nicht verändert, der wird auch das verlieren, was er zu behalten wünscht. Das heißt, es spricht alles für Reformen. ({80}) Mir scheinen starke neue Impulse in der Wirtschaftspolitik nötig. Wer das Buch von Konrad Seitz, der eine wichtige Funktion innehat, über die japanische Herausforderung gelesen hat, der weiß, die Konkurrenz in der Welt schläft nicht. ({81}) Wir sind als nationale Volkswirtschaft möglicherweise zu klein, um dieser Herausforderung gewachsen zu sein. Wenn ich aber frage, wo die industriepolitische Antwort der Bundesregierung auf diese Herausforderung ist, dann suche ich, aber finde nichts. ({82}) Statt dessen stoße ich immer wieder auf diesen unsinnigen ideologischen Streit „Wirtschaft oder Staat" oder gar „Wirtschaft gegen Staat". Dabei wissen wir, daß in komplexen Wettbewerbsstrukturen der Welt nur der obsiegen und seinen Platz sichern kann, der ein vernünftiges Miteinander des Staates und einer hochinnovativen Wirtschaft organisiert. ({83}) Wo Konservative diesem falschen Antagonismus von Wirtschaft oder Staat hinterhergelaufen sind, etwa Frau Thatcher oder Herr Reagan, da hat es der gesamten Volkswirtschaft und auch den großen Unternehmen bitter weh getan. Diese Alternative ist die falsche, Ministerpräsident Björn Engholm ({84}) sie gehört in den Müllhaufen der Wirtschaftsgeschichte. ({85}) Wir brauchen weitreichende Perspektiven in der Umweltpolitik, worüber sich in diesem Hause alle grundsätzlich einig sind. Es spricht alles dafür, um ein Beispiel zu nennen, daß wir heute noch einmal in einer riesigen Kraftanstrengung so viel Geld, so viel Innovationsmut, so viel Phantasie in die Entwicklung neuer Energiepfade investieren, wie wir es weiland mit der Kernenergie getan haben. Es wäre auch technologisch ein riesiger Schritt in die Zukunft. ({86}) Es spricht alles dafür, eine grundlegende Reform der Verkehrspolitik in die Wege zu leiten, um die verstopften Straßen und die erstickenden Städte dadurch zu entlasten, daß der öffentliche Personennahverkehr eine neue Chance bekommt. ({87}) Ich glaube, daß es unserer neuen Republik auch gut anstünde - ({88}) - Doch, sind wir. ({89}) - Wir sind auf dem Wege zu einer neuen Republik, indem zwei Teile zusammengewachsen sind. Das bringt wirklich eine neue Qualität mit sich. ({90}) - Herr Kollege Bötsch, wenn ich sagen würde: „die alte Republik", dann würden 16, 17 Millionen Menschen sagen, irgend etwas möchte ich in das Neue auch einbringen. ({91}) Lassen wir es dabei, daß es ein rhetorischer und kein ideologischer Konflikt sei. Ich glaube, daß wir neue Anläufe für mehr Liberalität und Toleranz in Deutschland brauchen. ({92}) Warum eigentlich wagen wir nicht gemeinsam, in einer Streitfrage, die so quer durch alle Fronten unseres Volkes geht wie die Frage des Regierungssitzes, dem Volk die endgültige Entscheidung zu überlassen? ({93}) Warum eigentlich gibt es einen so tiefen und erbitterten Streit um die Frage, ob die Ausländer in Deutschland nicht wenigstens ein kommunales Wahlrecht bekommen? ({94}) Ein Land, das so hochgradig verwoben ist mit der ganzen Welt, das ein Drittel seines Volkseinkommens aus dem Handel mit der ganzen Welt bezieht, enthält denen, die aus der ganzen Welt bei uns leben, das Mitbestimmungsrecht bei Kommunalwahlen vor! Ein unverständlicher Zustand! ({95}) Schließlich und nicht endlich: Ich glaube, daß wir wirklich mutigere Schritte zur Gleichstellung der Frauen in unserem Land brauchen. ({96}) Die Gesellschaft und auch die Politik sind auf diesem Wege nach wie vor außergewöhnlich zögerlich. Wir brauchen die in der Geschichte verschütteten Werte der Frauen, wir brauchen die Talente der Frauen zum Aufbau neuer Strukturen in unserer Gesellschaft. Es ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der führenden Politik, dem Elend der Ungleichstellung endlich ein Ende zu bereiten. ({97}) Ich habe es hier noch miterlebt: Vor knapp neun Jahren trat die Bundesregierung unter dem Anspruch an, eine geistig-moralische Erneuerung in Deutschland herbeizuführen. ({98}) Wir haben damals alle gestaunt, und jene, die gerade nicht mehr an der Regierung waren, waren - das kann man ja sagen - tief beeindruckt und haben gedacht, nun komme ein Jahrzehnt tiefgreifender, vor allem auch moralischer Erneuerung. ({99}) Wenn man heute dezent fragt, was aus diesem großen Anspruch geworden ist, wo er auch in Ihren Bilanzen wieder einmal aufgetaucht ist, dann muß man lange suchen. Dieser Begriff scheint - selbst bei den deutschen Kabarettisten - in Vergessenheit geraten zu sein. ({100}) Sie müssen zugeben: Was man in den Zeitungen über die Koalitionsdiskussionen liest, spricht auch nicht unbedingt für die Erfüllung dieses Anspruchs. ({101}) Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ist es an der Zeit, daß es in unserem Land wieder mehr politische und auch geistige Führung gibt, eine Führung, die Ziele vorgibt, die Perspektiven aufzeigt, die Kräfte im Volke bündelt, die Menschen Mut macht, sie herausfordert und mitreißt. Wir haben wohl selten eine so große Chance gehabt wie bei dem Prozeß der Einigung der Deutschen, aus der Selbstzufriedenheit, der Ministerpräsident Björn Engholm ({102}) Gemächlichkeit und der gelegentlichen Lethargie herauszukommen und im letzten Jahrzehnt zu zeigen, wozu wir fähig sind. ({103}) Ich möchte, daß wir am Ende dieses Jahrzehnts sagen können, wir hätten Deutschland mit gemeinsamer Kraft aufgebaut, ein Deutschland, in dem fast alle Menschen eine sichere Zukunft haben und sich nicht vor der Zukunft fürchten müssen, ein Deutschland, in dem eine starke Ökonomie allen ausreichend Arbeit und Einkommen verschafft, ein Deutschland, von dem die Welt sagt, es sei ökologisch vorbildlich und setze seine ganze Kraft für den Erhalt seiner Umwelt ein, ein Deutschland, in dem Frauen nicht mehr - wie heute noch - benachteiligt werden, und ein Deutschland, in dem auch neue Möglichkeiten der Mitbestimmung des Volkes in Politik, in Wirtschaft und Gesellschaft erschlossen worden sind, ({104}) und vor allem ein Deutschland, das seine neue Größe und seine Kraft dazu nutzt, wirtschaftlich, sozial, ökologisch die schwächeren in Europa und in der Welt zu unterstützen, aber nicht für andere Dinge. ({105}) Meine Damen und Herren, hierin liegt eine riesige Herausforderung unserer Generation und derjenigen, die jetzt in politischer Verantwortung stehen. Hierin liegt eine unglaubliche Chance derer, die dieses Jahrzehnt politisch zu gestalten haben. Diese Chance nutzen heißt, unsere Zukunft sichern. Diese Chance verpassen heißt, die eigene Zukunft verpassen. ({106})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren! Darf ich, bevor ich das Wort an den Abgeordneten Volker Rühe weitergebe, Ihre Aufmerksamkeit auf einen österreichischen Gast lenken? - Auf der Ehrentribüne hat die Vizepräsidentin des Nationalrates der Republik Österreich Platz genommen, Frau Dr. Heide Schmidt, ({0}) die ich ganz herzlich begrüßen möchte. Nun hat der Abgeordnete Volker Rühe das Wort.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Björn Engholm, ({0}) - Entschuldigung, wir kennen uns schon länger, und zwar auch aus diesem Hause - , das war Ihre erste Rede im Bundestag nach Ihrer Wahl zum Vorsitzenden der SPD. Deswegen möchte ich trotz vieler Passagen in dieser Rede zunächst zu dieser Wahl zum Vorsitzenden gratulieren. ({1}) - Sehen Sie, jetzt habe auch ich es geschafft, am Anfang von allen Beifall zu bekommen. ({2}) Ich möchte aber auch unseren Respekt für die Arbeitsleistung ausdrücken, aber nicht nur dafür, sondern auch für die Leistung für die deutsche Demokratie, die Ihr Vorgänger Hans-Jochen Vogel in diesem Amt vollbracht hat. ({3}) Beim Thema Arbeitsleistung fällt mir natürlich etwas ein. ({4}) Björn Engholm, Sie haben mal gesagt, so hart wie Helmut Kohl und Jochen Vogel wollten Sie nun doch nicht arbeiten. Die müßten verrückt sein, so hart zu arbeiten. Dann muß ich Ihnen sagen: Mit dem Amt, was Sie jetzt übernommen haben, und dem, welches Sie möglicherweise anstreben, müssen Sie sich schon in die Nähe der Arbeitsbelastung von Hans-Jochen Vogel und Helmut Kohl bewegen. ({5}) - Daran kann doch gar nicht gezweifelt werden. Auch ich gehöre zu der Generation. Auch ich habe Schwierigkeiten, mich an der Arbeitsbelastung von Helmut Kohl und Hans-Jochen Vogel zu orientieren. Aber ich versuche es zumindest. Die Verantwortung, die Sie, Herr Engholm, übernommen haben, ist natürlich ungeheuer groß, und die Aufgaben in diesem Lande kann man nur mit einer Einstellung bewältigen, wie sie der Bundeskanzler und auch der Hans-Jochen Vogel in den letzten Jahren gehabt haben. ({6}) Herr Engholm, Sie haben dann Helmut Schmidt zitiert und gesagt, wir müßten alle Kosten aufbringen, wie groß sie immer sind, damit die Einheit ein Erfolg ist. Dem kann man nur zustimmen. Nur: Wie war denn Ihre Politik in den eineinhalb Jahren, als es darauf ankam? Das war doch eine Politik der Entsolidarisierung des deutschen Volkes, die die SPD betrieben hat. ({7}) Sie haben doch unseren Mitbürgern im Westen gesagt „Der Helmut Kohl gibt das ganze Geld im Osten aus", und im Osten haben Sie gesagt „Der Helmut Kohl gibt euch immer noch nicht genug". Das war doch die doppelzüngige Politik, die Sie betrieben haben, eine Politik der Entsolidarisierung. Damit muß endlich Schluß gemacht werden. ({8}) Ich habe ein besonders krasses Beispiel mitgebracht, für das Sie sich sicherlich schämen werden. ({9}) - Nein, es ist nicht die „Bild"-Zeitung. Es ist die „Zeitung am Sonntag", herausgegeben vom SPD-Parteivorstand, Ausgabe vom 18. November 1990. Da heißt es: „Schöne Bescherung. Leere Regale vor Weihnachten. Kunden empört. Lieferungen in den Osten verknappen Angebot. " ({10}) Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat sich damals hinter die Leute gestellt, denen es schon eine zu große Last für die Wiedervereinigung war, daß sie einmal ein paar Tage auf ihren Videorecorder warten mußten. Das ist doch eine Schande! ({11}) - Entschuldigung, das ist eine echte SPD hier, Frau Däubler-Gmelin, eine echte SPD-Zeitung. Sie sind mitverantwortlich. ({12}) Dann muß man sich anhören, was die saarländische Landesregierung noch heute sagt. Sie sagt: Liebe Investoren, in der ehemaligen DDR, in den neuen Bundesländern ist das zu unsicher. Kommt ins Saarland! ({13}) Ist das die Solidarität, die gelebte Solidarität? ({14}) Das heißt: Anspruch und Wirklichkeit gehen weit auseinander. ({15}) Deswegen finde ich, Herr Engholm, daß in diese Debatte auch ein Wort der Anerkennung für die Steuerzahler, auch im Westen, gehört, wenn in diesem Haushalt 90 Milliarden DM, also fast jede vierte Mark, einheitsgebunden ausgegeben wird. Das ist gelebte Solidarität der Regierungspolitik. ({16}) Herr Engholm, Sie haben dann, wie auf dem Parteitag, so auch hier wieder, versucht, einen Mythos der Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch zu nehmen und haben im Zusammenhang mit uns diesmal nicht gesagt „übers Ohr gehauen" , aber Sie haben gesagt „hinters Licht geführt", „Täuschung " und was Sie da noch alles an schlimmen Vokabeln verwandt haben. ({17}) Ich muß Ihnen sagen - ich fange einmal an mit der Rede des Bundeskanzlers am 19. Dezember 1989 in Dresden -, daß der Bundeskanzler von Anfang an - ich habe es in Leipzig auch miterlebt -, sich geradezu der Begeisterung entgegenstemmend, ({18}) auf die Schwierigkeiten des Weges hingewiesen hat. ({19}) - Entschuldigung! Der Bundeskanzler hat am 19. Dezember 1989 in Dresden gesagt: ({20}) „Lassen Sie mich angesichts dieser Begeisterung, die mich so erfreut, sagen, wie schwierig dieser Weg in die Zukunft sein wird. " Und er hat das immer wiederholt und auf die Opfer hingewiesen. Er hat dann allerdings hinzugefügt: ({21}) „Aber ich bin sicher, gemeinsam werden wir es schaffen. " ({22}) Sehen Sie, das ist das, was die Menschen bei Ihnen vermißt haben, nämlich daß Sie sagen: Ihr seid uns herzlich willkommen, und gemeinsam werden wir es schaffen. - Das hat man von Ihnen nicht gehört. ({23}) Herr Engholm, Sie haben soeben noch einmal den Versuch gemacht, das Ergebnis der Bundestagswahl mit dem Mythos der Wahrhaftigkeit zu erklären, den Sie hier für sich in Anspruch nehmen. ({24}) Deswegen will ich schon einmal einen Augenblick darüber sprechen, warum es denn zu diesem Wahlergebnis gekommen ist. Tatsache ist doch, daß sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bequem in der Zweistaatlichkeit eingerichtet hatte, ({25}) siehe SPD/SED-Papier. Noch an dem Tage, an dem die Mauer niederging, sprach Herr Momper vom Volk der DDR. Sie sprechen heute davon, wie wichtig es ist, das deutsche Volk zu einigen. Lafontaine machte Druck auf die Bundestagsfraktion, den Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion zu verhindern. Nein, wir sind gewählt worden, weil wir erstens konsequent und glaubwürdig für die deutsche Einheit eingetreten sind, Herr Engholm. ({26}) Zweitens. Die Menschen, insbesondere im östlichen Teil Deutschlands, wollten den Sozialismus in welcher Form auch immer als untaugliche Utopie abwählen. Deswegen haben sie die Partei gewählt, die die größte Distanz zum Sozialismus hatte. Das waren nicht Sie. Das waren wir, und das bleiben wir auch. ({27}) Sie haben damals von einem dritten Weg gesprochen. Es gibt bei Ihnen schon jetzt wieder Leute, die sagen, es sei auch eine Chance, daß der reale Sozialismus gescheitert sei; denn jetzt könne man wieder über die Utopie sprechen und sozusagen einen nächsten Anlauf machen. Nein, Sie sind nicht gewählt worden, weil Sie in der damaligen Auseinandersetzung die Distanz zum Sozialismus nicht glaubwürdig eingehalten haben. ({28}) - Ich kenne natürlich auch Hamburg. Aber jetzt reden wir doch über Ihre Behauptung, wir hätten uns den Wahlsieg erschlichen. ({29}) Deswegen sage ich Ihnen, warum wir diese historischen Bundestagswahlen gewonnen haben. Die Wähler haben sich drittens für die Union entschieden, weil sie ihr als Partei der Sozialen Marktwirtschaft am ehesten zutrauten, mit den ungeheuren Problemen der deutschen Einheit fertig zu werden. ({30}) Auch die Menschen in den neuen Bundesländern wußten doch, daß Sie 1982 abtreten mußten, weil Sie mit den wirtschaftlichen Problemen des westlichen Deutschlands nicht fertig wurden. ({31}) Warum sollte man ausgerechnet Ihrer Partei, die mit der Luxussituation hier im Westen, die man potentiell schaffen kann, nicht fertig wird, zutrauen - auch heute noch -, mit den Wirtschaftsproblemen und den sozialen Problemen Gesamtdeutschlands fertig zu werden? Das war doch der Punkt. ({32}) Auch die Regierungskoalition hat Fehler gemacht. Das haben wir deutlich gemacht. Die Kosten zur Beseitigung der Erblast des Sozialismus sind falsch eingeschätzt worden. Es wäre aus heutiger Sicht richtig gewesen, die Frage einer möglichen Steuererhöhung offenzulassen. ({33}) Aber jetzt lassen Sie uns einmal über die Fehler sprechen, die vermieden worden sind. ({34}) Wir haben einen entscheidenden Fehler nicht gemacht. Als sich die historische Chance zur Einheit bot, da haben wir entschieden gehandelt, während Sie auf Verzögerung und Langsamkeit setzten. Heute wissen wir: Wir hätten diese historische Chance verpaßt, wir hätten einen historischen Fehler gemacht, wenn wir Ihnen gefolgt wären. ({35}) Wir haben Fehler gemacht. Aber nur durch uns sind große, nicht wieder gutzumachende historische Fehler vermieden worden. Deswegen sage ich Ihnen: Meine Partei ist stolz darauf, in einer zentralen Frage der deutschen Politik nicht versagt, sondern die richtigen historischen, politischen Entscheidungen getroffen zu haben. ({36}) - Jetzt nimmt er schon die Glückwünsche von Herrn Gysi entgegen. Ich dachte, diese Zeiten wären vorbei. ({37})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Rühe, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, ja.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rühe, stimmen Sie mir darin zu, daß es guter parlamentarischer Brauch ist, daß man sich, wenn jemand, der Mitglied des deutschen Parlaments ist, einem seinen Glückwunsch ausspricht oder irgend etwas sagt, mit ihm unterhält und daß es ein schlechter parlamentarischer Stil ist, wenn man dies zur politischen Propaganda mißbraucht, wie Sie es soeben getan haben? ({0})

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist guter parlamentarischer Stil, wenn Herr Engholm, mit dem ich ja hier argumentiere, zuhört. Sich von Herrn Gysi gratulieren lassen kann er auch noch später. ({0}) Wir sind als CDU stolz darauf, das Ziel erreicht zu haben, mit dem wir 1982 angetreten sind: Frieden schaffen mit weniger Waffen. - Gegen den erbitterten Widerstand der SPD und ihrer Sympathisanten haben wir den NATO-Doppelbeschluß in der Bundesrepublik durchgesetzt und damit den Weg frei gemacht für ein Umdenken in der sowjetischen Führung und einen internationalen Abrüstungsprozeß ohne Beispiel. ({1}) Die reale Abrüstung, die heute auf Grund des Abbaus der politischen Spannungen in Europa möglich ist, geht weit über die kühnsten Träume hinaus, die manche Anfang der 80er Jahre gehabt haben. ({2}) Die Sozialdemokraten haben den Wunsch nach Wiedervereinigung lange Zeit als eine Belastung unseres Verhältnisses zu den europäischen Nachbarn angesehen. - Wir sind stolz darauf, das große Ziel der deutschen Einheit mit den Nachbarn erreicht zu haben. Deutsche Einheit und europäische Einheit - das gehört zusammen. ({3}) Wir sind schließlich auch stolz darauf, einen wesentlichen Beitrag dazu zu leisten, die Spaltung Europas zu überwinden und den jungen Demokratien im Osten die Heimkehr nach Europa zu erleichtern. Das sind natürlich nicht alles Erfolge allein unserer Politik. ({4}) Ohne den Prozeß tiefgreifender politischer Wandlungen in Europa hätten wir das so nicht erreichen können. Aber wahr ist auch: Ohne die klaren politischen Grundsätze, die von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl für die CDU immer verbindlich waren, wäre all dies nicht erreicht worden. Deswegen sind wir stolz auf dieses Ergebnis unserer Politik. ({5}) Herr Engholm, Sie haben in vielen Punkten sehr vage gesprochen. Deswegen möchte ich jetzt eine Reihe von sehr konkreten Fragen an Sie richten. Sie haben sich z. B. dem ganzen Feld der Außen- und Sicherheitspolitik überhaupt nicht gewidmet. Ich weiß nicht, wie man eine so große Volkspartei anführen will, wie man den Anspruch auf Regierungsverantwortung stellen kann, ohne daß man im Deutschen Bundestag klipp und klar über die Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik Auskunft gibt. ({6}) Sie sind ja schon in der Golfkrise und im Golfkrieg durch große Schweigsamkeit aufgefallen. ({7}) Herr Gansel hat auf dem Parteitag gesagt: Wenn man einem blutigen Diktator militärisch in den Arm zu fallen versucht, und andere stehen dann beiseite - ist das moralisch, oder ist das moralisierend? - Er hat für sich die Antwort gegeben: Das ist moralisierend. ({8}) Richard Schröder, der frühere Vorsitzende der SPDFraktion in der Volkskammer, hat in einem Artikel ({9}) - lassen Sie es mich einmal im Zusammenhang darstellen ({10}) in der „Zeit" - ({11}) - Wir haben Herrn Engholm auch nicht durch Fragen unterbrochen. ({12}) - Sie können ja fragen, wenn ich es im Zusammenhang vorgetragen habe.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gansel, wenn Sie einen Augenblick warten! Sie erhalten gleich das Wort als Fragesteller.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Richard Schröder, der Vorsitzende der SPD in der Volkskammer, hat in einem Artikel in der „Zeit" unter der Überschrift „Ohne Unrecht in Frieden leben" folgendes gesagt: Das mindeste, was eine Rechtsgemeinschaft garantieren muß, ist das Existenzrecht ihrer Mitglieder, und zwar nicht nur der edlen und mächtigen. Saddam Hussein hat ein Mitglied der Staatengemeinschaft liquidiert, was auf individualrechtlicher Ebene dem Mord entspricht. Wenn dies ungestraft möglich ist, dann allerdings haben wir Grund zur Resignation. Kuwait hat innenpolitische Reformen nötig. Aber das ist eine andere Frage. Auch im Völkerrecht muß Euthanasie verboten sein. Mich würde interessieren, ob Sie hinter dieser Aussage von Richard Schröder stehen. Ich kann nur voll unterstreichen, was dieser Sozialdemokrat gesagt hat. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Rühe, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gansel!

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rühe, würden Sie bitte erstens zur Kenntnis nehmen, ({0}) daß ich das von Ihnen zitierte Wort über den Unterschied zwischen moralischer und moralisierender Politik auf dem Bremer SPD-Parteitag im Zusammenhang mit der Diskussion über Blauhelme, also über friedenserhaltende Missionen der UNO, gesagt habe? Zweitens. Wenn es Ihnen darum geht, einem Diktator in den Arm zu fallen, warum haben dann die Regierungsparteien nicht während des Golfkriegs im Bundestag eine Verfassungsänderung beantragt, um unter der Führung der Amerikaner auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen mit deutschen Soldaten und deutschen Wehrpflichtigen am Golfkrieg beteiligt zu sein? Warum stellen Sie diese Frage erst jetzt?

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ja wohl unglaublich, angesichts Ihres Verhaltens in der Golfkrise, wo Sie es uns unmöglich machen wollten, ein Mindestmaß an Solidarität mit den Verbündeten zu wahren, und wo Sie gegen jede Zahlungen an die Verbündeten waren, jetzt eine solche Frage aufzuwerfen. Es war doch beschämend, wie Sie sich damals verhalten haben. ({0}) Im übrigen hat sich die Blauhelmdiskussion doch aus der Situation des Golfkrieges ergeben. Herr Gansel, wir waren doch zusammen in Israel. Deswegen ist es so beschämend, daß dazu kein Wort von Björn Engholm gekommen ist. Es kommt doch darauf an, konkrete Friedenspolitik zu machen. Das heißt: Wie bekommt der Israeli in den Wohnungen und Straßen von Tel Aviv seinen Frieden vor den Scud-Raketen? Den bekommt man doch nicht durch Moralisieren und durch Schweigen; das wissen Sie doch ganz genau. Es geht doch um konkrete Friedenspolitik. ({1}) Lafontaine hat im vergangenen Jahr, unwidersprochen von der Parteiführung, gefordert, daß die Bundeswehr auf 200 000 bis 230 000 Mann verkleinert wird. Sie haben auf Ihrem SPD-Parteitag jetzt sogar beschlossen, langfristig alle Streitkräfte überflüssig zu machen. Herr Engholm, ich frage Sie: Stehen Sie zu einer Bundeswehr in einer Größenordnung von 370 000 Mann? Stehen Sie zu dem Auftrag der Bundeswehr, zu unseren Streitkräften? Auch dazu hätte ich mir ein Wort gewünscht. ({2}) Wie sehen Sie die Rolle der NATO? ({3}) In dem Beschluß, den Sie auf Ihrem Parteitag gefaßt haben, kommt die NATO nur im negativen Sinne vor. Es wird der Abzug aller Amerikaner gefordert, und es wird davor gewarnt, daß aus der NATO ein Bündnis Nord gegen Süd wird. Für uns bleibt die NATO die Grundlage unserer Sicherheit. Dort schaffen Amerikaner und Europäer die gemeinsame Sicherheit, die wir auch in Zukunft brauchen. Es gibt kein Wort von Ihnen, wie Sie zu dieser Nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft stehen. ({4}) Wir wollen den raschen Aufbau in den neuen Bundesländern. Sie haben es selbst angesprochen, daß wir wenig Zeit haben. Der Verkehrsminister hat unkonventionelle Wege vorgeschlagen, ({5}) damit schneller gebaut werden kann. Sie wissen, was das auch für Schleswig-Holstein bedeutet. Ich frage Sie ganz konkret, Herr Engholm: Wie stehen Sie zu einem Beschleunigungsgesetz? Wie stehen Sie dazu, daß wir bürokratische Hürden abschaffen müssen, um schnell Fortschritte für unsere Mitbürger zu erreichen? ({6}) Besonders überrascht hat mich die Bemerkung über das Buch von Konrad Seitz. Da ich das Buch selber gelesen habe und auch viel mit dem Verfasser gesprochen habe, freue ich mich zunächst einmal, daß Sie es ansprechen. Daß aber ausgerechnet Sie uns Japan als Vorbild hier vorhalten, wo Sie ansonsten für die 35Stunden-Woche und ähnliches eintreten, dazu kann ich nur sagen: Sie haben ein weites Feld der Arbeit in Ihrer Partei, um dort die Japaner als unser Vorbild durchzusetzen. ({7}) Ich frage Sie: Wie stehen Sie zu dem Industriestandort Bundesrepublik in Europa? Wir wollen, daß durch die staatlichen Rahmenbedingungen deutsche Unternehmen nicht schlechtergestellt sind als ihre Konkurrenten in den europäischen Nachbarstaaten. Deswegen, Herr Engholm, frage ich Sie ganz konkret: Wie stehen Sie zu Plänen, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und damit auch die Arbeitsplätze in Deutschland durch eine Reform der Unternehmensbesteuerung zu sichern? Auch dazu muß ein Wort kommen, wenn Ihnen die Wettbewerbsfähigkeit am Herzen liegt. ({8}) Sie haben dann über das Asylproblem gesprochen. Es gibt eine größere und wachsende Zahl von sozialdemokratischen Bürgermeistern, die begreifen, daß es mit dem Mißbrauch des Asylrechts so nicht weitergehen kann. Aber auch dazu gibt es von Ihnen keine konkreten Angebote, sondern nur eine leere Formel: Wir brauchten ein modernes Einwanderungsrecht. Nun frage ich Sie, Herr Engholm: Was meinen Sie damit? Meinen Sie, daß wir Quoten einführen sollen und Ausländer nur quotiert in unser Land kommen sollen, oder sind Sie mit uns der Meinung, daß wir eine Grundgesetzänderung brauchen, um den Asylmißbrauch abzuwenden und gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn Standards zu schaffen? ({9}) Mit einer solchen Formel „modernes Einwanderungsrecht" - alles, was modern ist, ist ja gut - werden Sie nicht durchkommen. Sie müssen hier Farbe bekennen, was Sie wirklich wollen. Ich finde, wir hätten auch ein Wort von Ihnen zur Verfassungsdiskussion gebraucht, denn hier gibt es sehr weitreichende Vorstellungen in Ihrer Partei. Sie haben sich zur Volksabstimmung in der Frage des Regierungssitzes bekannt. Ich muß Ihnen sagen: Das ist eine Politik, die unser Land zutiefst spalten würde. Deswegen unterstütze ich alle diejenigen, die sich um einen Konsens bemühen, damit es am 20. Juni hier in diesem Raum eine befriedende Lösung gibt. ({10}) Wir müssen die Verfassung europatauglich machen. ({11}) - Wer uns mit der Schweiz vergleichen will - von der Größenordnung her - und wer im übrigen die ProVolker Rühe blerne dort nicht sieht, der hat nicht begriffen, was wir uns aufladen würden, wenn wir plebiszitäre Elemente in unsere Verfassung einführten. ({12}) Wir haben eine gute Verfassung, eine Verfassung, die nach innen und außen Stabilität und Vertrauen signalisiert. Deswegen auch die Frage an Sie: Wollen Sie eine ganz andere Verfassung? Wollen Sie dort z. B. Rechte hineinschreiben wie das Verfassungsrecht auf Arbeit und andere, die nur ein Staat garantieren könnte, der auch wirklich über die Produktionsmittel verfügt? ({13}) Wer heute eine ganz neue Verfassung fordert, ({14}) der muß sich fragen lassen, ob er nicht in Wirklichkeit auch eine ganz neue Gesellschaftsordnung, einen ganz neuen Staat fordert. Das kann nicht unser Ziel sein. ({15}) Die Wirtschafts- und Währungsunion ist vor weniger als einem Jahr in Kraft getreten. Die deutsche Einheit wurde vor acht Monaten vollzogen. Ich finde, es ist wichtig, in dieser Situation den Menschen in den neuen Ländern auch Mut und Zuversicht zu vermitteln, gegen Resignation und Zukunftsangst anzugehen. Deshalb möchte ich ausdrücklich den sächsischen Bischöfen danken, die in der Woche vor Pfingsten gemeinsam festgestellt haben: Die bereits gewonnene Freiheit, die wachsende Einheit und die demokratische Grundordnung sind bei weitem wertvoller als der noch nicht erreichte wirtschaftliche Aufschwung. Ich finde, das sollte ein Satz sein, der von allen Parteien in diesem Parlament mitgetragen wird. ({16}) Die Wiederherstellung der Einheit hat allen Deutschen Vorteile gebracht. Unfreiheit, Unrecht und Teilung wurden überwunden. Aber wir sollten - und wir sind dazu bereit - in der Diskussion, die wir führen, nicht den Fehler machen, je nach parteipolitischem Standpunkt die Realität entweder in Rosarot oder in Tiefschwarz zu beschreiben, wobei sich das ohnehin überkreuzt: die Roten schwarzmalen und die Schwarzen rosarot. Das ist nicht überzeugend. Probleme dürfen nicht verniedlicht werden, aber Erfolge auch nicht unterschlagen werden. Wer von Kosten und Lasten redet, der sollte gerechterweise auch von den Chancen und den Erträgen sprechen. Die Fakten, die es schon heute auf der Habenseite einer Zwischenbilanz gibt, dürfen nicht unterschlagen werden. Später wird auf die sehr gute wirtschaftliche Situation im Westen hingewiesen werden, auf den höchsten Beschäftigungsstand seit Kriegsende. Das ändert nichts daran, daß es eine tiefe Anpassungskrise in den neuen Bundesländern gibt, die sehr problemgeladen ist. Ich finde, wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, ob wirklich der Vergleich zwischen Dresden und Köln, Rostock und München überhaupt legitim ist. Wer heute solche Vergleiche anstellt, verbindet doch damit die Erwartung, daß bereits im Jahr 1 des wiedervereinigten Deutschland die Spuren von 40 Jahren gescheitertem Sozialismus beseitigt sind. Eine solche Betrachtungsweise ist doch unrealistisch und für die politische Diskussion nicht brauchbar. Der richtige Vergleichsmaßstab für die Lage in den neuen Ländern findet sich in der Gegenüberstellung mit den anderen ehemals sozialistischen Staaten. Und dann müssen Sie feststellen: Es gibt einen gewaltigen Fortschritt in Deutschland. ({17}) Umfragen zeigen, daß die Hoffnung zunimmt. Der wirtschaftliche Strukturwandel ist in Gang gekommen. Über 1 600 Betriebe wurden bereits privatisiert. Seit Anfang 1990 sind rund 350 000 Betriebe, vor allem im Dienstleistungsbereich und im Handwerk, neu entstanden, ferner 2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse im Zeitraum November 1989 bis zum heutigen Tage. Allein in diesem Jahr 50 Milliarden DM öffentliche Investitionen zur Modernisierung der Infrastruktur. Ich meine, alle diese Zahlen stehen eben auch für eine Wende zum Besseren. Erstmals nehmen auch die Rentner an einem System des dynamischen Fortschritts teil. Norbert Blüm hat es hier vorgestern angesprochen: Innerhalb von 12 Monaten sind die Renten im Schnitt um 66 % gestiegen. Deswegen möchte ich angesichts der Angriffe, die auch vorgestern wieder gegen Norbert Blüm gefahren worden sind, sagen: Wir sind dem Arbeitsminister, der sich von der ersten Minute an mit heißem Herzen für die Wiedervereinigung und auch für die soziale Einheit in Deutschland eingesetzt hat, ({18}) für die großen Erfolge dankbar, die er hier bereits durchgesetzt hat, z. B. für die Rentner. ({19}) Die Sozialdemokraten - ob es ihnen gefällt oder nicht ({20}) müssen sich entscheiden: Wollen Sie an dem schwierigen Aufbau in den neuen Bundesländern konstruktiv mitarbeiten, oder wollen Sie auf den Marktplätzen die Krise schüren? Sie müssen sich entscheiden: Wollen Sie Mut machen, oder wollen Sie miesmachen? Und Sie müssen sich auch entscheiden, ob Ihre Sympathie dem Eierwerfer von Halle oder den Menschen gehört, die anpacken und versuchen, die Wende zum Besseren in Deutschland wirklich herbeizuführen. ({21}) Es gibt in Ihren Reihen ganz interessante Vorgänge: Der Ministerpräsident von Brandenburg, Herr Stolpe, hat sich auch in dieser Woche wieder lobend dahin geäußert, wie vernünftig die Politik für die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands sei, welche Fortschritte es gegeben habe und daß es nicht um zusätzliche Vorschläge gehe, sondern jetzt darauf ankomme, die schon gemachten Vorschläge auch umzusetzen. Auf Ihrem Parteitag hat er ganz anders geredet. Das will ich ihm einmal einen Moment lang nicht vorwerfen. Viel interessanter ist, was man sagen muß, um auf einem SPD-Parteitag gewählt zu werden. Das ist doch das eigentlich Interessante daran. ({22}) Es ist schon bestürzend, daß ein Mann, der zwölf Monate - darauf beruht ja auch seine Popularität; ich schätze ihn sehr, ich kenne ihn lange - die Wahrheit gesagt hat, Herr Engholm, nämlich daß es Fortschritte gibt, daß die Politik der Bundesregierung völlig richtig ist - er hat mir wörtlich gesagt, als ich ihn besucht habe: Die Lage ist weit besser als die Stimmung -, das Kreuz hat, zu Ihrem Parteitag gehen zu müssen und sich dort wählen zu lassen. Und dort sagt er genau das Gegenteil dessen, was er sonst gesagt hat. Das sagt nichts gegen Stolpe, aber das sagt alles gegen die Art der Diskussion in Ihrer Partei. Denn Stolpe ist schnell wieder zu seinen alten Aussagen zurückgekehrt. ({23}) Ich denke aber, über einen Punkt sollte es zwischen Demokraten keinen Dissens geben: Der Weg in Deutschlands gemeinsame Zukunft kann mit den Repräsentanten des alten SED-Regimes nicht gelingen. ({24}) Dem demokratischen Neubeginn muß auch eine personelle Erneuerung entsprechen, ({25}) damit sich die Opfer von einst nicht ein zweites Mal betrogen fühlen müssen. Wer sich im SED-Staat in führender Position schuldig gemacht hat, muß nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zur Verantwortung gezogen werden. ({26}) Wir wollen keinen kurzen Prozeß; aber gutes Recht muß auch schnelles Recht sein. Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß der Staat vor denen kapituliert, die in der Vergangenheit vom Unrecht profitiert haben. ({27}) Es ist wahr: Die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands, also die Angleichung der Lebensverhältnisse, ist die entscheidende Aufgabe, an der wir alle gemessen werden. Sie ist nicht kurzfristig und auch nicht reibungslos zu bewältigen. Es gibt an den Universitäten der neuen Länder - übrigens nicht nur dort - sicherlich mehr als 10 000 Werke, in denen die Umwandlung einer „kapitalistischen" Wirtschaft in eine sozialistische beschrieben wird. Aber weltweit existiert - das ist meine Behauptung - nicht ein einziges wissenschaftliches Werk, das den umgekehrten Weg beschreiben würde. ({28}) Wir alle betreten hier Neuland. Es wäre doch absurd, daraus einen politischen Vorwurf zu konstruieren oder gar die Behauptung aufzustellen, man verfüge über andere und neue Rezepte, die schneller und besser zum Ziel führen würden, als wir uns das vorgenommen haben. ({29}) Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern wird oft mit dem Aufbau in den 50er Jahren in der alten Bundesrepublik verglichen. Richtig an diesem Vergleich ist, daß der Aufschwung auch damals nicht über Nacht gekommen ist. Es bedurfte damals mehrerer Jahre harter Arbeit, bis ein erster bescheidener Wohlstand erreicht worden war. Aber wie ungleich sind doch die Rahmenbedingungen, unter denen sich der wirtschaftliche Umstrukturierungsprozeß heute vollzieht. Während der Marshallplan - es ist eine ganz wichtige Zahl, die ich jetzt nenne, und die Älteren werden sich genau daran erinnern, und die Jüngeren müssen das wissen - für jeden Einwohner im Westen Deutschlands seinerzeit 800 DM vorsah, sind es heute 6 100 DM pro Bürger in den neuen Bundesländern, die im Rahmen des Gemeinschaftswerkes Aufschwung Ost zur Verfügung gestellt werden. Ich finde, das ist ein historisch bedeutender Einsatz, der sich auch in dieser historischen Perspektive sehen lassen kann. ({30}) Ich weiß natürlich, daß heute psychologisch eine schwierigere Situation gegeben ist; denn damals haben alle bei Null angefangen. Es ging sozusagen allen in einem Land gleich schlecht. Es ist ein psychologisches Problem, das wir heute haben. Trotzdem sollten wir, was diesen materiellen Einsatz der Solidarität angeht, auf diesen historischen Vergleich hinweisen. Ich kann keine neuen Vorschläge der Sozialdemokraten entdecken. Herr Stolpe, vorhin zitiert, hat gesagt: Jetzt sind wir dran, die politisch Verantwortlichen in den neuen Bundesländern. Was nützt es uns, wenn wir noch mit weiteren Investitionsmitteln zuge- schüttet werden, wenn wir sie nicht umsetzen können? - Das ist eine richtige Aussage. Herr Engholm, in Ihrer Rede hat die Solidarität als Begriff eine große Rolle gespielt. In der Tat ist es die Pflicht zur Solidarität, die uns diese große finanzielle Kraftanstrengung machen läßt: 90 Milliarden DM allein in diesem Haushalt für die neuen Bundesländer. Aber wir müssen uns doch einmal mit der Frage beschäftigen, warum wir materiell zu dieser ungeheuren Solidarität überhaupt in der Lage sind. Die Antwort ist: nur weil wir eine richtige Wirtschafts- und FinanzVolker Rühe politik durchgeführt haben und damit überhaupt erst die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß wir teilen können. ({31}) Es ist richtig, daß wir teilen müssen; doch wir können heute nur teilen, weil wir ein Finanzvolumen erwirtschaftet haben durch die erfolgreiche Wirtschaftspolitik hier im Westen in den vergangenen Jahren, das uns materiell zur Solidarität fähig gemacht hat. Was ich Ihnen sagen möchte, ist: Solidarität wäre ein bloßes Wort, wenn Ihre Wirtschaftspolitik fortgesetzt worden wäre. Deswegen verwahre ich mich gegen das Wort von der Holzklasse, die wir auf Dauer in Deutschland einrichten wollten. Es kommt nicht darauf an, von Solidarität zu sprechen, sondern darauf, eine erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik zu machen, damit wir in der Lage sind, zu teilen, damit wir in der Lage sind, die Holzklasse zu beseitigen. Das ist die richtige Politik. ({32}) Was wollen Sie denn verteilen? Es wird zu Recht davon gesprochen, daß man von West nach Ost umverteilen muß. Das ist ja auch Ihr großes Thema. Nur, wenn es nichts gibt, wenn Sie keine Erfolge in der Wirtschaftspolitik haben wie 1982, könnten Sie gar nicht teilen. Das wollen wir unseren Mitbürgern sagen. Die Voraussetzung für das Teilen ist, daß man in der Wirtschaftspolitik Erfolg hat. Deswegen gehören wirtschaftliche und soziale Kompetenz einer Regierung in einen unlösbaren Zusammenhang. Nur in einer leistungsfähigen Wirtschaft kann soziale Gerechtigkeit garantiert werden. Diesen doppelten Kompetenznachweis sind die Sozialdemokraten schuldig geblieben. Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zu diesem Thema machen. „Im Westen nichts Neues", ({33}) das ist ein berühmter Romantitel. Als Überschrift über das Buch unserer gemeinsamen Zukunft eignet sich dieser Satz aber nicht. Ich meine das sehr ernst. Das ist ein Appell an alle, die aus dem Westen kommen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, das Bewußtsein dafür zu schaffen, daß das Gemeinsame in Deutschland eben auch etwas Neues ist, daß dieses Neue auch neues Denken und Umlernen erforderlich macht. Angesichts der Dimension der Aufgaben, die zu bewältigen sind, muß grundsätzlich geprüft werden, zu welchen Konsequenzen die gegenwärtigen Mehrbelastungen der öffentlichen Haushalte führen müssen. Eine höhere Verschuldung sowie eine weitere Belastung des Steuerzahlers können nicht in Betracht kommen, solange nicht alle Möglichkeiten von Einsparungen und Umschichtungen auch ausgeschöpft sind. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen, daß wir doch noch keine gemeinsame politische Tagesordnung in Deutschland haben. Im geeinten Deutschland müssen die Maßstäbe für staatliche Ausgaben neu gesetzt werden. ({34}) - Wenn es dann konkret wird, sehen wir mal weiter. Ansprüche an Leistungen des Staates, die in der alten Bundesrepublik gut begründet und geboten waren, müssen unter den neuen Bedingungen der Einheit überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden, wenn neue Prioritäten notwendig sind. Das gilt für die Besitzstände aller sozialen Gruppen, Herr Engholm, auch im Bereich von Steuervergünstigungen und Subventionen. Ich halte es für nicht vertretbar, im geeinten Deutschland auf Dauer Einzelgruppen in den alten Ländern mit Beiträgen und Subventionen zu privilegieren, die weit größer sind als die Mittel des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. Ich glaube, daß alle gefordert sind zu zeigen, ob sie wirklich bereit sind, die alten Ausgabenstrukturen zu überprüfen, oder ob sie eine Politik der verbalen Solidarität mit den neuen Bundesländern betreiben und im übrigen sagen: Aber bitte im Ruhrgebiet und anderswo im Westen nichts Neues. Mit dieser Formel „Im Westen nichts Neues" werden wir es nicht schaffen. Sie werden daran gemessen werden, inwieweit Sie bereit sind, mit uns zusammen diesen Weg zu gehen. ({35}) Die Sozialdemokraten haben auf ihrem Bundesparteitag gesagt, die Zeit sei reif für eine gemeinsame Rolle Europas auf der Bühne der Welt; jetzt müsse Deutschland uneingeschränkt ja sagen zu Europa. Ich muß Ihnen sagen: Wer so redet, dann aber den europäischen Nachbarn die Solidarität verweigert und sagt „Wenn es einmal um die Existenzfrage der Europäer geht, dann macht ihr das bitte allein" , ist europaunfähig. Das sind Sie in Wirklichkeit mit Ihren Beschlüssen zur Außen- und Sicherheitspolitik. ({36}) Mich hat besonders eine Aussage von Herrn Lafontaine auf Ihrem Bundesparteitag im Zusammenhang mit der Diskussion über die neue weltpolitische Verantwortung des wiedervereinigten Deutschlands bestürzt. Lafontaine - das ist noch viel zuwenig beachtet worden - hat folgendes gesagt: Andere hätten Angst, zu Opfern zu werden; die Deutschen müßten Angst haben, wieder zum Täter zu werden. Ich muß Ihnen als Vertreter einer mittleren Generation, der sein gesamtes bisheriges politisches Leben und seinen Einsatz der Stabilität dieser deutschen Demokratie gewidmet hat, sagen: Es ist unglaublich, welches Mißtrauen gegenüber der neuen deutschen Demokratie, gegenüber uns Deutschen aus diesem Satz spricht. ({37}) Es ist unglaublich, daß Franzosen und Engländer mehr Vertrauen zu dieser neuen deutschen Demokratie haben als Herr Lafontaine und die Sozialdemokratie, wenn sie hinnimmt, daß ein solcher Satz gesagt wird. ({38}) Ich empfinde das auch als einen persönlichen Angriff auf alle, die wirklich diese großartige Chance der neuen deutschen Demokratie genutzt haben. Diejenigen, die noch als Soldaten, als ganz junge Flakhelfer in den Krieg mußten - meine Lehrer, die ich in den 50er Jahren hatte, waren in einer solchen Situation -, haben uns alle dazu gebracht, politische Verantwortung zu übernehmen. Diesem Deutschland kann man trauen. Man darf ihm nicht auf Dauer mißtrauen. Wir haben ein Recht auf Vertrauen, auch ein Recht auf Normalität. Das müssen die Sozialdemokraten begreifen. ({39}) Im übrigen gilt - Herr Lamers hat es vor kurzem gesagt - : Die Berufung auf die Schuld in der Vergangenheit dispensiert nicht von der Verantwortung in der Gegenwart. Die Sehnsucht nach schuldfreiem Handeln darf nicht zur Flucht in die Scheinidylle führen. Schuldig werden kann auch, wer sich verweigert. ({40}) Haben Sie noch die Bilder von den Leichen vor Augen, die man in Kuwait in den Kühlschränken gefunden hat? Wissen Sie noch, was mit denen geschehen war? Sind nicht auch diejenigen, die zugewartet und gesagt haben „Wir machen da nichts!" Täter, die eine Mitschuld gegenüber diesen Opfern haben? Man kann auch durch Nichthandeln schuldig werden. Das ist doch wohl eindeutig. ({41}) Wer hat denn das Morden in den deutschen Konzentrationslagern gestoppt? Doch wohl nicht Demonstranten mit einer zutiefst moralischen Position in London und New York, sondern Soldaten der Alliierten haben das Morden in den Konzentrationslagern in Deutschland gestoppt und den Aufbau einer neuen Demokratie in Deutschland ermöglicht. Sie aber wollen sich in einer Situation, in der es darum geht, internationales Recht wiederherzustellen, grundsätzlich verweigern? Das ist doch nicht nachvollziehbar. ({42}) Im Augenblick haben Sie zwar Erfolge in den Ländern, aber ich glaube, daß das, was in Bremen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, zur Außen- und Sicherheitspolitik gesagt oder nicht gesagt worden ist, zeigt, daß Sie noch einen sehr, sehr langen Weg zur Regierungsfähigkeit auf Bundesebene vor sich haben. Das ist auch gut so. Vielen Dank. ({43})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Engholm, die erste Rede, die Sie hier in Ihrer neuen Eigenschaft als Vorsitzender der Sozialdemokrati schen Partei gehalten haben - ich hatte gestern zum zweitenmal Gelegenheit, Ihnen dazu meinen persönlichen Glückwunsch auszusprechen - , hat sich vom Stil her angenehm abgehoben von dem, was wir hier in der letzten Zeit von anderen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten gehört haben. Am Schluß Ihrer Rede haben Sie die Ziele für ein Deutschland in etwa zehn Jahren formuliert. Herr Engholm, wer wollte Ihnen da nicht zustimmen? In diesem Punkt ist nicht viel zu bestreiten. War es aber nicht ein wenig so wie schon in Bremen? Wir haben uns sehr bemüht, auf das Konkrete, auf die Umsetzung, auf die Markierung der Schritte auf dem Wege zur Erreichung dieses Ziels zu hören. So sehr viel haben Sie dazu aber auch heute wieder nicht gesagt. Eine Volksabstimmung wird dazu nur wenig beitragen. Im Gegenteil! Glauben Sie, daß eine Volksabstimmung, die frühestens im nächsten Jahr stattfinden kann, zusammen mit einer Auseinandersetzung, die dem vorhergehen und an einen bitteren Wahlkampf erinnern wird, zu mehr Toleranz und mehr - ({0}) - Weil es so sein wird! Wir erleben die Diskussionen doch heute schon. Machen wir die Augen vor dem zu, was dann passieren wird? Wir erleben es doch jeden Tag. Wie können Sie dann noch fragen, warum? Sind Sie nur selten in Bonn oder selten im Parlament und nehmen an der Diskussion nicht teil? Ich glaube, das kann für uns nicht sehr hilfreich sein. Sie sind einigermaßen konkret geworden, als es um die Länderfinanzen ging. Das ist Ihr gutes Recht als Ministerpräsident. Ich werde darauf noch zurückkommen. Ich frage Sie aber, ob es auch Ihr gutes Recht im Hinblick auf den Einigungsprozeß in Deutschland ist. Sie haben interessanterweise das Buch von Konrad Seitz zitiert und auf das japanische Beispiel hingewiesen. Meiner Ansicht nach kommen Sie damit aber elf Jahre zu spät, wie Sie wissen. Das habe ich nämlich schon im Jahre 1980 unter lebhaftem Protest Ihrer Parteifreunde getan. ({1}) - Das lehne ich auch heute noch ab, damit wir ganz klar sind. ({2}) - Ich habe ja nicht gesagt, daß ich die Vorschläge von Herrn Seitz übernehme und unterstütze. ({3}) Ich habe gesagt, daß ich auf das japanische Beispiel und die dort erwirtschafteten Ergebnisse schon vor elf Jahren hingewiesen habe, und zwar unter lebhaftem Streit, damals wohl auch schon mit Ihnen, Herr Roth, Herr Berater Roth. ({4}) Meine Damen und Herren, das, was Herr Engholm heute gesagt hat, hat mich auch ein wenig an den SilDr. Otto Graf Lambsdorff vesterabend des Jahres 1990 erinnert. Da war die Welt nicht nur bei uns voller Hoffnung. Hatten die Ereignisse des Jahres 1990 nicht den gerechtfertigten Ausblick auf eine Ära des Friedens, der Menschenrechte, der freiheitlichen, der demokratischen Entwicklung weltweit eröffnet? Und dann kam es doch so ganz anders: der Golfkrieg, das Elend der Kurden, brennende Ölquellen, der Ausbruch nationalistischer Strömungen in Ost- und Südosteuropa, Schüsse in Wilna und Riga - gestern und vorgestern war es wieder sehr unerfreulich dort - , weltweite Rezession. Alles das hat uns auf den harten Boden der Erkenntnis zurückgebracht, daß diese Welt wohl doch nicht die beste aller Welten ist. Aber sie ist unsere, und wir müssen mir ihren Problemen fertig werden. Auch die Deutschen hat der Alltag wieder eingeholt. Aber ist es wirklich der Alltag? Alltäglich ist die Aufgabe, unser Land in allen Bereichen wieder zu einen, wahrhaftig nicht. Eigentlich ist es das Gegenteil von Alltag. Es gibt - Herr Rühe hat recht - kein Beispiel in der Geschichte für diesen Prozeß. Es gibt kein volkswirtschaftliches Lehrbuch, kein Rezept, wie man eine Planwirtschaft über Nacht in eine marktwirtschaftliche Ordnung integriert. Es ist, wie der Bundeswirtschaftsminister kürzlich zu Recht gesagt hat, auch ein Prozeß des „learning by doing". Es ist zu Fehleinschätzungen gekommen, und es werden nicht die letzten gewesen sein. ({5}) Einige wären vermeidbar gewesen, alle sicher nicht. Ich sage, es ist wichtig, meine Damen und Herren, daß wir uns die Fähigkeit und Breitschaft bewahren, Irrtümer, wenn wir sie erkennen, einzugestehen; denn nur dann kann man sie korrigieren. ({6}) Hüten wir uns davor, uns ideologisch einzugraben! Unbeweglichkeit ist gefährlich. Ihre Folgen baden die Menschen aus, in unserer Situation vor allem die Menschen in den fünf neuen Bundesländern. Das Stichwort Ideologie ist ja gestern und heute mehrfach aufgekommen. Ideologie ist kein guter Ratgeber. Sich über das Maß an Ideologie hin und her zu streiten lohnt nicht. Aber, meine Damen und Herren, wenn Ideologie für fundamentale Grundüberzeugung und auch für eine politische Grundhaltung steht und spricht, dann wünsche ich mir allerdings lieber Streit und Diskussionen mit politischen Zeitgenossen, die solche fundamentalen Grundüberzeugungen haben und vertreten. Daß sie die Beweglichkeit behalten müssen, auch zu korrigieren, daß man Ausnahmen von fundamentalen Grundüberzeugungen machen muß, das ist in der Tat wahr. Aber, Herr Engholm, von laissez faire kann doch weiß Gott keine Rede sein. Sehen Sie sich bitte einmal das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost mit dem weiten Katalog von Eingriffsmaßnahmen und von Interventionen an. Ist das laissez faire? Sehen Sie sich doch bitte einmal an, daß mehr als 50 % des Bruttosozialprodukts, das wir in der alten Bundesrepublik Deutschland erwirtschaften, schon nicht mehr rein marktwirtschaftlichen Wettbewerbsgesetzen unterliegt. Das hat mit Ideologie überhaupt nichts zu tun, und von Ideologie sollte man hier Abstand nehmen. Sie haben Schweden als Beispiel zitiert. So, Herr Engholm, darf man, glaube ich, Beispiele, mit Verlaub gesagt, nicht zitieren, wie Sie es getan haben. Sicher, die Arbeitslosenquote in Schweden ist noch niedriger, als Sie gesagt haben; im vorigen Jahr betrug sie 1,5 % Daß die Inflationsrate bei 11 % liegt, gehört aber ebenfalls in dieses Bild; daß der Staatsanteil bei 60% liegt, gehört ebenfalls in dieses Bild; daß der Staatshaushalt aus den Fugen gerät, gehört ebenfalls da hinein. Schließlich - das wissen Sie natürlich ganz genau - gehört auch hinein - ich erwarte nicht, daß Sie das vortragen -, daß Ihre sozialdemokratischen Freunde in Schweden zur Zeit nach allgemeiner Einschätzung überhaupt keine Chance mehr haben, die nächste Wahl zu gewinnen. Auch das wissen Sie. ({7}) Meine Damen und Herren, 1991 hat zumindest einen Glanzpunkt gebracht: die Wiedererlangung der vollen deutschen Souveränität durch die Ratifizierung des Zweit-plus-Vier-Vertrages im sowjetischen Parlament. Das war in diesem Jahr. Das war der Schlußpunkt einer Politik, die 1990 die historische Chance zur deutschen Einheit erkannt und genutzt hat. Wir wissen heute, daß es eine kurze historische Sekunde war. Es ist das Verdienst dieser Bundesregierung und dieser Koalition, entschlossen gehandelt zu haben. Ich behaupte, allein dieses Verdienst rechtfertigt ihren Erfolg bei den Bundestagswahlen am 2. Dezember 1990. ({8}) Die Entscheidungen des Jahres 1990, insbesondere die Währungsunion vom 1. Juli 1990, haben immense ökonomische Konsequenzen. Es war aber keine ökonomische, es war eine politische Entscheidung; und sie war richtig. Die Folgen dieser Entscheidung waren und sind tiefgreifend. Die Probleme türmen sich. Die Arbeitslosigkeit wächst. Die verständliche Einkommenserwartung der Menschen einerseits und die Produktionskosten andererseits schaffen ein kaum aufzulösendes Dilemma. Die Zerstörung der Rechtsinstitute durch 40 Jahre Kommunismus erschweren Verwaltung und Investitionen. Die alten Seilschaften plagen immer noch die Menschen. Jeder hier kennt die Stichworte, und sie lassen sich doch so schnell vermehren: Handel statt Produktion, Altschulden, Umweltaltlasten, Stasi-Akten usw. usw. Die fünf neuen Bundesländer und damit wir alle haben ein schweres Jahr 1991 vor uns. Warteschleife, Betriebsstillegungen sind nur zwei weitere Stichworte. Aber es gibt doch auch Beispiele, Herr Engholm, meine Damen und Herren, daß es sich zum Besseren wendet. Es gibt eine Menge sichtbarer privater Initiative. An vielen Orten laufen Investitionen an. Die Treuhandanstalt - Sie haben es erwähnt, Herr Rühe - hat fast 2 000 Betriebe verkauft. Überall im Land wird gebaut. Für Wohnungsmodernisierung und Instandsetzung sind 3,2 Milliarden DM Kredite von Privaten beantragt worden. Es wird nicht mehr nur Westware gekauft, ja, es wird Ostware in die alten Bundesländer geliefert. Bei diesem Stichwort, meine Damen und Herren, möchte ich darum bitten, daß bei der Vergabe öffentlicher Aufträge - auch durch den Bund und ihm zugehörende Institutionen, und ich habe Anlaß, das zu sagen - darauf Rücksicht genommen wird, daß die Aufträge an solche Unternehmen gehen, die drüben produzieren, und nicht nach altem Verteilerschlüssel gehandhabt wird. ({9}) Aber sollten wir nicht gemeinsam versuchen, der Regel entgegenzuwirken, daß nur schlechte Nachrichten Nachrichten sind? Warum sprechen wir immer vom halbleeren und nicht vom halbvollen Glas, wenn wir uns mit der Entwicklung in den fünf neuen Bundesländern beschäftigen? Ihr stellvertretender Vorsitzender, Herr Thierse, hat in Bremen gesagt: So hätte er sich die Wirklichkeit der deutschen Einheit in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorgestellt. Hat er wirklich Alpträume der deutschen Einheit gehabt? Ich will gerne einräumen, vielleicht zu viele Freudenträume gehabt zu haben, aber Alpträume nicht. ({10}) Herrn Stolpes Bemerkung in Bremen ist von Ihnen, Herr Rühe, angesprochen worden. Ich habe gestern mit Herrn Stolpe darüber gesprochen. Ich habe ihn gefragt, was er mit der Bezeichnung „ManchesterKapitalismus" in Bremen angerichtet habe und damit sagen wollte. Er hat mir erklärt, daß er diejenigen gemeint habe, die dort nach Wildwestmanier privater Initiative in den fünf neuen Bundesländern ihr Wesen und ihr Unwesen treiben. Damit hat er in der Tat völlig recht. ({11}) Er hat ausdrücklich bestätigt, daß er nicht etwa die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung und der Koalition damit meine. ({12}) Das nimmt sich sehr viel besser aus. Aber es wirft ein interessantes, wenn auch nur kleines, Schlaglicht auf den Zustand Ihrer Partei, das Herr Rühe angesprochen hat: Der Eierwerfer von Halle, wobei ich die Reaktion so interessant finde. Die Partei in Bremen nimmt ihn auf, die Partei in Halle sagt: Wir hätten ihn nicht wiederhaben wollen. Das ist das Bild Ihrer Partei, das Sie heute noch bieten. ({13}) Meine Sympathie gehört übrigens denen in Halle, um das gleich hinzuzufügen, falls sich jemand einer Täuschung hingibt. ({14}) - Aber da gibt es natürlich unterschiedliche Meinungen, selbstverständlich. Aber ich werfe ja nicht mit Eiern, verehrter Herr Kollege. Herr Kubicki wirft auch nicht mit Eiern: Sie werden sich wundern, das tut er nicht, Herr Roth. Es bleibt wichtig, daß wir im Westen der Bundesrepublik alles in unseren Kräften Stehende tun, um den Aufbau der fünf neuen Bundesländer zu erreichen. Hier, Herr Engholm, teile ich Ihre Bewertung nicht. Ich bleibe bei dem, was wir hier so oft gesagt haben. Die finanziellen Beiträge der alten Bundesländer kamen zu spät, sie kamen zu zögerlich. Ich schätze auch - dies muß ich Ihnen offen sagen - den Vergleich oder die Behauptung: strukturschwaches Land, für wen auch immer - auch für Schleswig-Holstein -, nicht mehr, wenn er in den alten Dimensionen vorgetragen wird. Selbstverständlich sind Sie ein strukturschwaches Land oder waren es - es geht Ihnen ja besser, auch schon vor Ihrer Zeit - im Vergleich zu Baden-Württemberg und Bayern. Aber vergleichen Sie sich mit Sachsen-Anhalt und Thüringen, und dann wissen Sie, wo die strukturschwachen Länder liegen. ({15}) Es ist nachweisbar, daß zur Zeit alle alten Bundesländer an der deutschen Einheit verdienen und das Mehr an Steuereinnahmen ungerührt kassieren. Das ist die Wahrheit. Wenn Sie daran etwas ändern wollen, Herr Ministerpräsident, dann frage ich Sie: Wie ist es denn mit dem Länderfinanzausgleich? Muß er denn wirklich bis 1995 warten? Nach unserer Meinung nicht. ({16}) Für die Zukunft muß sich das ändern. Ich fordere für die FDP erneut, daß wir in den nächsten Jahren darauf verzichten, die alte Bundesrepublik noch schöner zu machen, daß wir uns jetzt einmal mit dem bisher Erreichten zufriedengeben und daß wir alles Mehr an Wachstum und Steuereinnahmen jetzt zum Wiederaufbau der neuen Länder einsetzen. ({17}) Noch einmal: Herr Engholm, bitte vernebeln Sie nicht die Spuren des Verhaltens der Länder im deutschen Einigungsprozeß! Sie haben sich finanziell nicht angemessen verhalten; sie haben sich bei der Festlegung der Stimmenverteilung im Bundesrat ungewöhnlich unsolidarisch verhalten, sie haben den neuen Ländern nicht die geringste Einwirkungsmöglichkeit gegeben. Sie fanden alles von Ihnen vorf abri-ziert und vorentschieden vor. Sie selber kann ich nicht zitieren, aber ich vergesse nicht den Ausspruch des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder: „Die da drüben sollen sich jetzt selber krummlegen! " - Größere Herzlosigkeit habe ich im Umgang mit den neuen Bundesländern bei niemandem verspürt. ({18}) Ich will meine Zweifel an der Wirksamkeit solcher Appelle, nämlich das Mehr jetzt drüben einzusetzen - schon das Wort „drüben" sollten wir bald bleiben lassen -, ({19}) nicht verschweigen. Meine Damen und Herren, es geht uns alle an. Wer in den letzten Wochen in Hamburg durch die Wahlplakat-Allee vom Flughafen zur Innenstadt gefahren ist, der konnte es ja lesen: Alle Plakate versprachen mehr, aber den Hamburgern, nicht den Rostockern oder den Chemnitzern. ({20}) Meine Damen und Herren, das Jahr 1991 hat uns sehr schnell vor die Frage der gewachsenen internationalen Verantwortung des ungeteilten Deutschland gestellt. Vielleicht zu schnell? Die Deutschen sind dabei, ihre Rolle zu finden und zu definieren. Die FDP hat das auf der Sitzung ihres Bundeshauptausschusses in Hamburg vor 14 Tagen getan. Es ging uns um die Beschreibung einer dem Frieden in der Welt, der Freiheit und der Demokratie gewidmeten deutschen Verantwortungspolitik. Es ging uns um mehr als nur um den Bundeswehreinsatz. Aber diesem Problem sind wir auch nicht ausgewichen. Die Sozialdemokratische Partei, Herr Engholm, hat eine unzulängliche, eine romantische, sympathische - vielleicht - , aber damit eine wirklichkeitsfremde Antwort gegeben. Damit wäre eine deutsche Regierung nicht bündnisfähig, weder in Europa noch in der Atlantischen Allianz. Die Entscheidung des Bremer Parteitages erinnert mich stark an die einseitige Abrüstungshaltung der britischen Labour Party. Damit war die Labour Party lange Jahre nicht bündnisfähig und folglich auch nicht regierungsfähig. Das gilt auch für die SPD nach ihren Bremer Beschlüssen. Erfolge in den Ländern ersetzen keine fundamentalen außen- und sicherheitspolitischen Defizite. ({21}) Die Erfolge in den Ländern, meine Damen und Herren, haben Ihnen die Mehrheit im Bundesrat gebracht. Wir werden sehr schnell sehen, ob Sie eine Verantwortungsmehrheit oder eine Blockademehrheit wollen. ({22}) Insbesondere Sie, Herr Engholm, als neuer Parteivorsitzender, werden jetzt zeigen müssen, wie Sie Ihre Position als Ministerpräsident mit der neuen Aufgabe verbinden und zur Geltung bringen. Schon haben die Sozialdemokraten die verschärften Bestimmungen des Außenwirtschaftsgesetzes gegen illegalen Waffenexport angehalten und die Bundesregierung damit außenpolitisch bloßgestellt. Was taugen eigentlich Ihre Bemerkungen gegen illegale Waffenschieber? ({23}) Will die SPD morgen das Paket zur Finanzierung des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost in den Vermittlungsausschuß bringen und damit das Finanzaufkommen für die fünf neuen Bundesländer gefährden? ({24}) Wir werden außerdem mit Interesse sehen, ob Sie, meine Damen und Herren von der SPD-Bundestagsfraktion, sich mit der minoren Rolle begnügen werden, die Ihnen der saarländische Ministerpräsident zuweist. ({25}) - Das tut er. Meine Damen und Herren, deutsche Politik muß und wird europäische Politik sein. Wir Liberale wollen die europäische politische Union. Dazu gehört eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Die gemeinsame Verteidigungspolitik muß Teil der Sicherheitspolitik der Atlantischen Allianz sein. Es macht wenig Sinn, wenn NATO und WEU einen öffentlichen Wettlauf der Beschlüsse auf diesem sensiblen Gebiet veranstalten. ({26}) Uns scheint es zweifelhaft, ob der Beschluß der NATO-Verteidigungsminister über eine schnelle Einsatztruppe das letzte Wort sein wird. Die französischen Bedenken sind nachvollziehbar. Die nuklearen Kurzstreckenwaffen der NATO müssen weg. Hatten wir diese Diskussion, Herr Bundesverteidigungsminister, nicht längst hinter uns? ({27}) Die Gemeinschaft ist auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion, zu einer europäischen Währung. Noch aber sind die Vorbedingungen, eine unabhängige europäische Zentralbank und die Konvergenz der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten, nicht erfüllt. Es ist abzusehen, daß nur ein Teil der Mitgliedstaaten der EG fähig und bereit sein wird, diese Voraussetzungen zu erfüllen. Müssen wir dann auf lange Zeit auf weitere Integrationsfortschritte verzichten? Die Frage verschärft sich noch beim Thema Vertiefung oder Erweiterung. Dürfen Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, dürfen Österreich und demnächst Schweden deshalb nicht in die Europäische Gemeinschaft? Die Erweiterung ist in der Tat eine hochpolitische Frage. Aber die Europäische Gemeinschaft ist keine westeuropäische Gemeinschaft. Prag, Budapest, Warschau sind europäische Städte, auch Wien. Vielleicht lesen Kommission und Ministerrat einmal Art. 237 und die Präambel des Römischen Vertrages. Der Vertrag gibt jedem europäischen Staat das Recht, Mitglied der Gemeinschaft zu werden. ({28}) Die bevorstehende Währungsunion erhöht wahrscheinlich die Notwendigkeit des Europa der zwei Geschwindigkeiten. Ökonomisch ist das wohl unabweisbar. Politisch ist es sehr heikel, wenn ich an ein so bewährtes Partnerland wie Italien und an andere denke. Es wird hoher diplomatischer Kunst bedürfen, um Verwerfungen zu vermeiden. Meine Damen und Herren, das Thema Sowjetunion beschäftigt uns täglich. Der Westen muß der Sowjetunion beim Aufbruch, bei der Politik der Perestroika helfen, sie auf dem Weg nach Europa und im Bemühen um die Integration in die Weltwirtschaft unterstützen. Würde eine dezentralisierte Sowjetunion dabei helfen? - Vielleicht. Eine destabilisierte Sowjetunion wäre aber sicherlich in niemandes Interesse. Darin läge ein hohes Risiko für Westeuropa, aber auch für die USA und den Westen insgesamt. Der Westen hat seine Hilfsbereitschaft bekundet. Deutschland hat sich in besonderer Weise engagiert. Wir haben mit der Sowjetunion einen Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit abgeschlossen. Wir haben uns darüber hinaus in erheblichem Maße finanziell für die Stabilisierung der Sowjetunion engagiert. Allein die 1990 vereinbarten Leistungen belaufen sich insgesamt auf knapp 25 Milliarden DM. In dieser Summe nicht enthalten sind die besonders günstigen Exportkreditgarantien, die im Handel mit der Sowjetunion vereinbart wurden. Um es klar und deutlich zu sagen, damit niemand darum herumreden kann: Hier liefert der Verkäufer dem Kunden, dessen Bonität nicht überzeugt, das Geld zur Bezahlung gleich mit. Mich erinnert das an die alte Lebensweisheit: Besser schenken als bürgen! Über die Problematik einiger dieser Maßnahmen, vor allem der Finanzkredite, sind wir uns durchaus im klaren. Aber, Kredite ohne Reformen, das kommt leicht dem Füllen eines Fasses ohne Boden gleich. Keine Kredite ohne Reformen, aber auch keine Reformen ohne Kredite. Es gibt auch wichtige politische Aspekte. Wir leisten mit diesen erheblichen Mitteln einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der europäischen Friedensordnung. Es muß allerdings internationale Hilfe für die Sowjetunion geben. Weder Deutschland noch die EG können das alleine schultern. Im übrigen versuchen wir dafür zu sorgen, Herr Ministerpräsident Engholm, daß die auch von Ihnen angesprochene Wanderungsbewegung von Ost nach West nicht zustande kommt, indem wir das Wohlstandsgefälle, das übrigens ein historisches Wohlstandsgefälle ist, einigermaßen einebnen. Eines muß ich aber nun doch sagen, meine Damen und Herren: So ganz paßte das nicht zusammen. Warum haben denn so viele Menschen die Neigung, hierher zu kommen, wenn bei uns ein solches Jam mertal ist, wie Sie es am Anfang Ihrer Rede gekennzeichnet haben? ({29}) - Doch, Frau Matthäus, es war schon der Hinweis auf ein Jammertal. Ganz versteckt lag darin auch ein Kompliment für den gesetzlichen Anspruch auf Sozialhilfe und dies völlig zu Recht. Das gibt es nur in wenigen Ländern. Ich finde es unerhört, wenn Sie sagen, daß dies allmählich in eine Wohlfahrts- und Wohltätigkeitsveranstaltung überführt wird.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Würden Sie bestätigen, Graf Lambsdorff, daß es nicht darum geht - das ist heute morgen auch nicht getan worden - , die Bundesrepublik Deutschland als Jammertal darzustellen, sondern es darum geht, zu sagen, zu kritisieren und zu ändern, daß es angesichts des enormen Wohlstandes, den wir uns erarbeitet haben und über den wir uns freuen, nach offiziellen Schätzungen der Wohlfahrtsverbände mindestens 6 Millionen Arme in diesem Land gibt, was eigentlich unerträglich ist?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich kann Ihnen nicht bestätigen, daß das heute der Inhalt der Rede von Herrn Engholm war. Über die Zahlen und über den Tatbestand können wir uns unterhalten. Aber die Rede von Herrn Engholm zeigte im ersten Teil ein Land und Zustände, bei denen man sich fragt, warum eigentlich von außen Leute hierherkommen sollten, um Zuflucht zu suchen. ({0}) Die Verantwortung der Europäischen Gemeinschaft gegenüber den Ländern Mittel- und Osteuropas und der Dritten Welt fordert eine offene handelspolitische Haltung. Noch vor wenigen Tagen hat mir der tschechoslowakische Finanzminister Vaclav Klaus wörtlich gesagt: Verschont uns mit Marshallplan-Ideen, öffnet eure Märkte für uns! - Er hat sich bitter darüber beklagt, welch ungenügende Angebote die Europäische Gemeinschaft der Tschechoslowakei in dieser Beziehung mache. Er hat recht. Deshalb muß die Uruguay-Runde des GATT erfolgreich abgeschlossen werden, und die Bundesregierung muß nun endlich auch dem französischen Partner klarmachen, daß es dabei nicht ohne Konzessionen und Kompromisse abgeht. Die FDP begrüßt die klare Entscheidung des Kongresses der Vereinigten Staaten, das Verhandlungsmandat für Präsident Bush um zwei Jahre zu verlängern. Wir bedauern die unnötig verschärfende Sprache der neuen französischen Premierministerin. Die Antwort aus Tokio auf solche Töne hat nicht lange auf sich warten lassen. Wir fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, daß der Binnenmarkt ab 1. JaDr. Otto Graf Lambsdorff nuar 1993 nicht zu einer Entliberalisierung des deutschen Marktes für Automobilimporte führt. Das wäre das Fort Deutschland in der Festung Europa, ein wahrhaft groteskes Ergebnis für den Binnenmarkt. Die Haltung der Kommission, insbesondere der Vizepräsidenten Leon Brittan und Martin Bangemann, muß und sollte von der Bundesregierung unterstützt werden. Meine Damen und Herren, die Hilfen, die wir international bereitstellen wollen und müssen, ebenso wie die Hilfen zum Wiederaufbau der neuen Bundesländer können wir nur leisten - Herr Rühe, Sie haben recht -, wenn die Wirtschaft im Westen unseres Landes stark bleibt. Unsere wirtschaftliche Kraft ziehen wir aus der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Sie darf nicht beschädigt werden, aber wir sind auf dem besten Wege, dies zu tun. Die Ergebnisse der Lohnrunde 1991 passen nicht in eine Landschaft, in der der weltweite Konjunkturwind schärfer bläst. Wenn man Herrn Steinkühler von gestern zitiert - Herr Ministerpräsident Engholm hat das getan - , so klangen darin einige Töne begrüßenswerter Einsicht über die eingeschlagene Entwicklung und die Gefahren, die mit ihr verbunden sind, deutlich an. Ich sage noch einmal - das ist ein Appell an die Tarifvertragsparteien - : Ermöglichen Sie in den fünf neuen Bundesländern für eine vorübergehende Zeit Öffnungsklauseln, und verweisen Sie die Leute nicht darauf, daß sie das Ergebnis der Tarifverhandlungen schlucken müssen; friß, Vogel, oder stirb! - Es kann so nicht funktionieren. ({1}) Wir haben eine nationale Anpassungsaufgabe von bisher unbekannten Dimensionen zu bewältigen. Die Zinsen haben bei uns eine Höhe erreicht, die auf Dauer nicht ohne Rückwirkungen auf Wachstum und Beschäftigung bleiben können. Es muß alles dafür getan werden, daß der Kapitalmarkt entlastet wird, ({2}) sonst kann und wird die Bundesbank die Zinsen nicht senken, Herr Pöhl hat das heute noch einmal gesagt. ({3}) Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt 1992 steht unter besonderen Vorzeichen. Sein Volumen, seine Nettokreditaufnahme, die damit verbundenen Steuererhöhungen gäben normalerweise zu gravierenden Bedenken Anlaß. Aber ich sage: normalerweise. Unsere öffentliche Verschuldung oder, genauer gesagt, die Nettokreditaufnahme der öffentlichen Hände ist in diesem und im nächsten Jahr höher als die so oft beklagte und kritisierte Nettokreditaufnahme der Vereinigten Staaten. Es muß allerdings hinzugefügt werden: Auch das private Sparaufkommen zur Finanzierung ist deutlich höher als in den USA. ({4}) Aber, ich habe gesagt, normalerweise gäbe dies zu gravierenden Bedenken Anlaß. Ich füge hinzu: Die deutsche Einheit rechtfertigt diese Anstrengung. ({5}) Die FDP verbindet ihre Zustimmung zum Bundeshaushalt 1991 und zu dieser Politik mit zwei Hinweisen. Wo stünden wir wohl, wenn wir nicht seit 1982 die Haushalte konsolidiert hätten, wenn wir keine Politik der marktwirtschaftlichen Erneuerung betrieben, sondern Ihren Weg fortgesetzt hätten? Die Politik von FDP und CDU/CSU hat unser Land so leistungsfähig gemacht, daß wir den Herausforderungen der deutschen Einheit gewachsen sind. Diese Erfahrungen dürfen Bundesregierung und Koalition nicht in den Wind schlagen. Wir müssen so schnell wie möglich zurückkommen zu einer Politik der Haushaltskonsolidierung, der Rückführung der Staatsquote, der Steuersenkung und des Subventionsabbaus. In diesem letzten Punkt unterstützt die FDP ausdrücklich die Initiative des Bundeswirtschaftsministers. Ich sage noch einmal: Wenn jetzt - unter diesem Haushaltsdruck - nicht Subventionen abgebaut werden, wann um alles in der Welt soll es dann möglich sein? ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen - ich wähle bewußt diese von mir sonst nicht benutzte Anrede, weil ich an uns selber appellieren will - , es ist immer leichter, dem Steuerzahler in die Tasche zu greifen und Schulden zu machen. Aber die Rechnung dafür zahlt die Generation nach uns. Den jungen Menschen im Osten und im Westen unseres Vaterlandes sind wir zu einer seriösen Politik verpflichtet. Die FDP sagt der Bundesregierung ihre Unterstützung für eine solche Politik zu. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da es jetzt um die Politik der Bundesregierung im Ganzen geht, will ich mich zunächst zu einigen wenigen außenpolitischen Fragen äußern. Ich finde, daß sich die Außenpolitik der Bundesregierung widersprüchlich vollzieht. Zum einen sucht sie die Zusammenarbeit mit Osteuropa und auch und gerade mit der Sowjetunion. Dies ist wichtig für die Stabilität in Europa und für den europäischen Einigungsprozeß. Zum anderen wird aber immer deutlicher, daß der europäische Einigungsprozeß - strukturell und wirtschaftlich - eigentlich nur die Europäische Gemeinschaft erfassen soll. Setzt sich diese Politik durch, wird sich die soziale und wirtschaftliche Spaltung Europas vertiefen und wird die Gefahr von Eruptionen auf dem Kontinent zunehmen. Gefährlich ist auch ein Vorherrschaftsstreben in Europa, eine Rolle, die uns nicht gut zu Gesicht steht, die Mißtrauen erzeugen muß. Die komplizierten europäischen Prozesse werden auch nicht dadurch erleichtert, daß ein Realpolitiker wie Bundesbankpräsident Pöhl in eine Situation getrieben wird, in der ihm nur noch der Rücktritt bleibt. Von besonderer Bedeutung für die Zukunft sind die Pläne in bezug auf NATO und WEU. Der Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus führte zu keinerlei Umdenken der Bundesregierung in außenpolitisch-militärischen Fragen. Die Chancen zur Schaffung gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen im Rahmen der KSZE wurden verspielt. Statt dessen wurde die NATO gestärkt. Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, wird zugleich die früher fast bedeutungslose WEU neu belebt. Die Bundesregierung und Frankreich wünschen, daß daraus der militärische Arm der Europäischen Gemeinschaft wird, während andere Staaten darin ausschließlich die EuropaAbteilung der NATO sehen wollen. Gehen die Pläne der Bundesregierung auf, so bedeutet dies die Schaffung einer internationalen europäischen Militärorganisation, die abgekoppelt und unabhängig von den USA wäre und damit in der sogenannten Dritten Welt militärisch aktiv werden könnte. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich bitte die Abgeordneten, Platz zu nehmen und die Geräuschkulisse so zu gestalten, daß der Abgeordnete noch gehört werden kann.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Hier müßte doch einmal erklärt werden, welche Rolle denn eigentlich eine von den USA unabhängige europäische Militärorganisation als Arm der EG spielen sollte. Bereitet man sich hier etwa auf künftige Kämpfe um politischen und ökonomischen Einfluß in der Dritten Welt vor und will dabei auch nicht mehr von den USA abhängig sein? Ich halte diese Pläne für kreuzgefährlich. Hier ordnet sich dann auch die Vorstellung zur Anderung des Grundgesetzes zum erweiterten Einsatz der deutschen Soldaten ein. Es fehlt hier jede historische Sensibilität dafür, daß von Deutschland in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege ausgingen; sonst käme man nicht auf die Idee, gerade deutsche Soldaten international einsetzen zu wollen. ({0}) Bedauerlich, daß dem nun offensichtlich auch die SPD zur Unterstreichung eigener Regierungsfähigkeit zustimmen will - zumindest hinsichtlich der sogenannten Blauhelm-Truppen der UNO - , so daß die erforderlichen Mehrheiten im Bundestag gegeben sind. Dabei ist es sehr vernünftig gewesen, diese Truppen vornehmlich durch kleine Armeen und neutrale Staaten stellen zu lassen, nicht durch Großmächte und Mächte, die Großmächte werden wollen. Diese sollten sich dagegen Zurückhaltung auferlegen. ({1}) - Das ist schon wahr. ({2}) Aber das würde noch eher dazu zwingen. Sehen Sie, dann gibt es noch ein Lehrstück deutscher Vergangenheit, das uns zur Zurückhaltung verpflichtet, statt deutsche Soldaten in die Welt auszusenden. ({3}) Wer die Tür für Blauhelme öffnet, weiß, daß sie dann eines Tages für Möglichkeiten des internationalen militärischen Einsatzes ganz aufgestoßen wird. Diese Politik wird deshalb auf unsere konsequente Ablehnung stoßen. Sie geht möglicherweise in eine verhängnisvolle Richtung. Im Haushalt spiegelt sich diese Politik in den geplanten Rüstungsausgaben wider. Für die Verteidigung sollen 52 Milliarden DM ausgegeben werden. Die Verteidigungsausgaben, die in den vergangenen Jahren mit der Begründung der Bedrohung aus dem Osten Jahr für Jahr wuchsen, werden auf gleichem Niveau fortgeführt. Dabei ist der Warschauer Vertrag aufgelöst. Die Nationale Volksarmee ist Bestandteil der Bundeswehr geworden. Niemand kann mehr behaupten, daß von den Militärpotentialen Polens, der CSFR, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens eine Bedrohung der Bundesrepublik ausgeht. Mit der Sowjetunion wurden Verträge ausgehandelt, die ein friedliches Zusammengehen wesentlich sicherer machen. Das alles spielt aber offensichtlich für die Bundesregierung keine Rolle, wenn es darum geht, 1991 jeweils in Milliardenhöhe Waffen, neue Schiffe, neue Flugzeuge und neue Kampffahrzeuge in Dienst zu stellen und ohne Einschränkung und Neuorientierung die Wehrforschung für neue und immer perfektere Waffen in der alten Weise fortzusetzen. Das Programm Aufschwung Ost umfaßt weniger, als 1991 durch die Bundeswehr für neue Waffen und für die Wehrforschung ausgegeben werden soll; für die Forschung allein 12,4 Milliarden DM. ({4}) Ich spreche auch nicht von geringfügigen Einsparungen, die man den Wählerinnen und Wählern weismachen will, indem man in die Basis etwas einrechnet, was für die Beantwortung der Frage, wieviel neue Waffen angeschafft werden, überhaupt keine Bedeutung hat, nämlich die Ausgaben der NVA. Es geht um eine ganz andere Qualität und Größenordnung an möglicher Abrüstung und Wahrnehmung tatsächlich gewachsener Verantwortung. Wenn man es mit Abrüstung und Sozialpolitik ernst meint, hätte man doch zumindest in diesem Jahr einmal auf die Anschaffung neuer Waffen verzichten müssen. ({5}) Wir unterbreiten den Vorschlag, Rüstungsausgaben im Umfang von 10 Milliarden DM zu reduzieren, wobei dann natürlich 5 Milliarden DM für Konversion erforderlich sind - zum einen für die soziale Absicherung der Soldaten bei Reduzierung von Streitkräften, zum anderen für den Umbau von Produktionsstätten der Rüstung auf zivile Produkte -; die anderen 5 Milliarden DM könnten für soziale Zwecke eingesetzt werden. Mit den Mitteln des Haushaltes 1991 wurde der Golfkrieg mitfinanziert. Diesen Krieg haben aber sehr viele abgelehnt. Das löste hier große Proteste aus. Ich frage nun, weshalb eigentlich jene, die diesen Krieg nicht wollten, zur Bezahlung dieses Krieges gleichermaßen in Anspruch genommen werden. Ich glaube, daß es dafür keine Grundlage gibt. ({6}) Im übrigen ist auch dafür mehr eingesetzt worden, als für das Aufschwungwerk Ost. Im Vergleich zu dem, was die Bundesregierung für Rüstung ausgibt, ist das, was für Friedensforschung zur Verfügung gestellt wird, absolut minimal. Verfehlt sind auch die geplanten geringeren Mittel für Entwicklungshilfe. Nicht im Ansatz ist eine Neuorientierung sichtbar. Die Kluft zwischen den Ländern der sogenannten Dritten und der sogenannten Ersten Welt wird täglich größer. Und was macht die EG-Kommission in diesem Moment? Sie beschließt, die Milchproduktion weiter zu reduzieren und - alles mit Zustimmung der Bundesregierung - Acker in Europa sozusagen brachzulegen, obwohl es Millionen Hungernder in dieser Welt gibt. ({7}) Da frage ich Sie: Warum wird eigentlich die Reduzierung der landwirtschaftlichen Produktion und nicht der Transport der Überproduktion in die Dritte Welt finanziert, um den Hunger wenigstens einigermaßen zu stillen? Nicht einmal dazu konnte sich die Bundesregierung bisher entschließen. ({8}) Hinzu kommt, daß die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern vorsätzlich zerstört wird. Hunderttausenden von Bäuerinnen und Bauern, die aber genossenschaftlich weiterproduzieren wollen, wird die Existenz geraubt. ({9}) - Dann gehen Sie doch einmal rüber und erkundigen sich einfach. ({10}) In der Bundesregierung gibt es Kräfte, die glauben, den Wegfall der östlichen politischen Konkurrenz nutzen zu können, um langgehegten Träumen vom Abbau von Sozialem und Demokratischem endlich zum Durchbruch zu verhelfen. Was mit der Neugestaltung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes begann, soll nach den Vorschlägen der Deregulierungskommission des Wirtschaftsministeriums mit der Unterwanderung von Kündigungsschutzregelungen und Tarifverträgen fortgesetzt werden. Ich finde es demagogisch, wenn von dieser Kommission gesagt wird, daß es zur individuellen Freiheit des einzelnen gehören muß zu entscheiden, daß er auf Kündigungsschutzrechte verzichtet und daß er auch unterhalb des Tariflohns bezahlt werden kann. Klar ist: Wenn sich diese Vorschläge durchsetzen sollten, werden alle gesetzlichen Bestimmungen zum Kündigungsschutz und auch hinsichtlich der Tarifverträge praktisch an Bedeutung verlieren. Die Justizministerkonferenz beschließt in dem gleichen Zeitraum, nunmehr in Zivil- und Strafverfahren Rechtsmittel in beachtlichem Umfang abschaffen zu wollen und außerdem die sogenannte Zulassungsberufung einzuführen, wonach das Gericht dann selbst entscheidet, ob gegen sein Urteil die Berufung zulässig ist. Das halte ich schon für ein ziemlich starkes Stück. Darauf sind nicht einmal die Vertreter des real existierenden Sozialismus gekommen. ({11}) - Ich will Ihnen einmal was sagen: Wenn Sie entscheiden, daß das Gericht selber sagen kann, ob gegen sein Urteil eine Berufung zulässig ist, dann müssen Sie auch dem Angeklagten das Recht einräumen, selbst zu entscheiden, ob gegen ihn eine Anklage erhoben wird. Ich glaube, das wird wirklich rechtsstaatlich unvertretbar. Übrigens geht es hier um Rechtsmittel, die nach der Statistik zu mehr als 60 % der Fälle zur Änderung des Urteils erster Instanz geführt haben, die sich also als notwendig erwiesen haben. Der Verkehrsminister wiederum schlägt nun vor, für die neuen Bundesländer fast sämtliche Rechte zum Einspruch gegen Verkehrsbauten nicht zuzulassen, damit erst einmal alles vollgebaut werden kann, um dann später entsprechende Rechte einzuräumen. ({12}) - Fragen Sie ihn doch selbst. - Das alles wird mit dem Osten Deutschlands begründet. Deshalb ist es zusätzlich geeignet, die Ablehnung im Westen gegen den Osten zu fördern, obwohl es in Wirklichkeit um die Erfüllung alter Wunschträume geht. ({13}) - So lange lebe ich ja noch gar nicht, um solche Träume zu hegen. Die Vorschläge der Deregulierungskommission, der Justizministerkonferenz und des Verkehrsministers sind in ihrer Begründung meines Erachtens ein Mißbrauch der Ostdeutschen. ({14}) Ich halte es auch für verfehlt, daß die Mineralölsteuer nach den entsprechenden Vorstellungen behandelt wird wie eine einfache Einnahme und nicht ganz spezifisch im ökologischen Sinne in der Verkehrspolitik eingesetzt wird, um die öffentlichen Verkehrsmittel so billig wie möglich zu machen, damit die individuelle Nutzung des Pkw abnimmt. ({15}) - Sie können der DDR ja viel vorwerfen, aber Sie können ihr nicht vorwerfen, daß die öffentlichen Verkehrsmittel so wahnsinnig teuer waren. ({16}) - Den können wir doch verbessern. Aber deshalb müssen sie doch nicht unbezahlbar werden oder? Ich sage Ihnen: Was die Beschäftigungspolitik und die soziale Politik betrifft, so ist die Tätigkeit und auch die Untätigkeit der Bundesregierung katastrophal. Im Osten wird ein Heer von Arbeitslosen, Vorruheständlern und Sozialhilfeempfängern organisiert, das ständig weiter ansteigt. Statt Arbeit wird Arbeitslosigkeit finanziert. Statt Subventionierung des Osthandels zur Erhaltung der Industriestandorte in den neuen Bundesländern werden Unternehmer subventioniert. Millionen Menschen, die in der DDR, wie sie auch immer war, das berechtigte Gefühl haben konnten, gebraucht zu werden, wird jetzt das Gefühl der Überflüssigkeit und Nutzlosigkeit, daß sie einfach zuviel sind, vermittelt mit katastrophalen psychischen Folgen für den einzelnen und seine Familie. ({17}) Weil es nicht um Halbheiten gehen darf und jedes Identitätsgefühl in den neuen Bundesländern abgebaut werden soll, werden nicht nur Industrie und Landwirtschaft, sondern auch Wissenschaft und Kultur abgebaut. Die Gesellschaft verzichtet bewußt auf ein großes intellektuelles Potential und grenzt, z. B. im öffentlichen Dienst, gleich Hunderttausende politisch und sozial aus. Es bleibt ein bemerkenswertes Merkmal der bundesdeutschen Gesellschaft, daß sie Nazis in großem Stil integrierte und willkommen hieß ({18}) - einverstanden, auch ich finde das unerhört -, ({19}) ehemalige und opportunistische Sozialisten oder sich früher auch nur als Sozialisten bezeichnende Menschen dagegen schwer, ({20}) aber ehrliche, nicht karrieristische, sich bekennende demokratische Sozialisten auf gar keinen Fall integrieren will. ({21}) Was die Sozialpolitik angeht, so ist das geplante Renten-Überleitungsgesetz grob ungerecht. Die Anrechnungszeiten, insbesondere für Frauen mit Kindern, werden erheblich reduziert. Pflegegeldzuschläge nach dem Sozialgesetzbuch, die es hier nicht gibt, fallen für 422 000 Menschen weg. Über 600 000 würden nach diesen Vorstellungen von Rentenempfängern zu Sozialhilfeempfängern werden, insbesondere auch hier wieder Frauen. ({22}) - Selbst wenn es so wäre - es ist ganz bestimmt so - , dann müssen Sie noch die Teuerungsrate mitzählen. Sie müssen doch einfach einräumen, daß es für einen Menschen eine ganz unterschiedliche Stellung ist, ob er einen Rechtsanspruch auf Rente hat oder ob er Sozialhilfeempfänger ist und sich jedes halbe Jahr neu aufblättern und betteln gehen muß. Das ist ein unerträglicher psychischer Zustand für die Betroffenen. ({23})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Gysi, um ohnehin überhaupt wieder ein bißchen Ruhe zu schaffen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Köhler?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, bitte schön.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gysi, gehen Sie recht mit mir, daß die Bundesrepublik Deutschland aus den Rentnern in den ehemaligen fünf Ländern erst Menschen gemacht hat und daß der vorherige Staat die Rentner zu den Ärmsten der Armen degradiert hat? ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Dem ersten Teil kann ich auf gar keinen Fall zustimmen. Das würde ja bedeuten, daß die Rentner in der DDR früher keine Menschen waren. ({0}) - Sie haben gesagt: „keine waren". Was den zweiten Teil betrifft, da sind wir uns ja absolut einig, daß eine Vielzahl von Renten in der DDR extrem niedrig war, daß allerdings natürlich ein bestimmter sozialer Standard durch die entsprechend gesicherten niedrigen Preise gewährleistet war. ({1}) Aber ich will Ihnen etwas sagen: Ich habe etwas anderes kritisiert, daß Sie nämlich aus einem Rechtsanspruch auf Rente einen Sozialhilfeanspruch in dem Sinne machen, daß sich die Betroffenen jedes halbe Jahr über die Vermögensverhältnisse auch der Verwandten etc. erklären müssen. Das ist eine demütigende Angelegenheit. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Gysi, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Enkelmann?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, bitte.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Gysi, ist Ihnen bekannt, daß ein Rentner in einem Altenheim einen Betrag von 105 Mark von seiner Rente bezahlen mußte und daß er ab Juli z. B. in Brandenburg etwa 1 500 DM zahlen muß, die er von seiner Rente, ganz gleich, wie hoch sie ist, nicht zahlen kann, so daß er einfach gezwungen ist, Sozialhilfe zu beantragen, und daß er das vorher nicht mußte?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das kann ich erstens bestätigen. Aber ich füge zweitens hinzu, daß sozusagen die relative soziale Ausgrenzung eines Großteils von Rentnerinnen und Rentnern, die es in gewisser Hinsicht schon in der früheren DDR gegeben hat, jetzt noch verstärkt wird. Das ist eine Tatsache. ({0}) - Ja, ich finde es unglaublich, aber wahr ist es trotzdem. Übrigens gehen Sie ja auch viel weiter. Die Zahlungen vieler Bürgerinnen und Bürger für die freiwillige Zusatzrentenversicherung werden z. B. nicht mehr voll angerechnet ({1}) und vieles andere mehr. Das alles wissen Sie auch. Ich frage Sie beim Thema Sozialpolitik: Muß es eigentlich z. B. bei Steuererhöhungen so bleiben, daß immer auch die Bezieher niedriger Einkünfte zur Kasse gebeten werden, obwohl für sie jede Reduzierung von Einkünften ganz andere Auswirkungen haben muß ({2}) als höhere Abgaben für Besserverdienende?

