Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 9/7/1994

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich möchte Sie ganz herzlich heute morgen begrüßen. Vielleicht darf ich trotz allen Eifers heute morgen daran erinnern, daß heute vor 45 Jahren der Deutsche Bundestag zu seiner ersten Sitzung in Bonn zusammentrat ({0}) und daß der damalige Parlamentspräsident sagte, daß dieses Parlament aufgerufen sei, die Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Wenn wir uns nach 45 Jahren heute erinnern, was möglich geworden ist, dann ist das ein sehr glücklicher Tag. Ich finde, das sollten wir uns heute in Erinnerung rufen. ({1}) Abweichend von unseren sonstigen Gepflogenheiten möchte ich doch heute auf der Ehrentribühne die Präsidentin des Südtiroler Landtags, Frau Dr. Kasslatter-Mur, und ihre Delegation begrüßen. ({2}) Wir haben soeben über den europäischen Einigungsprozeß gesprochen, über die besondere Situation in Südtirol und über das Minderheitenproblem. Ich denke, Sie gehören in Europa fest dazu und wollen auch dazugehören. Herzlich willkommen. Wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1995 ({3}) - Drucksache 12/8000 - Überweisung: Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998 - Drucksache 12/8001 Überweisung: Haushaltsausschuß Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache neun Stunden vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? ({4}) - Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig. ({5}) Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Debatte zur Politik für Deutschland mit den Einzelplänen des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes sowie der Ministerien der Verteidigung und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende Ulrich Klose.

Hans Ulrich Klose (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gute Übung bei der parlamentarischen Diskussion über den Etat des Bundeskanzleramtes, die Politik der Bundesregierung insgesamt zu bilanzieren. Weil ich diese Bilanz aus der Sicht der Opposition formuliere und weil wir uns wenige Wochen vor der Bundestagswahl befinden, ist der Zusammenhang dieser Debatte mit dem Wahlkampf unübersehbar. Ich halte das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns ein Mindestmaß an persönlichem Respekt und Fairneß im Verhältnis zueinander bewahren, nicht für einen Nachteil. ({0}) Zwar wird es immer mehr Mode, Wahlauseinandersetzungen generell als verlogen, abstoßend oder zumindest unappetitlich darzustellen. Mancher öffentlichen Einlassung folgend kann man Anstand, Intelligenz und wahre politische Größe offenbar nur beweisen, wenn man sich von Parteiauseinandersetzungen fernhält. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Klose, und gegen die eigene Partei!) Um es sehr deutlich zu sagen, ich halte diesen Dünkel gegenüber Parteipolitik und Wahlauseinandersetzungen für ziemlich hochmütig und ignorant. ({0}) Wahlkämpfe als Kernbestandteil unserer Demokratie belegen immer wieder eine wichtige Erkenntnis, die sich nicht nur Berufspolitiker zu eigen machen sollten. Es gibt in der Politik keine absoluten Wahrheiten, und es sind auch nur Mehrheiten, keine Götter, die über eher richtige oder eher falsche Politik entscheiden. ({1}) Das Ringen um politische Mehrheiten für bestimmte Argumente und am Ende für bestimmte politische Entscheidungen mag langwierig und manchmal quälend sein. Wer es aber als lästig oder gar überflüssig empfindet, der sollte wissen, daß eine freiheitliche Demokratie anders nicht zu haben ist. ({2}) Meine Damen und Herren, eine politische Bilanz markiert Soll und Haben. Wir anerkennen - ich habe das schon mehrfach gesagt -, daß diese Bundesregierung die Chance zur deutschen Einheit ergriffen und die staatliche Vereinigung Deutschlands vollzogen hat. Wir respektieren, daß insbesondere Sie, Herr Bundeskanzler, gegen manchen Widerstand aus den eigenen Reihen dem Kurs zur Bildung der Europäischen Union treu geblieben sind. Wir haben Sie dabei, wie Sie zugeben müssen, unterstützt - nachhaltiger als viele Ihrer Parteifreunde. ({3}) Wir nehmen uns deshalb auch das Recht, schon an diesem Punkt eine aktuelle kritische Bemerkung einzufügen. Europa hat nach dem Niedergang des Kommunismus und nach Überwindung der Teilung jetzt die Chance, zu größerer Einheit zusammenzuwachsen. Die Europäische Union ist Magnet für viele, vor allem in Osteuropa: ein Magnet der Hoffnung. Ich finde es ganz und gar abwegig und schädlich, just in dieser Zeit und während der deutschen Präsidentschaft die Einheit der Europäischen Union öffentlich in Frage zu stellen. ({4}) Ich rede - Sie ahnen es - von dem jüngst vorgestellten europapolitischen Programm der Union, das Sie möglichst schnell wieder aus dem Verkehr ziehen sollten. Dabei weiß ich, daß ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Vertrag von Maastricht angelegt ist. Wenn nämlich die Voraussetzungen für die europäische Währungsunion, an denen wir unbeirrt festhalten, nicht von allen Mitgliedern der Union zum frühest vorgesehenen Zeitpunkt erfüllt sind, dann gehen die einen voran, und die anderen folgen. Wer aber jenseits von Maastricht die Union in ein gutes Kerneuropa und in ein nicht so gutes Resteuropa aufteilt, der spaltet, der liefert den Gegnern Europas in den skandinavischen Ländern Argumente gegen Europa, der gefährdet die Chance zur größeren Einheit. ({5}) Daß es ausgerechnet der Vorsitzende der größeren Koalitionspartei ist, der dies betreibt, wundert und irritiert mich stark. ({6}) Glauben Sie denn ernsthaft, Herr Kollege Schäuble, daß Ihre Vorstellungen die Zögernden anspornen und die Hoffenden ermutigen werden? Das Gegenteil ist richtig. Das Mißtrauen wächst, es wächst bedauerlicherweise auch in Frankreich, allenthalben Kopfschütteln und besorgte Fragen. Verantwortliche Politik, Herr Kollege Schäuble, ist das nicht. ({7}) Verantwortliche Politik muß die Wirkung einkalkulieren, deutsche Politik ganz besonders. Druck und Drohgebärden bringen Europa nicht voran, sondern stärken, fürchte ich, jene Kräfte, die uns geistigpolitisch ins 19. Jahrhundert zurückführen wollen. Dazu haben Sie - ohne Absicht, unterstelle ich - beigetragen. ({8}) Sie, Herr Bundeskanzler, sollten die Diskussion in Ihren Reihen schnellstens beenden und zu jener Klarheit in Sachen Europa zurückkehren, die Sie - ich habe ja mit Lob begonnen - bisher ausgezeichnet hat. Sie haben doch bei der Auswahl des künftigen Kommissionspräsidenten zur Genüge erfahren, wie der Rest Europas auf deutsch-französische Alleingänge reagiert. ({9}) Meinen Sie, die Reaktion auf deutsche Alleingänge wäre besser? Nein, die Wirkung ist fatal und für die Folgezeit schädlich. Deshalb sollten Sie das Papier nicht nur verbal zurückstufen als Diskussionspapier aus der Fraktion; Sie sollten es aus dem Verkehr ziehen - je eher, desto besser, am besten heute in dieser Debatte. ({10}) Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung hinzufügen. Ich habe nichts dagegen - im Gegenteil -, daß die Bundesregierung die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als Ständiges Mitglied anstrebt. Daß aber dies das herausragende Ziel deutscher Außenpolitik sei, wie uns der Herr Außenminister durch Reden und Tun beinahe jeden Tag zu demonstrieren versucht, das kann ich nicht akzeptieren. ({11}) Ich bezweifle im übrigen, daß der Rest der Welt auf die Deutschen als Mitglied im Kreis der Großmächte geradezu sehnsüchtig wartet. Wer die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik anstrebt - das tun Sie doch -, der kann meinetwegen den europäischen Sitz im Sicherheitsrat fordern. Er sollte aber nicht übersehen, daß Europa im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen durch Frankreich und Großbritannien sehr stark vertreten ist. Noch ein europäisches Land, das wäre für den Rest der südlichen Welt eher eine Zumutung. Und eine Zumutung für dieses Parlament ist es, wenn uns ständig erzählt wird, niemand habe etwas dagegen, alle seien dafür. ({12}) Im übrigen, Herr Außenminister. das wiedervereinigte Deutschland hat schon heute großen Einfluß. Der Einfluß könnte noch größer sein und konstruktiver genutzt werden, wenn Sie sich auf die anstehenden Probleme konzentrierten und nicht ständig leidend auf Ihre mindere Rolle in der zweiten Reihe der Weltpolitik verweisen würden. Einfluß gewinnt man vor allem durch zielstrebige Arbeit und persönliches Vertrauen, das einem nicht automatisch, sozusagen institutionell zuwächst. Man muß es sich erwerben. In diesem Zusammenhang will ich auf der Habenseite Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, durchaus registrieren, daß Sie es geschafft haben, gute, sehr gute Beziehungen zu den Repräsentanten wichtiger Mächte zu entwickeln. ({13}) Niemand sollte den Wert solcher persönlicher Beziehungen unterschätzen. Bei dem einen oder anderen Freundschaftsbeweis werden Sie uns aber ein Lächeln oder Schmunzeln gestatten. Das wird Ihnen, Herr Bundeskanzler, die Freude am gemeinsamen Saunagang mit Boris Jelzin sicher nicht verderben. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Nein!) So weit, meine Damen und Herren, zur Habenseite. Nun zum Soll, zunächst ganz nüchtern in Zahlen und Stichworten. Fast 4 Millionen registrierte, tatsächlich nahezu 5 Millionen Arbeitslose, darunter 1 Million Langzeitarbeitslose, Tendenz steigend. Über 3 Millionen Menschen, die von Sozialhilfe leben müssen, darunter über 1 Million Kinder und Jugendliche. Über 100 000 obdachlose Menschen, darunter auch Kinder. Ein Fehlbestand von gut 2 Millionen Wohnungen. Eine Verschuldung des Bundes allein von 1,4 Billionen DM. Eine Steuer- und Abgabenlast, die gut 10 % höher liegt als jene des Jahres 1982. Eine Einkommensverteilung von unten nach oben, Rückgang des privaten Verbrauchs, Stagnation des Binnenmarktes, eine Modernisierungslücke in Forschung, Entwicklung und Hochtechnologie. Eine Umweltbilanz, die einem Luftballon gleicht: viel aufgeblasene Luft. Und schließlich: wachsende Kriminalität. Die Statistik - der Herr Bundesinnenminister wird es zugeben - nennt nur die Zahlen und sagt nichts über die veränderten Qualitäten. So weit die Zahlen und Stichworte, meine Damen und Herren. Es geht aber nicht um Zahlen, sondern es geht um Menschen. Es geht um die Hoffnungen, die Chancen und die Schicksale von Millionen Menschen in Deutschland: jungen Menschen, die schon in der Schule befürchten müssen, daß ihr Einstieg ins Arbeitsleben mißlingt, auch wenn sie sich noch so anstrengen, oder denen, die in der Berufsausbildung stehen und wissen, daß die Übernahme in ein Beschäftigungsverhältnis nicht stattfindet. Da sind die Kinder - eine Million mittlerweile -, deren Eltern von Sozialhilfe leben und denen in der Schule auf oft bittere Weise beigebracht wird, daß man auf solche Eltern nicht stolz sein darf. Ich nenne die Langzeitarbeitslosen, die öffentlich als Versager gebrandmarkt sind, was ihre Chance, eine Arbeit zu finden, zusätzlich mindert. Da sind die vielen normalen Lohnempfänger, die sich krummlegen und doch nicht die Gewißheit haben, daß es bis zum Monatsende oder für den Urlaub reicht. Da sind die Facharbeiter in der privaten Wirtschaft und im öffentlichen Dienst, denen die Herren Rexrodt und Lambsdorff jede Woche einmal bescheinigen, daß sie keine Leistungsträger sind, und denen die Steuer- und Abgabenprogression jede Belohnung für vermehrte Leistungsanstrengung wieder wegfrißt. ({0}) Da sind schließlich die Familien mit mehreren Kindern und normalem Einkommen, die von dieser Regierung im Kinderlastenausgleich benachteiligt werden und die bis heute nicht einmal die steuerliche Behandlung bekommen haben, die das Bundesverfassungsgericht für notwendig hält. ({1}) Dies, Herr Bundeskanzler, ist die andere Seite Ihrer Bilanz. Wer sich seiner Erfolge rühmt, der muß die Verantwortung für die Mißerfolge übernehmen. ({2}) Die Lasten tragen Sie ja ohnehin nicht; die tragen die Menschen. Wie diese Bundesregierung mit Menschen, mit ihren Fähigkeiten und Hoffnungen seit Jahren verfährt, das ist es, was eigentlich die Krise unserer Gesellschaft ausmacht. Wenn die, die etwas leisten wollen, die Chance dazu nie erhalten, wenn die, die als Arbeiter und Angestellte etwas leisten, benachteiligt werden, weil sie nicht als Leistungsträger betrachtet werden, wenn die, die unverschuldet mit dem Schicksal der Arbeitslosigkeit oder des AngewiesenSeins auf Sozialhilfe konfrontiert werden, zu Versagern gestempelt und abgeschrieben werden, wenn die Freude über Kinder durch materielle Belastung in der Familie erstickt wird, wenn man nirgendwo mehr eine Chance sieht für sich selber und jedenfalls für die Kinder, wirklich voranzukommen, wenn das alles so ist oder von vielen so gesehen wird, dann entsteht ein soziales Klima in unserem Gemeinwesen, das katastrophale Folgen haben könnte und sie in unübersehbaren Ansätzen schon hat. ({3}) Kriminalität und Extremismus - ich weiß es - haben nicht allein materielle Ursachen. Daß aber Not, Bedrückung und Ungerechtigkeit den Nährboden für fortwuchernde Gewalttätigkeit bilden, das ist doch wirklich nicht zu bestreiten. ({4}) Die Menschen in Deutschland sind nicht besser, aber auch nicht schlechter als anderswo. ({5}) Ich glaube deshalb nicht daran, daß Rücksichtslosigkeit, Neid, Haß und Gewalttätigkeit irgend etwas mit deutschem Charakter zu tun haben, genausowenig wie ich daran glaube, daß wachsende Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit oder Resignation vieler Menschen vom Kleinmut der Deutschen zeugt. Nein, es ist die Politik dieser Bundesregierung, die diese Gesellschaft auseinandertreibt und entsolidarisiert. ({6}) Diese Gesellschaft lebt nicht mehr im Frieden mit sich selbst. ({7}) Die Zweidrittelgesellschaft, die mein Parteifreund Peter Glotz vor zirka fünfzehn Jahren als bedrohliche Vision diagnostizierte, ist heute Realität. Zwei Dritteln geht es gut und immer besser, und einem Drittel geht es schlecht und immer schlechter. ({8}) In einer solchen Gesellschaft gedeihen Rücksichtslosigkeit und schrankenloser Egoismus, gilt die Fähigkeit zur Ellbogenkonkurrenz als Primärtugend, wird Gewalt ein beinahe identitätsstiftendes Mittel der Konfliktlösung. Und das nach 13 Jahren geistigmoralischer Führung und Erneuerung, Herr Bundeskanzler! Sie haben sie versprochen. Welch klägliches, nein, bitteres Resultat! ({9}) Insofern, Herr Bundeskanzler, stimme ich Ihrer Einschätzung durchaus zu. Es handelt sich bei der Bundestagswahl am 16. Oktober in der Tat um eine Richtungsentscheidung - nur anders, als Sie meinen. Es geht darum, ob diese Gesellschaft durch Ungerechtigkeit und Täuschung weiter entsolidarisiert und nach innen friedloser wird oder ob sozialdemokratisch geführte Politik den Menschen in Deutschland wieder das Vertrauen gibt, daß es gerecht zugeht in diesem Lande. ({10}) Gerechtigkeit bedeutet nicht Gleichmacherei. Gerechtigkeit bedeutet: Jeder soll eine Chance haben, mit eigener Leistung den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu verdienen. Gerechtigkeit bedeutet: Wer durch Arbeitslosigkeit, Alter oder Krankheit in materielle oder psychische Not gerät, der hat Anspruch darauf, daß die Gemeinschaft ihm hilft, wieder auf die Füße zu kommen. ({11}) Gerechtigkeit bedeutet: Der Staat hat durch seine Steuerpolitik nicht dafür zu sorgen, daß immer mehr Geld dorthin fließt, wo ohnehin schon reichlich vorhanden ist, sondern dorthin, wo die Menschen es nötig brauchen, weil sonst nichts da ist, was ihnen helfen könnte. ({12}) Gerechtigkeit heißt schließlich, Verhältnisse zu schaffen, die es nicht nur den Privilegierten erlauben, für sich und ihre Kinder an einer besseren, glücklicheren Zukunft zu arbeiten. Um diese Richtungsentscheidung geht es am 16. Oktober: ob wir wieder zu einer Gesellschaft zurückfinden, die sich gleichsam selbst im Spiegel anschauen kann, ohne sich schämen zu müssen, ({13}) oder ob es so weitergeht mit der Ungerechtigkeit, mit der Chancenlosigkeit für viele, mit sozialer Kälte für die einen und geschützten Privilegien für die anderen. Um diese Richtungsentscheidung geht es in der Tat 13 Jahre nach der geistig-moralischen Wende. ({14}) Wir kennen Ihre Argumente, Herr Bundeskanzler, und auch die des Bundesfinanzministers, daß nämlich die - gar nicht zu bestreitenden - Belastungen alle