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Gysi, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Kriedner?

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja.

Prof. Dr. h. c. Arnulf Kriedner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001217, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gysi, ich wollte Sie fragen, ob Sie eventuell das, was Sie als Zustandsbeschreibung der früheren DDR hier anführen, mit den Renten für Stasi-Leute und für hohe Staatsfunktionäre verwechseln, ({0}) ob Ihnen vielleicht die Zustände in normalen Altenheimen der ehemaligen DDR bekannt sind und ob Sie einen Unterschied zu dem sehen, was etwa in den Altenheimen des alten Bundesgebiets läuft. ({1})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich weiß zwar nicht genau, woher Sie kommen, aber aus der Sprache entnehme ich einmal, daß Sie aus den alten Bundesländern kommen. ({0}) - Aha, aus Thüringen. ({1}) - Ich habe ja nur gefragt. - Dann kann ich nur sagen, daß ich mich früher relativ viel in Pflegeheimen schon deshalb aufgehalten habe, weil ich des öfteren vom Gericht als Pfleger bestellt worden bin. ({2}) Ich kenne die Zustände also einigermaßen. Ich gehörte auch nicht zu denjenigen, die diese Zustände etwa besonders gewürdigt haben. Aber erwarten Sie deshalb von mir, daß ich dafür eintrete, daß es den Leuten jetzt noch schlechter, zumindest nicht besser geht, was alle diese Punkte betrifft? ({3}) Genau das Gegenteil muß doch das Ziel unserer Politik sein. Ich füge hinzu, daß das Sonderopfer für Beitragspflichtige in der Arbeitslosenversicherung - ich war ja schon bei einem etwas anderen Thema - genauso abgelehnt werden muß. Wir fordern eine Arbeitsmarktabgabe für Besserverdienende ab Monatseinkommen von 6 500 DM. Das heißt, auch die Bundestagsabgeordneten würden davon erfaßt, und ich meine zu Recht. Dazu fordern wir Freigrenzen für die Erhebung des Zuschlags zur Einkommensteuerschuld in Höhe von 50 000 DM jährlich für Alleinstehende und 100 000 DM jährlich für Verheiratete. Wir fordern, für den Aufbau im Osten einen Teil der Gewinne zu verwenden, die durch den Konjunkturaufschwung im Westen dank der Einheit erzielt worden sind. ({4}) Gemeint sind eine Anleihe mit Zeichnungspflicht für Banken, Versicherungen und Handelsketten sowie eine Investitionshilfeabgabe für die gewerbliche Wirtschaft der alten Bundesländer zugunsten von Investitionshilfen in den neuen Bundesländern. Aber die Bundesregierung ist die Regierung der Reichen; ({5}) denn während das Geld für eine ausgewogene Sozialpolitik fehlt, stellte sie z. B. 1989 86,4 Milliarden DM für Hilfen und Vergünstigungen für Unternehmer zur Verfügung; so die DIW-Untersuchung laut Wochenbericht 52/1990. Ich frage: Könnte es denn nicht gerade nach der hergestellten Einheit der Bundesrepublik Deutschland ein Umdenken auch im sozialen Bereich geben? Wäre es nicht an der Zeit, z. B. für die gesamte Bundesrepublik Deutschland eine Mindestrente einzuführen? ({6}) Wäre es nicht an der Zeit, die Sozialhilfe und die damit verbundenen Erniedrigungen abzuschaffen und daraus reale Ansprüche zu machen, die nicht von den Vermögensverhältnissen irgendwelcher Verwandten abhängig sind? ({7}) - Sie kennen den Unterschied zur Rente, nehme ich an. Wenn es keinen gäbe, würde es ja nicht gesondert geregelt. Sie wissen auch, was es für die Betroffenen bedeutet, sich jedes halbe Jahr neu aufblättern zu müssen. ({8}) Sie wissen auch, wie viele Anspruchsberechtigte Sozialhilfe gar nicht geltend machen, weil sie den Vorgang so demütigend finden. Das ist eine Tatsache. ({9}) - Auch in den alten Bundesländern. - Ich finde, dagegen kann man eine ganze Menge machen. Sie können eines nicht leugnen - da gibt es keinerlei Kurskorrektur in Ihrer Politik - , daß nämlich auch in der Bundesrepublik Deutschland der soziale Abstand zwischen den Armen und den Reichen von Jahr zu Jahr nicht geringer wird, sondern von Jahr zu Jahr größer wird. Selbst wenn es bei den unteren Einkommen eine Steigerung gibt, ist die Steigerung bei den oberen immer höher. Diese Schere sollte in umgekehrter Richtung verlaufen. Das gehört zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit. ({10}) Gestatten Sie mir als letztes folgenden Hinweis, weil es so häufig um die Zustände in den neuen Bundesländern geht: Ich finde es unerträglich, wenn über die Vergangenheit der Menschen und ihren Identitätsverlust, wie es wirklich oft geschieht, in so arroganter Weise geredet wird. Es ist unerträglich, wie Sie damit umgehen, wie Sie dazu stehen. Ich finde es unerträglich, wenn diese Menschen, wie es häufig geschieht, als Stückzahlen behandelt werden und nicht als Individuen, worauf sie alle einen Anspruch haben. Danke schön. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Bei aller verständlichen Empörung des Abgeordneten Dr. Rudolf Krause muß ich ihm doch einen Ordnungsruf für die Aussage „Sie lügen! " erteilen. ({0}) - Dafür kann ich Ihnen keinen Ordnungsruf erteilen. ({1}) Als nächste hat die Abgeordnete Vera Wollenberger das Wort.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Debatte findet ein halbes Jahr nach den Wahlen und am Vorabend des einjährigen Bestehens der Währungsunion statt. Beide Daten markieren entscheidende Wendepunkte in der Geschichte des deutschen Volkes, die vor allen Dingen die Möglichkeit für eine kritische Bestandsaufnahme historischer Erfahrung und die Chance einer umfassenden Erneuerung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens geboten haben. Im politischen Entwurf für die Gestaltung der deutschen Einheit hätten bei der Grundsatzentscheidung für die Rekonstruktion der ökonomisch und ökologisch ruinierten neuen Bundesländer die bekannten Fehler, die beim Aufbau der Ex-BRD gemacht wurden, vermieden werden können. Es hätte eine nach neuestem Wissensstand entwickelte sozial- und umweltverträgliche Industriegesellschaft aufgebaut werden können mit allen positiven Rückwirkungen, die es auf die alten Bundesländer gehabt hätte. Die Politik hätte sich davon befreien können, bloßes Machtergreifungs- und Machterhaltungsinstrument zu sein, und wieder zur gesellschaftsgestaltenden Kraft werden können. Dieser mutige Schritt zur dringend notwendigen Reform des bestehenden Industriegesellschaftsmodells wurde nicht getan. Im Gegenteil: Der Vorschlag vom Bündnis 90/GRÜNE, mit der Zählung der Legislaturperioden neu zu beginnen, um damit ein symbolisches Zeichen für den gemeinsamen Neubeginn zu setzen, ist im Ältestenrat steckengeblieben. Statt dessen wird weitergezählt, als hätte es keinen dramatischen Einschnitt gegeben. Damit wird deutlich, daß die Intoleranz gegenüber dem gemeinsamen Start bereits in diesem Hause beginnt. Es ist außer rhetorischen Pflichtübungen kein politischer Entwurf für die Gestaltung der deutschen Einheit zu erkennen. Im Gegenteil: Konzeptionslosigkeit ist das einzige sich klar abzeichnende Regierungsprogramm. Wenn ich zum Beweis dieser Behauptungen als erstes die Grundgesetzdebatte heranziehe, so deshalb, weil es eine der wichtigsten Grundsatzentscheidungen gewesen wäre; die hätte getroffen werden müssen: dem vereinigten Deutschland eine neue Verfassung zu geben. Die Regierungskoalition zieht es vor, das deutsche Verfassungsproblem auf einige weitere Grundgesetzänderungen zu reduzieren, die zu den über 30 bereits beschlossenen noch hinzukommen sollen. Damit fällt Deutschland selbst hinter das Entwicklungsland Jemen zurück, das sich nach der Vereinigung eine neue Verfassung gibt. Eine Verfassungsdiskussion würde es den 16 Millionen Menschen in den neuen Bundesländern ermöglichen, ihre eigenen Erfahrungen, Wünsche und Erwartungen in das geeinte Deutschland einzubringen. ({0}) - Meine Herren von der Regierungskoalition, Ihre mangelnde Aufmerksamkeit jetzt beweist, wie ernst Sie dieses Problem nehmen. Deshalb erfordert die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Bürgerinnen und der Bürger der ehemaligen DDR, auf das Zusammentreten einer gesamtdeutschen verfassungsgebenden Versammlung hinzuwirken. Die juristische Vereinigung Deutschlands war eine Frage des politischen Willens und des staatsmännischen Geschicks. Die soziale Einheit ist eine Frage des Geldes und der wirtschaftlichen Kraft. Die sozialpsychologische Vereinigung ist eine Frage der psychokulturellen Identität und deshalb die schwierigste. Sie wird am besten befördert, wenn aus dem bloßen Anschluß der einen Gesellschaft an die andere ein gemeinsamer Neuanfang wird. Dieser Neuanfang kann und muß mit einer entscheidenden Weiterentwicklung des Grundgesetzes und damit der Demokratie verbunden sein. ({1}) Einige aus der Sicht der Gruppe Bündnis 90/ GRÜNE entscheidende Aspekte möchte ich im folgenden näher betrachten. Einer der wichtigsten ist die Pflicht Deutschlands zum Frieden. Wenn man den Satz aus der Atlantischen Charta ernst nimmt, daß die Völker der Welt aus realistischen wie moralischen Gründen dazu übergehen müssen, auf Gewaltgebrauch zu verzichten, erkennt man an, daß eine ganz andere Art Demokratie erforderlich ist als jene, wie sie unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation entwickelt wurde. Das bedeutet für uns, die Verpflichtung des Staates, Ursachen für Kriege vorausschauend zu begegnen, die Pflicht zur Abrüstung, das Herstellungs- und Stationierungsverbot für Massenvernichtungsmittel und das allgemeine Kriegsdienstverweigerungsrecht in der Verfassung festzuschreiben. ({2}) Dazu gehört die Entwicklung eines umfassenden Konversionsprogramms und die Verabschiedung eines Konversionsgesetzes. Von diesem gesamtdeutschen Haushalt hätten wichtige Impulse in Richtung Abrüstung und Konversion ausgehen müssen. Statt des ersten gesamtdeutschen Verteidigungshaushaltes hätte es der erste gesamtdeutsche Friedenshaushalt sein müssen. ({3}) Wir halten an unserer Position fest, daß die Konversionsproblematik einheitlich durch ein Bundesgesetz zu den Abrüstungsfolgen und zur Konversion zu lösen ist. Daß die Ausgangslage in einigen alten Bundesländern und in den fünf neuen Ländern recht unterschiedlich ist, darf einer bundesweiten Lösung nicht entgegenstehen, zumal die Ankündigung der erfolgenden Standortauflösungen in den alten Bundesländern ein gemeinsames Problemfeld schafft. Ost und West sind betroffen, und die Zeit drängt. Anlaß genug, nun endlich vielleicht doch ernsthafter als bisher über den bereits zu Volkskammerzeiten verfaßten und im Oktober letzten Jahres in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf zur Konversion nachzudenken. Wir werden den Gesetzentwurf erneut einbringen und hoffen auf eine breite interfraktionelle Zustimmung. Parallel dazu regen wir an, ein Amt für Konversion beim Wirtschaftsministerium einzurichten. Auf eine ähnliche Initiative hin wurde in der ehemaligen DDR ein solches Amt eingerichtet. Ihm war nicht beschieden, den zweiten Tag nach der deutschen Vereinigung zu überleben. Wir hatten uns seinerzeit für dieses Amt eingesetzt, und wir sind angesichts der ungelösten Probleme nach wie vor dafür, ein solches Amt zu schaffen. Einige Bemerkungen zur Stationierung bzw. zum Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte. Als Vertreter der ostdeutschen Länder stehen wir besonders in der Pflicht, alles zu tun, damit der Abzug der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte ordnungsgemäß und in möglichst ruhiger Atmosphäre verläuft. Deshalb ist es dringend notwendig, die Aufrechnungsklausel des Art. 7 des deutsch-sowjetischen Abkommens über einige überleitende Maßnahmen vom Oktober 1990 sowie deren in Aussicht gestellte Handhabung neu zu überdenken. Ohne die Umweltschäden auf sowjetischen Liegenschaften zu minimieren, darf die sowjetische Seite nicht durch ein Anprangern als Hauptumweltsünder unter Druck gesetzt und damit indirekt veranlaßt werden, möglichst kostensparend zu entsorgen und einen Teil der hinterlassenen Umweltschäden zu vertuschen. Bündnis 90/GRÜNE fordern darum die Bundesregierung auf, gegenüber der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte Maßnahmen zur Zusammenarbeit bei der Beseitigung militärischer Altlasten und zur Vermeidung abzugsbedingter zusätzlicher Umweltschäden vorzusehen. Mit anderen Worten: Der Abzug der Westgruppe muß so gestaltet werden, daß stabile kooperative Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion sowie ein günstiges Klima für neue Sicherheitsstrukturen in Europa entwickelt werden. ({4}) Konversion darf in diesem Kontext nicht zum abschreckenden, sondern muß zum ermutigenden Bei2088 spiel für Abrüstung in Europa werden. Damit kann zugleich der schicksalhafte Übergangsprozeß in der Sowjetunion positiv beeinflußt werden. Leider setzt die Bundesregierung nach wie vor lieber auf militärische Kraftmeierei und notfalls auf Waffenanwendung und ist dabei eine der treibenden Kräfte innerhalb der NATO, eine schnelle Eingreiftruppe für brisante Bedrohungen aufzubauen. Aus der Allianz hörte man im vergangenen Jahr, daß sie sich nun von der Konfrontation zur Kooperation entwickeln wolle. Was aber beim letzten NATOGipfel beschlossen wurde, ist das genaue Gegenteil. Es ging nicht um die Stärkung der politischen Funktion, sondern einzig und allein um eine Modernisierung der militärischen Strukturen. Die angekündigte Stärkung der politischen Rolle wurde bei diesem Treffen reduziert auf die Bildung schnell verlegbarer Eingreifverbände, die, wie US-Verteidigungsminister Cheney auf der Pressekonferenz ausführte, für jede Krise vorbereitet sein müssen. Das ist kein politisches Signal zukünftiger Kooperation, das ist eine Drohgebärde. ({5}) Durch diesen Gipfel wurde nochmals mit Nachdruck deutlich, daß sich die Bundesregierung - trotz einer radikal gewandelten sicherheitspolitischen Lage in Europa - unisono mit ihren Verbündeten weiter auf Konfrontationskurs befindet, um den „neuen Risiken", wie die offizielle Sprachregelung jetzt lautet, die man vor allen Dingen an der südlichen Peripherie der NATO sieht, mutig entgegenzutreten. Dabei ist die versuchte Tarnung in der Argumentation schnell zu durchschauen. Die weiterhin als äußerst gefahrvoll an die Wand gemalten Bedrohungen dienen letztlich nur der Durchsetzung von Rüstungsprogrammen, die gern als weltweite Wahrnehmung von Verantwortung verbrämt werden. Das ist der eigentliche Hintergrund für die momentan so heftig geführte Diskussion um einen Einsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb des NATO-Vertragsgebiets. Fast 18 Jahre ist die Bundesrepublik Mitglied der Vereinten Nationen, und seit dieser Zeit wird auch immer mal über einen bundesdeutschen Beitrag zu den UN-Friedenstruppen diskutiert. Zur Zeit erleben wir unter dieser Betrachtungsweise lediglich eine neue Etappe auf dem Weg, die Bundeswehr für militärische Missionen außerhalb der Beschränkungen durch das Grundgesetz einzusetzen. Das Fatale an dieser Diskussion ist aber, daß es der Bundesregierung bei der Änderung des Grundgesetzes keineswegs um die Stärkung der UNO und deren friedenserhaltende Maßnahmen geht. Das war schon zu ihren Oppositionszeiten - und ist es auch heute - nur schmückendes Beiwerk. Es ging von Anfang an darum, bundesdeutsche Soldaten zur Durchsetzung nationaler Interessen - egal, unter welchem organisatorischen Dach - weltweit einzusetzen. Die hohe Akzeptanz der bundesdeutschen Bevölkerung gegenüber den unbestrittenen Leistungen der Vereinten Nationen - ich denke hier beispielsweise an die Verleihung des Friedensnobelpreises an die „Blauhelme" - wird ausgenutzt, um der Durchsetzung nationaler Interessen künftig auch mit militärischen Mitteln Nachdruck zu verleihen, ({6}) etwa beim Schutz deutscher Handelsschiffe auf Hoher See. Das Spannende und Interessante an der jetzigen Etappe innerhalb dieser langen Diskussion um mehr außen- und sicherheitspolitische „Normalität" ist der Salto mortale, den Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, nun vollführen müssen, nachdem Ihnen durch die Entscheidung der SPD die Möglichkeit einer Grundgesetzänderung verbaut ist. ({7}) Ich möchte Sie hier deshalb an Ihre Erklärung vom 11. Juni 1987 erinnern, als einige westeuropäische Staaten und die USA Kriegsschiffe in den PersischArabischen Golf schickten. ({8}) Sie sagten damals: Ich habe im Vorfeld deutlich erklärt: Kriegsschiffe und Soldaten in den Golf zu entsenden ist indiskutabel. Unsere Verfassung verbietet das. Mit dieser Position, die auch während der Golfkrise von Mitgliedern der Bundesregierung ausdrücklich bestätigt wurde, haben Sie sich sehr deutlich festgelegt. Will man die Regelung künftiger Konflikte nicht den Supermächten überlassen, dann gibt es zur Stärkung der Vereinten Nationen keine Alternative. Allerdings sind wir für eine bundesdeutsche Beteiligung an friedenserhaltenden Missionen der UNO nur dann, wenn es eine grundlegende Reform innerhalb der Charta der Vereinten Nationen gibt. Diese Reform ist auch jenseits der dann daraus resultierenden Folgen für die Bundesrepublik Deutschland zwingend und unbedingt erforderlich und bezieht sich in erster Linie auf die Verfaßtheit des Weltsicherheitsrates. Eine notwendige Voraussetzung für eine Beteiligung an UN- „peacekeeping operations" wäre darüber hinaus die völkerrechtlich verbindliche Zuordnung friedenserhaltender Maßnahmen der UNO zum Kapitel VI der Charta. Dort müssen die Verfahrensmodalitäten eindeutig und unmißverständlich präzisiert werden. Erst dann steht einem Einsatz von Einheiten der Bundeswehr für friedenserhaltende Maßnahmen der Vereinten Nationen aus unserer Sicht nichts mehr im Weg. Ein weitergehender Einsatz der Bundeswehr, z. B. im Rahmen einer westeuropäischen Eingreiftruppe der WEU oder EG oder im Rahmen von Out-of-area-Einsätzen der NATO, ist für uns völlig indiskutabel und wird deshalb entschieden abgelehnt. Für unumgänglich halten wir dagegen die Aufnahme neuer Grundrechte für Bürger in die Verfassung. Dazu gehört das Recht aller Bürgerinnen und Bürger auf eine soziale Grundsicherung, d. h. auf ein Mindesteinkommen und eine angemessene Wohnung. Dazu gehören das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und seine verfahrensrechtliche Absicherung durch den Anspruch aller Menschen auf Einsicht in die über sie erhobenen Daten. Dem steht die Begehrlichkeit des Verfassungsschutzes nach weiterer und legalisierter Nutzung der StasiOpfer-Akten gegenüber. Überhaupt sind auch im Bereich des Ministeriums des Innern mehrere Grundsatzentscheidungen falsch getroffen worden. Insgesamt sind die Aufwendungen für innere Sicherheit erheblich gesteigert worden. Das dürfte mit der Erwartung eines sozial heißen Herbstes in Zusammenhang stehen. Oder, wie der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei vor ca. vier Wochen sinngemäß sagte: Vorkehrungen für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit bzw. gegen Unruhen sind zugleich Standortwerbung und Vorbedingung für die in den neuen Bundesländern benötigten Investoren. Trotzdem sind die Aufwendungen für den Ausbau der Bereitschaftspolizei in Deutschland durch Bundesinteresse nicht mehr zu rechtfertigen und verstoßen darüber hinaus gegen Finanz- und Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes. Wir haben deshalb einen entsprechenden Änderungsantrag vorgelegt. Mehr Geld und Personal wären dagegen nötig für die schnelle Durchsicht, Aufarbeitung und öffentliche Darstellung der Stasi-Aktenbestände und die Offenlegung der Stasi-Strukturen. Wir brauchen auch dringend unbürokratische Regelungen für die Anerkennung von Stasi-Opfern und Geschädigten des DDR-Systems. Wir brauchen eine endgültige, befriedigende Regelung für die Entschädigung dieser Opfer. Der immer wieder zitierte Ausspruch des Justizministers Kinkel, es dürften keine unerfüllbaren Hoffnungen geweckt werden, ist eine erneute Demütigung für die betroffenen Menschen. Im Augenblick ist nicht einmal gewährleistet, daß der gerichtlichen Festlegung, daß der Staatshaushalt die Kosten eines Rehabilitierungsverfahrens trägt, auch entsprochen wird. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß es vorkommt, daß Rehabilitierungsverfahren aus eigener Tasche bezahlt werden mußten. Aber wie viele der Opfer, von denen es vielen materiell sehr schlecht geht, können sich das leisten? Nicht um behaupteten unerfüllbaren Erwartungen zu genügen, sondern um den schwer benachteiligten Opfern des DDR-Regimes endlich zu fairen Lebenschancen zu verhelfen, sollte eine Grundsatzentscheidung getroffen werden. ({9}) - Vielleicht können Sie wenigstens jetzt mal zuhören. ({10}) - Sie haben ja sonst immer so viele Worte für die Opfer übrig, aber offenbar haben Sie kein Gehör dafür. ({11}) ({12}) Die Bundesregierung hat seinerzeit das HoneckerRegime mit Milliardenkrediten unterstützt und damit länger als nötig am Leben erhalten und damit indirekt zum Leiden der Opfer beigetragen. ({13})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Pfeffermann, Sie haben zur Zeit nicht das Wort. ({0})

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir halten es deshalb aus Gründen der politisch-moralischen Hygiene und des verantwortlichen Umgangs mit den Fehlern der Vergangenheit für unumgänglich notwendig, daß für die Entschädigung der Opfer ein Bleichhoher Beitrag zur Verfügung gestellt wird, wie man ihn seinerzeit für das Honecker-Regime übrig hatte. Damit könnten alle berechtigten Erwartungen der Opfer erfüllt werden. Neben der Erhaltung des Friedens ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen eine Aufgabe von existentieller Bedeutung. Wir treten deshalb dafür ein, daß in der Verfassung die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Umwelt als Lebensgrundlage zukünftiger Generationen und die Natur um ihrer selbst willen zu schützen, festgeschrieben werden muß. Die Welt darf nicht länger nur Fabrikationsmaterial für die Gewinnproduktion sein. Statt des gegenwärtigen Anthropozentrismus ({0}) brauchen wir jene Schöpfungsbezogenheit, wie sie im konziliaren Prozeß der Kirchen gefordert ist. Wir brauchen eine verfahrensrechtliche Absicherung durch Klage- und Akteneinsichtsrecht für Umweltschutzverbände. Ein ökologischer Rat sollte gebildet werden und bei der Gesetzgebung mitwirken. Bund, Länder und Gemeinden sollten verpflichtet werden, die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen im Rahmen des ökologisch Verträglichen zu fördern. Im Bereich der Umweltsanierung könnten Hunderttausende von Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren geschaffen werden, um die schlimmsten Altlasten zu beseitigen, um die Luftreinigung voranzutreiben und um die Gewässersanierung zu bewältigen. Die paar Pilotprojekte des Herrn Töpfer machen den Kohl nicht fett. Es bringt mehr Umweltschutz und mehr sinnvolle Arbeit bei gleichem Investitionsvolumen, wenn statt auf Atomkraftwerke auf Energiesparen und emeuer2090 bare Energiequellen gesetzt wird. Es ist umweltfreundlicher und schafft mehr sinnvolle Arbeitsplätze, wenn auf den Vorrang des Schienenverkehrs und auf den Ausbau vorhandener Landstraßen gesetzt wird statt auf den arbeitskräftearmen Autobahnbau, den Herr Krause mit der Brechstange vorantreiben will. Es ist umweltfreundlicher und schafft mehr sinnvolle Arbeit, wenn Lebensmittel naturnah angebaut und in kleinen Netzen vermarktet werden. Doch dazu bedarf es ausreichender Investitionshilfen für Agrarbetriebe. Es ist umweltfreundlicher und schafft sinnvolle Arbeitsplätze, Elektromobile zu bauen, statt auf die alten Benzinkutschen zu setzen. Hierfür braucht man gezielte Zukunftsinvestitionsprogramme. In solche Programme sollten Bundesförderungsmittel investiert werden und nicht z. B. in Kaligruben, die für die Aufnahme von Giftmüll vorbereitet werden sollen. Bei einem Hearing am vergangenen Wochenende in Thüringen wurde bekannt, daß bereits Bundesfördermittel in Millionenhöhe in Gruben geflossen sind, obwohl die erforderlichen Planfeststellungsverfahren noch gar nicht abgeschlossen waren. Bekanntlich ist die Giftmüllentsorgung fest in privater Hand. Von den Gewinnen, die durch die geplante Giftmüllverbringung in Kaligruben gemacht werden - bekanntlich sind die Gewinnspannen solcher Firmen mit denen des Drogenhandels vergleichbar -, werden die betreffenden Bundesländer, in denen sich die Gruben befinden, keinen Pfennig zu sehen bekommen. Es werden also Bundesfördermittel eingesetzt, um die private Gewinnmaximierung zu begünstigen. Unter Aufschwung Ost hatten wir uns etwas anderes vorgestellt. Als ob das nicht schon Skandal genug wäre, stellte sich auch noch heraus, daß sämtliche bekannten Giftabfälle, außer radioaktiven, unterschiedslos eingelagert werden sollen, obwohl sich nach Expertenmeinung nur etwa ein halbes Dutzend für die Lagerung in Salzstöcken eignen. Das Argument, mit dem bei der Bevölkerung eine Akzeptanz für Giftmülleinlagerungen erzielt werden soll, ist, daß Arbeitsplätze geschaffen würden. In meiner Heimatstadt Sondershausen, wo über 1 000 Kalikumpel arbeitslos werden, wären es genau 19 Arbeitsplätze pro Schicht. Das ist weniger als der bekannte Tropfen auf den heißen Stein. Gleichzeitig würden aber Hunderte potentieller Arbeitsplätze in der Tourismusbranche gar nicht erst entstehen können; denn wer will schon auf einer Giftmüllkippe Urlaub machen, und wenn die Gegend noch so schön ist? Die Landschaft, von der ich gerade spreche und die durch Giftmülleinlagerungen bedroht ist, ist eine der artenreichsten Deutschlands. Die Gipskarstgebiete der Gegend erfüllen alle Kriterien eines UNO-Biosphärenreservats. Sie hätten deshalb gute Chancen, in die UNO-Liste aufgenommen zu werden. Leider sind sie durch die Begehrlichkeiten der Gipsindustrie bedroht, die sich die zweifelhaften Bergbauschutzgesetze der alten DDR zunutze machen will. Statt eines Biosphärenreservats würde dort dann eine Tagebaulandschaft entstehen, die sich von der Bitterfelder nur dadurch unterscheidet, daß sie weiß ist und über Giftmüll liegt. Das wäre das Gegenteil eines blühenden Landes, wie es uns bei der Wahl versprochen wurde. Wer möchte in einem Land mit solchen Perspektiven leben? Tatsächlich nehmen die rechtsradikalen Tendenzen gerade in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt zu. Täglich werden im vereinten Deutschland Asylbewerber und Einwanderer von rechtsradikalen Gruppen angegriffen. Die Fremdenfeindlichkeit gegen die Asylbewerber und Einwanderer hat derartige Ausmaße angenommen, daß die Asylbewerber und Einwanderer um ihre Sicherheit fürchten müssen. Die Fluchtbewegungen in der Welt nehmen zu und werden auch Europa zunehmend erreichen. Die Ursachen sind vielfältig. Doch Hauptursachen bleiben die Unterdrückung und Verfolgung von Menschen - durch Haft, Folter und Morddrohung - aus politischen, wirtschaftlichen und religiösen Gründen bis hin zu Krieg und Bürgerkrieg. Und an allen Fluchtursachen ist die Bundesrepublik Deutschland als eines der bedeutendsten Industrieländer indirekt beteiligt. In dieser Situation ist es erforderlich, durch radikale rechtliche Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen allen nationalistischen und rassistischen Bestrebungen die politisch-juristische Legitimation zu entziehen. Die Verweigerung demokratischer Grundrechte für einen Teil der Bevölkerung schadet der Demokratie insgesamt. Der Ausschluß von fast 5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern vom Wahlrecht bedeutet, daß unsere Parlamente nicht mehr repräsentativ sind. In einer neuen deutschen Verfassung müßten deshalb alle Grundrechte, die bisher nur deutschen Staatsangehörigen zustehen, allen Bürgerinnen und Bürgern gewährt werden, die seit mindestens fünf Jahren legal in Deutschland leben. Die sehr begrenzte Redezeit unserer Gruppe erlaubt es nicht, alle Probleme umfassend darzustellen. ({1}) Wer auf die Dramatik der Situation in den neuen Bundesländern hinweist, begibt sich in Gefahr, der Miesmacherei beschuldigt zu werden. ({2}) Dabei ist es bei aller berechtigten Freude über Teilerfolge geboten, den Ernst der Lage zu erkennen. Die Selbstmordrate ist auf dem Gebiet der ehemaligen DDR auf das Zehnfache gestiegen. Dafür ist die ehemals hohe Zahl der Geburten unter die in der ehemaligen BRD gesunken. Diese Tatsachen sprechen eine eigene Sprache. Stellen Sie sich vor, Herr Bundeskanzler, Sie wären ein Ossi: Ihr Sparguthaben nach langjähriger Arbeit wäre vor einem Jahr halbiert worden, Sie stünden nun ohne Arbeitsplatz da, aber dafür müßten Sie einen Wohngeldantrag stellen, um Ihre Miete noch bezahlen zu können. Die Politik des Anschlusses, die Sie, Herr Bundeskanzler, betrieben haben, ist gescheitert. Sie sollten den Mut haben, sich dafür bei den Menschen im Osten zu entschuldigen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte vorab eine Bemerkung an die Adresse meiner geschätzten Vorrednerin machen. Ich bin ja daran gewöhnt, für alles verantwortlich gemacht zu werden. Ich bin nun aber wirklich nicht bereit, auch noch die Verantwortung für das Absinken der Geburtenrate in den neuen Bundesländern zu übernehmen, ({0}) zumal ich noch gar nicht weiß, wie Sie das - ({1}) - Sehen Sie, es ist sehr typisch für Sie, gnädige Frau, daß Sie es nie abwarten können. ({2}) Die deutsche Einheit ist am 3. Oktober 1990 vollendet worden. Jetzt schreiben wir, wenn ich mich richtig erinnere, Anfang Juni. Wie kommen Sie da eigentlich auf die neun Monate? ({3}) Sehen Sie, diese Äußerung war leider ziemlich symptomatisch für das, was Sie insgesamt gesagt haben. ({4}) Meine Damen und Herren, die Haushaltsdebatte und die Beratungen des Etats des Bundeskanzleramtes sind traditionell Grundlage für eine Generalaussprache. Es ist die verständlichste Sache der Welt, daß hier Kritik geübt wird und Meinungen auseinandergehen. Es ist auch ganz selbstverständlich - ich selbst habe diese Rolle über viele Jahre hinweg wahrgenommen -, daß die Opposition Kritik übt. Die heutige Haushaltsdebatte war aber Anlaß zu einem ungewöhnlichen Einstand. Der gerade neu gewählte Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Herr Ministerpräsident Engholm, hat hier gesprochen. Ich nehme zunächst einmal die Gelegenheit wahr, Herr Ministerpräsident, Ihnen zu Ihrer Wahl zu gratulieren. Da ich jetzt 18 Jahre Parteivorsitzender einer anderen großen Volkspartei bin, habe ich eine Vorstellung davon, was auf Sie zukommt. Deshalb gratuliere ich Ihnen um so herzlicher. ({5}) Als Sie sprachen - lassen Sie mich das ganz entspannt sagen -, habe ich mich an meine erste Rede nach meiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Jahre 1973 erinnert. ({6}) - Nein, ich bin da vorsichtiger. - Wenn ich sie so im nachhinein lese, dann muß ich sagen, daß ich sie für genauso wenig geglückt halte wie Ihre heutige Rede. ({7}) Herr Ministerpräsident, da Sie ja so gerne im Bereich der Literatur und der Philosophie Ausschau halten, hoffe ich für Sie zusammen mit meinem Landsmann Ernst Bloch nach dem „Prinzip Hoffnung" auf gute Auftritte hier im Bundestag. Was ich aber bedauere - das ist ein Anspruch, den man an den neugewählten Parteivorsitzenden der SPD stellen kann - , ist, daß Sie keine Antworten gegeben haben, ({8}) und zwar auf die konkreten Fragen der Politik, und daß Sie eine Begründung Ihrer ganz persönlichen Politik in den letzten Jahren unterlassen haben. Sie sind ja schon seit Jahren an verantwortlicher Stelle in unserer Bundesrepublik tätig. Ich habe von Ihnen z. B. nichts zum Thema Abrüstung gehört. Volker Rühe und auch Graf Lambsdorff haben das mit Recht hier schon gerügt. Über viele Jahre hinweg hat die Sozialdemokratische Partei Deutschlands die Abrüstung zu einem zentralen Thema ihrer Politik gemacht. Hier im Deutschen Bundestag haben wir nach meiner Wahl zum Kanzler am 1. Oktober 1982 große Redeschlachten um den richtigen Weg gehabt. Als ich Ihnen damals zurief „Wir wollen Frieden schaffen mit weniger Waffen", haben Sie uns mit einer schlimmen Hetze in bezug auf Kriegsgefahr und anderes überzogen. Nun, meine Damen und Herren, wir haben Wort gehalten. ({9}) Sie sprechen so gerne von Wahrhaftigkeit. Das ist ein Punkt, bei dem Sie uns die Antwort auf die Frage schulden, warum Sie damals von Kriegsgefahr gesprochen haben und damit billige Geschäfte bei den Wählern machen wollten. Es gehört zu diesem Bild - das will ich hinzufügen - , daß Sie auch über die politischen Folgekosten dieser so überaus erfolgreichen Abrüstungspolitik, die uns jetzt zu schaffen machen, ein Wort hätten sagen können. Ich muß das schon bemerkenswert finden, was ich täglich in meiner Post zu lesen bekomme, nämlich wer sich jetzt alles über den Abzug der Amerikaner oder der Franzosen und den Abbau von Bundeswehrstandorten bitter beschwert. ({10}) Ich habe niemals „Ami go home" gerufen; ich habe mich nicht an jener Verfemung unserer amerikanischen Freunde während des Vietnam-Kriegs und in der Zeit danach beteiligt. Es ist schon erstaunlich, welche Widersprüche einem heute zugemutet werden, wenn es um den Abzug oder den Abbau von Truppen und die Probleme geht, die damit natürlich vor Ort entstehen. Ich spreche ein zweites an. Ich behaupte, daß es in den langen Jahren der Bundesrepublik - ich spreche keinem meiner Vorgänger in irgendeiner Weise seinen Willen und seine Tatkraft ab - niemals bessere Beziehungen zu den wichtigsten Partnern Deutschlands - den USA, Frankreich und Großbritannien - und zur Sowjetunion gegeben hat als heute. ({11}) Dies ist ein Erfolg dieser Bundesregierung. Ich bin stolz darauf, daß ich dazu beitragen konnte. ({12}) Drittens. Ich bin schon sehr erstaunt, Herr Ministerpräsident, über das, was Sie hier über die europäische Integrationspolitik gesagt haben. Alles das, was Sie verlangen, ist doch längst im Gange. Als ich mein Amt antrat, war das Wort von der „Eurosklerose" das meistgenannte Wort mit Blick auf Europa. Der Begriff einer schlimmen Krankheit war mit dem Begriff Europa verbunden. Heute weiß jeder: Der große Markt kommt am 31. Dezember 1992. Heute wissen wir - das wissen übrigens alle, auch Ihre politischen Freunde im Europäischen Parlament - , daß die Bundesrepublik Deutschland und die Bundesregierung die treibende Kraft bei der europäischen Integration sind und daß François Mitterrand und ich gemeinsam immer wieder die Initiative ergriffen haben, um als Motor der europäischen Einigung zu wirken: bei der Wirtschafts- und Währungsunion und bei der Politischen Union. Warum sagen Sie nicht ganz einfach: Dies ist ein Feld der Politik, bei dem wir übereinstimmen, und dabei unterstützen wir Sie? Ich habe bisher keine besseren Vorschläge von Ihrer Seite gehört. ({13}) Sie haben auch die Erhaltung der Schöpfung angesprochen. Nun, Herr Ministerpräsident, was haben Sie während der Regierungszeit der SPD zum Erhalt der Regenwälder getan? Der Raubbau an den Regenwäldern fand auch schon vor 1982 statt. Es war diese Bundesregierung, die beispielsweise eine Verbindung zwischen Schuldenerlaß an Länder der Dritten Welt und dem Erhalt der Regenwälder hergestellt hat. Wir haben gestern gemeinsam ein nationales Komitee zur Vorbereitung der großen Umweltkonferenz der Vereinten Nationen im nächsten Jahr gegründet. Ich hatte den Eindruck - ich war bei der Eröffnung dabei -, daß auch die Kollegen aus der SPD, die daran teilnahmen, das alles durchaus für vernünftig hielten. Ich bin dafür, daß wir auch hier ein Stück Gemeinsamkeit entwickeln. Ich komme jetzt zum Thema deutsche Einheit. Wenn ich an manche Äußerung, die auch auf Ihrem Parteitag gemacht wurde, denke - ich meine jetzt nicht Sie persönlich, sondern andere - , dann frage ich mich gelegentlich: Wo war ich eigentlich 1990? Wie Sie die Geschichte jetzt umzuschreiben versuchen, hat mit der Wirklichkeit von damals nichts zu tun. Wo war die deutsche Sozialdemokratie, als wir Ende 1989 über mein Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit diskutiert haben, das international von vielen als das richtige Konzept zum richtigen Zeitpunkt erkannt wurde? Nach einem Moment der Zustimmung sind Sie doch davon abgerückt; Sie haben dann so weitergemacht. Wissen Sie, Herr Ministerpräsident, wo Sie als Sozialdemokraten an jenem 10. November abends in Berlin standen, als Herr Momper das aussprach, was die allermeisten bei Ihnen gedacht haben, nämlich daß es um „Wiedersehen" gehe und nicht um Wiedervereinigung? ({14}) Deswegen, Herr Ministerpräsident, bin ich nicht bereit, Kritik von einer Seite hinzunehmen, die zunächst allen Grund zur Selbstkritik hätte. Daß wir nicht alles optimal gemacht haben, daß wir Fehler gemacht haben, daß in den dramatischen Entwicklungen dieser fünf Vierteljahre manches zu kurz gekommen ist, weil zuwenig Zeit zum Nachdenken und zur Bedachtsamkeit vorhanden war, räume ich Ihnen gerne ein. Es hätte Ihnen jedoch gut angestanden, zu sagen, daß es eben nur ein paar Wochen waren, in denen die deutsche Einheit international durchsetzbar war. Diese Chance haben wir genutzt; das ist doch die Wahrheit. ({15}) Herr Ministerpräsident, ich komme auf das - jedenfalls für mich - wichtigste Thema, nämlich die Entwicklung der neuen Bundesländer, gleich noch einmal eingehend zurück. In bezug auf das, was Sie auch im Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung der alten Bundesländer, der bisherigen Bundesrepublik gesagt haben, verstehe ich eines überhaupt nicht: Wie können Sie hier als Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes ans Pult treten und sagen, daß uns die industriepolitische Perspektive fehle? Meine Damen und Herren, wie präsentiert sich denn die alte Bundesrepublik eigentlich am heutigen Tag? Seit 1983 haben wir einen kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufstieg. Es gibt kein vergleichbares Land - vielleicht von der Schweiz abgesehen - , in dem ein Regierungschef das gleiche von seinem Land sagen kann. ({16}) Wir haben Jahr für Jahr eine Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts gehabt, im letzten Jahr den Rekordwert von 4,5 % - natürlich nicht zuletzt und vor allem wegen der deutschen Einheit. Wir hätten diese 4,5 % nicht erreicht ohne den Prozeß der deutschen Einheit und den Boom, der auch dadurch in der westdeutschen Wirtschaft entstanden ist. Wir haben jetzt allen Unkenrufen zum Trotz - ich behaupte nicht, daß das die Zahl für das ganze Jahr 1991 ist - im ersten Quartal 1991 immerhin gut 4 % Zuwachsrate beim Bruttosozialprodukt. Jacques Delors, mit dem ich gerade gestern darüber sprach, sagt ja auch, daß alle in der EG einen großen Nutzen davon haben. Frankreich hat im ersten Vierteljahr dieses Jahres im Export nach Deutschland eine Steigerung von 20 % zu verzeichnen. Das heißt doch, daß die deutsche Wirtschaft durch die Wiedervereinigung, aber auch durch die ökonomische LeistungsBundeskanzler Dr. Helmut Kohl kraft in der alten Bundesrepublik eine Entwicklung vorzuweisen hat, die auch unseren EG-Partnern sehr zugute kommt. Warum sollen wir denn jetzt eigentlich wieder solche Ladenhüter hervorziehen, Herr Ministerpräsident, als sei irgend jemand in der Koalition der Meinung - hier muß ich ausdrücklich auch den Grafen Lambsdorff verteidigen und in Schutz nehmen - , daß Marktwirtschaft - wir reden hier übrigens nicht von Marktwirtschaft, sondern von Sozialer Marktwirtschaft ({17}) bedeute, wir würden uns sozusagen als Staat - wir alle, die wir den Staat repräsentieren - in unseren jeweiligen Funktionen zurücklehnen und uns um überhaupt nichts kümmern? Das ist doch eine absurde Vorstellung. Ludwig Erhard würde sich im Grab herumdrehen, wenn das unsere Politik wäre. Die Infrastruktur gehört dazu. Meine Vorrednerin hat den Kollegen Krause soeben wegen der Verkehrsentwicklung in den neuen Bundesländern kritisiert. Ja, wenn Sie die Bahn- und die Autobahn- und die Kanalverbindungen nicht in Ordnung bringen, dann werden Sie dort keinen industriellen Aufschwung haben. Das muß doch der Staat leisten! ({18}) Verehrter Herr Ministerpräsident Engholm, ich weiß nicht, warum Sie Margaret Thatcher und Ronald Reagan mit ihrer Wirtschaftspolitik hier in die Debatte eingeführt haben. Das war für mich nie ein Vorbild. Ich bin allerdings auch durch meinen kurzen Vaternamen davor geschützt, daß daraus ein Ismus gemacht wird. ({19}) Ich kann also nur sagen: Wir haben immer Politik der Sozialen Marktwirtschaft gemacht. Das ist Politik zugunsten breiter mittelständischer Schichten. Das ist Politik für die Arbeitnehmerschaft. Wir sind jetzt dabei, etwa in bezug auf die neu entstehenden Betriebe, auf die Idee zurückzukommen - sie wurde in den letzten dreißig Jahren leider nicht hinreichend konkretisiert - , daß sich möglichst viele Betriebsangehörige an dem jeweiligen Unternehmen beteiligen können. Es gibt jetzt doch interessante Diskussionen zu diesem Punkt, aus denen wir auch praktische Konsequenzen ziehen wollen. ({20}) Wenn ich das richtig sehe, sind wir, was weite Teile der Gewerkschaften und übrigens, so glaube ich, auch Ihrer eigenen Partei angeht, gar nicht so weit auseinander. Es gibt doch vieles, was man miteinander besprechen könnte. Das Ergebnis unserer Industriepolitik konnten Sie doch gestern mit mir gemeinsam in der Paulskirche sehen. Sie sahen dort eine selbstbewußte Gewerkschaft, eine der großen Gewerkschaften der Welt. ({21}) - Das will ich gleich begründen, Verehrter. Daß diese Gewerkschaft so selbstbewußt sein kann, verdankt sie doch auch der Tatsache, daß sie für ihre Mitglieder - das ist gestern ja hinreichend gerühmt worden - viel tun konnte. Sie konnte für ihre Mitglieder solche Tarifverträge durchsetzen, weil die Wirtschaft unseres Landes enorme Möglichkeiten bot. ({22}) Herr Abgeordneter, der Sie gerade den Zwischenruf gemacht haben, wenn Sie Ihre engere Heimat und eines der großen Automobilwerke, das dort steht, das dort Niederlassungen hat, betrachten, dann wissen Sie doch: Tarifverträge dieser Art mit solchen Erfolgen für den einzelnen Arbeitnehmer kann man nur abschließen, wenn sich die Wirtschaft in einer glänzenden Verfassung befindet. Das hat mit unserer Politik sehr viel zu tun! ({23}) Ich nenne noch einen weiteren Punkt: Preisstabilität. Ich finde, wir - wenn ich das sage, dann meine ich doch nicht nur die Bundesregierung, sondern alle Teile unserer Gesellschaft - haben hier in den letzten Jahren Beachtliches dazu leisten können, daß die D-Mark so stabil ist. Wenn in der Diskussion über eine europäische Währung einige unserer Partner mit leichter Häme sagen: „Wir haben ja eigentlich schon eine europäische Währung! ", dann hat das doch etwas mit der Stabilität unserer D-Mark zu tun. Ich könnte die Liste der Beispiele beliebig fortsetzen. Ich will nur sagen: Ich habe viel Verständnis für Kritik, aber ich hätte es schon begrüßt, wenn Sie wirkliche Alternativen vorgetragen hätten, beispielsweise zur Industriepolitik. Wir haben in Hamburg gerade die Zeche für eine großartige Politik bezahlt, die wir im Bund gemacht haben, die aber der Hamburger Senat für sich in Anspruch genommen hat. Die Wirtschaft dort boomt doch nicht auf Grund der Leistung des Hamburger Senats. ({24}) Daß der Hamburger Hafen in Nordeuropa wieder eine Perspektive hat, daß es in der Nachbarschaft jetzt keinen Schießbefehl und keinen Stacheldraht mehr gibt, sondern die alte Verbindung nach Mecklenburg-Vorpommern wieder da ist, daß beispielsweise die Entwicklung in der EG auch Hamburg enorme Vorteile gebracht hat und noch mehr bringen wird, das ist doch das Ergebnis unserer Politik. Ich muß in Kauf nehmen - das weiß ich; lassen Sie mich das einmal ganz offen sagen, auch wenn es immer wieder eine schmerzliche Erkenntnis ist - , daß diese Erfolge erst langsam und nicht über Nacht anerkannt werden und daß Sie in der Zwischenzeit daraus natürlich auch politisch Honig saugen können. Nur, das habe ich als Parteivorsitzender nach 1973 auch lange geglaubt, und dann hat es immerhin noch neun Jahre gedauert, Herr Kollege. Deshalb betrachte ich dies mit großer Gelassenheit. ({25}) Der Haushaltsentwurf, der jetzt zur Beratung ansteht, dokumentiert die Verantwortung Deutschlands für die Herstellung seiner inneren Einheit, für die Schaffung des vereinten Europas und die Sicherung des Friedens in der Welt. Es ist hier mit Recht gesagt worden - ich denke, das ist ein Stück gelebter Gemeinsamkeit -, daß wir gemeinsam das Ziel haben, gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu schaffen. Jeder hier im Saale weiß wohl, daß es gewaltige Schwierigkeiten auf diesem Wege gibt. Ich glaube auch, wir sollten uns nicht gegenseitig vorhalten, daß der eine mehr und der andere weniger von den Sorgen und Ängsten der Menschen versteht. Herr Abgeordneter Gysi, Sie zeigten sich vorhin leicht indigniert über die Reaktion einiger Kollegen aus den neuen Bundesländern hier im Saale, vor allem aus meiner Fraktion, aber auch aus anderen Fraktionen. Wundert Sie das wirklich, wenn Sie hier so auftreten, wie Sie es tun? Sie sind einfach nicht dazu berufen, für die Menschen in den neuen Bundesländern zu sprechen. ({26}) - Natürlich haben Sie wie jeder andere, der in freier, geheimer und direkter Wahl gewählt ist, das Recht, hier zu sein und zu sprechen. Aber Sie sollten nicht so tun, als seien Sie der Fürsprecher der Interessen der Menschen in den neuen Bundesländern. Dieser Unterschied ist hier schon zu machen. Dazu sind Sie nicht in der Lage. ({27}) Wir alle wissen um die Sorgen und Ängste der Menschen um ihre Arbeitsplätze, Wohnungen und die Probleme des Alltages. Vor allem wer aus dem Westen kommt, muß begreifen, was es heißt und was es nach den Erfahrungen von Jahrzehnten kommunistischer Ditaktur für eine persönliche Herausforderung ist, sich in einer völlig anderes gearteten Gesellschafts- und Rechtsordnung, in einem freiheitlichen Rechtsstaat einzuleben. Die Menschen in den westlichen Bundesländern - ich sage das auch für mich persönlich - hatten das Glück, in einem freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat zu leben. Unsere Landsleute lebten Jahrzehnte in Unfreiheit. Die Älteren unter ihnen, die Alten, haben dies auch noch in der Zeit der Nazibarbarei erleben müssen. 40 Jahre Unfreiheit - das heißt ja beispielsweise 40 Jahre Stasi-Herrschaft. Wie sich diese Krake in das Leben und die Existenz des einzelnen eingefressen hat, erkennt man bei den täglichen Gesprächen. Man erkennt auch, welche Wirkungen das in den politischen Parteien hat und was es bedeutet, wenn gefragt wird: „Warst du damals schon dabei? Wie war deine Rolle?" Wir haben nach 1945 eine Entnazifizierung erlebt. Auch das war ganz gewiß eine schwierige Periode unserer Geschichte. Aber es ging nur um zwölf Jahre, und viele Weitsichtige hatten spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Perspektive vor sich gesehen: Dieser Krieg geht nicht gut aus, und die Nazizeit geht zu Ende. Das konnte noch vor drei oder vier Jahren in der früheren DDR so niemand voraussagen. Deswegen, finde ich, sollten wir hier auch Verständnis haben und aufeinander zugehen. Es ist auch ganz falsch, wenn in den westlichen Bundesländern manche so reden und denken, als hätten unsere Landsleute in den neuen Bundesländern die deutsche Einheit nur erstrebt, um möglichst schnell den Wohlstand genießen zu können. Das haben manche sogenannte Intellektuelle im letzten Jahr schon an Wahlabenden den Menschen klarzumachen versucht. ({28}) Das waren jene Zyniker, die vorgeben, für Menschen zu reden, aber gar nicht fähig sind, sich in deren Lage hineinzuversetzen. Die Menschen wollten Freiheit, sie wollten „Einigkeit und Recht und Freiheit" als ein Stück ersehnter Erfüllung ihrer eigenen Hoffnungen. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben mit der friedlichen Revolution 1989 eines der besten Kapitel deutscher Geschichte geschrieben. Seit fast 60 Jahren kannten sie nur das Unrecht und den Ungeist der Diktatur. Was ich für alle aus dem Westen, wenn ich das so verkürzt sagen darf, für nachdenkenswert halte: Sie haben sich trotz dieser Zeitspanne gleichwohl Sensibilität für Gerechtigkeit und Menschlichkeit bewahrt, vielleicht sogar mehr als manche in der Wohlstandsgesellschaft der bisherigen Bundesrepublik. Ich glaube, jetzt ist es wichtig, daß das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das wir uns als Nation in den Jahrzehnten der Teilung bewahrt haben, auch unseren Alltag bestimmt. Von Mitmenschlichkeit und Verständnis dürfen wir nicht nur reden, sie müssen sich praktisch bewähren. Wir müssen uns in dieser schwierigen Phase des wirtschaftlichen Umbads ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Verantwortungsbewußtsein und Sinn für das Mögliche bewahren. Nach allem, was ich sehe - sie alle haben doch ihre eigenen Erfahrungen, die ähnlich sind -, sind unsere Landsleute in den neuen Bundesländern entschlossen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Aber sie brauchen in ihrer schwierigen psychologischen Situation auch etwas Zeit, die übrigens die Bundesbürger in den Jahren der Gründung der Republik nach der Währungsreform ebenfalls hatten und in Anspruch genommen haben. Wenn ich die Arbeiter in Bitterfeld oder anderswo vor mir sehe, dann weiß ich, daß es ein Unsinn ist, wenn etwa in vielen westlichen Stammtischgesprächen gesagt wird: Die sollen erst einmal arbeiten lernen. ({29}) Als einer, der beruflich aus der chemischen Industrie kommt, der als Student dort Jahre als Arbeiter gearbeitet hat, habe ich eine Vorstellung von der Mentalität in einem solchen Betrieb. Ich kann nur sagen: Wenn ich einerseits die Ergebnisse von Buna, Leuna und Bitterfeld, die dem Weltmaßstab sicherlich nicht entsprachen und andererseits die Bedingungen betrachte, unter denen diese Ergebnisse erzielt wurden, dann kann ich von den Arbeitnehmern dort nur mit Hochachtung sprechen. ({30}) Am 21. Juni des vergangenen Jahres habe ich an dieser Stelle in der Regierungserklärung zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gesagt: Es wird harte Arbeit, auch Opfer, erfordern, bis wir Einheit und Freiheit, Wohlstand und sozialen Ausgleich für alle Deutschen verwirklichen können. Diese Feststellung bleibt richtig, der Übergang ist schwierig. Daß die Solidarität des Bundes auch und gerade - und trotz unserer gewachsenen internationalen Verantwortung - den neuen Bundesländern und den Menschen dort zugute kommt, zeigt doch der Haushalt 1991. Es ist schon gesagt worden: Jede vierte Mark auf der Ausgabenseite steht im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Aufbauwerk in den neuen Bundesländern. Wir erhöhen in nahezu allen Bereichen die Leistungen soweit möglich. Unsere Finanzpolitik erlaubt es uns, unsere Aufgaben im Inneren und nach außen zu erfüllen, und zwar ohne Überforderung der Kapitalmärkte. Ich bin dem Haushaltsausschuß ausdrücklich dankbar, daß er mit seinen Beschlüssen die Politik der Bundesregierung und vor allem auch des Bundesfinanzministers bestätigt hat. Wir müssen mit Augenmaß vorangehen; denn wir wissen um die Pflicht, unsere Währung stabil zu halten. Dies ist eine der Grundvoraussetzungen für zukünftige wirtschaftliche Wohlfahrt. Volker Rühe hat es schon gesagt - man kann es nicht oft genug erwähnen; ich sage es am heutigen Tage besonders gern, weil sich gestern der Tag gejährt hat, an dem George Marshall in der Harvard-Universität den nach ihm benannten Plan vorgeschlagen hat - : Im Jahre 1950 wurden durch die Hilfe der Amerikaner für damals über 50 Millionen Einwohner 7 Milliarden DM bereitgestellt. Nach heutigen Preisen - Volker Rühe hat es schon gesagt - wären dies immerhin 800 DM pro Einwohner. Heute geben wir für jeden der gut 16 Millionen Einwohner der neuen Bundesländer 6 100 DM aus. Daran sieht man, daß hier eine gewaltige finanzielle Anschubkraft vorhanden ist. Dies ist selbstverständlich keine Milchmädchenrechnung; vielmehr sind die heutigen Preise berücksichtigt. Ich habe nicht behauptet, daß sich diese Dinge völlig vergleichen lassen. Aber angesichts der Tatsache, daß so viele sagen, es geschehe nicht genug, will ich doch darauf hinweisen, daß bereits eine geringere Summe zum Aufbau der ursprünglichen Bundesrepublik entscheidend beigetragen hat. Hinzu kam natürlich die Leistungsbereitschaft der Menschen. Der Aufstieg der alten Bundesrepublik ist nicht vom Himmel gefallen, er ist hart erarbeitet worden. Gemeinsam müssen wir nun auch den Aufstieg der neuen Bundesländer erarbeiten. ({31}) Ich finde es nicht gut, wenn, wie dies eben wieder durch meinen Vorredner geschehen ist, die sozialen Errungenschaften, die jetzt auch den Menschen in den neuen Bundesländern zur Verfügung stehen, herabgesetzt werden. In der ursprünglichen Bundesrepublik waren alle stolz auf die soziale Tat der Einführung des Wohngeldes. Das Wohngeld ist doch nie als Almosen verstanden worden, sondern es ist verstanden worden als eine gesellschaftspolitische Notwendigkeit, die etwas mit der Lebensqualität von Menschen zu tun hat. Ich bin mir darüber im klaren, daß die von uns verwendeten Begriffe wie z. B. „Sozialhilfe" heute vielfach mißverstanden werden. Dies ist nicht nur Semantik. Ich greife bewußt das Wort „Sozialhilfe " heraus. Wir müssen wirklich einmal darüber nachdenken, ob nicht bestimmte Begriffe, die für uns so selbstverständlich geworden sind, von unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern dahin mißverstanden werden, daß womöglich der Eindruck einer sozialen Zweitrangigkeit entsteht, obwohl z. B. das Wohngeld damit überhaupt nichts zu tun hat. Diese Aufklärungsarbeit müssen wir gemeinsam leisten. Erst letzten Montag habe ich erneut eine Wirtschaftskonferenz über die Lage in den neuen Bundesländern geleitet. Hier waren Gewerkschafter, Unternehmer, Unternehmensverbände und viele andere Gruppen vertreten, und ich durfte wieder einmal erfahren, daß der Wille zur Gemeinsamkeit vorhanden ist. So werden wir beispielsweise das gerade im Sommer dieses Jahres besonders drängende Problem der Arbeitsplätze nicht lösen können, wenn wir nach althergebrachten Schablonen verfahren. - Ich streite jetzt wirklich nicht um Begriffe. Sie haben zum Teil andere Begriffe verwandt, und die Gewerkschaften haben dies auch getan. Hier geht es jedoch um die Sache, und dies heißt für mich, daß Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen, daß Qualifizierungs- und Umschulungsprogramme gemacht werden müssen. Dort, wo es noch an Unternehmen mangelt, wo es noch keine Handwerksbetriebe gibt und daher auch keine Lehrlinge ausgebildet werden können, müssen wir eben eine Übergangsregelung schaffen. Dies ergibt sich aus unserer Verantwortung für die jungen Leute, die jetzt einen Ausbildungsplatz brauchen. ({32}) Meine Damen und Herren, in diesem Jahr stehen allein 280 000 Plätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung. Außerdem können wir mit rund 7,7 Milliarden DM mehr als 500 000 Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen verwirklichen. Ich sprach von den Lehrstellen. Das, was sich jetzt abzeichnet, ist noch keineswegs die Erfüllung unserer Wünsche; aber ich muß ebenso klar sagen, daß ich aus der Besprechung am vergangenen Montag mit dem Gefühl herausgegangen bin, daß - wie damals 1984/ 85 Gewerkschaften, Unternehmer, der Deutsche Industrie- und Handelstag und die Handwerksverbände große Anstrengungen unternehmen, das Ziel zu erreichen. Ich finde es müßte eigentlich unser gemeinsamer Ehrgeiz sein, daß Ende dieses Jahres möglichst alle Schulabgänger auch Ausbildungsplätze bekommen. Das muß unser Ziel sein, und das halte ich für ganz wichtig. ({33}) Wir haben Förderbedingungen für den Aufbau in den neuen Bundesländern geschaffen, wie es sie nie zuvor gegeben hat und wie es sie, wenn ich das richtig sehe, gegenwärtig in keinem Land Europas gibt. Es gibt für private Investitionen eine Investitionszulage und Sonderabschreibungen - und damit besonders günstige Bedingungen. Ich bin ganz sicher, daß dies die Gesamtentwicklung positiv verändern wird. Ich sagte schon: Wir alle wissen, daß die Situation auf dem Arbeitsmarkt der östlichen Bundesländer in den nächsten Monaten noch schwieriger werden wird. Ich weiß, was Verlust des Arbeitsplatzes heißt, wobei viele natürlich auch wissen, daß sie nach einer Durststrecke eine große Chance haben. So erfreut ich darüber bin und so ermutigend es ist, daß seit November 1989 in den neuen Bundesländern bereits 2 Millionen neue Beschäftigungsverhältnisse eingegangen wurden - das ist ein ausgezeichnetes Ergebnis -, so müssen wir auch die Probleme derjenigen sehen, die ganz besonders betroffen sind. Vor dem jetzt 25- oder 30jährigen liegt ein weiter Lebensweg in Freiheit, in Frieden und in sozialer Sicherheit. Für den jetzt 55jährigen ist das sehr viel schwieriger. Ihm Rat zu geben ist sehr viel schwieriger; wir leisten uns ja selbst hier, in der prosperierenden Wirtschaft der alten Bundesrepublik, den Unsinn, daß in vielen Betrieben ein 55jähriger bei Neueinstellungen als zu alt gilt. ({34}) Ich bin ganz sicher, daß die jetzt verfügbaren Möglichkeiten genutzt werden. Ich will auch gerne sagen, Herr Ministerpräsident, daß die neuen Bundesländer in wenigen Jahren zu den modernsten und attraktivsten Standorten in Europa zählen werden. Es muß unser Interesse sein - auch in den westlichen Bundesländern - , daß sie möglichst so stark werden, daß auch der eine oder andere in den westlichen Bundesländern im Blick auf die Entwicklung der Zukunft dadurch gezwungen wird aufzuwachen. Auch das ist ein Stück Zukunft. ({35}) Dazu - das muß vor allem der Staat mit seinen Institutionen leisten - gehört eine neue, hochmoderne Infrastruktur mit entsprechenden Standorten. Wenn Sie sehen, was allein im Bereich der Bundespost auf diesem Weg geleistet wird, ist das so bemerkenswert, daß man das einmal deutlich sagen sollte: Bis Ende 1993 wird die Post-Telekom 1,8 Millionen neue Anschlüsse schalten. In der früheren DDR wurden in 40 Jahren gerade 1,6 Millionen Telefonanschlüsse gelegt. Diese Zahlen muß man doch einmal zur Kenntnis nehmen, bevor man in ein allgemeines Lamento ausbricht. ({36}) Bis Ende 1997 wird es in den neuen Bundesländern 9 Millionen Anschlüsse geben. Die Zahl der WestOst-Telefonverbindungen wird Ende dieses Jahres 31 000 betragen. Vor der Maueröffnung waren es 1 500; vielleicht auch aus dem Grunde, Herr Gysi, weil man 1 500 besser kontrollieren konnte als wesentlich mehr. ({37}) Wir investieren Milliardenbeträge in die neuen Verkehrswege. Gerade auf dem Feld der Verkehrsinfrastruktur ist doch die Erbschaft des SED-Regimes katastrophal. Wenn wir das nach althergebrachter bundesrepublikanischer Art machen, dann wird sich erst in acht, neun Jahren etwas bewegen. Diejenigen, die mit dem Anspruch angetreten sind, daß jetzt etwas für die Menschen geschehen muß, können doch dann, wenn Herr Bundesminister Krause hier - gemeinsam mit dem Kollegen Kinkel - eine Vorlage für ein Beschleunigungsgesetz macht, nicht geltend machen, das sei ein Eingriff in die Umwelt, ein Verstoß gegen Umweltbelange. Hier geht es doch darum, daß wir schnell handeln können. ({38}) - Herr Kollege, Ihre Zwischenrufe sind immer die gleichen, sehr laut, und zwar bewundernswert laut. ({39}) Herr Ministerpräsident, das hätte ich gern heute von Ihnen gehört. Das ist so ein Vergleich zu meiner Zeit, 1973. Sie sind jetzt hier Parteivorsitzender, und Sie sind natürlich auch Ministerpräsident. Sind Sie bereit, auch als der Mehrheitsführer im Bundesrat - wenn ich das einmal so nennen darf - zu sagen: „Jawohl, Bundesregierung, wir wollen, daß die Gesetze so schnell wie möglich durchgehen, damit sie den neuen Ländern helfen."? - Das wäre doch ein Wort gewesen! ({40}) Wir haben sehr viel für die Finanzausstattung der neuen Länder und Gemeinden getan. Daß das, was wir bisher getan haben, nicht ausreicht, ist auch ganz klar; denn das, was getan wurde, bezieht sich nur auf die Zeit bis Ende 1991. Alle Ministerpräsidenten - ich sage: alle, also solche aus der SPD wie solche aus der CDU; auch da gibt es ja bekanntlich Nuancen ({41}) haben erklärt: Das ist ausreichend. - Wir werden 1992 - der Kollege Waigel wird diese Gespräche jetzt beginnen; ich denke, in den nächsten Wochen - mit den Kollegen aus den Ländern prüfen, inwieweit hier eine ergänzende Finanzunterstützung durch den Bund und die alten Bundesländer notwendig ist. Wichtig bleibt, daß alle Beteiligten bei der Entscheidung über die Haushalte 1992 im Herbst Klarheit darüber haben, welche Finanzausstattung sie haben. Jetzt sage ich auch noch ein Wort zu dem, was Sie zu dem Punkt Gemeindefinanzen und zu den Landesfinanzen in den westlichen Ländern geäußert haben: Mir ist völlig klar, daß angesichts der dramatischen Veränderungen in Deutschland die grundsätzliche Frage der finanziellen Entwicklung aller Länder auf der Tagesordnung steht. Ich finde, bei einem vernünftigen Verhältnis von Bund, Ländern und Gemeinden ist es auch richtig, daß wir jetzt in absehbarer Zeit darüber reden. Ich weiß nicht, wie das Ergebnis sein wird, aber ich weiß, daß ein dringender Gesprächsbedarf auch auf diesem Feld besteht, wobei ich allerdings hinzufügen möchte: Was Sie, Herr Ministerpräsident, zu den Gemeindefinanzen sagen, werden Sie doch wohl im Ernst nicht halten können! - Ich will Sie jetzt wirklich nicht mit Statistik aufhalten; aber ich hatte vor etwa 14 Tagen oder drei Wochen die große Freude unter dem Vorsitz des von mir besonders geschätzten Kollegen Bernrath beim Städte- und Gemeindebund zu sein, und zwar erstmals mit Delegierten aus den neuen Bundesländern. Er hat gerühmt - sicherlich im Gegensatz zu manchen Kollegen, wenn ich etwa an den Oberbürgermeister von Stuttgart oder an den Oberbürgermeister von Hannover denke - , daß es den Gemeinden im Westen alles in allem ganz gut geht und daß jetzt Vorfahrt für die Gemeinden in den neuen Bundesländern gegeben werden muß. Und ich bleibe dabei! ({42}) Auf dem Weg zur Angleichung der Lebensverhältnisse haben wir ja auch ganz ungewöhnliche Dinge getan. Ich denke beispielsweise an die Zuweisung von 5 Milliarden DM an Landkreise und Gemeinden im Rahmen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost. Nach allem, was ich höre, greift dieses Programm ganz schnell, für die Modernisierung von Schulen, von Krankenhäusern, von Altenheimen; vieles andere wäre hier noch zu nennen. Ich höre aus Städten der ehemaligen DDR in den letzten Tagen, daß zwischen 80 % und 100 % der Mittel als Aufträge bereits vergeben sind. Ich höre auch, daß es in der einen oder anderen Gemeinde oder Stadt oder in dem einen oder anderen Landkreis nicht klappt. Auch hier warne ich die Bürger im Westen vor vorschnellen Urteilen. Es gibt auch im Westen Bürgermeister und Landräte, die länger brauchen als andere. ({43}) Deswegen halte ich von diesen pauschalen Urteilen, die wir von morgens bis abends hören, überhaupt nichts. ({44}) Meine Damen und Herren, es ist wahr - es ist ja nicht einmal ein Jahr her, seit die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion geschaffen wurde, und noch weniger Zeit seit der deutschen Einheit - , daß sich für die Menschen in den neuen Bundesländern eine neue, eine bessere Lebensperspektive abzeichnet. An dieser Tatsache ändert sich nichts, wenn ich sage, daß wir dabei eine Durststrecke zu überwinden haben. Aber weil so viel nachgekartet wird, will ich auch das einmal sagen: Es erweist sich doch jetzt, daß die Einführung der D-Mark am 1. Juli 1990 und der günstige Umtauschkurs für die Sparer der ehemaligen DDR sehr vorteilhaft waren. Im jüngsten Monatsbericht der Deutschen Bundesbank lesen wir - ich zitiere - : Die Vermögenssituation der Bevölkerung in den neuen Bundesländern kommt den Verhältnissen nahe, wie sie im Westen Deutschlands zu Beginn der siebziger Jahre geherrscht hatten. ({45}) Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit der Entwicklung in den neuen Bundesländern will ich auch ein Wort zur Treuhandanstalt sagen. Auch die Treuhandanstalt steht vor außergewöhnlichen, neuartigen Aufgaben. Natürlich werden auch dort Fehler begangen. Aber ich will ausdrücklich sagen: Ich habe Grund zu der Annahme, daß dort gute Arbeit geleistet wird ({46}) und daß man, wenn man sich die Zahlen anschaut - ich will Sie damit nicht aufhalten; aber jedem stehen sie zur Verfügung - anerkennen muß, welch große Leistung dort erbracht wird. Der Ifo-Konjunkturtest läßt bereits zwei Monate in Folge eine Verbesserung der Erwartungen in den Betrieben der neuen Bundesländer erkennen. Wir wissen: Es kommt darauf an, daß die private Investitionswelle in den neuen Ländern an Stärke und Breite gewinnt. Graf Lambsdorff, ich stimme Ihrer Bemerkung völlig zu, daß die Unternehmen in Westdeutschland, die gut verdient haben und gut verdienen, verstärkt Produktionsstätten in den neuen Bundesländern errichten sollten ({47}) und daß wir alles tun müssen, um ausländische Investoren zu gewinnen. Meine Damen und Herren, wirtschaftliche, soziale und ökologische Fragen sind dringlich. Aber ich glaube nicht - bitte, mißverstehen Sie das nicht -, daß das unser Hauptproblem ist. Ich glaube, daß wir mit jeweils unterschiedlichem Tempo die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Probleme im großen und ganzen in einer absehbaren Zeit lösen können. Die Bewältigung der ökologischen Herausforderungen wird länger dauern; das weiß jeder. Aber es wird noch viel länger dauern, bis auch die immateriellen Schäden aus der Zeit des SED-Regimes beseitigt sind. Ich denke vor allem an die schwerwiegenden Folgen, die über vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur im Leben und in den Seelen der Menschen hinterlassen haben. Die in den letzten Tagen und Wochen bekanntgewordenen Fälle der Zwangsadoption von Kindern, deren Eltern das SED-Regime ablehnten, sind ein besonders schlimmes Beispiel für die Unmenschlichkeit einer Diktatur, der zur Erhaltung ihrer Macht wahrlich jedes Mittel recht war. ({48}) Es sind in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele Wunden geschlagen worden, Wunden, die denen, die sie erlitten haben, zum Teil erst jetzt richtig bewußt werden. Ich glaube, jene - ich sage das noch einmal - , die das Glück hatten im freien Teil unseres Landes zu leben, sind vor allem nicht nur aufgerufen, sondern auch verpflichtet, unseren neuen Mitbürgern Achtung und Verständnis entgegenzubringen. ({49}) - Wissen Sie, ich bin ja damit einverstanden, daß wir im Parlament gut miteinander umgehen. Aber wenn Sie den Vorwurf gegenüber der CDU erhoben haben: Ihre eigenen Kollegen waren bei Ihrer Rede gar nicht anwesend. ({50}) Meine Damen und Herren, in den alten Bundesländern neigen nicht wenige dazu, Freiheit, Frieden und Wohlstand als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Ich wünsche mir, daß wir in Ost und West den Ansporn zur Kreativität und zum Empfindungsgeist wieder stärker verspüren, so daß wir die Chancen der Einheit auch in diesem Zusammenhang nutzen. ({51}) - Ich bin ja damit einverstanden, daß Sie mir einmal zustimmen. Ich sage das extra, damit es im Protokoll vermerkt wird. ({52}) Ich habe natürlich „Erfindungsgeist" sagen wollen. Meine Damen und Herren, es ist ein Glücksfall, daß die wirtschaftlichen Herausforderungen jetzt bewältigt werden können auf der Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung, die die ursprüngliche Bundesrepublik genommen hat. ({53}) Ich habe die Zahlen ja vorhin schon genannt. Wenn wir nicht eine boomende Wirtschaft hätten, die übrigens auch wegen der deutschen Einheit boomt, könnten wir doch das alles, was jetzt im Haushalt steht, finanziell gar nicht bewältigen. ({54}) Der Erfolg dieser jetzt beinahe neun Jahre bestehenden Bundesregierung ist das Ergebnis Sozialer Marktwirtschaft. Deswegen bin ich gegen jede Veränderung unseres Kurses. Deutschland ist heute für Investoren eine der besten Adressen in der Welt. Auch wenn von Unternehmerseite gelegentlich gesagt wird, es gebe noch bessere Adressen, lasse ich mich von dieser Auffassung nicht abbringen. Alle, die mir in ihren Reden in der Londoner City in den letzten Jahren geraten haben, die dortige Politik zu übernehmen, sind durch die Entwicklungen widerlegt worden. Ich will gern die gute Gelegenheit nutzen, bei der Frage der Stabilität der Währung besonders ein Wort des Dankes an die Deutsche Bundesbank und an den in wenigen Wochen ausscheidenden Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl zu richten, ({55}) der seine Arbeit immer mit großem persönlichem Engagement, mit dem Sinn für die Realitäten und für seine Verantwortung versehen hat. Ich habe ihm auch zu danken für eine gute Zusammenarbeit, und zwar eine Zusammenarbeit unter Partnern, die sehr wohl wissen, daß der Erfolg nur möglich ist, wenn sie sich auch gegenseitig respektieren, den Auftrag der Bundesbank genauso wie den Auftrag der Politik. Ich bin ganz sicher, daß die künftige Bundesbankführung diesen Stabilitätskurs fortsetzen wird. Meine Damen und Herren, wir erleben jetzt in den westlichen Bundesländern bei Investitionen, Einkommen und Beschäftigung Rekordwerte. Am Arbeitsmarkt dort haben wir eine Situation wie selten zuvor. Auch das, Herr Ministerpräsident Engholm, ist Ergebnis einer klugen Industriepolitik im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft. ({56}) In diesem Zusammenhang will ich ein Thema ansprechen, das in die Nähe eines Glaubenskrieges geraten ist, und ich möchte Ihnen ausdrücklich anbieten und Sie fragen, ob wir hier nicht vernünftige Gespräche führen können. Es geht mir darum - Ende 1992 haben wir den Binnenmarkt in Europa vollendet; ich bin sicher, daß noch in diesem Jahrzehnt der entscheidende Durchbruch beim Bau der Vereinigten Staaten von Europa erzielt wird, was ja auch die Wirtschafts- und Währungsunion einschließt - : Wie wird sich der Standort Deutschland künftig präsentieren? Damit bin ich bei den Unternehmensteuern. Was können wir tun, um konkurrenzfähig zu sein, um den Standort Deutschland noch investitions- und beschäftigungsfreundlicher zu gestalten? Dabei geht es immer auch um vorhandene und um neue Arbeitsplätze. Das gilt natürlich auch schon für die neuen Bundesländer. Deswegen haben wir in der Koalition vereinbart, daß die Unternehmensteuerreform zu den zentralen Vorhaben dieser Legislaturperiode gehört. Meine Damen und Herren: Den Streit hierüber verstehe ich deswegen nicht, weil ich bisher noch niemanden gefunden habe, der die Richtigkeit einer solchen Politik - über Einzelheiten kann man natürlich streiten - grundsätzlich in Frage stellt; denn wenn Sie nach Spanien blicken - oder nach Frankreich oder Großbritannien -, dann sehen Sie: Überall richtet man sich auf den europäischen Binnenmarkt ein, überall macht man sich fit dafür. Auch wir müssen fit sein für Europa. Wir müssen doch pragmatisch überlegen - sehen Sie, Herr Ministerpräsident Engholm: das ist ein Thema, bei dem man darüber nachdenken kann, inwieweit man zusammenwirkt -, wie wir eine Unternehmensbesteuerung sicherstellen, die den Standort Deutschland stabil, konkurrenzfähig erhält, aber gleichzeitig - das eine gehört unlöslich zum anderen - beispielsweise die Finanzautonomie der Gemeinden nicht schmälert. Mit mir ist auf diesem Gebiet nichts zu machen, was die Städte, Gemeinden oder auch Landkreise finanziell entmündigen würde. ({57}) Ich habe das in den vergangenen Monaten oft genug gesagt. Wir brauchen nicht nur bei bestimmten Festtagen die Stein'schen Reformen zu preisen. Wer den Gemeinden die Finanzhoheit nimmt, wer sie - ich sage es einmal salopp - an den Tropf des jeweiligen Landesfinanzministeriums hängt, der zerstört die Gemeindestruktur Deutschlands. Das wollen wir nicht. ({58}) Das heißt, ganz einfach gesagt: Wir brauchen in diesem Bereich eine Steuerstruktur, die zweierlei bewirkt: Zum einen müssen die Ratsfraktionen, der Bürgermeister, Oberbürgermeister oder Landrat für die örtliche Wirtschaft und das Gewerbe aufgeschlossen sein, und zum anderen muß dem örtlichen Gewerbe am Wohlergehen von Stadt, Gemeinde oder Landkreis gelegen sein. Es gibt hierzu doch Vorschläge, es gibt doch sinnvolle Überlegungen. Wenn wir uns jetzt zusammensetzen, die Bundesregierung, natürlich die Koalitionsparteien, die Fraktionen zu Diskussionen dann im Ausschuß, der Deutsche Städtetag, der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag - es geschieht ja fast ein Wunder, wenn alles richtig läuft und wir dann in einiger Zeit einen einheitlichen Gemeindeverband haben, in dem alle drei zusammengeschlossen sind - , dann muß es doch wirklich möglich sein, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Hören Sie doch bitte auf, davon zu reden, daß die Reichen entlastet werden, und Neidkomplexe zu schüren. Es geht um den Standort Deutschland, es geht um die Arbeitnehmer genauso wie um die Unternehmen in Deutschland. ({59}) In diesem Zusammenhang muß auch gesagt werden, was wir außerhalb unserer Staatsgrenzen an Verpflichtungen übernehmen und übernommen haben. Es gibt eine größere Verantwortung des vereinten Deutschlands in Europa und in der Welt. Wir werden uns auch in Zukunft in der deutschen Außenpolitik von bewährten Grundsätzen leiten lassen: Wir handeln im engen Einvernehmen mit unseren Freunden und Partnern in der Europäischen Gemeinschaft. Wir setzen auf unsere Freundschaft und auf den Sicherheitsverbund mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit Kanada. Wir leisten unseren Beitrag zur Festigung der neuen Demokratien in Mittel- und Südosteuropa. Wir stehen zum Ausbau der vertraglich vereinbarten Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Dabei bekenne ich hier ganz klar, daß ich zu jenen gehöre, die Präsident Gorbatschow Erfolg bei einer Politik wirklicher Perestroika wünschen. Ich wünsche mir, daß diese Politik, die unendliche Schwierigkeiten in sich birgt, erfolgreich ist. ({60}) Dazu gehört, daß man sich im Innern der Sowjetunion ausschließlich friedlicher Mittel bedient. Präsident Gorbatschow braucht unsere Hilfe zur Selbsthilfe. Deswegen begrüße ich auch, daß er nach London kommen wird und daß wir mit ihm über diese Themen sprechen können. Aber ich sage noch einmal: Es kann nur um Hilfe zur Selbsthilfe gehen. Über den Neuaufbau der staatlichen Organisation der Sowjetunion und über die Grundlagen für eine Wirtschaftsreform muß dort entschieden werden. Wir sind nicht in der Lage, gewissermaßen in ein Faß ohne Boden zu investieren. ({61}) Vor ein paar Tagen habe ich in Washington die Gelegenheit gehabt, mit Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften, mit der Administration, vor allem mit Präsident Bush zu sprechen. Ich habe ihm bei dieser Gelegenheit unsere Positionen zu einzelnen Feldern unserer Außenpolitik noch einmal deutlich gemacht. Wir waren gemeinsam überzeugt, daß es im westlichen und gesamteuropäischen Interesse liegt, daß die Reformpolitik Präsident Gorbatschows - unter den Voraussetzungen, die ich genannt habe - erfolgreich ist. Wir waren gemeinsam der Auffassung, daß es für die Stabilität ganz Europas entscheidend ist, daß sich in den Reformstaaten Mittel- und Südosteuropas die demokratischen Strukturen, Soziale Marktwirtschaft und freiheitliche Demokratie, festigen, und daß wir ihnen dabei helfen müssen. Die hierzulande häufig zu hörende Forderung, wir sollten erst einmal abwarten, was sich da entwickelt, ist unsinnig und töricht. Wir haben eine viele hundert Kilometer lange Grenze zu Polen. Wenn diese Grenze an Oder und Neiße eine Wohlstandsgrenze wird, wird es keine Stabilität in dieser Region geben. ({62}) Wir wollen auf dem Weg, den die im November 1990 unterzeichnete Charta von Paris für ein neues Europa vorgezeichnet hat, vorankommen. Dazu gehören: Aufbau der Demokratie, Entwicklung wirtschaftlicher Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte überall in Europa - ein hochaktuelles Thema, das auch jetzt auf der KSZE-Außenministerkonferenz eine Rolle spielen wird. Ich will auch darauf hinweisen, daß George Bush und ich uns einig waren, daß der transatlantische Sicherheitsverbund für Europa und für Deutschland unverzichtbar ist, daß die NATO auch in Zukunft Anker unserer Sicherheit ist und daß wir auch in Zukunft substantielle Präsenz amerikanischer Streitkräfte auf dem Kontinent haben wollen. Meine Damen und Herren, wir haben in absehbarer Zeit wichtige Entscheidungen zu treffen, auch im Blick auf die NATO-Entwicklung. Das Bündnis wird künftig über Hauptverteidigungs-, Eingreif- und Verstärkungskräfte verfügen - soweit möglich mit multinationaler Struktur. Aber - und das füge ich hinzu; ich glaube, Graf Lambsdorff hat es eben in der Debatte gesagt - das, was jetzt diskutiert wird, darf nicht bedeuten, daß wir uns den Weg zu europäischen Optionen verschließen. Wir müssen hier nach dem Prinzip des Sowohl-Als-auch vorgehen. Ich bin damit bei dem wichtigen Thema der europäischen Entwicklung, meine Damen und Herren: Wir wollen nicht ein Entweder-Oder - hier Europa, dort USA - , sondern wir wollen auf dem Weg der transatlantischen Gemeinsamkeit die notwendigen Entscheidungen treffen. Meine Damen und Herren, ein Thema, das uns dabei besonders beschäftigen wird, darf ich noch ansprechen: Unter dem europäischen Dach - wie selbstverständlich auch im Rahmen der Vereinten Nationen - wird das vereinte Deutschland mehr Verantwortung auch auf sicherheitspolitischem Gebiet übernehmen müssen. Ich bin dafür, daß wir in diesem Jahr die Voraussetzungen dafür klären. Ich darf Ihnen jetzt schon sagen - in diesem Fall als Vorsitzender der Christlich Demokratischen Union: Meine politischen Freunde und ich werden kämpferisch diesen Gedanken überall im Land vertreten. ({63}) Ich halte es für selbstverständlich, daß wir alle Pflichten akzeptieren, die sich aus unserer Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen ergeben. Das bedeutet auch, daß wir bereit sein müssen, an militärischen Aktionen im Rahmen der Vereinten Nationen zur Erhaltung und zur Wiederherstellung des Friedens sowie zur Wahrung des Völkerrechts mitzuwirken. Meine Damen und Herren, wer jetzt dagegen ist - ich will das nur vorsorglich zu Protokoll geben -, wird in sehr kurzer Zeit - auch wenn er jetzt ablehnt; deswegen muß man sich eine solche Ablehnung gut überlegen - vor die Entscheidung gestellt werden, ob im Rahmen der Politischen Union Europas nicht eben genau das gleiche von uns Deutschen gefordert sein wird. Ohne diese Grundentscheidung wird es auf längere Sicht keine wirkliche Politische Union geben. ({64}) Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland hat im Rahmen der globalen Auf gaben- und Lastenteilung erhebliche Leistungen erbracht. Ich finde, es ist wichtig, vor dem Forum des deutschen Parlaments, auch gegenüber dem Ausland - auch im Blick auf die Debatte, die wir wegen unserer Haltung im Golfkonflikt erlebten - , einmal darauf hinzuweisen, daß das vielgenannte Wort vom burden sharing nicht nur in einem militärischen Kontext gesehen werden kann. Alle Mittel, die wir in Milliardenhöhe zur Stabilisierung der Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa einsetzen, sind heute genauso wichtig wie militärische Aufwendungen in anderen Teilen der Welt. Auch das will ich gerne noch einmal bei dieser Gelegenheit für die Bundesregierung betonen. ({65}) Eine unserer wichtigsten Aufgaben ist es, eine lebenswerte Umwelt zu bewahren. Es ist heute, Gott sei Dank, allgemein begriffen, daß eine drohende Klimaveränderung eine Herausforderung für die ganze Welt ist, daß wirksame Maßnahmen gegen den Abbau der Ozonschicht, gegen die weitere Zunahme des Treibhauseffekts und gegen die Vernichtung der Wälder, insbesondere der Tropenwälder, angesichts der akuten und steigenden Gefährdungen zu treffen sind. Mit dem Beschluß der Bundesregierung, bis zum Jahr 1995 auf die die Ozonschicht zerstörenden FCKW und Halone zu verzichten, geht die Bundesrepublik weit über das Protokoll von Montreal hinaus. Ähnliche Entscheidungen haben wir bei den Kohlendioxid-Emissionen getroffen. Dies werden entscheidende Themen auf der UNTagung „Umwelt und Entwicklung" 1992 in Brasilien sein. Es ist eben keine fixe Idee von einigen wenigen, wenn das Thema „Schutz der Tropenwälder" zunehmend Beachtung findet. Ich werde versuchen, dieses Thema auch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in London in wenigen Wochen erneut in unsere Diskussion einzubringen mit der Hoffnung, daß wir jetzt zu Entscheidungen kommen. Denn ich sage Ihnen ganz offen: Ich würde es für eine sonderbare Vorstellung halten, wenn wir diese Konferenz in Brasilien im nächsten Jahr abhalten und zugleich das Abholzen und die Vernichtung der Regenwälder weitergeht. ({66}) Graf Lambsdorff hat zu Recht - ich unterstütze ihn dabei - das für das Exportland Deutschland wichtige Thema Uruguay-Runde im GATT eingeführt. Meine Damen und Herren, wir haben vor allem drei Gründe für unser Interesse an einem baldigen Erfolg dieser Verhandlungen: Wir sind eines der wichtigsten Exportländer der Welt, immer auf Platz eins oder zwei. Wenn wir uns auf Protektionismus einließen, würden wir die Folgen schon bald bitter verspüren. Wir hatten hierzulande in den 50er Jahren eine Diskussion, in der Ludwig Erhard immer die These vertreten hat: Die deutsche Volkswirtschaft wird nur stark sein, wenn sie der frischen Luft ausgesetzt ist, wenn Fenster und Türen geöffnet sind. Daran hat sich nichts geändert. ({67}) Ein zweiter Punkt ist für mich genauso wichtig. Ich finde, davon wird viel zu wenig gesprochen, wie ich überhaupt finde, daß die ökonomische Diskussion einen überproportional breiten Raum einnimmt, während die Themen, die mit der Ökonomie verbunden sind, die aber die Lebensqualität der Menschen mindestens genauso betreffen, beispielsweise die Erhaltung der Schöpfung, zu kurz kommen: Wir, die großen Industrieländer, können nicht so weitermachen wie bisher. Auf keinen Fall dürfen wir uns gegenüber der Dritten Welt abschotten. Wenn die Länder in Lateinamerika, Asien oder Afrika ihre Produkte nicht auf unseren Märkten verkaufen können, dann haben sie kein Geld, bei uns Produkte zu kaufen. Und es ist schon ein absurder Vorgang, daß wir die Käufer anlocken, daß wir ihnen Kredite geben, um sie überhaupt in die Lage zu versetzen, bei uns zu kaufen, und nach ein paar Jahren werden sie dann wieder entschuldet. Das ist nicht nur ökonomisch unsinnig, es ist auch gegen die Würde des Menschen und gegen die Würde der einzelnen Völker. ({68}) Ich glaube, daß wir deswegen alles tun müssen - ich sehe übrigens auch eine Chance - , damit wir in der Uruguay-Runde zu einem guten Abschluß kommen. Und, Graf Lambsdorff, da brauchen wir keine Ermahnung, wie wir unsere französischen Freunde ansprechen. ({69}) Bloß, Sie wissen aus Ihrer Amtszeit als Bundeswirtschaftsminister, daß es eine Sache ist, sie anzusprechen, und eine andere Sache, Erfolg zu haben. Auch das muß man dabei offen sagen. Drittens glaube ich, daß die jüngsten Beschlüsse der Agrarminister in die richtige Richtung gehen und daß das, da Frankreich ja zugestimmt hat, eine Entwicklung ist, die jetzt einen gewissen Optimismus begründet. Das heißt im übrigen auch - lassen Sie mich auch das sagen - , daß wir den Bauern in unserem eigenen Land in dieser Übergangszeit selbstverständlich helfen wollen und helfen müssen. Auch das haben wir gesagt. ({70}) Meine Damen und Herren, bei den deutsch-französischen Gipfelkonsultationen vor wenigen Tagen in Lille haben wir vor allem über die nächsten Monate der europäischen Entwicklung gesprochen. Es geht um den Abschluß der beiden Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und die Politische Union. Wir wollen - die französische Regierung und wir, François Mitterrand und ich - die Zeit nutzen, auf dem EG-Gipfel in Luxemburg in ein paar Tagen Zwischenbilanz zu ziehen, um dann auf dem Gipfel in Maastricht Mitte Dezember dieses Jahres einen vernünftigen Abschluß erzielen zu können. Ich will hier noch einmal wiederholen - ich bin mir dabei der Zustimmung des ganzen Hauses sicher -, für uns Deutsche kann es nicht angehen, daß man die Wirtschafts- und Währungsunion voranbringt und die Politische Union vernachlässigt. Wir wollen beides. Wir wollen klar fixierte Fortschritte - auch mit Terminen - als Ergebnis beider Regierungskonferenzen, um zur Politischen Union und zur Wirtschafts- und Währungsunion zu kommen. Dabei denke ich nicht zuletzt an die Rechte des Europäischen Parlaments. Ich kann nur wiederholen, was ich immer wieder hierzu sage: Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir in EG-Europa - ich sage das auch als Parteivorsitzender - die Bürger noch einmal an die Wahlurnen rufen können für die Wahl eines Parlaments, dem wir so wenige Rechte geben. Das muß jetzt geändert werden. ({71}) Meine Damen und Herren, wir müssen - und da nehme ich einen Gedanken auf, den Sie, Herr Ministerpräsident, angesprochen haben, allerdings mit einem anderen Akzent - in zwei Feldern noch schneller handeln, als es die zeitlichen Perspektiven für die Vollendung der Politischen und der Wirtschafts- und Währungsunion vorgeben. Ich nenne zum einen das europäische Asylrecht. Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß wir die Probleme, die bei dieser Art von Völkerwanderung auf uns zukommen, allein auf nationaler Ebene werden lösen können. ({72}) Das ist nicht nur meine Meinung, es ist genauso die Meinung beispielsweise meines spanischen Amtskollegen oder die der Niederländer und anderer. Deswegen brauchen wir im Vorgriff auf alles andere ein vernünftiges europäisches Asylrecht, wobei wir doch auch aufhören sollten, einander mit Unterstellungen zu begegnen: Wir, die Deutschen, werden uns nie dazu hergeben, Menschen den Zutritt zu uns zu verwehren, die wegen ihrer Rasse, wegen ihrer Religion oder wegen ihrer politischen Einstellung verfolgt werden; das ist völlig ausgeschlossen. ({73}) Aber ich sage das gleiche, was der spanische Ministerpräsident für sein Land sagt: Wir sind kein Einwanderungsland und können die Probleme dieser Erde nicht allein bei uns lösen. Das ist doch, meine Damen und Herren, die eigentliche Frage. ({74}) Ich nenne das andere Thema, das mir große Sorgen bereitet: die Entwicklung im gemeinsamen Kampf gegen die Drogenmafia und die international organisierte Kriminalität. Ich weiß, in einem föderal gegliederten Land ist das schon schwer auszusprechen, in einem Europa jedoch, in dem viele immer noch größten Wert auf den Nationalstaat legen, noch schwerer: Wir werden ohne eine gemeinsame europäische Polizeiorganisation dieser Herausforderung nicht gerecht werden können. Die Lage im Bereich der Drogenmafia hat sich dramatisch verschlechtert. Kokaindealer setzten 1990 in der westlichen Welt 150 Milliarden US-Dollar um. Das bedeutet gegenüber dem Jahr davor eine Zunahme von gut 60 %. Im vergangenen Jahr waren in Deutschland fast 1 500 Drogentote zu verzeichnen. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich damit die Zahl etwa um die Hälfte erhöht. Das ist doch keine statistische Größe. Fast jeder von uns hat in seinem Bereich - im Wahlkreis, im Bekannten- und Freundeskreis - Erfahrungen mit Betroffenen, mit Eltern, die auf ihre Kinder schauen; es geht um erschütternde Schicksale. Deswegen, finde ich, müssen wir alles tun, um wenigstens auf diesem Feld möglichst rasch zu Entscheidungen zu kommen. Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu der Entwicklung in Jugoslawien sagen. François Mitterrand und ich haben anläßlich unseres Treffens nachdrücklich noch einmal die Mission des EG-Ratspräsidenten Jacques Santer und des Kommissionspräsidenten Jacques Delors nach Belgrad unterstützt. Ich will die Gelegenheit heute vor dem Deutschen Bundestag nutzen und erneut an alle Verantwortlichen in Jugoslawien appellieren, mit Besonnenheit und unter Verzicht auf Gewaltanwendung in dieser Situation zu versuchen, zu einem vernünftigen, erträglichen Kompromiß zu kommen. ({75}) Nur ein demokratisch erneuertes Jugoslawien, in dem die Menschenrechte - dazu gehören immer auch die Rechte der Minderheiten - respektiert werden, hat Zukunft. Ich füge hinzu - ich denke, Sie alle stimmen zu - : Nur so ist Jugoslawien auch ein Partner, dem wir und die Europäische Gemeinschaft unsere Zusammenarbeit anbieten können. ({76}) Meine Damen und Herren, im Zusammenhang mit dem Golfkonflikt hat die Völkergemeinschaft den Diktator Saddam Hussein entschieden in die Schranken gewiesen. Wir haben das Völkerrecht im Rahmen der Vereinten Nationen durchgesetzt. Lassen Sie mich dazu heute zwei Bemerkungen machen: Erstens. Kuwait, das seine Souveränität wiedergewonnen hat, muß auch auf dem Weg zur Rechtsstaatlichkeit und zur Demokratie vorangehen. Ich glaube, dies ist eine berechtigte Forderung angesichts des Einsatzes der Völkergemeinschaft. Das zweite, was ich sagen will, ist, daß wir an alle Verantwortlichen appellieren, insbesondere im Irak, das Schicksal der Flüchtlinge zu lindern und überhaupt die Ursache für die Fluchtbewegungen zu beenden. Wir haben vor Ort geholfen. Ich nehme gern die Gelegenheit wahr, all denen zu danken, die dabei aus Deutschland dorthin gekommen sind, den Soldaten der Bundeswehr genauso wie den Hilfsorganisationen. ({77}) Aber das alles ist nur Hilfe für eine Übergangszeit. Die betroffenen Menschen, vor allem die Kurden, müssen in ihrer Heimat eine friedliche Zukunft finden können. Das führt uns zu einer weiteren großen Herausforderung in dieser Region: der Friedenskonferenz. Es ist unser Interesse als Deutsche - wegen unserer engen Verbundenheit, unserer schicksalhaften Verbundenheit mit dem Volk und dem Staate Israel, aber auch wegen unserer alten traditionsreichen Beziehungen zur arabischen Welt -, daß alles getan wird, damit aus einem gewonnenen Krieg ein gewonnener Frieden wird. ({78}) Es wäre schlimm, wenn am Ende dieses Prozesses der Krieg gewonnen und der Frieden verloren würde. In diesem Zusammenhang, wenn es um die Sicherung des Friedens geht - was immer auch bedeutet: wirtschaftlicher Aufschwung und soziale Sicherung für die Menschen der Region - , wird die Bundesrepublik Deutschland bereit sein, ihren Beitrag zu leisten, trotz der vielen anderen Probleme, die wir im eigenen Land und vor allem in Mittelost- und Südosteuropa haben. Meine Damen und Herren, dieser Haushalt 1991 führt bereits weit hinein in die 90er Jahre. Es sind nur noch wenige Jahre, die uns vom Ende dieses Jahrhunderts trennen. Vor ein paar Tagen habe ich aus Anlaß des fünfzigsten Jahrestags der Schlacht um Kreta die Gelegenheit wahrgenommen, dort hinzufahren und Soldatenfriedhöfe, deutsche wie die von Alliierten, zu besuchen. Wenn man vor diesen Gräberfeldern steht, Gräberfeldern, die es auch an vielen anderen Orten aus zwei Weltkriegen gibt, empfindet man, daß dort die Hoffnung von Millionen junger Menschen begraben ist, deren Idealismus durch verantwortungslose Machthaber mißbraucht wurde und denen es verwehrt wurde, ihr persönliches Glück nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, Familien zu gründen und ein erfülltes Leben zu führen. Nachdem wir jetzt in Kreta über die Opfer der schweren Kämpfe, auch über die Opfer der Besatzungszeit nachdenken konnten, dürfen wir, glaube ich, dankbar bekennen, daß wir jetzt die Chance haben, einer jungen Generation in Europa und in Deutschland zu sagen: Euch bleibt dies erspart; ihr habt eine Chance, die kaum je zuvor eine andere Generation in Deutschland hatte, die Chance auf ein ganzes Leben in Frieden und in Freiheit. Ich möchte bei all den Sorgen des Alltags - wir haben solche Sorgen; ich und andere sprachen davon- uns einfach einladen, dieses Ziel vor Augen zu behalten: Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit, und dann zu tun, was unsere Pflicht ist. ({79})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundeskanzler hat an vielen Stellen seiner Rede Herrn Ministerpräsidenten Engholm nicht allein in dessen Funktion als Parteivorsitzender der SPD, sondern auch im Hinblick auf dessen Rolle im Bundesrat angesprochen. An vielen Stellen wurde deutlich, daß z. B. bezüglich der wirtschaftlichen Möglichkeiten der früheren DDR, der heutigen neuen Bundesländer, bezüglich der Reform des Unternehmenssteuerrechts, aber auch für viele andere Fragen in der Bundesrepublik Deutschland eine Gesetzgebung nur dann möglich ist, wenn der Bundestag und die sozialdemokratische Seite im Bundesrat gemeinsame Lösungen finden. ({0}) Das ist ein interessanter Lernprozeß. Als unser Fraktionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel im November/ Dezember 1989 angesichts der gewaltigen Aufgabe, die die Integration der damaligen DDR in die Bundesrepublik darstellte, vom Runden Tisch und von Kooperation gesprochen hat, hat der Bundeskanzler noch gesagt, Runde Tische seien Ereignisse in Diktaturen. Heute aber will er offensichtlich Gespräche am Runden Tisch. Das ist ein kleiner Fortschritt. ({1}) Ich frage mich an dieser Stelle natürlich auch: Was wäre uns erspart geblieben, wenn schon damals eine offene Auseinandersetzung über die schwierigen Probleme der Integration der DDR in die Bundesrepublik begonnen hätte? Es wären viele Fehler vermieden worden. ({2}) Ich möchte jetzt, Herr Bundeskanzler, Ihr Thema Unternehmenssteuerreform aufnehmen. Wir vertreten seit jeher die Position, daß in unsere Unternehmensbesteuerung Fehler eingebaut sind. Die Unternehmensbesteuerung in der Bundesrepublik Deutschland könnte deutlich investitionsfreundlicher werden. Aber die Vorschläge der Koalition waren bisher nicht auf die Investitionsförderung, sondern auf die Förderung der höheren und hohen Einkommen ausgerichtet. Das ist aber nicht die Unternehmenssteuerreform, die mit uns zu machen ist. ({3}) Kein Mensch konnte bisher erklären - vor kurzem hat sogar Graf Lambsdorff Zweifel angemeldet; auch Sie, Herr Möllemann - , was die private Vermögensteuer mit einer Investitionstätigkeit der Unternehmen oder mit der Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu tun hat. Ich habe in diesem Zusammenhang ein seltsames Erlebnis mit einem Kollegen in diesem Hause gehabt. Er ist der Vater einer eher reichen Dame. Als ich betont habe, daß Unternehmensinvestitionen nicht mit der Beseitigung der Vermögensteuer zusammenhängen, hat er mir lebhaft zugestimmt. Jener Kollege war offen genug, es zu tun. Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, mit Ihnen über die Reform der Unternehmenssteuer zu reden. Dazu ist insbesondere Ministerpräsident Engholm bereit. Aber wir reden über eine Beseitigung der Vermögensteuer oder eine Senkung des Steuersatzes für reiche Leute nicht in einer Phase, in der die Mehrwertsteuer erhöht werden soll. Das paßt sozial nicht zusammen. ({4}) Ich habe schon gesagt: Wir hätten gern mit Ihnen im November und Dezember 1989 und dann im ganzen Jahr 1990 über die Probleme der Integration der damaligen DDR in die Bundesrepublik geredet. Ich sage ganz offen: Manchmal freut man sich nicht darüber, daß man sagen kann, man hat letztlich recht behalten. Wir Sozialdemokraten haben von Anfang an gesagt, daß das, was wirtschaftspolitisch ansteht, eine außerordentliche Aufgabe und Herausforderung ist, für die es in der Wirtschaftspolitik keine Vorbilder gibt. Wir haben - das bezweifelt ja niemand mehr - vor einem Jahr richtig analysiert und die richtigen Maßnahmen vorgeschlagen, als Sie noch ideologische Scheuklappen hatten und behaupteten, es gebe jetzt ein Wirtschaftswunder in der DDR; der Mittelstand blühe automatisch auf; jetzt sei eine Phase wie in den 50er Jahren automatisch da. Ich sage noch einmal: Wir sind nicht glücklich darüber, daß wir mit unserer Analyse und unserer Theorie richtig gelegen sind. Ich wäre froh, es wäre besser gegangen. Denn wir müssen alle noch lange an dieser Hypothek bezahlen. Die Bundesregierung ist bisher an der Aufgabe gescheitert. Aber die wirtschaftliche und soziale Einheit darf nicht scheitern. ({5}) Deshalb sind wir trotz Ihrer früheren Ablehnung weiterhin gesprächsbereit. Manche sagen, die Regierung habe jetzt dazugelernt; sie habe Vorschläge der Opposition übernommen; da habe sich etwas geändert. Sicher, es wäre völlig falsch, zu bestreiten, daß die Regierung Ideen von uns aufgegriffen hat. Über Wirtschaftsminister Möllemann muß man sagen, daß er wirklich nicht lange fackelt, bei uns abzuschreiben. Das ist mir übrigens lieber als die gegenteilige Haltung. Waren vor einem Jahr Beschäftigungsgesellschaften für Arbeitslose, die keine normale Arbeit hatten, noch ein Verstoß gegen die Marktwirtschaft, so hat Herr Blüm unser Konzept inzwischen voll übernommen. War eine drastische Investitionsförderung der Privaten durch Sonderabschreibungen, Investitionszulagen und Investitionszuschüsse eine Wettbewerbsverzerrung, so hat man etwa 80 % unserer Vorschläge inzwischen übernommen. Lautete vorher der einzige und alleinige Auftrag an die Treuhandgesellschaft in Berlin, die nun noch Tausende Betriebe besitzt, zu privatisieren und nichts als zu privatisieren, so ist jetzt der Auftrag an die Treuhand genau in unsere Richtung verändert worden; man akzeptiert jetzt Strukturveränderungen und die Sanierungsaufgabe. War der absolute Vorrang der Rückgabe von Grund und Boden und Betrieben an Altbesitzer tabu, so sind Sie inzwischen zu einem beträchtlichen Teil auf unsere Vorschläge zur Vorfahrtsregelung für Investoren eingegangen. Das heißt, wir sehen Bewegung. Aber man muß gleichzeitig sagen, das kommt viel zu spät, und teilweise ist es völlig halbherzig. Typisch dafür ist die künftige Eigentumsregelung. Sie haben zwar Elemente von uns übernommen. Aber das Ergebnis war ein Gesetz, das so kompliziert ist, daß selbst die ausgefuchste westdeutsche Verwaltung es nicht praktizieren könnte, geschweige denn, daß diejenigen es anzuwenden vermögen, die im Osten damit umgehen sollen. ({6}) Die Ideologie hatte Ihnen den Blick verstellt. Man wollte einfach den großen staatlichen Handlungsbedarf nicht zur Kenntnis nehmen, den eine funktionstüchtige Marktwirtschaft gerade beim Neuaufbau als Grundlage hat. Das war nach meiner Auffassung nichts anderes als unterlassene Hilfeleistung. Ihr Wunderglaube an die Allheilmittel des Marktes verhinderte geradezu, daß der Marktwirtschaft in dieser kritischen Phase sogleich eine Chance gegeben wurde. Die Übergangskrise hat gezeigt, daß die Sozialdemokraten in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten in der Einschätzung, in der Analyse und in der Erarbeitung von Antworten weit realistischer sind als Liberale und Konservative. Das läßt sich in der Bundesrepublik übrigens historisch nachweisen. Die Konjunkturkrise 1966/1967 hat zum Rücktritt von Erhard geführt; Schiller hat die Bundesrepublik Deutschland wieder in eine Wachstumsphase gebracht. ({7}) Helmut Schmidt hat die beiden Ölkrisen 1973 und 1980 als erster und einziger sofort richtig eingeschätzt. Beispielsweise hat er damals jene Weltwirtschaftsgipfel durchgesetzt, auf die sich der Bundeskanzler heute berufen konnte. Es ist ja auch kein Geheimnis, daß sich zur Zeit viele Bürgerinnen und Bürger in der Bun2104 desrepublik Deutschland angesichts der ökonomischen Probleme im Osten einen Bundeskanzler mit dem wirtschaftlichen Erfahrungshintergrund von Helmut Schmidt und nicht einen Bundeskanzler Kohl wünschen. ({8}) Umfragen in der Öffentlichkeit zeigen das ganz deutlich. Im übrigen sind gerade Wähler und Anhänger der CDU/CSU und der FDP dieser Meinung. Natürlich wollen Sie jetzt über die Probleme und Ihre Fehleinschätzungen stillschweigend zur Routine übergehen. Das verstehe ich sogar. Wer läßt sich schon gern an Fehler erinnern? Leider ist das aus einem Grund nicht möglich: Irrtümer und Fehleinschätzungen setzen sich immer noch fort. Besonders deutlich wird das bei der Vorausschau auf die wirtschaftliche Entwicklung im Osten sowie bei der Finanzierung. Der Bundeskanzler hat bis in die letzten Wochen immer wieder gesagt, man brauche etwa drei bis vier Jahre, bis das Leistungsniveau im Osten demjenigen im Westen entspreche. Ich will gar nicht meine eigenen Analysen heranziehen, sondern die Analysen Ihres Parteifreundes in Sachsen, Professor Biedenkopf. ({9}) - Ich habe schon bei den Zwischenrufen gemerkt: Er ist kein Freund, sondern nur ein Parteifreund von Ihnen. Professor Biedenkopf, der immerhin Ministerpräsident von Sachsen ist, sagt zu Recht: Da die neuen Bundesländer 1992 - das ist jetzt schon absehbar - nur 25 % des Leistungsniveaus des Westens haben werden, brauche man bis zum Ende des Jahrtausends, also in den nächsten acht Jahren, jedes Jahr eine durchschnittliche Wachstumsrate von 22 %. ({10}) Darf ich Sie daran erinnern, daß selbst in der Aufschwungphase zwischen 1950 und 1960 der Durchschnitt des Wirtschaftswachstums gerade bei 7 % lag; das höchste Wachstum betrug 12 % , das niedrigste 3,6 %. Der Bundeskanzler zieht durch die Lande und verspricht den Ostdeutschen, in drei bis vier Jahren werde das Leistungsvermögen etwa wie im Westen sein. Diese Fehleinschätzung ist nur noch mit der Behauptung vergleichbar, daß es im letzten Jahr ein Wirtschaftswunder hätte geben müssen. ({11}) Diese Fehleinschätzung wird fortgesetzt. Warum müssen wir das immer wieder wiederholen? ({12}) - Wir müssen das wiederholen, weil sich aus dieser Fehleinschätzung ständig die Fehleinschätzungen im Bereich der Finanzpolitik entwickeln. Die Fehleinschätzung von gestern lautet: Wir brauchen keine Steuererhöhung. Die Fehleinschätzung von heute lautet: Wir brauchen nur für ein Jahr eine - zudem ungerechte - Ergänzungsabgabe. Nein! Wir Sozialdemokraten sagen: Wir brauchen in den 90er Jahren aus Gründen der Solidarität mit dem Osten eine befristete Ergänzungsabgabe auf lange Zeit. ({13}) In drei, vier Jahren ist das nicht anders. Man kann es auch so sagen: Aus der falschen Analyse setzt sich die Steuerlüge der Regierung Kohl fort. Sie wird zur Dauerübung. ({14}) Wir haben gestern das Ergebnis einer Umfrage von Infas erfahren. Auf die Frage, ob der Vorwurf der Steuerlüge berechtigt sei, sagen 72 % der Bürger: Ja, so ist es. Wenn das die Meinung der Bürger ist, dann hören Sie auf, zu sagen, das sei sozialdemokratische Propaganda, sondern korrigieren Sie endlich Ihre Einschätzung und Ihre Steuerpolitik! Gehen Sie mit den Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere denen im Osten, fair um! ({15}) Wer soll das alles noch ernst nehmen? ({16}) In der Steuerpolitik werden Tag für Tag neue Steuervorschläge gemacht. Der Herr Möllemann hat einen neuen Vorschlag zur Vermögensteuer gemacht; er will jetzt halbieren. Andere wollen gleich zwei Punkte Mehrwertsteuererhöhung. Was die Ergänzungsabgabe betrifft, ist alles unklar. Noch grotesker ist die Diskussion über den Subventionsabbau. Als Sie an die Regierung kamen, hat fast jeder der sich zu finanzwirtschaftlichen Fragen äußerte gesagt: Das ist die Regierung des Subventionsabbaus. Aber seit 1982 ist keine wesentliche subventionspolitische Maßnahme beschlossen worden, die diesen Begriff rechtfertigt. ({17}) Jetzt sagt der Herr Möllemann, er wolle zurücktreten, wenn nicht 10 Milliarden DM erwirtschaftet würden. Gestern sagte er noch, er wolle einen Unternehmer als Subventionsbeauftragten berufen, der Vorschläge machen solle. Jetzt geht es nicht nur um eine Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen, sondern auch noch um eine Privatisierung der Politik. Ist es nicht eine Schande, wenn eine Regierung sagt, sie brauche Unternehmensberater, um Subventionen abzubauen? ({18}) Meine Damen und Herren von der Regierung, ich empfehle, beim Subventionsabbau ganz genau darüber nachzudeken, daß jede einzelne entscheidene Maßnahme der Zustimmung des Bundesrates bedarf. ({19}) Sie haben vorhin in Richtung Bundesratsbank gesagt, Sie erwarteten eine kooperative Haltung. Das gilt gerade beim Subventionsabbau. Wer über den Kahlschlag für das Revier nachdenkt, wer den Bergbau zerstören will, der wird in der SPD keine Gesprächspartner finden. ({20}) Wir sind aber bereit, über alle anderen Themen zu sprechen, weil der derzeitige Umfang der Verschuldung in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu akzeptieren ist. Wenn ich alle Kredite des Jahres 1991 addiere, dann komme ich zu Kreditaufnahmen von etwa 200 Milliarden DM. ({21}) Es entfallen 149 Milliarden DM auf Bund, Länder und Gemeinden direkt sowie auf den Fonds Deutsche Einheit, ERP; 22 Milliarden DM auf die Treuhand; 7 Milliarden DM auf die Bahn; 15 Milliarden DM auf die Post; 5 Milliarden DM auf den Kreditabwicklungsfonds; 7 Milliarden DM auf die Ablösung von Krediten im Wohnungsbau. Das ergibt über 200 Milliarden DM. Wir sind inzwischen bei nahezu 8 % Schulden, gemessen am Bruttosozialprodukt. Diese Verschuldungsrate ist höher als beispielsweise die Verschuldungsrate von Herrn Reagan. Eine derartige Finanzpolitik ist auf Dauer nicht machbar. ({22}) - Es geht nicht um die Frage: Für was? Stellen Sie sich einmal vor, wieviel Kurzarbeitergeld in der früheren DDR zur Zeit aus Schulden bezahlt wird! Das sind keine Investitionen, sondern konsumtive Ausgaben. ({23}) - Ich bin ja der Auffassung, daß wir helfen müssen; ({24}) aber ich bin nicht der Auffassung, daß diese Finanzpolitik auf die Dauer fortgesetzt werden kann. Deshalb schlagen wir vor, daß dieser Dialog beginnt, ({25}) und zwar auch über die Frage einer Verbesserung der Steuerstruktur in der Bundesrepublik und einer besseren Finanzabdeckung. Lassen Sie mich noch über ein besonderes Thema sprechen, das die neuen Bundesländer betrifft und mir auch bei meinen Begegnungen im Osten immer größere Schwierigkeiten macht. Sie alle wissen, daß es beim Übergang von der ehemaligen Ostmarkt zur D-Mark erhebliche Wirtschaftskriminalität gegeben hat. Wir reden zwar zur Zeit viel über Schalck-Golodkowski - das geschieht zu Recht; es wird darüber einen Untersuchungsausschuß geben -; aber es gibt im Zusammenhang mit der Einführung der D-Mark noch sehr viele andere ungesühnte Durchstechereien. ({26}) Während wir an die Bürgerinnen und Bürger appellieren, mit der Ergänzungsabgabe und mit der in zwei Jahren eintretenden Mehrwertsteuererhöhung zur soliden Finanzierung der Integration der ehemaligen DDR beizutragen, gibt es Leute, die auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger dort Tag für Tag an der früheren DDR verdienen. Das kann nicht so weitergehen. ({27}) Wir müssen sehen, daß für viele drüben der Eindruck entstanden ist, hier gehe es nicht um Soziale Marktwirtschaft, sondern um Geschäftemacherei und Spekulantentum. Ich spreche über eine spezielle Branche. Ich meine nicht die guten, vernünftigen Wirtschaftsprüfer und -berater. Aber das, was im Beratungswesen in den neuen Bundesländern umherrennt und für teures Geld falsche Ratschläge gibt, ist unerträglich. Ich bitte auch die Verbände, dafür zu sorgen, daß das gestoppt wird. ({28}) Tut die Bundesregierung hiergegen etwas? Ich habe bisher nichts gehört. ({29}) Das muß sich schnell ändern. Wir dürfen es nicht zulassen, daß der Start der Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern in einem Sumpf von Schieberei versinkt. Wir müßten eine Sonderarbeitsgruppe der Ministerien in Bonn und der neuen Bundesländer schaffen, die beispielsweise die Staatsanwaltschaften berät und auch typische Fallkonstruktionen veröffentlicht, damit die Leute vor derartigen Aktionen gewarnt sind. In dem Zusammenhang ist auch die Wirtschaft gefordert. Eine große Versicherungsgesellschaft kann nicht einfach wegsehen, wenn in ihrem Auftrag und für ihre Provision Dutzende, Hunderte von Schleppern durch die neuen Bundesländer fahren und die Leute zu Versicherungen überreden, die sie auf die Dauer überhaupt nicht bezahlen können. ({30}) Ich fordere auch die deutsche Versicherungswirtschaft auf, hier endlich für solide Verhältnisse zu sorgen. Das ist nicht nur eine staatliche Aufgabe. ({31}) Lassen Sie mich einige Worte zu den Kaufhauskonzernen sagen. Ich weiß, da handelt es sich nicht um Wirtschaftskriminalität. Aber auch sie sind rechenschaftspflichtig. Warum sind denn dieselben Güter im Osten teurer als im Westen? Das darf doch nicht wahr sein! Wir verlangen von den Bürgern Steuergelder zur Finanzierung des Aufbaus im Osten und manche Kaufhauskonzerne nutzen die mangelhafte Wettbewerbssituation im Osten gnadenlos aus. Das muß aufhören. ({32}) Ich fordere den Wirtschaftsminister auf, hiergegen zusammen mit dem Bundeskartellamt stärker vorzugehen. ({33}) Das zentrale Problem im Osten ist und bleibt die Arbeitslosigkeit. Das zentrale Problem ist die Gefahr, daß wir im Dezember 3 Millionen Arbeitslose haben werden. Ich glaube nicht, daß das Instrumentarium ausgereizt ist. Wir machen heute erneut Vorschläge. Ich unterbreite Ihnen noch einmal sechs Punkte, weil sie in der von Regierung und Opposition gebildeten Arbeitsgruppe nicht durchgesetzt werden konnten. Erster Punkt. Massenentlassungen im Osten müssen ausgesetzt werden, und als Nachfolgeregelung zur Kurzarbeit Null müssen flächendeckend Beschäftigungsgesellschaften gegründet werden. Es darf eben nicht entlassen werden. Zweiter Punkt. Bei öffentlichen Aufträgen in den neuen Bundesländern müssen 70 % der Wertschöpfung aus östlicher Leistungserstellung nachgewiesen werden. Das ist übrigens ein Punkt, auf den gerade Klaus Dohnanyi aus seiner Erfahrung heraus ständig hinweist. Dritter Aspekt. Finanzielle Absatzhilfen für Industrieprodukte müssen fortgeführt werden, sie dürfen nicht in diesem Jahr auslaufen, sonst gibt es unnötige Betriebsschließungen, die man verhindern kann. Vierter Punkt. Es muß zusätzliche Stützungsmaßnahmen für den Osthandel geben, und zwar nicht nur in Richtung Sowjetunion, sondern auch in Richtung der kleineren Länder. Fünftens. Wir brauchen endlich eine vernünftige Entschuldungsregelung. Die Fall-zu-Fall-Regelung hat sich als schwerer Fehler erwiesen und hat zu weiteren Betriebsstillegungen geführt, die man verhindern muß. ({34}) Sechster Punkt. Die Tatsache, daß eine Regelung der ökologischen Altlasten bis heute fehlt, führt auch zu unterlassenen Investitionen im ökologischen Sektor. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß sagen: Es gibt neue Vorschläge, es gibt zusätzliche Ideen. Es muß einen zusätzlichen Ideenwettbewerb in Richtung auf die neuen Bundesländer geben. Gehen Sie endlich von Ihrem hohen Roß herunter! Gehen Sie in sorgfältige Gespräche mit Bundesrat und Opposition! Wir haben weitere Anregungen. Helfen Sie mit, daß den Menschen im Osten geholfen wird! ({35})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Kollege Dietrich Austermann.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, vernünftig und richtig, daß man nach den Ausführungen des Kollegen Roth noch ein paar klarstellende Bemerkungen zu dem macht, was er gesagt hat, und ein paar kurze Sätze anschließt. ({0}) Es muß ganz deutlich unterstrichen werden, daß die SPD durch ihre Verzögerungshaltung im letzten Jahr die Voraussetzung für das, was in den neuen Bundesländern zu geschehen hat, gerade erschwert und nicht erleichtert hat. Sie hat den Wahltermin verzögert, und sie hat viele andere Dinge problematisiert. ({1}) Es muß auch festgestellt werden, daß Anlaß für Runde Tische in auslaufenden Diktaturen ist, aber nicht in einer funktionierenden Demokratie. ({2}) Wenn das Angebot zur Zusammenarbeit besteht, soll es gerne genutzt werden. Auf Runde Tische ist man aber nicht unbedingt angewiesen. Die Debatte um den Kanzleretat stellt immer auch die Frage, ob und wie gut dieses Land geführt wird und wie die Alternative aussähe. Dies muß man deutlich herausstellen. Ich kann nur sagen: Nach der Debatte heute morgen sprechen viele, ja eigentlich alle Indizien dafür, daß eine andere, beispielsweise SPDgeführte, Bundesregierung die Wiedervereinigung nicht so schnell herbeigeführt hätte und dies für alle Bürger teurer geworden wäre. Dies zeigen auch die Erklärungen über Subventionsabbau und Steuererhöhungen, die Herrn Roth bei weitem noch nicht ausreichen. Ich möchte ganz deutlich sagen: Wer nach den Erfahrungen von 1982 heute an einen Regierungswechsel zur SPD denkt, ist entweder Masochist, oder er leidet an retrograder Amnesie. ({3}) Meine Damen und Herren, es besteht allerdings in der Tat Bedarf und Notwendigkeit, über das, was bisher eingeleitet worden ist und was wir miteinander begonnen haben, zu informieren. Wer ein objektives Bild hat, wird feststellen, daß die wirtschaftlichen DaDeutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode Dietrich Austermann ten in der Bundesrepublik so gut waren wie nie zuvor und daß sich auch in den östlichen Bundesländern die Zeichen der Besserung mehren. Selbst ADN ist nicht mehr in der Lage zu leugnen, daß sich einiges tut, daß Großunternehmen zunehmend investieren, wie noch gestern in der „Neuen Zeit" gemeldet wurde. Meine Damen und Herren, es ist aber auch die Frage zu stellen, wie es mit dem Thema Steuerirrtum/ Steuerlüge/Steuerbetrug nun tatsächlich aussieht. Wenn wir ein paar Zitate heranziehen, dann wird deutlich, daß die Sozialdemokraten selbst Fehleinschätzungen unterlegen sind. Dies gilt nicht nur für Lafontaine mit der Äußerung, die DDR sei ein lunrendes Industrieland gewesen, sondern auch für Herrn Stolpe, der noch im Februar sagte: Es fehlen uns heute aktuelle Bestandsaufnahmen. - Und Engholms Finanzministerin schloß am 21. Februar 1991 an: Die neuen Bundesländer sollen erst einmal in den eigenen Taschen nachsehen, was drin ist. Man kann uns also nicht vorwerfen, wir hätten zu spät gehandelt. Helmut Schmidt hat kurz vor der Wahl gesagt, Lafontaine verliere zu Recht; Helmut Kohl habe innenpolitisch keine Fehler gemacht. Zu den Vorwürfen aus seiner Partei hinsichtlich einer angeblichen Steuerlüge sagt er am 12. April dieses Jahres vor der Atlantikbrücke, den Vorwurf der Steuerlüge an die Adresse der Herren Kohl, Waigel und Lambsdorff habe er nicht geteilt. Karl Schiller sagt, er hätte genauso gehandelt wie Herr Waigel und auch Widerstand geleistet gegen übertriebene vorweggenommene Steuererhöhungen, so wie sie von der SPD immer wieder gefordert würden. Herr Engholm dagegen geht mit weinerlicher Stimme durch das Land Schleswig-Holstein und sagt, er müsse wegen der Bonner Haushaltsmaßnahmen viele Dinge streichen. Hierzu ist festzustellen: Auch in Schleswig-Holstein geht es zur Zeit wegen der guten Bundespolitik besser denn je. ({4}) Das Land erhält mehr Hilfestellung denn je. Alleine die direkten Finanzhilfen auf der Grundlage des jetzt zu beschließenden Haushalts belaufen sich für dieses Jahr auf 2,5 Milliarden DM. Wenn es in Schleswig-Holstein gut läuft, dann deshalb, weil der Bund nach wie vor so massiv hilft und nicht etwa deshalb, weil das Land eine hervorragende Regierung hat. In diesem Zusammenhang müßte man eigentlich die alternative Halbzeitbilanz der Jusos aus dem letzten Jahr über Engholms Regierungszeit zitieren, in der von Pleiten, Pech und Pannen als integralem Bestandteil der sozialdemokratischen Regierungspolitik in Schleswig-Holstein die Rede ist. Meine Damen und Herren, die Ergebnisse nach achteinhalb Jahren Regierungszeit in Bonn sind hervorragend; die Ergebnisse für die neuen Bundesländer werden besser. Dies kann gar nicht oft genug unterstrichen werden. Es gibt überhaupt keine Veranlassung, über andere, neue Regierungen nachzudenken. Bei wesentlichen Entscheidungen kam die SPD immer erst nach Abschluß des Entscheidungsprozesses zu einer Meinung. Dies zeichnet nicht gerade Führung aus. Diese Regierungskoalition, meine Damen und Herren, hat die Zwölfte Wahlperiode mit einem klaren Programm begonnen. Wir könnten sicherlich ein Stück weiter sein. Manches hätte - auch dadurch, daß die Opposition besser mitgemacht hätte - besser laufen können. Aber der Weg ist richtig. Heute kann man sagen: Das Schiff nimmt fahrt auf. Zum Kapitän gibt es keine Alternative. - Die CDU/CSU stimmt dem Kanzleretat zu. Herzlichen Dank. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Damit schließe ich die Aussprache zu Einzelplan 04. Wir kommen zur Abstimmung über diesen Einzelplan in der Ausschußfassung. Die Fraktion der CDU/ CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. - Darf ich fragen, ob noch irgend jemand im Saal ist, der seine Stimme nicht hat abgeben können? - Das ist nicht der Fall. Damit schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird später bekanntgegeben. *) Ich rufe nun auf: Einzelplan 09 Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft - Drucksachen 12/509, 12/530 Berichterstatter: Abgeordnete Kurt J. Rossmanith Dr. Wolfgang Weng ({0}) Helmut Wieczorek ({1}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zu diesem Einzelplan zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen gibt es keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bürgermeister des Landes Bremen, Klaus Wedemeier. Präsident des Senats Klaus Wedemeier ({2}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es mag manchem ungewöhnlich erscheinen, daß sich ein sozialdemokratischer Ministerpräsident gegen die in Rede stehenden Vorschläge zum Subventionsabbau ausspricht. ({3}) Aber es gibt Gründe dafür, sich gegen das auszusprechen, was der Bundeswirtschaftsminister derzeit vorschlägt, und zwar, wie Sie wissen, nicht nur bei uns. ({4}) - Dann würde er etwas lernen; das wäre schwierig. *) Ergebnis Seite 2111 A Präsident des Senats Klaus Wedemeier ({5}) Meine Damen und Herren, es geht bei diesem Thema nicht nur um die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft - das allein wäre schon Grund genug - , sondern es geht auch um zigtausende von Arbeitsplätzen, die der Bundeswirtschaftsminister gefährdet. Es ist nämlich kein Konzept erkennbar, das dieses Vorhaben begleitet, das Alternativen für die betroffenen Menschen, für die betroffenen Unternehmen oder für die betroffenen Regionen aufzeigt. Ich frage mich, ob wir es uns in Deutschland leisten können, Wirtschaftspolitik mit Subventionsabbaupolitik gleichzusetzen. Können wir es uns leisten, die Wettbewerbspolitik, die Außenwirtschaftspolitik, die Industriepolitik oder die Regionalpolitik zu vernachlässigen? Wir alle wissen, daß die Bundesrepublik Deutschland und - je nach Problemdruck unterschiedlich - die verschiedenen Regionen unseres Landes vor Herausforderungen stehen, die eine grundlegende Überprüfung unserer wirtschaftspolitischen Überlegungen notwendig machen. Selbstverständlich ist es unsere Pflicht, alles zu tun, damit die neuen Bundesländer schnellstmöglich den Anschluß an die allgemeine Entwicklung erreichen. Aber dies darf nicht dazu führen, daß wir unsere Wettbewerbsposition im gesamteuropäischen Zusammenhang und in der internationalen Arbeitsteilung aufs Spiel setzen. ({6}) Wir müssen sehen, daß die europäischen Nachbarn durchaus dankbar sind, wenn sich die Deutschen mit ihren eigenen Problemen befassen und aus diesem Grunde nicht in der Lage sind, sich den Herausforderungen des europäischen Binnenmarkts zu stellen. Auch die Konkurrenten in Fernost werden es mit positivem Interesse registrieren, wenn wir uns aus industriellen Zukunftsmärkten international verabschieden, sei es aus der Mikroelektronik, aus dem Schiffbau, aus der Stahlverarbeitung oder der Raumfahrt, wo es ja verschiedene Auffassungen gibt. ({7}) Wenn man diesen Grundgedanken nun akzeptiert, bedeutet dies natürlich noch lange nicht den Verzicht auf Subventionsabbau. ({8}) Aber Subventionsabbau ist, wie wir alle wissen, ein schwieriges und langwieriges Geschäft und kein Thema für spektakuläre Hauruckaktionen, so wie es Herr Möllemann meint. ({9}) - Die Frage ist, wie man es macht. Ich habe vorhin gehört, daß Herrn Möllemann ein Unternehmensberater zur Seite gestellt werden soll. ({10}) Im Prinzip kann man Herrn Möllemann einen Berater gönnen. ({11}) Die Frage ist, ob er aus der privaten Wirtschaft kommen muß. Wenn man ihm etwas raten darf, dann vielleicht dies: Herr Möllemann, Subventionsabbau ist kein Ersatz für eine zukunftsgerichtete Strukturpolitik. Erwecken Sie mit Ihrem risikobehafteten Einsatz um den Subventionsabbau nicht den Eindruck, als würde die Bundesrepublik Deutschland an der Spitze aller Subventionsgeber stehen. Es tut mir ja richtig leid, daß ich es jetzt mit Ihnen zu tun habe, Herr Riedl. Aber Ihr Chef ist nicht da. ({12}) - Entschuldigen Sie bitte, Herr Möllemann. ({13}) Ich meinte, er saß vorhin etwas weiter hinten. Ich glaube, er hat sich etwas nach vorne geschlichen, weil die Plätze dort frei geworden sind. Lieber Herr Möllemann, erwecken Sie bitte nicht den Eindruck, als würde die Bundesrepublik an der Spitze aller Subventionsgeber liegen. Ich möchte die Feststellung der OECD zu den Industriesubventionen in den OECD-Wirtschaften wiederholen. Da wird gesagt, daß die staatlichen Subventionen in Deutschland - damals noch als Summe der alten elf Bundesländer - für das gesamte verarbeitende Gewerbe einschließlich Transport und Verkehr um 28 % unter dem EG-Durchschnitt liegen, daß die Industriesubventionen in Deutschland unter allen EG-Ländern am niedrigsten sind und daß die Subventionen selbst in den Branchen Stahl und Schiffbau weit von der EG-Konkurrenz entfernt sind. ({14}) - Ich komme darauf zurück. Aber Sie scheinen sich mit diesem Thema nicht allzu oft befaßt zu haben, sonst könnte ich so dumme Zwischenrufe nicht verstehen. ({15}) Unter europäischen Maßstäben ist Handlungsbedarf generell nicht erkennbar. Es kann ihn trotzdem geben, und es gibt ihn sicherlich. Da sind wir nicht auseinander. Aber Subventionsabbau in der Industrie kann nur im Zusammenhang mit einem industriepolitischen Konzept diskutiert werden und nicht ohne. ({16}) Selbstverständlich muß akzeptiert werden, daß Dauersubventionen die marktwirtschaftlichen Prozesse aushöhlen, deshalb auch degressiv und nur für einen begrenzten Zeitraum zu gestalten sind. Meine Damen und Herren, der hektische und hastige Aktionismus des Bundeswirtschaftsministers, diese Zehn-Milliarden-Einsammelaktion, ist aber konzeptionell nicht abgesichert. Was können wir den Unternehmen und den Arbeitnehmern auf den Zechen und bei den Werften an Perspektive bieten, wenn wir nur mitteilen, daß alle Subventionen mehr Präsident des Senats Klaus Wedemeier ({17}) oder weniger unsinnig sind, und, wenn es nur irgendwie geht, alle abgebaut werden sollten? Nun muß man zugeben, daß ein industriepolitisches Konzept schon vor Möllemann nicht erkennbar war. Ich will einmal schildern, weil es mir regional naheliegt, was in den letzten Jahren allein der maritimorientierten Wirtschaft zugemutet worden ist. Von 1975 bis 1990 sind in Norddeutschland rund 41 000 Arbeitsplätze auf den Werften abgebaut worden. Das ist ein Abbau von 57 % der Arbeitsplätze. Im Lande Bremen waren es sogar 67 %. Die Bundesregierung und die norddeutschen Länder hatten sich damals, wenn auch mühsam, auf ein gemeinsames Konzept verständigt, das mit den betroffenen Unternehmen, auch mit den Betriebsräten, erörtert worden ist. Es sind Zielzahlen für Schiffbauarbeitsplätze festgelegt worden. Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, daß die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kollegen auf den Werften freiwillig auf Lohn verzichtet haben, um ihre Arbeitsplätze überhaupt noch halten zu können. Freiwillig! ({18}) Der Fördersatz für die Wettbewerbshilfe ist von 1989 bis heute von 20 % über 14 % auf 9,5 % abgesenkt worden. Wir haben es also, wenn man so will, mit erheblichen Kürzungen im Bereich der Schiffbauindustrie zu tun - abgesehen davon, daß die Bundesregierung für 1989 und 1990 Nullsummen eingesetzt hatte. Der Haushaltsausschuß hat das korrigiert. Ich bin dafür sehr dankbar. Das sage ich für alle norddeutschen Länder, übrigens auch für alle norddeutschen Parteien, um Ihnen das vielleicht einmal klarzumachen. ({19}) - Darauf komme ich noch zu sprechen. Auch die süddeutschen müßten dankbar sein. Ich wundere mich übrigens, wenn ich lese, welche Arbeit der Haushaltsausschuß leisten muß, welcher Umgang zwischen Regierung oder einem einzelnen Minister und dem Parlament gepflegt wird. Das kenne ich so nicht, daß das Parlament einen Haushalt beschließt, und selbstherrlich wird irgend etwas gekürzt. Bei den Finanzbeiträgen war es ähnlich. Insgesamt bleibt festzustellen, daß bereits ein erheblicher Abbau der Wettbewerbshilfe für den Schiffbau stattgefunden hat, seit 1988 aber etwas Konzeptionelles, so wie es vorher war, nicht erkennbar ist. Wir sollten auch darauf achten, was die Europäische Gemeinschaft zu solchen Kürzungsvorhaben sagt. Der Bundeswirtschaftsminister läßt in der Europäischen Gemeinschaft zu, daß in den übrigen europäischen Ländern 15 % Wettbewerbshilfe gezahlt werden dürfen, ({20}) bei uns nur 9,5 %. Als wir 20 % hatten, hatten die noch 39 %. Das ist also beinahe Kontinuität. Er will uns die 9,5 % vollends nehmen, läßt zu, daß in Spanien noch mehr als 15 % gezahlt werden dürfen - die Spanier haben eine Ausnahmeregelung - , und weiß wahrscheinlich nicht, daß in Italien und in Spanien der Staat auch noch die Verluste der Werften übernimmt, dort also Preise gemacht werden können, wie man sie machen muß, um überhaupt einen Auftrag zu bekommen. Herr Möllemann, bevor Sie hier weiter Kahlschlagpolitik betreiben, wäre es sinnvoll - dabei würden wir alle Sie unterstützen - , zunächst einmal in Europa die Subventionen gleich zu gestalten - außerdem ist ja auch noch an die unterschiedlichen Lohnhöhen zu denken - oder aber dafür zu sorgen, daß in Europa keine Subventionen für den Schiffbau mehr gezahlt werden dürfen. ({21}) Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das erreichen, bevor Sie hier den Kahlschlag versuchen; denn dann wären die deutschen Werften die wettbewerbsfähigsten Werften in Europa. Im Nahen Osten haben wir natürlich Probleme, ähnliches zu erreichen. Daß die Bundesregierung das ähnlich sieht, möchte ich an Hand des Finanzplans zeigen. - Im Finanzplan der Bundesregierung ist folgendes nachzulesen - ich zitiere - : Das von Bund - zwei Drittel - und Ländern - ein Drittel - gemeinsam finanzierte Wettbewerbshilfeprogramm dient dazu, wettbewerbsverzerrenden Subventionen anderer Staaten entgegenzuwirken. - Also: Die Begründung für eine Wettbewerbshilfe schreibt die Bundesregierung selbst in den Finanzplan. Weiteres ist dort nachzulesen. Der Bundesminister Rudolf Seiters hat mir im Auftrag des Bundeskanzlers geschrieben - das war am 11. November 1990, aber so lange ist das ja noch nicht her - : Der Haushaltsausschuß des Bundestages hat intensiv und ausführlich die Fortsetzung des Programms über 1990 hinaus geprüft und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, 500 Millionen DM an Verpflichtungsermächtigungen bis 1992 vorzusehen, weil trotz steigender Nachfrage am Weltmarkt immer noch kaum kostendeckende Preise durch die deutschen Werften erzielt werden können. Mit der Fortsetzung des Wettbewerbshilfeprogramms sind sichere Perspektiven für die deutsche Werftindustrie geschaffen. ({22}) Der Mann hat recht! Aber er hat wahrscheinlich keine Kopie zum Bundeswirtschaftsminister geschickt, ({23}) was sinnvoll gewesen wäre, damit der weiß, wie das Bundeskanzleramt denkt. Jetzt darf ich auf Bayern zu sprechen kommen. - Allenfalls 40 % des Wertes eines Schiffes werden an der Küste erarbeitet. Bei manchen Schiffstypen gibt es bis zu 60 % Zulieferungen aus anderen Bundesländern, in der Hauptsache aus Bayern, ({24}) Präsident des Senats Klaus Wedemeier ({25}) aus Baden-Württemberg, ({26}) aber auch aus Nordrhein-Westfalen. ({27}) Die Hauptlieferanten für den Schiffbau an der Küste sind die Bayern und die Baden-Württemberger. Wenn es um die technischen Einrichtungen in der Hauptsache geht, ist das z. B. eine große Firma in München. ({28}) - Es sind mehrere große. Wir beide haben da auch keine Probleme; aber ich will Sie jetzt auch nicht in Schwierigkeiten bringen, Herr Kollege. Die Probleme habe ich mit Ihrem Minister. ({29}) - Ich will es wiederholen, wenn es nur Herr Waltemathe gehört haben sollte - , ich sage es also noch einmal ausdrücklich: Ich bedanke mich bei allen Haushaltsausschußmitgliedern aller Parteien für ihren Einsatz in dieser Sache. Ich hoffe, daß Sie den Bundeswirtschaftsminister auch in Zukunft, wenn er solch sprunghaftes Verhalten zeigt, korrigieren werden. ({30}) Ich würde auch nicht, wenn jetzt diese Entscheidung schrittweise einkassiert werden soll - und sie wird ja schrittweise einkassiert - , sagen, dies sei nun als erste Schwäche der Position des Ministers zu sehen. Auch das ist nicht der Fall. Das ist die Fähigkeit, aus der genauen Prüfung von Fakten zu neuen Einsichten zu kommen. Diese Fähigkeit müssen wir jedem zugestehen. Es wäre aber generell begrüßenswert, wenn die Wirtschaftpolitik der Bundesregierung sich an Fakten orientieren würde und konzeptionell untermauert werden könnte. Die deutsche Industrie und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf ein Konzept in der Wirtschaftspolitik und nicht auf hohle Sprüche. ({31}) Es ist in der Industrie und bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Vertrauen notwendig. Das erreicht man aber nicht so, wie hier zur Zeit gehandelt wird. Das gilt nicht nur für den Schiffbau; ich nehme das exemplarisch. Wir können nicht - in welchem Bereich auch immer, ob bei der Mikroelektronik oder in anderen Bereichen - mit der Industrie etwas verabreden und es dann wenige Monate, nachdem der Haushaltsausschuß es sogar abgesegnet hat, wieder kassieren. Was ist das für eine Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik? Ich glaube nicht, daß wir in der Wirtschaft damit den Mut schaffen, den wir ihr bei allen möglichen Investitionen, die sie tätigen soll, immer abverlangen. Es wäre auch völlig unsinnig, die westdeutsche Schiffbauindustrie auf Null herunterzufahren - es gingen letztendlich alle pleite, wenn wir bei Null stünden - und dann zu glauben, man könne die ostdeutsche Schiffbauindustrie gleichzeitig hochfahren. Die ostdeutsche Schiffbauindustrie lebt vom Know-how - das soll nicht überheblich klingen; es ist aber so - der westdeutschen Schiffbauindustrie. Sie müssen eng zusammenarbeiten, damit die Arbeitsplätze in Mecklenburg-Vorpommern gesichert werden können. ({32}) Dazu muß es die Schiffbauindustrie in Westdeutschland aber geben; sonst kann man den Kolleginnen und Kollegen und den Unternehmen in Ostdeutschland nicht helfen. Es gibt hier also einen direkten Zusammenhang. Herr Minister, wir sind zum Dialog bereit. Das hat heute morgen auch zwischen Herrn Engholm und dem Bundeskanzler eine Rolle gespielt. Aber wir erwarten von Ihnen, daß wir nicht aus der Zeitung erfahren, was Sie vorhaben, und daß unsere Wirtschaftsminister in Norddeutschland nicht erst lange um Termine bitten müssen, bevor etwas passiert. Das können nicht nur wir erwarten, sondern das kann man an der Saar genauso wie z. B. an Rhein und Ruhr oder auch in Niedersachsen oder anderen Ländern, wenn es um landwirtschaftliche Gebiete geht, erwarten. Wir selbst haben schon zuviel Geld in die Schiffbauindustrie gesteckt - und das in einem Land, dem es wahrlich nicht so gut geht - , als daß wir uns das jetzt kaputtmachen lassen könnten. ({33}) Ich denke, daß auch die Koalition sich das, was hier passiert, nicht gefallen lassen kann. Ich will aus einer großen deutschen Tageszeitung zu dem, was hier in Rede steht, ein Zitat aus einem Kommentar bringen: Den Rest an Glaubwürdigkeit, der der FDP-Wirtschafts- und Finanzpolitik verblieben ist, strapaziert jetzt Minister Möllemann, und zwar gründlich. Sah es zunächst so aus, als ob der neue Bundeswirtschaftsminister das politische PR-Geschäft souverän beherrschte, so stellt sich immer deutlicher heraus, daß sich Möllemann in seinem schier unbändigen Drang nach permanenter Selbstdarstellung erheblich überschätzt hat und politisch überdreht. ({34}) Seine alberne Rücktrittsdrohung im Zusammenhang mit dem von ihm publicityträchtig gepuschten Thema Subventionsabbau ist nur ein Schnitzer von vielen, der an der Seriosität seiner Politik und damit zwangsläufig auch an der seiner Partei zunehmend Zweifel aufkommen läßt. Mag ein künftiger FDP-Vorsitzender Möllemann vielleicht der Enkelgeneration innerhalb der SPD eine verlockende Perspektive bieten; - na, na, kann ich da nur sagen diejenigen aber, die derzeit an der Bonner Finanzpolitik schier verzweifeln, verbinden den Namen Möllemann mit reinem Aktionismus, der Präsident des Senats Klaus Wedemeier ({35}) innerhalb der Koalition nur Unfrieden und in der Öffentlichkeit bloße Verwirrung stiftet. Genau das ist richtig, und das, Herr Kollege, muß aufhören! ({36})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Bevor ich nun nach dem Präsidenten des Senats der Hansestadt Bremen das Wort dem Kollegen Kurt Jürgen Rossmanith gebe, möchte ich Ihnen das Ergebnis der Abstimmung zum Einzelplan 04 bekanntgeben: Abgegeben wurden 559 Stimmen. Ungültige Stimmen gab es nicht. Mit Ja haben 348 gestimmt, mit Nein haben 210 gestimmt. Es gab 1 Enthaltung. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 559 ja: 348 nein: 210 enthalten: 1 Ja CDU/CSU Adam Frau Augustin Augustinowitz Austermann Bargfrede Dr. Bauer Frau Baumeister Bayha Belle Frau Dr. Bergmann-Pohl Dr. Blank Frau Blank Dr. Blens Bleser Dr. Blüm Frau Dr. Böhmer Börnsen ({0}) Dr. Bötsch Bohl Bohlsen Borchert Brähmig Breuer Frau Brudlewsky Brunnhuber Büttner ({1}) Buwitt Carstens ({2}) Carstensen ({3}) Clemens Dehnel Frau Dempwolf Deres Deß Frau Diemers Dörflinger Doppmeier Doss Dr. Dregger Echternach Ehlers Ehrbar Frau Eichhorn Engelmann Eppelmann Eylmann Frau Eymer Dr. Faltlhauser Feilcke Dr. Fell Fischer ({4}) Frau Fischer ({5}) Fockenberg Francke ({6}) Frankenhauser Dr. Friedrich Fritz Fuchtel Ganz ({7}) Frau Geiger Geis Dr. Geißler Gerster ({8}) Gibtner Glos Dr. Göhner Götz Gres Frau Grochtmann Gröbl Grotz Dr. Grünewald Günther ({9}) Frhr. von Hammerstein Harries Haschke ({10}) Haungs Hauser ({11}) Hauser ({12}) Heise Frau Dr. Hellwig Helmrich Dr. Hennig Hinsken Hintze Hörsken Hörster Dr. Hoffacker Hollerith Dr. Hornhues Hornung Hüppe Jäger Frau Jaffke Jagoda Dr. Jahn ({13}) Janovsky Frau Jeltsch Dr. Jobst Dr.-Ing. Jork Dr. Jüttner Jung ({14}) Dr. Kahl Kalb Kampeter Dr.-Ing. Kansy Dr. Kappes Frau Karwatzki Kauder Keller Kiechle Kittelmann Klein ({15}) Klein ({16}) Klinkert Köhler ({17}) Dr. Köhler ({18}) Dr. Kohl Kolbe Frau Kors Koschyk Kossendey Kraus Dr. Krause ({19}) Dr. Krause ({20}) Krause ({21}) Krey Kriedner Dr.-Ing. Krüger Krziskewitz Lamers Dr. Lammert Lamp Lattmann Dr. Laufs Laumann Frau Dr. Lehr Lenzer Dr. Lieberoth Frau Limbach Link ({22}) Lintner Dr. Lippold ({23}) Dr. sc. Lischewski Lohmann ({24}) Louven Dr. Luther Frau Männle Magin de Maizière Frau Marienfeld Marschewski Dr. Mayer ({25}) Meckelburg Meinl Frau Dr. Merkel Frau Dr. Meseke Frau Michalk Dr. Mildner Dr. Möller Molnar Müller ({26}) Nelle Neumann ({27}) Nitsch Frau Nolte Dr. Olderog Ost Oswald Otto ({28}) Dr. Päselt Dr. Paziorek Pesch Petzold Pfeffermann Pfeifer Frau Pfeiffer Dr. Pfennig Dr. Pflüger Pofalla Dr. Pohler Frau Priebus Dr. Protzner Pützhofen Frau Rahardt-Vahldieck Raidel Dr. Ramsauer Rau Rauen Rawe Regenspurger Reichenbach Dr. Reinartz Frau Reinhardt Repnik Dr. Rieder Dr. Riedl ({29}) Dr. Riesenhuber Frau Rönsch ({30}) Frau Roitzsch ({31}) Romer Dr. Rose Rossmanith Roth ({32}) Rother Dr. Ruck Rühe Dr. Rüttgers Sauer ({33}) Sauer ({34}) Scharrenbroich Frau Schätzle Dr. Schäuble Schartz ({35}) Schemken Scheu Schmalz Schmidbauer Schmidt ({36}) Dr. Schmidt ({37}) Schmidt ({38}) Frau Schmidt ({39}) Schmitz ({40}) Dr. Schneider ({41}) Dr. Schockenhoff Graf von Schönburg-Glauchau Dr. Scholz Frhr. von Schorlemer Dr. Schreiber Dr. Schroeder ({42}) Schulhoff Dr. Schulte ({43}) Schulz ({44}) Schwalbe Schwarz Dr. Schwörer Seehofer Seibel Seiters Skowron Dr. Sopart Frau Sothmann Spilker Spranger Dr. Sprung Dr. Stavenhagen Frau Steinbach-Hermann Dr. Frhr. von Stetten Stockhausen Dr. Stoltenberg Strube Stübgen Frau Dr. Süssmuth Susset Tillmann Dr. Töpfer Dr. Uelhoff Uldall Frau Verhülsdonk Vogt ({45}) Dr. Voigt ({46}) Dr. Waffenschmidt Dr. Waigel Graf von Waldburg-Zeil Vizepräsidentin Renate Schmidt Dr. Warnke Dr. Warrikoff Werner ({47}) Frau Wiechatzek Frau Dr. Wilms Wilz Wissmann Dr. Wittmann Wittmann ({48}) Wonneberger Frau Wülfing Würzbach Frau Yzer Zeitlmann Zöller FDP Frau Dr. Adam-Schwaetzer Frau Albowitz Frau Dr. Babel Baum Bredehorn Cronenberg ({49}) Eimer ({50}) Engelhard van Essen Friedhoff Friedrich Funke Frau Dr. Funke-Schmitt-Rink Gattermann Gries Grüner Dr. Guttmacher Hackel Hansen Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hitschler Frau Homburger Frau Dr. Hoth Dr. Hoyer Hübner Irmer Kleinert ({51}) Kohn Dr. Kolb Koppelin Kubicki Dr.-Ing. Laermann Dr. Graf Lambsdorff Frau Leutheusser-Schnarrenberger Lüder Lühr Dr. Menzel Möllemann Nolting Dr. Ortleb Otto ({52}) Paintner Frau Peters Frau Dr. Pohl Richter ({53}) Rind Dr. Röhl Schäfer ({54}) Frau Schmalz-Jacobsen Schmidt ({55}) Dr. Schmieder Schuster Frau Sehn Frau Seiler-Albring Frau Dr. Semper Dr. Sohns Dr. Starnick Frau Dr. von Teichman und Logischen Thiele Dr. Thomae Timm Türk Frau Walz Dr. Weng ({56}) Wolfgramm ({57}) Frau Würfel Zurheide Zywietz Nein SPD Andres Bachmaier Frau Barbe Bartsch Becker ({58}) Frau Becker-Inglau Bernrath Beucher Bindig Dr. Böhme ({59}) Börnsen ({60}) Frau Brandt-Elsweier Dr. Brecht Dr. von Bülow Büttner ({61}) Frau Bulmahn Frau Burchardt Bury Frau Caspers-Merk Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser Dr. Diederich ({62}) Diller Frau Dr. Dobberthien Dreßler Duve Ebert Dr. Ehmke ({63}) Eich Dr. Elmer Erler Esters Ewen Frau Ferner Frau Fischer ({64}) Fischer ({65}) Formanski Frau Fuchs ({66}) Frau Fuchs ({67}) Fuhrmann Frau Ganseforth Gansel Dr. Gautier Frau Gleicke Graf Großmann Habermann Hacker Frau Hämmerle Hampel Frau Hanewinckel Frau Dr. Hartenstein Dr. Hauchler Hiller ({68}) Hilsberg Dr. Holtz Horn Huonker Ibrügger Frau Iwersen Frau Jäger Frau Janz Dr. Janzen Jaunich Jungmann ({69}) Frau Kastner Kastning Kirschner Frau Klemmer Dr. sc. Knaape Körper Frau Kolbe Kolbow Koltzsch Kretkowski Kubatschka Dr. Kübler Kuessner Dr. Küster Kuhlwein Lambinus Frau Lange von Larcher Leidinger Lennartz Lohmann ({70}) Frau Dr. Lucyga Maaß ({71}) Frau Marx Matschie Dr. Matterne Frau Mattischeck Meckel Frau Mehl Meißner Dr. Mertens ({72}) Dr. Meyer ({73}) Mosdorf Müller ({74}) Frau Müller ({75}) Müller ({76}) Müntefering Neumann ({77}) Neumann ({78}) Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Niggemeier Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Opel Frau Dr. Otto Paterna Dr. Penner Dr. Pfaff Rempe Frau von Renesse Frau Rennebach Reschke Reuter Rixe Roth Schäfer ({79}) Frau Schaich-Walch Schanz Scheffler Schily Schloten Schluckebier Schmidbauer ({80}) Frau Schmidt ({81}) Frau Schmidt ({82}) Schmidt ({83}) Frau Schmidt-Zadel Dr. Schmude Dr. Schnell Frau Schröter Schröter Schütz Dr. Schuster Schwanhold Schwanitz Seidenthal Frau Seuster Sielaff Frau Simm Frau Dr. Sonntag-Wolgast Sorge Dr. Sperling Frau Steen Stiegler Dr. Struck Tappe Dr. Thalheim Tietjen Frau Titze Toetemeyer Urbaniak Vergin Dr. Vogel Voigt ({84}) Vosen Wagner Waltemathe Walther Wartenberg ({85}) Frau Dr. Wegner Weiermann Frau Weiler Weißgerber Weisskirchen ({86}) Welt Dr. Wernitz Frau Wester Frau Westrich Frau Wettig-Danielmeier Frau Dr. Wetzel Frau Weyel Dr. Wieczorek Wieczorek ({87}) Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz Wimmer ({88}) Dr. de With Wittich Frau Wohlleben Frau Wolf Frau Zapf Dr. Zöpel Zumkley PDS/LL Frau Bläss Frau Braband Dr. Briefs Frau Dr. Enkelmann Frau Dr. Fischer Dr. Gysi Henn Dr. Heuer Frau Dr. Höll Frau Jelpke Dr. Keller Frau Lederer Dr. Modrow Dr. Riege Dr. Schumann ({89}) Dr. Seifert Frau Stachowa Bündnis 90/GRÜNE Dr. Feige Poppe Frau Wollenberger Enthalten Fraktionslos Lowack Vizepräsidentin Renate Schmidt Der Einzelplan 04 ist damit in der Ausschußfassung angenommen. Das Wort hat nun der Kollege Rossmanith.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bürgermeister Wedemeier, gestatten Sie mir, daß ich zunächst zum heutigen Thema - wir beraten jetzt den Einzelplan des Bundesministers für Wirtschaft - etwas sage. Ich habe aber auch das Thema Subventionsabbau im Visier. Sie dürfen mir glauben, daß ich auch zu den Werften und der Werfthilfe etwas sagen werde, alldieweil ich glaube, daß ich mit Fug und Recht behaupten kann, daß wir vom Haushaltsausschuß uns redlich bemüht haben, mit den Kolleginnen und Kollegen aus den norddeutschen Ländern eine vernünftige Regelung zu finden, die auch tatsächlich sowohl diesem für mich und für uns alle sehr wichtigen Wirtschafts- und Industriezweig, aber auch der Notwendigkeit einer sparsamen Haushaltsführung gerecht wird. Gemeinhin wird der Haushalt das Schicksalsbuch der Nation genannt. Ich glaube, gerade für diesen Haushalt 1991 gilt das in ganz besonderem Maße, einfach deshalb, weil dieses der erste gesamtdeutsche Haushalt ist und der eben unter der Prämisse des Einigungsprozesses steht. Wir sind alle dankbar, daß wir dieses nationale Ziel der deutschen Einheit erlangt haben. Wir stehen jetzt vor der Problematik, auch die wirtschaftliche und soziale Integration der bisherigen beiden deutschen Teilstaaten bewältigen zu müssen. Wir wollen so rasch als möglich - da muß ich um Geduld auf der einen wie auf der anderen Seite bitten - auch gemeinsame Lebensbedingungen in ganz Deutschland schaffen. Es war ja zu erwarten, daß die Wirtschaft in den neuen Bundesländern nach der Vereinigung eine sehr schmerzhafte Phase der Anpassung durchlaufen muß und der Übergang zur Marktwirtschaft und, damit verbunden, die Öffnung der Märkte nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft und Mißwirtschaft mit großen Schwierigkeiten behaftet sein würde. Zu dieser Problematik der Überleitung zur Sozialen Marktwirtschaft kam der desolate Zustand der gesamten Infrastruktur - sei es Schiene, sei es Straße, sei es das Kommunikationsnetz - hinzu. Mit diesen Erblasten des Sozialismus müssen wir eben fertigwerden. Hier liegt natürlich gerade für den Wirtschaftsminister ein ganz wesentlicher Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Ich glaube, daß die Maßnahmen, die wir insbesondere auch mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost und den steuerlichen Erleichterungen - Sonderabschreibungen und Investitionszulagen - geschaffen haben, auch ganz wichtige Voraussetzungen waren und sind, daß sich so langsam ein erster Silberstreif am Horizont sehen läßt. Die Investitionsneigung nimmt zu, wobei vor allem Impulse von reprivatisierten Unternehmen und von westlichen Investoren ausgehen. Die lebhafte Inanspruchnahme öffentlicher Förderprogramme in den neuen Bundesländern ist für mich ein ganz wesentliches und deutliches Indiz. So sind bisher schon 95 000 Anträge auf ERP-Kredite mit einem Volumen von insgesamt rund 10 Milliarden DM gestellt worden. Damit können Investitionen in (1 Höhe von 20 Milliarden DM und etwa 300 000 neue Arbeitsplätze gefördert werden. Ich glaube, ebenso erfolgreich läuft auch die regionale Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern an. Bis Ende April dieses Jahres sind schon rund 5 000 Anträge auf Förderung von Vorhaben der gewerblichen Wirtschaft mit einem Investitionsvolumen von fast 34 Milliarden DM gestellt worden. Bis zum gleichen Zeitpunkt wurden Investitionszuschüsse für über 1 000 Infrastrukturmaßnahmen mit einem Investitionsvolumen von etwa 10 Milliarden DM beantragt. Auch hierdurch werden bis zu einer halben Million neue Arbeitsplätze geschaffen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das sind sicher sehr erfreuliche Anzeichen, die allerdings nicht darüber hinwegtäuschen dürfen, daß sich der Beschäftigungsrückgang in den fünf neuen Bundesländern in diesem Jahr zunächst noch weiter fortsetzen wird. Wer die neuesten Arbeitsmarktzahlen heute gehört hat, kommt zu der erfreulichen Erkenntnis, daß sich die Arbeitslosenzahl in den fünf neuen Bundesländern - Gott sei Dank, muß ich sagen - gegenüber dem Vormonat kaum erhöht hat. Wir haben jetzt 1,6 Millionen Arbeitslose in den alten Bundesländern, im westlichen Bereich unseres Vaterlandes, und 842 000 Arbeitslose in den neuen Bundesländern. Das ist ein Anstieg um über 5 000 gegenüber dem Vormonat. Allerdings bin ich mir natürlich dessen bewußt, daß das Auslaufen der „Warteschleifenregelung" im öffentlichen Dienst und von Kündigungsschutzabkommen in der Wirtschaft sowie die unvermeidbare Schließung nicht mehr wettbewerbsfähiger Betriebe zu einer weiteren Freisetzung von Arbeitskräften in den neuen Bundesländern führen werden. Ich muß in dem Zusammenhang - Bürgermeister Wedemeier hat das hier ausdrücklich bestätigt - natürlich auch die große Rolle der Lohnpolitik mit erwähnen. Auch für die neuen Bundesländer gilt die volkswirtschaftliche Grundregel, daß die Erhöhung der Löhne mit der Steigerung der Produktivität Schritt halten sollte. Eine kurzfristige Angleichung der Löhne an das westdeutsche Niveau würde fast alle bestehenden Unternehmen in den neuen Bundesländern überfordern und das Entstehen kleiner und mittlerer Unternehmen - wir haben ja in den alten Bundesländern gesehen, daß Beschäftigungsimpulse gerade von den mittleren Unternehmen, vom Mittelstand ausgehen - in den neuen Bundesländern behindern. Ich möchte auch einen Appell an die Gewerkschaften richten. Die Gewerkschaften stehen hier ganz massiv in der Verantwortung. Ich darf den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt zitieren, der in einem Aufsatz in der „Zeit" folgende Mahnung an die Adresse der Gewerkschaften gerichtet hat: Wer der Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern entgegentreten will, wer dort mit Recht gegen Arbeitslosigkeit protestiert, wer gar ein Grundrecht auf Arbeit in die Verfassung hineinschreiben möchte, der muß solidarisch seine westdeutsche Lohnpolitik zügeln. Ich glaube, dem brauchen wir nichts mehr hinzuzufügen. Der Haushalt des Bundesministers für Wirtschaft ist von den Folgekosten der deutschen Einheit gekennzeichnet. Sein Volumen hat sich mehr als verdoppelt und beläuft sich für das laufende Haushaltsjahr 1991 auf rund 14,5 Milliarden DM. Der Mehrbedarf ist, wie gesagt, fast ausschließlich einigungsbedingt. Bei den Beratungen im Haushaltsausschuß hat es weitgehend Einvernehmen über die Ansätze dieses Einzelplans gegeben. Ich möchte deshalb vor allem meinen Berichterstatter-Kollegen von dieser Stelle aus noch einmal meinen Dank für die faire und sachliche Zusammenarbeit aussprechen. Danken möchte ich aber auch den mit dem Haushalt beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Wirtschaftsministerium und im Finanzministerium, die nicht nur eine umfangreiche und sehr gute Vorarbeit geleistet haben, sondern uns auch jede ihnen mögliche Unterstützung haben zukommen lassen. Lassen Sie mich deshalb nur ganz kurz und in Stichpunkten auf die Schwerpunkte der einigungsbedingten Ausgaben im Einzelplan des Bundesministers für Wirtschaft eingehen, die sich auf mehr als 7 Milliarden DM belaufen. Dabei handelt es sich u. a. um Maßnahmen zur Förderung des wirtschaftlichen Wiederaufbauprozesses. Hierzu gehören die Investitionsförderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" mit 2 Milliarden DM sowie die Förderung der mittelständischen Wirtschaft mit knapp 700 Millionen DM. Die Erfahrungen in den alten Bundesländern haben ja gezeigt, daß gerade die mittelständischen Betriebe entscheidend zum Strukturwandel und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen können. Deshalb ist diese Schwerpunktverlagerung in diesem Haushalt für diesen Bereich für mich eine ganz wichtige und logische Konsequenz. Ich glaube - und ich bin überzeugt, daß wir uns darin hier alle einig sind - , daß die Förderung der Gründung selbständiger Existenzen in den neuen Bundesländern von uns allen nachhaltig begrüßt wird. Große Bedeutung kommt sicherlich auch der Beratung und Qualifizierung der Arbeitnehmer zu. Auch diese Mittel haben wir im Haushaltsausschuß noch entsprechend aufgestockt, ohne aber das Volumen des Einzelplans insgesamt zu erhöhen. Wir haben es durch Umschichtungen geschafft. Das sind für mich Maßnahmen, die zwingend erforderlich sind. Neben den Mitteln für diese Förderungsmaßnahmen sind natürlich auch noch sonstige Folgekosten der deutschen Einheit veranschlagt. Sie machen allein in diesem Jahr rund 4 Milliarden DM aus. Neben der Aufarbeitung von Hinterlassenschaften der ehemaligen DDR - ich nenne hier nur die Rekultivierung der Uranbergbaugebiete in Thüringen und Sachsen - umfassen diese Kosten auch die erste Rate für das Wohnungsbauprogramm für die in ihre Heimat zurückkehrenden sowjetischen Truppen. Die Durchführung dieses Programms hat in der letzten Zeit etwas zu Irritation geführt. Ich hoffe, sehr geehrter Herr Bundesminister Möllemann, daß sich die Bundesregierung für eine angemessene Beteiligung der deutschen Bauunternehmer bei den weiteren Bauabschnitten einsetzen wird. Wir müssen angesichts dieser großen finanziellen Belastungen durch die deutsche Einheit natürlich weiterhin eine strenge Ausgabendisziplin verfolgen. Deswegen konnten wir nicht allen Wünschen und allen Anregungen in diesem Haushalt Rechnung tragen. Wir sind uns mit dem Sachverständigenrat und den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten darin einig, daß ein Defizit in der derzeitigen Höhe nicht auf Dauer ohne Schaden für die gesamte Wirtschaft durchgehalten werden kann. Nur muß ich hier wieder an die Kolleginnen und Kollegen der großen Oppositionspartei appellieren, der nichts anderes und nichts Besseres einfällt, als nach weiteren Steuererhöhungen zu rufen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt - das ist sicherlich ein sehr schwieriges Unterfangen -, ({0}) durch Subventionskürzungen auch zu einer Konsolidierung des Haushaltes, Herr Kollege Waltemathe, beizutragen. Ich bin mir bewußt - wir machen diese Arbeit im Haushaltsausschuß ja schon lange genug - , daß Finanzhilfen und Steuernachlässe gestaltende Politik sind, bei deren Reduzierung aber natürlich nicht nach dem Sankt-Florians-Prinzip vorgegangen werden darf. Deshalb halte ich, was Subventionsabbau anlagt, überhaupt nichts von der Rasenmäher-methode, nach der alle Subventionen ohne Rücksicht auf Zweck und Bedeutung einfach um einen bestimmten Prozentsatz gekürzt werden. ({1}) - Ich freue mich ja, Frau Kollegin, wenn wir hier einig sind. Ich bin überzeugt, daß wir dann auch ein entsprechendes Ergebnis erzielen werden. Ich bin der Meinung, daß die Finanzhilfen und Steuervergünstigungen im einzelnen auf Notwendigkeit und Höhe überprüft werden müssen. Nur so lassen sich sinnvolle und vertretbare Ergebnisse erreichen. Staatliche Hilfen, meine sehr verehrten Damen und Herren und werter Herr Minister Möllemann, sind natürlich auch keine Entscheidung parteipolitischer Opportunität. Ich gehe durchaus mit Ihnen einig, daß die staatlichen Hilfen dort deutlich reduziert oder ganz gestrichen werden müssen, wo ein Abbau kranker und längst überholter Strukturen erreicht werden kann, d. h. für mich Reduzierung und Abbau von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen, die wirtschaftlich überflüssig sind, die veraltete Strukturen festigen und keinerlei Zukunftsperspektiven darstellen. ({2}) Wir müssen aber dort Akzente setzen, wo es sich um die Sicherung von Zukunftstechnologien und damit um zukunftssichere Arbeitsplätze handelt. Finanzhilfen und steuerliche Erleichterungen sollten deshalb als Anschubfinanzierung wirken, zu Investitionen anregen, die für die Wirtschaft erforderlichen ZukunftsKurt J. Rossmanith strukturen schaffen, und sie sollten natürlich nicht auf Dauer angelegt sein. ({3}) - Auch das ist ein Thema, über das wir uns noch werden unterhalten müssen: Was ist Subvention und was nicht? Verehrte Frau Kollegin Blunck, ich werde gleich den Versuch machen, darauf eine Antwort zu geben. Ich wäre dankbar, wenn wir diese Antwort gemeinsam finden würden. Es wird soviel über Subventionen gesprochen. Jeder meint, hier mitreden zu können und mitreden zu müssen, ohne im Endeffekt überhaupt zu wissen, um was es sich bei einer Subvention handelt. Herr Bürgermeister Wedemeier hat aus seiner Sicht mit Recht - ich darf Ihnen sagen: hier haben Sie die Unterstützung des gesamten Deutschen Bundestages von Nord bis Süd - einen Punkt herausgegriffen, nämlich den Werftenbereich. Ich weiß, daß es dabei um etwa 35 000 bis 37 000 Arbeitsplätze geht. Ich habe - heute allerdings zum erstenmal, wie ich sagen muß - dankbar vernommen, daß dabei auch süddeutsche, insbesondere bayerische Unternehmen beteiligt sind, was den Ausbau anlangt. Aber nicht dies war für uns der Anlaß, uns massiv für eine Fortführung der Wettbewerbshilfe für die Werften einzusetzen, und zwar von seiten der CDU/ CSU, der FDP und der SPD. Ich danke meinen norddeutschen Kolleginnen und Kollegen, die dabei die entsprechende Unterstützung und Hilfestellung gegeben haben. Ich danke auch den Werften, die mir die Möglichkeit gegeben haben, mich vor Ort von der Notwendigkeit dieser Hilfe zu überzeugen. Sie alle wissen, daß der Haushaltsausschuß und damit auch meine Person in dieser Frage mit Herrn Möllemann gewisse Schwierigkeiten haben oder hatten. Aber einen Vorwurf, Herr Bürgermeister Wedemeier, darf ich auf ihm nicht sitzenlassen: daß er nicht das Gespräch gesucht habe. Ich weiß, daß er mehrere Gespräche geführt hat und daß er weitere Gespräche mit der Schiffbauindustrie führen wird. Das möchte ich hier auch einmal erwähnen. Ich möchte noch zwei weitere Bereiche, was den Subventionsabbau anlangt, exemplarisch erwähnen, und zwar zum einen das Eigenkapitalhilfeprogramm. Hier ist beabsichtigt, für die bisherigen Bundesländer das Eigenkapitalhilfeprogramm mit Ablauf dieses Jahres auslaufen zu lassen. Ich glaube, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, verehrter Herr Bundesminister, auch darüber müssen wir uns noch einmal nachdrücklich unterhalten. Ich sehe in diesem Eigenkapitalhilfeprogramm eine wesentliche Stütze unseres wirtschaftlichen Erfolgs und des Aufschwungs. Ich möchte ganz kurz exemplarisch auch die allgemeine Luftfahrt ansprechen. Ich möchte an uns alle - das habe ich schon angedeutet, verehrte Frau Kollegin Blunck - , die Frage richten, ob denn bei dieser Zukunftstechnologie - seien es die Werften oder die allgemeine Luftfahrt - eine staatliche Förderung der Entwicklungskosten eine Subvention im üblichen Sinne darstellt. Ich weigere mich nicht, Ihnen die Antwort zu geben: für mich ein ganz klares Nein. Es handelt sich hierbei nämlich nicht um eine Erhaltungssubvention zu Lasten von Wachstum und Beschäftigung, nicht um eine Beeinträchtigung der Leistungs-und Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb beteiligt sich der Staat ganz bewußt am Risiko neuer Entwicklungen, und zwar nicht nur in Form verlorener Zuschüsse, sondern auch in Form bedingt rückzahlbarer Darlehen, insbesondere was die Luftfahrt anlangt, die im Erfolgsfall sogar eine unbefristete Rückzahlung erfordern. Aus diesem Grunde müssen wir - davon bin ich überzeugt, meine sehr verehrten Damen und Herren - eine Ergänzung zur Förderung des Großflugzeugbaus vornehmen, um auch der mittelständischen Luftfahrtindustrie bei uns in Deutschland den Zugang zum internationalen Markt zu erschließen. ({4}) Deutsche mittelständische Hersteller von Fluggeräten verfügen über innovative Ressourcen für technisch moderne und ökologisch verträgliche Flugzeuge, sowohl was die Werkstoffe und die Aerodynamik als auch den Antrieb betrifft. Diese Chance, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf nicht vertan werden; zukunftstechnologisch hochstehende Arbeitsplätze dürfen unserer Jugend nicht vorenthalten werden. Ich weiß aus zahlreichen Diskussionen mit Fachleuten aus der Wirtschaft, daß diese Ansätze der staatlichen Förderung nicht nur notwendig, sondern auch richtig sind und quasi als Eintrittsgeld für die Technologie der Zukunft dienen. Das vorhandene Fluggerät - wir alle wissen das und spüren es mitunter selbst sehr schmerzhaft - ist zum überwiegenden Teil technisch überaltert und ökologisch nicht mehr zeitgemäß. Hoher Ersatzbedarf erwartet deshalb innovative und wirtschaftliche Fluggeräte. Hier müssen wir unseren Beitrag leisten. Wir sollten bereits jetzt, Herr Bundesminister Möllemann, Vorsorge für den Haushalt 1992 treffen. Ich und alle in diesem Parlament sind diesbezüglich gern zur Mitarbeit bereit, damit wir bei dieser Zukunftstechnologie nicht vom internationalen Wettbewerb abgekoppelt werden und sie nicht nur den Vereinigten Staaten, den Japanern oder den Franzosen, die jetzt verstärkt auf diesen Markt drängen, überlassen, sondern daß wir diese Zukunftstechnologie selbst gestalten. Wir sollten dafür Sorge tragen, daß unsere jungen Menschen, die heute in dieser Technologie arbeiten, die heute das Studium aufnehmen und die heute ihren Ausbildungsplatz in diesem Bereich suchen, diese zukunftstechnischen Berufe auch hier in Deutschland vorfinden und nicht ins Ausland abwandern müssen. Ich bedanke mich. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Weng.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wahrscheinlich ist der Öffentlichkeit bisher gar nicht bewußt gewesen, daß im Einzelplan des Wirtschaftsministers eine große Menge von Subventionen etatisiert sind. Ohne jetzt Dr. Wolfgang Weng ({0}) auf allzu viele Einzelheiten einzugehen, möchte ich doch einige Schwerpunkte verdeutlichen, weil dies auch im Vorfeld der Diskussion über den erforderlichen Subventionsabbau ab 1992 ein wenig zur Aufhellung beiträgt. Wenn sich, Herr Bürgermeister Wedemeier, jeder Vertreter von Einzel- oder Regionalinteressen schützend vor seinen speziellen Subventionsbereich stellt, dann können wir den Subventionsabbau insgesamt gleich vergessen. ({1}) Ich sage auch: Die Forderung nach Gesamtkonzeptionen ist häufig die wohlfeile Ausrede bei fehlender eigener Handlungsbereitschaft. ({2}) Die Situation unserer Wirtschaft und des Arbeitsmarktes in den alten Bundesländern ist ein Beweis für eine langjährige erfolgreiche Wirtschaftspolitik der FDP in der Koalition, jetzt mit der CDU/CSU. Herr Bürgermeister Wedemeier, Ihre Kritik an dieser Wirtschaftspolitik geht insoweit völlig ins Leere. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege, der Kollege Grünbeck möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wird es mir nicht angerechnet?