samt und sonders mit der deutschen Einheit zusammenhängen, eine Argumentation, die buchhalterisch nicht völlig falsch, die politisch gleichwohl irritierend ist, weil sie die Einheit zur Belastung erklärt und geradezu mit dem Finger auf die Menschen im Osten zeigt: Seht hin, die sind schuld! ({15}) Die deutsche Einheit, meine Damen und Herren, ist ein Glücksfall, über den ich mich auch freuen würde, wenn das alles noch viel mehr Geld kosten würde. ({16}) - Hatten Sie daran bei mir je einen Zweifel? ({17}) Daß es jetzt aber soviel kostet, hat zum einen mit der Erblast der SED zu tun, was die SED-Nachfolgerin PDS hartnäckig zu verschweigen sucht, zum anderen mit verfehlter Politik dieser Bundesregierung, was wiederum Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, so gern vergessen machen möchten. ({18}) Sie sind verantwortlich für die Treuhandpolitik. Sie haben mit dem Prinzip Rückgabe vor EntschädiHans-Ulrich Klose gung ein Investitionshemmnis erster Ordnung gesetzt. ({19}) Sie haben den Menschen in Ost und West, was die Belastungen und Chancen der Einheit angeht, die Unwahrheit gesagt. Sie haben durch Ungerechtigkeit bei der Finanzierung der deutschen Einheit die Bereitschaft der Deutschen zur Solidarität auf nahezu null reduziert. ({20}) Die Gestaltung der deutschen Einheit ist eine Jahrhundertaufgabe, die mit normaler Haushaltspolitik nicht zu bewältigen ist. Das hätten Sie wissen und den Menschen sagen müssen. Es gab Alternativen. Stellen Sie sich einen Moment lang vor, Sie, diese Bundesregierung, hätten noch in Zeiten guter Konjunktur und damit noch in Zeiten, als die westdeutsche Bevölkerung durchaus opferbereit war, neben notwendigen Steuererhöhungen auch eine Vermögensabgabe gefordert, eine Art Lastenausgleich, von dem öffentlich z. B. der damalige Bundespräsident, meine Kollegin Ingrid Matthäus-Maier und Wolfgang Thierse gesprochen haben. Vergegenwärtigen Sie sich, daß eine solche Maßnahme, zum richtigen Zeitpunkt eingeführt, entscheidend dazu beigetragen hätte, das gigantische Ausmaß der jetzigen Staatsverschuldung zu vermeiden! ({21}) Es wäre damit zugleich die Hochzinspolitik der Bundesbank vermieden worden. Die Preissteigerungen wären niedriger gewesen. Durch einen Zinssatz auf „normalem" Niveau wäre ein günstigeres Investitionsklima entstanden, was sich unmittelbar auf die Arbeitsmarktbilanz ausgewirkt hätte. Deutschland wäre bei weitem nicht in dem Maße kapitalimportierendes Land geworden, wie es das seit einigen Jahren ist. Selbst die europäischen Verstimmungen, insbesondere mit Frankreich, wären unterblieben, weil keiner unserer europäischen Nachbarn den Eindruck gewonnen hätte, gezwungenermaßen über ebenfalls hohe Zinssätze und deren konjunkturdrosselnde Effekte faktisch die deutsche Einheit mitfinanzieren zu müssen. ({22}) Ich weiß, nicht allen Schwierigkeiten wären wir entgangen; aber wir würden heute bedeutend besser dastehen, wenn die Bundesregierung offen und ehrlich gesagt hätte, was Sache ist. Die Solidarität der Deutschen, ihre Opferbereitschaft, war jedenfalls nach dem Fall der Mauer groß. Das ist heute anders, weil viele Menschen in Ost und West sich getäuscht sahen und sehen und weil sie das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden. Das ist doch auch so: Die große Mehrheit der Durchschnittsverdiener, die beitragzahlenden Arbeitnehmer tragen eine größere Last als die anderen. Nicht die starken Schultern tragen stärker, sondern die schwachen. Das ist ungerecht. Die Leute wissen das, und wir sagen das. ({23}) Wenn wir es sagen, dann hören wir von Ihnen, von seiten der Koalition, immer wieder die gleiche Litanei: Wir, die Sozialdemokraten, neideten den Eliten ihre Stellung, ihren Einfluß, ihr Geld oder ihr Vermögen. Nein, wir neiden den Eliten nichts. Wir haben auch gar keinen Grund dazu, denn viele davon gehören ja zu uns. Ganz abgesehen davon, daß ökonomisch und handwerklich eben eine ganze Menge dafür gesprochen hätte, eine wirkliche Gemeinschaftsanstrengung aller Deutschen zur Bewältigung der deutschen Einheit einzufordern, ging und geht es auch um den Konsens und den Gemeinsinn in dieser Gesellschaft. ({24}) Wie soll denn gemeinsame Verantwortung, ein identitätsstiftendes, gemeinsames Engagement für dieses große politische Projekt deutsche Einheit entstehen, wenn nicht alle gleichermaßen angesprochen und gefordert sind? Ist es glaubhaft, daß ausgerechnet die Eliten geschont werden müssen, weil sie sonst die politische Gefolgschaft aufkündigen? Glauben Sie ernsthaft, die Eliten, denen es doch leichter fällt, Schwierigkeiten der Politik zu überblicken, würden sich überfordert oder gar in ihrer Leistungsbereitschaft gehemmt sehen, wenn sie tragen müßten, was sie ohne Risiko tragen könnten? Nein, es gibt für diese Politik der Bundesregierung im Grunde nur eine einzige Erklärung: Es ist so schön einfach, sich an die zu halten, die sich nicht ganz so gut wehren können wie die Stärkeren und Einflußreichen. ({25}) Das ist die Erklärung, Herr Bundeskanzler. Sie haben es sich einfach gemacht. Sie haben an sich und die Regierung nicht einmal den Anspruch gestellt, einen großen gesellschaftlichen Konsens und eine gemeinsam geschulterte Verantwortung herbeizuführen. Im Ergebnis fehlt jede Aufbruchstimmung, es mangelt an Phantasie. Das Gefühl, daß wir gemeinsam wirklich an etwas Großem, an etwas Historischem arbeiten, stellt sich nicht mehr ein; ich fürchte, es ist auf Dauer verloren. ({26}) Um es insoweit zusammenzufassen: Die Stimmung ist mies, die Opferbereitschaft weg; ({27}) aus der Freude über den Glücksfall der Geschichte wurde ein Belastungsdiskurs. Mittlerweile kommen sogar einige Leute im Westen auf die Stammtischidee, politisches Wohlverhalten im Osten einzufordern, solange man aus dem Westen Transferzahlungen leistet. Die PDS wird für diese Art Wahlkampfhilfe dankbar sein. Es ist ein Elend. ({28}) Daß wir trotz dieses Elends die deutsche Einheit am Ende zum Erfolg führen, wir, die Deutschen, davon bleibe ich fest überzeugt. ({29}) Aber es wird wegen der vielen Fehler, für die diese Regierung verantwortlich ist, länger dauern, mehr kosten und mit größeren Schmerzen verbunden sein, als nötig gewesen wäre. ({30}) Die bisweilen laut, häufiger leise geäußerte Sorge, daß wir heute weiter als noch vor drei oder vier Jahren davon entfernt sind, ein Volk zu sein, reflektiert eine Entwicklung, die sich um Gottes willen nicht fortsetzen darf. Meine Damen und Herren, daß etwas nicht in Ordnung ist in unserer Gesellschaft, registrieren nicht nur wir Sozialdemokraten. Die Kirchen denken darüber nach, dringliche Mahnungen gibt es aus dem Bereich der Wissenschaft. ({31}) Aber auch in der Union beklagt z. B. der Kollege Schäuble die gesellschaftlichen Identitätsverluste und das Schwinden des Wir-Gefühls. Er sucht nach einer neuen - wie er sagt - „Bindekraft". Daß Sie, Herr Kollege Schäuble, bei Ihrem Nachdenken die Verantwortung konservativer Politik für die von Ihnen beklagte Entwicklung erkennen und bekennen, das wäre gewiß zuviel verlangt. Da will ich Sie nicht überfordern. Daß Sie aber ausgerechnet das Nationale als „Bindekraft" für eine konfliktive Gesellschaft wählen - „gemeinsame Werte", „nationale Zusammengehörigkeit" , „Rückbesinnung auf unsere nationale Identität" sind Ihre Worte -, das finde ich problematisch, um es sehr milde zu formulieren. ({32}) Damit es, Herr Kollege Schäuble, kein Mißverständnis zwischen Ihnen und mir gibt: Ich gehöre nicht zu denen, die Sie wegen dieser Auffassung für einen überzeugten oder gar extremen Nationalisten halten. ({33}) Mit Verlaub, ich halte Sie jedenfalls für viel zu klug, um auf nationalistische Leimruten zu kriechen. Was Sie betreiben, könnte man jedoch als „taktischen" Nationalismus bezeichnen. ({34}) Sie wollen die Anrufung des Nationalei instrumentalisieren, um die verlorengegangenen Wertbindungen in der Gesellschaft zu ersetzen. ({35}) Das Nationale gewissermaßen als Surrogat für verlorengegangenen Gesellschaftskitt! Ihnen, Herr Schäuble, und allen anderen, die in ähnliche Richtungen denken und argumentieren, rate ich mit großem Ernst, aufzuhören mit diesem Spiel. Es ist ein Spiel mit dem Feuer! ({36}) Für Nachahmer mit ganz anderen Absichten, als Sie sie haben, setzen Sie ein verdammt schlechtes Zeichen. Dazu drei Argumente. Noch argumentieren wir ja; wir versuchen es mindestens. Erstens. Es ist ein Irrtum zu glauben, das Nationale könne man anrufen, um instabile gesellschaftliche Verhältnisse durch kollektive Sinnstiftung zu beruhigen. Werden die Verhältnisse dann wirklich instabil, entgleitet der Nationalismus dem rationalen Diskurs und gewinnt explosive Zerstörungskraft durch die Dynamik eines verselbständigten politischen Prozesses. ({37}) Wer an einen angeblich gesunden Nationalismus glaubt und ihn predigt, der nimmt letztlich in Kauf, daß unkontrollierbarer, explosiver Chauvinismus daraus erwächst. ({38}) Es ist - finde ich - irritierend, daß man das im Jahre 1994 in Deutschland betonen muß. ({39}) Zweitens. Die Anrufung des Nationalen ist so überflüssig wie ein Kropf. Mit den Worten von Hans Barbier von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" - ich zitiere -: Die Bundesrepublik hat ihren Platz in der Welt 40 Jahre lang gefunden, ohne das Nationale auch nur zu vermissen. Wer es heute - mit allen Risiken, die diese Chiffre in Deutschland nun einmal hat - in den politischen Prozeß einführt, der ist begründungspflichtig. Wozu ist das gut, wird das gebraucht, wem schadet das? Es ist nicht gut, sage ich; es funktioniert nicht; und es wird auch nicht gebraucht. ({40}) Die gesellschaftlichen Konflikte können wir rational lösen, durch bessere Politik, ohne auf ontologische Sinnstiftung zu verweisen, die letztlich einem totalitären Anspruch verpflichtet ist. ({41}) Zudem weiß doch hier jeder - fast jeder -, daß die Anrufung des Nationalen uns im Verhältnis zu unseren Partnern schadet. Die Betonung des Nationalen wird unweigerlich zu einem Verlust an Berechenbarkeit führen. Das über lange Zeit aufgebaute Vertrauen in die Verläßlichkeit deutscher Politik wäre tangiert. Sie sehen doch, Herr Kollege Schäuble, wie irritiert die europäischen Regierungen auf Ihre jüngsten Europavorschläge reagieren! ({42}) Drittens. Auch „taktischer" Nationalismus ist - ich wiederhole es - ein schlechtes Zeichen. Es ist jedenfalls schwer, nationalistisch gefärbten Haß, Gewalt und Ausländerfeindlichkeit zu bekämpfen, und zwar mit jener Entschlossenheit, die ich bei der Bundesregierung ohnehin vermisse, wenn ich dem Nationalen in einem anderen Zusammenhang eine Weihestätte einrichte. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wer tut denn das? -

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Wer hat denn das getan?) Wie viele, frage ich mich, frage ich Sie, werden in der Lage sein, das eine von dem anderen zu unterscheiden? ({0}) Noch einmal, meine Damen und Herren: Ich rate Ihnen, ja ich bitte Sie, diesen Geist nicht aus der Flasche zu lassen. ({1}) Die Nation geht uns nicht verloren und der Patriotismus auch nicht. Genügt es nicht, daß wir unser Land lieben und daß wir an die Menschen glauben, um Zuversicht zu stiften? Ich denke: ja. ({2}) Sicher bin ich jedenfalls, daß wir Ersatzreligionen - das ist nicht Ihr Wort -, insbesondere solche mit einem stark infizierenden Charakter, nicht brauchen. ({3}) Meine Damen und Herren, auch der Antikommunismus ist als Bindekraft in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft höchst ungeeignet; ({4}) denn zum einen liegt glücklicherweise die Zeit des Kalten Krieges hinter uns, und zum anderen ist der Kommunismus - Gerhard Schröder hat es gestern so formuliert - mausetot. ({5}) Wir werden es wahrscheinlich alle noch erleben, daß auch die letzten kommunistischen Bastionen, größere und kleinere, in absehbarer Zukunft implodieren. Der Kommunismus ist tot, der Antikommunismus freilich lebt. ({6}) „Taktischer Antikommunismus" ist wahrscheinlich die richtigere Bezeichnung. ({7}) Denn es ging und geht den taktischen Antikommunisten in Wahrheit nur um eines: Mit der Kritik am Kommunismus soll die Sozialdemokratie gejagt und getroffen werden. ({8}) Es ist schon komisch, wenn es nicht so bitter wäre: Während der Kommunismus seit seinem Bestehen die Sozialdemokratie zu seinem vornehmsten Feind erklärte - „Sozialdemokratismus" -, ({9}) versuchen die taktischen Antikommunisten unentwegt zu suggerieren, Sozialdemokratie und Kommunismus seien zwei Seiten einer Medaille. „Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau", „Volksfront" - und jetzt „rote Socken". ({10}) - Frau Präsidentin, mich irritiert das alles relativ wenig. Ich muß Ihnen nämlich ein kleines persönliches Geheimnis erzählen: Ich habe seit vier Wochen Ohrenprobleme, höre relativ schlecht, mit dem rechten noch schlechter als mit dem linken Ohr. Sie können deshalb rufen, was Sie wollen, ich höre es eh nicht. Das hat manchmal Vorteile. ({11}) Meine Damen und Herren, ich will nicht allzuweit in die Vergangenheit zurückgehen. Vergangenheitsbewältigung ist eine schwierige Sache, und Politiker, zumal in Wahlkampfzeiten, haben ganz offensichtlich Schwierigkeiten im Umgang mit der Wahrheit. Aber vielleicht erinnern sich einige auf der rechten Seite dieses Hauses noch daran, wie von ihnen damals versucht worden ist, mit dem Schüren von Kommunistenangst die GRÜNEN zu bekämpfen und die tatsächliche oder vermeintliche Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten zu denunzieren. Das war doch so; es gibt dafür zahlreiche Belege in den Protokollen. ({12}) Das hat sich durch Zeitablauf inzwischen erledigt. Heute gibt es sowohl bei Konservativen wie bei GRÜNEN - jenen, die man die Wertkonservativen nennt - Überlegungen, ob nicht auch Schwarz-Grün ginge. Und ich sage Ihnen: Es wird sehr spannend, dies weiter zu verfolgen. Die GRÜNEN jedenfalls sind als Gespenst nicht mehr brauchbar. Glücklicherweise gibt es ein neues Gespenst, die PDS. Ob die PDS eine kommunistische Partei ist, ist zwar nicht eindeutig belegt, aber die PDS - ({13}) - So ist das halt mit der Argumentation und der Wahrheitsfindung. Ich verstehe auch Sie nicht, Herr Schäuble; es tut mir wahnsinnig leid. Sie müssen es mir hinterher sagen. Aber - das füge ich dem ersten Satz hinzu - die PDS ist die Nachfolgepartei der SED. Sie duldet in ihren Reihen eine „kommunistische Plattform", und sie verweigert bis zum heutigen Tage eine Klärung ihres ideologischen Standorts. ({14}) Es gibt also, wie ich zugebe, Klärungsbedarf. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Ja!) Aber um Aufklärung geht es der Union und dem Herrn Bundeskanzler gar nicht. Ihn interessiert auch weniger die PDS als vielmehr die Macht. Um der Macht willen wird die PDS instrumentalisiert, um einmal mehr die SPD zu diffamieren; ({0}) eine ziemlich absurde Kampagne, die im Osten kaum jemand versteht, die mehr zur Spaltung als zur Einheit beiträgt und die erkennbar zu nichts Gutem führen kann. Vollends absurd wird diese Situation, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es gerade die Politik dieser Bundesregierung ist, die entscheidenden Anteil daran hat, daß die PDS in den sogenannten neuen Ländern bei Wahlen so stark geworden ist. ({1}) Haben Ihnen, Herr Bundeskanzler, Ihre Parteifreunde im Osten Deutschlands noch nicht gesagt, warum die Menschen dort PDS wählen? Haben sie Ihnen noch nicht gesagt, was in den Köpfen und Herzen von Menschen geschieht, die, nachdem sie die Freiheit endlich erlangt haben, von geldgierigen Raubrittern betrogen, wegen einer idiotischen Restitutionsregelung um ihr bißchen Eigentum gebracht, wegen sogenannter Staatsnähe pauschal mit der Kappung ihrer Rentenbezüge bestraft werden und die ihr Selbstwertgefühl verloren haben, weil ihr Leben, ihre Existenz von heute auf morgen nichts mehr wert sein soll? ({2}) Ist das noch nicht zu Ihnen vorgedrungen, Herr Bundeskanzler? Wird Ihnen nur der organisierte Jubel vorgeführt, ({3}) und haben Sie die ohnmächtige Wut, die hilflose Enttäuschung und das Gefühl, unablässig betrogen zu werden, ohne sich wehren zu können, noch nie wirklich wahrgenommen? Dann schauen Sie sich endlich einmal die wahren Keimzellen der PDS-Erfolge im Osten Deutschlands an: die Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit als Resultat verfehlter Politik, Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler! ({4}) Um jeden Zweifel zu zerstreuen, sage ich mit aller Deutlichkeit: Wer immer in der letzten Zeit meinte, den Rat geben zu müssen, die SPD dürfe in ihrer Behandlung der PDS die historische Spaltung der Arbeiterbewegung nicht wiederholen, der irrt fundamental. ({5}) Einmal ganz abgesehen davon, daß ich nicht anzugeben wüßte, was „Arbeiterbewegung" heute konkret und real bedeuten könnte, scheint mir das eher ein übriggebliebenes ideologisches Konstrukt zu sein. ({6}) Aber entscheidender ist: Die Spaltung der Arbeiterbewegung war historisch unvermeidlich und notwendig, und sie ist nicht rückgängig zu machen. Denn es war die Spaltung zwischen freiheitlicher und demokratischer Bewegung hier und unfreier, am Ende totalitärer Bewegung dort. ({7}) Freiheit und Unfreiheit, Demokratie und Unterdrükkung können keine politischen Brüder oder Schwestern sein, und sie dürfen es auch niemals werden. ({8}) Von dieser geschichtlichen Erfahrung wird die deutsche Sozialdemokratie niemals auch nur einen Millimeter abweichen. ({9}) Weil das aber unsere mehr als ein Jahrhundert dauernde Geschichte und Tradition ist - und unsere ist besser als Ihre -, ({10}) brauchen wir uns von den Koalitionsparteien Belehrungen in Sachen Demokratie nicht anzuhören. ({11}) Die PDS ist unser politischer Gegner, und zwar vor, in und nach Wahlen. ({12}) Wir werden aber, mögen die taktischen Antikommunisten noch so heulen und johlen, nicht den Fehler machen, die Wähler der PDS zu stigmatisieren. ({13}) Die wählen zu einem nicht unerheblichen Teil die PDS, weil sie sich bereits ausgegrenzt fühlen. Was soll denn das, den Schaden zu verdoppeln, statt zumindest ein bißchen Gespür für die verzweifelte Situation vieler Menschen aufzubringen? Ich hoffe doch sehr, daß CDU und CSU nicht dem Irrtum unterliegen, sie könnten ihre selbstgeschaffenen Probleme vergessen machen, indem sie die PDS-Wähler ausgrenzen und die SPD diffamieren. Radikalisierten Protest kann man ignorieren; das ist wohl wahr. Über kurz oder lang aber werden Sie mit dieser Taktik gegen die Wand laufen; dann jedenfalls ist es für das Weglaufen zu spät. ({14}) Meine Damen und Herren, in meiner ersten Rede als Fraktionsvorsitzender habe ich den englischen Schriftsteller John le Carré zitiert. Ich zitiere ihn heute, am Ende der Legislaturperiode, erneut: Der Kommunismus habe zwar verloren, aber ob der Kapitalismus gewonnen habe, sei noch nicht entschieden. Ich wiederhole dies, um heute wie damals deutlich zu machen, daß die westliche Welt vor gigantischen Herausforderungen steht. Bis heute ist höchst fraglich, ob wir diese Herausforderungen bewältigen werden. Es ist nicht einmal klar, ob wir es wollen, ob wir überhaupt ernsthaft den Versuch machen, die Probleme zu lösen. Dabei waren noch nie in der Geschichte der Menschheit die Gefahren für ihr Überleben wissenschaftlich so genau vermessen und prognostiziert. Es herrscht eigentlich kein Mangel an plausiblen und zumeist pragmatischen Lösungsmöglichkeiten. ({15}) Aber es passiert fast nichts, jedenfalls zu wenig. „Wir Wissenschaftler", schreibt Hans Joachim Schellenhuber, „sind wie Lotsen auf einem Vergnügungsdampfer, die genau wissen, daß wir auf einen Eisberg stoßen, wenn wir so weitermachen. Dem Kapitän zu sagen, er solle den Kurs ändern, ist zwecklos, weil sich die Gesellschaft gerade so schön vergnügt. Deshalb berechnen wir, wie lange es noch bis zum Aufprall dauert und wie wir die Leute in die Boote bringen." Das Bild stimmt, meine Damen und Herren, abgesehen davon, daß ich Zweifel habe, ob es dann die Rettungsboote noch geben wird. Es sind ja keine Katastrophengemälde; es ist ausrechenbare Zukunft, daß bestimmte bedrohliche oder besorgniserregende Entwicklungen auf unserer Welt mit exponentieller Geschwindigkeit wachsen. ({16}) „Exponentiell" will sagen: Nach langen Phasen von Ruhe und Stabilität, in denen sich nichts zu verändern scheint, treten katastrophale Konsequenzen überfallartig hervor und treffen die Menschen nicht nur unerwartet und unvorbereitet, sondern auch bar jeder Handlungsmöglichkeit. Zu den gegenwärtigen exponentiellen Entwicklungen, sagt Dieter Lutz, gehören zum Beispiel das Bevölkerungswachstum, die Konzentration der sogenannten Treibhausgase und die Gefährdung der Ozonschicht, die Luftverschmutzung und die Klimaveränderungen, das Artensterben und die Vernichtungswirkung von Waffen. Ich füge meinerseits hinzu: das beinahe epidemische Anwachsen von Irrationalität, religiös verbrämtem politischen Fundamentalismus und terroristischer Gewalt. Noch ein, zwei oder drei Menschenleben werden wir, jedenfalls hier in Westeuropa, vielleicht oder hoffentlich leben können, ohne daß wir uns durch diese Entwicklungen sonderlich beeinträchtigt fühlen. Aber jeder weiß doch: Wenn wir diese Zeit, in der uns scheinbar kaum etwas fehlt oder uns nichts geschieht, nicht nutzen, um die beschriebenen Entwicklungen zu stoppen, werden sie uns am Point of no return überrollen. Das ist die Herausforderung. Damit sich keiner täuscht, welchen Weg wir bis zu diesem Point of no return bereits zurückgelegt haben: Diese Herausforderung ist der Politik in aller Welt seit mindestens 20 Jahren bekannt. Jurek Becker hat die Situation exakt beschrieben: Wir sitzen in einem Zug mit allem Komfort, mit Klimaanlage und Speisewagen. Die Fenster sind geschlossen, alles funktioniert. Wir merken nur nicht, daß die Strecke ständig bergab geht. Meine Damen und Herren, es ist doch wahr: Zu lange treibt unser Land ohne echten Sinn für gemeinsame Ziele und Verantwortlichkeiten dahin. ({17}) Zu viele Menschen sind schon zu lange arbeitslos oder leben im sozialen Abseits. Zu groß sind die Schäden an der Natur, die wir zukünftigen Generationen zumuten. Zu wenig werden die Chancen genutzt, die unsere Techniker entwickeln könnten und die in unserer Wirtschaft liegen, um zu mehr Beschäftigung und zu einer umweltverträglichen Entwicklung zu gelangen. Wir Sozialdemokraten wollen und werden die Orientierungskrise und die Unsicherheit vieler Menschen überwinden. Die Kluft zwischen unserem Wissen über die sozialen und ökologischen Gefährdungen und den praktischen Konsequenzen darf nicht noch tiefer werden. ({18}) Wir werden die Regierungspolitik der folgenlosen Ankündigungen beenden, weil um Gottes willen aus enttäuschten Hoffnungen und Verdrossenheit keine Abkehr von unserer Demokratie erwachsen darf. Wir nehmen die Sorgen der Menschen ernst, aber wir wollen ihnen zugleich Mut machen, sich wie in den 70er Jahren mit uns für Demokratie und Reformen zu engagieren. ({19}) Ziel unserer Politik ist es, daß jeder Bürger eine verläßliche Existenzgrundlage und die gerechte Chance auf sozialen Aufstieg hat. Dies erfordert eine intelligente, im Dialog entwickelte, marktkonforme und pragmatische Industriepolitik mit ehrgeiziger ökologischer Zielsetzung. ({20}) Deshalb steht der von uns allen getragene soziale und ökologische Umbau unserer Volkswirtschaft an erster Stelle einer sozialdemokratischen Reformpolitik. Dies ist unser eigentliches Reformprojekt. ({21}) Meine Damen und Herren, es geht um eine Richtungsentscheidung. Es hat keinen Sinn, darum herumzureden. Am 16. Oktober steht die Alternative zur Wahl, sich weiter so durchzuwursteln oder einen neuen politischen Anfang zu wagen. ({22}) Wir wollen eine bessere und gerechtere Politik. Das sind wir unserem Land und unseren Kindern schuldig. ({23})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Michael Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sich mich ein paar Worte zum Kollegen Klose sagen. Erstens. Die Mahnung hinsichtlich der leisen Töne hätten Sie gestern an Herrn Lafontaine und Herrn Schröder richten sollen. ({0}) Zweitens. Wenn Sie von mieser Stimmung gesprochen haben, dann können Sie nur die Stimmung in der SPD gemeint haben. Wenn Sie von fehlenden gemein21418 sauren Zielen in unserem Land gesprochen haben, dann haben Sie wieder nur von Ihrer Partei gesprochen. ({1}) Drittens. Ihre heutige Distanzierung von Herrn Scharping, der der Architekt der Koalition in Magdeburg war, war sehr interessant. Es ist ja auch bekannt, daß Sie diese Koalition nicht eingefädelt hätten. Insofern finde ich diese Klarstellung sehr gut. Sie haben gesagt: Um der Machterhaltung willen wird die PDS instrumentalisiert. Ich frage: Wer hat denn die PDS instrumentalisiert, indem man sich mit den Stimmen aus der PDS zum Ministerpräsidenten hat wählen lassen? ({2}) Das von Ihnen angesprochene „no return" muß doch für den Kommunismus in diesem Land gelten. Viertens und letztens. Sie haben heute gezeigt, Herr Kollege Klose, daß man auch mit leisen Tönen unverschämt sein kann, wenn ich Ihre Ausführungen in bezug auf Herrn Schäuble nehme. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Das ist wahr!) Wir verabschieden morgen die letzten alliierten Soldaten aus Berlin. Ich möchte an dieser Stelle den Amerikanern, Briten und Franzosen für ihren Schutz und ihre Opfer für die Freiheit unserer Hauptstadt danken. ({0}) Ohne diese großartige Hilfe unserer westlichen Partner und unserer europäischen Freunde wäre es nicht gelungen, das Joch des Kommunismus abzuschütteln. Wir möchten, daß dieses Europa weiter ausgebaut wird, daß es da, wo es möglich ist, vertieft wird, daß es kein Closed Shop für die jetzt zu ihm gehörenden Länder bleibt, sondern daß es sich auch für andere Länder öffnet. Darüber diskutieren wir, und darüber denken wir nach. Bei uns gibt es kein Denkverbot. Genau das steht in dem von Herrn Schäuble, mir und anderen vorgelegten Papier. ({1}) Vor einer Woche haben wir feierlich die letzten russischen Soldaten als Freunde von deutschem Boden verabschiedet - ein großer und historischer Tag deutscher Geschichte. Es ist der Politik von CDU und CSU, der Politik von Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß und ihrer Nachfolger Helmut Kohl und Theo Waigel zu verdanken, daß dies so Früchte trägt. ({2}) In ganz Deutschland herrschen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, aber auch wirtschaftlicher Aufschwung und soziale Sicherheit, und der Arbeitsmarkt hat sich schneller gewendet, als wir es alle zu hoffen gewagt haben. ({3}) Die Zahl der Arbeitslosen ist erstmals wieder rückläufig, und die der Kurzarbeiter ist sehr deutlich zurückgegangen. ({4}) In- und ausländische Investoren haben wieder Vertrauen zu Deutschland. Die D-Mark ist heute stabiler und härter denn je, sie ist eine internationale Ankerwährung und genießt weltweit hohes Vertrauen. Die Inflationsrate sinkt weiter. Das ist die sozialste Politik für breite Bevölkerungsschichten, die man machen kann. ({5}) Die neuen Bundesländer sind die Wachstumsregion Nummer eins in Europa, mit höheren Wachstumsraten als die Wachstumsregionen Südostasiens. Die Sozialleistungen in Deutschland sind weiterhin, auch international gesehen, auf dem allerhöchsten Stand. Das ist Politik für die Menschen, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({6}) Vieles, ja das allermeiste von dem, was wir durchgesetzt haben, gerade in puncto Haushaltskonsolidierung, in puncto wirtschaftlicher Weichenstellung, mußte gegen die Verweigerungshaltung und gegen die Destruktion der Sozialdemokraten durchgesetzt werden. ({7}) In einer historisch wichtigen Phase deutscher Geschichte gefährden SPD und GRÜNE mit ihrer Politik der Sonderwege unsere auf Frieden und Freiheit, auf Vertrauen und Stabilität ausgerichtete Außenpolitik, aber sie gefährden auch durch eine auf Verweigerung und Aussteigermentalität gegründete Wirtschafts- und Energiepolitik die wirtschaftlichen und finanziellen Fundamente unseres Landes. Deutschlands Zukunft wäre auf das höchste gefährdet, wenn eine Front aus GRÜNEN, SPD und der kommunistischen PDS die Verantwortung für unser Land bekäme. ({8}) Die SPD - Herr Scharping kann es ja korrigieren-ist in allen zentralen Fragen tief gespalten, unglaubwürdig und nicht regierungsfähig. ({9}) Die Zweifel an den Fähigkeiten von Herrn Scharping wachsen mittlerweile doch insbesondere in den Reihen der SPD. Selbst bei Ihnen traut ihm niemand mehr viel zu, ({10}) seit man weiß, daß er brutto nicht von netto unterscheiden kann. ({11}) Deswegen erleben wir ja auch eine Uraufführung im deutschen Oppositionstheater: Die SPD tritt mit einem Team von Kanzlerkandidaten an, einer Troika, frei nach Karl Valentin: Der eine soll morgens, der andere an geraden Tagen und der Dritte nur montags und freitags regieren. ({12}) Schlimmer ist der Kanzlerkandidat einer Partei vor der Wahl noch nie demontiert worden; nach der Wahl hat die SPD ihre Kandidaten allemal demontiert. ({13}) Im krassen Gegensatz zum russischen Pferdeschlitten - das ist ja die klassische Troika - zieht bei der SPD-Troika jeder in eine andere Richtung. ({14}) Vor allen Dingen ist das Niedersachsen-Roß schon nach Hause getrabt, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({15}) Die Einbindung von Herrn Schröder in diese Troika hat doch nur bedeutet: Es darf nach der Wahl keine strahlenden Verlierer geben, sondern alle müssen mit in den Sog des Niedergangs hineingezogen werden. ({16}) Aus diesem Grunde gab es auch das Werben um diesen Niedersachsen-Schimmel. ({17}) Ich möchte gern etwas zu Ihrer Regierungsmannschaft sagen, Herr Scharping; nicht zu allen, weil es sich nicht lohnt, aber einen Teil der Leute möchte ich doch kurz streifen. Interessant ist z. B. der Schattenaußenminister Verheugen, der warnte, der Plutoniumschmuggel sei von der Bundesregierung inszeniert. Ich kann nur sagen: Der amoklaufenden SPD ist in ihrem Verzweiflungskampf jedes Mittel zur Verleumdung der Bundesregierung recht. ({18}) Da Herr Verheugen ohnedies nur Platzhalter für Joschka Fischer ist - er ist schon anwesend -, der künftig Vizekanzler und Außenminister werden soll, lohnt es sicher nicht, sich weiter mit ihm auseinanderzusetzen. Herr Klose hat vorhin - in unnachahmlich larmoyanter Weise - die Probleme der Dritten Welt beschrieben. Ich nehme das sehr ernst. Aber dann sorgen Sie, Herr Klose, dafür, daß man nicht einfach das Entwicklungsministerium, das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, streicht und es künftig bei Herrn Joschka Fischer ins Außenministerium eingliedert. Das ist doch unglaublich, das ist doch ein Schlag gegen die Dritte Welt! ({19}) Das Landwirtschaftsministerium - und die Bauern werden es Ihnen danken - soll ein Wurmfortsatz des Umweltministeriums der Greenpeace-Aktivistin Monika Griefahn werden. ({20}) Damit werden die Landwirte von der SPD als ökologischer Störfall eingestuft. ({21}) Wenn Frau Griefahn künftig die Agrarpreise und die Konditionen für deutsche Bauern in Brüssel aushandeln muß, dann tritt ein Zustand ein, der dazu führt, daß sie die Bauern anschließend auf ihre „rote Artenschutzliste" setzen kann, denn dann sind sie vom Aussterben bedroht. ({22}) Wer die deutsche Landwirtschaft zum Anhängsel einer ökomarxistischen Steinzeitpolitik machen will, macht sich der Vernichtung Zigtausender Familienbetriebe schuldig. ({23}) Dies zeigt, daß die SPD die Landwirtschaft abgeschrieben hat. ({24}) - Weil Sie gerade den Zuruf „Kabarettist" machen: Daran können auch die kabarettistischen Bierzeltnummern, die von Renate Schmidt in Bayern zur Verwirrung der Landwirtschaft veranstaltet werden, nichts ändern, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({25}) Die Auftritte erinnern sowieso mehr an eine Operette von Lehär ({26}) als an solide und seriöse politische Alternativen zur bayerischen Staatsregierung. ({27}) Obwohl sich Herr Schröder wieder in sein Land zurückgezogen hat, möchte ich ihm doch noch ein paar Worte widmen. Seine wirtschaftspolitische Visitenkarte, sein Empfehlungsschreiben: 10,2 % Arbeitslosigkeit. Mit dem Saarland von Herrn Lafontaine liefert sich Herr Schröder einen Wettlauf bei den Negativbilanzen. Dort liegt die Arbeitslosenquote bei 12 %. Der Freistaat Bayern hingegen hat trotz erheblicher Strukturprobleme im Durchschnitt eine Arbeitslosenquote von 6,5 %. Nirgendwo sind Personalausgaben und Neuverschuldung in den Jahren 1990 bis 1993 stärker gestiegen als in Niedersachsen. ({28}) Auch andere Länder hatten die Finanzierung der Wiedervereinigung zu verkraften. Allein die Ministerialbürokratie - und das ist