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Es wird Ihnen nicht angerechnet.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Alles klar! Bitte sehr!

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weng, sind Sie mit mir der Auffassung, daß die Kritik des Herrn Bürgermeisters Wedemeier an der konzeptionslosen Wirtschaftspolitik der letzten Jahre insoweit völlig verfehlt ist, als wir inzwischen die höchste Beschäftigungsrate in den alten Bundesländern erreicht haben, was die beste Voraussetzung für eine wirklich aufrichtige und soziale Marktwirtschaft darstellt? ({0}) Dr. Wolfgang Weng ({1}) ({2}) : Ja. ({3}) Stichworte wie „Maßnahmen zugunsten des deutschen Steinkohlenbergbaus", „Förderung der Luftfahrttechnik" und „Hilfen für die Werftindustrie" beziehen sich auf nur einige Bereiche; die politisch gewünschte vielfältige Unterstützung des Mittelstandes kommt noch hinzu. Daß unter dem Aspekt der deutschen Wiedervereinigung das Wirtschaftsministerium jetzt zusätzlich wichtige Abwicklungsaufgaben übernehmen mußte, wird durch eine Reihe neuer Etatansätze deutlich, von denen ich einige kurz darstellen will. Mehr als eine Milliarde DM wenden wir auf, um die sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft Wismut geordnet stillzulegen, zu sanieren und die Betriebsflächen zu rekultivieren. Hierbei sind ganz wesentlich die seither total vernachlässigten Umweltnotwendigkeiten, Aspekte des Strahlenschutzes und auch der Bergsicherheit zu berücksichtigen. Für uns hier im Westen ist fast unvorstellbar - ich sage dies auch mit Blick auf die Biedermannmiene, mit der Herr Modrow und andere Vertreter der SED/ PDS hier in der Haushaltsdebatte aufgetreten sind ({4}) mit welcher Menschenverachtung die Arbeitnehmer in diesem Betrieb ohne jede Rücksicht auf ihre Gesundheit in übelster Weise ausgenutzt und benutzt worden sind. ({5}) Wir haben schnelle Abhilfe geschaffen und müssen jetzt in der Erledigung voranschreiten. Über 1 Milliarde DM ist etatisiert, um das Wohnungsbauprogramm in der UdSSR anzufinanzieren. Es hat ja eine breite öffentliche Diskussion darüber gegen, ob all die Wohnungen, die für die heimkehrenden Soldaten der Sowjetarmee zur Verfügung stehen sollen, ausschließlich von deutschen Firmen gebaut werden müssen. Ich bin der Meinung, daß sich die deutsche Bauindustrie dem internationalen Leistungs-, aber auch Kostenwettbewerb stellen muß. Die Bedürfnisse auf dem innerdeutschen Baumarkt garantieren auf lange Zeit eine weitestgehende Auslastung der Bauindustrie. Ein Blick auf die unter der SED-Herrschaft erheblich verrottete Bausubstanz in den neuen Bundesländern macht dies besonders deutlich. Da darf es keine Schutzzäune im Wettbewerb geben. Meine Damen und Herren, ich erinnere an die Bemerkung, die der Herr Bundeskanzler hier heute morgen gemacht hat. Er hat gesagt, daß eine Volkswirtschaft die frische Luft des Wettbewerbs dringend benötigt. ({6}) Nur die spezielle Situation der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern hat den erfolgreichen MoskauEinsatz des Herrn Bundeswirtschaftsministers für die Beteiligung deutscher Baufirmen am ersten Los der Neubauten legitimiert. Die weitere Ausschreibung wird marktwirtschaftliche Aspekte berücksichtigen müssen. Zusätzlich finanzieren wir eine Reihe von Verpflichtungen, die sich unter dem Aspekt Vertrauensschutz zugunsten der UdSSR aus den Verträgen mit der ehemaligen DDR ergeben und die zum Teil auch Vorleistungen für Gegenleistungen sind, die wir in Zukunft erwarten können. Ich nenne die Lieferung von Rohstoffen, z. B. von Eisenerz und Erdgas. Lassen Sie mich noch einmal zum Subventionsthema zurückkommen. Meine Damen und Herren, der Bundeswirtschaftsminister hat im Haushaltsausschuß ja einen ersten Eindruck davon erhalten, die Lösung einer wie schwierigen Aufgabe er sich zusammen mit Finanzminister Waigel und Innenminister Schäuble beim Subventionsabbau vorgenommen hat. Dr. Wolfgang Weng ({7}) Sein Versuch, bei der Werfthilfe zumindest weitgehende Optionen offenzuhalten, mußte mit Blick auf die Beschlußlage des vergangenen Jahres unter dem Druck der Interessenten teilweise zurückgenommen werden. Ich will dieses Beispiel zum Anlaß für einen Appell an die Kollegen insbesondere in der Koalition nehmen. Unsere finanzpolitische Handlungsfähigkeit können wir nur dokumentieren, wenn wir gemeinsam unter Zurückstellung von Einzelinteressen den ordnungspolitisch notwendigen, in Koalitionsbeschlüssen festgelegten Subventionsabbau ermöglichen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Weng, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Waltemathe?

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte, gerne, Frau Präsidentin.

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Weng, trifft es zu, daß am 10. Oktober 1990 der Kompromiß über die Wettbewerbshilfe für Seeschiffswerften auch mit Zustimmung der FDP zustande gekommen ist?

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es trifft zu, Herr Kollege Waltemathe. Aber erstens wissen Sie, es gibt seitdem eine neue Situation. ({0}) Zweitens kann man die Frage stellen, ob hier eine totale Bindung auf lange Jahre das Sinnvolle war oder ob nicht erst die konzeptionelle Überlegung da sein muß, ehe man dann einen Teil dieser Bindung freigibt. Der Weg, der jetzt beschritten ist, gibt - so unterstelle ich einmal - den erforderlichen Spielraum. Wir werden sicherlich im Zusammenhang mit dem Subventionsabbaukonzept, das hier übrigens Bürgermeister Wedemeier lustigerweise kritisiert hat, obwohl es noch gar nicht vorliegt - es ist ja noch gar nicht erstellt - darüber zu reden haben. ({1}) - Nein, nein, bis jetzt ist es noch nicht da. Die SPD hat sich - ich wende mich wieder an die Kolleginnen und Kollegen von der Koalitionsseite - aus ihrer Mitverantwortung in diesem Bereich ja bereits gestern verabschiedet. Ich erinnere an die Redebeiträge insbesondere von Frau Matthäus-Maier. Von der SPD wird in diesem Bereich keinerlei Unterstützung zu erwarten sein; wir müssen das wissen. ({2}) Ich will eine Bemerkung anfügen. Ausgewogenheit ist bei einem solchen Abbau eine Notwendigkeit. Ganz sicher darf nicht nach dem Motto „Hier ist der Widerstand am geringsten" ein einseitiger Eingriff in die Mittelstandsförderung erfolgen. Ich sage dies ganz wesentlich mit Blick darauf, daß der Aufbau einer mittelständischen Struktur in den neuen Bundesländern erst am Anfang steht und daß er ordnungswie staatspolitisch dringend erforderlich ist. ({3}) Auch in der alten Bundesrepublik bleibt die Förderung des Mittelstandes eine wichtige Aufgabe; denn gerade die ausgewogene Struktur kleiner, mittlerer und großer Firmen macht seither unsere Leistungsstärke aus. Dabei soll es für Gesamtdeutschland auch bleiben. ({4}) Meine Damen und Herren, das Wirtschaftsministerium ist ganz wesentlich auch das Energieministerium. Es ist nötig, daß Wirtschaftsminister Möllemann dem Bereich Energiepolitik eine höhere Aufmerksamkeit schenkt, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Energiepolitik muß heißen: neue Energiepolitik. Es ist richtig, daß es nicht zu einer einseitigen Neuorientierung auf den Ausbau der Kernenergie im Zusammenhang mit der deutschen Einheit kommt. Das Parteiprogramm der FDP zeigt zu Energiefragen seit langem den richtigen Weg auf: Eine strukturell ausgewogene Versorgung einerseits, aber vor allem die Forderung nach sparsamer Verwendung und nach bestmöglicher Nutzung alternativer Energien andererseits sind gefordert. Gerade die Verschleuderung von Energie, die seither in rücksichtsloser Weise die Umwelt und damit den Lebensraum der Menschen in den neuen Bundesländern zerstört hat - da rate ich wirklich allen, sich einmal die Umgebung von energieerzeugenden Anlagen in den neuen Bundesländern anzusehen -, ist ein deutliches Signal für Umkehr auf den richtigen Weg. Energiepolitisch ist viel zu tun, Herr Bundeswirtschaftsminister: Über Gebiets- und Leitungsmonopole kann man neu nachdenken, ausgewogene Strukturen, auch dezentrale kleinere Einheiten ansteuern, eine vernünftigere, verbrauchshemmende Tarifpolitik angehen. All dies sind wichtige Aufgaben, die sofort in Angriff genommen werden müssen. Daß sich mit Hinweis auf die viel zu hohen Kosten der deutschen Steinkohle der Kreis in Richtung Subventionsabbau wieder schließt, diesen Hinweis will ich zusätzlich geben. Meine Damen und Herren, die Erfüllung der vielfältigen und schweren Aufgaben des Wirtschaftsministeriums wird durch die Koalitionsentscheidung zum Etat 09 im Haushaltsausschuß ermöglicht. Die FDP-Fraktion stimmt dem Einzelplan des Bundeswirtschaftsministers zu und wünscht Jürgen Möllemann bei der mit großem Elan in Angriff genommenen Erfüllung seiner Aufgaben Erfolg. Vielen Dank. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Abgeordnete Bernd Henn.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 40 Jahre autoritärer, bürokratischer Sozialismus haben in der ehemaligen DDR keine so effiziente und hochproduktive Wirtschaft wie in der alten BRD entstehen lassen. Das ist unbestreitbar. Über die Ursachen und über die Mechanismen, die dazu geführt haben, über äußere und innere Faktoren, über Systembedingtheit und subjektive Fehler und über die historischen Möglichkeiten eines demokratischen Sozialismus, über alle diese Dinge werden wir streiten können, hier und sicher auch andernorts. In diese Diskussion gehört aber dann auch das Thema der humanen und sozialen Kosten unserer kapitalistischen Ellenbogengesellschaft. Dazu gehört dann auch die Frage, warum in unserer ach so effizienten Wirtschaft die Gesellschaft Millionen Sozialhilfeempfänger zu versorgen hat. 31,6 Milliarden DM waren es 1990. Dazu gehört weiter die Frage, warum in dieser ach so effizienten Wirtschaft weitere Millionen Menschen in nicht geschützten Arbeitsverhältnissen leben - Stichworte: Zeitverträge, Leiharbeit, Teilzeitarbeit unter der Sozialversicherungsgrenze usw. - und warum immer noch fast zwei Millionen Menschen in Westdeutschland arbeitslos sind. Die alte BRD war und ist ebensowenig ein Arbeiterparadies, wie es die DDR war. Dies alles wird Thema sein, weil es auf die Dauer unerträglich ist, daß die berechtigten Ansprüche der westdeutschen Arbeiter und Angestellten wegen der Vereinigung unter die Räder kommen. Man kann viel darüber reden, daß die Maschinen und Anlagen in der ehemaligen DDR auf Verschleiß gefahren und vor allem die menschlichen Ressourcen fehlgeleitet wurden. Das haben die Arbeiter und Angestellten und viele Betriebsleiter drüben sehr wohl beklagt, ohne daß sie daran etwas ändern konnten. Aber man muß auch wieder darüber reden, daß in unserer kapitalistischen Ellenbogengesellschaft viele Menschen im Arbeitsprozeß physisch und psychisch auf Verschleiß gefahren werden und daß in den Fabriken und Verwaltungen täglich mehr Menschen, die gesundheitlich angeschlagen sind, arbeiten, als gleichzeitig Menschen wegen einer ärztlich attestierten Krankheit nicht arbeiten. Deshalb werden wir diesen törichten Schwätzern, welche die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall angreifen, auch jeglichen entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Die Effizienz unserer westdeutschen Wirtschaft hatte und hat eben auch ihren menschlichen Preis. Die Arbeiter und Angestellten haben den westdeutschen Unternehmen im Jahre 1990 ein neugebildetes Geldvermögen von 187 Milliarden DM erarbeitet. Die liquiden Mittel wuchsen damit auf mehr als 1,5 Billionen DM an. 680 Milliarden DM sind bei in- und ausländischen Firmen auf Terminkonten angelegt, die mehr als 30 Milliarden DM an Zinsen im Jahr bringen; so der Bericht der Deutschen Bundesbank im Mai 1991. Wenn der Herr Bundesminister Dr. Waigel hier gestern darauf verwiesen hat, daß durch die TreuhandVerkäufe 60 Milliarden DM Investitionen in der ehemaligen DDR mobilisiert werden konnten, die sich allerdings auf einige Jahre verteilen dürften, dann muß man hinzufügen, daß in Westdeutschland allein 1990 ein Wert von über 300 Milliarden DM erreicht wurde und daß die Unternehmen sozusagen aus dem Stand in der Lage wären, den doppelten Betrag, also über 600 Milliarden DM, anzulegen. Weil das so ist, werden wir von der Partei des Demokratischen Sozialismus nicht das Hohelied vom Teilen anstimmen, wenn es um die Finanzierung der Kosten für die deutsche Einheit geht. Diese Kosten können von denen aufgebracht werden, die über Vermögen verfügen, die an der Einheit verdient haben und immer noch an ihr verdienen. ({0}) - Herr Hinsken, inzwischen sollten Sie es begriffen haben: Kümmern Sie sich um Schalck-Golodkowski; da ist noch einiges zu holen. Lassen Sie den nicht immer ungeschoren. ({1}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Treuhand-Verkäufe sollen 400 000 Arbeitsplätze in der ehemaligen DDR gesichert haben; so Herr Dr. Waigel hier gestern in der Debatte und der Bundeskanzler in der Wirtschaftskonferenz. An der sozialen Katastrophe ändert das nichts. Die Treuhand-Unternehmen werden bis zum Jahresende ihre Belegschaftszahl laut Treuhand-Bericht von 2,8 Millionen auf 1,4 Millionen halbieren; fast 500 000 Kündigungen werden den Arbeitern und Angestellten noch bis Ende Juni zugehen. Da nützen auch die gebetsmühlenartigen Verweise auf 40 Jahre Sozialismus nichts mehr. Der Weg zum schrittweisen Umbau der DDR-Wirtschaft auf Weltmarkterfordernisse stand 1990 offen. Er ist bewußt nicht gegangen worden, und zwar nicht, weil angeblich das Tor zur Einheit nur kurze Zeit offen stand. Wenn man die Position von Gorbatschow im Hinblick auf den Weltwirtschaftsgipfel beurteilt, kann man nun wirklich nicht zu diesem Urteil kommen. Das ist also Legendenbildung. ({2}) - Das mag Ihr Urteil sein. Ich denke, daß die Chancen für die deutsche Einheit, einen anderen Weg zu gehen, im Jahre 1990 gegeben waren. Die wahren Gründe dürften an anderer Stelle liegen. Der Kollege Roth hat ja hier heute schon angedeutet, wer an der Einheit verdient. Ich denke, daß insbesondere auch die Handelskonzerne diesen Weg und diesen Prozeß der Einheit wollten, denn sie verdienen heute insbesondere an dem Anschluß der DDR. Sie wissen auch, daß die Handelskonzerne zwischen Rostock und Suhl den ostdeutschen Bürgern höhere Preise abnehmen als den Bürgern im Westen, daß sie also klotzig daran verdienen. Das ist der eigentliche Skandal. ({3})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Henn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich denke, das wird nicht auf meine Redezeit angerechnet.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Ja.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte nur fragen, ob Sie in der Lage sind, ein Beispiel für das anzuführen, was Sie soeben gesagt haben, nämlich daß die Produkte in der ehemaligen DDR seitens der Handelsketten teurer abgesetzt werden als bei uns.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich beziehe mich - Herr Hinsken, Sie haben das gestern sicher auch nachlesen können - auf eine von der Stiftung Warentest durchgeführte Untersuchung. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind der Auffassung, daß ohne eine neue Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik die sozialen Folgelasten des bisherigen Crashkurses dauerhaft den sprichwörtlich kleinen Mann im Westen wie im Osten belasten werden. Vielen wird es schlechter gehen, wenigen besser. Natürlich werden sich die Arbeitslosenquoten in Ost und West durch entsprechende Abwanderung nach und nach angleichen. Die Arbeitslosigkeit wird eines Tages sicher auch zum Stillstand kommen, weil immer mehr Frauen aus dem Leistungsbezug herausfallen werden und an den sogenannten Kochtopf, in die stille Reserve zurückgedrängt werden. Ich bin gespannt, ob Sie dann auch noch von verdeckter Arbeitslosigkeit reden werden, denn wir im Westen hatten auch millionenfach verdeckte Arbeitslosigkeit, d. h. all die resignierten Arbeitslosen, die sich nicht mehr haben registrieren lassen. Ich meine, eine Perspektive ist nur möglich, wenn in die strukturbestimmenden Industriezweige der Ex-DDR schneller und umfangreicher Investitionen gelenkt werden. Dazu bedarf es einer Industriepolitik, von der wirklich noch unklar ist, ob diese Regierung sie zu betreiben bereit ist. Ich will das angesichts der knappen Redezeit am Beispiel der Chemie kurz zu beschreiben versuchen. ({1}) Das Chemiedreieck Halle-Merseburg-BitterfeldLeipzig ist zum Wallfahrtsort der Politiker geworden. Dem Herrn Bundesaußenminister nehme ich noch ab, daß er persönlich ein großes Interesse an dieser Region hat. Der Kanzler hat sich dort im Wahlkampf und auch danach geäußert. Die Fakten sehen so aus, daß von den ehemals 108 000 in den vier Großkombinaten Bitterfeld, Wolfen, Leuna und Buna Beschäftigten am Ende ganze 13 000 bis 20 000 - die Zahlen schwanken, je nachdem, wer sich dazu äußert - übrigbleiben werden. Das ist für diese Region nun wahrlich keine Perspektive. Der Bundeskanzler hat bei seinen jüngsten Besuchen in Buna und Bitterfeld Zusagen gemacht, aber er hat keine Zahlen genannt. Die Menschen sind wirklich ratlos, wie es mit ihnen weitergehen wird. ({2}) - Es geht darum, was Sie mit der Politik jetzt dort anrichten! - Es gäbe durchaus Möglichkeiten, die Chemie in Sachsen-Anhalt und in Sachsen zu erhalten und zu stärken. Sogar Ihr eigener Bundesverkehrsminister hat Vorschläge gemacht, denen wir zustimmen könnten. Er hat vorgeschlagen, diese Chemieunternehmen vorübergehend zu einem Verbund unter staatlicher Verantwortung zusammenzuführen, um diese Unternehmen dort mit entsprechender Unterstützung in produktionstechnischer Hinsicht wieder wettbewerbsfähig zu machen, wie das nach dem Krieg mit Wolfsburg und Salzgitter geschehen ist.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Henn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Bitte!

Clemens Schwalbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002121, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, wann Sie das letzte Mal in der Region Buna/Leuna waren.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Am Sonntag.

Clemens Schwalbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002121, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist nämlich mein Wahlkreis, und ich habe dort von Ihnen noch nichts gehört.

Bernd Henn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000868, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich habe auch nicht unbedingt den Kontakt zu Ihnen gesucht, das muß ich zugeben. Vielleicht sollten wir uns beim nächsten Mal verabreden. Ich bin sehr häufig da; das läßt sich durchaus regeln. Ich meine also, daß es entsprechende Möglichkeiten gäbe. Dazu bedarf es eines industriepolitischen Konzepts. Für den Chemieverbund müssen natürlich bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Es wäre beispielsweise eine Erdöltrasse erforderlich, um leichtes Erdöl in dem Bereich zu haben. Es gibt schon eine Trasse, die vom Ruhrgebiet bis Kassel projektiert ist. Das müßte fortgeführt werden, damit dort auf Äthylenbasis weiterhin kostengünstig produziert werden kann. Das sind natürlich Voraussetzungen, die zu schaffen sind. Aber wenn man diese Region nicht weiter verkommen lassen will, als das vorher schon geschehen ist, dann muß man dies tun. Im Chemiedreieck Halle-Merseburg-Leipzig-Bitterfeld haben sich der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister weit aus dem Fenster gelehnt. Gemessen an den Erwartungen, die sie geweckt haben, sind sie eigentlich schon abgestürzt. Ohne eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur werden die Menschen dort sehr bald in einer Situation sein, die sie erkennen läßt, daß sie im Wahlkampf mißbraucht und belogen worden sind. Dann allerdings wird das Chemiedreieck so etwas wie das Bermuda-Dreieck für diejenigen werden können, die mehr versprochen haben, als sie zu halten bereit sind. ({0})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächstes hat der Kollege Werner Schulz das Wort.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Umbruch von der sozialistischen Mißwirtschaft zu einer funktionierenden Marktwirtschaft reißt tiefere Wunden als jeder bisher bekannte Strukturwandel innerhalb eines Wirtschaftssystems. Das krisenhafte Ungleichgewicht zwischen alten und neuen Bundesländern droht, sich noch weiter zu verschärfen. Momentan stellt sich die wirtschaftliche Situation im vereinten Deutschland wie folgt dar: Während die Produktion in den westlichen Bundesländern auf hohem Niveau weitgehend stabil ist, setzt sich der Niedergang von Wettbewerbsfähigkeit und Produktion in Ostdeutschland fort. Wenn einige Auguren in den Instituten nunmehr den Aufschwung in Sicht sehen, dann bedeutet das nur, daß die wirtschaftliche Aktivität bald ganz unten angekommen sein wird. ({0}) Andere Prognosen hantieren die Talwanderung auf mindestens fünf bis zehn magere Jahre. Nur der Kanzler ist in seinem Zweckoptimismus nicht zu beirren. Mit schon fast Autosuggestionskraft und an solche grenzender Beharrlichkeit meint er samt seiner Partei, in den nächsten drei bis vier Jahren über den Berg zu sein. An die Steuerillusion schließt sich der wiederholte Schwindel von der Lebensverbesserung an. Der Kanzler sollte sich besser von den wirtschaftlichen Problemen als von Eierwerfern aus der Reserve locken lassen. Und natürlich ist nicht er für den Rückgang der Geburtenrate verantwortlich. Diese Potenz hätte ihm wohl gar keiner zugetraut, glaube ich. ({1}) Es ist wohl mehr seine Politik, die Existenzunsicherheit hervorruft. Wir brauchen keinen August den Starken, wir brauchen aber auch keinen Sitzriesen. ({2}) Ich glaube, wir brauchen einen Kanzler, der sich nicht mit der Alimentierung des Ostens begnügt, sondern Mut faßt, dem nationalen Kapital an den patriotischen Kragen zu gehen. Mit Appellen zur Investition ist das Ganze nicht getan. Während das Preisniveau im Westen moderat ansteigt, ist die Teuerung für die Menschen in den neuen Bundesländern zum Teil schmerzhaft spürbar. Während schließlich die Beschäftigungsrate in Westdeutschland weiter steigt, tut sich auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt ein Abgrund auf. Die „Wirtschaftswoche" rechnet, daß zum Ende dieses Jahres von den ursprünglich 9,5 Millionen Erwerbstätigen in Ostdeutschland nur noch etwa 4 Millionen übrig bleiben werden. Nach wie vor wandern Spezialisten und junge Facharbeiter - das stärkste Kapital der ostdeutschen Bundesländer - in den Westen. Die Flucht heißt neuerdings „Binnenwanderung" und nimmt den wohl stärksten Investitionsanreiz mit. Wann sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt umkehren wird, wann also die Zahl der neugeschaffenen Arbeitsplätze die der abgebauten erstmals überschreiten wird, weiß heute keiner genau zu sagen. Wohlgemerkt: Dies sind die Aussichten, trotz Fonds Deutscher Einheit, trotz Investitionsbeihilfen, trotz Verbesserung der finanziellen Ausstattung der neuen Bundesländer, trotz Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. Es erweist sich mit jedem Tag mehr, daß der Bundesregierung der Prozeß, den sie vor einem Jahr mit der abrupten Einführung der D-Mark in der ehemaligen DDR in Gang gebracht hat, außer Kontrolle geraten ist. Das Beitrittsgebiet befindet sich jetzt folgerichtig in der typischen Situation eines Entwicklungslandes, degradiert zum Absatzmarkt, eigener Erwerbsmöglichkeiten beraubt. Der Absatz ist dort, Produktion und Gewinn hier. Die D-Mark fließt in den Westen und muß mit der Kreditpumpe durch öffentliche Finanztransfers zurückgepumpt werden. ({3}) So entstehen die ins Uferlose wachsenden Kosten der Deutschen Einheit, die noch immer nicht genau zu beziffern sind und die uns sicher in den nächsten Haushaltsjahren beschäftigen werden. Die schockartige Währungsunion hat der ostdeutschen Wirtschaft jede Zeit zur Verarbeitung der neuen Situation vorenthalten. Die Politiker hätten damals anstatt auf die umjubelten Marktplätze wohl eher in die verschlissenen Betriebe gehen sollen, um sich ein tatsächliches Bild zu machen, das sie nicht gehabt zu haben meinen. Denn Neuorientierungen brauchen Zeit. Deswegen vollzieht sich die Anpassung jetzt als Zusammenbruch. In dieser Situation ist die Wirtschaftspolitik nicht in der Lage, Prozesse zu gestalten, Entwicklungen vorherzusehen und Richtungen zu weisen. Heute vermag die Politik kaum mehr zu tun, als das Schlimmste zu verhindern: Entlassungen zeitlich zu strecken, Auffangbecken für Erwerbslose zu schaffen, die Nachfrage künstlich zu stützen; dies alles mit hohem finanziellen Aufwand und mit Methoden, die vor Jahren noch als indiskutabel gegolten hätten. Diese Regierung hat lange Zeit aus marktideologischer Borniertheit heraus auf eine wirksame Einflußnahme auf das wirtschaftliche Geschehen in Ostdeutschland verzichtet. Sie hat die Treuhandanstalt mit unzureichender Orientierung für ihre schwere Aufgabe allein gelassen. Sie hat die Möglichkeiten einer wirkungsvollen Arbeitsmarktpolitik bei weitem nicht ausgeschöpft. Sie ist mit veralteten strukturpolitischen Konzepten an den Aufbau der neuen Bundesländer herangegangen und hat es versäumt, dafür zu sorgen, daß die ostdeutschen Unternehmen in dem schwierigen Umstrukturierungsprozeß faire Marktchancen erhalten und nicht von der westlichen Konkurrenz erdrückt werden. Auf der anderen Seite hat sie aber den im Handstreich geschlossenen Energievertrag zwischen westdeutschen Energiemultis und der damaligen DDR nach Kräften gefördert und so die Möglichkeiten zum Werner Schulz ({4}) Aufbau eigenständiger, dezentraler Energieversorgungssysteme weitergehend blockiert. Zu all diesen Fragen haben wir in die vor einigen Wochen im Sande verlaufenen Arbeitsgruppengespräche zwischen Opposition und Regierung unsere konkreten Vorschläge und Forderungen eingebracht, zu denen wir nach wie vor auf begründete Antworten der Regierung warten. Die Treuhand hat, wie vor wenigen Tagen dem „Handelsblatt" zu entnehmen war, Entlassungen in Millionenhöhe für die kommenden eineinhalb Jahre angekündigt. Wenn Sie diese Ankündigungen wahr macht, steht der Verlust des größten Teils der Arbeitsplätze in den Treuhand-Unternehmen zu befürchten. Von ursprünglich vier Millionen Beschäftigten werden zum Schluß vielleicht eine Million Beschäftigte übrigbleiben. Dies darf so nicht hingenommen werden. Wir brauchen den Staat als Impulsgeber, nicht als Nachtwächter oder als Feuerwehr. ({5}) Die Treuhand muß den klaren gesetzlichen Auftrag bekommen, die ihr anvertrauten Unternehmen zu sanieren, wenn diese nicht sofort unter Erhaltung ihrer Substanz privatisiert werden können und wenn auf mittlere Sicht Rentabilität zu erwarten ist. Hierzu gehört die konsequente Altlastensanierung und die ökologische Modernisierung der Unternehmen. Hierzu gehört ebenfalls eine intensivere Verzahnung der Arbeit der Treuhandanstalt mit staatlicher Regional- und Strukturpolitik. Die Treuhandanstalt braucht angemessene finanzielle Mittel, um notwendige Entschuldungen durchzuführen und die Sanierungsaufgaben erfüllen zu können. Frau Breuel hat jüngst darauf hingewiesen, daß noch erhebliche zusätzliche Forderungen auf den Bund zukommen werden. Die vielfältigen finanziellen Ansprüche an das Treuhandvermögen müssen neu bewertet werden. Vorrang gebührt eindeutig der Sanierungsaufgabe und den damit unmittelbar zusammenhängenden Aufgaben. Von Belastungen wie Haushaltssanierung, Entschädigungszahlungen sowie von den Altschulden der Treuhandunternehmen und sachfremden Zinslasten muß die Treuhandanstalt gänzlich freigestellt werden. Die Länder müssen einen deutlich verbesserten Einfluß auf die Arbeit der Treuhandanstalt bekommen. In Fragen von weiterreichender Bedeutung - insbesondere Betriebsstillegungen - muß die Treuhandanstalt Einvernehmen mit den Ländern herstellen. In einem wichtigen Punkt stimmen wir im übrigen mit Herrn Möllemann überein: Entsprechend ihrer Aufgabenstellung sollte die Treuhandanstalt der Fach- und Rechtsaufsicht des Bundeswirtschaftsministers unterstellt werden. Die traditionellen Förderinstrumente der Regionalpolitik haben schon in den alten Bundesländern nicht zu einem wirksamen Abbau des Entwicklungsgefälles geführt. Die Systemfehler der bisherigen Regionalförderung dürfen in den neuen Bundesländern nicht wiederholt werden. Ich nenne hier die verfehlte, undifferenzierte Wachstumsorientierung, den viel zu hohen Anteil der direkten Förderung von Unternehmen im Vergleich zur Infrastrukturförderung sowie den Mangel an Förderung von regionaler Forschung, Entwicklung, Technologie- und Know-how-Transfer. Der fast völlige Verzicht der Bundesregierung auf eine Wirtschaftsstrukturplanung und die mangelnde Abstimmung der Förderinstrumente tragen darüber hinaus zum Versagen der Regionalförderung in strukturschwachen Gebieten bei: Wir halten eine Neukonzipierung der regionalen Wirtschaftsförderung im Hinblick auf die Probleme in den ostdeutschen Ländern für ganz besonders dringlich. Eine Schlüsselrolle kann hierbei der Aufbau von regionalen Entwicklungszentren spielen, die als Dienstleistungszentren vielfältige Aufgaben beim Entstehen einer eigenständigen und dauerhaften regionalen Wirtschaft wahrnehmen. Diese Zentren sollen in gemeinsamer Trägerschaft von Wirtschaft, Gewerkschaften, Umweltverbänden, Arbeitsverwaltung und Gebietskörperschaften entstehen. Nicht als Superb ehörden, sondern als Dienstleistungsangebot und Vorleistung für örtliche und im Aufbau befindliche Unternehmen sollen sie sich u. a. der Erarbeitung regionaler Entwicklungskonzeptionen und ökologischer Sanierungsprogramme, dem Technologietransfer, der Beratung und der Erleichterung bei Existenzgründungen, der Vermittlung von Informationen und der Bereitstellung wirtschaftsnaher Dienstleistungen sowie der überbetrieblichen Weiterbildung widmen. Notwendig ist darüber hinaus eine Mittelaufstokkung sowie eine Neugewichtung bei der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur. Die Mittel der Gemeinschaftsaufgabe müssen künftig vorwiegend der umweltverträglichen Infrastrukturförderung, insbesondere dem Aufbau regionaler Entwicklungszentren zugute kommen.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Kollege Schulz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schulz, ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie sagen: Damit Schwung hereinkommt, brauchen wir in Zukunft mehr Mittel, und deshalb sollen die Mittel für die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur aufgestockt werden. Meine Frage aber an Sie diesbezüglich: Meinen Sie nicht auch - wie ich - , daß die Aufgaben, die Sie einer neuen Institution zuführen wollen, auch von den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern bewältigt werden können, die dafür prädestiniert sind, eben dieser Aufgabenstellung gerecht zu werden?

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es geht vor allen Dingen um eine Umverteilung der Mittel, nicht nur um einseitige Aufstockung. Im Grunde genommen geht es darum, daß diese Investitionsspritzen nicht allein in die Betriebe gehen, die momentan aufgefangen werden können, sondern daß man in Regionen geht, wo momentan noch keine Industrie2122 Werner Schulz ({0}) struktur vorhanden ist. Um diese regionale Entwicklung zu fördern, darum geht es uns in erster Linie. Der bisherige Systemfehler, den ich angedeutet habe, lief darauf hinaus - das wiederholt sich in der gleichen Weise - , daß Investitionsförderung eigentlich nur an den Stellen erfolgt, wo momentan bereits Industrie vorhanden ist. Andere Regionen haben überhaupt keine Chance oder tun sich sehr schwer. Ich glaube, daß wir mehr Infrastrukturaufbau fördern müssen. Das geschieht bisher unzureichend. Ich glaube auch nicht, daß das durch die Industrie- und Handelskammern allein getan werden kann, obwohl sie hier nicht ausgespart sein dürfen; das muß miteinander verbunden sein. Ostdeutsche Güter und Dienstleistungen haben, unabhängig von ihrer Qualität und Wettbewerbsfähigkeit, immer noch schlechte Chancen auf dem Inlandsmarkt. Mitverantwortlich hierfür sind der oft schlechte Ruf dieser Produkte sowie mangelnde Marktpräsenz. Wenn der Absturz von Produktion und Beschäftigung in den ostdeutschen Ländern aufgehalten werden soll, muß für eine Übergangszeit zusätzlich zur bereits in Kraft gesetzten Investitionsförderung der Absatz ostdeutscher Produkte durch die öffentliche Hand gestützt und gefördert werden. Zu diesem Zweck ist ein System von Präferenzen für ostdeutsche Produkte zu schaffen. Ob hierfür eine generelle Mehrwertsteuerbefreiung oder -ermäßigung für ostdeutsche Waren und Dienstleistungen oder ein Präferenzsystem nach dem Vorbild der Berlin-Förderung eingeführt wird, ist letztlich nicht entscheidend. Maßgeblich ist die Verbesserung der Absatzchancen ostdeutscher Anbieter für eine begrenzte Übergangszeit. In die gleiche Richtung wirkt die Verpflichtung, bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt solche Anbieter zu berücksichtigen, die in Gebieten mit mehr als 15 % Arbeitslosigkeit tätig sind. Dies bedeutet gegenwärtig zwangsläufig eine Präferenz für ostdeutsche Anbieter. Zu vergleichbaren Präferenzen für ostdeutsche Produkte sollten in angemessenem Umfang Empfänger öffentlicher Subventionen und Bürgschaften sowie zinsverbilligter Kredite verpflichtet werden. Auch die Treuhandanstalt muß, wo dies möglich ist, mit Investoren bei der Beschaffung von Investitionsgütern Präferenzen für ostdeutsche Produkte vereinbaren. Mir ist durchaus bewußt, daß solche Vorschläge nicht auf die ungeteilte Begeisterung der EG-Kommission in Brüssel treffen werden. Aber auch der EG kann an einem permanenten Notstandsgebiet im Osten Deutschlands, zusätzlich zu anderen europäischen Problemregionen, nicht gelegen sein. Auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt treffen momentan zwei Problemfelder aufeinander: Zum einen ist der Prozeß der völligen Neuorientierung der wirtschaftlichen Strukturen Ostdeutschlands auf mittlere Sicht mit Friktionen des Arbeitsmarktes von bisher unbekanntem Ausmaß verbunden. Zum anderen ist das westdeutsche marktwirtschaftliche System, in das die neuen Bundesländer jetzt integriert werden sollen, selbst von einer tiefen und dauerhaften Beschäftigungskrise und einem wesentlich niedrigeren Beschäftigungsniveau als in der ehemaligen DDR gekennzeichnet. Die Massenerwerbslosigkeit auf sehr hohem Niveau wird deshalb kein kurzfristiges Übergangsproblem bleiben, sondern über Jahre hinaus den ostdeutschen Arbeitsmarkt prägen. Wir fordern daher eine neue Konzeption der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die u. a. eine Verlängerung der Förderungsdauer auf mindestens vier Jahre und Qualifizierungsmaßnahmen mit entsprechenden Berufsabschlüssen einschließt. Notwendig sind ebenfalls die Erleichterung des Antrags- und Bewilligungsverfahrens und die Einführung geschlechtsspezifischer Quotierung bei der Vergabe von ABM-Stellen. Bevorzugte Bereiche für diese Maßnahmen sollten der Umweltschutz und die sozialen Dienste sein. Angesichts des Ausmaßes der zu erwartenden Erwerbslosigkeit kommt der Schaffung von Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften ganz besondere Dringlichkeit zu, wobei das Ziel der Aufbau neuer marktfähiger Betriebe aus den Beschäftigungsgesellschaften heraus sein muß. All dies wird jedoch nur greifen, wenn gleichzeitig die Beratungstätigkeit und die personelle Ausstattung der Arbeitsverwaltung in den neuen Bundesländern erheblich verbessert werden. Derweil grübelt man im Hinblick auf den Beamtenexport von West nach Ost, ob man die Beamten in einer Sänfte über die Elbe bringen kann oder ob man sie vorher in Ketten legen muß. Doch auch die Westdeutschen können zu einer spürbaren Verbesserung der Arbeitsmarktlage im Osten beitragen, und zwar durch den Verzicht von Überstunden und Sonderschichten in der gesamten Bundesrepublik. Dies könnte und sollte, wenn nötig, durch gesetzliche Einschränkungen erreicht werden. Der Stromvertrag erweist sich für die Kommunen als große Investitionsbremse. Ohne Verfügungsberechtigung über die örtlichen energiewirtschaftlichen Anlagen sind die Kommunen in dieser Hinsicht handlungsunfähig. Eine schnelle Übertragung des energiewirtschaftlichen Vermögens in die Hände der ostdeutschen Kommunen könnte dagegen einen flächendeckenden Investitionsschub auslösen. Infolge der Umstellung auf eine neue, dezentrale Energiepolitik ist in den neuen Bundesländern mit mindestens 50 000 neuen Dauerarbeitsplätzen zu rechnen. Der CO2-Ausstoß pro Kopf der Bevölkerung ist in den Ostbundesländern mit 22,4 t pro Jahr fast doppelt so hoch wie im Westen. Drastische Reduzierungen sind hier möglich und dringend erforderlich. Die Bundesregierung sollte deswegen sofort die Aufkündigung oder Aufhebung der entsprechenden Regelungen des Stromvertrags in Angriff nehmen sowie die umgehende und vollständige Übertragung des örtlichen energiewirtschaftlichen Vermögens an die Kommunen und Landkreise durch die Treuhandanstalt entsprechend dem Treuhand- und Kommunalvermögensgesetz ermöglichen. Werner Schulz ({1}) Ebenfalls dringend erforderlich ist die Verbesserung der Einspeisungsbedingungen für Strom aus dezentraler Krafte-Wärme-Kopplung durch Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes. Der aus dezentralen Blockheizkraftwerken erzeugte und ins Netz eingespeiste Strom wird von den großen Energieversorgungsunternehmen lediglich mit rund 9 Pfennigen pro Kilowattstunde vergütet. Mit einer gerechteren Vergütung hätten die dezentralen Anlagen, die mit einem Gesamtwirkungsgrad von mehr als 80 % arbeiten, entschieden bessere Entwicklungschancen. Weiteren Handlungsbedarf sehen wir in der Förderung des Ausbaus und der Sanierung von Fernwärmenetzen, bei der Bezuschussung dezentraler Blockheizkraftwerke und schließlich in der wirksamen Förderung von Wärmeschutzmaßnahmen an Gebäuden. Hier sind die deutschen Standards bei weitem noch nicht das Optimum. Meine Damen und Herren, wir plädieren für mehr Weitsicht im Aufbau der neuen Bundesländer. Der größte Denkfehler aller bisherigen Ansätze ist sicherlich die Vorstellung, daß die Probleme der neuen Bundesländer allein durch Veränderungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gelöst werden können. Die Deutschen stehen vor der historischen Aufgabe, durch solidarisches Handeln einen Ausgleich der Lebensverhältnisse zu erreichen. Für die Westdeutschen bedeutet dies, auf eine weitere Wohlstandssteigerung vorerst zu verzichten. Sie haben die einmalige Gelegenheit, ein Verhalten modellhaft vorwegzunehmen, das allein der weltweiten sozialen und ökologischen Krise begegnen kann. Modell Deutschland als Vorgriff auf eine gerechte und ökologische Weltwirtschaft. Wir sollten sehen, wie wir trotz materieller Einschränkungen noch ein reichhaltiges Leben führen können in leidlicher Harmonie mit der Natur und bei wachsender Gerechtigkeit gegenüber der Zwei-Drittel-Welt. Ich danke Ihnen. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Als nächster hat das Wort der Kollege Volker Jung. ({0})

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundeswirtschaftsminister möchte im nächsten Bundeshaushalt 10 Milliarden DM an Subventionen einsparen. Das Thema ist in dieser Haushaltsdebatte schon vielfach hin und her gewendet worden. Wenn er das genannte Ziel nicht erreicht, dann will er zurücktreten. Damit hat er zweifellos Punkte in der Offentlichkeit gemacht. Damit kann man aber auch viel kaputtmachen. Wohin diese marktwirtschaftliche Prinzipienreiterei führen kann, ist uns mit der katastrophalen Wirtschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern drastisch vor Augen geführt worden. ({0}) Als ein Experimentierfeld hat sich Herr Möllemann die Energiewirtschaft ausgesucht, den denkbar ungeeignetsten Wirtschaftsbereich, der eine unentbehrliche Grundlage für die störungsfreie Entwicklung einer modernen Volkswirtschaft ist. Spätestens seit dem Ölpreisverfall von 1985 hat die Bundesregierung keine eigenständige Energiepolitik mehr gemacht. Sie hat sie vielmehr dem Markt und der Energiewirtschaft überlassen. Es ist deshalb überhaupt kein Wunder, daß seitdem der Energieverbrauch und die Umweltbelastungen wieder drastisch angestiegen sind. ({1}) Bundeswirtschaftsminister Möllemann will die Förderung der heimischen Steinkohle schon im kommenden Jahr um 10 Millionen t reduzieren. Das ist zwar halbherzig dementiert worden, aber wir wissen ja, was man von solchen Dementis zu halten hat. Bereits ab 1992 sollen je 5 Millionen t Steinkohle weniger verhüttet und weniger verstromt werden. Damit treibt der Bundeswirtschaftsminister den Bergbau in die schwerste Existenzkrise seit dem Ende der 60er Jahre. ({2}) Dies, obwohl die vereinbarten Anpassungen der letzten Kohlerunde von 1987, die eine Förderkürzung um 15 Millionen t und einen Abbau von 30 000 Arbeitsplätzen vorsehen - ich betone: einen sozialverträglichen Abbau von Arbeitsplätzen; das ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig - , noch gar nicht umgesetzt, geschweige denn verkraftet worden sind. Dies, obwohl der Hüttenvertrag von der Europäischen Kommission bis 1997 genehmigt ist. Das Argument, Brüssel würde die Stützung der heimischen Steinkohle in dieser Höhe nicht mehr länger akzeptieren, ist zumindest bei der Kokskohlenbeihilfe völlig verf ehlt. Dies auch, obwohl vom Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Bergbauländer noch 1989 vereinbart wurde, die Verstromung heimischer Steinkohle für die Restlaufzeit des Jahrhundertvertrages bis 1995 bei 41 Millionen t zu stabilisieren. Das wurde zuletzt durch die Regierungserklärung von Anfang dieses Jahres bestätigt. Aber auch das ist ja schon einige Monate her. Möglicherweise ist die Bundesregierung inzwischen zu der Auffassung gelangt, daß nach der Steuerlüge eine weitere Lüge, nämlich die Kohlelüge, den Kohl nicht mehr fett macht. ({3}) Unausweichliche Konsequenz dieser Politik würde die Schließung von mindestens fünf Zechen und die Entlassung von 20 000 Bergleuten sein, die ebenso Volker Jung ({4}) viele Arbeitsplätze in den abhängigen Wirtschaftsbereichen vernichtet. Das ist den Bergleuten nicht zuzumuten, und das kann von den strukturschwachen Regionen nicht verkraftet werden. ({5})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Kollege Jung, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grünbeck?

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, die gestatte ich natürlich.

Josef Grünbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000737, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Jung, weil Sie soviel von Lüge reden: Haben Sie eigentlich Ihre Ausführungen mit der Kollegin Frau Matthäus-Maier abgestimmt, die gestern zur Kohlepolitik etwas ganz anderes gesagt hat?

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es kommt öfters vor, daß Reden nicht miteinander abgestimmt sind. Ich bleibe bei dieser Aussage. Damit wird nicht nur dem Hüttenvertrag und dem Jahrhundertvertrag die Grundlage entzogen. Damit wird auch jede Anschlußregelung zum Jahrhundertvertrag verhindert. Die Stromwirtschaft zeigt ohnehin keine Neigung, eine Anschlußregelung zu vereinbaren. Jeder, der die Lage kennt, weiß, daß dies das Aus für den heimischen Steinkohlenbergbau wäre. Unausweichliche Konsequenz dieser Politik würde auch die Notwendigkeit sein, die entstehende Versorgungslücke durch andere Energieträger zu schließen, entweder durch Importkohle, die an unserer CO2-Bilanz nichts ändern würde und außerdem unsere Importabhängigkeit erhöht, oder durch die Kernenergie, die die Sicherheitsrisiken erhöht und die nach wie vor ungeklärte Entsorgungslage verschärft. Dieses Szenario macht mit einem Schlag die Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Energiepolitik deutlich. Die Bundesregierung hat bis heute kein energiepolitisches Gesamtkonzept vorgelegt, aus dem deutlich wird, welche Rolle sie den einzelnen Energieträgern in einem ausgewogenen Energiemix zuordnet. Anstatt seine energiepolitischen Hausaufgaben zu machen, bereitet der Bundeswirtschaftsminister wie seine Vorgänger im Amt einen Kahlschlag gegen die Kohle vor. Einzig und allein die Begründung, die dafür herhalten muß, hat gewechselt. Haben Bangemann und Haussmann ihre Antikohlepolitik noch damit begründet, daß es angeblich nur um ein soziales oder regionalpolitisches Problem gehe, so begründet Möllemann dieselbe Politik mit der vermeintlichen Notwendigkeit eines Subventionsabbaus. Wer aber die Energiepolitik unter den Zwang stellt, Subventionen abzubauen, der zäumt das Pferd vom Schwanz auf, der betreibt Haushaltspolitik und keine eigenständige Energiepolitik. Zu einer solchen Politik werden wir Sozialdemokraten unsere Hand nicht reichen. ({0}) Es kann nicht Grundlage unserer Energiepolitik sein, die Vorgabe des britischen EG-Kommissars Brittan zu akzeptieren, daß nur noch ein Anteil von 20 % der nationalen Stromerzeugung gefördert werden darf, weil dies nicht zufällig dem Anteil der Kernenergie an der britischen Stromversorgung entspricht. Es wäre grotesk, wenn unsere Kohleförderung nur noch den Umfang des von der EG-Kommission genehmigten britischen Nuklearpennys haben sollte. Auf diese Weise werden englische Kohleinteressen mit rechtlich zweifelhaften Begründungen gefördert. Das nenne ich schlicht einen politischen Mißbrauch. ({1}) Es ist ein Skandal, daß die Bundesregierung dagegen nicht vorgeht. ({2}) Es paßt aber leider zu Ihrer Politik gegenüber der EG-Kommission, die Vereinbarung vom August 1989 nicht offensiv zu vertreten, geschweige denn im Sinne einer europäisch definierten Versorgungssicherheit durchzusetzen. Wer mit uns einen neuen energiepolitischen Konsens will, meine Damen und Herren, wer verhindern will, daß die Kumpel die Brocken hinschmeißen, der sollte folgendes zur Kenntnis nehmen: Erstens. Ebenso wie die Energiewirtschaft, die zu erkennen gegeben hat, daß sie gegen unseren Widerstand keine Kernkraftwerke mehr bauen will, haben wir uns bei der Frage der Nutzung der Kernenergie bewegt. Wir werden mit uns über die Nutzungsdauer reden lassen. ({3}) Aber eines sollte klar sein: Einen Ersatz oder Zubau von Kernkraftwerken wird es mit unserer Zustimmmung nicht geben. ({4}) Zweitens. Wir befürchten, die Politik gegen die Steinkohle im Westen ist nur der Auftakt für einen Kahlschlag bei der Braunkohle im Osten. Seit der deutschen Vereinigung fehlt für die neuen Bundesländer jedes energiepolitische Erneuerungskonzept. Die Bundesregierung hat sich mit dem Abschluß des Stromvertrages aus der energiepolitischen Verantwortung gestohlen. Damit will sie sich auch der sozialen Verantwortung für die Bergleute in Ostdeutschland entziehen. Sie spielt die Bergleute in Ost und West gegeneinander aus. Das werden wir Sozialdemokraten nicht zulassen. ({5}) Drittens. Da sich die Weltenergieversorgung noch lange Zeit auf die Kohle stützen wird, könnten gerade wir bedeutende Beiträge zu ihrem umweltfreundlichen Einsatz leisten. Das trifft vor allem für die Nutzung neuer, CO2-ärmerer Kohletechniken zu, die in der Dritten Welt dringend benötigt werden, weil die hochkomplizierte und sicherheitsempfindliche Kernenergie nach unserer gemeinsamen Überzeugung in diesen Ländern nicht eingesetzt werden kann. Viertens. All dies macht aber keinen Sinn, wenn wir nicht die Energieeinsparung, eine rationellere Energienutzung und den Einsatz erneuerbarer Energien Volker Jung ({6}) fördern. Nachdem die Bundesregierung in den letzten Jahren alle Steuererleichterungen und Investitionshilfen für die rationelle Energienutzung abgeschafft hat, haben die Koalitionsparteien bei den Etatberatungen im Wirtschaftsausschuß alle unsere Vorschläge zum Energiesparen abgelehnt, ohne eigene Vorschläge vorzulegen. ({7}) Meine Damen und Herren, das ist in höchstem Maße konzeptionslos. Ich sage Ihnen: Legen Sie endlich ein energiepolitisches Gesamtkonzept vor, damit wir uns über die Anteile der einzelnen Energieträger auseinandersetzen können, aber hören Sie auf, nur auf die Kohle einzuschlagen. ({8})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Jürgen Möllemann. ({0})

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Da stimme ich Ihnen zu. Das ist gut; darauf komme ich gleich zurück, Herr Waltemathe. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zentrale Aufgabe der Wirtschaftspolitik - wie im übrigen auch der anderen Politikbereiche in dieser Legislaturperiode - ist die Herstellung und Absicherung der wirtschaftlichen und sozialen Einheit Deutschlands nach der staatlichen Einheit. Darauf muß sich die Wirtschaftspolitik vorrangig konzentrieren. Wir haben dies mit dem Konzept unter dem Stichwort Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost in Angriff genommen. Wir wenden dafür in Form eines Finanztransfers von West nach Ost in diesem Jahr 128 Milliarden DM auf, die in Investitionen, in die Infrastruktur, in die Beschäftigung und in das soziale Sicherungssystem gehen. Das ist ein sehr hoher Aufwand, der aber notwendig ist und der geleistet werden kann, weil, wenn und solange unsere wirtschaftliche Leistungskraft im Westen so stark ist, wie sie sich derzeit darstellt. ({0}) Wir sind in einer florierenden Wirtschaftssituation im Westen. Wir haben ein Wachstum des Bruttosozialproduktes von 4,2 % im ersten Quartal. Die westdeutsche Wirtschaft hat unverändert eine Lokomotivfunktion. Ihre Impulse wirken sich nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auf die gesamte europäische Wirtschaft aus. Ich glaube, das ist zuallererst das Verdienst derer, die im wirtschaftlichen Prozeß handeln: von Unternehmen, Unternehmern, Managern, aber auch Beschäftigten auf allen Ebenen. Aber so völlig falsch kann die Politik nicht sein, die zu einer solchen Entwicklung ihren Beitrag leistet. ({1}) Nun geht es bei einer Debatte über den Bundeshaushalt darum, die Frage zu klären, welche Voraussetzungen für eine solche günstige wirtschaftliche Entwicklung im Westen und eine ansteigende - erste Anzeichen dafür gibt es - , sich bessernde wirtschaftliche Lage im Osten gegeben sein müssen, die es zu sichern gilt. Da ist als erstes - nach dem Beitrag des Kollegen Jung sage ich das ganz bewußt - die EG-Integration. Herr Kollege Jung, mir gefällt wirklich nicht die Art und Weise, wie hier permanent eine Art Antagonismus, eine Art unterstelltes Gegeneinander konstruiert wird: hier die EG - als irgendetwas anderes, etwas Feindliches - , dort wir, als seien wir nicht Bestandteil derselben. Wir sind die Hauptprofiteure der Europäischen Gemeinschaft. ({2}) Niemand hat einen solchen Nutzen vom gemeinsamen Markt wie wir. Wir haben im letzten Jahr 36 % aller Waren und Dienstleistungen, die in Deutschland hergestellt wurden, auf ausländische Märkte exportiert. Niemand ist vom Export, vom freien Zugang zu anderen Märkten, so sehr abhängig wie wir. Aber das heißt natürlich auch, daß man sich den Regeln dieses Marktes, die man gemeinsam definiert hat, unterwerfen muß. Die Bestimmungen, die in der EG gelten, sind nicht von Herrn Leon Brittan oder von den Kommissaren, die gelegentlich sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien angehören, oktroyiert worden, sondern sie sind als gemeinsame Willensbildung und Willensbekundung festgelegt worden, als ein Ordnungssystem, dem wir uns freiwillig unterwerfen. ({3}) - Wenn das denn geschieht, finde ich es nicht gut. Ich sage doch nur: Wir wollen nicht den Eindruck erwekken, als gäbe es ein EG-System, von anderen entwikkelt, das uns gegenüber feindlich gesinnt ist und von dem wir Nachteile haben. Das ist nicht wahr. Wer eine solche Haltung in der Exportnation Nummer eins einnimmt, der darf sich nicht wundern, wenn andere, die einen solchen Nutzen wie wir nicht haben, das plötzlich so interpretieren. Er würde unsere Exportinteressen auf das schwerste beschädigen. Deshalb bitte ich bei aller Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit der Position des einen oder anderen Mitglieds der Kommission sehr herzlich darum, nicht so zu simplifizieren, wie Sie es getan haben, und den Mitgliedern der Kommission nicht zu unterstellen, sie würden in ihrer Arbeit den jeweils nationalen Standpunkt hineintragen. Wir haben im übrigen gelegentlich in der Debatte über die Position der deutschen Kommissare zur Kenntnis genommen, daß sie sehr wohl den EG-Ansatz und nicht - wie manche gewünscht haben - den engen nationalen Ansatz vertreten. Das sollte man den anderen auch zubilligen. Die zweite Voraussetzung betrifft ebenfalls unsere Rolle als Exportnation, als Exportweltmeister. Sie betrifft das Thema GATT. Hierzu ist heute vom Bundeskanzler mit Nachdruck für die Bundesregierung klargestellt worden, daß wir uns für einen Abschluß der Uruguay-Runde möglichst bald einsetzen. Nun kommt der nicht zustande, wenn nicht die Position, die die EG bislang in mehreren Kernbereichen eingenommen hatte, ebenso verändert wird wie jene Position, die die Vereinigten Staaten von Amerika, Japan und einige Staaten der Dritten Welt eingenommen haben. ({4}) Das heißt, wir müssen definieren, wo wir sie verändern wollen. Hier wird es keinen Weg vorbei an einem Abbau der Agrarexportsubventionen geben. Das ist auch gemeinsame Politik im Kabinett; da gibt es keinen Dissens mit dem Landwirtschaftsminister. Das war im letzten Herbst der Knackpunkt. Wir müssen jetzt in der Tat, wie Graf Lambsdorff gesagt hat, die französischen und die irischen Partner dafür gewinnen. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, es wäre ein schwerer Schaden für die deutsche Wirtschaft, wenn wir es nicht schafften, das GATT-System zu erhalten, d. h. - das meint dieser technische Begriff - das internationale Freihandelssystem, das uns den Zugang zu den internationalen Märkten ermöglicht. Es wäre gut, wenn es gelänge, diese Verlängerung des Abkommens respektive die Vereinbarungen, die notwendig sind, bis Anfang nächsten Jahres zu finden, weil dann in den Vereinigten Staaten der Wahlkampf beginnt. Man kann sich ausrechnen, was das heißt. Dann wird es kaum noch möglich sein. ({5}) - Nein. ({6}) - Bitte schön, Herr Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben zum Bergbau, zu den Werften - das wird bei uns sicherlich unterschiedlich bewertet - immer Vorschläge zum Subventionsabbau gemacht. Sie wissen, daß wir in der Landwirtschaft ein Regime haben mit Preisfestsetzungen, Mengenregulierung, das unmarktwirtschaftlicher gar nicht sein könnte. Mich wundert eigentlich, warum der für Ordnungspolitik zuständige Minister auch im Hinblick auf GATT nie Vorschläge zu einem veränderten Agrarsystem gemacht hat. Warum haben Sie das eigentlich unterlassen, wo Sie sonst wirklich in jedes Fettnäpfchen treten? ({0})

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Hätten Sie diese Frage, die bis dahin ja noch mein Interesse gefunden hatte, nicht mit dieser kleinen Nickeligkeit am Ende versehen, hätte es mir auch Spaß gemacht, sie zu beantworten. ({0}) - Aber jetzt machen Sie mich richtig knatschig, das stimmt. Da hat Herr Schäfer völlig recht. ({1}) - Sehen Sie, so einfach geht das. Zurück zu Ihrer Frage ohne diesen letzten Teil: Herr Kollege Roth, ich komme ohnehin gleich zum Thema Subventionsabbau. Ich habe mich zunächst einmal konzentriert auf jene Finanzhilfen und andersartigen Subventionen, die in meinem Haushalt, in meinem Ministerium ressortieren. Das tun die Agrarhilfen wirklich nicht. Sosehr ich das Thema der Agrarpolitik faszinierend finde, es ist auch Ihnen geläufig, daß wir einen ungeheurer tüchtigen Agrarminister haben, der sich diese Aufgabe vorgenommen hat. ({2}) Im Gesamtpaket der Subventionskürzungen wird das Thema Agrarpolitik - ich habe es gerade angesprochen - bei der Reduktion der Agrarexportsubventionen eine Rolle spielen müssen, vielleicht auch an anderer Stelle. Ich komme also gleich darauf zurück. Nach dem Gemeinsamen Markt und GATT möchte ich als dritte Voraussetzung für das Andauern einer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung die Tarifabschlüsse nennen: Wir haben bei einem prognostizierten wirtschaftlichen Wachstum von vielleicht 3 % in Westdeutschland und andauernden Schwierigkeiten - mit beginnendem Aufschwung vermutlich im nächsten Jahr - in Ostdeutschland Tarifabschlüsse zu konstatieren, die das Wachstumspotential deutlich übersteigen. ({3}) Das Problem ist, daß wir von seiten des Staates, des öffentlichen Dienstes, nicht mit dem besten Beispiel vorangegangen sind. Aber ich möchte doch von dieser Stelle aus - bei vollem Respekt für die Tarifautonomie - an die Tarifvertragsparteien appellieren, künftige Abschlüsse weniger aus der Retrospektive heraus zu tätigen, d. h. im Blick auf möglicherweise ganz günstiges Wachstum in der Vergangenheit, sondern auch im Auge zu haben, wie der Gestaltungsraum in der voraussichtlichen Entwicklung des kommenden oder gar der nächsten zwei Jahre sein wird. Daß wir sonst Mittel verfrühstücken, die wir dann nicht für Investitionen zur Verfügung haben, ist unbestritten. Wir sind im Rahmen des Dialogs „Aufschwung Ost" in einem Gespräch mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern und haben uns verabredet, darüber in der nächsten Runde in einer internen Unterredung zu sprechen. Ich finde es gut, daß dieses Gespräch möglich ist, und hoffe, daß es zu einem guten Ergebnis kommt. ({4}) Die vierte Voraussetzung für das Andauern unserer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und das Einsetzen derselben in den neuen Ländern ist ein erstklassiges Ausbildungssystem. Es ist sehr wichtig, daß es uns über die Jahre gelungen ist, mit dem System unserer dualen Berufsausbildung ein System zu entwickeln, das weltweit bewundert wird, Nachahmer findet und das jetzt auf die neuen Länder übertragen wird. Am Anfang macht das allerdings erhebliche Schwierigkeiten: von der Ausstattung der Unternehmungen, vom Übertragen der Ausbildungsordnungen, von dem Nichtvorhandensein einer großen Zahl von Handwerksbetrieben und Handwerksmeistern her. In den westlichen Bundesländern werden etwa 36 % der Lehrlinge in Handwerksbetrieben ausgebildet, in den neuen Ländern geht das derzeit nur bei ungefähr 6 %. Hier muß durch partnerschaftliche Hilfe zwischen den Kammern, aber auch durch staatliche Unterstützung - ein solches Programm hat das Kabinett vorgelegt und verabschiedet - dafür Sorge getragen werden, daß jeder junge Mensch, der das will, auch in den neuen Ländern zum 1. September die Chance bekommt, wieder eine Lehrstelle zu haben. ({5}) Dazu müssen auch finanzielle Mittel des Staates eingesetzt werden. Ich appelliere nachdrücklich an alle im Wirtschaftsprozeß Tätigen, an die Unternehmungen wie auch an die Gewerkschaften, mitzuhelfen, daß dieses Ausbildungsziel erreicht wird. Dabei gibt es einen Punkt. ({6}) - Herr Kollege, ich möchte den Gedanken noch gerne abschließen - , den der Bundeskanzler heute morgen in einer Nebenbemerkung angedeutet hat, den ich hier einmal aufgreifen will. Es gibt zwar nicht die große Zahl von Handwerksmeistern unserer Prägung. Es gibt aber eine große Zahl von Industriemeistern. Ich finde es sehr wichtig, daß jetzt nicht kleinkariert und ängstlich über die Details aller Bestimmungen zur Anerkennung des Handwerksberufs im Westen argumentiert wird, sondern daß man einer großen Zahl von Industriemeistern die Möglichkeit gibt, sich in die Handwerksrolle einzutragen, sich als Handwerksmeister niederzulassen und eine eigene Existenz aufzubauen. ({7}) Bitte schön.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, sind Sie tatsächlich der Meinung, daß sich das Ausbildungsplatzdefizit von ca. 100 000 Stellen noch in einem Zeitraum von drei Monaten tatsächlich abbauen läßt, und sind Sie nicht auch - zweitens - der Meinung, daß man dann für eine Übergangszeit nicht hundertprozentig nur das duale Ausbildungssystem befördern darf, sondern nach anderen Lösungsmöglichkeiten suchen muß?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Solche Prognosen sind immer gewagt. Die Erfahrung haben wir in der Zeit der geburtenstarken Jahrgänge und des Lehrstellenmangels hier auch gemacht: daß die Zahl derer, die noch einen Ausbildungsplatz gesucht haben, bis kurz vor September/ Oktober deutlich höher war. Aber ich kann nicht ausschließen, daß Ihre Befürchtung eintritt, daß eine bestimmte Quote von jungen Menschen auf dem regulären Weg keinen Ausbildungsplatz findet. Deswegen haben wir dieses Programm beschlossen, das - mit staatlichen Hilfen - vorsieht, auch in überbetrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsstätten Ausbildungsplätze zu schaffen. Es ist richtig und bleibt in jedem Fall richtig: besser eine Ausbildung - und sei es auch in überbetrieblicher oder in außerbetrieblicher Form - als keine Ausbildung. Deswegen stellen wir diese Mittel dafür zur Verfügung. ({0}) Ich kann Ihre Befürchtung zwar nicht völlig ausräumen, aber wir tun, was wir können. ({1}) - Das ist klar. Der nächste Punkt - damit komme ich dann schrittweise an das heran, was die Herren Wedemeier, Jung und andere angesprochen haben - : Die fünfte wesentliche Voraussetzung für ein Andauern der wirtschaftlichen Prosperität sind gesunde Staatsfinanzen. Meine Damen und Herren, wir sind in der Situation, daß wir durch die Einheit, durch das, was wir bislang getan haben, und durch das, was wir demnächst - das weiß hier ja wohl jeder - für die Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa werden tun müssen, sowie durch die 17 Milliarden DM für den Golfkrieg zusätzliche finanzielle Aufwendungen finanzieren müssen, für die wir zum Teil die Steuern erhöht haben. Das war mit einem massiven Vertrauensverlust für die Regierungskoalition verbunden, weil wir das nicht angekündigt hatten. ({2}) - War und ist. ({3}) - Ich täusche mich darüber überhaupt nicht hinweg. Wir haben trotzdem so entschieden, weil wir es für notwendig erachteten, diese zusätzliche Kraftanstrengung zu finanzieren. Aber wir haben in dem Beschluß der Koalition, in dem die Steuererhöhungen festgelegt wurden - am selben Tag, am 23. Februar, in Punkt 7 -, auch gesagt - ich zitiere -: Die Koalitionsparteien bilden eine Arbeitsgruppe mit dem Auftrag, zusätzlich zu dem beschlossenen Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen Einsparungen in Höhe von weiteren ca. 4 Milliarden DM zu erzielen. Dadurch soll sich ab 1992 ein Subventionsabbauvolumen von 10 Milliarden DM ergeben. Um diesen Beschluß geht es, also nicht um einen Beschluß des Bundeswirtschaftsministers, sondern der Koalition. ({4}) - Herr Kollege Schäfer, es geht um einen Beschluß der Koalition, und sie wird diesen Beschluß auch umsetzen. - Beauftragt worden sind mit der Erarbeitung der entsprechenden Vorschläge zwei Gruppen, eine Gruppe von Finanzpolitikern, der die Kollegen Gattermann, Faltlhauser und Uldall und weitere angehören - auch Kollege Rind, glaube ich -, und eine weitere Gruppe, der die Bundesminister Dr. Schäuble, Dr. Waigel und Möllemann angehören. Die sind in der Verantwortung und müssen die Vorschläge bringen. Beraten werden wir darüber am 27. Juni in den Koalitionsfraktionen und am 10. Juli im Kabinett bei der Beratung und Beschlußfassung über den Haushaltsentwurf 1992 und über die mittelfristige Finanzplanung. Der Abbau von Subventionen hat nicht nur die Begründung, die ich soeben gegeben habe. Herr Schily, nicht nur die Frage der notwendigen Balance in den Staatsfinanzen ist zu beachten, die ja nicht hergestellt werden kann über die Fortschreibung der Steuererhöhungen über das befristete Volumen hinaus, auch nicht über weitere Verschuldung, sondern durch Einsparungen. Es gibt eine zweite Begründung. Subventionen haben häufig, wenn sie eben nicht degressiv angelegt und zeitlich befristet sind - die Werftensubventionen sind in letzter Zeit zwar degressiv gewesen, aber immerhin 30 Jahre in Funktion, und ich weiß nicht, wo dann zeitliche Befristungen noch definierbar sind; irgendwo muß man sich, glaube ich, Gedanken machen, ob 100 Jahre, 50 Jahre oder vielleicht doch nur 10 oder 5 Jahre in Frage kommen - , auch wettbewerbsverzerrenden Charakter. ({5}) Das ist ja das Problem, mit dem wir uns unter den Stichworten GATT und EG auseinanderzusetzen haben. Das sind ja technisch klingende Begriffe, wenn wir über die Regeln sprechen; aber dort ist festgelegt, wie solche staatlichen Eingriffe in den Markt auszugestalten, zu befristen, festzulegen sind.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Waltemathe?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Aber mit Vergnügen.

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, Sie haben Ihre Rede damit angefangen, das Haus zu beschwören, doch auch zu sehen, daß wir in der EG sind, und das einzuhalten, was die EG verabredet. Im Zusammenhang mit dem Thema Subventionsabbau scheint das aber nicht ganz zu gelten; denn wenn wir uns erstens in diesem Hause einig sind, daß Subventionsabbau ein Thema ist, über das man nicht nur spricht, sondern bei dem wir auch mitmachen wollen und das dann zweitens auch organisieren und deshalb mit Subventionen heruntergehen, drittens das nun auch einhalten, was die EG beschlossen hat - wohl nicht ohne Zutun der Bundesregierung - , und weit unter dem bleiben, was die EG zugelassen hat, finden Sie es dann noch redlich, einerseits zu sagen, wir seien nicht EG-freundlich genug, und andererseits zu sagen, wir wollten keine Subventionen abbauen?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Die Art Ihrer Frage zwingt mich, Vermutungen darüber zu äußern, was Sie gemeint haben könnten; ({0}) ich tue das jetzt mal. Wenn Sie gemeint haben sollten, daß die Fixierung von Obergrenzen für bestimmte Subventionen bedeute, man müsse die unbedingt ausschöpfen, dann widerspreche ich Ihnen nachdrücklich. ({1}) Das wäre ja noch schöner, wenn wir dazu kämen. Das sind Limits, die man nie überschreiten darf, und das wollen wir auch nicht. Aber jetzt zu dem Punkt, auf den es ankommt. Die einzelnen Kürzungen werden nicht so vollzogen, daß die Betroffenen das Volumen der Kürzungen förmlich in einem Schreiben oder in einem Presseartikel mitgeteilt bekommen - das wissen Sie doch ganz genau -, sondern die Gespräche laufen. Heute nachmittag ist nach dieser Debatte zu einem Gespräch bei mir der Vorstand der IG Bergbau. Vor 14 Tagen war der Vorstand des Verbandes der deutschen Werftindustrie bei mir. Mit denen haben wir gesprochen, und das Gespräch wird fortgesetzt. Ich habe beiden gesagt - auch den anderen Beteiligten -, daß Entscheidungen noch nicht definitiv getroffen sind; aber die Vermutung, die die alle haben, daß unter Subventionsabbau nicht ein Prozeß zu verstehen ist, bei dem sie anschließend mehr bekommen, ist begründet. ({2}) Insofern verstehe ich den vorsorglichen Protest, der da schon angemeldet wird, sehr gut. Aber ich finde es nicht in Ordnung, wenn eine Organisation wie die IG Bergbau, die ich ansonsten für eine sehr vernünftige halte, wissend, daß wir heute das Gespräch haben, in den vergangenen Tagen mit Flugblattaktionen von Kahlschlagpolitik sprach. Das ist nicht in Ordnung. Sie wissen ganz genau, daß es sowohl der Ruhrkohle - Stichwort: Optimierungskonzept - als auch Herrn Berger, dem Vorsitzenden der IG Bergbau - ich erinnere an seine Rede auf dem Gewerkschaftstag der IG Bergbau - , als auch der Bundesregierung um einen Abbau in einer Größenordnung geht, über die wir verhandeln müssen. Es geht um eine Reduktion der Fördermenge. Das ist überhaupt nicht umstritten. Was würden Sie eigentlich sagen, wenn ich Herrn Berger oder der Ruhrkohle Kahlschlagpolitik vorwerfen würde, nur weil die Mengen abbauen wollen? Das ist etwas, was ich auch will. Über die Größenordnung müssen wir uns unterhalten - darüber sprechen wir im Moment - , und zwar zuallererst unter dem Gesichtspunkt der Energiepolitik. Ich habe Ihnen das Gesamtkonzept im Berliner Reichstag vorgetragen. Das ist drei Wochen her. Jetzt stellen Sie sich hier so hin, als hätten Sie die Rede nicht gehört. Ich frage mich manchmal wirklich, ob wir diesen rituellen Quatsch machen müssen. ({3}) Herr Jung war dabei, als ich im Reichstag gesagt habe: Zum Oktober wird das energiepolitische GeBundesminister Jürgen Möllemann Samtkonzept vorgelegt, wir arbeiten daran. Hier aber sagen Sie: Machen Sie lieber Ihre Hausaufgaben, bringen Sie erst einmal ein Gesamtkonzept! Wir arbeiten daran, auch in diesen Gesprächen. Dabei wird die Frage nach dem Energiemix zu stellen sein, und zwar unter den Gesichtspunkten einer kostengünstigen, sicheren und umweltfreundlichen Energie sowie eines gemeinsamen europäischen Energiemarkts. Meine Damen und Herren, wir werden uns innerhalb von zwei Jahren wundern, wir merkwürdig antiquiert bestimmte Debatten von vor zwei Jahren wirken werden, wenn nämlich um uns herum Anlagenbauer Kraftwerke der verschiedensten Art errichten und sagen werden: Diskutiert ihr in Deutschland ruhig noch drei Jahre, das intereressiert uns gar nicht mehr; wir liefern euch den Strom von außen!

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Nein. Ich möchte versuchen, einmal einen Gedanken im Zusammenhang vorzutragen, obwohl ich Spaß an der Diskussion habe. - Aber wenn Harald Schäfer fragt, bitte!

Harald B. Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001931, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Möllemann, gerade weil es in der Energiepolitik wie in keinem anderen Bereich auf berechenbare langfristige Rahmenbedingungen, auch was die staatlichen Vorgaben angeht, ankommt: Haben Sie denn kein Verständnis dafür, daß sich angesichts auch dieser Tatsache die Menschen im Ruhrgebiet und im Saarland von der Bundesregierung schlichtweg verschaukelt fühlen müssen, wenn vor der Wahl in einer wichtigen Frage künftiger Energiepolitik - nicht nur der Strukturpolitik, nicht nur der Sozialpolitik - exakt das Gegenteil dessen zugesagt wurde, was uns nach der Wahl von Ihnen als Wortführer angekündigt wird?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Es ist einfach nicht wahr, was Sie hier sagen. Durch solche Äußerungen, die die Leute hören und sehen, wird die Stimmung, von der Sie sprechen, geschürt. Das ist nicht in Ordnung. ({0}) Ich darf es folgendermaßen darstellen. Sie heben ab auf die Vereinbarung zwischen dem Kanzler und den beiden Ministerpräsidenten der Kohleländer: 40,9 Milliarden Tonnen bei der Verstromung. Diese Vereinbarung ist unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die EG, und zwar sowohl beihilfemäßig als auch kartellrechtlich, getroffen worden. Das wissen Sie ganz genau. ({1}) Die Gespräche laufen. Zweitens ist diese Vereinbarung zu einem Zeitpunkt getroffen worden, als die deutsche Energiepolitik eine andere war, nämlich die der westdeutschen Länder. Wir haben mittlerweile mehr Braunkohle als Steinkohle in Deutschland. Das haben wir in ein Gesamtkonzept einzufügen. Deswegen ist die Debatte unvermeidlich auch insoweit neu zu führen. Wir haben drittens den Zusammenhang, Herr Schäfer, den ich vorhin nannte, nämlich daß wir die staatlichen Finanzen mit einer ganzen Reihe neuer Prioritäten konfrontiert sehen. Wer Prioritäten finanzieren will, muß in der Lage sein, zu sagen, wo er an anderer Stelle sparen will, wenn er dem Bürger das Geld nicht zusätzlich abnehmen will. Sie werden bis zum Herbst Geduld haben müssen. Dann wird das Energiegesamtkonzept vorgelegt. Zuvor laufen die Verhandlungen mit der EG-Kommission und mit den Beteiligten. Auch der Vorsitzende der IG Bergbau und auch die Ruhrkohle haben signalisiert - ich wiederhole es -, daß die Fördermengen reduziert werden müssen. Meine Damen und Herren, ich kann doch nichts dafür, daß die deutsche Steinkohle pro Tonne im Moment im Schnitt 287 DM kostet, die Tonne Steinkohle auf dem Weltmarkt nur 97 DM. Die Differenz von 190 DM zahlt der Steuerzahler respektive der Stromkunde. Da muß die Frage erlaubt sein, aus welchem Grund wir denn einen so hohen Anteil von rund 10 Milliarden DM Subventionen teils aus dem Haushalt, teils über den Kohlepfennig finanzieren sollen und ob es nicht möglich ist, einen neuen Kohlemix zu definieren. Das ist doch wohl nicht von der Hand zu weisen. ({2}) Letzter Punkt: Herr Bürgermeister - Herr Senatspräsident - - Auch falsch? ({3}) - Herr Wedemeier und ehemaliger Kollege Grobekker, Sie, Herr Wedemeier, hätten Ihre Rede - abgesehen davon, daß sie kaum jemanden beeindruckt hat - gar nicht zu halten brauchen, weil Sie von den Unternehmungen aus Bremen genau wissen, daß wir uns im Gespräch befinden. Sie wissen ferner, daß es um die Frage geht, wie die Werftenhilfe künftig gestaltet werden soll. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie wohl nicht eine Heraufsetzung erwartet, sondern möglicherweise auch eine degressive Tendenz für möglich gehalten. Darüber wird im Moment gesprochen und verhandelt. Wir werden die Zahlen, sobald wir uns festgelegt haben werden, publizieren. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, eine letzte Bemerkung. Ich bin gebeten worden, noch etwas zu den Gesprächen mit der Sowjetunion zu sagen. Bei meinem letzten Besuch haben wir uns in zwei Punkten festgelegt. Der erste Punkt betrifft die Tatsache, daß die Sowjetunion bei den Firmen in den neuen Bundesländern im Rahmen der besonderen HermesKonditionen nicht nur Waren für 9 Milliarden DM ordern will - 6 Milliarden DM sind fest kontrahiert -, sondern für 12 Milliarden DM. Das ist wichtig und wirkt sich auf die Beschäftigungssitution der Unternehmungen in den neuen Bundesländern aus. Zweitens hat sich die Sowjetunion mit uns darauf verständigt, daß wir Auseinandersetzungen, wie wir sie kürzlich über den Bau von Wohnungen für die abziehenden Soldaten geführt haben, in Zukunft vermeiden wollen. Nach diesen Gesprächen kann ich hier ohne große Probleme sagen: Wir sind zuversichtlich, daß ein beträchtlicher Teil der zukünftig zu vergebenden Lose für Bauprojekte - die nächste Entscheidung über zehn Orte steht im Juli an - auf deutsche Unternehmen entfallen wird. Bei den ersten drei Projekten sind 50 % der Aufträge, die an deutsche Unternehmen vergeben worden sind, an ostdeutsche Unternehmen vergeben worden. Ich warne allerdings vor dem Trugschluß, daß ein Auftrag an ein Unternehmen - wo auch immer in Deutschland - automatisch zur Folge hätte, daß alle Beschäftigten, die an dem entsprechenden Bauprojekt mitarbeiten, aus Deutschland kommen. Das beabsichtigen weder die Unernehmen hüben noch die Unternehmen drüben. Im Zweifel greifen alle Bewerber auf dieselben Bauarbeiter aus Bulgarien, der Türkei und Rumänien zurück; denn sie sind zu anderen Konditionen zu haben, wodurch es den Unternehmen, die diese in ihre Angebotspalette integriert haben, erlaubt ist, entsprechend niedrig anzubieten. Wir werden das Wettbewerbsverfahren nicht außer Kraft setzen, damit wir es schaffen, erstens kostengünstig zu bauen und zweitens den Fahrplan einzuhalten.

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Auch der Kollege Wieczorek darf noch eine Zwischenfrage stellen, obwohl Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Ja, ist klar.

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, bevor Sie uns unter den Fingern wegrinnen, möchte ich ganz gern die Frage aufnehmen, die Sie Herrn Roth nicht beantwortet haben. Aus dem Kontext Ihrer Auffassung zum Subventionsabbau heraus sollte sie aber noch einmal gestellt werden. Sie haben gesagt, staatliche Eingriffe in den Markt seien eines der wesentlichsten Handlungskriterien für ihren Abbau. Würden Sie mir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal erläutern, wie Sie nicht als Landwirtschaftsminister, sondern als derjenige Minister, der die Subventionen abbauen will und die staatliche Lenkung als einen Teil seines Abbaukonzeptes ansieht, die Landwirtschaft sehen?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Frau Präsidentin, Sie waren schon großzügig genug, mir das jetzt nachzusehen. Ich werde versuchen, diese Frage so zu beantworten, daß Sie nicht ungeduldig werden. ({0}) Gleichzeitig möchte ich bei Herrn Kollegen Wieczorek nicht das Gefühl wecken, daß ich ihm unter den Fingern wegrinnen will, was auch immer das heißt und wie auch immer man sich das technisch vorzustellen hat. ({1}) Verehrter Herr Kollege, ich habe mich in meinen Bemerkungen auf den Hinweis beschränkt, daß ich es für notwendig halte, die GATT-Verhandlungen durch den Abbau der Agrarexportsubventionen wieder flottzumachen. Es gibt Nationen, die am GATT-System beteiligt sind und deren einzige Einahmequelle die Agrarprodukte sind. Diese Staaten wehren sich verständlicherweise dagegen, daß wir unsere teuren Agrarprodukte mit Mitteln der EG und mit nationalen Mitteln heruntersubventionieren. Das müssen wir in einem bestimmten Mindestumfang korrigieren, um ihre Zustimmung zu einer neuen GATT-Vereinbarung zu bekommen. Die übrigen EG-Agrarreformvorschläge und auch die nationalen bitte ich Sie herzlich mit Herrn Kollegen Kiechle, der, wie gesagt, ein exzellenter Agrarminister ist, zu erörtern. Vielen Dank. ({2})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Ich möchte die Kollegen und Kolleginnen auf die Möglichkeit der Kurzintervention aufmerksam machen - man muß nicht alles durch Zwischenfragen zu erledigen versuchen - und den Herrn Bundeswirtschaftsminister darauf, daß ich nicht die Möglichkeit habe, ihm die Redezeit zu kürzen, sondern daß er reden kann, solange er will. Nun hat die Kollegin Elke Wülfing das Wort.

Elke Wülfing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002567, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren! Sehr geehrte wenige Damen! Seit dem 3. Oktober 1990 sind wir, glaube ich, alle gemeinsam für die Schaffung gleicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland verantwortlich, und zwar nicht nur wir Politiker, sondern alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Als Politiker können wir hier nur die richtigen Weichen stellen, und ich glaube, das haben wir getan. Auch die SPD wird sicherlich nichts dagegen sagen. Mit Leben erfüllen müssen diese Einheit die Menschen selbst. Sie beteiligen sich ja auch ganz unterschiedlich an diesem Vereinigungsprozeß: als Arbeitnehmer, als Arbeitgeber, als Investoren, als Verwaltungsbeamte, als Wohlfahrtsverbände, als Kirchen und natürlich auch als Treuhandmitarbeiter, vor allen Dingen aber auch als normale Steuerzahler. Letzteres möchte ich hier wirklich einmal erwähnen; denn, ich glaube, wir Politiker können uns auch bei den Steuerzahlern, die bereit sind, für diese Einheit zu zahlen, von hier aus durchaus einmal dafür bedanken, daß sie das auch tun. ({0}) Statt ständig nach irgendwelchen Schuldigen für diese vorübergehend schwierige Lage in den neuen Bundesländern zu suchen, die natürlich nach MeiElke Wülfing nung der Opposition hauptsächlich bei uns, nämlich bei der CDU/CSU und bei der FDP, zu finden sind, ({1}) sollten wir vielmehr alle Anstrengungen unternehmen, um Menschen zu ermutigen, noch mehr Hilfe in den neuen Bundesländern zu leisten, als es jetzt schon passiert. ({2}) Wir haben hier in Bonn mit einem 100-MilliardenDM-Programm von Investitionszulagen und -zuschüssen, mit Existenzgründungsdarlehen, mit Eigenkapitalhilfeprogrammen, mit ERP-Krediten, mit dem gesamten Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost und vor allen Dingen auch mit den Mitteln zur sozialen und arbeitsmarktpolitischen Flankierung des schwierigen Anpassungsprozesses die Weichen richtig gestellt. ({3}) Wir brauchen keine planwirtschaftlichen Industrielenkungspolitiken, wie dies die PDS hier zum Teil geäußert hat; auch bei Herrn Roth waren heute einige Anklänge davon zu hören. Wir brauchen vielmehr - da haben wir unsere Schularbeiten ja gemacht - Investitionsanreize und vor allen Dingen das vorhin hier schon angesprochene Instrumentarium der Gemeinschaftsaufgab e zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, ({4}) mit dem wir ja auch in den alten Bundesländern für die Ablösung von Monostrukturen gesorgt haben. Gerade diese Monostrukturen - das wissen alle diejenigen, die aus dem Gebiet der ehemaligen DDR kommen, vielleicht noch besser als diejenigen, die nicht von dort kommen - sind in den neuen Bundesländern durchaus ein großes Problem. Ich komme selber aus einem Wahlkreis, der vor 20 Jahren noch eine Monostruktur mit Textilindustrie und Landwirtschaft aufwies. In diesem Jahr sind wir aus der Gemeinschaftsaufgabe deswegen herausgefallen, weil sich unsere Wirtschaft so diversifiziert und so überdurchschnittlich gut entwickelt hat, daß wir diese Hilfe nicht mehr brauchen. Dies war mit der Gemeinschaftsaufgabe möglich, die wirklich sehr viele Investoren zu uns gelockt hat. Es war aber auch durch das Angebot an sehr vielen guten, jungen, tatkräftigen Arbeitnehmern möglich. Ich möchte gerade auch auf diese Tatsache einmal hinweisen. Auch in den neuen Bundesländern werden neben den Investitionsanreizen und der Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur vor allen Dingen die gut ausgebildeten Arbeitskräfte zusätzliche Investoren ins Land bringen und helfen, Monostrukturen zu beseitigen. Den Vorteil, hier ein Arbeitskräftepotential zu haben, das uns in den alten Bundesländern inzwischen fehlt, sollte man vielleicht bei der Werbung von Investoren im In- und Ausland noch stärker herausstellen. ({5}) Meine Damen und Herren, wir brauchen statt Industrielenkungspolitik im Gegenteil noch mehr Verständnis für marktwirtschaftliche Prozesse. Das ist kein Manchester-Kapitalismus, wie der brandenburgische Ministerpräsident, Herr Stolpe, auf dem SPD-Bundesparteitag meinte. ({6}) Überlebensfähig werden nämlich nur all diejenigen Betriebe sein, die marktfähige Produkte anbieten können. Das ist wirklich die wichtigste Voraussetzung für die gute Entwicklung eines Betriebs. Außerdem müssen die Betriebe natürlich die Fertigung sehr schnell modernisieren können, damit auch der Anschluß an die Weltmarktpreise erreicht werden kann. Bei aller Wertschätzung für die schwierige Arbeit der Treuhand, die Enormes leistet, in dieser Situation bedarf es aber vielleicht doch eines gewissen Umdenkens einiger Treuhand-Sachbearbeiter vor Ort, die bei der Berurteilung von Sanierungskonzepten den Aspekt der Marktfähigkeit von Produkten vielleicht noch etwas stärker berücksichtigen sollten. Solche auf dem Markt eingeführten Produkte gibt es in den neuen Bundesländern in weit größerem Ausmaß, als manche vielleicht meinen. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen, die jetzt von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Aber ich bin auch zuversichtlich, daß wir die Aufgabe schaffen werden, die wir uns vorgenommen haben, nämlich den wirtschaftlichen und den sozialen Neuaufbau in den neuen Bundesländern zu leisten. Die Voraussetzungen sind gut. Sie könnten im Grunde gar nicht besser sein. Die Wirtschaft in den alten Bundesländern ist auch weiterhin - auch noch im ersten Quartal 1991 - auf Erfolgskurs. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden auch weiterhin alles Notwendige tun, um bei der Erhaltung und Beschaffung von Arbeitsplätzen mitzuhelfen. Ich kann Sie alle, die Oppositionsfraktionen, hier nur auffordern, sich daran zu beteiligen, statt immer nur zu meckern. Stimmen Sie doch einfach dem Einzelhaushalt zu. Vielen Dank. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete Blunck, Sie haben das Wort.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie haben einen Dank an die Steuerzahler ausgesprochen. Ich denke, eine Entschuldigung wäre angebrachter gewesen. ({0}) Denn für die abgeforderte Solidarität ist immer die Wahrheit Voraussetzung; und Sie beginnen die Abforderung der Solidarität mit einer Steuerlüge. Ich denke, dafür wäre eigentlich die Entschuldigung dringend erforderlich. ({1}) Ich will aber zur Verbraucherpolitik reden. Auch dort wird der König Kunde sehr mies von Ihnen behandelt. Im Wirtschaftsministerium sitzt er nicht einmal am Katzentisch. Beim Landwirtschaftsministerium wird er für eine verfehlte Agrarpolitik verantwortlich gemacht. ({2}) Der Umweltminister benutzt ihn als Schutzschild, um von eigener Tatenlosigkeit abzulenken. Ich nenne da nur das Stichwort „Abfallinfarkt" oder „Entsorgungsinfarkt". Öffentliche Anbieter wie die Post oder die Bahn kennen den Kunden nur dann, wenn es darum geht, ihm sehr unfreundlich in die Tasche zu langen. Der Postminister spielt heute morgen im Rundfunk Verbraucherpolitik und Datenschutz gegeneinander aus. Ich sage auch nichts Neues, wenn ich die öffentlichen Anbieter wirklich anprangere, weil sie etwa beim Gestalten eines Fahrplans nicht an den Verbraucher, an den Kunden, an die Kundin denken. Ich kann beliebig fortfahren mit Versicherungen, mit Banken, - beim Ignorieren der Wünsche ist jeder vorn. Aber wenn es an das Kassieren geht, dann sind alle da. Nur wenn es um die Verbraucherrechte geht, z. B. um Information, um Vertretung und Beratung, ziehen alle den Schwanz ein. ({3}) Der Haushalt 1991 ist ein verbraucherpolitisches Armutszeugnis. Klägliche 0,00015 % oder ein Siebentausendstel des Bundesetats ist der Bundesregierung der Verbraucherschutz wert oder - so müßte ich es wohl besser sagen - unwert. Aber auch dieses Tröpfchen ist der christlich-liberalen Koalition offensichtlich zuviel. So sollen ab 1992 die Bundesmittel für die Verbraucherzentralen noch erheblich gekürzt werden. Vorgeschoben werden verfassungsrechtliche Gründe. Verbraucherzentralen beraten angeblich nur individuell und regional begrenzt. Der Wirtschaftsminister kramt dazu eine völlig veraltete Stellungnahme aus dem Jahre 1976 hervor. Seine Argumente halten einer Überprüfung überhaupt nicht stand. ({4}) Die Beratung der Verbraucherzentralen, die Schwerpunktaktionen bis hin zur Verbandsklage und die Gesetzgebung auf Bundes- und auf EG-Ebene sprechen dagegen. Ich will auch ein Beispiel dafür anführen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich darf diesen Satz noch zu Ende bringen; dann gerne. Beispielsweise Hormone im Fleisch sind nicht nur das Problem von Herrn oder Frau Jensen aus Pinneberg, sondern genauso das Anliegen von Frau oder Herrn Huber aus Passau oder von Herrn Bergmann aus Erfurt. ({0}) Das Gebaren von Banken und Versicherungen ist unser aller Problem und eben grenzenlos. - Sie wollen eine Frage stellen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Rossmanith, bitte.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich hoffe, daß das nicht auf meine Redezeit angerechnet wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Natürlich nicht.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Blunck, ich darf Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß eine Vereinbarung mit den Bundesländern besagt, daß mit Ablauf dieses Jahres die Beiträge des Bundes für die Verbraucherschutzverbände auslaufen, und daß der Haushaltsausschuß und gerade die von Ihnen so sehr gescholtenen Koalitionsfraktionen, um den Verbraucherschutzverbänden und den Ländern eine Hilfe zu geben und die Mittel nicht so abrupt abzuschneiden, für die nächsten Jahre dennoch ein Auslaufen dieses Modells mit 80, 60, 40 und 20 % bereits im Haushalt 1991 festgeschrieben haben? ({0})

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genau dagegen verwahre ich mich, denn es ist unsinnig, daß Sie die Verbraucherpolitik nicht weiter ausbauen und mehr Geld dafür in die Hand nehmen. Statt dessen bauen Sie die entsprechenden Mittel ab. Damit kann man mitnichten einverstanden sein. ({0}) Herr Rossmanith, ab und zu zuhören ist auch eine ganz schöne Sache. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Moment, Herr Kollege. - Wenn Sie eine weitere Zusatzfrage stellen wollen, dann müssen wir die Kollegin fragen, ob sie bereit ist, sie zu beantworten.

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber nicht, wenn mir hier noch eine Minute verlorengeht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nein, nein. - Ansonsten können Sie als Fragesteller keinen Kommentar abgeben. Wollen Sie noch eine Frage stellen? - Frau Kollegin, sind Sie bereit, die Frage zu beantworten?

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident und Frau Kollegin, ich bedanke mich ausdrücklich. - Ich darf Sie fragen, ob Ihnen des weiteren bekannt ist, daß der Verbraucherschutz Aufgabe der Länder ist und daß sich der Bund bisher nur - ich möchte fast sagen - auf freiwilliger Basis daran beteiligt hat. ({0})

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dies sollte er nicht nur weiterhin freiwillig machen, sondern er sollte endlich erkennen, daß es seine Aufgabe ist. In der Ernährungsberatung erkennt er dies ja auch an. ({0}) - Nein, ich muß nicht die Verfassung ändern, sondern Sie dürfen die Gründe nicht gerade so herholen, wie es Ihnen paßt, sondern Sie müssen bitte schön ein bißchen nach Recht und Ordnung verfahren. ({1}) Ich lobe mir die Mitglieder des Wirtschaftsausschusses, die insgesamt dem kw-Vermerk, dem Vermerk: künftig wegfallend, nicht zugestimmt haben, und zwar im Gegensatz zu den Haushältern - es tut mir leid, Herr Rossmanith, denn Sie sind sonst so ein angenehmer Mensch -, ({2}) die, wie Sie, die Notwendigkeit der Verbraucherberatung erst gar nicht richtig erkannt haben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, es gibt ein weiteres Begehren nach einer Zwischenfrage des Kollegen Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Blunck, ist Ihnen bekannt, daß es ein diesbezügliches Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt, wonach das, was Verbraucherschutzverbände leisten und was finanziell zu unterstützen ist, und zwar staatlicherseits, eine reine Aufgabe der Länder und nicht des Bundes ist?

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie müßten dieses Gerichtsurteil bitte noch einmal genau nachlesen. Es ist nicht im Hinblick auf Verbraucherberatung ausgesprochen worden. Ich werde es Ihnen gerne zuschicken. Dann erkennen Sie, daß es zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind und daß es mitnichten die Bundesfinanzierung der Verbraucherzentralen berührt. Herr Hinsken, nun habe ich Sie gerade so gelobt. Warum machen Sie diesen Schlenker? Er zeigt doch nur, daß Ihnen dieses Gerichtsurteil nicht in allen Einzelheiten bekannt ist. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Hinsken, selbst wenn die Antwort in Frageform gekleidet ist, beginnt damit kein Dialog. Wenn Sie eine weitere Zwischenfrage stellen und die Antwort vielleicht in die Frage einbauen wollen, dann muß die Kollegin Blunck zustimmen. ({0})

Lieselott Blunck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist eine gute Idee. Viele Verbraucher und Verbraucherinnen, vor allem in den fünf neuen Bundesländern, sind von der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft bitter enttäuscht. Verbraucherpolitik könnte helfen, die Soziale Marktwirtschaft glaubwürdiger zu machen. Aber dazu bräuchten wir eben eine andere, eine vorsorgende, eine aktive Verbraucherpolitik. Das ist eine gesamtwirtschaftliche Aufgabe. Dazu muß der Bund einmal ordentlich Geld in die Hand nehmen, anstatt sich aus fadenscheinigen Gründen des Rotstiftes zu bedienen. ({0}) Ich möchte noch einmal die Zahlen nennen, damit das klar wird: Im Wirtschaftshaushalt geht es um 14,5 Milliarden DM, und wir streiten uns im Augenblick um 9,7 Millionen DM. Wir streiten uns also um zwei gutplazierte Lottogewinne, und dies zum Schaden vieler Millionen Bürgerinnen und Bürger in den neuen und den alten Ländern. ({1}) Im übrigen - ich gehe noch einmal auf Ihre Argumentation ein - zweifelt der Wirtschaftsminister bei der Existenzgründungsberatung nicht an der alleinigen Bundeskompetenz. ({2}) Man holt sich eben die Begründungen hervor, die man gerade gut gebrauchen kann. ({3}) Das Lavieren macht u. a. deutlich: Es sind eben nicht die hehren verfassungsrechtlichen Grundsätze, die der Bundesregierung die Hände binden; es fehlt in diesem Zusammenhang vielmehr schlicht der politische Wille. ({4}) So reiht sich denn die Kürzung der Bundesmittel auch nahtlos in die bisherige verbraucherpolitische Untätigkeit der Kohl-Regierung ein. Gesetzliche Regelungen zum Verbraucherschutz beschränkten sich schon in den letzten Jahren auf die unvermeidbare Umsetzung von EG-Vorhaben. Dabei wurden nicht einmal vorhandene Spielräume zugunsten der Verbraucher genutzt. In nur allzu schlechter Erinnerung sind uns das Verbraucherkreditgesetz, die Novellierung des Versicherungsrechtes und die Produkthaftung. Auf eigene verbraucherpolitische Initiativen wartet man bei dieser Regierung vergeblich. ({5}) Auch in der neuen Legislaturperiode hat Minister Möllemann darin Kontinuität bewiesen. ({6}) Er hat wirklich keine Gelegenheit außer acht gelassen, um seine Abneigung gegen den Verbraucherschutz unter Beweis zu stellen. In den Koalitionsvereinbarungen fand sich kein Wort zur Verbraucherpolitik. ({7}) Unser Antrag auf Errichtung eines Unterausschusses „Verbraucherpolitik" wurde erst wochenlang verschleppt und schließlich mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt. Als Krönung kommt nun die Kürzung der Haushaltsmittel. Auf einen Nenner gebracht lautet die Devise des Verbraucherschutzes Marke christlich-liberal: Kein Konzept, kein Verbraucherausschuß, kein Geld. Dabei sind vorbeugende Verbraucherschutzmaßnahmen und eine umfassende Verbraucherpolitik notwendiger denn je. In den fünf neuen Bundesländern ist eine umfassende Aufklärung dringend erforderlich, um wenigstens den schlimmsten Auswüchsen der Marktwirtschaft à la Wildost zu begegnen. Lebensmittel und Trinkwasser sind mit Schadstoffen belastet. ({8}) Auch bei Gebrauchsgegenständen werden Rückwirkungen auf Gesundheit und Umwelt immer deutlicher, seien es Putz- und Waschmittel, seien es Holzschutzmittel, sei es Abfall. Die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion nimmt zu. Wir werden uns alle noch wundern, was nach dem 1. Januar 1993 auf uns zukommt. Es werden immer mehr Zusatzstoffe in den Lebensmitteln sein. Es wird neue Konservierungsmethoden und Produktionsverfahren geben; das geht bis hin zur Gentechnik. Von allen wissen wir eigentlich überhaupt nicht, wie sie langfristig wirken werden. Verbraucherschutz bei Dienstleistungen ist ein Fremdwort. Große Sorgen bereitet die Ver- und Überschuldung wachsender Bevölkerungskreise, und kaum einer findet sich im Paragraphendschungel von Versicherungsbedingungen und Bankkonditionen zurecht. Der europäische Binnenmarkt ist geradezu zum Symbol für die Mißachtung von Verbraucherinteressen geworden. Angesichts dieser Probleme ist die Streichung der Bundesmittel für die Verbraucherzentralen ein Schritt in die falsche Richtung. Sie ist konzeptionslos, und sie ist verantwortungslos. ({9}) Gebot der Stunde ist eine Stärkung des Verbraucherschutzes und eben die konsequente Durchsetzung des Vorsorgegedankens. Entsprechend dem Motto „Vorbeugen ist besser als Heilen" muß die Vermeidung von Schaden Vorrang vor der nachträglichen Reparatur erhalten. ({10}) Gestern war der Tag der Umwelt. Der Schutz der Umwelt ist die Überlebensfrage der Menschheit. ({11}) Das ist uns allen bekannt. Umweltschutz und Verbraucherschutz gehören untrennbar zusammen, ({12}) und sie liegen im ureigensten Interesse der Wirtschaft. Es ist Aufgabe der Wirtschaft, Produkte zu entwikkeln, die diese Ansprüche erfüllen. Berücksichtigt werden muß der gesamte Lebensweg einer Ware mit all seinen Auswirkungen auf andere Bereiche bis hin zur Entsorgung. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, hierfür die notwendigen Vorschriften zu erlassen. Dabei müssen die marktwirtschaftlichen Instrumente genutzt werden: Verbraucherfreundliche Angebote müssen belohnt, verbraucherschädliche Güter müssen verteuert werden. ({13}) Die Hersteller müssen die Verantwortung für die Schäden übernehmen, die durch ihre Produkte verursacht wurden und werden. ({14}) Funktionierende Marktwirtschaft, funktionierender Wettbewerb sind ohne eine starke Nachfrageseite undenkbar. Wenn es Minister Möllemann mit der Marktwirtschaft ernst meint, muß er die Konsumenten und Konsumentinnen in die Lage versetzen, ihre Marktwirtschaft, ihre Rolle als Marktgegengewicht im Rahmen des Wettbewerbs tatsächlich auszuschöpfen. ({15}) Voraussetzung sind eine sichere Finanzierung und eine angemessene Ausstattung der Verbraucherinstitutionen im Bund, in den Ländern sowie auf der internationalen Ebene. Es ist eben Aufgabe des Bundes, die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verankerung des Verbraucherschutzes als Pflichtaufgabe mit einer entsprechenden finanziellen Ausstattung zu schaffen. Die Zeiten, in denen die Verbraucher und die Verbraucherinnen mit dem letzten Krümel unter dem Tisch abgespeist werden, müssen endgültig passé sein. ({16})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hansjürgen Doss.

Dr. Hansjürgen Doss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000411, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Weil wir nicht wollen, daß die Verbraucher wie die Krümel unter dem Tisch angesiedelt sind, haben wir uns nach sorgfältiger Beratung entschlossen, daß wir keinen Unterausschuß einrichten wollen, sondern daß Verbraucherpolitik Teil der Ausschußarbeit ist. Sie haben jederzeit Gelegenheit, diese Themen zur Sprache zu bringen, weil sie so wichtig sind. Das Umgekehrte ist richtig. ({0}) Wenn Sie erlauben, würde ich eine zweite Vorbemerkung machen. Ich sage Ihnen, daß ich darüber betroffen bin, als „Steuerlügner" bezeichnet zu werden. ({1}) Ich weiß nicht, wie das mit Ihrem persönlichen Ehrgefühl ist. - Herr Jung, Sie meinen „zu Recht" . - Das macht mich betroffen. ({2}) Bei einer so weitgehenden Aussage muß die Betrugsabsicht da sein. ({3}) - Eine Sekunde Geduld. Ich kann mir vorstellen, daß Sie das, was ich sage, aufregt. Es ist eben die Qualität meiner Aussagen, die Sie dazu bringt. ({4}) Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen das wirklich einmal sehr deutlich sagen. Frau Kollegin Blunck, es hat Ihnen wieder gefallen, zu sagen: Wir lügen. - Sie haben das auch ununterbrochen auf den Lippen. ({5}) Jetzt möchte ich gern einmal fragen: Was ist dann das, was der Herr Jung hier von sich gegeben hat? Sie haben Wahlkämpfe bestritten, in denen Sie gesagt haben: Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie. - Sie haben sogar Zeiten vorgegeben. Dann stellt sich der Herr Jung hier hin und sagt: Über die Dauer der Nutzung der Kernenergie lassen wir mit uns reden. Das ist ehrenwert. Ich bin auch der Meinung, daß wir uns gegenseitig zugestehen müssen, daß man ein bißchen schlauer wird. Dies gilt insbesondere in der Zeit des revolutionären Prozesses, in der wir gegenwärtig leben. Sie haben die Wahlen in Rheinland-Pfalz mit der Diskriminierung der Union durch diesen Lügevorwurf gewonnen. Ich bin der Meinung, es muß jetzt endlich einmal Schluß sein damit. ({6}) Unsere Mitbürger wenden sich ob des Umgangs, den wir miteinander pflegen, mit Schaudern ab. ({7}) Liebe Kollegen, die Schlammschlacht kann nicht auf Dauer Maßstab der politischen Auseinandersetzung sein. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Doss, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Matthäus-Maier?

Dr. Hansjürgen Doss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000411, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist mir eine große Freude.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, da es Sie offensichtlich immer sehr trifft, wenn wir von Steuerlüge sprechen: Wollen Sie dann wenigstens die Meinung der Bürgerinnen und Bürger zur Kenntnis nehmen, die bei einer Infas-Umfrage vom letzten Samstag die Frage beantworten konnten: Ist der Vorwurf der Steuerlüge gerechtfertigt? Und die laut Infas zu 72 % mit Ja geantwortet haben? ({0}) Wollen Sie mir zweitens zustimmen, daß Ihre Bemerkung, Lügen habe etwas mit Wissen oder Nichtwissen zu tun, deswegen eine Ausflucht ist, weil kein Thema vor der Bundestagswahl so hin und her, vor und zurück und nach rechts und nach links gewendet wurde wie dieses Thema, nachdem ich Sie ab September darauf aufmerksam gemacht hatte: Seien Sie vorsichtig; Sie laufen genau wie der Herr Bush in Amerika in eine Steuerlüge, ({1}) so daß Sie sich nicht mit Nichtwissen herausreden können, sondern daß vielmehr festgestellt werden muß, daß bewußt so gehandelt wurde, - ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, eine Zwischenfrage, kein Redebeitrag!