entlarvend - wurde um 20 % aufgebläht. ({29}) Wie glaubhaft ist demnach Herr Schröder? ({30}) Er ist da so wenig glaubhaft wie in der Energiepolitik, in der er sich nicht hatte durchsetzen können. Frau Simonis hat vor Ausstiegsbeschlüssen von SPD und GRÜNEN gewarnt: „Wir dürfen die Menschen nicht belügen." Ich kann mich ihr nur anschließen. Wer vorgibt, die deutschen Kernkraftwerke abschalten zu können, der gefährdet den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland und unsere Umwelt in eklatanter Weise. ({31}) Nun zum Finanzjongleur und Steuerhinterzieherfreund - Sie haben ja Johannes Zwick Asyl gewährt -, dem Schulden-Oskar aus dem Saarland: Herr Lafontaine, Sie haben hier gestern eine demagogische, eine schäbige Vorstellung gegeben. ({32}) Vor allen Dingen haben Sie durch Ihre fälschenden Darstellungen, was die Verschuldung des Bundes in den letzten Jahren betrifft, gezeigt, daß Sie die deutsche Einheit immer noch ablehnen. ({33}) Herrn Lafontaine, dem Schulden-Oskar von der Saar, die Verantwortung für die deutschen Finanzen zu übertragen, hieße doch, den Bock zum Gärtner zu machen. Wer dies tut, handelt genauso töricht wie der Trägerverein eines Lyzeums, der einen Rotlichtbaron zum Präfekt beruft. ({34}) Ich gehe eine Wette ein, daß in diesem Fall die Keuschheit der jungen Damen trotzdem weniger gefährdet wäre als im umgekehrten Fall die Stabilität der D-Mark bei einem Finanzminister Lafontaine. ({35}) Lafontaine und Schröder sind, obwohl von der SPD groß herausgestellt - auch das geht in der Öffentlichkeit unter -, in Wirklichkeit doch nur zweite Wahl, da sich Edzard Reuter und Karl-Otto Pöhl für Scharpings Verliererteam zu schade gewesen sind. Oder liegt es etwa an der Bezahlung? Beide Herren sind ja auch dafür bekannt, daß sie nur für sehr viel Geld tätig werden. ({36}) Ich möchte mich jetzt ein bißchen mit einer neuen Institution befassen, die auf uns zukommen soll, nämlich den sogenannten Beratern. Frau Steilmann will ihre Zweitstimme der CDU und Helmut Kohl geben. Das war das Vernünftigste, was ich bisher von ihr gehört habe. ({37}) Jens Reich hat laut „Bild"-Zeitung vom 5. September angekündigt: Ich wähle BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Dann gibt es noch die Talk-Show-Ministerin Regine Hildebrandt. Ich bin überzeugt, Herr Scharping, die wird Sie mehr nerven als Ihnen nutzen; Ihnen wird es gehen wie den deutschen Fernsehzuschauern. ({38}) Außerdem ist von ihr der Ausspruch bekannt - ich zitiere -: In der SED-Nachfolgepartei PDS gibt es „eine Menge guter Leute, mit denen wir zusammenarbeiten können" . Dann haben Sie ja auch noch Herrn Goeudevert berufen. Er war früher einmal mal bei Ford; dann ist er in den Vorstand von VW übergewechselt; dann hat Herr Schröder als Großaktionär von VW dafür gesorgt, daß er rausgeworfen worden ist, weil man ihm die Sanierung dieses Konzerns nicht zugetraut hat, und so ist er nun frei, Berater für Sie zu sein. ({39}) Ich kann nur sagen: Mit dieser Mannschaft und diesen persönlichen Beratern ist bei Gott kein Staat zu machen. Was Herr Scharping hier der staunenden Öffentlichkeit aufgetischt hat, ist weniger ein Dream-Team als vielmehr ein Panikorchester, das letzte Aufgebot trauriger Schatten. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, die SPD hat ihn damit geliefert. Sie ist nicht regierungsfähig, weil sie auch personell keine überzeugenden Alternativen hat. ({40}) Das Scharping-Panikorchester mit grünen Trommlern und PDS-Einbläsern steht für Stillstand und Niedergang, für Ungewißheit und instabile Verhältnisse. ({41}) - Nun hören Sie doch mal zu; jetzt lese ich aus der Tageszeitung „Die Welt" vor; jetzt spitzen Sie einmal einen Moment Ihre Ohren. Die „Welt" vom 5. September, also vor drei Tagen, schreibt über die Folgen eines rot-grünen Bündnisses: Die Folgen eines solchen Bündnisses wären unabsehbar: Mit gewaltigen Kursstürzen der Aktienmärkte auf breiter Front müßte man schon am 17. Oktober rechnen. So sicher wie das Amen in der Kirche ist bei einer Regierungsbeteiligung der Grünen ... auch eine beispiellose Welle der Kapitalflucht ... Der vorsichtige wirtschaftliche Aufschwung erlitte eine Vollbremsung. Die ForMichael Glos schungsabteilungen der Großkonzerne würden ins Ausland verlegt. ({42}) - Ich weiß, das wollen Sie alles nicht hören. Die Arbeitslosigkeit würde steigen. Das internationale Gewicht Deutschlands würde von einem Tag auf den anderen in den freien Fall übergehen. Die internationale Konstante Helmut Kohl fiele weg. Ein Schreckensszenario! ({43})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich glaube, wir müssen einen Augenblick warten, bis wir hier wieder reden können.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann Edzard Reuter gut verstehen, der zum „König von Berlin" gekrönt werden will und nicht die Ochsentour in einer solchen Mannschaft antreten will, um in der Politik Karriere zu machen. Er weiß offensichtlich auch, warum er sich nicht Herrn Scharping als Berater zur Verfügung gestellt hat; sonst müßte er sich nämlich mit einer solchen Fraktion auseinandersetzen, wie Sie es sind, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({0}) Aber er hat Herrn Scharping einen kleinen Trostpreis gegeben: Er hat ein Buch von ihm vorgestellt. Ich zitiere aus der Rede, die er aus diesem Anlaß gehalten hat: Die Verteufelung von Innovationsprojekten wie der Raumfahrt und der Bio- und Gentechnologie oder des Jäger 90 - so Edzard Reuter hat hochqualifizierte Arbeitsplätze nicht in Deutschland, sondern anderswo in der Welt geschaffen. ({1}) Auch der jüngste Schulterschluß zwischen Altkanzler Schmidt und Alt-Juso Scharping kann nicht davon ablenken, daß dieser 1982 von der jetzigen Troika auf Grund seines Festhaltens an den sogenannten Sekundärtugenden davongejagt worden ist. ({2}) Wäre der selbsternannte Weltökonom, der Versager und Schuldenmacher der ausklingenden 70er Jahre, nicht nur älter, sondern zwischendurch auch weiser geworden, hätte er Rudolf Scharping für sein Magdeburger Zusammenspiel mit den Erben von Stalin und Honecker geohrfeigt statt umarmt. ({3}) Ich habe eine politische Jackpot-Frage. Auf wen ist wohl folgender Satz zurückzuführen? Die Jungsozialisten sehen den Grund für die Strukturkrisen im kapitalistischen System und - ich zitiere jetzt wörtlich treten gleichfalls für die Vergesellschaftung der entscheidenden Bereiche in der Industrie, Finanzsektor, Handel und Dienstleistungen ein; ... kurzfristig ist die Durchsetzung einer Preiskontrolle zum Beispiel für Grundnahrungsmittel notwendig. ({4}) - Nein, es ist weder das Ahlener Programm noch das Kommunistische Manifest. Ich kann das Rätsel lösen: Es handelt sich um eine Entschließung der Jungsozialisten in der SPD vom 7. September 1974, unterschrieben vom damaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden Rudolf Scharping. ({5}) Seit Sachsen-Anhalt und dem 26. Juni wissen wir: Die SPD scheut nicht einmal davor zurück, um das Linsengericht eines Ministerpräsidentenposten willen auch den Kommunisten wieder Einfluß auf die deutsche Politik einzuräumen. In Magdeburg wird erprobt, was für Bonn geplant ist. ({6}) Das ist das, was wir als Volksfront und was Herr Hintze zu Recht als Linksfront darstellt. Die PDS ist nichts anderes als die alte SED: gleiche Mitglieder, gleiche Organisation, gleiche Funktionäre, gleiche Kader, gleiche Kassen und Konten. Nur der Name ist geändert worden. „Ich hätte natürlich tausendmal lieber mein Leben in der DDR verbracht als in dem Deutschland, in dem ich jetzt leben muß" - so Sarah Wagenknecht, Vertreterin der kommunistischen Plattform im Vorstand der PDS in „Kennzeichen D" am 27. Juli 1994. Der Landesvorsitzende der PDS in Mecklenburg, Holter, sagt, das Staatswesen der Bundesrepublik Deutschland gehöre abgeschafft. Im Grundsatzprogramm der PDS heißt es: Wir sind uns einig, daß die Herrschaft des Kapitals überwunden werden muß. An anderer Stelle - das muß uns zu denken geben -: Dem historischen Ereignis der sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 verdankt die Menschheit grundlegende günstige Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Schließlich will die kommunistische PDS die Spaltung Deutschlands auf Dauer im Grundgesetz durch die Einführung einer eigenen „Ostkammer" im Bundestag festschreiben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind nicht auf einem Auge blind wie die SPD. Wir bekämpfen Radikale von rechts und von links. ({7}) Sie hätten unserem Land und auch dem internationalen Ansehen unseres Landes viel erspart, wenn Sie nicht absichtlich Obstruktionspolitik zur Begünsti21422 gung auch der Rechten in diesem Land betrieben hätten. ({8}) Wir hätten uns viel erspart, wenn die SPD beim neuen Asylgesetz rechtzeitig auf uns gehört hätte. ({9}) Durch ihre Verweigerungshaltung hat die SPD den Nährboden für Frey, Schönhuber und Konsorten bereitet. ({10}) Aus parteitaktischen Gründen war man vor der Wahl in Baden-Württemberg zu keiner Lösung bereit und hat damit bewußt die Reps gefördert. Das ist eine Tatsache. ({11}) Frau Renate Schmidt, die fränkisch-barocke Ausgabe von Regine Hildebrandt, hat damals noch sehr weitsichtig, wie es ihre Art ist, verkündet - und ich zitiere wieder -: Durch das neue Asylrecht wird kein einziger Asylant weniger nach Deutschland kommen. Heute sind es über 70 % weniger, gegenüber dem Höchststand sogar 85 % weniger. Wer sich so irrt, dem kann man keine Regierungsverantwortung übertragen, weder in Bayern noch in Deutschland. ({12}) Richtig ist: Die SPD hat in Sachsen-Anhalt den Grundkonsens der Demokraten aufgekündigt, in Deutschland keine gemeinsame Sache mit Parteien zu machen, die nicht auf dem Boden der Demokratie stehen. - Ich habe deswegen aus den Programmen zitiert. - Der Schulterschluß mit den Verbrechern an Mauer und Stacheldraht, den Henkern von Bautzen um eines Ministerpräsidentenpostens willen zerstört die Gemeinsamkeit der Demokraten. Genau hier, an dieser Stelle, wird die Gemeinsamkeit gestört, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({13}) - Frau Kollegin, wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie Klaus von Dohnanyi, der sagt: Wer jetzt glaubt, er kann Tolerierungs- und Koalitionsabsprachen mit der PDS treffen, der ruiniert Deutschland. ({14}) Die SPD hat zum Erfolg der PDS in den neuen Ländern auf erschreckende Weise beigetragen. Auch Herr Klose hat es heute wieder getan, indem er die gewaltigen Aufbauleistungen in den neuen Bundesländern diskriminiert hat, statt die Ursache für die Arbeitslosigkeit und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dort beim Namen zu nennen: Es war die sozialistische und die kommunistische Vergangenheit, die Arbeitsplätze dort ruiniert und zerstört hat. ({15}) Herr Scharping trägt für diese unheilvolle Entwicklung die Verantwortung. Einer seiner engsten Mitarbeiter ist Leiter der Staatskanzlei in Magdeburg. Herr Scharping, Sie haben die Suppe eingebrockt, Sie müssen auch dafür sorgen, daß das wieder in Ordnung kommt. Sie sind nur glaubhaft in Ihren Beteuerungen, dieses Magdeburger Modell nicht in Bonn praktizieren zu wollen, wenn Sie diesen Spuk dort schnellstens beenden und mit Demokraten zusammenarbeiten. Danke schön. ({16})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es spricht jetzt der Fraktionsvorsitzende Hermann Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen, beruhigen Sie sich doch! Wir müssen Sie ertragen, und Sie müssen uns ertragen. So ist das in dieser Debatte. Wir haben gestern Herrn Lafontaine auch ertragen müssen. Das war nicht gerade angenehm. ({0}) Wir haben eine harte Debatte, eine Wahlkampfdebatte. Die führen Sie genauso wie wir. Bitte achten Sie das! ({1}) Frau Präsidentin, Sie haben kürzlich gesagt, daß wir nun die arbeitsreichste und politisch bedeutsamste Legislaturperiode seit dem Wiederaufbau in den 50er Jahren hinter uns haben. Ich füge hinzu: auch die erfolgreichste Legislaturperiode. ({2}) Wie heißt es in der Bibel? - An ihren Taten sollt ihr sie erkennen und nicht an Wunschvorstellungen oder Bildern, die hier gemalt werden, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. ({3}) Herr Klose, wenn Sie sagen, die Stimmung sei mies, dann frage ich, wo im Lande Sie denn eigentlich herumkommen. ({4}) Haben Sie denn heute nicht die Zeitung gelesen? Gerade heute steht im Wirtschaftsteil: 70 000 weniger Arbeitslose, steigende Auftragseingänge, steigende Umsätze, Exporterfolge. - Ja, das ist doch was! Kürzlich hat mich ein amerikanischer Professor, ein Wirtschaftsprofessor, besucht. - Es ist ja immer gut, objektive Zeugen zu nennen. - Der hat vor vier Jahren die neuen Bundesländer bereist und jetzt wieder. ({5}) Er sagte, es wäre für ihn völlig unfaßbar, was sich in den neuen Bundesländern getan habe. Es wäre jenseits jeder realen Vorstellung. Das sagte ein ausgewiesener Experte. ({6}) Ich glaube ihm mehr als Ihnen, und ich fahre auch selbst mit offenen Augen durch unser Land und sehe, was passiert ist. Es geht darum, den Menschen, die in den neuen Ländern noch nicht die Vorteile haben, Mut einzuflößen und ihnen zu sagen: Es gibt eine Perspektive für dich, und wir werden daran weiter arbeiten. - Man kann doch nicht hingehen und sagen: Diese Perspektive gibt es nicht. Es ist alles katastrophal, und es wird alles noch schlimmer. - Das wäre keine verantwortliche Politik. ({7}) Gerade die Politik für den Aufbau in den neuen Bundesländern - was die Wirtschaft anbetrifft, was das Sozialsystem anbetrifft, was den Wohnungsbau anbetrifft - ist mustergültig. Ich will hier nur einige Fakten nennen: Wir haben jetzt ein Wachstum von 10 % beim Bruttoinlandsprodukt. Das ist die stärkste Wachstumsregion in Europa. So etwas war doch vorher nicht vorstellbar. (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Jawohl!) Wir haben in den wenigen Jahren mehr als 650 000 neue selbständige Existenzen bekommen. Vorher gab es ja fast gar keine. ({0}) Wir haben 40 000 Einzelbetriebe privatisiert. Wir investieren in diesem Jahr allein 160 Milliarden DM nur in den neuen Bundesländern. Die Staatswirtschaft ist nahezu vollständig privatisiert. 1,5 Millionen Arbeitsplätze konnten gesichert oder neu geschaffen werden. Die Renten sind gesteigert worden. Das ist überhaupt die größte Leistung in meinen Augen. ({1}) Vor der deutschen Einheit, Frau Fuchs, hat die DDR 16 Milliarden Ostmark für ihre Rentner ausgegeben. Heute werden für die Rentner in den neuen Bundesländern 66 Milliarden DM ausgegeben, also das Vierfache - und dazu noch mit einer dreifachen Kaufkraft. ({2}) Das ist die größte soziale Leistung, die in diesem Land und überhaupt in Europa jemals vollbracht wurde. Ich bitte Sie, das zu würdigen; ({3}) denn Sie haben ja daran mitgewirkt. Sie haben ja das Rentengesetz mit verabschiedet. ({4}) Herr Klose, wenn Sie sich dann wegen der ungleichen Behandlung der Intelligenzrenten ereifern, so haben Sie da einen Punkt genannt, den wir noch einmal korrigieren müssen. Nur, Sie und auch Herr Dreßler haben seinerzeit das mitbeschlossen. Herr Dreßler hat genauso darauf gedrungen, daß es diese pauschale Abwertung gibt. Sie können sich doch davon nicht so einfach distanzieren. Meine Damen und Herren, wir haben formal eine Haushaltsdebatte. Herr Lafontaine hat uns ja hier gestern einiges geboten. ({5}) - Ich habe dabei gelernt, daß ein Ministerpräsident in diesem Hause die Abgeordneten und die Vertreter der Regierung der Lüge bezichtigen darf, wir aber nicht gleichberechtigt entgegnen dürfen. Dann werden wir vom Präsidenten abgemahnt. ({6}) Also, Lüge ist bewußte Äußerung von Unwahrheit. Das haben Sie selbst, Herr Lafontaine, in ausreichendem Maße gestern hier geboten. ({7}) Nun will ich doch einmal auf einige Einzelheiten kommen: Sie wollen sich ja nun als die Partei darstellen, die der Gerechtigkeit in Deutschland zum Durchbruch verhelfen will. ({8}) Dabei heben Sie immer wieder ab auf die Steuerbelastung sowie auf die sogenannte Fehlentwicklung bei der Steuerbelastung. Die Gerechtigkeit in unserem Steuersystem liegt in unserem progressiven Steuertarif. Das wissen Sie genausogut wie ich, weil Sie diesem progressiven Tarif bei jeder Änderung zugestimmt haben. Das heißt - ich sage es einmal so, daß es jeder versteht -: Die kleinen Einkommensbezieher zahlen überhaupt keine Lohn- und Einkommensteuer. Das Existenzminimum muß noch ausgeweitet werden. Die, die etwas mehr verdienen, zahlen 19 %. Dann steigt der Tarif linear an, und die Hochverdienenden zahlen 53 %. Hier ist also ein ganz klares Gerechtigkeitsprinzip enthalten. Dies heißt im Fachchinesisch: Besteuerung nach der individuellen Leistungsfähigkeit. Wenn Sie jetzt einen Solidarzuschlag in Höhe von 7,5 % erheben, dann zahlt wieder der Kleine nichts, keinen Solidarzuschlag. Der Wenigverdienende zahlt bei 19 % nur einen Solidarzuschlag von 1,4 %, und der Hochverdienende zahlt einen Solidarzuschlag von 4 %. Das hat zum Ergebnis, daß der Wenigverdienende dann zusammen etwas mehr als 20 % bezahlen muß, während der Spitzenverdiener 57 % bzw. - wenn Sie die Kirchensteuer dazu rechnen - 60 % bezahlen muß. Daran sehen Sie, daß dieses ein gerechtes System ist. Sie stellen dagegen die Ergänzungsabgabe für die sogenannten, von Ihnen so definierten Besserverdienenden. Was heißt denn das? - Das heißt, daß die Wenigerverdienenden keinen Beitrag leisten, aber bei 60 000 DM Jahreseinkommen auf einen Schlag 10 % mehr geleistet werden muß. ({9}) Wer in unserer Republik verdient denn 60 000 DM und mehr? - Im Westen gibt es kaum einen Facharbeiter, der weniger verdient. ({10}) Sie treffen alle Facharbeiter. - Entschuldigung, ich habe mir gerade die Tarife angeschaut, beispielsweise im Baugewerbe, in der Automobilindustrie, in der chemischen Industrie, in der Energiewirtschaft. Überall haben Sie Löhne, die darüber liegen. Und das ist die Unehrlichkeit von Ihnen, ({11}) das zu bestreiten. Sie sagen ihrer eigenen Klientel nicht, daß Sie sie so zusätzlich belasten wollen, einer Klientel, auf die wir angewiesen sind. ({12}) Meine Damen und Herren, zählen Sie doch einmal zusammen, was Sie alles an zusätzlichen Belastungen fordern: Arbeitsmarktabgabe, Ergänzungsabgabe, Vermögensabgabe. - Die Vermögensabgabe ist übrigens ein ganz besonders interessanter Gegenstand. 