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Finden Sie nicht auch, daß es nichts mit einer Schlammschlacht, sondern mit Ehrlichkeit zu tun hat, hier zu sagen, daß Sie einfach die Unwahrheit gesagt haben? ({0})

Dr. Hansjürgen Doss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000411, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Situation ist für Sie durch diesen Beitrag nicht besser geworden. ({0}) Das ist der hilflose Versuch der Begründung einer Diffamierungskampagne. ({1}) - Ich weiß nicht. - Diese Diffamierungskampagne hat allerdings gewirkt. Wenn ich so etwas mit einem Kompliment versehen soll, so kann ich Ihnen bestätigen, daß es Ihnen gelungen ist, daß 72 % der Bevölkerung der Auffassung sind, die Union habe vor der Wahl in einer ganz bestimmten Frage mit Absicht die Unwahrheit gesagt, nämlich in der Frage: Brauchen wir eine Steuererhöhung oder nicht? Ich halte dies für unangemessen. Vor dem Hintergrund der Aussage des Kollegen Jung sage ich Ihnen noch einmal: Sie sind in Wahlkämpfe gezogen und haben gesagt, Sie würden aus der Nutzung der Kernenergie aussteigen. Dann erklärt Herr Jung: Über die Dauer der Nutzung der Kernenergie lassen wir mit uns reden. Damit haben Sie vor der Wahl etwas anderes gesagt als nach der Wahl. Dann ist dies die Energie-Lüge. Wie um Himmelswillen soll das weitergehen, wenn wir in dieser Qualität miteinander umgehen! ({2}) Vielleicht haben Sie neben der Diskriminierung des politischen Gegners auch noch ein paar Argumente vorzubringen, mit denen Sie Wahlkämpfe bestreiten können. Ich halte diese Art der Auseinandersetzung für ausgesprochen unappetitlich. ({3}) - Ich habe altmodische Ehrbegriffe. Dies will ich gerne zugeben. Wir beraten heute den ersten gesamtdeutschen Haushalt, der Grundlage und Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung in den fünf neuen Bundesländern ist. Er ist Grundlage einer weiterhin soliden und sparsamen Finanzpolitik für Gesamtdeutschland. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Aufschwung in der ehemaligen DDR durch die Soziale Marktwirtschaft sind nunmehr gegeben. Wir lesen und hören immer öfter, daß die vorhandenen Möglichkeiten, neue Betriebe zu gründen, alte zukunftsfähig zu machen und neue Arbeitsplätze zu schaffen, von Unternehmen und Unternehmern zunehmend genutzt werden. Jetzt gilt es, über die bisherigen Ansiedlungs- und Investitionserfolge hinaus nationale wie internationale Unternehmen zu ermutigen, Arbeitsplätze zu schaffen, insbesondere aber die Menschen in den fünf neuen Bundesländern zu ermutigen, sich selbständig zu machen. ({4}) Ein breiter wirtschaftlicher Mittelstand ist die Grundlage für eine florierende Wirtschaft und für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung. Um die Freiheit zu zerstören, ist der Mittelstand in der ehemaligen DDR gezielt vernichtet worden. Konsequenz waren die wirtschaftliche Stagnation auf dem Niveau der 50er Jahre, die Entmündigung der Bürger und die Unfreiheit. Die Lehre aus dem weltweiten Scheitern des Sozialismus ist: Es gibt keinen Ersatz für die Soziale Marktwirtschaft. Es gibt aber auch keinen Ersatz für die Ehrlichkeit in der Beurteilung der Volkswirtschaft und deren Ursachen beim Niedergang in den fünf neuen Bundesländern, und es gibt keinen Ersatz für einen berechtigten Optimismus, der bekanntermaßen unverzichtbar ist, der sozusagen Voraussetzung für unternehmerisches Handeln ist. In dieser Situation lädt die SPD große Verantwortung auf ihre Schultern, indem sie - auch in dieser Haushaltsdebatte - die Illusion verbreitet, daß vor allem staatliches Handeln die Probleme lösen könnte, indem sie die Bundesregierung diskreditiert, zu spät, zu früh, zu schnell, zu zögerlich gehandelt zu haben, zuwenig öffentliche Mittel eingesetzt zu haben oder dann zuviel, wie Frau Matthäus-Maier beklagt hat. Wegen dieser vordergründigen parteipolitischen Diskussion wird unseren aufmerksam zuschauenden Mitbürgern in den fünf neuen Bundesländern der Eindruck vermittelt, als ob die schnelle Herbeiführung vergleichbarer Lebensbedingungen lediglich mit staatlichem Handeln verbunden sei. ({5}) - Aber selbstverständlich. Dies verschleiert die eigentlichen Ursachen, verschweigt die zahlreichen Erfolge des beginnenden Aufschwungs und lenkt von der Notwendigkeit privatwirtschaftlichen Handelns ab. Wenn sich die Kollegen in der Opposition darauf beschränken, die schmerzhaften Einschnitte und die unvermeidbaren Härten des revolutionären Prozesses - und es ist ein revolutionärer Prozeß - zu beklagen, muß man dahinter Methode vermuten. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß es in den neuen Bundesländern auch zunehmend wirtschaftlichen Aufschwung gibt! Selbst ADN - die sind ja nicht gerade CDU-nah - kam gestern nicht umhin, auf breite Investitionsschübe hinzuweisen. Ich nenne drei davon stellvertretend: Ein deutsch-italienischfranzösisches Ölkonsortium investiert in Schwedt an der Oder 1,5 Milliarden DM. Alle Unternehmensgruppen von Mannesmann sind in der Zwischenzeit in den fünf neuen Bundesländern. Bosch beschäftigt dort in der Zwischenzeit rund 4 000 Mitarbeiter. Ein persönlicher Freund von mir, ein Mittelständler von echtem Schrot und Korn, ein Bäckermeister, der Zukunft hat - ({6}) - Nicht der Hinsken. Den Hinsken brauchen wir hier: Der hält Sie in Schach. ({7}) Die Firma Griessen baut in Jena eine der modernsten Backwarenfabriken in ganz Europa. ({8}) - Frau Blunck, aber diese vielen Tropfen sind es. Nicht anders kann es gehen. Dieser Bäckermeister hat sich bei mir gemeldet und hat gesagt - Sie müssen sich das einmal überlegen - : Bei der dortigen Behörde, bei der er vorstellig geworden sei, um eine Baugenehmigung zu erhalten, habe man ihm gesagt, man brauche keine Wessis. Wir haben dann den zuständigen Kollegen gebeten. Er hat sich eingeschaltet und das in Ordnung gebracht. Aber so ist das. In Brandenburg hat sich ein mir bekannter Immobilienmakler bemüht, eine Immobilie mit dem Hintergrund zu erwerben, daß dort eine Versicherungsgesellschaft Platz greifen sollte. Er hat gesagt, es entstünden 90 Arbeitsplätze. Man hat ihn mit dem Hinweis abgewiesen, das seien viel zu wenig; man habe eine Arbeitslosenquote von - ich weiß das nicht mehr ganz genau - 12 %. Hansjörgen Doss Meine Damen und Herren, da gibt es natürlich auch alte Seilschaften, Unverstand und sonstiges, gegen was da zu kämpfen ist, sowie vordergründige Vorschläge. ({9}) - Daß ausgerechnet Sie meinen, hier Ihre Stimme erheben zu müssen, wo wir über die Misere reden, die Sie zu verantworten haben, finde ich schon bernerkenswert. ({10}) Was uns schmerzt, ist, daß Sie nicht mit uns zusammen die Verantwortung tragen, daß wir nämlich den Menschen in den fünf neuen Bundesländern die Wahrheit sagen, daß das Aufdecken nicht mehr rentabler Arbeitsplätze und nicht mehr funktionierender Betriebe sein muß und daß das ein schmerzhafter Prozeß ist. ({11}) - Ich weiß nicht, wenn das Ihr Niveau ist! Der evangelische Theologe Professor Helmut Thielicke hat einmal gesagt: Um ein Haus zutreffend zu beschreiben, darf man sich nicht ununterbrochen im Keller aufhalten. - Ich möchte Sie auffordern: Kommen Sie die Treppe hoch, gucken Sie einmal in die Werkstatt! Sie funktioniert in großen Teilen schon. Wir sind dabei, dieses Teildeutschland einzurichten. ({12}) - So ist es. - Mit Defätismus und mit Ihrer unentwegten Schwarzmalerei, meine lieben Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie den Menschen die Hoffnung und damit den Anreiz zum Einsatz und zur Leistung. Unser Handeln setzt konsequent auf die Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufschwungs und deshalb auf die Förderung und auf den Ausbau mittelständischer Strukturen in den neuen Ländern. Das belegt eindrucksvoll dieser Haushalt im Einzelplan 09, meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich erspare es Ihnen, daß ich jetzt alles vortrage, was an Segensreichem darin enthalten ist; denn das ist nachlesbar. Ich habe mich ja verführen lassen, mehr mit Ihnen zu diskutieren. Ich bin der Meinung, daß die erfolgreiche Politik der Bundesregierung Hilfen erst möglich gemacht hat. Wir werden die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in den alten Ländern erhalten, und wir schaffen die Voraussetzungen für den Aufbau einer leistungsfähigen Wirtschaft in den neuen Ländern. Die ordnungspolitischen Grundlagen und das Geld der vielfältigen Förderungsmaßnahmen stehen zur Verfügung. Um daraus einen dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung zu machen, brauchen wir jetzt Mutmacher statt Miesmacher, Handwerker statt Mundwerker. ({13}) Wenn die SPD schon keine hilfreichen Konzepte hat, dann sollte sie wenigstens aufhören, dem Sanitätstrupp in Sachen wirtschaftlicher Aufschwung fortwährend Knüppel zwischen die Beine zu werfen. ({14}) Ich bedanke mich, auch für Ihre lebhafte Kommentierung meiner Ausführungen. ({15})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 09, Geschäfsbereich des Bundesministers für Wirtschaft, in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Meine Damen und Herren, der Einzelplan 09 ist mit großer Mehrheit angenommen. Ich rufe auf: Einzelplan 16 Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - Drucksachen 12/516, 12/530 Berichterstatter: Abgeordnete Hans Georg Wagner Michael von Schmude Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Hans Georg Wagner.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich ist es sehr schade, daß die -

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, Herr Abgeordneter! - Ich hätte wohl der Form halber vorhin noch sagen müssen: „Ich eröffne die Aussprache." Das ist hiermit geschehen.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wiederhole das auch gern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eigentlich schade, daß wir den Haushalt des Bundesumweltministers nicht gestern diskutiert haben. Gestern war nämlich der Tag der Umwelt. ({0}) Es hätte sich angeboten, eine Bilanz dessen zu ziehen, was Herr Töpfer in dem vergangenen Jahr bis zu diesem „Tag der Umwelt" alles versprochen, angekündigt und zugesagt hat, und dies dem Haushaltsentwurf 1991 gegenüberzustellen. Dann hätte sich sehr schnell ergeben, daß kein anderer Einzelplan hin2138 sichtlich des Anspruchs und der Wirklichkeit so weit auseinanderklafft. ({1}) Die Tatsache, daß dieser Haushalt nur einen Gesamtanteil von 0,33 % am Gesamtbundeshaushalt darstellt und dies auch in den nächsten Jahren weiterhin so sein wird, bedeutet für mich dreierlei, erstens, daß Herr Kohl seinerzeit dieses Ministerium ausschließlich aus Reklamegründen geschaffen hat, um der aufgeschreckten Bevölkerung nach Tschernobyl entsprechend entgegenzukommen, ({2}) aber keine Substanz dazugegeben hat, um aus dem Ministerium das eine oder andere zu machen. Der zweite Punkt ist, daß man in Europa nach den Abwesenheitslisten des Herrn Töpfer hier und seinen Reisen in alle Welt mittlerweile zur Kenntnis genommen hat, daß wir ein Umweltministerium haben. ({3}) Der dritte Punkt ist, daß das Festhalten an den alten Ressortzuständigkeiten ihn gar nicht in die Lage versetzt, das umzusetzen, was er verkünden darf, weil die anderen Damen und Herren auf dem Geld sitzen und es nicht herauslassen. ({4}) Es ist schon schlimm, daß Herr Minister Töpfer ständig ankündigen darf. Für konkrete Ausführungen ist er leider nicht zuständig. Jüngstes Beispiel ist die von Herrn Blüm vorgelegte Asbestverordnung. Es gibt eine ganze Serie von Dingen, die andere Minister machen dürfen. Aber der inhaltlich eigentlich zuständige Umweltminister darf dies nicht. Er ist also, Herr Kollege, auf die Funktion eines reinen Ankündigungsministers reduziert. Vor einiger Zeit hat eine Zeitung ein sehr schönes Bild veröffentlicht, wo Herr Töpfer vor Litfaßsäulen steht und selbst beklagt - das wird ihm so in den Mund gelegt - : Viel zu wenig Klebeflächen und Litfaßsäulen - das ist mein Problem bei den Ankündigungen. So ist es in der Tat. ({5}) Weil auch die Koalition dies erkannt hat, hat sie unseren Antrag abgelehnt, der eine Reduzierung der Mittel für Öffentlichkeitsarbeit des Bundesumweltministers vorgesehen hat; denn in der Öffentlichkeitsarbeit ist eine Aktion, eine Großflächenplakataktion, geplant. Nun könnte ich als saarländischer Sozialdemokrat natürlich sagen: Meine Damen und Herren, warum nicht? Ich habe im Saarland ja zwei Großflächenaktionen des Herrn Töpfer erlebt. Nach jeder Aktion hatte die CDU 5 % weniger und die SPD 5 mehr. Wenn das bundesweit zu verteilen wäre, wäre das eine auch von uns durchaus akzeptierte Öffentlichkeitsarbeit. ({6}) Meine Damen und Herren, es drängt sich der Eindruck auf, Herr Kollege Töpfer, daß Sie so wie Figaro aus „Figaros Hochzeit" herumtanzen. Da heißt es ja: Töpfer hier, Töpfer da, oben, unten, hinten und vorne, überall in der Welt. Nur dort, wo er gebraucht wird, nämlich hier zur Lösung der Probleme, ist er meistens nicht. ({7}) Sie fuhren in die Golfregion. Er ist zurückgekommen und hat festgestellt: Da brennen die Ölfelder, was wir aus dem Fernsehen längst wußten. Aber er mußte sich vor Ort überzeugen. Nur, er war nicht in Kuwait, sondern in einem Nachbarland. Genau dasselbe ist in Brasilia geschehen. Was das Schönste ist: Jetzt, Herr Minister, waren Sie in Moskau und haben dort, wie ich gestern gelesen habe, die Sicherheitsbedenken der Franzosen und der deutschen Regierung gegenüber den Kernreaktoren der Sowjetunion dargestellt. ({8}) Herr Kollege Töpfer, dies ist lobenswert; denn wir wissen ja alle, daß Tschernobyl immerhin in der Sowjetunion liegt. Aber Sie hätten genauso gut einmal Ihren französischen Kollegen darauf ansprechen können, wie die Sicherheitsrisiken bei den Kernreaktoren in Frankreich, etwa von Cattenom vor unserer Haustüre, sind, Herr Minister. ({9}) Dieser Tage war zu lesen, daß auch der Super-Phénix sicherheitsgefährdet ist. Diese Anlage liegt westlich von uns. Bei Westwind ist der Betrieb mindestens genauso gefährlich wie Reaktoren in der Sowjetunion. Ich habe gelesen, daß Sie wohl gestern erklärt haben, daß Sie, was ja auch nicht verwerflich ist, in Bitterfeld gewesen sind. Heute hat hier ein Kollege schon einmal gesagt, der Bundeskanzler und der Außenminister hätten sich in Bitterfeld ziemlich aus dem Fenster gehängt, was eigentlich gesundheitsschädlich ist. Aber auch Sie waren gestern in Bitterfeld und haben dort wieder Versprechungen gemacht, ohne einmal eine einzige konkrete Zahl zu nennen, wie Sie den Menschen in dieser Region tatsächlich helfen wollen. Das Ankündigen und Versprechen haben sie völlig satt, Herr Minister Töpfer. ({10}) Sie haben den Leuten so viel Hoffnung gemacht. Am 20. Februar 1991 wurde berichtet: Töpfer legt ein Umweltprogramm für Ostdeutschland vor, 17 Milliarden aus Förder- und Kreditmitteln. Wenn man sich den Haushalt ansieht, dann stellt man fest, daß das genau 400 Millionen DM im Jahre 1991 und 400 Millionen DM im Jahre 1992 sind. Jetzt frage ich Sie, Herr Minister Töpfer: Wie kommen Sie eigentlich zu diesen horrenden, sicherlich begrüßenswerten Summen, wenn davon nirgendwo im Bundeshaushalt etwas wiederzufinden ist, zunächst einmal was die Größenordnung angeht. Deshalb sage ich: Sie sind auch in dieser Frage nichts anderes als ein reiner Ankündigungsminister. Ich habe oftmals den Eindruck, Herr Kollege Töpfer, daß Sie mittlerweile gemerkt haben, daß die Koalition Sie, was Kompetenzzuordnung anHans Georg Wagner geht, einfach hängen läßt. Wie anders sollte ich mir die mutige Kritik an der verfehlten Strategie der CDU erklären, die Sie neulich im Saarland geübt haben? Sie haben gesagt, es müsse eine neue Strategie zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der Christlich Demokratischen Union gefunden werden. Das kann ja nur aus einer Frustration Ihrer Person entstanden sein. Wenn sich ein Minister getraut - ich sage das einmal echt saarländisch - , eine Äußerung dieser Art zu machen, seinem Kabinettschef ins Gesicht zu sagen, daß die Strategie falsch ist, ist das schon Mut zum Risiko, zumindest in diesem Bereich. Meine Damen und Herren, was die Energiepolitik und den Anteil für die Umwelt angeht, habe ich ja eben schon einmal einen Punkt genannt, nämlich die Sicherheit der Kernkraftwerke in Frankreich. Aber auch ein anderer Aspekt ist zu bedenken. - Herr Minister Töpfer, Sie haben von der CO2-Abgabe gesprochen. Sie ist noch nicht sichtbar, aber schon des öfteren verteilt worden. Die Frage ist: Warum sind Sie nicht in der Lage, einmal konkret die Kosten der Kernenergie pro Kilowattstunde auszurechnen, die Kosten der Entsorgung, die Kosten der Entwicklung auf den Grundpreis der Kernenergie drauf zurechnen, um so einmal einen echten Vergleichspreis zur Steinkohle zu bekommen? ({11}) Sie wissen ja, daß jeder kleine Grubenschaden auf den Kohlepreis draufgerechnet wird. Ich frage Sie: Wo werden denn die Ölschäden an der Cote d'Azur, im Mittelmeer oder in Kuwait oder sonstwo in der Welt auf den Mineralölpreis draufgerechnet, um so auch einmal Wettbewerbsgleichheit herzustellen? ({12}) Dann, meine Damen und Herren, sieht unsere Kohle gar nicht so schlecht aus, wie das hier diskutiert wird. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß es modernste Kraftwerke auf der Basis der Kraft-Wärme-Kopplung geben kann, mit großen Umweltschutzmaßnahmen, bei denen die CO2-Belastung wesentlich geringer ist. Von Ihnen, Herr Minister, habe ich bisher nichts zum Mineralöl gehört, obwohl Mineralöl an der CO2Produktion mit fast 50 % beteiligt ist. Das ist sehr hoch. Aber dabei redet niemand darüber, echte Kosten zu ermitteln und auch dort einmal zu einer Reduzierung zu kommen, wie wir Sozialdemokraten das schon seit Jahren fordern. Sie - nicht Sie, Herr Minister - haben ja eine Mineralölsteuer eingeführt, allerdings mit der falschen Richtung. Wir Sozialdemokraten wollen auch eine stärkere Belastung der Energie und des Mineralöls, aber mit dem Ziel, damit Umweltschutzinvestitionen zu finanzieren, ({13}) und nicht mit dem Ziel, den Haushalt zu konsolidieren, wie Sie sich das vorgenommen haben. Sie, Herr Minister, haben neulich in einer Fernsehsendung gesagt: Es gibt kein „Weiter so" in der Kernenergie. - Trotzdem ist auch von Ihnen in der Diskussion genannt worden, daß man Greifswald und Stendal über neue Reaktoren wieder aufbereiten solle. Ich meine, als jemand, der sich der deutschen Steinkohle ja zumindest ein bißchen verbunden fühlen müßte, aus bestimmten Gründen heraus, müßten Sie sich doch stärker gegen den weiteren Ausbau der Kernenergie wenden und sich für umweltfreundliche Steinkohlekraftwerke, aber vor allem für erneuerbare Energien und für Energieeinsparung einsetzen. Mich bekümmert, daß es Ihnen nicht gelungen ist, Ihren Kollegen Riesenhuber etwa davon zu überzeugen, daß man die Forschungsmittel für erneuerbare Energien einmal kräftig anheben sollte, ({14}) damit dabei auch wirklich etwas herauskommt. Für erneuerbare Energien ist im Haushalt von Herrn Riesenhuber die Summe von 288 Millionen DM vorgesehen. Für Kernenergie sind aber 1,3 Milliarden DM vorgesehen. Wie will dann die FDP - Herr Möllemann hat das eben vertreten - oder wie wollen andere von Ihnen glaubwürdig darstellen, daß Sie wirklich den Ausstieg aus der Kernenergie wollen, daß Sie umweltverträgliche Energien einsetzen wollen, wenn diese Summen nicht umgetauscht werden und wenn erneuerbare Energien nicht stärker gefördert werden als die Kernenergie? ({15}) Allein in Ihrem Haushalt, Herr Minister Töpfer, stehen 500 Millionen DM für diese Zwecke zur Verfügung, davon aber wiederum 395 Millionen DM für die Endlagerung radioaktiver Abfälle. Also auch dort nichts, was erneuerbare Energien angeht, was den Ausbau von Fernwärmeversorgungssystemen angeht, was Energieeinsparungsmaßnahmen angeht und und und. Alles das ist nicht zu finden. Sie begnügen sich mit dem, was man Ihnen als Zubrot im Bundeshaushalt zuordnet. Dabei ist es, was die Kernenergie angeht, noch viel dramatischer, als das allgemein dargestellt wird. Sie wissen genausogut wie ich, daß nach einer Auskunft des Bundesamts für Strahlenschutz bis zum Jahre 2000 170 000 m3 Atommüll bei uns lagern, 170 000 m3 verstrahltes Material, wobei es weltweit noch nicht ein einziges als unbedenklich geltendes Endlager für diese Dinge gibt. Da kann man doch nicht auch nur gedanklich für den weiteren Ausbau sein! ({16}) Man muß vielmehr versuchen, sofort dieses Spiel zu beenden, so schnell wie möglich die Energieversorgung der Bevölkerung aus alternativen Energiearten sicherzustellen. Ich frage Sie allen Ernstes: Wo bleibt Ihre ethische Verantwortung auch für künftige Generationen? Es darf doch nicht so sein, daß man den künftigen Generationen nur ein strahlendes Gefahrenpotential hinterläßt, sondern man muß auch für die künftigen Generationen heute Verantwortung tragen. Alles andere wäre verantwortungslos. Die Organisation des Umweltschutzes bedarf meiner Ansicht nach einer Konzentration in einem Ressort, wenn das wirkungsvoll als Querschnittsaufgabe betrieben werden soll. Die Zersplitterung der Kompetenzen ist eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit. Man tut so, als würde die ganze Bundesregierung an nichts anderes denken als an die Umwelt, weil jeder Minister ein bißchen damit zu tun hat. Aber die Konzentration und der wirkungsvolle Einsatz der Mittel ist dadurch nicht zu erreichen. Der Philosoph Hans Jonas hat uns alle ermahnt, Bewußtsein für die Welt, in der wir leben, zu entwikkeln. Das Prinzip Verantwortung gilt für die Wirtschaft, für Produzenten, für Konsumenten und für die Politiker. Über zwei Jahrhunderte sind die Menschen mit der Erde umgegangen, als gäbe es tausend Ersatzerden irgenwo zu kaufen. Wir brauchen den Frieden mit der Natur jetzt. Sonst beginnt die Natur, uns den Frieden aufzukündigen. Sie hat damit schon begonnen, wenn ich verschiedene Katastrophen in den letzten Jahren richtig einzuordnen versuche. Der Haushalt des Bundesumweltminister bietet keine Lösungsansätze für das Meistern der ökologischen Herausforderungen in allen deutschen Bundesländern, auch in den neuen. Es nützt nichts, nur Ankündigungen zu machen, sondern man muß auch versuchen, in konkrete Politik hineinzugehen; denn ökologische Politik bedeutet umwelterhaltende ordnungspolitische Regelungen und Gesetze sowie marktkonforme Energiepreise unter Einrechnung der realen Umweltkosten des Energieverbrauchs. Die Situation in den neuen Bundesländern ist äußerst betrüblich; Sie haben sich gestern in einem bestimmten Gebiet selber davon überzeugen können. Durch Altlasten und durch andauernde Umweltzerstörungen sind viele Gebiete als Ansiedlungsstandorte wenig attraktiv geworden und bedürfen der Sanierung. Das geht nicht von alleine. Wie einer Meldung von heute zu entnehmen ist, kommt neu hinzu, daß jetzt auch zwei sehr große radioaktiv verseuchte Seen entdeckt worden sind, die natürlich neue Probleme aufwerfen werden, auch bei der Finanzierung. Es wird dort von etwa 17 Milliarden für die Sanierung gesprochen. Wer auch für die neuen Bundesländer etwas tun will, der muß für eine schnelle und effektive Sanierung der Umwelt und durch eine umweltverträgliche und leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur für attraktive Standortbedingungen sorgen. Das zentrale Element vorsorgender Umweltpolitik ist die ökologische Erweiterung des Steuer- und Abgabesystems; ich habe das eben am Beispiel der Mineralölsteuer schon einmal verdeutlicht. Ich meine, daß der Energieverbrauch ein Umsteuern der Energiepolitik erfordert. Sie sind dazu nicht in der Lage und wohl auch nicht bereit. Überfällig ist ein Programm zur Sanierung grenzüberschreitender Flüsse zur Rettung von Nord- und Ostsee. Ich erinnere mich daran, mit welcher Verve und mit welchem großen Engagement sich der Umweltminister hinstellte, als die Nordsee verschmutzt war, und sagte, jetzt müsse sofort ein Nordsee-Programm her, und all diese Dinge. Wir haben das in Anträgen im Fachausschuß zusammengefaßt, und die Koalition hat Ihnen, Herr Minister, das verweigert, was Sie eigentlich gewollt und öffentlich verkündet haben. ({17}) - Das ist in der Tat so. Ich denke, an das Programm zur Sanierung grenzüberschreitender Flüsse und zur Rettung von Nord- und Ostsee haben Sie alles, was Töpfer verkündet hat, abgeblockt. Es ist nun einmal so; die Drucksachen liegen vor. Ein wesentlicher Teil der Verschmutzung von Nord-und Ostsee kommt bekanntlich über die Flüsse. Deshalb wäre es schon notwendig, daß der Bau von Kläranlagen vorangetrieben würde. Aber auch da Fehlanzeige im Bundeshaushalt. ({18}) Ich will jetzt nicht mehr über kleinräumige, auf das Land bezogene Projekte diskutieren und auch nicht mehr auf die von der internationalen Kommission zwischen Frankreich und Deutschland vereinbarte Sanierung der Saar und der Mosel in Höhe von 50 Millionen DM eingehen. Denn das könnte so gedeutet werden, als wenn ich Sie als Neu-Saarländer in einer bestimmten Art und Weise ansprechen wollte. Das will ich nicht tun. Ich weiß, Sie haben sich mit dem Programm ohnehin nicht durchgesetzt, und will Ihre Schmerzen in diesem Bereich nicht noch verstärken. Die Bundesregierung hat viele internationale Zusagen in vielen Konferenzen gegeben und sie bisher nicht realisiert. Ich wäre sehr dankbar, wenn auch die Koalition sich entschließen könnte, beim Haushalt 1992 Anspruch und Wirklichkeit etwas einander anzunähern. Dann könnten wir alle, glaube ich, mit dem saarländischen Bergmannsgruß sagen: Glückauf für die Natur. ({19})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Michael von Schmude.

Michael Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe von dem Kollegen Wagner eigentlich erwartet, daß er sich mit dem Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sachlich auseinandersetzt ({0}) und nicht den untauglichen Versuch unternimmt, mit einem Rundumschlag ins Leere über all das hinwegzugehen, was im Haushaltsausschuß bei den Beratungen zwischen den Berichterstattern völlig unstrittig war. ({1}) Im Haushaltsausschuß haben die Sozialdemokraten drei Anträge - ganze drei Anträge! - zum Umwelthaushalt gestellt; das war es dann auch schon. ({2}) - Aber natürlich. Die Begleitmusik sieht ein bißchen anders aus. Das ist auch kein Wunder; denn unsere Umweltpolitik, meine Damen und Herren, in den alten Bundesländern war erfolgreich und beispielhaft. ({3}) Jetzt stehen wir vor der Frage: Wie werden wir den völlig neuen Herausforderungen der Umweltpolitik in den neuen Bundesländern gerecht? Es erweist sich als nützlich, daß wir uns bereits seit Jahren um Gemeinschaftsprojekte mit der früheren DDR bemüht haben. ({4}) Die Bestandsaufnahme der Umweltsituation in den neuen Bundesländern setzte bereits vor Verwirklichung der deutschen Einheit ein. Das Ergebnis dieser Inventur zeigt uns, mit welchen Dimensionen wir es bei dieser Hinterlassenschaft zu tun haben. ({5}) Dennoch, sage ich, sind Panikmache oder hektischer Aktionismus nicht die richtigen Rezepte, und auch der von Herrn Engholm vielgepriesene Reiz der Langsamkeit wäre hier fehl am Platze. ({6}) Die Folgen des verantwortungslosen Umgangs mit der Natur lassen sich nicht von heute auf morgen beseitigen. ({7}) Um so wichtiger ist jetzt die von Bundesumweltminister Klaus Töpfer vorgelegte Konzeption einer nationalen Solidaritätsaktion ökologischer Aufbau. Wir wollen das Ziel, die Verwirklichung der Umwelteinheit, schnellstmöglich, aber in realistischen Teilschritten erreichen. Dringender Handlungsbedarf ergibt sich bei folgenden Maßnahmen: Sanierung von 196 der insgesamt 12 250 bisher festgestellten Altlastflächen, Untersuchung der Verdachtsflächen aus dem militärischen Bereich der NVA und der Sowjettruppen, im Elbeeinzugsgebiet Bau bzw. Sanierung von 35 kommunalen und 24 industriellen Kläranlagen, im Ostseebereich und im Einzugsbereich von Oder und Neiße Bau von 27 Kläranlagen, Neubau von 6 200 km und Sanierung von weiteren 5 000 km Hauptsammler, Altanlagensanierung bei 278 bisher erfaßten Großfeuerungsanlagen und Sanierung von 6 735 luftverunreinigenden Anlagen entsprechend der TA Luft. Dies alles, meine Damen und Herren, kann nicht sofort in Ordnung gebracht werden. ({8}) Wir haben Konzepte erarbeitet und angefangen zu handeln. ({9}) Auf der Grundlage der von mir erwähnten Bestandsaufnahme hat der Bundesumweltminister bereits 1990 500 Millionen DM für über 600 Sofortmaßnahmen in den neuen Ländern bereitgestellt und auch ausgezahlt. Damit wurden unmittelbare Gefahren für die Gesundheit der Bevölkerung, vor allem bei der Trinkwasserversorgung, abgewendet. Diese Hilfe hat darüber hinaus etwa 50 000 Arbeitsplätze abgesichert bzw. neu geschaffen. ({10}) Eine entscheidende Voraussetzung für die Verwirklichung unserer umweltpolitischen Vorhaben ist deren Finanzierung. Herr Kollege Wagner, man macht es sich zu einfach, wenn man hier nur die nackte Zahl des Umwelthaushalts nimmt und ins Verhältnis zum Gesamtetat des Bundes setzt. ({11}) Allein die direkt dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt zugeordneten Haushaltsmittel wachsen in eine Größenordnung von 1,7 Milliarden DM auf; darin enthalten ist auch das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost. Noch 1990 betrug der Etat 1,078 Milliarden DM. Der Anstieg beträgt 56 %. Ganz besonders hervorzuheben ist der Anstieg der Mittel für den Umweltschutz in den übrigen Ressorts. Den Kommunen steht für Umweltinfrastrukturmaßnahmen ein großes Kreditprogramm zur Verfügung, insgesamt 22 Milliarden DM. Die Gemeinschaftsaufgabe einschließlich der EG-Strukturmittel bringt noch einmal 4 Milliarden DM, und aus der Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz kommen noch einmal 800 Millionen DM dazu. Kurzfristig gilt es Umweltschutzsofortmaßnahmen in den Bereichen Trinkwasserversorgung, Abwasserentsorgung, Luftreinhaltung und Abfallbeseitigung zu finanzieren. In großer Einmütigkeit hat der Haushaltsausschuß über den Regierungsentwurf hinaus durch Einsparung an anderer Stelle weitere 12 Millionen DM für das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost bereitgestellt, so daß der Bundesumweltminister nun über insgesamt 412 Millionen DM aus diesem Programm 1991 verfügen kann. Wir alle wissen aus der Erfahrung der letzten Monate, daß es mit der Bereitstellung von Geld allein nicht getan ist. Was nützt uns Termingeld auf Konten, meine Damen und Herren! Jetzt gilt es, die Umsetzung dieser Finanzmittel voranzutreiben. Gerade auch im Umweltbereich kommt es darauf an, schnellstmöglich planerische Voraussetzungen zu schaffen und personelle Hilfestellung zu gewährleisten. Dabei müssen wir auch die Kapazitäten in der Wirtschaft realistisch einschätzen. Dem zügigen Mittelabfluß kommt nämlich auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen eine große Bedeutung zu. Hier ist es vor allem die von der Bundesregierung beschlossene Förderung der Umweltschutzsofortmaßnahmen, von der eine belebende Wirkung auf den gewerblichen Mittelstand ausgeht, der sich im Osten Deutschlands neu gebildet hat. Die langfristige Finanzierung von Sanierungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern wird durch die Einführung einer Abgabe auf Abfälle, wie sie von der Bundesregierung jetzt vorgesehen ist, mitgetragen; das gleiche gilt für den Einsatz des Aufkommens aus der CO2-Abgabe. Hier dürften insgesamt etwa 10 Milliarden DM Finanzmittel jährlich zur Verfügung stehen. Darüber hinaus kommt es darauf an, daß auch in Zukunft privates Kapital für den Umweltschutz mobilisiert wird. ({12}) Daß dies möglich ist, wissen wir inzwischen. So sind allein durch die TA Luft Investitionen in einer Größenordnung von 35 Milliarden DM veranlaßt worden. ({13}) Der SPD-Kollege Schäfer hatte in diesem Zusammenhang Anfang April angekündigt, daß die Sozialdemokraten bei den Haushaltsberatungen beantragen wollten, zusätzliche Mittel für die Umweltsanierung in Höhe von 5 Milliarden DM zur Verfügung zu stellen. ({14}) - Herr Kollege Schäfer, im Haushaltsausschuß ist ein solcher Antrag nicht gestellt worden. ({15}) Offensichtlich hat auch die SPD inzwischen erkannt, daß für neue Ausgabenwünsche nicht nur Deckungsmöglichkeiten erforderlich sind, sondern daß Haushaltspläne zur Makulatur werden, wenn die Finanzmittel in der Praxis gar nicht umgesetzt werden können. ({16}) Es ist nämlich absolut unmöglich, alle Altlastenflächen sofort zu sanieren. Notwendig ist, daß die Untersuchungen eingeleitet werden, daß dann eine Prioritätenfolge bestimmt wird und daß bestimmte Flächen vorläufig gesichert werden. Das ist unser Konzept. Das Verursacherprinzip, meine Damen und Herren, wird auch weiterhin Richtschnur unseres umweltpolitischen Handelns bleiben müssen. Für die Altlasten in den neuen Bundesländern hilft uns dieser Grundsatz in der Praxis allerdings wenig. Ein schlimmes Beispiel dafür ist die umweltpolitische Konkursmasse der Wismut AG; die Sowjets haben uns dies hinterlassen. Hier - wie in vielen anderen Fällen - ist der Staat gefordert, weil weder die noch existierenden Betriebe noch gar neue Erwerber oder Kaufinteressenten bereit sind, derartige Lasten zu tragen. Bezüglich der Altlastenbeseitigung auf sowjetischem Militärgelände hat der Bundesumweltminister interessante Vorschläge für eine bessere Zusammenarbeit mit den sowjetischen Stellen unterbreitet. ({17}) In der Tat, eine enge Zusammenarbeit ist dringend vonnöten. Es muß unter allen Umständen vermieden werden, daß beim Truppenabzug nicht mehr benötigte Materialien sozusagen in der freien Natur entsorgt werden. Mit welcher Mentalität man an diese Dinge herangeht, wird schon erkennbar, wenn man die ersten von den Sowjets geräumten Kasernen sieht. ({18}) Hier ist zwar fast alles besenrein übergeben worden. Aber dafür ist auch alles, bis zum letzten Wasserhahn, bis zum letzten Klosettbecken, demontiert und ausgeschlachtet worden. ({19}) Effektiver Umweltschutz, meine Damen und Herren, läßt sich nur verwirklichen, wenn auch in der Bevölkerung ein breites Umweltbewußtsein vorhanden ist. Angesichts dieser Binsenwahrheit bleibt es völlig unverständlich, Herr Kollege Wagner, daß die SPD auch in diesem Jahr Mittelkürzung im Bereich der Aufklärung auf dem Gebiet des Umweltschutzes fordert. ({20}) 1989 hatten wir in diesem Haushaltstitel 16,8 Millionen DM. Im Wahljahr 1990 fuhr die Bundesregierung den Titel auf 11,9 Millionen DM herunter. Dafür hätten Sie sich bei der Bundesregierung eigentlich bedanken müssen, daß im Wahljahr ein solcher Rückgang zu verzeichnen war. 1991 gehen wir nun auf 19 Millionen DM, weil wir vor allen Dingen 3,1 Millionen DM für die neuen Bundesländer zur Verfügung stellen müssen. Dieses Geld ist angesichts des dringenden Informationsbedürfnisses in den neuen Ländern besonders gut angelegt. Insgesamt entfallen 42,5 % des Umwelthaushaltes auf die neuen Bundesländer. Ich möchte zwei Maßnahmen hervorheben. Auf der kurz vor Rügen gelegenen Insel Vilm soll eine internationale Naturschutzakademie eingerichtet werden. Dieses 100 ha große Kleinod unter den Naturschutzgebieten wurde in der DDR vom Staatsratsvorsitzenden Honecker für private Urlaubszwecke mißbraucht und für Außenstehende hermetisch abgeriegelt. Wir machen jetzt aus dieser ehemaligen Bonzeninsel ein vorbildliches Naturschutzgebiet. ({21}) Meine Damen und Herren, diese Rückwandlung dient auch der politischen Hygiene, meine ich. Ein weiterer wichtiger Aufgabenbereich umfaßt den Gewässerschutz. Wir begrüßen die Bereitschaft des Bundesministers für Umwelt, nach erfolgreichem Abschluß von MARPOL, dem Demonstrationsvorhaben der Schiffsentsorgung in den alten Bundesländern, nun auch Mecklenburg-Vorpommern zu helfen, um Entsorgungsinfrastrukturen aufzubauen. Hilfen für laufende Kosten, wie sie die SPD fordert, wünscht weder das Land Mecklenburg noch können wir es vertreten; denn die Zuständigkeiten des Bundes für laufende Kosten sind hier überhaupt nicht gegeben. Mehr als die Hälfte der Verschmutzung von Nord- und Ostsee wird durch die Schadstoffzufuhr der Flüsse verursacht. Deswegen nehmen wir uns dieses Gebietes besonders an. Ich erwähne hier vor allem auch die Elbe-Sanierung. Die Elbe ist der schmutzigste Fluß in Deutschland und gehört auch zu den schmutzigsten Flüssen in Europa. Die Forderung des saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine, in diesem Zusammenhang nun auch noch gleich Bundesmittel für die Saar-MoselSanierung bereitzustellen, so wie Sie sie wiederholen, Herr Kollege Wagner, entlarvt den Trittbrettfahrer. Das sind absolut unerwünschte Nebeneffekte. Die Abwasserbeseitigung fällt grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich der Länder.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege von Schmude, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege von Schmude, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß dies ein gemeinsamer Antrag der ehemaligen CDU/FDP-Regierung aus Rheinland-Pfalz und des Saarlandes im Bundesrat war und dort die einstimmige Zustimmung des Bundesrates gefunden hat und daß dies auf dem Beschluß einer internationalen Kommission beruht, wonach diese Mittel zur Verfügung zu stellen sind.

Michael Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Bundesregierung hat hier eine klare Kompetenz, und diese haben wir abzugrenzen. Ich sage noch einmal, Herr Kollege Wagner, die Abwasserbeseitigung fällt ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich der Länder. Wenn wir den neuen Bundesländern in dem Bereich der Elbe-Sanierung und auch im Bereich der Werra-Entsalzung helfen, so tun wir das aus der Gesamtverantwortung für den Wiederaufbau des Umweltschutzes in den neuen Bundesländern. Hier heißt es für die alten Bundesländer zu verzichten, um zu teilen. ({0}) Allein das Saarland, meine Damen und Herren, erhält jährlich 112 Millionen DM aus der Strukturhilfe, die auch für diese Zwecke verwendet werden könnte. Wenn man aber im Saarland andere Prioritäten setzt, dann darf man natürlich die Verantwortung für unterlassene Dinge nicht auf den Bund abwälzen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Bewältigung der gesamtdeutschen Zukunftsaufgabe Umweltschutz kommt es entscheidend darauf an, daß unsere Soziale Marktwirtschaft nach 9jähriger beispielloser Aufwärtsentwicklung auch in Zukunft erfolgreich bleibt. Wir von der Union stimmen dem Haushalt des Bundesumweltministers gerne zu. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete Jutta Braband, Sie haben das Wort.

Jutta Braband (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000239, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser Haushaltsdebatte wird eindringlich klargemacht, wie die politischen Auseinandersetzungen der letzten Monate, insbesondere über Fragen von Abrüstung und Frieden, Fragen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Kahlschlags im Osten dieses Landes und des Umweltschutzes in der gesamten Bundesrepublik, eben nicht in einer anderen Verteilung des Haushalts, in einer grundsätzlich anderen Herangehensweise ihren Ausdruck finden. Nicht nur von mir, sondern auch von vielen anderen Kolleginnen und Kollegen der gesamten Opposition wurde mehrmals darauf hingewiesen, daß es ({0}) - hören Sie doch mal zu - , wenn diese unsere Welt erhalten bleiben soll, nötig ist, von der bisher staatlich sanktionierten Wegwerf- und Verschwendungssucht radikal abzurücken und gemeinsam nach anderen Wegen zu suchen. Daß diese Bundesregierung daran nicht interessiert ist, belegt dieser Haushalt genau. Statt Arbeit wird Arbeitslosigkeit finanziert, statt Abrüstung werden der Golfkrieg und der Aufbau der Bundeswehr im Anschlußgebiet finanziert. ({1}) Statt Müll zu vermeiden, wird die Müllflut des Westens in den Osten exportiert. ({2}) Statt das Sero-Altstoffsammelsystem zu subventionieren, werden Müllverbrennungsanlagen installiert. Ich könnte diese Liste endlos fortsetzen, aber ich möchte an Hand des Haushaltsplans des Bundesministers für Umwelt noch auf einige besonders eklatante Verletzungen hinweisen. Bei näherem Hinsehen wird offensichtlich, daß viele der beim BMU eingestellten Titel eigentlich in den Bereich Forschung und Technologie gehören, besonders im Bereich Strahlenschutz und Reaktorsicherheit. Von den 181,9 Millionen DM für Forschungsmittel im Umweltministerium sind allein 78,1 Millionen DM für Untersuchungen im Bereich Strahlenschutz und Reaktorsicherheit vorgesehen. ({3}) Die Intention der Bundesregierung ist verständlich: Einerseits wird der Haushalt des Bundesministers für Forschung und Technologie entlastet, andererseits wird der Eindruck erweckt, in diesem Jahr würden besonders viele Mittel für den Umweltschutz zur Verfügung gestellt. ({4}) Ich berücksichtige dabei sehr wohl, daß Atomgesetz und Strahlenschutzverordnung dem BMU Aufgaben zum Schutz der Menschen vor radioaktiver Strahlung zuschreiben. Dies begründet jedoch nicht den erheblichen Umfang der vorgesehenen Mittel für diesen Bereich und schon gar nicht die Zielrichtung. Wer in solchem Maße Mittel für die Atomtechnologie zur Verfügung stellt, setzt sich weder mit seinem eigenen Sicherheitsmärchen auseinander, noch stellt er sich der Tatsache, daß 70 % der Menschen in diesem Land Atomkraftwerke nicht mehr wollen. Wenn schon Forschungsmittel beim BMU angesiedelt werden, dann mehr Mittel für die Erforschung und Entwicklung der regenerativen Energie und deren Anwendung. ({5}) Bei der wichtigen Frage der Entsorgung müssen weit mehr als bisher die Großverdiener am Atomstrom zur Kasse gebeten werden, um auch hier Haushaltsmittel für zukunftsweisende Projekte im Energiebereich freizumachen, statt neue Atomkraftwerke in Stendal und Greifswald zu bauen. Für technische Hilfe zur Feststellung der Strahlenbelastung im Raum Tschernobyl sollen 1,7 Millionen DM bereitgestellt werden. Wir haben hier mehrmals gehört, was für katastrophale Zustände dort herrschen und wie viele Menschen dort immer noch sterben oder leiden. Angesichts der vom BUND nur für die Sanierung der unmittelbar betroffenen Region veranschlagten mindestens 30 Milliarden DM nehmen sich die 7,1 Millionen DM geradezu lächerlich aus. Nun zu dem zweiten und genauso leidigen Thema, das ebenso wie die Probleme mit der Atomenergie hausgemacht und nicht objektiv notwendig ist. Eine wirklich ernst gemeinte ökologische Abfallpolitik muß - ich sagte es schon an anderer Stelle - bei der Produktion von Abfall ansetzen und darf sich keinesfalls auf Nachsorgepolitik und moralische Appelle beschränken. Dies gilt für den Westen genauso wie für den Osten. Die DDR war ganz sicher kein ökologisches Musterländle. ({6}) Aber den bestehenden Altlasten - hören Sie gut zu - , deren Sanierung schwer genug ist, neue, durch die westliche Produktionsweise mit ihrer Wegwerfmentalität hervorgerufene, hinzuzufügen, ist einfach absurd. Das werden Sie doch einsehen. Das Pro-Kopf-Aufkommen von Hausmüll - dies nur als Beispiel - lag 1988 in der DDR noch bei 180 kg im Jahr. Heute dürfte es sich dem Aufkommen von 370 kg im Westen angenähert haben. Das ist genau die doppelte Menge. ({7}) Das Sero-Sammelsystem, durch das 1988 noch 1,9 Millionen t Altstoffe pro Jahr erfaßt und zum Teil der Wiederverwertung zugeführt wurden, ist zusammengebrochen. Nach Ansicht der Bundesregierung ist es unter marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht funktionsfähig. Was unter marktwirtschaftlicher Eigenverantwortung herauskommt, zeigen aber die riesigen neuen Müllhalden in der Landschaft der früheren DDR. Diese Müllhalden werden mit sehr viel Steuergeldern saniert werden müssen. Sehr viel billiger wäre es gewesen, das Sero-System weiterhin finanziell zu unterstützen und schrittweise in ein modernes Recyclingsystem auf kommunaler Ebene und in kommunaler Hand umzubauen, was nebenbei viele Arbeitsplätze sichern könnte. ({8}) Alles in allem sind wir der Auffassung, daß die hier genannten Bereiche nicht einfach nur zu kurz gekommen sind, sondern es sich hier um eine grundsätzlich andere Prioritätensetzung handelt. Die PDS/Linke Liste lehnt mit diesem Haushaltsentwurf auch diese Politik ab. Ich danke Ihnen. ({9})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat Frau Abgeordnete Ina Albowitz. ({0})

Ina Albowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000022, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich werde mich bemühen, das auch heute zu tun, Herr Kollege Schäfer. Ich hoffe, Ihren Anforderungen gerecht zu werden. Wir werden es ja sehen, wenn die Zeit um ist. ({0}) - Der Kollege Wagner war in den letzten Wochen gar nicht schlecht; aber heute hat er mich enttäuscht. In einem hatte der Kollege Wagner freilich recht. Das muß ich zu Anfang sagen. Auch ich hätte den Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit lieber gestern verabschiedet, weil damit sicher ein Stück seines Stellenwerts dokumentiert worden wäre. Dies kann man ja als Tip an den Ältestenrat für den Fall geben, daß wieder einmal eine besondere Situation entsteht. ({1}) - Doch. Das ist mir aber erst später aufgefallen, Herr Schäfer. Auch Sie haben ja nicht alles im Blick. ({2}) - Ich sage ja: Als Anregung. ({3}) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine wichtige Aufgabe des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegt eindeutig in der Bewältigung der Herausforderungen, die durch die deutsche Einheit auftreten. Die Schwerpunkte des Haushalts entsprechend zu setzen ist dringend notwendig. Wir dürfen nicht der Gefahr erliegen,. auf Grund der unmittelbar spürbaren Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Einigungsprozeß andere Probleme zu vernachlässigen. Die ökologische Sanierung der ehemaligen DDR ist sogar Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung. Dies hat das Aktionsprogramm „Ökologischer Aufbau" der Koalitionsfraktionen deutlich gemacht. Ob es darum geht, daß viele Flächen wegen der Bodenvergiftungen für Industrieansiedlungen nicht zur Verfügung stehen, oder ob dringend benötigte Arbeitskräfte nicht zuletzt wegen der schlechten Umweltsituation den Zug in Richtung Westen besteigen - wenn ich die Zeitungen von gestern und heute richtig werte, liegen neue Zahlen vor - , immer treffen die Wirkungen den wirtschaftlichen Aufholprozeß der neuen Länder unmittelbar. Damit diese Verbesserungen so schnell wie möglich erfolgen, enthält das Gemeinschaftswerk „Aufschwung Ost" zahlreiche Umweltschutzsofortmaßnahmen. Diese verringern nicht nur die schlimmen akuten Gefährdungen der Gesundheit der Menschen, vor allem der Kinder, sondern schaffen gleichzeitig schnelle und sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten. ({4}) Neben den 412 Millionen DM für das Umweltschutzsofortprogramm aus dem Gemeinschaftswerk stehen für 1991 u. a. zusätzliche Mittel aus verschiedenen Kreditprogrammen, die wir aufgelegt haben, für Umweltschutzinvestitionen zur Verfügung. Aus diesen Krediten können hauptsächlich Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsanlagen gefördert und kann die Finanzierung von zwingenden Deponiesicherungsmaßnahmen und Projekten zum Schutz vor gesundheitsgefährdenden Industrieanlagen sichergestellt werden. Vorrang haben für uns dabei kommunale Vorhaben mit hoher Beschäftigungswirkung. Doch nicht nur diese Sonderprogramme zeigen, daß der Schwerpunkt der Umweltschutzaufgaben in den neuen Bundesländern liegt. Von den rund 1,7 Milliarden DM des Umwelthaushaltes kommen 42,5 % den Umweltschutzaufgaben in den neuen Bundesländern zugute. So gibt es z. B. beim Naturschutz einen deutlichen Ausgabenzuwachs zugunsten des Beitrittsgebietes. Der Umfang der Fördermittel für die Naturschutzgroßprojekte steigt von 25 Millionen auf 35 Millionen DM. Besonders hervorheben möchte ich hierbei, daß auf der Insel Vilm vor Rügen eine internationale Naturschutzakademie aufgebaut wird. Der Haushaltsausschuß hat hierfür für das Jahr 1991 insgesamt 2,7 Millionen DM und 35 Stellen bewilligt. ({5}) - Ich sage noch etwas dazu. Das Beste kommt noch: Ich war nämlich schon da. Dadurch werden die Einrichtungen auf der Insel, die der früheren SED-Regierung als Ferienanlage diente und jahrzehntelang streng abgeschottet war, einer sinnvollen Nutzung zugeführt. Ich konnte mich vor wenigen Tagen selber vor Ort davon überzeugen, daß hier ein guter Weg beschritten wird, Herr Minister, der den Naturschutzbelangen voll Rechnung trägt. Über das Konzept, das Sie, denke ich, vorlegen wollen, werden wir noch intensiv zu diskutieren haben. Um eine Sofortmaßnahme bitte ich Sie dringend, nämlich die Sanierung der Kläranlage umgehend in Angriff zu nehmen. Ich denke, die Bundesrepublik kann es sich nicht leisten, Mittel für eine solche Naturschutzakademie in ihren Haushalt einzustellen, während gleichzeitig ungeklärte Abwässer in die Ostsee eingeleitet werden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir das sofort realisieren könnten. ({6}) Ich habe natürlich eine interessante persönliche Frage. Ich würde schon gerne wissen, ob auch Herr Gysi damals zu den Bevorzugten gehört hat. ({7}) - Herr Modrow mit Sicherheit. Aber so schön waren die Häuser auch wieder nicht. ({8}) - Herr Keller, Sie waren da, nicht wahr? Zu Ihrem Ressort gehörte das. ({9}) - Ja; doch. Ich war da. Aber ich gehörte nicht dem SED-Ministerrat an. ({10}) - Jetzt ist es genug.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, fahren Sie fort.

Ina Albowitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000022, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Einen deutlichen Zuwachs gibt es auch bei den Umweltforschungsmitteln. Sie steigen um 13 Millionen DM auf 93,6 Millionen DM. Das ist ein Zuwachs um gut 16 % . Diese Mittel sind vorrangig dazu bestimmt, Wege zur Lösung der großen Umweltprobleme in den neuen Ländern aufzuzeigen. Hier muß der Staat vorangehen. Es kann aber nicht die Aufgabe des Staates sein, auch alle zur ökologischen Sanierung erforderlichen Mittel aufzubringen. Dies würde die öffentlichen Haushalte völlig überfordern. Allein der Bau von Kläranlagen in den neuen Ländern kostet nach ersten Schätzungen rund 50 Milliarden DM, wenn wir in den neuen Ländern bei der Abwasserklärung denselben Standard wie in den alten Ländern erreichen wollen. Die Kosten für die aufwendige Sanierung der Kanali2146 sation, die noch weit höher liegen werden, sind bei den 50 Milliarden DM nicht einmal eingerechnet. Um ähnlich hohe Kosten geht es bei der Abfallentsorgung im Beitrittsgebiet. Ca. 50 Deponien sind erforderlich, davon etwa 10 für Sonderabfälle. Jede dieser Deponien kostet wiederum nach vorläufigen Schätzungen etwa 150 Millionen DM. Das ergibt eine Finanzbedarf von weiteren rund 60 Milliarden DM allein für den Bau von Deponien in den neuen Bundesländern. Bei der Finanzierung dieser Aufgaben müssen wir im Osten den gleichen Weg wie in den westlichen Ländern gehen. Wir haben die Kohlekraftwerke entschwefelt und die Stickstoffemissionen erheblich reduziert. Das hat rund 28 Milliarden DM gekostet. Die öffentliche Hand hat dazu keinen Pfennig beigetragen. Diese Ausgaben wurden über höhere Strompreise refinanziert, also von den Bürgern getragen. ({0}) Auch beim Bau von Kläranlagen oder Deponien in den neuen Ländern muß die Finanzierung im Grundsatz über die Gebühren erfolgen, die jeder Bürger nach dem Ausmaß seiner Nutzung zu zahlen hat. Dabei sollten Finanzierungsmodelle den Vorrang haben, bei denen die Anlagen in den ersten Jahren zins- und tilgungsfrei bleiben. Die zins- und tilgungsfreien Jahre können später bei steigendem Einkommen der Bevölkerung mit höheren Abwasser- oder Müllabfuhrgebühren aufgefangen werden. Ähnliches haben wir hier schon praktiziert. Wir dürfen uns auch nicht scheuen, im Umweltschutz neue Wege zu gehen. Denn bei den ständig steigenden Herausforderungen, die auf uns zukommen, sind keine alten Rezepte gefragt, sondern laufend neue Ideen. Wer hätte sich vor Jahren denken können, daß die Entsorgung von Computerschrott einmal ein Problem werden könnte? Heute, wo die erste Generation der Home-Computer langsam ausrangiert wird, entstehen immer mehr Unternehmen, die solchen Schrott wiederverwerten und entsorgen. Im Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Abfallpolitik ist die Rücknahme und Entsorgung von Elektronikschrott durch den Verkäufer vorgesehen. Dieser Produktbereich wird bestimmt nicht der letzte bleiben, auf den die Kehrtwende in der Abfallpolitik in Richtung Abfallvermeidung und Abfallverwertung ausgedehnt werden muß. Wir müssen ständig neu reagieren und neu mehr daran arbeiten. Flexibel reagieren müssen wir auch bei den unzähligen internationalen Herausforderungen im Umweltschutzbereich. Dieses Reagieren wird leichter, wenn man mit den anderen Nationen in ständigem Kontakt steht - insoweit ist Reisen wichtig für den Umweltminister, Herr Wagner - , wenn es um die Probleme der Sauberhaltung von Flüssen, den Schutz der Ozonschicht oder anderes geht. Die Bundesrepublik beteiligt sich inzwischen finanziell und personell an zehn solcher internationaler Sekretariate oder Arbeitsgemeinschaften. Ich muß noch einen Punkt behandeln, bei dem bei den Haushaltsberatungen kein Konsens mit der Opposition bestand. Ich vermute, daran hat sich nichts geändert. Herr Wagner hat das schon klargemacht. Deutliche Meinungsunterschiede gab es bei den Haushaltsansätzen für die kerntechnische Sicherheit, Strahlenschutz und Entsorgung. Ihre Bedenken gehen dahin, Herr Kollege - wenn ich Sie richtig verstanden habe; und ich glaube, das habe ich -, daß durch diese Ausgaben eine Entscheidung für den Ausstieg aus der Kernenergie immer schwieriger wird. Doch ich will an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, daß diese Ausgaben notwendig sind, unabhängig davon, wie man zur friedlichen Nutzung der Kernenergie steht. Der Kenntnisstand des Umweltministeriums, Kolleginnen und Kollegen, darf bezüglich der kerntechnischen Sicherheit nicht hinter dem der beaufsichtigenden Landesbehörden und Betreiber zurückbleiben. ({1}) Sonst sind sachgerechte Entscheidungen des Bundes in Zukunft unmöglich. Deshalb sind auch weiterhin entsprechende Haushaltsansätze in diesem Bereich notwendig. ({2}) Der Forschungsschwerpunkt beim Strahlenschutz gilt den Folgen des Uranerzbergbaus in Sachsen und Thüringen sowie der Frage, ob Radon in Wohnhäusern auftritt. Diese Forschungen kann doch niemand ernstlich zurückschrauben wollen. Damit würde man dem Bürger nur schaden. Ein weiterer Ausgabepunkt aus den betreffenden Haushaltstiteln: Das Umweltministerium führt Strahlenschutzmeßaktionen als humanitäre Hilfe in der Sowjetunion durch. Insgesamt 100 000 Menschen werden untersucht. Es soll herausgefunden werden, wieweit auch diese Menschen noch an den Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor fünf Jahren leiden. Lassen Sie mich zum Abschluß alle - ich habe das schon bei der Einbringung des Haushalts gesagt -, die die Höhe des Umwelthaushaltes von der Größe der Ausgaben her als nicht angemessen bezeichnen, noch einmal daran erinnern, daß der Bund in den meisten Bereichen des Umweltschutzes nur Gesetzgebungskompetenzen hat. Die Ausgaben für den Vollzug der Gesetze schlagen sich daher in den Haushalten der Länder und der Gemeinden nieder. Zudem gilt gerade für den Haushalt des Bundesumweltministers vorrangig das Verursacherprinzip. Die Kosten der vorsorgenden Vermeidung von Umweltbelastungen und der Beseitigung von Umweltschäden sind Grundsätzlich von den dafür Verantwortlichen zu tragen ({3}) und dürfen in Zukunft weniger denn je der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Die FDP-Fraktion stimmt dem Haushalt des Bundesumweltministers zu. ({4}) - Zu, Herr Schäfer! Ich danke Ihnen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Klaus-Dieter Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte jetzt nicht über die Insel Vilm reden. Ich finde das Projekt ganz gut. Aber ich weiß auch, daß es besorgte Bürger gibt, die Angst haben, daß es vielleicht doch wieder ein Objekt für einige wenige bleibt. Die Insellage ist da. Wir werden das sehr aufmerksam kontrollieren und beobachten. ({0}) - Alles klar! Wunderbar! Vorhin ist in der Diskussion gesagt worden, daß es jetzt für alle da ist und nicht mehr, wie früher, für Privilegierte. Wir wollen das natürlich in irgendeiner Form konsequent durchbringen. Aber ich wollte gar nicht über Vilm sprechen, sondern ganz allgemein über den Haushalt. Das ist das Risiko, wenn man ein Thema aufgreift, das andere nur anreißen. Die Umweltpolitik der Regierung orientiert sich nach meiner Meinung immer noch an den Erkenntnissen der 70er Jahre. Nachsorgende Reparaturanweisungen, deren Vollzug immer komplizierter wird und deren Grenznutzen zweifelhaft ist, charakterisieren das blinde Herumtapsen in den Umweltangelegenheiten. Aber selbst beim nachsorgenden Umweltschutz bleibt das Umweltministerium halbherzig und inkonsequent. Das geht mittlerweile so weit, daß in Sachen Verpackungsverordnung ausgerechnet das Land Bayern eine Position eingenommen hat, die weiter geht als die des Bundesumweltministers. Spätestens seit wir Gewißheit über die drohende Klimaveränderung haben, müßte doch allenthalben klar geworden sein - Herr Kollege Schmidbauer kann da sicher mit seinen Erfahrungen aus der Enquete-Kommission Nachhilfe erteilen - , daß der nachsorgende Umweltschutz an seine Grenzen gestoßen ist. Wer vor diesem Hintergrund immer noch glaubt, es genüge, als Klempner durch die Lande zu ziehen, ist nicht auf der Höhe der Zeit. Ein Umweltminister, der von CO2-Reduzierung spricht, aber Wirtschafts-, Energie- und Verkehrspolitik nicht entscheidend umgestaltet oder beeinflußt, wird bestenfalls als großer Zampano in die Geschichte eingehen. Dabei haben wir mit der deutschen Einigung eine großartige Chance erhalten. Mitten in Europa existiert eine Region, die in vielen Bereichen völlig neu aufgebaut werden kann und muß. Dieser Neuaufbau betrifft vor allem die CO2 verursachenden Wirtschaftszweige, nämlich den Energie- und den Verkehrssektor. Ich spreche hier bewußt von einem Neuaufbau, nicht von einer Ausstattung der neuen Länder mit rückständigen Technologien, mögen sie auch, gemessen an der alten DDR, modern erscheinen. Manchmal könnte man meinen, die Regierung hätte davon etwas begriffen. Da spricht also Herr Staatssekretär Stroetmann bei einer Anhörung des BMU Mitte Mai davon, daß die Chancen für eine nachhaltige Verbesserung der Energieversorgung in den neuen Ländern nicht vorschnell aus der Hand gelegt werden sollen. Die Bundesregierung möchte deshalb, daß bei neuen Kraftwerken die derzeit effizientesten Verfahren angewandt werden, und will dafür die Technik der Blockheizkraftwerke nutzen. Die Kraft-Wärme-Koppelung soll auf breiter Front zur Anwendung kommen. Ist dieselbe Bundesregierung, die durch den Stromvertrag mit den EVUs zentralistische und ineffiziente Strukturen festgeschrieben und die die ostdeutschen Kommunen ein zweites Mal enteignet hat, jetzt auf einem Wendekurs? Man verzeihe mir, wenn ich den Einfluß des Umweltministeriums doch als so gering einschätzen muß, daß außer heißer Luft unerfüllter Absichtserklärungen nichts übrig bleiben wird, ({1}) um so mehr, da Staatssekretär Stroetmann weiter verkündet, daß die Modernisierung und der Ausbau des Schienenverkehrs sowie des öffentlichen Personennahverkehrs die energetisch effizienteste und umweltverträglichste Alternative zum Individualverkehr seien. Dazu kommen wir ja nachher noch. Das alles ist ja richtig. Aber warum weiß dann der Bundesverkehrsminister nichts davon? Auch zur Energie haben Sie, Herr Stroetmann, nichts Neues zu vermelden. Beim alten Grundsatz der Energiewirtschaft soll, wie schon seit langem über grundlegende Veränderungen nachgedacht werden. Einem Beschleunigungsgesetz für diesen Denkprozeß könnte ich begeistert zustimmen. ({2}) Vielleicht setzen Sie sich einfach einmal mit den Anträgen der GRÜNEN zum Thema Energie aus der 11. Wahlperiode auseinander. Ich glaube, einige tun das sowieso schon heimlich. Das merkt man immer wieder. Dort können Sie nämlich nachlesen, wie eine moderne Energieversorgung ohne Atomkraft mit einer erheblichen CO2-Minderung aussehen kann und wie man dahin kommt. Das vereinte Deutschland hat die Chance, einen neuen Geist in der Politik zu praktizieren, der die Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts aufnimmt. Wir könnten eine Politik praktizieren, die die Ökologie und vernetztes Denken zur Richtschnur ihres Handelns macht. Die Angleichung der Lebensverhältnisse durch bloßes Kopieren der alten Bundesrepublik in den neuen Ländern dagegen ist ein Schritt in die Vergangenheit. Ich glaube, darin stimmen wir überein. Mit einem klaren und modernen Konzept der Wirtschaftsentwicklung könnten die ostdeutschen Länder zum Zugpferd beim Übergang Deutschlands ins 21. Jahrhundert werden. High-Tech-Industrie und hochqualifizierte Fachleute im Dienstleistungssektor, eine saubere Umwelt mit großem Kultur- und Freizeitangebot, das ist die Alternative zur rückwärtsgewandten Politik der Bundesregierung, die die neuen Länder letztlich zum Armenhaus des geeinten Deutschlands degradiert. ({3}) Die Sprachlosigkeit des Bundesumweltministers ({4}) - er kann dann ja etwas sagen - bezüglich der Wirtschaftskonferenz des Kanzlers am Dienstag zeigt, wie wenig diese Regierung den Zusammenhang zwischen Umwelt- und Wirtschaftspolitik begriffen hat. Die Unternehmensberatung McKinsey, sicher nicht grün unterwandert, hat kürzlich, ganz im Einklang mit unserer Position, betont, daß bei der Neugestaltung der Infrastruktur in den neuen Ländern ein innovativer Sprung in die nächste Generation erforderlich ist. Die sind nicht grün, auch nicht hinter den Ohren. McKinsey erklärt weiter: Dazu bedürfe es des Ausbaus der Telekommunikation, der Schaffung integrierter Straßen- und Schienensysteme im Fernverkehr und kundenfreundlicher Systeme des öffentlichen Personennahverkehrs. Bei den Energieproblemen könne die Chance der Stunde Null zum Aufbau kleiner dezentraler Einheiten genutzt werden. Wenn Sie sich dazu durchringen, diesen zukunftsweisenden Weg einzuschlagen, können Sie unserer Unterstützung gewiß sein. Aber die vielen Presseerklärungen des Bundesumweltministers geben wenig Anlaß zur Hoffnung auf die notwendige politische Weichenstellung in dieser Richtung. Solange das Umweltministerium den Anschein erweckt, es verfüge über Milliardenbeträge aus dem Programm Aufschwung Ost, am Ende aber gerade eine dreistellige Millionensumme herauskommt, betreiben Sie Falschspielerei auf Kosten der Zukunft, ({5}) ganz besonders auf Kosten der Menschen in den neuen Ländern. Da tut sich ein weiterer Widerspruch auf: Einerseits werden also die Geldmittel aufgewandt. Es kommt Geld, um die riesigen durch die Raubbaupolitik in der ehemaligen DDR verursachten Schäden zu beseitigen. Das erkenne ich an. Auf der anderen Seite hat schon im Sommer 1990 ein skandalöser Ausverkauf der verbliebenen Naturschätze begonnen. Es ist nicht alles nur schlecht, was dort in den fünf neuen Ländern ist. Es gibt insbesondere im Norden, in Mecklenburg, in Vorpommern und in Brandenburg, wahnsinnig schöne Gebiete; Sie werden sie selber schon gesehen haben. ({6}) - Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich gerade das schöne Thüringen vergessen habe. Es gibt dort also wunderbare Gebiete. ({7}) Das, was mangels effektiver Technik im Osten, insbesondere in den genannten nördlichen Ländern, an naturnahen Wäldern und Mooren, Seen oder Flüssen mit einer zum Teil für Europa einzigartigen Flora und Fauna erhalten geblieben ist, ist ernsthaft bedroht. Das, was im Westen längst als Frevel gilt, feiert angesichts falsch verstandenen Selbstverwaltungsbestrebens im Osten wahre Orgien. Die letzten Hochmoore werden mit westeuropäischer Effizienz in Wochen beseitigt. Früher waren dafür mangels moderner Technik Jahre notwendig. In der DDR erworbene Abbaukonzessionen für Hochmoore sind bleibendes Recht. Vielerorts versuchen rührige Bürgermeister, die eigenen Naturreichtümer zu vermarkten. Ich habe das selber an Kranichbrutplätzen gesehen. Aus Sorge vor unstillbarer Sammelleidenschaft müssen Adlerhorste rund um die Uhr bewacht werden. ({8}) - Wir haben halt einige mehr. Das liegt daran, daß es Leute gibt, die auch schon vor der Wende darum gekämpft haben. Das möchten wir nicht verlieren. Doch was sind derartige Attacken gegen die Natur im Vergleich zu den Großaktionen, die unter der Tarnbezeichnung „Maßnahmegesetz" professionell in Angriff genommen werden? In diesem Sinn ist das Jahr 1 nach der Wende im Hinblick auf den Verlust von Naturreichtümern zum 41. Jahr der DDR geworden. Ich denke z. B. an die geplante Autobahn von Lübeck nach Sczecin. ({9}) - Stettin. Ich bitte um Entschuldigung, daß ich die altertümliche ostdeutsche Bezeichnung verwendet habe. Ich weiß nicht, wie man in Sczecin zur Zeit sagt. ({10}) Nehmen wir doch nur einmal die Trasse. Sie werden feststellen, daß es auf dieser Trasse Gebiete gibt, wo kein Durchschlupf ist und wo Sie in erheblichem Maß Naturschutzgebiete oder ähnliches zerstören müssen. Das ist für mich sehr deprimierend. Auch für das ehemalige Ökosystem Elbauen ist mit dem Projekt einer Kanalisierung - damit meine ich nicht die Reinigung des schmutzigen Wassers der Elbe - meines Erachtens das Todesurteil gesprochen. Diese Kanalisierung betrifft aber auch Elbauen auf niedersächsischem Gebiet. Bislang gab es in Ostdeutschland keine Nationalparks. Die noch auf Anregung von Professor Succow begonnenen Projekte sind jetzt das Ziel der Pläne von Autobahnbauern und sollen sogar Truppenübungsplätze oder Schießplätze der Bundeswehr beinhalten oder beinhalten sie bereits. Selbst Europas bedeutendster Kranichrastplatz bei Rügen ist dadurch bedroht. Wann also, Herr Bundesminister, werden Sie als oberster Naturschützer dieses Landes Ihr Veto gegen derartige Pläne von Naturvernichtung einlegen? ({11}) Gut, Sie werden sagen, daß Naturschutz im wesentlichen Sache der Länder ist. Auch wenn mancher sagt, Mecklenburg brauche kein Geld, frage ich: Wie sollen sich die noch nicht hinreichend wettbewerbsfähigen Länder wie Mecklenburg und Vorpommern angesichts der schier unüberwindbaren und sich weiter verschärfenden sozialen und ökonomischen Situationen im Osten diesen Naturschutz leisten können? Bei allem Bedürfnis nach föderalen Strukturen auch in der ehemaligen DDR bedürfte es hier, Herr Töpfer, Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit und Ihres „persönlichen" Schutzes. Ich habe aber den Eindruck, daß das Urteil über das Sein oder Nichtsein von Naturschutzgebieten nicht mehr von Ihrem Ministerium beeinflußt werden kann. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, verstehen Sie die in Ostdeutschland verbliebenen Naturschönheiten und -kostbarkeiten auch als ein von allen Naturfreunden im Osten schon lange verteidigtes Geschenk an Deutschland, das nun auch unserer gemeinsamen Obhut bedarf. ({12}) Um die Euphorie zu stoppen: Leider ist im Haushalt des Bundesumweltministers davon nichts zu erkennen. Wir lehnen ihn deshalb als selber sanierungsbedürftig ab. Danke. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herrn Dr. Klaus Töpfer. ({0})

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Bereich der Umweltschutzpolitik sollte man wie in kaum einem anderen Politikbereich auch in diesem Hohen Hause darauf achten, die Polemik zurückzulassen. So werde ich mich auch ungeachtet der Rede des Kollegen Wagner heute bemühen, eher nach Gemeinsamkeiten als nach einer derartig grundlosen Polemik zu fragen. Auch das möchte ich ganz deutlich sagen. ({0}) Vielleicht wird Herr Kollege Wagner bis zu den nächsten Haushaltsberatungen merken, daß hier nicht der Saarländische Landtag, sondern der Deutsche Bundestag ist; das mag durchaus sein. ({1}) Wir sind sicherlich gerne bereit, uns an jeder Stelle über saarländische Probleme zu unterhalten, aber hier geht es im Augenblick darum, daß wir für das geeinte Deutschland einen umweltpolitischen Neuansatz finden müssen, und darüber wollte ich heute vor dem Hintergrund dieses Haushalts auch hier sprechen. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wagner?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Aber sehr gerne.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn der saarländische Landtag so uninteressant war, Herr Minister: Warum wollten Sie seinerzeit dann mit Gewalt hinein? ({0})

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Abgeordneter Wagner, ich frage Sie doch auch nicht, warum Sie mit aller Macht daraus weggegangen sind. ({0}) Es geht also an allererster Stelle um den ökologischen Aufbau. Dieser ökologische Aufbau ist eine Solidaritätsaktion, die wir nun wirklich gemeinsam mit Kommunen, mit Ländern und hier auf der Bundesebene in Angriff nehmen müssen, der Menschen wegen, denn die Menschen in den neuen Bundesländern haben mit ihrer Gesundheit den Raubbau in der ehemaligen SED-regierten DDR bezahlt, und auch der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder wegen; beides gehört zusammen. Dabei sind zwei Hauptrichtungen ganz sicher jetzt schon deutlich. Auf der einen Seite ist es ganz unstrittig, daß sich die ökologische Situation, daß sich die Umweltbelastung in den fünf neuen Bundesländern nachhaltig verbessert hat. Etwas anderes wäre auch ganz überraschend, denn das, was wir auf der wirtschaftlichen Seite beklagen, ist natürlich ein Positivum auf der ökologischen Sèite. Was ist in der Wirtschaftsstruktur der ehemaligen DDR denn weggefallen? Weggefallen sind die in ganz besonderer Weise ökologisch belastenden Betriebe, weggefallen ist Espenhain, weggefallen sind die Karbidöfen von Buna, weggefallen sind die entsprechenden Anlagen in Bitterfeld und Leuna, weggefallen sind die entsprechenden Öfen und Anlagen in Mansfeld. Das heißt, es ist das weggefallen, was eine unglaubliche ökologische Schweinerei gewesen ist und was die menschliche Gesundheit in Frage gestellt hat. ({1}) Meine Damen und Herren, auch ich hätte mir gewünscht, diesen Haushalt gestern zu diskutieren. Aber ich muß Ihnen auch sagen: Es wäre gut gewesen, wenn der eine oder andere gestern am Tag der Umwelt mit auf dem Marktplatz in Bitterfeld gewesen wäre. ({2}) - Ich habe mich dahin auch eingeladen, es kann sich jeder miteinladen. Auf diesem Marktplatz ist einer zu mir gekommen und hat gesagt: Ich wohne in einem kleinen Dorf auf der anderen Seite von Bitterfeld, und ich habe in diesem Jahr zum erstenmal wieder den Petersberg gesehen. - Es ist nicht der Petersberg bei Bonn gemeint; jeder, der aus der ehemaligen DDR kommt, weiß was der Petersberg ist. Es ist die höchste Erhebung auf diesem Breitengrad bis hin zum Ural, nur wenige Meter hoch. Er hat gesagt: Zum erstenmal war nicht mehr diese Dunstglocke über Bitterfeld. Ich habe war den Arbeitsplatz verloren, aber es war richtig, daß ihr dies hier zugemacht habt, denn das war der Gesundheit der Menschen nicht mehr zumutbar. ({3}) Wir haben Wismut zugemacht. Ich halte es für unerträglich, die Ausgaben, die wir dafür aufbringen müssen, um die Strahlenschäden, die die Wismut hinterlassen hat, hier als eine Sicherung der Atompolitik und der Atomlobby vorgehalten zu bekommen. ({4}) - Die Dame von der PDS hat mir das vorhin gerade gesagt. ({5}) - Herr Abgeordneter Schäfer, nicht alles, was ich sage, ist für Sie bestimmt, sondern manchmal auch für jemand anderen. ({6}) Deswegen, meine Damen und Herren, will ich mich damit nicht zufrieden geben. Ich sage dazu: Bei diesen Erfolgen des Umweltschutzes darf es nicht bleiben. Diese Entwicklung muß zur Schaffung sicherer Arbeitsplätze führen. Aber man muß schon festhalten können, woraus denn diese unglaublichen Belastungen, über die wir zu diskutieren haben, resultieren. Als nächstes müssen wir dann natürlch eine entsprechende Umwelt-Infrastruktur aufbauen. Das ist wahr. Die Zahlen sind jedem bekannt. In den alten Bundesländern werden die Abwässer zu etwa 90 biologisch bzw. voll biologisch geklärt. Der Kollege Wagner sagt uns später, wie hoch der Anteil im Saarland ist. ({7}) - Jetzt sagt er schon „Saarländer" . Vorhin hat er es noch beim „Neu-Saarländer" belassen. Dies zeigt die Offenheit der SPD im Saarland gegenüber den Menschen, die dorthinkommen und daran mitarbeiten wollen, das Land da herauszubringen. - Aber das ist wieder eine andere Frage. ({8}) Meine Damen und Herren, wir müssen also die Infrastruktur verändern; denn in den neuen Bundesländern wird bisher nur zu 20 % über solche Kläranlagen geklärt. Ich sage dies ganz schlicht: In den wenigen Monaten seit der deutschen Einheit werden in den neuen Bundesländern bereits mehr Kläranlagen gebaut, als in 40 Jahren SED-Regierung insgesamt existiert haben. ({9}) Wenn man mich nun fragt, was ich denn in Bitterfeld gemacht hätte - - Nebenbei: Man hat mir auch gesagt, ich sei ja wohl nicht zum erstenmal dort gewesen. Ich glaube, ich bin bereits zum siebten Mal in Bitterfeld gewesen. Herr Wagner wird mir dies wieder als falsche Reisetätigkeit ankreiden. ({10}) Eine der Reisen, die ich nach Bitterfeld gemacht habe, war notwendig, weil wir dort den ersten Spatenstich für eine Kläranlage gemacht haben, eine Kläranlage, die 250 Millionen DM kostet und die selbstverständlich mit 60 Millionen DM aus meinem Haushalt finanziert wird. Jetzt sollten der Kollege Wagner und auch der etwas unruhig gewordene Kollege Schäfer zuhören: In die Finanzierung einer solchen Kläranlage rechnen wir, wie sich das gehört, das Verursacherprinzip mit ein. Wir gehen davon aus, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kläranlage fertiggestellt ist und Abwasser dort gereinigt werden kann, die Einkommensverhältnisse in den fünf neuen Bundesländern es zulassen, daß Abwassergebühren gezahlt werden. Dies ist nämlich gut und richtig, damit mit dem Wasser sparsam umgegangen wird. Wenn weniger Abwasser anfällt, müssen schließlich auch weniger Gebühren gezahlt werden. ({11}) In diese Kläranlage, Herr Kollege Wagner, sind auch Mittel des kommunalen Kreditprogramms hineingegangen. Auch Mittel aus dem ERP-Programm wurden zur Verfügung gestellt, weil auch die Fabrik ihr Abwasser dorthin leiten wird. Wenn Sie diese Mittel, die alle umweltbezogene Mittel sind, zusammenrechnen, kommen Sie exakt auf 17 Milliarden DM. Deshalb lege ich Wert auf die Feststellung, daß wir nichts ausgeben wollen, was wir nicht haben, sondern daß Sie dies auf die Mark genau nachrechnen können. Dies sind Mittel, die für die Umweltentlastung in den neuen Bundesländern zur Verfügung stehen. ({12}) Meine Damen und Herren, es wäre auch gut, wenn wir alle der Meinung wären, wir sollten zur Schaffung dieser Infrastruktur auch privates Kapital mit heranziehen. Wir sollten alle dieser Meinung sein. Es besteht international ein großes Interesse daran. Unsere Nachbarn in Großbritannien und in Frankreich wenden ohnehin für die Schaffung dieser Infrastruktur - etwa für eine Kläranlage - einen anderen Finanzierungsmechanismus an. Deshalb gibt es dort hocherfahrene Unternehmen, die so etwas machen können. Nebenbei: mit einem Sitz im Saarland. Ich hätte es lieber gesehen, wenn sich der saarländische Wirtschaftsminister darum bemüht hätte, im Saarland einmal ein privates Finanzierungsmodell für eine Kläranlage auszuprobieren. Statt dessen hat er Briefe in die neuen Bundesländer geschrieben, genau dies solle man nicht tun. Umgekehrt wäre es besser gewesen. Dann wäre den Menschen wirklich geholfen worden. Er hätte wirklich anders handeln sollen. Bis zur Stunde ist mir keine einzige Kläranlage bekannt, die mit einem privaten Finanzierungsmodell an der Saar gebaut würde. Es reimt sich wirklich nicht zusammen, meine Damen und Herren, wenn Sie hierher kommen und beklagen, daß wir das Saar-Mosel-Programm nicht finanzieren, zu Hause aber keine Einfälle haben, wie privat verfügbares Kapital genutzt werden könnte. ({13}) Deswegen haben wir noch einen zweiten Punkt, den Sie möglicherweise übersehen haben. Wie ist die Situation? - Wenn ich heute Altlasten sanieren will - das sind meistens belastete Böden - , dann kann ich das sicherlich wohl kaum machen, ohne daß entsprechende Entsorgungsanlagen vorhanden sind. Wir können das nicht mit Hacke, Schaufel oder einem Bagger sanieren. Das geht nicht. Denn das, was dort an belastenden Stoffen - von Kohlenwasserstoffen bis hin zu dem gesamten Zoo der Chemie - vorhanden ist, ist damit nicht saniert. Die erforderlichen Anlagen gibt es aber nicht in den fünf neuen Bundesländern. Es gibt nicht eine Sondermülldeponie, die den Namen verdient. Es gibt nicht eine Untertagedeponie. Es gibt nicht eine Hochtemperaturverbrennungsanlage. Es gibt nicht ein einziges Bodenentsorgungszentrum. Bei dieser Situation kann ich mir an Mitteln in den Haushalt hereinholen, was immer möglich ist. Wir werden nichts anderes machen können, als Sanierungsgesellschaften zu gründen, die gegenwärtig schon viele Arbeitsplätze stellen, aber noch nicht den letzten, ursächlichen Sanierungserfolg haben können. Genau das ist gemacht worden. ({14}) Ich bin gestern nicht nur in Bitterfeld gewesen, sondern bin etwa in das Gebiet - ({15}) - Es war das Siebte. Aber ich freue mich ja, daß der Kollege Waltemathe, der uns ja so lange freundschaftlich verbunden war, so aufmerksam zuhört, daß er das jedes Mal mitzählt. Mehr kann man ja kaum verlangen. ({16}) Ich war gerade bei dem nämlichen siebten Mal nicht nur an dem Chemiestandort und auf dem Marktplatz, sondern wir sind in die Tagebaugebiete der Mibrag, also der Mitteldeutschen Braunkohle-AG, hinausgefahren. Dort gibt es - auch das ist jedem, der sich in den neuen Bundesländern etwas auskennt, bestens bekannt - den alten Tagebau Goitsche, der direkt bis an die Grenze von Bitterfeld reicht. Das ist eine Mondlandschaft, eine reine Katastrophe. Was ist mit dem Kollegen Blüm und Herrn Töpfer zusammen gemacht worden? - Wir haben bei der Mibrag einer Sanierungsgesellschaft mit 2 200 Beschäftigten und einem Sachkostenanteil, der etwa zwischen 200 und 250 % der Lohnkosten liegt, ermöglicht, um aus dieser Mondlandschaft ein neues Naherholungsgebiet mit wunderbarem Wasser und Seenlandschaften zu machen. ({17}) Das ist Umweltsanierung. Davon steht nicht eine Mark in Töpfers Haushalt. Es ist aber eine hervorragende Sache, daß das gemacht wird, weil damit Arbeitsplätze geschaffen werden und weil damit ein neues Image für diese Region begründet wird. Das ist der Punkt. Darum geht es. ({18}) Das gibt es nicht nur bei der Mibrag, das finden Sie bei jedem der großen Chemiekonzerne. Das finden Sie bei Mansfeld, bei der dortigen Kupferhütte; das finden Sie - in etwas veränderter Form - in der Wismut, und das finden Sie bei vielen anderen kleinen Unternehmen. Ich halte das für richtig. Wir müssen möglichst viele der Milliarden für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nutzen, damit Umwelt saniert und neue Chancen, auch für arbeitende Menschen, gehalten werden. Das ist unser Ziel. Ich hoffe, daß wir uns darin einig sind, daß wir das ohne jede Beeinträchtigung zusammen vertreten. Ich möchte hinzufügen, daß wir bei dieser Maßnahme wirklich Erfolg haben müssen. Denn wenn wir das nicht erreichen, wie soll denn jemals eine Möglichkeit bestehen, die Probleme Mittel- und Osteuropas insgesamt zu bewältigen, wenn also wir das mit unserer Kapitalkraft und mit unserer technologischen Qualität nicht schaffen? Wie wollen wir denn wirklich das schmutzige schwarze Dreieck zwischen Polen, der CSFR und Sachsen/Thüringen beseitigen? Wer ist denn einmal im Erzgebirge gewesen und hat gesehen, daß dort nur noch das Forsthaus steht, daß aber der Wald nicht mehr da ist? ({19}) Wer ist denn da gewesen? Wenn wir dabei nicht wirklich vorankommen, werden wir das nie mit einer solch grenzüberschreitenden Möglichkeit nutzen können. Deswegen haben wir die gemeinsame Eib-Kommission eingesetzt. Deswegen sind wir dabei, genau diese Zusammenarbeit weiterzuführen, damit es die Möglichkeit gibt, grenzüberschreitend etwas zu unternehmen. Das Erzgebirge hat es wirklich verdient, daß wir da ein Stück weitergehen können. ({20}) Das ist die Öffnung zum Feld der Umweltaußenpolitik, die wir brauchen. Umweltaußenpolitik ist so unglaublich wichtig, weil sie Friedenssicherungspolitik ist. Was in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vor uns liegt, das ist nicht mehr die ideologische Auseinandersetzung, sondern es wird die Auseinandersetzung um knappe Ressourcen, um knappe Rohstoffe, um knappe Möglichkeiten zur Verschmutzung dieses Planeten Erde sein. Darum wird es gehen. Deswegen müssen wir hier vorankommen. Deswegen müssen wir unsere Aufgaben für die Konferenz in Brasilien vorbereiten. Deswegen bin ich natürlich dankbar dafür, daß wir für diese beiden wichtigen Aufgabenfelder, für die Sanierung und die Entwicklung in den fünf neuen Bundesländern und für die internationalen Aufgaben, bis hinein in die Leitung des Ministeriums gut ausgestattet sind. Es ist hervorragend, daß Herr Schmidbauer und Herr Wieczorek Parlamentarische Staatssekretäre sind. ({21}) Das muß auch einmal gesagt werden, weil permanent der Eindruck entsteht, genau diese Kritik werde hier unwidersprochen aufgenommen. Ich möchte das mit allem Nachdruck gesagt haben. Es ist hervorragend, daß wir die Erfahrung aus der Enquete-Kommission jetzt unmittelbar in der Arbeit dieses Ministeriums nutzen können. Es ist auch hervorragend, daß wir die Erfahrung von Herrn Wieczorek aus Auerbach unmittelbar nutzen können. Ich wollte das nur einmal gesagt haben; denn manchmal lese ich darüber bestimmte Dinge. Deswegen war es eine gute Sache. Meine Damen und Herren, abschließend komme ich, und zwar gerade unter dem Gesichtspunkt der Umweltaußenpolitik, auf die Energiefrage zu sprechen. Eines ist doch völlig klar, das international Entscheidende ist: Wie gehen wir mit moderner Technik um? Was irgendwo auf dieser Erde mit einer modernen Technik wie Kernenergie oder Gentechnik falsch gemacht wird, schlägt nämlich mit Sicherheit auf alle zurück. Deswegen muß ich schon ein Stück mehr fragen als nur: Was machen wir in Greifswald und in Stendal? Ich sage Ihnen ganz deutlich, die Schlagzeile wäre besser gewesen, wenn wir gesagt hätten: Wir schalten das eine oder andere Kernkraftwerk in der Bundesrepublik Deutschland ab. - Wichtiger für die Sicherheit in Europa und weltweit ist es aber, daß wir uns gemeinsam mit Franzosen und anderen darum bemühen, den Sicherheitsstandard der Kernkraftwerke in Mittel- und Osteuropa auch mit unserem Geld zu verbessern. Ich hoffe, daß alle nur so notwendige Reisen machen, wie ich sie gerade jetzt mit meinen Mitarbeitern nach Moskau gemacht habe. Das ist eine ganz zentrale Notwendigkeit. Wenn wir von Energiepolitik sprechen - Herr Kollege Wagner, lassen Sie sich das bitte auch sagen -, dann sollten wir nun wirklich darum ringen, wie wir einen energiepolitischen Konsens bekommen, und nicht darum ringen, wie wir uns das eine oder andere alte Tabu um die Ohren schlagen können, und nicht weiterhin aufeinander losgehen, statt miteinander zu gehen. ({22})) Haben Sie denn noch nicht gemerkt, daß das Motto, das jetzt angesagt ist, Energiekonsens heißt und nicht eine völlig unqualifizierte Streiterei ist? Ist das denn nicht nachvollziehbar, meine Damen und Herren? ({23}) Ich sage Ihnen hier ganz nachhaltig: Energiepolitischer Konsens heißt zunächst einmal zu fragen „Was machen wir denn gemeinsam?" und nicht zu fragen „Was machen wir nicht gemeinsam?". Wir alle sind uns doch wohl einig darüber, daß wir die Energieeffizienz zu erhöhen haben. ({24}) - Herr Kollege Schäfer, ich bleibe dabei, daß ich lieber nach dem Konsens frage. Ich habe auch den Eindruck, daß der eine oder andere, der heute hier schon für Ihre Fraktion gesprochen hat, ebenfalls mehr an den Konsens gedacht hat, als das gerade vorhin hier der Fall gewesen ist. Deshalb habe ich mir erlaubt, darauf noch einmal hinzuweisen. Dieser Konsens ist für mich unumgänglich daran gebunden, daß wir fossile Energieträger effizienter einsetzen, damit wirksamer umgehen. Sie wissen genau, daß diese Bundesregierung den Beschluß gefaßt hat, den Ausstoß von CO2 umd 25 % bis 30 % zu vermindern. ({25}) Sie kennen unser Handlungsprogramm genau. Sie wissen also auch, daß wir das nicht nur bei uns tun, sondern daß das international ist, und zwar bis hin zu der Überzeugung der Franzosen. - Das ist energiepolitischer Konsens. Ich sage es noch einmal: Wir müssen diesen energiepolitischen Konsens europäisch haben. Meine Damen und Herren, wer sich hier hinstellt und die Franzosen völlig undifferenziert dahin gehend anklagt, sie würden nicht verantwortungsbewußt mit Kernenergie umgehen, der wird doch wohl in Europa keinen energiepolitischen Konsens erzielen können. Wie wollen Sie das denn wirklich machen? ({26}) Deswegen sind wir sehr der Überzeugung, daß wir zu diesem energiepolitischen Konsens sehr vieles beitragen können, bis hin zu der Tatsache, daß wir diese Sicherheitsfragen französischer Kernkraftwerke schon längst mit den unseren verbunden, überprüft und kontrolliert haben. Lassen Sie mich ein letztes sagen. Daß wir Konsens suchen, ist nicht Ankündigung, sondern Realität. Ich freue mich darüber, möglicherweise auch der eine oder andere bei Ihnen, daß die Politik im Bereich der Abfälle, die ich vorgeschlagen habe, im Deutschen Bundesrat mit den Stimmen von Nordrhein-Westfalen, des Saarlandes, von Bremen und von Brandenburg akzeptiert worden ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Bundesminister, die vereinbarte Redezeit ist abgelaufen.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Ich möchte das nur ganz deutlich gesagt haben. Ich freue mich darüber, daß dieser Konsens möglich war. Ich werde weiterhin alles tun, um diese Konsensmöglichkeit weiterzuführen: im Bereich der Umweltsanierung im Rahmen der deutschen Einheit, im Rahmen der Energiepolitik, die wir gemeinsam in Europa gestalten müssen, und mit Blick auf alle Folgewirkungen der modernen Industriegesellschaft, die wir zum Wohle einer Zukunft in diesem Lande gemeinsam gestalten sollten. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Abgeordnete Marion Caspers-Merk, Sie haben das Wort.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen, dann kann man sogar eine Haushaltsrede mit diesen Reiseeindrücken bestreiten. ({0}) Wir haben gemerkt, daß hier keine Konzepte in der Umweltpolitik für die Zukunft vorliegen. ({1}) Der zweite Satz zu Ihren Ausführungen. Sie haben sehr viel über die Umweltaußenpolitik gesprochen, offensichtlich weil Sie in der Umweltinnenpolitik so wenig Greifbares vorzuweisen haben. ({2}) Zu der konkreten Haushaltssituation haben Sie relativ wenig Ausführungen gemacht. Ich vermute, weil die Dimension des Umwelthaushaltes von 1,3 Milliarden DM zeigt, was dieser Regierung die Umweltpolitik wirklich wert ist. Da werden gleichzeitig für Wehrforschung und Wehrtechnik gut 2,9 Milliarden DM ausgegeben, und für dringende Maßnahmen im Bereich der Umweltsanierung in den neuen Bundesländern fehlt angeblich das Geld. Was hier fehlt, Herr Minister, ist die Durchsetzungskraft, den vielen Ankündigungen endlich auch Taten folgen zu lassen. ({3}) Was hier fehlt, ist ein Konzept aus einem Guß für die Umweltpolitik der 90er Jahre. Was hier fehlt, ist der Wille zur Wende in der Umweltpolitik. ({4}) Sehen wir uns die Umweltsituation an, wie sie wirklich ist. Leider, so ist zu konstatieren, haben wir uns bei den Umweltmedien Luft, Boden und Wasser an Katastrophenmeldungen mittlerweile gewöhnt. Es ist nicht ersichtlich, wie die Bundesregierung die notwendige Umkehr erreichen will. Ankündigungen, gepaart mit Untätigkeit - das ist Ihre Umweltpolitik. Im Naturschutzbereich fehlt nach wie vor das schon lange angekündigte Naturschutzgesetz. Aus Angst vor der Landwirtschaftslobby und mangelnder Durchsetzungskraft gegenüber dem Finanzminister wird dieses Vorhaben ständig auf die lange Bank geschoben. ({5}) Sie, Herr Minister, werden nicht als Retter bedrohter Arten in die Annalen eingehen. Oder hat man von Ihnen den vehementen Protest vernommen, als im Einigungsvertrag festgelegt wurde, daß in den neuen Bundesländern Autobahnen auch in Naturschutzgebieten gebaut werden dürfen? ({6}) - Dann kennen Sie den Einigungsvertrag nicht. ({7}) Im Bereich des Grund- und Trinkwassers hat sich die Belastung mit Nitraten, Pestiziden und anderen chemischen Stoffen dramatisch zugespitzt. Auf die Belastung des Trinkwassers in den neuen Bundesländern wurde elegant durch die vorläufige Außerkraftsetzung der bestehenden Trinkwasserverordnung reagiert. Im Verkehrsbereich steht uns der Verkehrskollaps des motorisierten Indidvidualverkehrs unmittelbar bevor. Sie, Herr Minister, nutzen die Erhöhung der Mineralölsteuer nicht zu Lenkungszwecken, um auch andere Verkehrsmittel zu fördern, sondern lassen zu, daß sie als reines Mittel der Haushaltssanierung eingesetzt wird. Die Luftqualität insgesamt hat sich nicht zuletzt durch die Zunahme des Individualverkehrs verschlechtert. ({8}) Gerade in den Sommermonaten können wir einen Ozonteppich über Europa beobachten. Ozonalarm in vielen Städten und die Empfehlung an die betroffenen Eltern, ihre Kinder zu Hause zu halten, sind kein Konzept gegen den Sommersmog. Sie, Herr Minister, legen halbherzige Konzepte zur Sperrung der Innenstädte vor, ohne eine aktive Verkehrsvermeidungspolitik zu unterstützen. ({9}) In der Schweiz gibt es schon lange Luftreinhalteplane. Telefonieren Sie doch einmal mit den Eidgenossen und informieren Sie sich darüber, wie die so etwas machen! Ich komme aus einer Grenzregion, in der ich sehen muß, daß beispielsweise in Weil am Rhein Bundesjugendspiele veranstaltet werden, während in Basel Ozonalarm herrscht und die Kinder zu Hause gehalten werden müssen. Sie, Herr Minister, kündigen vollmundig an, daß bei der Bekämpfung der Verpackungsflut von Ihrem Ministerium sogar über Stoffverbote, Verpackungsabgaben und das generelle Verbot der Einwegverpackungen nachgedacht wird. Und das faktische Ergebnis? - Ihre Verpackungsverordnung scheitert im ersten Anlauf, mußte im Bundesrat nachgebessert werden und wird sich nach allem, was man jetzt weiß, als untauglich erweisen, die Verpackungsflut einzudämmen; denn Sie haben von vornherein der Verpakkungsindustrie das Schlupfloch des dualen Entsorgungssystems gelassen. Ein grüner Punkt soll Verpackungsverwertung und damit für die Augen der Verbraucher Umweltfreundlichkeit signalisieren. Aber wem wollen Sie eigentlich erklären, daß die Glasmilchflasche keinen grünen Punkt erhält, dafür aber die Milcheinwegkartonage? So kann man Umwelterziehung nicht begreifen, Kolleginnen und Kollegen! ({10}) Ein weiteres Beispiel Ihrer verfehlten Umweltpolitik ist die Altlastensanierung. Allein in den neuen Ländern sind bis heute - diese Zahl wurde bereits genannt - mehr als 12 500 Verdachtsflächen entdeckt worden. Unser Antrag zur Erhöhung des Ansatzes für die Finanzierung der Altlastensanierung wurde abgeschmettert. In den alten Bundesländern kommen zu den bekannten unzähligen Flächen laufend neue Altlasten hinzu. Denken wir nur an die etwa 650 bekannten dioxinbelasteten Flächen mit der Kupferschlacke Kieselrot, oder denken wir, wie jetzt bekannt wurde, an die auf uns zukommenden Altlasten auf den Standorten der sowjetischen und amerikanischen Streitkräfte. Hier fehlt ein bundesweites einheitliches Altlastensanierungs- und -finanzierungskonzept. Der Bund steht hierbei in der Verantwortung. Sie haben zur Finanzierung der Altlastensanierung ein Abfallabgabengesetz vorgeschlagen und für März 1991 angekündigt. Vorgelegt ist dieser Gesetzentwurf bislang noch nicht. Also auch hier wieder viel angekündigt, wenig gehalten. ({11}) Das Ganze ist um so peinlicher, als Sie bereits jetzt denen, die mit Recht das Engagement des Bundes in dieser Frage erwarten, Versprechungen machen. Dies nenne ich eine Politik der ungedeckten Schecks. Eine Abgabe, deren Höhe noch nicht endgültig feststeht, bei der noch nicht einmal klar ist, wann die Gelder daraus in welcher Höhe überhaupt zur Verfügung stehen, wird bereits an jeden, der Geld braucht, verteilt: Die neuen Bundesländer sollen etwas erhalten. Die alten Bundesländer sollen etwas erhalten. Bei der jüngsten Sondersitzung des Sport- und Umweltausschusses wurde gar angekündigt, daß die Sanierung der dioxinbelasteten Flächen auch mit Hilfe dieser Abgabe mitfinanziert werden könnte. Der Umweltminister verspricht also Gelder, die er noch gar nicht hat, für Flächen, die er noch gar nicht alle kennt, mit einer Belastung des Bodens, die er noch nicht einmal ahnt. ({12}) - Wir haben den vollen Umfang dieser Belastung auch nicht erkannt, aber wir haben dafür Gelder im Haushalt gefordert. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich bin sofort fertig. ({0}) Ich habe nur noch zwei Minuten, und aus diesem Grunde möchte ich im Zusammenhang vortragen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verzeihung, Frau Kollegin! Die Zeit würde Ihnen nicht angerechnet.

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte im Zusammenhang vortragen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte sehr. ({0})

Marion Caspers-Merk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000325, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Demgegenüber haben die Sozialdemokraten Konzepte vorgelegt, die eine Umkehr in der Umweltpolitik fordern. Kernstück des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft ist eine Kombination aus gesetzlichen Vorgaben und marktwirtschaftlichen Instrumenten. Wir wollen, daß der, der die Umwelt benutzt und dabei schädigt, bezahlt. Wir wollen, daß der, der die Umwelt bewahrt, belohnt wird. Kernstück unserer umweltpolitischen Leitlinien sind Lenkungsabgaben und Steuern, die diesen Namen wirklich verdienen. Gleichzeitig wollen wir die Umweltsanierung in den neuen Ländern auf unserem hohen Niveau. Zweierlei Maß bei den UmweltstanMarion Caspers-Merk dards darf es in einem vereinten Deutschland nicht geben. ({0}) Vielen unserer Vorschläge sind Sie nach einer Anstandsfrist bislang gefolgt. Die Sozialdemokratisierung der Regierungspolitik findet zwar statt, aber leider erst, wenn man unseren Gesetzesvorschlägen die Zähne gezogen hat. Herr Töpfer, Sie gebrauchen unsere Begriffe, aber Sie benutzen Sie für andere Inhalte, ({1}) und Sie lassen vor allem Ihren Ankündigungen keine Taten folgen. ({2}) Meine Erfahrungen als Parlamentsneuling mit Ihrem Ministerium lassen nur den Schluß zu, daß dieses Ministerium im Umgang mit den Parlamentariern Defizite aufweist. Da werden Presseerklärungen verteilt, notwendige Ausschußunterlagen sind aber unvollständig und nicht rechtzeitig vorhanden. Briefe von Abgeordneten mit drängenden Fragen der Bürger werden gar nicht oder erst mit monatelanger Verspätung beantwortet. Wer aus einem Ministerium eine Werbeagentur macht, hat vermutlich kein Interesse daran, daß die blumigen Ankündigungen auch umgesetzt werden. ({3}) ({4}) Ich komme zum Schluß: ({5}) Wir fordern den Ausstieg aus der Perspektivlosigkeit Ihrer Umweltpolitik und den Einstieg in eine Offensive für die Umwelt. Ihre Politik, Herr Töpfer, strahlt diese Perspektivlosigkeit aus. Sie wird zum umweltpolitischen Sicherheitsrisiko und gehört entweder zur Wiederaufbereitung in die Opposition oder in ein sicheres Endlager. Vielen Dank. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Lippold das Wort.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich hätte lieber eine Zwischenintervention gehabt, damit man die vielen Unklarheiten, Mißverständnisse und Falschaussagen direkt richtigstellen kann, die sich so anhäufen, daß man sie im Rahmen einer Kurzintervention ansonsten nicht ausräumen kann. ({0}) Punkt eins: Die Kollegin hat von fortlaufenden Katastrophenmeldungen gesprochen, die die Situation in der Bundesrepublik Deutschland verschlechtern. Es gibt einen Landesumweltminister, der deutlich davon gesprochen hat, daß durch die Umweltpolitik in diesem Lande die Situation an Rhein und Ruhr besser geworden ist, daß es weniger Krankheiten gibt und daß die Menschen gesünder leben. Dieser Minister ist kein Mitglied der CDU; er ist ein SPD-Minister. Wann stimmen Sie sich endlich einmal mit denen ab, die fachlich ihr Ressort beherrschen - wie Ihr Umweltminister in Nordrhein-Westfalen - , statt diesen Unfug zu erzählen, wie Sie ihn hier verzapfen? Das ist doch der Sachverhalt. ({1}) Dann müssen Sie auch die Katastrophenmeldungen, von denen Sie hier reden wollen, deutlich machen. Sie haben etwas zur Verpackungsverordnung gesagt. Sie werden in Ihren eigenen Bundesländern, in Hamburg und im Saarland, mit der Flut der Verpakkungen nicht fertig. Wir haben das Problem angepackt. Wir haben das System geschaffen, mit dem wir mit dieser Verpackungsflut fertigwerden. Ihre Länderminister haben, weil sie keine andere Lösungsmöglichkeit für die sozialdemokratisch re- gierten Länder sehen, dieser Verpackungsverordnung zugestimmt. Wann endlich lernt diese SPD-Bundestagsfraktion etwas vom Sachverstand ihrer Minister? ({2}) Es wäre angebracht, daß Sie sich einmal in internen Kolloquien äußern, bevor Sie sich hier hinstellen und etwas sagen, was nicht Sache ist. Das muß ganz deutlich gesagt werden. Ein letzter Punkt: zur Perspektivlosigkeit. Wir haben das Bundes-Immissionschutzgesetz novelliert. Wir haben durch die Chemiepolitik die Anlagen sicherer gemacht. Weiterhin haben wir durch die Umweltaußenpolitik dieses Umweltministers in Verbindung mit dem Bundeskanzler dazu beigetragen, daß wir endlich gemeinsam mit der EG und der Welt Antworten auf die globalen Probleme in Sachen Treibhauseffekt suchen und finden. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Lippold, Ihr Engagement ist kein hinreichender Grund, die Zeit für eine Kurzintervention deutlich zu überschreiten. Ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde dann schließen. Ich bedanke mich. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Klinkert.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der ursprüngliche Haushalt des BMU von 1,3 Milliarden DM wurde auf Grund des dringenden Handlungsbedarfes zur ökologischen Sanierung der neuen Bundesländer um jeweils 400 Mil2156 lionen DM für 1991 und 1992 aufgestockt. Dabei haben diese Mittel lediglich auslösenden und lenkenden Charakter für weitere Investitionen mit wesentlich höheren Dimensionen auch im Umweltbereich. Wenn Herr Wagner hier den Anteil von 0,33 % am Gesamthaushalt minutiös ausrechnet, dann zeigt er damit, daß er sicherlich mit seinem Taschenrechner umgehen kann, ({0}) aber weniger die Rolle eines Ministeriums begreift; denn es ist nicht mehr die Rolle eines Ministeriums, wirtschaftslenkendes Organ zu sein. Das hatten wir im Sozialismus der DDR. Ich weiß allerdings nicht, wie dies im Saarland gehandhabt wird. ({1}) Vielleicht liegt es auch daran, daß so viele Finanzausgleichsmittel der Gesamtbundesrepublik ins Saarland flossen und weiterhin fließen. ({2}) Der Gipfel der Unsachlichkeit, glaube ich, war die Kritik daran, daß der Bundesumweltminister in ein ökologisches Krisengebiet gefahren ist, denn einerseits wurde kritisiert, daß Herr Töpfer dorthin fuhr, ({3}) andererseits wurde nichts darüber gesagt, daß beispielsweise auch SPD-Abgeordnete dorthin gefahren sind. Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir als CDU/ CSU-Fraktion begrüßen beide Aktivitäten. Wir haben durch beide Aktivitäten sehr nützliche und sachliche Hinweise zum realen Zustand am Golf erhalten. ({4}) Herr Wagner, vielleicht darf ich auf noch einen Punkt zurückkommen: Ich gebe zu, daß es für einen Neubundesbürger, wie ich einer bin, schwierig ist, alle Feinheiten der Marktwirtschaft zu kennen und zu erkennen. Aber das Verwirrspiel, das Sie hier mit Zahlen, Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft vorgeführt haben, grenzt doch an Unsachlichkeit; denn wenn Sie hier die vorgesehene Mischfinanzierung der 17 Milliarden DM für die ökologische Sanierung der neuen Bundesländer den 400 Millionen DM für Einzelprojekt- und Anschubfinanzierung gegenüberstellen, dann zeugt das, glaube ich, davon, daß Sie die Unterlagen zum Projekt der ökologischen Sanierung nicht einmal gelesen haben - das wenigstens sollte man erwarten - , denn die Finanzierungsquellen dieses Projekts sind sehr deutlich aufgezeigt. ({5}) Die Arbeitsgruppe Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit der CDU/CSU-Fraktion unternahm, um sich ein eigenes Bild vom ökologischen Zustand der neuen Bundesländer zu verschaffen, im vergangenen Monat eine Exkursion nach Sachsen und nach Brandenburg. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Reise war die Besichtigung von ehemaligen und noch aktiven sowjetischen Militäreinrichtungen. Deswegen begrüßen wir die Aussage der Bundesregierung, zunächst 70 Millionen DM für die Erkundung und Erf as-sung der Altlasten auf den Liegenschaften der sowjetischen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Besonders begrüßenswert ist dabei die Tatsache, daß diese Aufträge im wesentlichen an ostdeutsche Firmen vergeben werden, weil dadurch auch arbeitsmarktpolitische Effekte erreicht werden. Wir konnten uns auf dieser Exkursion davon überzeugen, daß die von der Bundesregierung installierten beschäftigungspolitischen Maßnahmen gerade auch für den Umweltbereich zunehmend aufgegriffen wurden. 10 000 Arbeitnehmer sind in der Zwischenzeit für die reine Umweltsanierung über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingesetzt. Wenn man die heutige Meldung der Bundesanstalt für Arbeit nimmt, daß die Arbeitslosigkeit im Monat Mai nicht angestiegen ist, kann man das, glaube ich, als einen sehr wirkungsvollen Erfolg auch des Programms zur ökologischen Sanierung der neuen Bundesländer ansehen. ({6}) Im Lausitzer Braunkohlenrevier wurde uns ein ähnliches Modell vorgestellt, wie es Minister Töpfer hier für das mitteldeutsche Braunkohlenrevier beschrieben hat. Auch in der Lausitz können in den nächsten Wochen und Monaten 3 000 bis 4 000 Arbeitnehmer, die sonst überwiegend in die Arbeitslosigkeit geraten wären, über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur ökologischen Sanierung eingesetzt werden. Alles das sind Maßnahmen, die im Haushalt des BMU natürlich nichts zu suchen haben, sondern die über andere Töpfe finanziert werden können. Die wichtigsten Prioritäten, die jetzt gesetzt werden, können aus den positiven Erfahrungen des vergangenen Jahres resultieren, da die 500 Millionen DM Fördermittel, die zur Einzelprojektförderung eingesetzt wurden, dort Erfolge auf wirtschaftlichem und beschäftigungspolitischem Gebiet erzielt haben. In diesem Jahr soll diese Praxis fortgeführt werden und vorrangig bei Wasserversorgungs-, bei Abwasserentsorgungsanlagen, bei Deponiesicherungsanlagen sowie bei Maßnahmen zur Abwehr von Gesundheitsgefährdungen zur Anwendung kommen. Lassen Sie mich hier noch auf den Einwurf von Frau Braband zurückkommen, daß die Müllawine der Wohlstandsgesellschaft jetzt auch auf die fünf neuen Länder überschwappt. Wir sind uns sicherlich darüber einig, daß das Überschwappen der Müllawine nicht erstrebenswert ist. Aber ich kann hier für die Bevölkerung der DDR feststellen, daß sie mit dem Vollzug der deutschen Einheit nicht warten wollte, bis das Müllproblem in der Bundesrepublik ({7}) gelöst wurde. ({8}) Das ist jetzt ein gesamtdeutsches Problem, und wir werden es mit dieser CDU/CSU-Regierung in den nächsten Monaten lösen können. Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ist auf die an sich gesetzgeberisch lenkende Wirkung des BMU abgestimmt und wird das Programm „Aufschwung Ost" wesentlich nach vorn befördern. Vielen Dank. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einzelplan 16 - Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - in der Ausschußfassung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Einzelplan mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Ich rufe nunmehr die Zusatztagesordnungspunkte 1 und 2 auf: ZP1 Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache 12/629 ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache 12/654 Zum Antrag der Fraktion der SPD liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, und zwar auf Drucksache 12/662, und ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/686 vor. Die interfraktionelle Vereinbarung lautet: Debattenzeit eine halbe Stunde. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich die Aussprache eröffnen. Zunächst einmal hat die Abgeordnete Frau Köppe das Wort.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Einsetzung des Schalck-Untersuchungsausschusses ist, meinen wir, ein Erfolg für das Bündnis 90/DIE GRÜNEN. Denn seit wir in den Bundestag eingezogen sind, war dies eine unserer wichtigsten Forderungen. Und wir haben eigentlich nicht verstanden, warum die SPD-Fraktion so lange gezögert hat. Schließlich hat Herr Vogel die Aufklärung des Schalck-GolodkowskiSkandals bereits im Bundestagswahlkampf versprochen. Worin besteht dieser Skandal? Was muß der von uns heute beantragte Untersuchungsausschuß dringend aufklären? Erfreulicherweise hat die SPD in ihrem Antrag Kernpunkte unseres Antrags übernommen, und das sind die Fragen: Was hat die Bundesregierung unternommen, um die KoKo-Milliarden sicherzustellen und für den Aufbau der ostdeutschen Länder zur Verfügung zu stellen? Hat die Bundesregierung Herrn Schalck Straffreiheit oder sonstige Vergünstigungen zugesagt? Wenn wir diese Fragen so formulieren, dann sind das nicht reine Spekulationen. Ich mußte bereits am Runden Tisch erfahren, daß die Geheimnisse des KoKo-Bereichs von der damaligen DDR-Regierung streng gehütet wurden. Die von uns immer wieder angemahnten Informationen kamen nicht oder spät und nur sehr unvollständig. Die Bundesregierung hat diese Tradition der Herren Krenz, Modrow und de Maizière bruchlos fortgeführt. Von den Vernehmungen Schalcks beim BND im Frühjahr 1990 haben die Bundestagsbegeordneten bisher nichts erfahren dürfen, obwohl Schalck erst jüngst wieder gegenüber der „FAZ" erklärt hat, er habe dort umfassend ausgepackt. Wie konnte es passieren, daß ausgerechnet enge Schalck-Vertraute wie Traudl Lisowski, Jochen Steyer und Dieter Uhlig bis in die jüngste Zeit hinein mit der Abwicklung wesentlicher Teile des KoKo-Imperiums betraut waren? Warum hat das Bundesfinanzministerium den Bundestag bisher noch nicht über den Stand dieser Abwicklung unterrichtet? Treffen Meldungen des „Spiegel" und anderer Zeitungen zu, daß der BND Schalck zugesichert hat, für seine Kooperationsbereitschaft wesentliche Teile seines Auslandsvermögens unangetastet zu lassen? Meine Damen und Herren, Sie sehen, es ist ein äußerst brisanter Stoff. Wir fordern Stimmrecht in diesem Untersuchungsausschuß. Wir fordern Rederecht, das uns mehr als zwei oder drei Minuten pro Sitzung einräumt. Wir erwarten, daß der Ausschußvorsitzende so großzügig verfährt, daß auch über die Verabredung im Ältestenrat hinaus etwas mehr Spielraum für unsere Mitwirkung möglich wird. Ich hoffe, daß die Regierungsfraktionen wirklich - wie sie es beteuern - die Aufklärung wollen und nicht wie beim U-Boot-Ausschuß sofort wieder anfangen, die Ausschußarbeit mit tausend juristischen Finessen und Geschäftsordnungstricks zu belasten. Ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Struck.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn in der letzten Zeit über die Bewältigung der Vergangenheit in der ehemaligen DDR und über die schlimmen Taten der führenden Mitglieder der SED und der damaligen Regierung gesprochen wurde, hat der Name SchalckGolodkowski in der Regel eine besondere Rolle gespielt. Die SPD-Bundestagsfraktion stellt heute den Antrag, einen Untersuchungsausschuß zu dem Komplex „Kommerzielle Koordinierung - Schalck-Golodkowski" einzusetzen. Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir damit ein deutliches Signal für die Menschen in der ehemaligen DDR geben, daß diese Vergangenheit aufgearbeitet werden soll. ({0}) Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich hier für meine Fraktion erklären, daß wir im Gegensatz zu manchem anderen Untersuchungsaus2158 schuß, der in den vergangenen Legislaturperioden tätig gewesen ist, die Arbeit dieses Untersuchungsausschusses nicht vordringlich unter dem Gesichtspunkt sehen, die Regierung vorzuführen oder der Regierung ein Versagen auf einem bestimmten Gebiet vorzuwerfen. Vielmehr glaube ich, daß unser Appell an die anderen Fraktionen dieses Hauses, die sich an diesem Untersuchungsausschuß beteiligen werden, gemeinsam den Komplex Kommerzielle Koordinierung aufzuarbeiten, auf fruchtbaren Boden fallen wird. Ich erhoffe sehr auch die Mitarbeit der Regierungsfraktionen in diesem Untersuchungsausschuß. ({1}) Es wird eine schwierige Arbeit werden, dieses dunkle Kapitel aufzuarbeiten; denn der Komplex Kommerzielle Koordinierung und sein Leiter haben im Regierungssystem und im Partei- und Staatssystem der ehemaligen DDR eine sehr dubiose Rolle gespielt. Wenn man sich die öffentlichen Äußerungen von Herrn Schalck-Golodkowski in den vergangenen Monaten ansieht und anhört, die bezeichnenderweise offensichtlich erst zu verzeichnen waren, als diejenigen, die ihn in den Medien zu befragen hatten, dafür auch ein Honorar angeboten haben, dann kommt man zu der Auffassung, daß es eine schlimme Parallele zur Bewältigung der Vergangenheit der Nazizeit gibt. Auch er zieht sich zurück auf den Spruch, er habe nur seine Pflicht getan. Ich erkläre hier - ohne dem Untersuchungsergebnis vorgreifen zu wollen - : Er hat nicht für diesen Staat oder für die Menschen dieses Staates seine Pflicht getan, sondern er hat etwas getan, was nur den Mächtigen dieses Staates diente, ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerung der ehemaligen DDR. Das war seine Tätigkeit. Ich denke, das wird auch dieser Untersuchungsausschuß hervorbringen können. Diejenigen, die diesem Untersuchungsausschuß angehören, werden eine schwere Arbeit vor sich haben, wenn Sie berücksichtigen, daß - den Äußerungen der ermittelnden Staatsanwaltschaft in Berlin zufolge - dem Untersuchungsausschuß wohl 2 000 Leitz-Ordner mit ungeordnetem Aktenmaterial zur Verfügung gestellt werden müssen. Es wäre auch eine Illusion anzunehmen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß dieser Ausschuß schnell zum Ende kommt. Es wäre wünschenswert, daß dieser Ausschuß schnell zum Ende kommt. Aber ich sage hier einmal ganz deutlich: Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit gehen bei der Untersuchung vor Schnelligkeit. ({2}) Deshalb wird es eine schwere Arbeit für die elf Mitglieder dieses Untersuchungsausschusses werden. Ich greife jetzt den Beitrag von Frau Kollegin Köppe auf. Wir haben uns mit den anderen Fraktionen im Ältestenrat heute mittag noch darauf verständigt, daß wir - ich denke, ich spreche auch für den Kollegen Rüttgers - Ihnen als Vertretern des Bündnisses 90, die Sie mit einem Mitglied in diesem Untersuchungsausschuß tätig werden wollen, die Rechte einräumen wollen, die alle anderen Mitglieder dieses Ausschusses haben - bis auf die Tatsache, daß beim Stimmrecht der Gruppenstatus gilt. Sie haben diese Regelung akzeptiert. Ich will das jetzt in eine etwas einfachere Sprache übersetzen. Sie sollen genauso wie jede andere Fraktion in diesem Untersuchungsausschuß die Möglichkeit haben, Beweisanträge zu stellen, Zeugenvernehmungen durchzuführen, Akten anzufordern und Akten einzusehen, weil ich glaube - ich denke, auch da spreche ich für alle anderen Abgeordneten -, daß gerade die Vertreter vom Bündnis 90 eine besondere Verpflichtung, ein besonderes Recht haben, hier tätig zu werden. ({3}) In diesem Zusammenhang sei ein Wort an die PDS/ Linke Liste gerichtet. Ich würde es schon für sehr eigenartig halten, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn der Vorsitzende der Rechtsnachfolgerin der SED, Herr Kollege Gysi, Mitglied dieses Untersuchungsausschusses würde. ({4}) Ich denke, daß man damit den Bock zum Gärtner machte. Sie sollten sich das sehr ernsthaft überlegen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß Sie, Herr Kollege Gysi, weil Sie nun Vorsitzender der Rechtsnachfolgerin der SED sind, auch in die Verlegenheit kommen werden, als Zeuge vor diesem Untersuchungsausschuß aussagen zu müssen. Dann wäre es schon besser, Sie würden nur dann in den Untersuchungsausschuß kommen und nicht vorher schon darin sitzen. ({5}) Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte: Wir werden natürlich - Frau Kollegin Köppe hat das angesprochen - auch die Tätigkeit der Kommerziellen Koordinierung im Zusammenhang mit dem Vorfeld der Währungsunion zu untersuchen haben; denn es ist wohl unbestreitbar, daß gerade im Vorfeld der Währungsunion, in dem Augenblick, in dem klar war, daß die D-Mark Währungsmittel in der damaligen DDR werden würde, eine Menge kriminelle oder nahezu kriminelle Aktivitäten auch und gerade von Mitgliedern oder Mitarbeitern der Kommerziellen Koordinierung allein mit dem Ziel getätigt worden sind, Geld und harte Devisen, die damals vorhanden waren, zu verschleiern und auf irgendwelche Auslandskonten und in andere Verstecke zu verschieben. Auch das wird ein wesentlicher Punkt der Arbeit dieses Untersuchungsausschusses sein. Wir wollen auch das Thema Wirtschafts- und Währungskriminalität in diesem Untersuchungsausschuß ganz energisch untersuchen. ({6}) Ich komme jetzt auf den Antrag der PDS/Linke Liste zurück, der hier als Änderungsantrag zu unserem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vorliegt. Hierzu erkläre ich für meine Fraktion, daß wir diesen Antrag ablehnen werden. Abgesehen von Ihrer politischen Vergangenheit sage ich: Es entspricht nicht den Beschlüssen, die wir in diesem Haus gefaßt haben, daß Sie volles Stimmrecht in diesem Ausschuß haben sollen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Zu dem Antrag der Kollegen aus der CDU/CSUFraktion erkläre ich: Wir haben überhaupt keine Probleme, diesem Änderungsantrag zuzustimmen und den Untersuchungsauftrag entsprechend zu erweitern, weil wir, Herr Kollege Rüttgers, überhaupt keine Sorge haben, daß auch die Zeit vor der Regierungsübernahme durch die jetzige Koalition, die leider schon solange andauert, ({7}) untersucht wird. ({8}) Wir haben überhaupt keine Sorge, auch den Zeitraum, in dem Sozialdemokraten oder Liberale Mitglieder einer Bundesregierung waren - ich denke an Graf Lambsdorff, der ja einmal Wirtschaftsminister war und der auch Gespräche mit Vertretern der SED oder Herrn Schalck-Golodkowski geführt hat -, in die Untersuchung einzubeziehen. Dieser Untersuchungsausschuß ist - ich sage das zum Abschluß noch einmal - kein klassischer Untersuchungsausschuß nach dem Motto: Ich haue deine Regierung, und du verteidigst meine Regierung, ({9}) sondern es ist ein Untersuchungsausschuß, der die Aufgabe hat, den berechtigten Wünschen und Beschwernissen der Menschen in der ehemaligen DDR so Rechnung zu tragen, daß wir sagen können: Hier haben wir einen guten Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung geleistet. ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in diesen Tagen der Haushaltsdebatte viel von Zukunftsgestaltung im wiedervereinigten Deutschland gesprochen. Ich glaube, wir alle haben dabei gespürt, daß es dabei auch immer um die Bewältigung der Vergangenheit in der ehemaligen DDR geht. Zu dieser Vergangenheit gehört auch ein besonders sumpfiges Gelände in der sozialistischen Kommandowirtschaft, nämlich der Arbeitsbereich Kommerzielle Koordinierung. Nach allem, was wir bisher darüber wissen, war hier eine Beschaffungsmafia im Auftrag der SED am Werk, so etwas wie eine schnelle Eingreiftruppe, die an keine Regeln gebunden war, nicht einmal an die Regeln der Planwirtschaft, nicht an die Gesetze der DDR und nicht an das internationale Recht. Das war so etwas wie eine Gesellschaft ohne Haftung, aber mit unbeschränkter Vollmacht. Der Zweck der Organisation „Schalck" war die Versorgung der SED, der Staatssicherheit, vermutlich auch der DKP und ihres Umfelds. Ihr Auftrag war die Sicherung vor allem der Privilegien der Führungsclique. Wer weiß, vielleicht existierten Teile des Imperiums KoKo auch über den 3. Oktober 1990 hinaus versteckt und/oder als Versorger der PDS. Die KoKo war meiner Einschätzung nach keine Entartung des DDR-Sozialismus, keine verbrecherische Entgleisung einzelner, sondern eine folgerichtige Erscheinung des Systems. Wo sozialistische Mißwirtschaft, Devisenknappheit und Gütermangel zwangsläufig und systembedingt sind, da entsteht der Zwang, die Wohlfahrt der Nomenklatura auf Umwegen zu finanzieren. Der Auftrag der KoKo lautete kurz gefaßt: Opium für das Volk und Privilegien für die Führung. Die Menschen in den neuen Ländern haben unter dem SED-Regime gelitten. Sie verlangen jetzt Aufklärung und Rechenschaft auch über die dunklen Machenschaften der KoKo. ({0}) Ich glaube, wir alle können die Ungeduld dieser Menschen verstehen. Wir verstehen den Zorn der Menschen, wenn sie auch nur den Eindruck haben, daß diese Aufarbeitung zu langsam geschieht. Ich persönlich halte es durchaus für eine Provokation, daß der Leiter dieses Bereichs, Schalck-Golodkowski, in einer der schönsten Gegenden Deutschlands ein scheinbar geruhsames Leben führt, hin und wieder unterbrochen durch hochbezahlte Fernsehauftritte und Interviews. Wir wissen, die zuständige Staatsanwaltschaft in Berlin hat gegen Schalck-Golodkowski eine Vielzahl von Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie hat große Mengen von Akten beschlagnahmen lassen. Die Staatsanwaltschaft ist also dabei, die Frage der Strafbarkeit derjenigen Personen zu klären, die im Bereich KoKo Verantwortung getragen haben. Wir haben uns in diesem Hause schon einmal damit beschäftigt; es wäre gut, wenn diese Aufarbeitung schneller ginge, als es der Fall zu sein scheint. Gerade deshalb glaube ich, daß dieser Untersuchungsausschuß auch einen Sinn hat. Wir als CDU/CSU-Fraktion werden deshalb dem Antrag der SPD-Fraktion auf Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses zustimmen, obwohl wir den Antrag, Herr Kollege Struck, in einigen Details für mangelhaft halten. Deshalb haben wir einen Ergänzungsantrag vorgelegt, mit dem wir vermeiden wollen, daß es bei der praktischen Arbeit des Ausschusses Probleme gibt. Daß der Antrag der PDS abgelehnt werden muß, ist klar. Es ist wieder einmal typisch, daß es sich hierbei mehr oder weniger um eine Geschäftsordnungsfrage zur Erlangung von mehr Rechten handelt. Wenn wir dem Antrag des Bündnisses 90 sogleich nicht zustimmen werden, dann hat das - das will ich ausdrücklich sagen - nichts mit dem Inhalt des Antrags zu tun, sondern - Sie, Frau Kollegin Köppe, haben schon darauf hingewiesen - schlichtweg mit dem Ablauf des Verfahrens hinsichtlich der Erarbeitung der Anträge. Ihr Antrag ist ja im Einsetzungsantrag und im Ergänzungsantrag inhaltlich erfaßt, so daß insofern keine Schwierigkeiten entstehen können. Die CDU/CSU-Fraktion hat gestern verlangt, daß die Arbeit des Untersuchungsausschusses sofort beginnt. Wir wünschen, daß die konstituierende Sitzung und die erste Beratungssitzung noch in dieser Woche, also morgen, stattfinden. Wir werden morgen vorschlagen, daß für die übernächste Woche Frau Justizsenatorin Limbach aus Berlin sowie der Vorsitzende der Unabhängigen Kommission, Professor Papier, eingeladen wird. Wir wollen mit ihnen besprechen, wie der Untersuchungsausschuß arbeiten kann, ohne die Staatsanwaltschaft und die Unabhängige Kommission zu behindern; daran haben wir sicherlich kein Interesse. Wir wollen nach diesem Gespräch einen Aktenbeiziehungsbeschluß herbeiführen, damit sich die Ausschußmitglieder dann während der Sommerpause in diesen umfangreichen Aktenberg einarbeiten können. Die ersten Zeugenvernehmungen sollten - so unser Vorschlag - auf dieser Grundlage unmittelbar danach, nämlich im September, stattfinden. ({1}) Zu einer solchen Arbeit gehört übrigens auch, daß die etwa erforderlich werdende Aufklärung im Bereich der Administration der alten Bundesrepublik Deutschland nicht auf die letzten Jahre beschränkt bleibt. Ich freue mich, daß Herr Kollege Struck auch damit keine Schwierigkeiten gehabt hat. Dann scheint es mehr oder weniger ein Versehen gewesen zu sein, daß die Begrenzung zufällig auf das Jahr 1983 fiel. Ich glaube, wenn wir das Ziel so definieren, Herr Struck - da stimme ich Ihnen zu - , wie Sie es gemacht haben, dann ist für solche parteipolitisch motivierten Fristsetzungen kein Raum bei der Arbeit dieses Ausschusses. Soweit wir wissen, wurde der Bereich KoKo 1972 gegründet. Wir werden sicherlich auch danach fragen müssen, ob und gegebenenfalls welche Zusammenhänge im deusch-deutschen Verhältnis in jener Zeit mit diesem Bereich bestanden haben. Ich glaube, daß uns die ehemaligen Leiter der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, Gaus und Bölling, die sich ja auch literarisch zu diesem Thema geäußert haben, interessante Auskünfte zu diesem Komplex geben können. Sie haben ja auch Herrn Schalck-Golodkowski bei ihrer Arbeit, wie ich lesen kann, sehr gut kennengelernt. Die Memoiren von Günter Gaus erzählen jedenfalls von einer Vielzahl konspirativ anmutender Treffen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, uns interessieren die Arbeitsweise des Bereichs KoKo und die Verbindungen zur SED und zum Ministerium für Staatssicherheit; uns interessieren aber auch die Verbindungen zur PDS und zur DKP. Wir wollen wissen, was dort erwirtschaftet wurde, wie es erwirtschaftet wurde und was mit den Erträgen geschah. Weiterhin interessiert uns, was aus den vermutlich mehreren hundert Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen geworden ist und wer heute darüber verfügt. Konkret heißt dies: Wir werden dem hin und wieder geäußerten Verdacht nachgehen, daß sich das KoKoVermögen heute zum Teil in den Händen der PDS und ihrer Treuhänder befindet. ({2}) Der Arbeitsbereich Kommerzielle Koordinierung hatte sich nicht nur nach außen hin weitgehend abgeschottet, sondern auch intern. Jeder weiß, es gab dort keine Transparenz. Deshalb - da stimme ich dem Kollegen Struck zu - wird unsere Arbeit mühsam, langwierig und zeitraubend sein, und wir werden sicherlich eine Vielzahl von Zeugen hören müssen. KoKo soll nach den Berichten rund 3 500 Mitarbeiter gehabt haben. Ich würde es begrüßen, wenn diese ehemaligen Mitarbeiter bereit wären, unsere Arbeit zu unterstützen. Sie könnten uns die Arbeit sicherlich dadurch erleichtern, daß sie sich an uns wenden und einen persönlichen Beitrag zur Aufklärung leisten. Irgendwann werden wir ohnehin feststellen, wer dabei war und wer informiert war. Weil wir uns im Ausschuß auf die Sacharbeit konzentrieren, verzichte ich auch darauf, heute hier die Namen derjenigen Personen aufzuzählen, die nach unserer Auffassung demnächst Zeugen vor dem Ausschuß sein sollen. Die Herren Stoph, Krenz, Mittag, Mielke und Modrow werden sicherlich zu diesem Kreis gehören. Ich bin nach der Erklärung des Kollegen Struck sicher, daß in diesem Ausschuß Koalition und SPD an einem Strang ziehen, ebenso wie das Bündnis 90. Deshalb möchte ich vielleicht als unsere gemeinsame Auffassung feststellen: In diesem Ausschuß geht es um eine Aufarbeitung Ost und nicht um einen Grabenkampf West. Wir sind zu einer guten Zusammenarbeit bereit. Es wird viel Arbeit geben. Aber ich glaube, sie wird sich lohnen. Vielen Dank. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste hat sofort nach den ersten öffentlichen Äußerungen erklärt, daß wir für die Einsetzung des Untersuchungsausschusses sind. Wir können sowohl dem Antrag von Bündnis 90/GRÜNE als auch dem SPD-Antrag zustimmen. Natürlich sind wir dafür, daß die beiden Gruppen im Hause auch stimmberechtigt sind. Immerhin sind es die, die in erster Linie im Osten Deutschlands - spezifisch dort, würde ich sagen - gewählt worden sind. Ich füge hinzu, daß bei den Sachfragen, die da erörtert worden sind, mir eine nicht deutlich genug erscheint. Aber ich hoffe, daß es dennoch Gegenstand der Untersuchung sein kann. Es geht nämlich um folgende Frage: Für Devisenbeschaffung muß man ja etwas hergeben. Was ist eigentlich aus der DDR damals alles herausgegangen, um diese Devisen zu beschaffen? In welchem Verhältnis stand das zu diesen Devisen? Das ist eine Frage, die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR sehr bewegt. ({0}) Ich glaube, daß in großem Umfang Kulturgegenstände, Antiquitäten und vieles andere eher verschleudert worden sind, als daß es sozusagen - ({1}) - Da stehen die Zahlen einigermaßen fest, weil Sie wissen, was Sie gezahlt haben. Aber bei den anderen Sachen ist das völlig offen. Deshalb, meine ich, müßte das geklärt werden. Ein zweiter Gesichtspunkt. Sie haben hier etwas zum Osten gesagt. Ich füge hinzu: Es gab keinen anderen Bereich in der DDR, der so perfekt, so gut und so umfassend mit dem Westen zusammengearbeitet hat wie der Bereich Kommerzielle Koordinierung - das sollten Sie dabei allerdings nicht vergessen - , und zwar sowohl mit allen wirtschaftlichen als auch in allen politischen Spitzen. ({2}) - Nein, ganz im Gegenteil, ich halte es nur für aufklärungsbedürftig. Ich will ein drittes sagen. Wenn Sie mich persönlich angehen, Herr Struck, und wenn auch Sie sich natürlich nicht beherrschen können, so sind Sie da ziemlich auf dem Holzpfad. Das werden Sie auch feststellen. Sie können da alles aufklären. Ich ergänze, daß die Treuhandanstalt in der letzten Sitzung der Parteienkommission dazu erklärt hat, daß alles so ist, wie ich es dargestellt habe: daß ab Dezember 1989 dieser ganze Bereich ausschließlich vom Staat und dann von der Treuhandanstalt selbst verwaltet worden ist. Übrigens, diese Effekt-GmbH, die zunächst durch die Treuhandanstalt mit Treuhand-Verträgen gehalten wurde, wo sie jetzt selber eingestiegen ist, das alles unterstand einer Abteilung in der Treuhand, die bis zur Wahl der neuen Präsidentin durch diese selbst geleitet wurde. Einige Dinge könnten also schon klar sein, wenn man sich erkundigt hätte. Wir haben gegen die Aufklärung nichts einzuwenden. Im Gegenteil, ich finde es wichtig für die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR. Ich lege aber auch Wert darauf, daß wir stimmberechtigt daran beteiligt sind. Es wird sich für einen Schlag gegen die PDS wirklich nicht als besonders inhaltsreich erweisen. Aber für die Aufklärung der Geschichte der DDR und auch für die Aufklärung der Geschichte der Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik halte ich diesen Untersuchungsausschuß für sehr wichtig. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Lühr.

Uwe Bernd Lühr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001392, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie bitte, daß ich in einer etwas ungewöhnlichen Art und Weise heute mit meinem Redebeitrag beginne. Seit dieser Woche beginne ich an Horoskope zu glauben. Ich will das gleich erläutern. Mit der Genehmigung des Präsidenten möchte ich drei Sätze aus dem „Stern" dieser Woche zitieren, die meine und indirekt die Zukunft des Untersuchungsausschusses Schalck-Golodkowski angehen. Da heißt es unter meinem Sternzeichen Fische - ich zitiere: Sie sollen Ihr Tätigkeitsgebiet erweitern. Das ist eine zweischneidige Sache. Denn die Mehrarbeit wird sich kaum lohnen. ({0}) Die erste Voraussage ist bereits eingetroffen. Ich habe erfahren, daß ich diesem Ausschuß angehören werde. Wir als FDP haben von Anbeginn aus unserer Skepsis gegenüber der Eignung dieses parlamentarischen Instruments zur Aufklärung staatlich organisierten Betrugs am größten Teil der Bevölkerung der ehemaligen DDR kein Hehl gemacht. Auch sehen wir die Gefahr, daß über den Sumpf von Devisenmanipulationen die wirklich schwerwiegenden Verbrechen wie Mauermorde, Totschlag und Erpressung und anderes mehr ins Abseits des Interesses geraten können. Da die SPD aber auf ihrem legitimen Recht bestanden hat, wollen wir uns um so mehr bemühen, die Arbeit des Ausschusses zum Erfolg zu führen. Das ist eine zweischneidige Sache, stand in dem Horoskop. Ja, der Ausschuß hat die Chance, ein Stück deutscher Geschichte aufzuarbeiten. Er hat die Chance, zum Rechtsfrieden in den neuen Bundesländern und in ganz Deutschland beizutragen. Es gibt aber auch eine Gefahr, daß er aus vordergründigen parteipolitischen Erwägungen zu taktischen Auseinandersetzungen mißbraucht wird, die insgesamt zur Bestätigung gehätschelter Vorurteile gegenüber der Politik und den Politikern in unserer Bevölkerung beiträgt. Wir hoffen, daß die Absicht der SPD, den Untersuchungsauftrag auf den Zeitraum nach 1983 zu beschränken, nicht ein erstes Anzeichen für diese Tendenz ist. Herr Dr. Struck hat mir diese Sorge soeben genommen. Ich habe das sehr dankbar zur Kenntnis genommen. Die zeitliche Begrenzung des Untersuchungsauftrages darf es nicht geben. Wir haben einen eigenen Antrag mit dem Ziel der Erweiterung des Auftrags des Untersuchungsausschusses eingebracht. Die voraussichtliche Teilnahme von Herrn Gysi als Mitglied in diesem Ausschuß läßt leider schon jetzt Inszenierungen erwarten, deren zynischer Reiz fast nicht zu überbieten sein wird. Das hat er hier übrigens soeben auch gezeigt. Die Bemühungen der PDS, ihren Zusatzantrag hier durchzubringen, lehnt die FDP mit aller Entschiedenheit ab. ({1}) Meine Damen und Herren, wir wollen uns ernsthaft bemühen, ein Stück der unheilvollen Vernetzung von Stasi, KoKo, Schalck-Golodkowski, von der persönli2162 chen Verstrickung und von ihrem Wirken auch in den alten Bundesländern ans Licht zu bringen. Die Zeugen, die wir einvernehmen werden, sollten ihre Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage weniger als Bürde denn als Chance zur Mitwirkung an der Aufarbeitung einer Phase deutscher Geschichte verstehen, in der in vielen, vielen Einzelfällen mit staatlicher Gewalt das persönliche Schicksal in einer Weise bestimmt wurde, die bei Bürgern in den alten Bundesländern nur mit Bestürzung zur Kenntnis genommen werden kann. Gerade auch das Wissen um das große Interesse der Bevölkerung in den neuen Bundesländern hält uns dazu an, den Auftrag des Ausschusses mit aller Gründlichkeit auszuführen. Aber - das möchte ich mit aller Entschlossenheit sagen - der Ausschuß ist kein Tribunal. Wie die Staatsanwaltschaft Berlin werden wir das Verfahren nach streng rechtsstaatlichen Grundsätzen betreiben. Das Grundgesetz schreibt uns das so vor. Deswegen haben wir aus den neuen Bundesländern ja auch die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit des Grundgesetzes gewählt. Irgendwelchen Rachegelüsten zu frönen könnte zwar verständlich sein, das wird es aber - das versichere ich hier - mit der FDP im Untersuchungsausschuß nicht geben. Unsere Arbeit darf auch nicht dazu führen, daß die Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gefährdet werden. Wir wollen die Interessen der Staatsanwaltschaft wahren helfen und werden uns deshalb, wie Herr Rüttgers soeben schon gesagt hat, umgehend mit Frau Limbach und Herrn Professor Papier verständigen, um die Untersuchungen zu koordinieren. Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den Antrag der SPD auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses. Dem Antrag des Bündnisses 90/GRÜNE können wir aus diesem Grunde nicht zusätzlich zustimmen. Wir tragen die Einsetzung des Untersuchungsausschusses in der Hoffnung mit, daß der dritte Satz des von mir eingangs erwähnten Horoskops nicht eintreffen wird, in dem es hieß: „Denn die Mehrarbeit lohnt kaum. " ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Briefs das Wort. ({0})

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Danke für das Raunen. - Ich finde das ja ganz spannend. Da kommt ja mal wieder was hoch. Wir haben das ja vor einigen Jahren schon einmal durchexerziert, so beim Flick-Ausschuß. Dazu fällt mir folgendes ein: Wenn der Flick-Ausschuß nur mit Vertretern von Parteien und politischen Organisationen besetzt worden wäre, die sozusagen nicht im Verfahren betroffen gewesen wären, dann hätte er ausschließlich mit Vertretern der GRÜNEN besetzt werden müssen. Das will ich nur einmal zu bedenken geben, was die Behandlung der PDS betrifft. Ich habe mir einmal etwas überlegt. - Ich meine, als relativ entfernter Westvertreter, der in der Fraktion der PDS/Linke Liste tätig ist, kann ich das relativ lokker betrachten. - Ich will einmal auf folgendes hinweisen: Ich könnte mir eine Effektivierung der Arbeit dieses speziellen Ausschusses sehr gut vorstellen. - Einen Antrag kann man ja jetzt schlecht stellen. Es wäre schön, wenn man in der Zukunft einen Antrag vielleicht auch mündlich und auch kurzfristig einbringen könnte. - Ich will daher jetzt nur einfach die Empfehlung abgeben, daß in diesen Ausschuß vor allen Dingen Vertreter der früheren Blockparteien, also Vertreter der Demokratischen Bauernpartei und der Ost-CDU, der LDPD und der NDPD, entsandt werden, denn diese Parteien haben selbstverständlich, wie für jedermann und jedefrau ersichtlich, eine außerordentlich fundierte Erfahrung mit den Strukturen der Kommerziellen Koordinierung. Sie kennen sich mit dem ganzen Stil aus; Sie haben zum Teil selbst davon profitiert. Ich empfehle dringend, im Sinne einer Effektivierung dieses Ausschusses, an dem wir alle ein Interesse haben müssen, so zu verfahren.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort für eine Kurzintervention hat Herr Abgeordneter Kronberg.

Heinz Jürgen Kronberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001224, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Dr. Briefs, vielleicht beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage, daß ein ehemaliger Vertreter des Demokratischen Aufbruchs und damit ein Vertreter einer ehemaligen DDR-Partei im Ausschuß vertreten ist. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich hoffe, wir können nun wirklich zur Abstimmung kommen. Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste, der Ihnen auf Drucksache 12/686 vorliegt, abstimmen. Wer diesem Änderungsantrag der PDS/Linke Liste zuzustimmen gedenkt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Ich lasse nunmehr über den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, der Ihnen auf Drucksache 12/662 vorliegt. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann ist dieser Änderungsantrag bei einigen Stimmenthaltungen aus der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen worden. Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion der SPD auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit der Änderung, die Sie gerade beschlossen haben. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dieser Antrag ist bei einigen Stimmenthaltungen aus den Gruppen PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE angenommen worden. Ich frage nun die Abgeordneten der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE, ob sie, nachdem der Untersuchungsausschuß eingesetzt ist, noch Wert darauf legen, daß über ihren Antrag abgestimmt wird. - Das ist der Fall. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Dann lasse ich über den Antrag der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE abstimmen, der Ihnen auf Drucksache 12/629 vorliegt. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der FDP abgelehnt. Ich rufe nunmehr auf: Einzelplan 12 Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr - Drucksachen 12/512, 12/530 Berichterstatter: Abgeordnete Ernst Waltemathe Wilfried Bohlsen Werner Zywietz Der Ältestenrat schlägt eine Beratungszeit von einer Stunde vor. - Das Haus hat nichts dagegen einzuwenden, so daß ich das als beschlossen feststellen und die Aussprache eröffnen darf. Ich erteile dem Abgeordneten Waltemathe das Wort.

Ernst Waltemathe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002419, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben einen neuen Verkehrsminister. ({0}) Wir haben neue Herausforderungen in Gesamtdeutschland. Wir werden ein neues, ein wachsendes Europa haben. Wir haben also prima Voraussetzungen für wirkliche Verkehrspolitik. In der alten Bundesrepublik war es ja prächtig. In den Aufbaujahren nach 1945 haben wir in der alten Bundesrepublik manchmal sehr hechelnd versucht, dem wachsenden Pkw- und Lkw-Verkehr gerecht zu werden, die autogerechte Stadt wurde geplant, „freie Fahrt für freie Bürger" , zunehmender Gütertransport über Autobahn und Fernstraße, Zurückdrängung von Schiene und Wasserweg. Die Wohltaten dieser freien Mobilität wurden mit Landschaftszerstörung, mit Immobilität durch immer mehr Staus, durch große Unfallhäufigkeit und mit Streß erkauft. Dies sage ich nun nicht, um Schwarzmalerei zu betreiben, sondern um etwas von den Erfahrungen zu vermitteln. Es ist vielleicht gerade 20 Jahre her, daß wir in der alten Republik von unserer Aufbauwut, in der wir manches nicht bedacht haben, abgelassen haben und im Planungsrecht und in der Umweltvorsorge vorsichtiger geworden sind. ({1}) Sollen also die Übertreibungen, die wir einmal als Fehler erkannt haben, jetzt fortgesetzt werden? Ist der Beitritt der ehemaligen DDR zugleich ein Freibrief für Fehlerübertragungen, oder ergreifen wir die Chance, durch mehr Miteinander der Verkehrsträger zu politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen zu kommen, indem jedes Verkehrsmittel seine spezifischen Vorteile ausspielen kann, ohne die spezifischen Nachteile zu vermehren? Das bedeutet unter anderem eine verstärkte Anstrengung, durch entsprechende Infrastruktur kombinierte Verkehre zu ermöglichen. Sieht man sich die bisher erkennbaren Konturen an, die Bundesminister Krause dem staunenden Publikum darbietet, so kann man zukunftsweisende Konzepte allerdings nicht entdecken, ({2}) sondern eher ein Zurück in die 60er Jahre: Vorrang für den Straßenbau, Abbau von Mitwirkungsrechten der Bürger im Planungsrecht, Beseitigung oder Vergammelung von Schienenwegen in den fünf neuen Ländern, Bildung eines neuen Schattenhaushalts - möglicherweise jedenfalls - durch Leasing-Verfahren, das den Staat teuer zu stehen kommen wird und künftige Generationen mit Steuererhöhungen belasten könnte, Aushebelung der parlamentarischen Rechte bei der Feststellung der Straßenbauprioritäten, ({3}) - Herr Gries, hören Sie weiter zu -, Abschied von den maritimen Interessen einer großen Handelsnation. Also - die einen mögen es erhoffen, die anderen werden es befürchten - : Nicht jeder Krause-Gedanke ergibt schon eine glatte Lösung. ({4}) Der heute zu beratende offizielle Verkehrshaushalt und der Teil des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost, der sich auf Verkehrsbauten bezieht, ergeben - je nachdem, wie man rechnet - ein Volumen von etwa 37 bis 40 Milliarden DM, von denen etwa die Hälfte Investitionsmittel sind. Das sind einerseits gewaltige Summen, die der öffentlich-parlamentarischen Kontrolle unterliegen müssen, andererseits sind es Beträge, bei denen sich der Streit um die konkrete Verwendung lohnt, denn falsche Prioritätensetzungen werden die Zukunft negativ beeinflussen. Wer zu früh die Weichen falsch stellt, wird in diesem Fall vom Leben bestraft werden. Ich komme zum Straßenbau; ich mache das nur in Stichworten. Es gibt gar keine Zweifel und auch keinen Streit darüber, daß Straßen instandgesetzt, andere ausgebaut und wieder andere neugebaut werden müssen. Es gibt auch keinen Streit darüber, daß in den fünf neuen Ländern großer Nachholbedarf besteht, um zur Verkehrssicherheit und, soweit das geht, zum verbesserten Personen- und Gütertransport einen Beitrag zu leisten. Auch eine Nordautobahn zwischen Elbe und Oder mag in Betracht kommen. Aber dies heißt doch auch, daß die Planungen so vorzunehmen sind, daß über Alternativen in der Trassenführung, über Umweltverträglichkeit, über Bürgermitwirkung nicht bulldozerhaft hinweggerollt wird. ({5}) Planung, meine Damen und Herren, ist doch kein obrigkeitsstaatlicher, kein autoritärer Vorgang hinter verschlossenen Türen. Gegen das Abwerfen von bürokratischem Ballast haben wir nichts einzuwenden, wohl aber gegen Vorwände, Bürgerrechte zu amputieren und Umweltvorsorge als Luxus anzusehen. ({6}) Zweitens die Schiene: Vordergründig werden Sie vermutlich erneut darauf verweisen, daß sich von den 17 Projekten zur deutschen Einheit allein neun auf Schienenwege, weitere sieben auf Straßen und ein Projekt auf die Binnenschiffahrt beziehen. Tatsache bleibt aber, daß ein Konzept zur Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Eisenbahnen weder vorliegt noch beabsichtigt ist. Die Bahnen sollen ihren Fahrweg nach wie vor erwirtschaften. Seit wann zahlen eigentlich Binnenschiffahrt für Flüsse und Kanäle und Lkw und Pkw voll für Autobahnen und Fernstraßen? ({7}) Wie sollen erhebliche Defizite bei Bundesbahn und Reichsbahn vermieden werden, wenn Bau, Unterhaltung und Sicherung ihrer Fahrwege betriebswirtschaftliche Kosten sind, während bei anderen Verkehrsträgern der Wert und die Kosten ihrer spezifischen Fahrwege in der Bilanz nicht auftauchen, in die Preise nicht eingehen, sondern als volkswirtschaftliche Kosten unberücksichtigt bleiben? Der Haushaltsausschuß mußte in diesem Jahr eine Ermächtigung aussprechen - der Bundestag wird es heute tun -, damit die Bundesbahn selbst zusätzliche Kredite in Höhe von 1,5 Milliarden DM aufnehmen kann. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß ihre Schulden- und Zinslast erhöht wird. Und die Reichsbahn, in die Marktwirtschaft überführt, wird demnächst bereits bei vier Milliarden DM eigenen Schulden landen. Drittens Wasserwege: Daß Bundesminister Krause aus einem Küstenland kommt, sollte man nicht vermuten. Die See- und Küstenschiffahrt kommt bei ihm überhaupt nicht vor. Bei den Maßnahmen zur Erhaltung der deutschen Flagge in der deutschen Seeschiffahrt fiel ihm nur eine absolute Null-Lösung ein, obwohl das Bundeskabinett noch im Juli des letzten Jahres für die alte Bundesrepublik eine Reederhilfe von 120 Millionen DM zur Verfügung gestellt bzw. im Haushaltsplanentwurf veranschlagt hatte. Mindestens weitere 20 Millionen DM müssen für das Beitrittsgebiet hinzugerechnet werden. Herr Krause hat beide Beträge zusammengezählt, ist auf null Mark gekommen, die Koalition hat sich an ihre eigenen Zusagen gegenüber den Reedern nicht gehalten und statt 140 Millionen DM, die es, richtig gerechnet, hätten sein müssen, nur 80 Millionen DM bewilligt. Die Opposition hat - auch gegenüber den Reedern - klargemacht, daß sie keine Dauersubventionen will. Wir wollen in zwei Schritten die Seeschiffahrtshilfe vollständig abbauen, für 1991 die zugesagte Summe und für 1992 noch einmal die Hälfte davon zur Verfügung stellen. Damit könnte sich die Reederschaft in ihren betriebswirtschaftlichen Kalkulationen darauf einstellen, daß der Subventionsabbau 1993 vollzogen sein würde. Zu einem Verkehrskonzept gehört allerdings auch die Definition der Aufgaben der Seeschiffahrt insgesamt und der Küstenschiffahrt insbesondere für den Transport von Gütern. Aus dem Bundeshaushalt wird nicht erkennbar, ob der sonst so kopfgesteuerte Bundesminister für Verkehr seewärtige Wasserwege überhaupt im Kopf hat. Im Etat hat er sie jedenfalls nicht. ({8}) Viertens der Luftverkehr: Vermißt wird hier ein Konzept für den innerdeutschen und für den innereuropäischen Luftverkehr und dessen Einpassung in eine Gesamtkonzeption. Jedermann weiß, daß der Luftraum überlastet ist und künftig noch mehr überlastet sein wird und andere Verkehrsträger, richtig eingesetzt, den internen Verkehr künftig besser bewältigen werden. Insoweit sind etwaige Absichten, neue Großflughäfen zu planen, sowohl von Anzahl als auch vom Standort her und unter Umweltgesichtspunkten in ein Gesamtkonzept Luftverkehr einzupassen. Darüber sind wir uns aber wohl auch einig. Meine Damen und Herren, dieser Bundesverkehrsminister hätte einen guten Start haben können, ({9}) wenn er sich so an die Arbeit gemacht hätte, daß wirklich ein Neubeginn der gesamten Verkehrspolitik erkennbar würde und die einzelnen Maßnahmen in ein Zukunftsprojekt hineinpassen würden. Aber leider fällt Herr Krause zurück in die Hauruck-Politik des kurzfristigen Aktivismus und duldet keine Kritik. ({10}) Just an dem Tag - ich bin sofort fertig, Herr Präsident -, als wir im Haushaltsausschuß den Personaletat beraten haben, nämlich am 23. Mai, konnten wir der Zeitung entnehmen, daß der Abteilungsleiter für Straßenbau, Stoll, und der Abteilungsleiter für Straßenverkehr, Dr. Nau, geschaßt wurden. Sie waren wohl einerseits mit den von Herrn Krause vorgeschlagenen Promille-Regelungen im Straßenverkehrsrecht und andererseits mit dem planungsrechtlichen Kahlschlag beim Straßenbau nicht einverstanden. Private Planungsgesellschaften, private Trassenfinanzierung auf Leasing-Basis, Maßnahmen- und Beschleunigungsgesetze - dies alles weckt unser Mißtrauen in die Regierungskunst des amtierenden Bundeskabinetts und veranlaßt uns, den Etat des Bundesverkehrsministers abzulehnen. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Bohlsen.

Wilfried Bohlsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000231, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Verkehrsetat steht, so meine ich, vor der größten Herausforderung seit der Nachkriegzeit. Wir haben im Verkehrsbereich den höchsten Investitionsbedarf. Eine Klausurtagung der Arbeitsgruppe Verkehr der CDU/ CSU-Fraktion hat gerade noch einmal deutlich geWilfried Bohlsen macht, welch erheblicher Bedarf bis zum Jahre 2000 ansteht. Durch die Teilung bedingt ist der Ausbau der Ost-West-Verbindung beiderseits vernachlässigt worden. Da nicht alles sofort finanziert werden kann, denkt man natürlich auch über Leasing-Modelle nach. Aber die Verfahren beim Bau von Verkehrseinrichtungen müßten beschleunigt werden. Hier spreche ich den Kollegen Waltemathe an: Wir alle wissen, wie groß und wie schnell gebaut werden müßte. Leider versagt sich die SPD-Fraktion hier eine Möglichkeit. Ich bitte hier aber um eine Zusammenarbeit - gerade das ist das Ansinnen des Ministers -, damit wir zu einer schnellen Umsetzung kommen. Ich bitte um die Unterstützung all derer, die Verantwortung tragen: Wir müssen schnell umsetzen können, um Verkehrsengpässe zu beseitigen. ({0}) 40 Jahre Kommunismus hinterlassen uns Fernstraßen in den neuen Bundesländern in einem schlechten Zustand, wenig ausgebaute Binnenwasserstraßen und eine sanierungsbedürftige Reichsbahn. Mit diesem Erbe müssen wir jetzt leben. Ich will die Zahlen noch einmal kurz in Erinnerung rufen; denn 35,5 Milliarden DM sind doch immerhin ein Volumen in unserem Haushalt, das deutlich macht, wie die Schwerpunkte, wie die Prioritäten gesetzt werden. Wenn Sie dann noch Einzelplan 60 mit dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost hinzudenken, wird deutlich, welches Volumen hier angesetzt wird. Die Beratungen im Haushaltsausschuß haben dazu geführt, daß wir einige, aber doch wesentliche Veränderungen gegenüber dem Regierungsentwurf vorgenommen haben. Lassen Sie mich auf einige wenige eingehen. Ich beginne bei dem, was Kollege Waltemathe auch schon angesprochen hat, nämlich bei den Finanzbeiträgen. Zunächst waren in dem neuen Regierungsentwurf keine Ansätze getätigt. Wir meinten, daß dies - da waren wir uns auch mit den Berichterstattern der anderen Fraktionen einig - zu reparieren sei. Ich darf es als einen großen Erfolg verbuchen, daß es gelungen ist, von einer Null-Summe wieder auf einen Ansatz zu kommen. Das war sehr wichtig und hätte bei den Seeschiffahrtsunternehmen sicherlich sonst zu negativen Auswirkungen sowohl bei der Beschäftigung wie auch bei der Ausbildung der Seeleute führen können. Es mußte also die vollständige Streichung verhindert werden. Wenn es uns nunmehr im Haushalt 1991 mit 80 Millionen DM und im Folgejahr durch Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 50 Millionen DM gelungen ist, die Ansätze entsprechend einzubringen, so haben wir doch dem Gewerbe signalisiert, daß für die dann folgenden Jahre weitere Beträge nicht fließen sollen. Das haben wir vorher deutlich gesagt; darauf kann sich das Gewerbe einstellen. Hier sehen wir auch noch einmal die Zusammenhänge eines Subventionsabbaus: im letzten Jahr fast noch 140 Millionen DM, in diesem Jahr runter auf 80 Millionen DM und im Folgejahr runter auf 50 Millionen DM. Wir sehen hier einen deutlichen Abbau. Hier baue ich die Brücke zum Subventionsabbau. Ich will den Bundeswirtschaftsminister nachdrücklich unterstützen, wenn er sagt: Wir müssen an die Sachen herangehen. Wir haben das ja im Haushaltsausschuß mit diesem Beschluß schon eingebracht. ({1}) Ich will noch einmal deutlich machen - das sage ich auch als Vorsitzender des Gesprächskreises Küste unserer Fraktion - , daß wir auch im Bereich der Schiffbauförderung ähnliche Wege gegangen sind. Wenn wir einige Jahre zurückdenken, nämlich an die große Krise, wo wir den Schiffbau bis zu 20 % gefördert haben, sehen wir heute eine Herabstufung auf 16 %, auf 14 %, auf 12,5 %, auf nunmehr 9,5 % Förderung. Wir sehen deutlich die Kurve nach unten, und zwar mit dem Hinweis an das Gewerbe, weiter nach unten fahren zu wollen. Das ist der Weg, den wir gegangen sind und den wir weiterhin gehen sollten. Lassen Sie mich jetzt zwei Maßnahmen ansprechen, die wir im Binnenschiffahrtsbereich zusätzlich hineingenommen haben. Einmal ist es die Mosel und zum anderen ist es die Ems-Vertiefung, für die wir beide einen Ansatz eingebracht haben. Hierzu weise ich noch einmal auf eine Problematik hin, die wir deutlich sehen. ({2}) - Ja, aber wir haben es drin. Ich wollte es nur noch einmal deutlich machen. Insofern sind wir einigen Wünschen der Regionen auch sehr deutlich nachgekommen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?

Wilfried Bohlsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000231, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich. Das ist ein Kollege aus dem Haushaltsausschuß.

Helmut Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002501, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bohlsen, der Präsident hat mich sehr lange übersehen, so daß Sie nicht mehr bei dem Thema sind, das ich ansprechen möchte. Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob Sie nicht glauben, daß die Subventionsgabe an die deutsche Seeschiffahrt und an die deutschen Werften eigentlich mustergültig ist - wenn man überhaupt von mustergültigen Subventionen reden kann - und daß wir ihr damit ermöglicht haben, die Anpassung ihrer Kapazitäten und ihrer Belegschaft in so weicher Form vorzunehmen, wie es eben geht. Ferner möchte ich Sie fragen, ob Sie glauben, daß dieser Anpassungsvorgang schon zu Ende ist.

Wilfried Bohlsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000231, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage Ihnen nicht, daß der Anpassungsvorgang zu Ende ist. Wir können diesen Subventionsabbau nicht allein auf nationaler Ebene betreiben. Sie werden mir zugeben, daß dies nur im internationalen Verbund geht; denn diese Werftbetriebe und Seeschiffahrtsbetriebe stehen in einer direkten Konkurrenz zu europäischen Partnern. Ich möchte Ihre Frage daher mit der Bitte an den Bundeswirtschaftsminister verbinden, auf die europäischen Nachbarn dahin gehend einzuwirken, daß dieser Subventionsabb au überall gleichermaßen ge2166 schieht. Nur wenn das möglich ist, können wir später auch einmal auf Null fahren. ({0}) Ich hatte eben noch einmal auf die Ems-Vertiefung hingewiesen. Ich möchte dazu noch ganz deutlich sagen - das richte ich auch an die Kollegen aus Niedersachsen - , daß es hierbei keinen Konsens mit der niedersächischen Landesregierung gibt. Dies will ich noch einmal deutlich machen. Die Redezeit erlaubt es mir nicht, noch einmal zu vertiefen, was der Kanzleramtsminister Seiters anläßlich der Eröffnung der JanBerghaus-Brücke in Leer dazu gesagt hat. Er hat dort noch einmal deutlich gemacht, daß es dann, wenn das Land Niedersachsen nicht bereit ist, diese Maßnahme in dem Umfang, in dem es der Bund möchte, zu tragen, nicht zum Vollzug kommen wird. Ich bitte also die niedersächsischen SPD-Kollegen, insbesondere die im Haushaltsausschuß, die diesen Beschluß mitgetragen haben, auf die rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen einzuwirken mit dem Ziel, daß diese ihren Ems-Kurs doch ein wenig verändert. So, wie er jetzt ist, führt er in eine Richtung, bei der Arbeitsplätze an der Küste vernichtet werden. Ein wesentlicher Punkt - jetzt komme ich zum Fernstraßenbau - war bei unseren Beratungen eben dieser Bezug. Auf der Ausgabenseite sehen wir natürlich, daß vieles abzudecken ist. Wir bekommen nach dem Regierungsentwurf Finanzierungsschwierigkeiten in den alten Bundesländern dadurch, daß wir 1 Milliarde DM von den Altländern in die Neuländer umlenken. Zunächst hat der Haushaltsausschuß auch hier einvernehmlich den bisher vorgesehenen Haushaltsvermerk neu gefaßt - hierauf möchte ich deutlich hinweisen -, so daß die Haushaltsmittel, die im Jahre 1991 in den neuen Bundesländern nicht benötigt werden, auf dem Gebiet der Altländer eingesetzt werden können, dort aber in den Folgejahren nicht eingespart werden müssen. Ich weise auch darauf hin, daß im Einzelplan 12 - das ist der Bereich des Bundesfernstraßenbaus - und im Einzelplan 60 - hier verweise ich noch einmal auf das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost - weitere Verpflichtungsermächtigungen von je 500 Millionen DM ausgebracht sind. Mit diesen Verpflichtungsermächtigungen von insgesamt 1 Milliarde DM wird es möglich, Haushaltsmittel in einer Größenordnung von 500 Millionen DM von den Neuländern auf die Altländer umzuschichten, ohne daß wir die Höhe des Vergabevolumens in irgendeiner Weise schmälern. Zum Bundesfernstraßenbau möchte ich noch auf die Schaffung einer haushaltsrechtlichen Voraussetzung hinweisen, mit der bei der beschleunigten Verwirklichung von Straßenbauprojekten in den neuen Ländern ganz neue Wege beschritten werden. Ich nenne hier die Bildung der Planungsgesellschaften. Da der Minister in dieser Runde ist, möchte ich in diesem Zusammenhang eine Bitte aussprechen: Wenn man durch die schöne Landschaft der neuen Bundesländer fährt, sieht man wunderschöne Alleen. Wir haben in den alten Bundesländern vor zehn oder 20 Jahren gesündigt, indem viel Baumbestand geopfert wurde. ({1}) Ich bitte nachdrücklich darum, daß sich die Fehler, die bei uns gemacht worden sind, dort nicht wiederholen. Mein dringender Appell: Erhalten Sie die schönen Alleen in den neuen Bundesländern. ({2}) Im Bereich der Luftfahrt - auch hier eine Haushaltsveränderung gegenüber dem Regierungsentwurf - will ich ansprechen, daß die Gewinne aus den Beteiligungen um 55 Millionen DM zurückgeführt werden mußten, da seitens der Lufthansa auf Grund der bekannten zurückliegenden internationalen Zusammenhänge keine Dividende an die Aktionäre gezahlt wurde. Für 1991 werden nach dem Verlauf der ersten Monate auch die großen Luftverkehrsgesellschaften weiter mit sehr schwierigen Marktverhältnissen kämpfen müssen. Bezogen auf den Luftraum Berlin sind eine bessere Koordinierung und eine bessere Nutzung der vorhandenen Kapazitäten der Verkehrsflughäfen dringend notwendig. Dies soll über eine Holdinggesellschaft erreicht werden. Gesellschafter sind hier neben Berlin und dem Land Brandenburg auch der Bund mit einem Anteil von 26 %. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz ansprechen; denn auch hier gab es einige Änderungen. Die Mittel nach dem Gesetz zur Verbesserung der Verhältnisse in den Gemeinden wurden ja durch die Einigungsvertragsgesetze bereits im Jahre 1990 von 2,6 Milliarden DM um 680 Millionen DM für die Neuländer auf insgesamt 3,28 Milliarden DM erhöht. Durch das Haushaltsbegleitgesetz sollen in den fünf neuen Bundesländern die Maßnahmen im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes auf Fördersätze in Höhe von 100 % angehoben werden. Das heißt, die neuen Bundesländer brauchen keine Komplementärmittel einzubringen. Ausgenommen haben wir hier lediglich die Bezuschussung der Omnibusse in dieser Höhe. Mir verbleiben noch einige Minuten, um zur Reichsbahn und Bundesbahn einige Worte zu sagen, ({3}) - Ich werde ihn gleich mit einfangen, verehrter Herr Kollege. ({4}) Hierzu haben die Koalitionsfraktionen einen Entschließungsantrag eingebracht, wonach zur Zusammenlegung der beiden deutschen Bahnen bis zum Sommer ein verbindliches Konzept vorzulegen ist. Die Bundesregierung soll die Fusion so beschleunigt in Angriff nehmen, daß der Aufbau von unnötigen Doppelfunktionen vermieden wird und der optimale Einsatz der Mittel für die Infrastruktur, aber auch für das rollende Material bei der Bahn sichergestellt ist. Wir bitten Sie, Herr Bundesminister, in diesem Entschließungsantrag auch um Unterstützung bei der Durchführung dieser Zusammensetzung. ({5}) Lassen Sie mich auch den Punkt der Jugendarbeitslosigkeit ansprechen. Hier haben wir mit Blick auf die Reichsbahn einen sehr wesentlichen Beschluß gefaßt. Um der Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern zu begegnen, sind der Reichsbahn weitere Mittel bereitgestellt worden, um über die schon vorgesehenen 2 200 Auszubildenden hinaus weitere 500 auszubilden, d. h. über den Bedarf hinaus. Hier schaffen wir Möglichkeiten, um der hohen Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern abzuhelfen. ({6}) Da wir die Reichsbahn angesprochen haben und Sie, verehrter Herr Kollege, mir gerade das Stichwort für die Bundesbahn geliefert haben, will ich doch darauf eingehen. Daß wir bei der Bundesbahn Sorgen haben, verhehle ich nicht. Das ist uns aus den langen Beratungen bekannt. Aber dennoch will ich auf den Fahrplanwechsel hinweisen, der am letzten Sonntag stattgefunden hat. Ich will sagen: Das Hochgeschwindigkeitszeitalter der Bundesbahn hat begonnen. ({7}) Sicherlich hat er noch einige Anfangsschwierigkeiten. Die Türen gehen nicht immer wunschgemäß zu oder auf. Aber ich glaube, das läßt sich beheben. Ich will zumindest sagen: Der Intercity-Express ist auf die Strecke gegangen. ({8}) Damit ist für die Deutsche Bundesbahn ein jahrzehntelanger Traum in Erfüllung gegangen. Zum Start ihrer Superzüge - jetzt sollten Sie sich daran erinnern, was an Investitionsmitteln geflossen ist - haben wir immerhin 15 Milliarden DM in die Strecken investiert. ({9}) Eine schöne Zeile aus der heutigen Tagespresse war die: „Schnell und bequem direkt aus der City in das Zentrum des Ziels. " Das ist die Deutsche Bundesbahn. ({10}) Lassen Sie mich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß kommen. Mit meinen Ausführungen, so glaube ich, habe ich deutlich gemacht, daß die Bundesregierung den Verkehrshaushalt insgesamt gesehen richtig dotiert und aufgabengerecht erstellt hat. Die von uns vorgenommenen Anpassungen und Änderungen zeigen aber auch, daß wir - damit meine ich das gesamte Parlament - unsere Funktion als Legislative sehr ernst genommen haben. Die Anpassungen beinhalten auch eine Weichenstellung für die Ausgabenpolitik der nächsten Jahre. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wird dem Verkehrshaushalt in der vorgeschlagenen Form selbstverständlich unsere Zustimmung geben. Ich darf mich bei dem Herrn Minister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses recht herzlich für die Zusammenarbeit bedanken. In diesen Dank schließe ich auch den Dank für die gute Zusammenarbeit mit den anderen Berichterstattern mit ein. Vielen Dank. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Feige.

Dr. Klaus Dieter Feige (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000523, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn jemand behaupten würde, daß der von Bundesminister Krause vorgelegte Entwurf eines Beschleunigungsgesetzes bzw. die Überlegung für ein Maßnahmegesetz direkt aus der Feder der westdeutschen Autolobby geflossen sei, so könnte ich dem nur schwerlich widersprechen. ({0}) Diese Gesetzesvorhaben platzen nun genau in die Pause zwischen der ersten und zweiten Lesung des Haushaltes. Man erkennt die Zusammenhänge und ist verstimmt. Es muß schon einiges passieren, um einen Mecklenburger aus der Ruhe zu bringen. Aber irgendwann ist es einmal soweit. Die geplanten Gesetzesvorhaben zum Verkehrswegeaufbau in dieser Form stellen eine offene Kriegserklärung an Natur und Umwelt sowie an eine demokratische und bürgernahe Verkehrspolitik dar. ({1}) - Ich habe das in Ruhe gelesen, ausführlich. Mit diesen Gesetzen aus dem Verkehrsministerium sollen dreißig Jahre Fortschritt im Umwelt- und Planungsrecht der alten Bundesländer zurückgedreht werden. Für diesen Fortschritt, für diese Rechte haben im Herbst 1989 Seite an Seite mit mir auch Christdemokraten gestritten. ({2}) Die GRÜNEN und die Bürger-und-Bürgerinnen-Bewegung in den neuen und alten Bundesländern werden diese Rolle rückwärts in die 50er Jahre nicht mitmachen. So habe ich auch die Sozialdemokraten verstanden. Wir lehnen die vorliegenden Gesetzesvorhaben entschieden ab. Gerade gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern hat die Politik nämlich eine besondere Verantwortung. Dort gibt es bisher kaum Erfahrungen mit Planfeststellungsverfahren und öffentlicher Beteiligung an der Gestaltung des Lebensumfeldes. Die umfassende Sicherung der Beteiligung aller Betroffenen muß deshalb Anliegen aller Parteien, Fraktionen und Ministerien sein. Das ist ein Rechtsstaat. Wir sind nicht gegen die Beschleunigung oder gegen neue Straßen oder gegen sinnvolle Projekte, aber es darf einfach nicht sein, daß ein zentralistischer Politstil aus der früheren DDR durch den jetzigen Verkehrsminister Krause in Bonn fortgesetzt wird. ({3}) - Das ist eine Forderung. - Oft genug sind die Natur- und Umweltfreunde in der DDR vor 1989 einfach nur ausgelacht oder als Narren bezeichnet worden. Dieses Spiel soll jetzt weitergehen. ({4}) Die zeitgleiche Vorlage einer Gesetzesinitiative aus Bayern im Bundesrat signalisiert zudem: Es geht gar nicht um die Beseitigung der Mängel der Infrastruktur in Ostdeutschland, sondern um das Niederwalzen des Planungsrechts, um Demokratieabbau bei Genehmigungsverfahren überhaupt. ({5}) - Genau darum geht es. Das sind die ersten Wege, die vorbereitet werden. Unter Angleichung der Lebensverhältnisse wird offenbar der Tausch westlicher Konsumpraxis gegen die stalinistische Rechtspraxis der ehemaligen DDR verstanden. ({6}) Diese Rechnung haben Sie allerdings ohne die Menschen in diesem Land gemacht. Immerhin ist die Regierung dabei, in Windeseile eine neue Vorreiterrolle in der EG zu übernehmen, nämlich Spitzenreiter bei Verstößen gegen Umweltrichtlinien zu sein. Die Umweltverträglichkeitsprüfung, vor nicht allzu langer Zeit vom Kollegen Töpfer als der Königsweg der Umweltpolitik gepriesen, soll zwar formal beibehalten, praktisch aber abgeschafft werden, noch bevor sie überhaupt erprobt worden ist. Vor allem das unbestrittene Herzstück der UVP, die frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung, wird mit einem Federstrich beiseite gefegt. Und der Umweltminister? Er schweigt nicht nur - was schlimm genug wäre - , er nimmt nicht nur billigend in Kauf, nein, er selbst betreibt an vorderster Front den Abbau des Umwelt- und Naturschutzes. Dem Bundesumweltminister gebührt die zweifelhafte Ehre, diese skandalösen, undemokratischen und wohl auch verfassungswidrigen Gesetzesvorhaben als erster öffentlich gefordert zu haben. Meine Damen und Herren, von den allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach § 20 des UVP-Gesetzes, die für die Behörden den Ablauf des Verfahrens festlegen sollen, ist dagegen seit langem nichts mehr zu hören, obwohl sie seit Ende vergangenen Jahres unterschriftsreif vorliegen. Der Wirtschaftsaufschwung muß als weiteres Scheinargument für die Beschleunigungs- und Maßnahmegesetze herhalten. „Straßenbau schafft Arbeitsplätze" - nach diesem Motto aus den 30er Jahren soll die Wirtschaft Ostdeutschlands angekurbelt werden. Wer sich nur ein bißchen mit dieser Problematik beschäftigt hat, weiß, daß der Ausbau von Autobahnen zwischen den Zentren des Westens und den ostdeutschen Bundesländern mitnichten zu einem Aufschwung im Osten führen wird, sondern nur die Absatzbedingungen für Westproduktionen verbessert. Genau das Gegenteil von Dr. Krauses Behauptungen wird dann eintreten. ({7}) - Auch Sie wohnen doch auch da; Sie werden das schon selber noch erleben. Nun höre ich immer wieder die Worte des Bundesverkehrsministers, er sei für den vorrangigen Ausbau des Schienenverkehrs und des öffentlichen Personennahverkehrs. Es bleibt die Frage, warum dann so wenig geschieht. Die heutige Rechtslage hindert doch niemanden, die Reichsbahn zu modernisieren, konkurrenzfähig und attraktiv zu machen. Sie hätten längst beginnen können. ({8}) Die Praxis sieht jedoch ganz anders aus. Das Schienennetz der Deutschen Reichsbahn soll, getreu dem unsäglichen Vorbild der Bundesbahn, auf weniger als die Hälfte geschrumpft werden. Im Osten gibt es das dichteste Schienennetz in ganz Europa. Eisenbahn in der Fläche soll es nicht mehr geben, sondern nur noch Fernverbindungen. 60 000 Reichsbahner werden noch in diesem Jahr ihren Arbeitsplatz verlieren. Auch der Fahrplanabbau hat inzwischen begonnen. Bei der Sichtung der Verbindungen von Rostock nach Berlin - auch dort haben wir ab und zu Bundestagssitzungen - ist mir das sehr bewußt geworden. Von zwei Zügen frühmorgens blieb einer. Akzeptiert, wenn der Bedarf nicht da ist. Aber daß dieser Zug wesentlich länger braucht und so spät losfährt, daß Bundestagssitzungen, wenn ich sie mit dem Zug rechtzeitig erreichen will, erst um 11 Uhr beginnen können, erscheint mir insgesamt und auch für viele, die in Berlin zu tun haben werden, einfach unvorstellbar. Die Vorbereitungen zur Planung für die Nordautobahn nach Szczecin dagegen konnten nicht schnell genug begonnen werden. Für diese Planungsvorbereitungen - man höre und staune - begannen die ersten Erkundungsmaßnahmen bereits im August vergangenen Jahres, also noch in DDR-Zeiten. Das ist der Unterschied zwischen Sonntagsreden und Praxis. Dabei könnte eine konsequente Bahnpolitik in Ost und West auch eine effektive Möglichkeit für die Förderung der Wirtschaftsentwicklung in den neuen Ländern darstellen. Während die Kapazität der Automobilkonzerne West allemal ausreicht, um den Osten mit zu versorgen, besteht für den Bau von Reisezugwagen, Dieseltriebwagen und Lokomotiven auch im Westen ein Engpaß. Die Produktion solcher Güter in den neuen Ländern und ein umfassendes Sanierungskonzept für die Schienen bzw. die Betriebsleittechnik würden tatsächlich dauerhafte Arbeitsplätze schaffen. Hier müßte der Bund technologische, finanzielle und administrative Hilfestellung leisten. Die Beschleunigungs- und Maßnahmegesetze können im übrigen nicht einmal ihren selbstgesteckten Ansprüchen, nämlich Vorhaben schneller zu verwirklichen, genügen. Es müßte doch bekannt sein, daß Zeitverluste während der Voruntersuchungen in einer Größenordnung von 60 bis 70 %, beim Raumordnungsverfahren bei 50 %, im eigentlichen Genehmigungsverfahren bzw. bei gerichtlichen Auseinandersetzungen aber jeweils nur bei 20 % liegen. Zeitverzögerungen entstehen in erster Linie durch ineffizientes Verwaltungshandeln, durch systemlose Parallelplanung und durch eine Administration, für die vielerorts die Begriffe Umwelt- und Naturschutz Fremdworte sind. Es ist gerade dem mühevollen Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger zu verdanken, daß schlampige Planungen noch rechtzeitig korrigiert werden konnten. Diesen Menschen gebührt unser Respekt und unsere Anerkennung. ({9}) - Ich habe es selber mitgemacht. Wer Verfahren tatsächlich beschleunigen will, muß die Öffentlichkeit frühzeitiger beteiligen und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger sowie der Umweltverbände stärken. Das sind Erfahrungen aus dem Frühjahr 1990. Da funktionierte das mit Christdemokraten zusammen. Ihr Vorhaben erinnert mich daran, daß man nicht etwa den Sand aus dem Getriebe eines Zuges herausnehmen will, sondern einfach nur die Notbremse abbauen möchte. Oder bezüglich der Beschleunigungsgesetze: daß bei dichtem Nebel auf der Strecke jetzt 130 km/h zur Mindestgeschwindigkeit gemacht werden soll. Wer die Öffentlichkeit als lästig abtut, muß sich dem Verdacht aussetzen, daß es ihm nicht um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern schlicht und ergreifend um eine Verbesserung der Absatzverhältnisse der Automobilkonzerne geht. „Ich fahre gern Auto" - mit diesem Werbespruch aus der Zentrale eines großen westdeutschen Automobilkonzerns auf den Lippen will uns unser autofanatischer Minister geradewegs in den kollektiven Verkehrskollaps treiben. ({10}) Kaum haben die Menschen in den neuen Ländern ihre politischen Fesseln abgeworfen, da will uns Herr Krause in Autos einsperren, auf das wir im Stau Gelegenheit haben, über unsere neugewonnene Mobilität nachzudenken. ({11}) Aber es ist ja nicht allein der jetzige Bundesverkehrsminister, der das Verkehrsdebakel zu verantworten hat - siehe Ruhrgebiet. In den letzten 30 Jahren gab es in der Bundesrepublik keinerlei Verkehrswegeplanung, kein verkehrspolitisches Konzept, sondern lediglich ein planloses und beliebiges Nebeneinander. ({12}) - Da gibt es sehr kluge Leute; Sie werden staunen. Ich weiß nicht, woher Sie kommen. ({13}) - Ich genieße das. Auch über meinen Namen, meine Damen und Herren Kollegen, sind längst alle Witze gemacht worden, als das das einen Mecklenburger aus der Ruhe bringt. Die sogenannte Verkehrspolitik der Bundesregierung beschränkt sich auf ein einfaches Strickmuster: mehr Autos, mehr Staus, mehr Straßen, noch mehr Autos, und die nächsten Kollapse und der Totalstau sind vorbereitet. Die Folgen dieser Politik, aber auch die Alternativen waren vor einigen Tagen in einer beispielhaften Sendung im ZDF zu sehen. Ich befürchte allerdings, daß der Bundesverkehrsminister auch daraus keine Lehren ziehen wird Alles in allem erinnert der besserwisserische Führungsstil im Verkehrsministerium an eine außer Kontrolle geratene Dampfwalze. Erstes Opfer wurde - wie im „Spiegel" zu lesen war, und ich habe es auch heute noch einmal gehört - der Leiter der Abteilung Straßenbau in seinem Hause, der in den vergangenen Monaten rechtliche Bedenken gegen die Beschleunigungs- und Maßnahmengesetze vorgetragen hatte. Er monierte u. a. Qualitätsmängel durch zu große Hast, warnte vor freihändiger Vergabe von Milliarden-Aufträgen und beschwor die Gefahr von Mauscheleien. Doch für den Bundesminister waren das nur Mäkeleien eines pingeligen und bedächtigen Beamten. Folge: Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Wie stark Dr. Krause noch in den Kategorien einer vergangenen Zeit denkt, zeigt die Antwort auf die Frage, was denn sei, wenn Ostbürgermeister und -landräte gegen Straßentrassen protestierten und demonstrierten. Originalton von Dr. Krause laut „Spiegel"-Information: „Dann ist das Sache der Polizei." Ich glaube, nichts zeigt deutlicher, daß dieser Minister der Verantwortung seines Amtes nicht gewachsen ist. Schönen Dank. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Zywietz.

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stimmung scheint gut zu sein. Der letzte Redebeitrag hat - allerdings in unangenehmer Weise - auch dazu beigetragen, muß ich sagen. Sie haben, Herr Kollege, viel und schnell gelesen und wenig ausgesagt. Das war Ihr gutes Recht. Aber ich stelle fest: Gut ist, daß Sie keine Verantwortung zu tragen haben; ({0}) denn mit diesem ideologisierten Zerrbild vor Augen und angesichts dieser Unwahrheiten, Ihrem Umgang mit Zahlen, die Sie offensichtlich nicht in eine logische Reihe und damit zu richtigen Schlußfolgerungen bringen konnten, müssen Sie weit weg von jeder verkehrspolitischen Verantwortung gehalten werden. ({1}) Faktum ist doch eins. Die deutsche Einheit hat viel verändert. Wir haben uns vorgenommen, in dieser Legislaturperiode insbesondere die Lebensverhältnisse der Bürger in den neuen Bundesländern zu verbessern. Dieser Verkehrsetat wird dem voll gerecht. Die Ausweitung des Volumens dieses Etats von rund 24 Milliarden DM auf 36 Milliarden DM ist typisch. Er ist gekennzeichnet durch eine breit angelegte Akzentverlagerung von West-Maßnahmen - wenn ich das noch so in dem alten Vokabular sagen darf - auf Ost-Maßnahmen. Die Gewichtung der Verkehrsträger untereinander zeigt doch keinen Straßen- oder Autofetischismus, sondern Straße, Bahn, Luftverkehr und Wasserstraße finden sich in diesem Einzelplan wieder. Sie scheinen ihn gar nicht angeschaut zu haben, weil Sie nur Ihre Vorurteile absondern wollten. ({2}) Wir bemühen uns insbesondere, daß für die Bürger, die durch ihren politischen Mut Reisefreiheit erlangt haben, auch die Reiserealitäten, die Wege, auf denen sie zueinander kommen können, besser werden. ({3}) Das ist der Duktus des Verkehrsetats. Dieser Duktus ist auch Ausdruck der Erkenntnis, daß nur über eine gute Verkehrsinfrastruktur auch ein wirtschaftlicher Aufschwung und damit bessere Lebensverhältnisse hergestellt werden können. ({4}) Genau deswegen die geldliche Ausweitung dieses Etats. Fangen wir doch nicht an, jetzt das Bemühen um eine Beschleunigung, die vonnöten ist, wenn wir die Lebensverhältnisse zum Positiven verändern wollen, so zu diskriminieren. Ich gebe zu: Man kann auch über das Ziel hinausschießen. Die Gefahr mag bestehen. Aber wir im Deutschen Bundestag sind alle erwachsen und verantwortungsbewußt genug, um das zu verhindern. Der Kernpunkt ist doch: Wir können doch nicht zwei Tage lang Debatten führen, in denen wir sagen, insbesondere in den neuen Bundesländern müßten in dieser Legislaturperiode die realen Lebensverhältnisse verändert werden, und dann Geld einsetzen, ohne daß wir wissen, wie dieses Ziel umgesetzt werden soll. 50 % der Mittel dieses Etats müssen in Investitionen umgesetzt werden. ({5}) Darin liegt doch die Chance dieses Etats. Das muß gemanagt, das muß zueinandergebracht, da muß geplant werden. Wir können diesen neuen Herausforderungen und Problemen nicht mit der Methode - vielleicht sogar mit der luxuriösen Methode - , nach der wir hier in der Altbundesrepublik vorgegangen sind, begegnen. Das ist doch wohl das erste Gebot der Stunde! Da sollten wir uns nicht diffamieren, wie Sie es getan haben. In verschiedenen Zeitungen ist, wie ich gelesen habe, nicht von einem Beschleunigungsgesetz, sondern von einem Ermächtigungsgesetz geschrieben worden. An dieser Stelle hört bei mir alle Toleranz auf. ({6}) Dem, der so dumm ist, daß er nicht weiß, was ein Ermächtigungsgesetz ist, oder so dummdreist ist, ein Beschleunigungsgesetz damit zu vergleichen, muß man ganz klar entgegentreten. Wir wollen beschleunigen; das ist richtig, das muß sein. Das kann man durch Fristenverkürzung machen, ohne daß man um elementare Rechte gebracht wird. Das kann man durch bessere Organisation, durch mehr Mitteleinsatz für ein schnelleres Planen machen. Und das kann man auch machen, obwohl das ein sensibler Bereich ist. Wenn Bürger nicht mehr unmittelbar zu Wort kommen können ({7}) - nicht „aha" - , dann sind wir als Parlament da. Was sind wir denn? Gewählt von den Bürgern für die Bürger. ({8}) Dann müssen wir uns an die eigene Brust klopfen und unsere Verantwortung hier verstärkt wahrnehmen. Ich möchte nicht, daß nur die Exekutive handelt, sondern wenn es einzelne Maßnahmen gibt, die wir für richtig befinden, dann müssen wir als Demokraten - egal, in welcher Partei - genug Courage haben, uns um die Projekte bekümmern und eine größere Verantwortung als in der Vergangenheit auf uns nehmen. Nur das kann die Konsequenz dieses ganzen Vorgehens sein. Der Sinn dieser ganzen Angelegenheit liegt darin, daß wir unseren Mitbürgern schneller helfen wollen, daß wir die realen, offensichtlich nicht hinreichenden Zustände schneller verbessern hellen. Das ist eine Gratwanderung. Aber der Mut, schneller voranzukommen, effektiver zu sein, ist zu begrüßen. Dabei haben wir die anderen, negativen Aspekte mit im Auge und werden sie schon zu verhindern wissen. Ein Wort nur noch zur Bahn; denn die Zeit, die einem hier in diesen Debatten in diesem kleinen, sympathischen Kreis unter Ausschluß einer größeren Offentlichkeit verbleibt, ist sehr knapp bemessen. Man kann über den Verkehrsetat von 36 Milliarden DM nicht sprechen, ohne ein paar Anmerkungen zur Bahn - zur Bundesbahn und zur Reichsbahn, hoffentlich bald zu einer einheitlichen Bahn - zu machen; denn 20 Milliarden DM von 36 Milliarden DM sind eben ein Riesenhappen. Ich habe mich, um das einmal voranzustellen, über die ICE-Aktivitäten gefreut, die hier erwähnt worden sind. Aber es gab auch warnende Stimmen. Wir haben jetzt einen neuen Präsidenten, einen Manager aus der sogenannten freien Wirtschaft, bei der Deutschen Bundesbahn, und wir haben einen hervorragenden Aufsichtsratsvorsitzenden, einen Ex-Minister, einen erfahrenen Politiker bei der Reichsbahn; alles - auch von der Couleur her betrachtet - wunderbare Voraussetzungen dafür, daß die Zahlen angesichts dieses versammelten Expertentums in Zukunft nicht mehr so rot, sondern hoffentlich bald schwärzer oder ganz schwarz geschrieben werden. ({9}) Wir wollen jedenfalls die Unterstützung dafür geben. Nur sage ich auch: Bei allem Vertrauensvorschuß hinsichtlich der Qualität und der Vorgehensweise, den ich gerade dem Präsidenten Dürr entgegenbringe, ist mir schon aufgefallen, daß da irgend etwas noch nicht ganz in der inneren Balance zu sein scheint, wenn ich so lese: Wenn die Bahn eine Behörde bleibt, bin ich der falsche Mann. - Nun gut, wir wollen dem Herrn Präsidenten ja helfen. Aber ich hoffe, er ist nicht zwangsverpflichtet worden, sondern hat freiwillig einen Vertrag geschlossen. Er muß ja wissen, wo er sich beworben und einen Vertrag geschlossen hat. Aber wir wollen ihn in seinem Bemühen unterstützen, daß die Bundesbahn und auch die Reichsbahn unternehmerischer werden. Das wollen wir, aber nicht nur in der Kalkulation, sondern auch real, mit den Strecken und mit dem Betrieb, so daß Wettbewerb herrschen und man auch teilprivatisieren kann, wenn es denn sinnvoll ist. ({10}) Das ist doch die Schlußfolgerung aus dieser Vorgehensweise, die wir aus der Sicht der FDP für richtig halten. Aber wenn der Herr Präsident sagt, bei einer Behörde sei er der falsche Mann: Erst einmal ist er ja noch bei einer Behörde. Aber auch da kann man, wenn ich es richtig verstehe, ökonomische Prinzipien besser in Ansatz bringen, d. h. Ziele mit geringstmöglichem Mitteleinsatz erreichen oder mit vorhandenen Mitteln das bestmögliche Ergebnis erzielen. Mit diesem ökonomischen Prinzip möge er es bitte ernst nehmen, auch solange es noch eine Behörde ist. Dabei, daß das ein Unternehmen wird, wollen wir ihm helfen. Regelrecht geärgert - das sage ich von dieser Stelle aus - hat mich ein Spruch wie: Die Eisenbahn darf nicht das Spielzeug der Politiker bleiben. Nun, ich bin kein Weißmacher und meine, daß auch in dem politischen Bereich Fehler gemacht worden sind. Aber das Wissen oder Nichtwissen ist zwischen Wirtschaftlern und Politikern nicht so verteilt, daß die einen alles wissen und richtig machen und die anderen alles dumme Personen sind. Eine gutgemeinte Kooperation sollten wir nicht so, sondern mit besserem gegenseitigem Respekt anfangen. Dann wird es gelingen, daß die Vorhaben der Bahnstrukturreform - für die FDP war der Kollege Kohn ja hier lange Zeit treibende Kraft - ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Zywietz, erfreulicherweise benutzen Sie das Pult nicht als Lesepult, sondern als Rednerpult. Wenn Sie sich schon der freien Rede bedienen, dürfte es Ihnen auch nicht allzu schwer fallen, zeitgemäß zum Schluß zu kommen. ({0})

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, diesen listig-sympathischen Hinweis habe ich hier schon einmal erlebt; ({0}) aber wir werden es schon machen, Herr Präsident. ({1}) Und was mir an Sachausführungen heute nicht gelingt, werde ich bei anderer Gelegenheit anzubringen versuchen. Wir sind guter Dinge und unterstützen all die Minister, Aufsichtsräte und Präsidenten, die guten Willens sind, die Defizitwerte der Bahn abzubauen. Man soll das Bemühen beginnen, solange das noch in Form der Behörde möglich ist. Aber unsere Vorstellungen sind unternehmerischer Art, die breiten Raum für Wettbewerb geben. Ein letztes Wort - nichts zum „Maritimen Thema", obwohl mich das als Norddeutscher reizen würde. Das haben die Kollegen schon hervorragend ausgeführt. Ich wollte abschließend - Herr Präsident, wenn Sie mir so tolerant entgegenkommen und mir das gewähren - nun noch etwas zum Stichwort Luftfahrt sagen. Zwei Dinge müssen in diesem Bereich forciert werden: das eine ist die Flugsicherung - ({2}) - Heute hat jemand gesagt, er halte die Hand drüber, ({3}) womit ich beweise, daß ich hier im Plenum war. Denn ich habe es gehört. ({4}) Ich schenke mir das alles, Herr Präsident. Nur einen letzten Satz ({5}) -nein, nicht zur Sache - : Ich begrüße den Schwung des neuen Ministers, hoffe aber, daß dieser Schwung auch zu einem beidseitigen fairen vertrauensvollen Dialog zwischen den Verantwortungsträgern im Verkehrsbereich - ob im Fachausschuß oder im Haushaltsausschuß - ausgestaltet wird. Denn nur dann wird es gelingen, die großen Aufgaben im Verkehrsbereich, die uns insbesondere durch die deutsche Ein2172 heit auferlegt worden sind, zufriedenstellend zu lösen. In diesem Sinne und mit dieser Erwartung stimmen wir dem Einzelplan gerne zu. Vielen Dank. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Braband. ({0})

Jutta Braband (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000239, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch Verkehrspolitik ist Umweltpolitik. Das wird hier immer vernachlässigt. Der Kollege Zywietz hat etwas sehr anschaulich dargestellt; aber er hat nur von der Ökonomie geredet. Deswegen werde ich jetzt den anderen Part einbringen. Ich denke, daß - gerade weil es sich auch um Umweltpolitik handelt - die Entscheidung über jede Mark die ausgegeben wird, doppelt überlegt sein muß. Durch falsche Entscheidungen wird gerade hier ein erheblicher ökologischer, sozialer und politischer Schaden angerichtet. In dem Zusammenhang ist das sogenannte Verkehrswegebeschleunigungsgesetz völlig inakzeptabel. Mit diesem Gesetz sollen unter dem Vorwand notwendiger Investitionen im Verkehrssektor der FNL demokratische Rechte der Öffentlichkeit und besonders die der Betroffenen eingeschränkt werden. Wir haben das vom Kollegen Feige bereits sehr anschaulich berichtet bekommen. ({0}) Ich denke, daß sich das Verkehrswegebeschleunigungsgesetz auf diese Weise ziemlich schnell als ein „Entdemokratisierungsbeschleunigungsgesetz" erweisen wird, und zwar für das gesamte Land. Ich finde auch, daß derjenige, der sich über 40 Jahre Kommandowirtschaft in der DDR ereifert und dann selbst Planungsdiktatur fordert, gedanklich der Politbürokratie der früheren DDR sehr viel nähersteht, als ihm bewußt ist. Zur notwendigen Sanierung im Verkehrsbereich des Anschlußgebiets kann ganz klar gesagt werden: Am schnellsten und am preisgünstigsten kann eine qualitative Verbesserung des Fernverkehrs auf der Schiene erreicht werden - und eben nicht auf der Straße. Denn das Schienennetz ist bereits vorhanden und muß nur repariert werden. Da fallen dann immerhin auch die leidigen Planfeststellungsverfahren weg. Es ist ebenfalls erwiesen, daß bei einer zügigen Durchführung entsprechender Investitionen in vorhandene Strecken die Durchschnittsgeschwindigkeit in kurzer Zeit um 30 bis 40 % erhöht werden kann, also Intercity-Niveau erreichen könnte. ({1}) - Ja eben! Aber warum verschenken Sie diese Chance? ({2}) - Ich rede ja davon, daß da investiert werden muß. Das sollten Sie doch gehört haben. Was wir brauchen, sind eben keine sechs- und achtspurigen Autobahnneubauten, sondern Investitionen in die Sanierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs in der Fläche. Wir brauchen keine Hochgeschwindigkeitszüge für Abgeordnete und Geschäftsreisende, die zwischen den Metropolen nur so hin- und herrasen, sondern eine vernünftige und umweltfreundliche Verkehrspolitik für die Bevölkerung in der Fläche. ({3}) Daß die Reichsbahn auf Verschleiß gefahren wurde, meine Herren, ändert nichts an der Tatsache, daß die ehemalige DDR eines der bestausgebauten Schienennetze der Welt besitzt, ({4}) und zwar in der Fläche. ({5}) Ich habe bereits gesagt, daß es nötig ist, dort zu investieren, weil das Streckennetz beschädigt ist. Warum gucken Sie nicht, daß es sich um ein weit verzweigtes Netz in der Fläche handelt? ({6}) - Ja natürlich, aber es ist viel schneller zu reparieren, als neue Straßen zu bauen. Das wissen Sie selber. - Zumindest wären das strukturell doch gute Voraussetzungen für eine andere Art von Verkehrspolitik. ({7}) Die „Wirtschaftswoche" vom Februar 1990 schreibt, daß die Deutsche Reichsbahn - vielfach als Sanierungsfall verschrien - zu den leistungsfähigsten Unternehmen der DDR gehörte. Mit 60 Milliarden Tonnenkilometern ({8}) - hören Sie doch einmal zu - erreichte sie bei halb so großem Schienennetz die Gütertransportleistung der Bundesrepublik. ({9}) Sie wollen nicht nur die Arbeitsplätze der Reichsbahn abbauen, sondern Sie sind nicht einmal bereit, dort so zu investieren, daß wirklich für die Zukunuft eine andere Situation im Verkehrsbereich möglich ist. ({10}) Ich finde, daß der, der sich in der Verkehrspolitik ausschließlich auf die Ökonomie beruft, sehr deutlich zeigt, wessen Interessen er hier vertritt. Derjenige macht klar, daß ihm die Interessen der Autoindustrie weit wichtiger sind als die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Verbesserung der Lebensqualität für alle Menschen. Die PDS/Linke Liste lehnt deshalb den Haushaltsplan im Bereich des Bundesministers für Verkehr ab. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Bundesminister für Verkehr, Herr Krause.

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Feige, gleich zu Beginn: Auch ich stamme aus Mecklenburg, und auch Sie können mich nicht aus der Ruhe bringen. ({0}) In der Verkehrspolitik stehen wir im geeinten Deutschland vor großen Herausforderungen, und ich denke, es ist zu Recht dargestellt worden, daß wir in der Verkehrspolitik einiges zur Veränderung beitragen müssen. Ich denke, daß in dem Verkehrsetat der Nachweis erbracht worden ist, daß das Zeitalter der Veränderung auch in der Verkehrspolitik bereits begonnen hat. ({1}) Der Haushalt ist mit einer Steigerung von mehr als 20 % nicht nur um den Anteil der ehemaligen DDR reicher geworden, sondern es gibt einen echten Zuwachs. Ein leistungsfähiges Verkehrswegenetz ist Voraussetzung dafür, daß Deutschland nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich eins wird und für den europäischen Binnenmarkt gewappnet ist. Dr. Feige, Sie haben natürlich in Ihrer Rede vergessen, zu erwähnen, daß beispielsweise von Köln nach Stralsund mittlerweile ein IC fährt. Das war zur DDRZeit nicht üblich. Ich meine, man sollte sich den Fahrplan genau ansehen und zuerst die Vorteile und die Nachteile ordentlich abwägen; ({2}) denn wir erweisen unseren Reichsbahnern und den Bundesbahnern keinen guten Dienst, wenn wir gerade in der jetzt so komplizierten Situation der unterschiedlichen technischen Voraussetzungen - und die macht die Fahrplangestaltung so kompliziert - nur immer Kritik an den Menschen, die bei den Bahnen arbeiten, leisten, aber nicht bemüht sind, grundsätzlich die politischen Weichen richtig zu stellen. Das haben wir von der Koalition in diesem Haushalt nachgewiesen. ({3}) Für die neuen Länder hat die Bundesregierung vor allem die Mittel für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur deutlich auf mehr als 8 Milliarden DM erhöht. Zum Vergleich - ich meine, das ist die Ausgangsbasis, über die wir uns unterhalten müssen - : Im Jahre 1989 wurden in der ehemaligen DDR 2 Milliarden Ostmark investiert. Jetzt sind es statt 2 Milliarden Ostmark 8 Milliarden DM. Das ist doch ein Zuwachs, der sich in der ehemaligen DDR, in den neuen Bundesländern wohl sehen lassen kann und mit dem wir beweisen werden, daß es vorangeht. ({4}) Wichtigste Maxime bei allen Investitionen ist der Ausbau eines umweltgerechten Verkehrssystems, d. h. insbesondere die Förderung des Schienenverkehrs. Auch das können wir an Hand von Zahlen nachweisen. Wir setzen rund 20 Milliarden DM ein. Das ist ein Anteil am Haushalt von 56 %. Ich kann nicht erkennen, daß hier etwa nur die Autolobby ihre Spielchen treibt. Das ist eine Unterstellung, die ich in keiner Weise akzeptieren kann. Von diesem Betrag erhalten die Deutsche Reichsbahn und die Deutsche Bundesbahn einen erheblichen Anteil an Investitionsmitteln. Es ist natürlich auch richtig, daß, um die Aufgaben bei der Deutschen Reichsbahn zu leisten, auch Mittel von der Deutschen Bundesbahn umgeschichtet worden sind. Um die Bahn wettbewerbsfähiger und attraktiver zu gestalten, ist es notwendig, auch Schnellbahnverbindungen zu realisieren. Ich als Techniker meine feststellen zu dürfen, daß es zu Beginn eines neuen Zeitalters ganz normal ist, daß Kinderkrankheiten auftreten. Ich bin erschreckt über die Polemik in der Öffentlichkeit und darüber, daß, wenn nach einigen Tagen nicht alles hundertprozentig funktioniert, gleich ein Aufschrei losgelassen wird. Ich bin sicher, daß auf Grund der Zusammenarbeit zwischen den Menschen und auf Grund des Bemühens der Menschen bei der Bahn, ein neues und besseres Zeitalter in der Bahn durchzusetzen, nach einigen Wochen die Voraussetzungen für kontinuierliche Abläufe geschaffen sein werden. In den neuen Bundesländern - diese Zahl scheint mir ganz wichtig zu sein - setzen wir allein in diesem Jahr 3,8 Milliarden DM an Investitionsmitteln aus dem Haushaltsansatz und 200 Millionen DM aus dem Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost ein. Ich habe die genauen Zahlen heraussuchen lassen: Im Jahre 1989 waren es 1,24 Milliarden Ostmark. Unser größtes Problem bei der Bahn besteht derzeit darin, den Strukturwandel zu realisieren und das vorhandene Gleisnetz zu sanieren. Wir brauchen beschleunigende Methoden. Nur mit dem Reparieren - die eben genannten 30 % Zuwachs - lassen sich bei Langsamfahrstrekken, die Geschwindigkeiten von nur 40 km/h zulassen und die es bei den Fernverbindungen heute noch zuhauf gibt, keine Intercity-Geschwindigkeiten erzielen. Sie müßten häufiger mit der Deutschen Reichsbahn fahren, um ein entsprechendes Verständnis entwickeln zu können. Das ist das Entscheidende. ({5}) Wir müssen darauf verweisen - ich habe das an dieser Stelle schon des öfteren getan - , daß im Vorgriff auf den gesamtdeutschen Verkehrswegeplan, über den wir gemeinsam voraussichtlich im Frühjahr 1992 entscheiden werden, 17 Projekte „Deutsche Einheit" ausgesucht worden sind. Ich kann nicht erkennen, daß nicht gerade die Auswahl dieser 17 Projekte eine gezielte verkehrspolitische Entscheidung gewesen ist. Beispiel: Wir wollen die Kreuzung des Mittellandkanals mit dem Oder-Havel-Kanal durch eine Trogbrücke deshalb auf der Basis von Investitionsmaßnahmegesetzen planen, damit wir den Anteil der Binnenschiffahrt am gesamten Transportwesen von derzeit 3 % auf 20 % erhöhen können, wie er in der Altbundesrepublik üblich ist. Das ist aktive Umweltpolitik. Damit sich die Massengütertransporte nicht auf die Straße verirren, müssen wir schnell sein und müssen - da gebe ich Ihnen recht - in außergewöhnlichen Situationen dann auch die Verantwortung dieses Parlaments benutzen, um die richtigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt zu treffen. Deshalb haben wir die Mehrheit in diesem Parlament. Ich glaube, wir entscheiden dann auch für die Bevölkerung. ({6}) - Warten Sie doch erst einmal ab, wie es ist, wenn wir bewiesen haben, daß wir nicht mit unserer Verhinderungspolitik zur deutschen Einheit, sondern mit der Politik der Förderung der deutschen Einheit auch der Bevölkerung in vielen Städten der bisherigen DDR viele Verkehrsbelastungen nehmen können. Wir werden deshalb auch daran festhalten, die Planungsbeschleunigung zu realisieren. Wir wollen den Planungszeitraum auf drei bis fünf Jahre verkürzen. Jeder, der darüber diskutiert, zu welchen Lasten wir investieren wollen, sollte das Bürgergespräch in Wismar oder in Halle oder in Dresden bitte vor Ort führen und sich dann davon überzeugen, wie Bürger belastet werden. Die Belastung der Menschen akzeptieren Sie, die Entlastung der Menschen wollen Sie jedoch nicht. Das zeigt sich daran, daß Sie unerträglich lange Planungszeiträume verordnen wollen. ({7}) Wir sind nicht gewählt worden, um bürokratisch an diesen Verordnungen festzuhalten. Deswegen werden auch Investitionsmaßnahmegesetze notwendig werden, und wir werden diese demnächst hier vorlegen. ({8}) Der rote Faden in der Verkehrspolitik wird sich dadurch auszeichnen, daß wir zwischen Ost und West Verbindungen realisieren müssen, die West- und Osteuropa zukünftig verknüpfen werden. Daher wird es wichtig sein, daß wir gemeinsam darüber nachdenken, ob wir Transportketten aufbauen. ({9}) - Es ist angenehm, den Herren zuzuhören; es ist wirklich sehr angenehm. Das ist Ihre Form der Höflichkeit.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich würde bitten, die Zwischenrufe nicht zu übertreiben. ({0}) Ich bitte Sie jetzt, meine Herren, ruhig zu sein. Herr Minister, Sie haben das Wort. ({1}) - Herr Abgeordneter Wieczorek, ich bitte Sie nun, ruhig zu sein. ({2}) Herr Minister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Jawohl.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ich respektvoll zur Kenntnis nehme, daß ich in einer Sitzung den Herrn Präsidenten nicht befragen darf und kann - ich will das auch nicht - , frage ich Sie, Herr Minister: Können Sie sich denn angesichts der Unruhe hier vorstellen, daß das Sprichwort „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus" auch heute noch gilt? ({0})

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Wenn, dann habe ich hier an diesem Rednerpult höchstens den Schall zu vertreten, aber nicht den Wald. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Minister, ich bitte Sie, jetzt fortzufahren, und mache noch einmal darauf aufmerksam, daß Zwischenrufe das Salz in der Suppe einer Debatte sein können, aber daß Sie es auch nicht übertreiben dürfen. Herr Minister, Sie haben das Wort.

Dr. Günther Krause (Minister:in)

Politiker ID: 11001203

Wir werden uns deshalb vor allem im Zusammenhang mit der europäischen Einigung, also mit dem Termin 1. Januar 1993, noch weitaus mehr Gedanken machen müssen, um integrierte Verkehrssysteme zu schaffen und kombinierte Verkehre einzusetzen. Wichtiger Markstein hin zu dieser Entwicklung muß es sein, in den Harmonisierungsverhandlungen im Rahmen der EG weiterzukommen. Es muß uns gelingen, die Strukturreform der Bahn zu beginnen, um mehr Markt auch bei der Bahn zu sichern. Denn nur im Wettbewerb und nicht in den Dirigismen sehen wir den Erfolg und auch die Möglichkeit, umweltverträglichere Verkehre besser zu organisieren. Mit einem ganzheitlichen Lösungsansatz, mit einem integrierten Verkehrssystem, können wir den Anforderungen der Wachstumsbranche Verkehr gerecht werden. Es wäre ungewöhnlich, wenn man nicht darauf hinwiese, daß diese Wachstumsbranche Verkehr natürlich besteht. Wir dürfen aber die Verkehrsträger, die uns scheinbar nur Nachteile, aber trotzdem auch Vorteile bringen können, auch nicht verteufeln, sondern sollten hier gemeinsam eine Verkehrspolitik gestalten, die die Minimierung der Nachteile aller Verkehrsträger zum Inhalt hat. Mit dem Verkehrshaushalt 1991 legen wir den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern und für den kontinuierlichen Weiterbau eines umweltgerechten und leistungsfähigen Verkehrsnetzes auch in den alten Bundesländern. Ich möchte hier im besonderen die gute Zusammenarbeit mit allen Kollegen und mit allen Berichterstattern im Haushaltsausschuß erwähnen. Wir haben alle Fragen in einer freundschaftlichen Atmosphäre klären können. Ich möchte mich auch bei den Kollegen Verkehrspolitikern des Verkehrsausschusses über alle Parteigrenzen hinweg bedanken. Ich hoffe auch weiter auf eine gute und konstruktive Zusammenarbeit. Danke schön. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Was lange währt, wird endlich gut, sollte man angesichts der langen Vorbereitungszeit dieses Haushalts meinen. Aber um so erschrekkender ist es, wie wenig dieser erste gesamtdeutsche Verkehrshaushalt den Zielsetzungen moderner, innovativer Verkehrspolitik gerecht wird. ({0}) Wir haben die Verantwortung für die Leistungsfähigkeit unserer Verkehrswege. Das gilt ganz besonders für die Bahn, die nicht mit schönen Sonntagsreden und Mittelkürzungen - bei der Deutschen Bundesbahn immerhin eine Milliarden DM - zu retten ist, sondern nur mit konsequenten Investitionen für den schnellstmöglichen Ausbau ihrer Kapazitäten. ({1}) Wir haben außerdem die Verantwortung dafür, daß die Menschen in den neuen Bundesländern möglichst schnell würdige Lebensverhältnisse erreichen. ({2}) Dazu gehören sichere Arbeitsplätze und wirtschaftlicher Aufschwung, und beides ist ohne sinnvolle Infrastruktur nicht zu haben. ({3}) - Dazu komme ich. Keine Angst! Wir haben außerdem verkehrspolitische Pflichten gegenüber den Partnern des europäischen Binnenmarkts. Ich betone sehr bewußt: Wir müssen jetzt auch die richtigen verkehrspolitischen Weichen für die Öffnung Europas nach Osten stellen. Last, not least wissen wir zumindest, daß Verkehrspolitik immer zugleich auch Umweltpolitik ist, das heißt also eine Politik der CO2-Reduktion, der Lärmminderung, der Schadstoffminimierung ingesamt. Der gravierende Fehler des vorliegenden Haushaltsentwurfs liegt darin, daß angesichts dieser wichtigen Aufgaben die investiven Schwerpunkte falsch gesetzt sind. ({4}) Unsere Straßen sind so überlastet, daß der Verkehr an sich selbst erstickt. Es gilt daher, die Effektivität des vorhandenen Straßennetzes schnell bedeutend zu verbessern. In den neuen Bundesländern müssen wir deshalb ganz eindeutig der Sanierung und dem Ausbau vorhandener Verkehrswege Priorität einräumen und nicht, wie die Koalition es vorsieht, dem Neubau von Straßen. Herr Minister, versprechen Sie doch keine Neubauten in ferner Zukunft, sondern stopfen Sie lieber so schnell wie möglich die Löcher in ostdeutschen Straßen. ({5}) Bauen Sie an drängenden Engpässen Ortsumgehungen zur Entlastung der Bevölkerung, und das sofort. Sanieren Sie die Langsamfahrstrecken der Reichsbahn, statt die Strecken stillzulegen und damit das engmaschige Netz des umweltfreundlichsten Verkehrsmittels endgültig zu ruinieren. ({6}) - Ich kann lauter sprechen, die brauchen nicht ruhig zu sein. Der Minister lenkt - zugegeben: unglaublich geschickt - von der haushaltspolitischen Realität fehlender und falsch eingeplanter Mittel ab und verspricht Maßnahmen und angebliche Beschleunigungsgesetze, ({7}) die ihm de facto einen Zeitaufschub gewähren, weil er dadurch einen Verfassungsstreit heraufbeschwört.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Dr. Wetzel, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Moment nicht. In Anbetracht der Zeit, da die Kollegen aus dem nächsten Ausschuß auch schon warten. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den neuen Ländern, wir brauchen für die Verkehrsinfrastruktur keine neuen Gesetze, sondern konsequente Finanzierung der geplanten Maßnahmen. Es ist nicht der Mißbrauch demokratischer Rechte durch unsere Bürger, der die schnelle Realisierung von Verkehrswegen verhindert, ({1}) sondern es ist die mangelhafte Bereitstellung von Finanzmitteln durch parlamentarische Mehrheiten. Genau das belegt wiederum der uns vorliegende Haushaltsentwurf. ({2}) - Jetzt bin ich dran. Sie können später etwas sagen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Herren, Sie haben mir eben zu Recht zugestimmt, als ich gebeten habe, auf dieser Seite des Hauses entsprechende Ruhe herzustellen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich ebenso verhalten würden, wie Sie es eben gewünscht hätten. Nun, Frau Abgeordnete, fahren Sie fort.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Güterverkehr auf der Straße wird in seinem ungezügelten Anwachsen zum größten verkehrlichen Störfaktor für Menschen und Umwelt. Wer ihn aber als Störfaktor in der Verkehrspolitik behandeln will, springt auf den falschen Zug; denn sektorales Denken ist endgültig passé. Nur die Nutzung aller Systeme, aller Vorteile und die optimale Verknüpfung der Vorteile der verschiedenen Verkehrsträger führt zu sinnvollen Verkehrskonzepten, führt zur Vermeidung überflüssiger Verkehre und zur Verlagerung möglichst vieler Transporte auf umweltfreundliche Systeme. Deshalb ist uns der Ausbau des kombinierten Verkehrs - Huckepackverkehr, Rollende Landstraße usw. - , aber auch der Schnittstellen verschiedener Verkehrsträger besonders wichtig. Ganze 20 Millionen DM - das ist noch nicht einmal der berühmte Tropfen auf den heißen Stein - stellt die Regierungskoalition dafür bereit. Die Deutsche Bundesbahn verzeichnet derzeit Zuwächse von 40 % im kombinierten Ladungsverkehr; ein deutliches Signal, daß hier dringend mehr und nicht weniger investiert werden muß. ({0}) Ihr Minister dümpelt über die 1 500 Langsamfahrstrecken der Deutschen Reichsbahn und träumt von schnellen Wagen. Er verspricht gleichzeitig dem verladenden Gewerbe den zügigen Bau und Ausbau von Terminals für den kombinierten Verkehr. Wie er das aber mit lächerlichen 20 Alibi-Millionen machen will, sagt er nicht dazu. Seine Versprechungen legt er vermutlich unter der Rubrik ab: Versprechen kann man sich ja mal. Wer heute nicht in die Zukunft investiert, nicht Engpässe beseitigt, nicht länderübergreifende Verkehrskonzepte mit Prioritäten für den kombinierten Verkehr entwickelt und umsetzt, der stellt sich selbst und unseren europäischen Nachbarn ein Bein. Weil die Schiene das Rückgrat deutscher und europäischer Verkehrspolitik werden muß, brauchen wir hier nicht die Kürzung der Mittel, sondern den absoluten Investitionsschwerpunkt. Ausbau der Kapazitäten, nicht deren Abbau ist angesagt. ({1}) Konzeptionslosigkeit und Fahrlässigkeit werden zum Markenzeichen dieses Minsters. ({2}) Die Bedeutung kombinierter Verkehre gerade auch für die Häfen ist ihm offensichtlich nicht klar. Für die ostdeutschen Häfen gilt es besonders, die miserable Hinterlanderschließung und die Schienenanbindung für die Anforderungen der internationalen Arbeitsteilung und die Handelsbeziehungen zwischen den skandinavischen Ländern und Osteuropa fitzumachen. Aber wer sein verkehrspolitisches Schiff ohne Ausguck und, glaube ich, auch ohne Steuermann durch den Verkehrsinfarkt lenkt, muß sich über politische Schlagseiten nicht wundern. ({3}) Der beabsichtigte Aus- und Neubau der Verkehrsverbindungen in den neuen Ländern orientiert sich vorwiegend in Ost-West-Richtung. Der Versorgungsverkehr aus dem Westen, die hohe Zahl der Berufspendler werden aber in dem gleichen Maße abnehmen, in dem Ober- und Mittelzentren in den fünf neuen Ländern ihre eigene Wirtschaftsgrundlage aufbauen können. ({4}) Um seriöse Planungen zu entwickeln und um den dauerhaften zukünftigen Veränderungen gerecht werden zu können, müssen wir deshalb auch den Erhalt gewachsener Nord-Süd und Nord-Ost-Verbindungen strukturell, planungsrechtlich und finanziell sichern. Der Verkehrshaushalt wird diesen Aufgaben in keiner Weise gerecht, noch weniger der Lebensqualität der Menschen und der Umwelt. Verkehrspolitik für, nicht gegen Menschen und Mitwelt machen heißt, Verkehr, wo immer möglich, zu vermeiden und auf umweltverträgliche Verkehrsmittel zu verlagern, ({5}) heißt, die Schiene und den öffentlichen Personenverkehr, auch den schienengebundenen Personennahverkehr attraktiv, wettbewerbsfähig und leistungsfähig zu machen. Die katastrophalen Mängel und Defizite in diesen Bereichen sind Folgen einer völlig verfehlten Finanzpolitik des Bundes, die sich in diesem Haushalt fortschreibt. ({6}) Wir fordern eine drastische Erhöhung der Investitionen zur Kapazitätsausweitung von Bundesbahn und Reichsbahn. ({7}) Wir wollen die deutliche Anhebung, letztlich die Aufhebung der Plafondierung im Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz und eine Umschichtung der Mittel zugunsten des öffentlichen Personennahverkehrs und nicht, wie vorgesehen, zugunsten des kommunalen Straßenbaus. ({8}) Die Fusion von Bundesbahn und Reichsbahn hätte schon längst vollzogen sein müssen. Wir brauchen ein gemeinsames, europäisch orientiertes Bahnkonzept, am besten gestern und nicht erst übermorgen. ({9}) Die Bahn darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen, nur weil die völlig fehlkonzipierten Bahnleitlinien von 1983 immer noch Gültigkeit haben. Betriebswirtschaftliches Kalkül kann keine gemeinwirtschaftlichen Leistungen erbringen. Den Streckenstillegungen und Substanzverkäufen der Bahn, ihrer so schädlichen und unverständlichen Reduzierung auf ein Kernnetz kann nur politisch ein Ende gesetzt werden. Die Verantwortung für die Defizite der Bahn - finanziell und strukturell - , für die roten Zahlen und für die fehlenden Kapazitäten liegen einzig und allein in diesem Hohen Hause. ({10}) Meine Damen und Herren, mit uns gibt es keine Verkehrspolitik auf den alten Gleisen mehr. Deshalb lehnen wir den Verkehrsetat des Haushaltsentwurfs ab. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Renate Schmidt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002016

Die Aussprache zum Einzelplan 12 ist damit geschlossen. Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 12 - Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr - in der Ausschußfassung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Der Einzelplan 12 ist damit angenommen. Wir kommen nun zu den Beratungen der Einzelpläne 25, 13 und 23. - Ich bitte Sie, noch einen Moment sitzen zu bleiben. - Die Kolleginnen und Kollegen, die dafür als Rednerinnen und Redner vorgesehen waren, haben sich dankenswerterweise bereit erklärt, ihre Reden zu Protokoll zu geben. Darf ich fragen, ob damit Einverständnis besteht? - Das ist der Fall. Ich darf mich bei den Kollegen und Kolleginnen dafür herzlich bedanken.') Dies ist insbesondere im Interesse unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den ganzen Tag haben durcharbeiten müssen, und natürlich auch in Ihrem Interesse. ({0}) *) Anlagen 3, 4 und 5 Ich rufe auf: Einzelplan 25 Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau - Drucksachen 12/526, 12/530 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Conrad Schroeder ({1}) Carl-Ludwig Thiele, Dr. Nils Diederich ({2}) Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 25. Wer diesem Einzelplan in der Ausschußfassung zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Einzelplan 25 ist damit angenommen. Ich rufe auf: Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation - Drucksachen 12/513, 12/530 Berichterstatter: Abgeordnete Manfred Kolbe Rudi Walther Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 13 in der Ausschußfassung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Einzelplan 13 ist damit angenommen. Ich rufe auf: Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit - Drucksachen 12/525, 12/530 Berichterstatter: Abgeordnete Helmut Esters Dr. Christian Neuling Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Einzelplan 23 in der Ausschußfassung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Einzelplan 23 angenommen. Ich rufe nun auf: Haushaltsgesetz 1991 - Drucksachen 12/531, 12/532 Berichterstatter: Abgeordnete Jochen Borchert Adolf Roth ({3}) Dr. Wolfgang Weng ({4}) Helmut Wieczorek ({5}) Helmut Esters Eine Aussprache darüber ist nicht vorgesehen. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe auf die §§ 1 bis 32, den Gesamtplan sowie Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind damit angenommen. Vizepräsidentin Renate Schmidt Die Fraktion der CDU/CSU hat beantragt, die in den Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/531 unter II aufgeführte Entschließung gemäß § 82 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zurückzuüberweisen. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit angenommen. Damit ist die zweite Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushalts für das Haushaltsjahr 1991 abgeschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt II auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({6}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 - Drucksachen 12/101, 12/494, 12/533 Berichterstatter: Abgeordnete Jochen Borchert Dr. Wolfgang Weng ({7}), Helmut Wieczorek ({8}) Eine Aussprache darüber ist nicht vorgesehen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/533. Der Ausschuß empfiehlt, von der Unterrichtung durch die Bundesregierung Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist damit angenommen. Wir sind damit, liebe Kollegen und Kolleginnen, am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Wir bedanken uns bei allen, die dabei mitgeholfen haben. Ich berufe die nächste Sitzung für den 7. Juni 1991, 9 Uhr ein. Guten Abend. - Die Sitzung ist geschlossen.