1,5 % zur Vermögensteuer von 1 % heißt: In zehn Jahren werden die Sparer und Wohneigentumsbesitzer um 25 % ihres Vermögens gebracht, ({13}) in 50 Jahren um das halbe Vermögen. - Erbschaftsteuererhöhung noch obendrauf, Wegfall der Einheitswerte, Besteuerung nach den Verkehrswerten, Mineralölsteuer bis zu 5 DM pro Liter - ich kann nur sagen: Sparer, näht euch die Taschen zu, Häuslebauer, schließt die Türen ab. Wenn die SPD drankommt, noch mit den GRÜNEN und der PDS zusammen, dann wird es euch an den Kragen gehen. ({14}) Das sind Fakten. Sie brauchen doch nur in Ihren Programmen zu lesen; da steht das drin. Meine Damen und Herren, in dieser Legislaturperiode ist also nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen viel Gutes getan worden. Ich erinnere nur an die Reform des Gesundheitswesens, an das Asylrecht, an den Abbau der Subventionen. Es heißt immer, die Subventionen seien nicht abgebaut worden. In Wirklichkeit sind die Subventionen seit 1990 um 50 Milliarden DM abgebaut worden. ({15}) Nur auf Grund der neuen Subventionen für die neuen Bundesländer ist das Gesamtvolumen nicht niedriger geworden. Aber diese Subventionen wollten und brauchen wir. Wohnungsbau - eine besondere Erfolgsstory; 2 Millionen neue Wohnungen in einer Legislaturperiode. ({16}) Wir haben die Fertigstellung mehr als verdoppelt. Das sind Fakten; dem können Sie leider nichts entgegensetzen. ({17}) Meine Damen und Herren, leider haben Sie, was die Verbrechensbekämpfung anbetrifft, Ihre Blockadehaltung auch gestern abend im Vermittlungsausschuß nicht aufgegeben. ({18}) Sie mahnen ununterbrochen an, wir sollten auf diesem Gebiet etwas tun, aber wenn es um die Sache geht, verweigern Sie Ihre Mitarbeit. ({19}) Und was noch viel schlimmer ist: Die Zuständigkeit für Polizei und Justiz liegt bei den Ländern. Ihre Landes-innen- und -justizminister hätten längst eine Reform bei Polizei und Justiz durchführen müssen, damit diese adäquater handeln können. Wir brauchen mehr Polizisten, besser ausgebildete, besser ausgestattete Polizisten, damit sie auf der Straße auch tätig sein können. ({20}) Hier tun Sie nichts, weil das heißt, mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Meine Damen und Herren, die SPD hat sich gerade in dieser wichtigen Zeit des Auf- und Umbaus in Deutschland zur Partei entwickelt, die die notwendigen Reformen verhindert - die SPD, die einmal unter Willy Brandt als Reformpartei angetreten war, die die Gesellschaft erneuern wollte. Heute ist sie die Partei, die die Reformen blockiert. Man kann sich nicht einerseits als Rechtsstaatspartei rühmen, andererseits aber zentrale Grundrechte wie den Schutz des Eigentums oder den Schutz der Privatsphäre zur Disposition stellen. ({21}) Man kann nicht einerseits Verbrechensbekämpfung fordern und andererseits dort, wo man die Verantwortung dafür trägt, dieses nicht mit bewirken. Man kann sich nicht einerseits zum Fürsprecher der Arbeitslosen machen und andererseits diese Interessen dem Machtkartell der Tarifparteien opfern. Man kann nicht einerseits neue Arbeitsplätze versprechen, andererseits diejenigen mit Steuern und Abgaben bedrohen, die durch Mehrleistungen und Investitionen solche Arbeitsplätze schaffen wollen. ({22}) Eine Partei, die sich ernsthaft um die Regierungsverantwortung bemüht, kann dies so nicht tun. Man kann, Herr Scharping, die Koalitionsparteien nicht gleichzeitig links und rechts überholen. Wer das versucht, der wird einen Auffahrunfall verursachen und bleibt dann liegen. Vor diesem Schicksal stehen Sie nun. Deswegen haben sie jetzt Herrn Schröder in Ihr Triumvirat geholt; er soll natürlich Mitverantwortung für die Niederlage tragen. Aber, ich glaube, Sie haben sich da ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Denn wenn es möglich sein sollte, daß Sie eine Mehrheit mit der PDS bilden können - und Sie haben abgelehnt, dieses zu tun -, dann wird er Sie beiseite räumen und selbst die Macht übernehmen. ({23}) Mich interessiert der Vorgang in Magdeburg doch sehr. Reinhard Höppner hat vor der Wahl gesagt: nicht mit der PDS. Nach der Wahl macht er es mit der PDS. Jetzt sagt er, aber er sei es gar nicht gewesen. ({24}) Herr Scharping sagt, er sei es auch nicht gewesen. Herr Schröder sagt, er unterstütze dies, aber er habe es nicht veranlaßt. Und von Verheugen sieht man seit Wochen nichts mehr, er ist untergetaucht. Ich frage mich. Wer trägt eigentlich die Verantwortung dafür? ({25}) Wenn Sie schon die Regierungsgeschäfte hier übernehmen wollen, dann müßten Sie auch den Mut haben, sich Ihrer Verantwortung zu stellen und zu sagen: Das haben wir veranlaßt, wir halten das für richtig. ({26}) Um deutlich zu machen, auf was Sie sich da einlassen, will ich einen anderen Schröder zitieren, der glaubwürdiger ist: Richard Schröder. Er hat nämlich gesagt: „Die PDS ist eine Partei der Ausbeuter, rücksichtslos beutet sie das Ressentiment, die Unzufriedenheit, den Ost-West-Gegensatz, den Oppositionsgeist Jugendlicher aus." Für den ostdeutschen Theologen Richard Schröder ist der mögliche Koalitionspartner seines niedersächsischen Namensvetters eine unsolide, illusionistische Partei, deren Ziel es ist, die deutsche Einheit zu erschweren und die Gräben zwischen Ost und West zu vertiefen. ({27}) Ich kann dem nichts hinzufügen. Herr Gysi kann sich ja anschließend damit auseinandersetzen. Denn er ist auch mitverantwortlich dafür, daß in dem Programm der PDS heute noch steht: „Dem welthistorischen Ereignis der sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 verdankt die Menschheit grundlegende günstige Entwicklungen im 20. Jahrhundert. " Ich bin wirklich neugierig, wo diese günstigen Entwicklungen zu finden sein sollen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch sagen: Gerade die jüngsten europapolitischen Planspiele aus den Reihen dieses Hauses ({28}) und die durch sie hervorgerufenen Irritationen bei unseren europäischen Freunden und Nachbarn sind Beleg dafür, welch große Verantwortung der F.D.P. gerade auf dem Gebiet der Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik künftig zukommt. ({29}) Die F.D.P. steht für eine verläßliche und verantwortungsbewußte, wertorientierte Außenpolitik. Wir werden die Kooperation der bewährten Institutionen NATO, die die potentiellen Partner der SPD abschaffen wollen, WEU, KSZE und Vereinte Nationen als einzigen Garanten einer Friedensordnung weiterentwickeln. Die F.D.P. ist Garant für die Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik und Handlungsfähigkeit in der Regierung der Koalition der Mitte. Klaus Kinkel ganz persönlich steht dafür. ({30}) Ich möchte einmal fragen, wer in der Bevölkerung ihn denn austauschen wollte, womöglich gegen Joschka Fischer oder Günter Verheugen. Da kann es einem nur kalt den Rücken herunterlaufen. ({31}) Nein, Außenpolitik muß verläßlich und berechenbar sein. Es darf nicht den Eindruck geben, deutsche Sonderwege könnten wieder möglich sein, ({32}) so wie es die GRÜNEN in ihrem Programm ankündigen. Deshalb soll die Außenpolitik in den bewährten Händen bleiben. ({33}) Wir haben vier Jahre harter Arbeit hinter uns. Ich meine, das Bild klart sich jetzt auf. Wir sehen, daß die Arbeit gut war.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Kollege Sohns, gestatten sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich bin am Ende, Frau Präsidentin. ({0}) Wir sehen, daß wir die Grundlage für eine gedeihliche Zukunft gelegt haben. Wir können den Wählern nur empfehlen, die Verantwortung wieder in die Hände der bewährten Politiker zurückzugeben, die diese verantwortungsvolle und erfolgreiche Politik betrieben haben. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Abgeordnete Gregor Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei dem Stil der Debatte, der hier von Herrn Glos eingeführt worden ist, wird einem natürlich himmelangst davor, daß das auch noch verstärkt nach dem 16. Oktober 1994 seine Fortsetzung finden könnte. Ich finde, es gibt Grenzen der politischen Geschmacklosigkeit, die man sich selbst in diesem Hause leisten kann. ({0}) Ich sage Ihnen, eines wird nicht funktionieren - was allerdings teilweise auch bei Herrn Klose durchschimmerte -, nämlich die Trennung der PDS einerseits von ihren Wählerinnen und Wählern andererseits. Diese Art von Stigmatisierung funktioniert auch nicht. Sie wissen schon, was sie wählen. Sie sind nicht dümmer als andere Wählerinnen und Wähler und bringen mit ihrer Abstimmung eine bestimmte Absicht zum Ausdruck. Wenn Sie uns beleidigen und beschimpfen, dann beleidigen Sie eben 20 % der ostdeutschen Bevölkerung, die die PDS gewählt haben. ({1}) - So ist es zweifellos. Sie haben sie als „Henker von Bautzen" und ähnliches bezeichnet. Im übrigen beweisen Sie immer wieder Ihre absolute Geschichtsunkenntnis. Sie wissen ja nicht einmal, was eine kommunistische Partei ist. Sonst würden Sie nicht so albern über Dinge urteilen, von denen Sie nichts verstehen. ({2}) Ich bin schon einigermaßen entsetzt, Herr Solms, daß Sie aus dem Programm der PDS zitieren, es offensichtlich aber nie gelesen haben, sondern ein Flugblatt der CDU benutzen. Sonst hätten Sie nämlich festgestellt, daß in dem Programm steht, daß zwei Ergebnisse positiv sind: der Kampf gegen den Faschismus und die Niederschlagung des Faschismus bei den Kämpfen um Stalingrad etc. und der Zusammenbruch des Kolonialsystems, der natürlich mit ein Ergebnis der Oktoberrevolution ist. Danach kommt eine ganz scharfe Kritik an den Ergebnissen der Oktoberrevolution, was nämlich Demokratie, Menschenrechte, Effizienz und anderes betrifft. Aber daß Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, zeigt, daß Sie versuchen, mit ganz einseitigen Darstellungen - und das sind letztlich auch Lügen und Heuchelei - Wahlkampf zu führen. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nichts bringen. ({3}) Denn die Ergebnisse Ihrer eigenen Politik sind viel zu extrem und negativ, als daß man sie übersehen könnte. Sie gehen deshalb ja auch von Schicksalswahlen aus. Ich kann Ihnen im übrigen die Heuchelei auch an einem anderen Beispiel belegen. Alle regen sich über Sachsen-Anhalt auf, sprechen vom Traditionsbruch der SPD und was sie da alles für Vokabeln benutzen. Warum sprechen Sie eigentlich nie über Brandenburg? In Brandenburg haben wir schon länger eine Minderheitsregierung, und dort wird manches Gesetz mit den Stimmen der PDS verabschiedet; das ist dort Usus. Wissen Sie, warum Sie nicht von Brandenburg sprechen? Weil die F.D.P. mit in der Regierung sitzt und auch die Mehrheit zusammen mit der PDS nutzt ({4}) und weil Sie sich nicht trauen, Ihren Koalitionspartner anzugreifen. Das ist der einzige Grund. Im übrigen gibt es in Brandenburg noch extremere Dinge, worüber wir, finde ich, auch nachdenken müßten. Dort bringen nämlich CDU und PDS gemeinsam Gesetzentwürfe und Anträge ein, die zum Teil sogar Erfolg haben, nämlich dann, wenn sie etwas Vernünftiges für die Brandenburgerinnen und Brandenburger bringen. Nein, das ist alles blanke Heuchelei. Sie versuchen etwas, was wirklich schlimm ist. Sie versuchen nämlich, den Kalten Krieg, der in Europa eigentlich beendet ist, in dieser Gesellschaft fortzusetzen. Damit spalten Sie diese Gesellschaft in höchst unangenehmer Art und Weise. ({5}) Ich sage Ihnen noch etwas. Sie lenken mit Ihrer ganzen Debatte „Zukunft statt Linksfront" davon ab, daß die wirkliche Gefahr in dieser Gesellschaft ganz eindeutig von rechts ausgeht. Daß diese Gefahr heute so groß ist, haben Sie wegen Ihrer Politik in den vergangenen Jahren zu vertreten. ({6}) Herr Bundeskanzler, Sie haben die Mitglieder, die Sympathisanten und die Wählerinnen und Wähler der PDS als rotlackierte Faschisten beschimpft. ({7}) Das ist eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen. Wissen Sie, daß es in unserer Partei nicht wenige Mitglieder gibt, die zwischen 1933 und 1945 in Konzentrationslagern und Zuchthäusern der Nazis saßen? Haben Sie vielleicht eine gewisse Vorstellung, was es für solche Menschen bedeuten muß, gleichgesetzt zu werden mit ihren Henkern und Folterern? ({8}) Im übrigen bekennen sich alle, die sich in irgendeiner Form zur PDS bekennen oder sie wählen, damit auch zum aktiven Antifaschismus. Nehmen Sie das schlimme Wort zurück! Denn wir wissen von der Asyldebatte, was Worte anrichten können. Am Anfang standen die schlimmen Worte von der Asylantenschwemme, von den Wirtschaftsflüchtlingen, von der Asylantenflut, davon, daß das Boot voll ist, und von der durchmischten und durchraßten Gesellschaft, und erst danach brannten die Häuser und die Menschen selbst, die mit solchen Worten diffamiert worden sind. Wenn Sie das nicht zurücknehmen, übernehmen Sie unmittelbare moralische und politische Mitverantwortung für jede Gewalttat, die gegen Linke in dieser Gesellschaft in Zukunft begangen wird. ({9}) - Ja, das ist nun einmal das schlimmste Ergebnis der Ära dieser Koalition, daß sich überall in dieser Gesellschaft Nationalismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus verbreiten. ({10}) Dabei geht es ja nicht nur um Erscheinungen in der Gewaltszene, sondern wir haben inzwischen Zeitungen und Publikationen, die diese Themen entsprechend bearbeiten. Wir haben intellektuelle Zirkel. Kurzum, dieser Rechtsextremismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Aber es gibt dafür natürlich auch soziale Ursachen. Diese sozialen Ursachen sind meines Erachtens von Ihnen ebenso mit gesetzt worden. Es gibt eine Außenpolitik, die das unterstreicht. Denn unmittelbar nachdem die russischen Truppen abgezogen sind, fordert Herr Schäuble eine Kernunion mit Frankreich und den Beneluxstaaten. Wer aber einem Europa mehrerer Geschwindigkeiten das Wort redet, der legt die Axt an zur Spaltung der Europäischen Union, der schürt letztlich eben auch Nationalismus und Chauvinismus und betreibt Großmachtpolitik. Er will bestimmen, wer in Europa in der ersten Reihe sitzen soll und wer nicht. Dazu paßt dann eben auch, daß mit allen Mitteln gefördert wird, daß die Bundeswehr weltweit eingesetzt wird, als ob gewachsene politische Verantwortung in dieser Welt nur militärisch wahrgenommen werden könnte, als ob nicht das Nord-Süd-Problem und andere große Konflikte unserer Zeit in erster Linie politisch, ökonomisch, sozial, kulturell und zivilisatorisch anzupacken wären und eben nicht militärisch. Der Bundesverteidigungsminister hat ja eine Richtlinie herausgegeben, in der jetzt schon steht, daß das Militär auch zum Schutz des Welthandels international eingesetzt werden kann. Das bedeutet doch wohl übersetzt: zur Durchsetzung deutscher Wirtschaftsinteressen. Schauen wir uns die Ergebnisse der Wirtschafts- und Sozialpolitik an, dann wird deutlich, daß diese Gesellschaft immer tiefer gespalten wird, aber nicht in Ost und West, sondern in Reich und Arm, in privilegiert und unterprivilegiert. Die Arbeitslosigkeit ist offiziell im Westen auf 8 %, im Osten auf 15 % angestiegen. Über vier Millionen Menschen sind inzwischen als Arbeitslose registriert. Hinzu kommen noch Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Menschen im Vorruhestand, in Umschulungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die in dieser Statistik eigentlich noch hinzuzufügen wären. Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger selbst ist z. B. seit 1982 bis heute auf 4 Millionen verdoppelt worden. Die Staatsschulden von Bund, Ländern und Gemeinden explodierten von 600 Milliarden DM auf über 2 000 Milliarden DM. ({11}) Die Geldwertentwertung ging weiter. Die Kaufkraft nahm deutlich ab. Steuern und Abgaben stiegen. Die Armut nahm bedenklich zu. ({12}) Der Deutsche Gewerkschaftsbund und Wohlfahrtsverbände, die zum Teil Ihnen nahestehen, geben an, daß über 7 Millionen Menschen in der Bundesrepublik in Armut leben. Fast 1 Million Menschen sind inzwischen obdachlos und vegetieren auf den Straßen und in Notunterkünften. Unter diesen Obdachlosen befinden sich über 100 000 Kinder, die obdachlos geboren wurden und geblieben sind. Für eine so reiche Gesellschaft wie die der Bundesrepublik ein durch nichts zu entschuldigender Skandal. Der Herr Bundesfinanzminister wird nicht müde, darauf hinzuweisen, daß die ganze zusätzliche Verschuldung nur mit dem Aufbauwerk Ost zusammenhängt. ({13}) Das ist eindeutig unwahr. Die Bruttoausgaben für den Osten von 1991 bis 1994 betrugen nach Ihren eigenen Zahlen 405,5 Milliarden DM. Das ist die Bruttosumme. Sie ziehen schon nicht ab, was Sie im Osten an Einnahmen haben. Ich frage mich, warum nicht. ({14}) Diese Einnahmen betrugen nämlich im gleichen Zeitraum 198 Milliarden DM. Dann reduziert sich für einen Zeitraum von vier Jahren der Nettobetrag auf 207,5 Milliarden DM. Wenn Sie dann noch das abziehen, worauf alle Menschen in diesem Land Anspruch haben - Kindergeld, Erziehungsgeld und ähnliches, und zwar unabhängig davon, ob sie in Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern leben -, so ist das ein Betrag von 165,9 Milliarden DM. Dann bleiben für vier Jahre als wirkliche Sonderausgaben gerade mal 41,6 Milliarden DM übrig, d. h. etwa 10 Milliarden DM pro Jahr. Das ist die Realität. Damit läßt sich eine Steigerung der Staatsverschuldung um 1 400 Milliarden DM mit Sicherheit nicht erklären. ({15}) Ich behaupte, daß Sie damit spalten, weil Sie nämlich, indem Sie eine falsche Summe nennen, die Ostdeutschen täglich demütigen und ihnen sagen, daß sie eigentlich zu teuer sind, während Sie den Westdeutschen das Gefühl geben, daß Sie sozusagen in ihr Portemonnaie greifen müssen, um die Ostdeutschen zu bezahlen, was nicht wahr ist. Wer eine solche Politik macht, spaltet. Und Sie werfen uns vor, zu spalten. Ich sage Ihnen: Wer die objektiven Benachteiligungen der Ostdeutschen benennt und sich dafür einsetzt, daß sie abge21428 baut werden, der spaltet nicht, im Gegenteil: Der leistet seinen Beitrag zur Einheit. Wer hindert Sie denn daran, diese Benachteiligungen abzubauen? Dadurch wäre die Spaltung doch schon zu einem großen Teil überwunden. ({16}) Dafür sind Beispiele genannt worden. „Rückgabe vor Entschädigung" ist eine ganz klare Benachteiligung. Nur, die SPD hat dem Vertrag, in dem das stand, zugestimmt, Herr Klose. Auch der Rentenkappung haben Sie zugestimmt. Es freut mich ja, wenn Sie das jetzt korrigieren. ({17}) Aber Sie verlangen von uns Aufarbeitung der Geschichte; dann muß ich das auch von Ihnen verlangen. Dazu hätte gehört, daß Sie sagen: Wir haben da zuerst mitgemacht, sehen das inzwischen aber anders. Das wäre ehrlich gewesen. ({18}) Dabei habe ich vieles, was wir an Geld durch die Einheit einsparen, noch gar nicht berechnet, was Sie immer weglassen. Ich erinnere nur an Transitpauschale und viele andere Dinge. Wenn Sie das einmal richtig berechnen würden, käme etwas ganz anderes heraus. ({19}) - Wissen Sie, Sie argumentieren doch immer wirtschaftlich. Da will ich Ihnen einmal etwas sagen: Warum erwähnen Sie denn nie, welchen Boom es für die westdeutsche Wirtschaft bedeutete, daß der Binnenmarkt Ost dazukam, daß sie jährlich Waren und Dienstleistungen im Wert von 200 Milliarden DM zusätzlich im Osten verkauft hat - was die Rezession hier verschoben hat -, daß 85 % der ehemaligen volkseigenen Industrie jetzt Eigentum westdeutscher Unternehmen sind? ({20}) Sie können doch nicht bestreiten, daß einige da ein Riesengeschäft gemacht haben. Es gibt Gewinner der Einheit; aber es gibt eben auch viele Verliererinnen und Verlierer. Daß das nicht sozial ausgewogen abgelaufen ist, haben Sie durch Ihre Politik zu verantworten. ({21}) Wenn Sie Massenarbeitslosigkeit bekämpfen wollen, dann reicht Ihr „Weiter so" nicht aus. Selbst ein Konjunkturanstieg führt nicht dazu, daß Arbeitslosigkeit abgebaut wird. Die meisten Unternehmen sind heute in der Lage, die Auftragszahlen zu erhöhen, ohne eine einzige neue Arbeitskraft einzustellen. ({22}): Er hat das Land ruiniert, und jetzt redet er so!) Versuchen Sie, über wirkliche Reformen nachzudenken! Natürlich brauchen wir eine gesetzliche Beschränkung der Zulässigkeit von Überstunden, eine Kürzung der Arbeitszeit; und wir brauchen ein anderes Investitionsklima. ({23}) Ein anderes Investitionsklima werden Sie aber nicht erreichen, solange die permanent steigenden Unternehmensgewinne in erster Linie zu den Banken getragen und nicht investiert werden, und zwar deshalb, weil das Finanzkapital viel stärker privilegiert ist als das Produktionskapital. ({24}) Denn fast jede Tätigkeit in der Wirtschaft ist steuerpflichtig, aber praktisch überhaupt keine Tätigkeit an den Banken. Wir werden das nur ändern, wenn wir auch das Abgabensystem ändern. Es bleibt nicht länger gerechtfertigt, daß zwei Unternehmen - das eine mit 20 Beschäftigten, das andere mit 500 Beschäftigten - bei gleichem Umsatz völlig unterschiedliche Abgaben in die Sozial- und sonstigen Versicherungssysteme zu zahlen haben: das eine nämlich nur für 20, das andere für 500 Beschäftigte. Lassen Sie uns als Berechnungsgrundlage Umsatz und Gewinn nehmen, und schon haben wir eine echte Beschäftigungsförderung in dieser Gesellschaft. Es würde nicht als erstes über den Abbau von Arbeitsplätzen nachgedacht werden, wenn der Umsatz einmal zurückgeht, weil dann eben auch die Abgaben zurückgehen würden. ({25}) Lassen Sie uns etwas gegen die Steuerhinterziehung tun. Wissen Sie, gerade Sie werden besonders aktiv, wenn irgendwo in Hamburg oder in Erfurt eine Sozialhilfeempfängerin 10 DM zuviel hat: Da schicken Sie ganze Kontrollgruppen hinterher. Aber daß in diesem Land 130 Milliarden DM Steuern hinterzogen werden, interessiert Sie nicht, weil es Ihre Klientel ist, die diese Steuern hinterzieht. Deshalb schonen Sie diese Leute so. ({26}) Damit könnte man eine Menge Arbeitsplätze schaffen, gerade auch dort, wo wir genügend Arbeit haben, nur zuwenig Arbeitsplätze: im Bereich Verkehr, im Bereich Ökologie, im Bereich Bildung, im Bereich Kultur, im Gesundheitswesen und in vielen anderen Bereichen. ({27}) Ich sage Ihnen auch etwas zu Ihrem Wohnungsbau. Auch die Wohnungsbauförderung ist im Grunde genommen skandalös. ({28}) - Ja, dann nehmen Sie doch bitte die konkreten Zahlen: 1989 wurden in den neuen Bundesländern noch 90 000 Wohnungen gebaut, 1990 waren es noch 60 000. Dann ging das auf 16 000 herunter, danach sogar auf 13 000; jetzt, 1994, sind wir wieder bei über 20 000 angelangt. ({29}) Insgesamt waren es im letzten Jahr über 400 000 Wohnungen. Wissen Sie, wie viele Sozialwohnungen darunter waren? 70 000. Das heißt, überwiegend haben Sie gar nicht Sozialwohnungen gefördert, sondern Sie haben solche Wohnungen gefördert, mit denen später Mietwucher betrieben wird, was bedeutet: Sie haben wieder Ihre Klientel bedient. Sie haben selbst die Wohnungsbauförderung genutzt, um Reiche reicher und Arme ärmer zu machen. Das ist eine Tatsache. Deshalb sage ich Ihnen: Es wird höchste Zeit, daß diese Politik eine andere wird. Bei aller Kritik werden wir einen Regierungswechsel natürlich nicht stoppen, obwohl die SPD vieles mitgemacht hat: Abschaffung des Asylrechts, Solidarpakt, der den Sozialabbau erst einleitete. Über das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung und vieles andere habe ich schon gesprochen. Dennoch sage ich: Wir werden alles unterstützen, was in Richtung Antimilitarismus und Feminismus geht, was zu mehr Bildung und Kultur führt, was Arbeitslosigkeit abbaut, was Chancengleichheit in Kultur und Bildung wiederherstellt. Ich bin froh, daß die ideologische Schere aus der Zeit der DDR in Kultur und Bildung überwunden ist. Aber Sie werden mich nicht dazu bringen zuzustimmen, daß statt dessen eine soziale Schere eingeführt wird. Beide Scheren müssen überwunden werden, das ist das Entscheidende. Wissen Sie, Herr Bundeskanzler, Sie fahren durch das Land und machen falsche Versprechungen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Gysi, Ihre Redezeit ist beendet. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das ist der letzte Satz. Bei den vielen Angriffen, Frau Präsidentin, ist es schwierig, sie alle abzuwehren. Es wird höchste Zeit, daß wir in Fraktionsstärke zurückkehren und hier längere Redezeiten bekommen. Das würde ja dann passieren. Sie, Herr Bundeskanzler, versprechen erneut blühende Landschaften und erzählen überall, daß Sie es am 16. Oktober 1994 noch einmal wissen wollen. Die PDS wird ihren Beitrag dazu leisten, daß Sie es auch erfahren. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Staatsminister für Umwelt, Energie und Bundesanlegenheiten, Joschka Fischer. Staatsminister Joseph Fischer ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte ... als unfähig erwies, ({1}) gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen. ({2}) Ende des Zitats. So Originalton Helmut Kohl. Recht hat er gerade hier und heute mit diesen weisen, prophetisch-selbstkritischen Worten aus seiner Regierungserklärung aus dem Jahre 1982. Eine bessere Zusammenfassung der Ist-Situation, eine bessere Zusammenfassung der Leistungsbilanz Helmut Kohls könnte heute nicht gegeben werden. ({3}) Bilanz und Erblast der Regierung Kohl vier Jahre nach der Einheit sind überaus deprimierend. Was Sie heute versucht haben, das sind die blühenden Landschaften Teil zwei. Aber das wird Ihnen nicht gelingen. ({4}) Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Die schlimmste Erblast ist die grassierende Massenarbeitslosigkeit in Ost und West. Im Westen beträgt sie 8,2 %, im Osten 14,7 %; so die offiziellen Zahlen. Nimmt man noch die versteckte Arbeitslosigkeit hinzu, kommt man auf wesentlich höhere Zahlen. Angesichts dieses Dramas der Massenarbeitslosigkeit hat sich die Regierung seit langem aus jeder aktiven Arbeitsmarktpolitik verabschiedet und läßt statt dessen die Dinge tatenlos treiben. ({5}) Die Einheitspolitik dieser Regierung ist völlig gescheitert. Die blühenden Landschaften waren blühender Unfug, Herr Bundeskanzler. Wir finanzieren heute die Einheit auch nicht aus den Steuerzuwächsen, wie Sie das damals im Westen verkündet haben. Die Absage an eine aktive staatliche Industriepolitik und das selige Vertrauen auf die westdeutschen Marktkräfte haben sich als ein historischer Irrtum sondergleichen erwiesen. Wir finanzieren heute Massenarbeitslosigkeit, weil diese Regierung aus marktwirtschaftlich-ideologischer Verblendung heraus nicht in der Lage war, sich beizeiten von ihren Rosinenträumen der Marktkräfte im Osten zu verabschieden und die industriellen Kerne zu erhalten. Die Unternehmen dort hatten keine Chance, sich auf die Marktwirtschaft einzustellen, und so finanzierten wir nicht Arbeit, sondern Staatsminister Joseph Fischer ({6}) Arbeitslosigkeit. Das ist Ihr ureigenster Beitrag zu dem Debakel in den neuen Bundesländern. ({7}) Meine Damen und Herren, wenn man an ein Leben nach dem Tode glaubt und wenn Franz Josef Strauß heute morgen den Glos gehört hat, muß er den Kopf in eine Gewitterwolke gesteckt haben, um das nicht mitzubekommen, so mies und so elend daneben war dieser Auftritt. ({8}) Aber wenn Sie, meine Damen und Herren, und Sie, Herr Bundeskanzler, neuerdings nachts schon von roten Socken träumen und sich im Traum schon eine rote Zipfelmütze über die Nase ziehen, dann sage ich Ihnen: Es ist das Ergebnis Ihrer Politik, das Sie in den Wahlergebnissen der PDS wiederfinden können, direkt und unmittelbar. ({9}) Die Enttäuschung derjenigen, die „Helmut, Helmut! " rufend über die Marktplätze zogen, als Sie mit der D-Mark wie mit einer Monstranz durch die neuen Bundesländer zogen ({10}) und Versprechungen machten, von denen Sie wußten, daß Sie sie nicht würden halten können, führt heute unmittelbar zur Stimmabgabe für die PDS. Das wissen Sie ganz genau. ({11}) Was Sie jetzt versuchen, ist, die PDS durch völlig unqualifizierte Angriffe hochzureden. Was Sie jetzt versuchen, ist, die Rechnung hinzubekommen, daß am Ende die Stimmabgabe für die PDS eine Reformalternative in diesem Lande am 16. Oktober verhindern soll. Das ist alles, was Sie betreiben. ({12}) Eine weitere schlimme Erblast der Ära Kohl ist die explodierende Staatsverschuldung, das direkte Ergebnis jener völlig verfehlten Einheitspolitik, die allein auf die selbstheilenden Kräfte des Marktes und auf eine verantwortungslose Schuldenpolitik zur Finanzierung des Aufbaus Ost vertraut hat. Die Regierung Kohl begann 1982 mit 600 Milliarden DM öffentlichen Schulden und hinterläßt heute bei ihrem Abtritt mehr als 2 000 Milliarden DM öffentliche Schulden. ({13}) Und Theo Waigel gilt immer noch als ein Riesenfinanzminister. ({14}) - Sehr gut. - Und weil er ein Riesenfinanzminister ist, werden Sie mir zustimmen, daß wir in den astronomischen Karten das größte schwarze Loch nach ihm benennen sollten. ({15}) Denn er wirkt ähnlich auf die öffentlichen Finanzen. Wir nennen es das Theo-Waigel-Loch. Ich will es Ihnen noch weiter erklären: ({16}) In jedem schwarzen Loch, das zur Materievernichtung wie er zur Vernichtung von Steuereinnahmen führt, sitzt ein schwarzer Zwerg, der dies veranlaßt. Insofern, meine Damen und Herren, kann ich Ihnen nur sagen: Theo Waigel und Helmut Kohl sind verantwortlich für ein Debakel der Staatsfinanzen. Wenn eine rot-grün-regierte Koalition, wenn ein sozialdemokratischer Bundeskanzler auch nur einen Teil dieser Staatsschulden zu verantworten hätte, Sie hätten doch zur Revolution und Konterrevolution in einem aufgerufen. ({17}) Es kommt noch besser: Sie haben damals Steuererhöhungen rigoros ausgeschlossen. Ich erinnere mich an jene bundesweite Anzeigenkampagne der CDU/ CSU: „Es bleibt dabei: Keine Steuererhöhungen für die deutsche Einheit!" Hier habe ich es schwarz auf weiß. Das kommt nicht aus der Propagandaschmiede der SPD und auch nicht der GRÜNEN, sondern das kommt direkt aus dem Konrad-Adenauer-Haus. ({18}) Sie wußten damals schon, daß dies nicht zu halten ist. Sie haben bewußt die Unwahrheit gesagt, Herr Bundeskanzler, und das nennt man eine Lüge. ({19}) Es war Ihre Steuerlüge. Diese Steuerlüge hatte es in sich, denn direkt nach der Bundestagswahl hagelte es Steuererhöhungen und Abgabenerhöhungen. Zählen wir nur mal ein paar auf: die Erhöhung der Mehrwertsteuer, Versicherungssteuer, Kfz-Steuer, Mineralölsteuer, Erhöhung der Tabaksteuer, höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung und zur Rentenversicherung und schließlich der Solidaritätszuschlag von 7,5 %. ({20}) - Ja, Herr Glos, daß Ihnen das nicht gefällt, ist mir schon klar. Sie sind vor der letzten Bundestagswahl mit einer Steuerlüge angetreten. ({21}) Staatsminister Joseph Fischer ({22}) Daß Ihnen da die Aufzählung dieser Fakten nicht gefällt, ist mir völlig klar. Trotzdem werden Sie es sich anhören müssen. ({23}) Eine weitere Erblast Kohl: Herr Bundeskanzler, Sie haben dieses Land entsolidarisiert. Das zeigen die Fakten. ({24}) Sie haben dieses Land, angetrieben von der F.D.P., in die soziale Kälte geführt. ({25}) - Doch. - Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich unter Ihrer Regierung von 2 auf 4 Millionen Menschen verdoppelt, darunter 100 000 Kinder. Die Sozialhilfekosten explodieren und ruinieren die kommunalen Finanzen. Schauen Sie sich doch mal den Zustand der städtischen Finanzen an, für den Sie die Verantwortung tragen, weil Sie viele Leistungen vom Bund auf die kommunale Ebene verlagert haben, ohne zusätzliche Einnahmemöglichkeiten für die Städte zu erschließen, egal welche Mehrheiten in diesen Städten regieren. ({26}) Aber es ist noch schlimmer: Wohnungsnot und unbezahlbare Mieten sind eine bittere Realität im vereinigten Deutschland in Ost und West. Mehr als 7 Millionen Deutsche leben unterhalb der Armutsgrenze. Nahezu 1 Million Menschen sind obdachlos und hausen auf der Straße. Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Wo bleibt angesichts der wachsenden Armut, die Sie politisch zu verantworten haben, eigentlich Ihr christliches Menschenbild? Diese Antwort würde mich angesichts der schlimmen sozialen Realitäten in diesem Land wirklich interessieren. ({27})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister Fischer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Rönsch? Staatsminister Joseph Fischer ({0}): Nein, meine Redezeit ist zu beengt, als daß ich jetzt eine Zwischenfrage zulassen könnte. Der Hinweis auf das christliche Menschenbild bringt mich zu einer anderen Frage, meine Damen und Herren: Wie steht es nach zwölf Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl eigentlich um den Kernbereich seiner christlichen Politik, um die Familie, um die Kinderfreundlichkeit dieser Gesellschaft? ({1}) Ist in den zwölf Jahren der Regierung von Helmut Kohl unsere Gesellschaft kinderfreundlicher, familienfreundicher geworden? ({2}) Haben Sie mehr Steuergerechtigkeit, eine verbesserte Wohnungssituation und eine gerechte Lastenverteilung zugunsten der Familien und kindererziehender Eltern herbeigeführt? ({3}) Davon kann doch keine Rede sein. Das Gegenteil ist richtig. Noch heute, nach zwölf Jahren christlicher Regierung Kohl, sind Eltern oder gar Alleinerziehende mit Kindern die Lastesel des bundesdeutschen Steuersystems und des Generationenvertrags unseres Rentensystems. ({4}) Das ist die ganze, die bittere Wahrheit dieser sich christlich nennenden Regierung. Am schlimmsten trifft es die alleinerziehenden Frauen. ({5}) In Ostdeutschland kam es nach der Einheit zu einem katastrophalen Zusammenbruch der Geburtenrate. Diese Entwicklung hat sehr viel mit Wohnungsnot, mit Frauenarbeitslosigkeit, mit verlorenen Möglichkeiten der Kinderbetreuung und anderen abgewickelten Dingen zu tun. Eine schlimmere Kritik der Menschen an der Kohlschen Einheitspolitik als diese bedrükkende Tatsache dürfte es für einen Christdemokraten eigentlich nicht geben. ({6}) Aber damit halten Sie sich nicht allzulange auf, sondern verkünden, wie gesagt, den Aufschwung. Sie verkünden: Es geht voran, die Landschaften werden blühen; glaubt mir noch weitere vier Jahre! - Ich glaube nur, Sie werden die Gelegenheit dazu nicht mehr bekommen. ({7}) Schauen wir uns die Umweltpolitik an. Gerade jetzt in der Wirtschaftskrise ist die Umweltpolitik nicht mehr vor allen Dingen eine Frage des nachsorgenden Umweltschutzes, sondern die entscheidende Standortfrage der Zukunft. Eine Industriegesellschaft, die jetzt nicht ökologisch umbaut ({8}) und ihre Strukturen radikal auf das 21. Jahrhundert, d. h. auf eine wachsende Weltbevölkerung, auf einen dramatisch wachsenden Weltmarkt umstellt und mit Energiewende, mit Verkehrswende, mit ökologischer Steuerreform Ernst macht, wird die Standortfrage des 21. Jahrhunderts nicht mehr lösen können. ({9}) Staatsminister Joseph Fischer ({10}) In dieser Hinsicht kommt von Ihnen gar nichts. Die Reisekosten nach Rio hätten Sie sich wirklich schenken können. ({11}) - Es ist doch ein Trauerspiel, Herr Gallus. Die Umweltpolitik dieser Regierung erschöpft sich in endlosen Ankündigungen. 60 Ankündigungen sind ein Töpfer; so heißt die neue Maßeinheit für Nichtstun in der Umweltpolitik. ({12}) Sie haben die Umweltpolitik doch bei der Großindustrie abgegeben. ({13}) - Herr Kinkel, es täte Ihnen vielleicht nicht schlecht, wenn auch Sie ein bißchen lauter wären. Dann werden Sie am Ende gewählt. ({14}) - Doch, das müssen Sie sich schon anhören. Ich mußte mir Herrn Glos und Ihren Fraktionsvorsitzenden auch anhören. ({15}) - Ich nehme Rücksicht auf Ihr feines Gehör, Herr Abgeordneter Rüttgers, würde mir aber wünschen, daß Sie mit Ihrem Mäusegehör ähnlich sorgsam, wie Sie das jetzt tun, auch die feinen nationalen Töne Ihres Fraktionsvorsitzenden hören. ({16}) In der Umweltpolitik haben Sie doch schon längst die Kompetenz an die Industrie abgegeben. ({17}) Wer anders als die Autoindustrie macht denn in diesem Lande die Verkehrspolitik? Wer macht Energiepolitik? - Die Stromunternehmen. Wer macht Abfallpolitik? - Dieses unsägliche Duale System Deutschland mit seinem Grünen Punkt. ({18}) Das ist die Realität der Umweltpolitik. Das Gentechnikgesetz hat konsequenterweise die Chemieindustrie gleich selbst geschrieben. ({19}) - Das ist kein Klassenkampfgeschwätz, sondern die deprimierende Bilanz der von Ihnen politisch zu verantwortenden Realität, Herr Hintze. ({20}) Das ist das, was Sie hinterlassen haben und womit wir aufräumen werden. ({21}) - Machen Sie sich keine Sorge. Das packen wir mit Entschlossenheit an. Wenn Ihnen das fehlt, bekommen Sie es auch. ({22})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Kollegin, der Redner hat zu erkennen gegeben, daß er keine Zwischenfragen zuläßt. - Das ist doch richtig, Herr Minister? Staatsminister Joseph Fischer ({0}): Ja, so ist es. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann bitte ich Sie, sich wieder zu setzen. Staatsminister Joseph Fischer ({0}): Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich sage nochmals: Wenn wir mit dem ökologischen Umbau jetzt nicht Ernst machen, dann werden wir auch die zentrale Chance der Schaffung der notwendigen vier Millionen zusätzlichen Arbeitsplätze vertun. ({1}) Eine Regierung, die jetzt nicht begreift, daß wir mit den traditionellen Stärken der deutschen Wirtschaft nicht in das 21. Jahrhundert erfolgreich werden eintreten können, ({2}) versündigt sich an der Zukunft dieses Landes. ({3}) Das wird nämlich zum Stillstand führen; und dieser Stillstand wird Rückschritt bedeuten. Deswegen, meine Damen und Herren, brauchen wir eine Energiepolitik, die den Durchbruch zu einer Energiesparwirtschaft schafft und auch das nationale Forschungsziel formuliert: Markteinführung der erneuerbaren Energieträger innerhalb der kommenden zehn Jahre. Wir brauchen eine Umweltsteuerreform, die mit der Umlastung weg von den Arbeitseinkommen, hin zum Rohstoff, zum Energieverbrauch Ernst macht. Wir brauchen deswegen eine Primärenergiesteuer; dabei darf nicht gezögert und gezaudert werden. Wir brauchen auch eine kontinuierliche, sukzessive Erhöhung der Mineralölsteuer; ({4}) denn nur so werden wir tatsächlich die nötigen Mittel für eine Investitionsoffensive bei den öffentlichen Verkehrsträgern bekommen. - Das alles wird von dieser Regierung nicht angepackt. Lassen Sie mich aber zum Schluß noch eines ansprechen: Der Bundeskanzler Helmut Kohl wird nicht mehr die Kraft haben, - ({5}) Staatsminister Joseph Fischer ({6}) - Ich möchte Ihnen - und da muß ich dem Bundeskanzler fast ein Lob aussprechen -, wenn Sie sich über Schattenkabinette aufregen, nur eines sagen: Nehmen Sie Kohl hier weg, dann wirft die ganze Truppe nicht einmal mehr Schatten! Das ist doch die Realität. ({7}) Sie wissen das doch. Schauen Sie es sich doch an: Die Landesgruppe der CSU ist auf Glos gekommen. Ihnen muß es bitter schlecht gehen, meine Damen und Herren, wirklich bitter schlecht. ({8}) - Prima Mann? Ich glaube Ihnen, daß Ihnen das gefällt. Wenn da ein stärkerer Mann wäre, hätten Sie Probleme, Herr Waigel. Das ist mir völlig klar. ({9}) Ich gebe es an Sie weiter: Sie sind ein prima Mann. Weiter so! ({10})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich möchte die beiden Herren bitten, den Dialog an anderer Stelle fortzusetzen. Die Regierungsbank ist nicht der geeignete Ort, mit Zwischenrufen einzugreifen. ({0}) Staatsminister Joseph Fischer ({1}): Ich möchte zum Schluß ein Problem ansprechen: Die Alternativen sind in der Tat Stillstand oder ökologische und soziale Erneuerung. Diese Bundesregierung wird das nicht mehr packen. Der Kanzler will es noch einmal wissen, aber eher aus sportlichem Ehrgeiz, nicht weil ihn die innenpolitischen Probleme wirklich noch interessierten. ({2}) Der Rest der Truppe hat weder das Talent noch die Kraft, es anzupacken. ({3}) Was Sie aber anpacken werden, ist absehbar: Es wird - jetzt hören Sie gut zu, Herr Kinkel; denn Sie sitzen mitten drin - eine zunehmend nationalistische Prestigepolitik nach außen sein. ({4}) Ich sage Ihnen: Das wird die Konsequenz sein, wenn diese Mehrheit an der Regierung bleibt. Wo sind Sie denn mit Ihrer Jugoslawien-Politik gelandet? Wo sind Sie mit Ihrer Somalia-Politik gelandet? Wo sind Sie mit Ihren Krisenreaktionskräften gelandet? ({5}) Es ist doch ein Irrsinn, daß deutsche Soldaten im Ausland wieder auftreten. Als wenn der Welt 40 Jahre lang etwas gefehlt hätte! Das Gegenteil war der Fall: Solange deutsche Soldaten im Bündnis waren, im Ausland jenseits der Bündnisgrenzen aber nicht aufgetreten sind, war das eine Zeit des Friedens. ({6}) - Ja, so lange herrschte in Europa eine Zeit des Friedens. Vorher gab es in Europa zwei Weltkriege. ({7}) - Das gefällt Ihnen nicht, meine Damen und Herren. Deswegen sage ich Ihnen: Was Herr Schäuble jetzt mit seinem Vorschlag gemacht hat, das liegt auf derselben Linie wie der ständige Sitz im Sicherheitsrat. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich mag Verständnis für Ihre Erregung haben, bitte aber doch sehr, nicht so laut zu sein, daß der Redner für diejenigen, die zuhören wollen, nicht mehr zu verstehen ist. Herr Minister, Sie muß ich darauf aufmerksam machen, daß die Redezeit, die Sie jetzt zusätzlich, über die ursprüngliche Redezeit hinaus, in Anspruch nehmen, auf Kosten der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN geht. Sie kennen die Usancen des Hauses, nicht? Staatsminister Joseph Fischer ({0}): Ja, ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nicht, daß ich nachher Beschwerden bekomme. - Nun fahren Sie fort. Staatsminister Joseph Fischer ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dennoch, an diesem Punkt ist es mir wichtig - ({1}) - Das hat nichts mit dem Außenminister zu tun, sondern ist ein zutiefst innenpolitisches Problem. Sie, Herr Schäuble, wissen ganz genau, welche Büchse der Pandora Sie öffnen. ({2}) Sie, Herr Schäuble, wissen ganz genau, daß der Vorschlag, den Sie gemacht haben, nichts damit zu tun hat, die europäische Einigung voranzubringen, sondern faktisch darauf hinauslaufen wird, die deutschen Bindungen in Europa zu lockern und in Rich21434 Staatsminister Joseph Fischer ({3}) tung eines deutschen Hegemonialanspruchs zu gehen. ({4}) Sie, Herr Schäuble, wissen ganz genau, daß die Umsetzung Ihrer Vorschläge das Gegenteil von dem bewirken wird, was Sie angeblich vorhaben. Es wird nicht zu einer Vertiefung der europäischen Einigung führen. Vielmehr hantieren Sie mit Dynamit, das, wenn es losgeht, den europäischen Einigungsprozeß sprengen wird. ({5}) Dann haben Sie genau die Situation, daß innenpolitisch von einer ratlosen, vom Antikommunismus befreiten Union, die das Bindemittel nicht mehr hat, auf den, wie Sie es nannten, Kitt der Nation zurückgegriffen wird. In der Ära nach Kohl wird die Union zunehmend an nationale Traditionsbestände vordemokratischer Art anknüpfen. ({6}) Das werden Sie in Außenpolitik umsetzen. Das ist für mich die zentrale Entscheidung am 16. Oktober. Wenn diese Regierung dranbleibt, wird sie aus innenpolitischer Schwäche einem neuen Nationalismus den Weg bereiten und dies in außenpolitische Abenteuer umsetzen. ({7}) Deswegen, meine Damen und Herren, muß sie dringend abgewählt werden. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl das Wort. Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Haushaltsdebatte ist im Wahljahr natürlich auch ein Stück gelebter Wahlkampf. Sie haben völlig recht, Herr Klose. Das ist so. Ich beschwere mich nicht. Aber ich bin, muß ich sagen, nach zwölf Jahren jetzt so gebeutelt, daß ich mich nur noch mühsam ans Pult schleppe. ({1}) Wissen Sie, wenn man so viele Leute auf Ihrer Seite hat aussitzen müssen, dann bleibt einem gar nichts anderes mehr übrig, als stehenzubleiben. ({2}) Herr Klose, ich will Ihnen jetzt nicht schaden. Jeder weiß, daß ich für Sie besondere Sympathie empfinde. Aber Ihr Gesicht war schon interessant, als eben der denkbare und in Ihrer Kombination erwünschte Vizekanzler und Außenminister gesprochen hat. ({3}) Selbst Ministerpräsident Oskar Lafontaine war einen Moment betroffen, und bei dem will das etwas heißen. ({4}) Ich finde, darauf muß man nicht viel sagen. Wir sollten jetzt wirklich zu den Auseinandersetzungen, zu den wirklichen Themen kommen, die natürlich auch im Wahlkampf eine Rolle spielen. Es ist ganz klar, daß da nach beiden Seiten auch zugelangt wird. Ich bin völlig mit Ihrer Eingangsbemerkung über jene einverstanden, Herr Klose, die an uns überheblich Kritik üben, weil wir miteinander kämpfen. Wenn wir es nicht täten, würden die gleichen Leute schreiben: Sie haben alles unter dem Tisch ausgekungelt. - Lassen Sie uns also frisch, fröhlich, frei - das ist wieder nationalistisch! ({5}) miteinander kämpfen. Auch ich tue es. Meine Damen und Herren, Sie können mit mir reisen. Dann werden Sie sehen, Herr Klose, daß in Frankfurt an der Oder 10 000 Leute nicht zusammengekarrt werden, sondern daß sie kommen und daß auf allen Plätzen, wo ich vor vier Jahren war, die Leute wiederkommen. ({6}) Natürlich kommen auch andere. Das ist ein freies Land. Das einzig wirklich gute Zitat von Rosa Luxemburg lautet: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. ({7}) Dann sollen auch die anderen kommen! Ich lade Sie ein, einmal mitzugehen. Dann sehen Sie übrigens die letzten roten Fahnen. Man sieht sie nur noch in Kuba und dort, wo die PDS versucht, wieder Fuß zu fassen - heute bei uns in Deutschland. ({8}) Herr Kollege Klose, das Kompliment muß ich Ihnen machen: Sie sind schon ein Könner, wie Sie hier so auftreten. Das war wirklich Hamburger Stil. ({9}) Sie haben uns erst einmal ein paar anständige Komplimente gemacht. Danach haben Sie uns bewiesen, wie man richtig zuschlagen kann, ohne gleich grobschlächtig zu werden, wie wir das gestern erlebt haben. Das hat mir gefallen. ({10}) Das hat mich eigentlich auf die Idee gebracht, Herr Ministerpräsident Scharping, Sie zu fragen: Warum haben Sie den Kollegen Klose nicht auch noch in die „Troika" aufgenommen? ({11}) Statt mit einer Troika würde man es ja auch mit einer Quadriga machen können. Aber jetzt habe ich gehört, warum das nicht geht: Es wäre ja wieder Nationalismus, meine Damen und Herren. ({12}) Also: Es war gekonnt, Respekt. Es war Miesmacherei auf hohem Niveau. Insofern kommen Sie dem deutschen Zeitgeist, wie er sich in wichtigen, nicht zuletzt in Hamburg gedruckten Erzeugnissen äußert, weit entgegen. ({13}) Aber, Herr Klose, das Land, von dem Sie gesprochen haben, ist nicht diese Bundesrepublik, in der wir gemeinsam leben. Deswegen, finde ich, sollten wir bei allem Wahlkampf doch - wie man zu sagen pflegt - die Kirche im Dorf lassen. Auch zu folgendem möchte ich ein Wort sagen. Herr Ministerpräsident Scharping, ich habe natürlich mit großem Interesse und gebannt Ihre Ausführungen in Dortmund gehört, ({14}) wie umgekehrt Sie die meinen; das gehört sich so. Wir geben zumindest vor, wir würden es tun, auch wenn wir es gar nicht gemacht haben. Auch das gehört zum Stil. Aber eines habe ich nicht ganz verstanden, nämlich daß Sie gesagt haben: Die drei, die jetzt antreten, sind alle besser als der gegenwärtige Amtsinhaber. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Warum kommen Sie denn dann mit dreien? ({15}) Jetzt sitze ich zwölf Jahre auf diesem bzw. auf dem Platz in dem anderen Saal. ({16}) - Ich bin ja einverstanden damit, daß Sie sagen: Entschieden zu lange. Ich sage aber: Ich sitze darauf. ({17}) Bis jetzt sind schon sechs gegen mich angetreten. Zuerst kam Hans-Jochen Vogel, dem ich meinen besonderen Respekt - auch weil es für ihn vielleicht die letzte Plenarsitzung ist - ausdrücklich noch einmal bekunden möchte. Wir haben miteinander viele Schlachten ausgetragen, und jeden Tag denke ich mit mehr Wehmut an Sie, wenn ich andere sehe. Auch das gehört dazu. ({18}) Dann kam Johannes Rau. Er hat sich als bibelmächtig erwiesen. ({19}) - Ja, natürlich; ich sage ja weiter gar nichts. Ich habe doch etwas Positives über ihn gesagt. Dann kam Oskar Lafontaine, der jetzt wieder da ist. Danach war Björn Engholm an der Reihe, von dem Sie schon gar nicht mehr reden. Er galt doch als der Enkel, der alles wegwischt. Jetzt kommt Rudolf Scharping. Und bei dem letzten weiß ich nicht: Ist er schon da oder ist er noch nicht da? Er kommt sicherlich; 1998 will er es versuchen: Gerhard Schröder. Ich habe überhaupt nichts dagegen. Bloß eines fällt mir schon auf. Da Sie doch vor ein paar Monaten hier das Ende der Ära Kohl verkündeten und da jetzt sogar Fernsehsendungen mich zu einem Phänomen umwidmen, empfinde ich eine gewisse Genugtuung darüber, daß ich hier stehe, daß ich mein Glas Wasser trinken kann und daß noch eine Menge Leute bereit sind, die Union und die Koalition zu wählen. Das macht mir Spaß und Freude! ({20}) Herr Kollege Klose, Sie haben es ja schwer; das gebe ich zu. Denn Sie sind doch ein kundiger Thebaner. Welche Kritikpunkte an unserer Außenpolitik haben Sie eigentlich gefunden? Nach langem Suchen - ich glaube nicht einmal, daß Sie es waren, der es gefunden hat, denn dazu halte ich Sie für viel zu einsichtig - haben Ihre Mitarbeiter jetzt zwei Sachen gefunden. Die erste ist: Wir strebten in unangemessener Eile in den Weltsicherheitsrat. Aber, lieber Herr Kollege Klose, das ist doch barer Unsinn; erlauben Sie das Wort. Wir streben dort überhaupt nicht hinein. Vielmehr hat die von Ihnen erwähnte Dritte Welt durch den Vorsitzenden der Blockfreien, den Präsidenten Suharto aus Indonesien, vor Jahr und Tag schon laut verkündet: Die Blockfreien - das ist eine riesige Mehrheit in den Vereinten Nationen - wünschen, daß Deutschland und Japan in den Weltsicherheitsrat kommen, und verbinden das natürlich mit dem Wunsch, daß zwei Länder aus Asien, nämlich Indien und Indonesien, eines aus Südamerika, Brasilien, und eines aus Afrika, Nigeria, ständige Sitze im Weltsicherheitsrat erhalten. Sollen wir jetzt sagen „Wir wollen das überhaupt nicht"? Das verstünde doch kein Mensch. ({21}) Wir, auch der Minister Klaus Kinkel, sagen ganz einfach: Wir drängen uns überhaupt nicht vor, sondern wir nehmen die Gelegenheit wahr. Wenn wir jetzt nichts machen würden, würden Sie doch kommen und sagen: Ihr vertut jede Chance. Also: Was soll's? ({22}) - Das ist doch die Wahrheit, auch wenn es Ihnen schwerfällt. Das Zweite, das hier gilt, weiß auch jeder, nämlich daß diese Bundesregierung und diese Koalition - hier beziehe ich ausdrücklich frühere Kollegen, beispiels21436 weise Hans-Dietrich Genscher, mit ein - in diesen zwölf Jahren vieles getan haben, um das Ansehen Deutschlands in der Welt zu festigen und voranzubringen. ({23}) Natürlich ist wahr: Wir hatten auch Glück, wir haben Fortune gehabt. Aber wir haben die Chance auch genutzt. Herr Klose, es stünde Ihnen gut an, zuzugegeben oder zu sagen: In der modernen Geschichte der Deutschen gab es niemals einen Zeitpunkt, da die Beziehungen zwischen Deutschland - seiner Regierung, von mir aus auch dem Regierungschef - und Rußland, den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich so exzellent waren wie heute. Das ist ein Riesenerfolg. ({24}) Wir haben doch binnen weniger Wochen drei unvergeßliche Ereignisse erlebt bzw. werden sie morgen erleben. Ich nenne als erstes den französischen Nationalfeiertag am 14. Juli. 50 Jahre nachdem deutsche Soldaten als Kriegsgefangene über die Champs-Elysées getrieben wurden, sind deutsche Soldaten, unsere Söhne, mit ihren französischen Kameraden aus dem Eurocorps bei der Parade zum 14. Juli in Paris gewesen. Das ist eine großartige Geste von François Mitterrand, für die wir und ich dankbar sind. ({25}) Nach kurzem Zögern hat eine riesige Mehrheit der französischen Öffentlichkeit, auch die Mehrheit der Angehörigen der Résistance-Bewegung, dieser Geste zugestimmt. Zweitens. Wir haben dieser Tage bei der Verabschiedung russischer Soldaten aus Deuschland in Berlin eindrucksvolle Stunden erlebt. Es war doch wirklich wie die Erfüllung eines Traumes, daß die letzten russischen Soldatenjetzt abziehen - 50 Jahre, nachdem die Sowjetarmee das deutsche Reichsgebiet erreicht hatte, mit dem vor Augen, was Deutsche in der damaligen Sowjetunion getan hatten - und daß sie zum Abschied ein Lied für Deutschland dichten und komponieren. Ich meine, wer hier nicht empfunden hat, daß uns allen eine historische Stunde, die Frieden und Zukunft verheißt, geschenkt wurde, dem ist sowieso nicht zu helfen. ({26}) Morgen schließlich werden wir die Alliierten, die uns geholfen haben, Frieden und Freiheit in der alten Bundesrepublik zu erhalten - Amerikaner, Briten und Franzosen -, aus Berlin verabschieden. Ich finde, wir haben viel Grund zur Dankbarkeit, daß wir das erleben dürfen. Das war nicht nur die Leistung einer Regierung oder gar eines Mannes. Da haben viele mitgeholfen, und ich schließe hier alle meine Amtsvorgänger ausdrücklich ein. Aber, meine Damen und Herren, es ist eben gelungen. Einen kleinen Beitrag, so glaube ich, konnte ich wie die Kollegen im Kabinett und andere auch dazu leisten. Wenn wir das jetzt sagen, dann ist das doch eigentlich ganz selbstverständlich. Herr Klose, stellen Sie sich einmal vor, mein Vorgänger, der in der Inszenierung viel begabter war als ich, hätte diese Möglichkeiten gehabt. Am Rhein hätte es von der Mündung bis zum Bodensee laute Lobeshymnen gegeben. Also: Seien Sie mit uns ein bißchen gnädig, wenn wir uns darüber freuen! ({27}) Herr Klose, nun haben Sie zu dem älteren Phänomen noch ein jüngeres hinzuerfunden. Also, wenn man das hört, was Sie da alles über den Kollegen Schäuble sagen, dann muß ich wirklich fragen: Was soll denn das? Sie wissen, das ist doch alles blühender Unsinn; das wissen Sie so gut wie ich. Das ist wirklich blühender Unsinn. ({28}) Ich werde gleich ein Wort dazu sagen. Zunächst jedoch will ich die Sache noch einmal auf den Punkt zurückführen. ({29}) - Auch mit lauter Stimme vorgetragen werden Ihre Argumente nicht besser; das habe ich Ihnen früher schon einmal gesagt. ({30}) Sie sind als Bariton erwünscht; aber mit Ihrer Fähigkeit als Zwischenrufer ist es nicht so arg weit her. Ich will noch einmal sagen, worum es eigentlich geht. Einige Kollegen aus der Bundestagsfraktion, darunter auch der Kollege Schäuble, haben in der Diskussion über die gegenwärtige Europapolitik eine Reihe von Denkanstößen - so heißt es ausdrücklich - auf den Weg gebracht, Denkanstöße, über die man diskutieren kann und über die man selbstverständlich zum Teil auch unterschiedlicher Meinung sein kann. ({31}) Das ist doch völlig in Ordnung. Sie haben dies im Blick auf die Überprüfungskonferenz in zwei Jahren in die Diskussion gebracht, ({32}) und sie sprechen das aus, was andere ja ebenfalls aussprechen. Ich bin wegen Ihrer Kritik etwas überrascht, da sich ein Mitglied Ihrer Mannschaft - ich habe das Zitat hier; ich will Sie damit nicht behelligen -, der Herr Peter Glotz - einer der Vordenker; so wird er doch immer genannt; Quer- und Vordenker gibt es ja überall -, nun klar und deutlich zu diesem Papier und dieser Diskussion bekannt hat. Das muß doch möglich sein. In London wird das gesagt und in Paris und anderswo. Wir ändern doch nicht die Grundpositionen der Deutschen, die wir immer eingenommen haben, wenn wir weiterdenken, was geschehen soll. Wir waren und wir bleiben Motor der Entwicklung in Europa. ({33}) Den Satz Adenauers Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten der gleichen Medaille können Sie jeden Tag fünfmal von Wolfgang Schäuble hören. Das ist genau unsere Meinung, und sie bleibt es. ({34}) Das Zweite ist: Unsere europäischen Partner können sich auf uns verlassen; natürlich können sie sich auf uns verlassen. Wer war denn in den letzten zwölf Jahren immer wieder der Motor in Europa? Es waren doch diese Koalition und diese Bundesregierung. ({35}) Ich weiß nicht, wie oft ich in Sitzungen der Gemeinschaft wie auch in öffentlichen Reden gesagt habe: Wir wollen noch Weiter vorankommen; wir wollen den Vertrag von Maastricht 1996 weiterentwickeln; aber wir wollen eines nicht - das betone ich noch einmal; auch das habe ich hier von diesem Pult aus schon gesagt -: Wir wollen auf keinen Fall, daß das langsamste Schiff im Geleitzug das Tempo der europäischen Entwicklung bestimmt; wir wollen, daß weiter vorangegangen wird. ({36}) Ich habe noch manche Auseinandersetzung mit der britischen Kollegin Margaret Thatcher im Ohr. Sie wollte immer nur eine Art gehobene Freihandelszone. Das ist das, was auch noch heute einige wollen. Wir wollen die politische Union in Europa. Das ist unser Ziel, und das will Wolfgang Schäuble genauso. ({37}) Nicht mehr und nicht weniger steht auch in diesem Papier. Ob die Formulierungen in jeder Weise, vor allem nach den Regeln des diplomatischen Sprachgebrauchs, nun der Weisheit letzter Schluß sind, lasse ich einmal völlig offen. Aber warum soll ein Mann wie Wolfgang Schäuble, der ja kein Regierungsamt hat, der aber einer der wesentlichen Leute in unserer Union ist, nicht einmal den Leuten außerhalb Europas sagen ({38}) „Glaubt nicht, daß die Deutschen aufgeben! Wir wollen die Europäische Union!"? ({39})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundeskanzler, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Nein. Von Wolfgang Schäuble können Sie genauso lesen, daß er für die Erweiterung der Europäischen Union eintritt, da doch jeder weiß, daß das eine wesentliche Voraussetzung für Frieden in Europa ist. Das gilt beispielsweise für Polen, sobald die Polen selbst es wollen und entsprechende ökonomische Fortschritte gemacht haben; das gilt ebenso für Tschechien, Ungarn oder die Slowakei. Also, jetzt bauen wir doch hier aus diesem Papier keinen Popanz auf! ({0}) - Natürlich wollen Sie das; Sie wollen ablenken, und ich sage Ihnen gleich, wovon Sie ablenken wollen. Herr Klose, wir brauchen keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Europa. Wir haben doch die Sache vorangetrieben. Was habe ich denn von meinem Vorgänger übernommen? Das Schlagwort „Eurosklerose". So war es 1982. Heute haben wir die Europäische Union. ({1}) Wir, CDU und CSU - das gilt genauso für die Kollegen der F.D.P.; ich darf das so sagen -, bleiben Europa-Parteien ohne Wenn und Aber. Aber wir wollen wirklichen Fortschritt. Wir wollen jetzt nicht darüber reden, daß es Leute gibt, auch in der Union, die weitere Fortschritte bei der europäischen Einigung gar nicht wollen. Im übrigen, es ist wahr: Sie haben in vielen Fällen zumindest freundlich geschwiegen. Aber Ihr Beitrag hält sich schon in Grenzen. Das, was die SPD - es ist ja nicht zufällig so gekommen - mit ihren Abgeordneten im Europäischen Parlament im Gegensatz zu vielen anderen getan hat - ich meine den Vorschlag, Jacques Santer nicht zu wählen und nicht zu unterstützen -, war gewiß nicht ein sehr integrationsfreundlicher Akt. ({2}) - Aber das hat doch damit gar nichts zu tun. Sie wissen doch, daß das alles nicht stimmt. Es gab doch gar nicht diesen Alleingang. Aber Sie haben ja jetzt eine Chance. Ich denke, daß die Entscheidung, daß Frau Dr. Wulf-Mathies jetzt als Kommissarin nach Brüssel geht, eine gute Sache ist. Dorthin kommt eine kompetente Dame. Das ist gut; denn andere, die dorthin wollten, wären nicht gut gewesen. ({3}) Da das eine Rolle spielte, will ich auch hier ein kurzes Wort zu dem Thema Zusammenarbeit mit der PDS sagen. Meine Damen und Herren, wie die Sache hier dargestellt wird, entspricht überhaupt nicht den Realitäten. Wir wollen noch einmal festhalten, um was es geht: Es geht um den Grundkonsens der demokratischen Parteien in Deutschland seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949. Um nichts anderes geht es. Damals wie heute gilt für uns der Satz: Es gibt keine Zusammenarbeit mit Radikalen oder Extremisten von rechts und links, d. h., weder mit den Neonazis noch mit Kommunisten gibt es eine Gemeinsamkeit. ({4}) Meine Damen und Herren, damit es ganz klar ist - das ist ja nicht von mir erfunden worden -: Der Wiederbegründer der deutschen Sozialdemokratie hat das, was die Kommunisten betrifft, in einer völlig zutreffenden Weise formuliert. Ich meine genau das Zitat, das Sie gebracht haben. Er hat vor 1933 von „rotlackierten Doppelausgaben der Nationalsozialisten" und nach dem Krieg von „rotlackierten Nazis" gesprochen. Er hat das auf den Vergleich zu Faschisten und Nationalsozialisten bezogen. Das wissen Sie im übrigen alles. ({5}) - Sie können dies ja strafrechtlich verfolgen. Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Sie das so betreiben. Aber ein Kollege, der hier im Hause höchstes Ansehen genießt, der Kollege Hermann Rappe, hat es dieser Tage so formuliert: Braune und rote Faschisten zerstören den Staat, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft. Das unterschreiben wir doch, meine Damen und Herren. ({6}) Genau das, nicht mehr und nicht weniger, sage ich. Als die Wähler vor zwei Jahren in Baden-Württemberg entschieden haben, da gab es viele Kommentare der Art: Der Teufel und die CDU werden doch nicht mit den Neonazis, mit den Republikanern einen Pakt schließen. Nein, wir haben keine Minute gezögert, wir haben es nicht getan. ({7}) Als es um den Oberbürgermeister in Düsseldorf ging - um ein Beispiel aus der Nähe zu nennen -, ist selbstverständlich die Position gewesen: Keine Zusammenarbeit mit Radikalen oder mit Extremisten! Dabei ist zu sagen, daß wir immer - übrigens auch hier, Herr Klose - nicht von den Wählern sprechen, sondern von denen, die die Parteien bilden - bei der PDS sagt man besser im alten Sinne „Kader". Darum geht es. Wenn wir sagen: „Wir bekämpfen die PDS", bekämpfen wir weder die Wähler der PDS noch die der Republikaner. Wir wollen die Wähler für die demokratischen Parteien zurückgewinnen. Das muß das Ziel sein. ({8}) Die Diskussion ist doch dadurch entstanden, meine Damen und Herren, daß Sie dieses Einvernehmen aufgekündigt haben, gegen Extreme zu stehen, ({9}) daß der Ministerpräsident und Parteivorsitzende Scharping in Magdeburg drei Tage vor der Wahl klar erklärt hat, daß keine Zusammenarbeit mit der PDS stattfindet, und daß anschließend Herr Höppner überhaupt nur mit Hilfe der PDS ins Amt kam. Natürlich wissen Sie das. Es ist doch nun ziemlich absurd, das abstreiten zu wollen. Im übrigen hat es doch Herr Höppner selbst gesagt, man muß doch der Wahrheit einmal die Ehre erweisen. Er hat in diesen Tagen gesagt: Ich habe schon am Tag nach der Wahl die Führungsspitze der SPD gefragt. Ich hätte das so nie durchgesetzt, wenn da ein Nein gekommen wäre, ({10}) und zweitens habe ich eindeutig erklärt, daß ich bereit bin, die Verantwortung für das, was im Lande passiert, auf mich zu nehmen, aber nicht für alles das, was dadurch in der Bundesrepublik Deutschland und in der SPD ausgelöst worden ist. Wenn sich die Leute in der SPD - und das ist doch eine große Zahl, schauen Sie doch einmal in die Gewerkschaften hinein - innerlich aufbäumen und nur durch die Parteidisziplin vor dem 16. Oktober zu bändigen sind, so doch nicht deswegen, weil ich das gesagt habe - ich bin doch nicht deren Adressat -, sondern weil Sie die Prinzipien Ihrer Partei auf gegeben und, wie ich sage, verraten haben. ({11}) Daß Sie mit Hilfe der PDS hier in Bonn, wenn es die Stimmenzahl im Parlament zuläßt, an die Macht kommen wollen, das bestreiten doch Teile Ihrer eigenen Leute gar nicht! Herr Gerhard Schröder hat doch in diesen Tagen wörtlich gesagt: Ich kann Ihnen nur sagen: Die SPD will regieren, und über Konstellationen, in denen das möglich ist, werden wir nach dem 16. Oktober zu entscheiden haben. Das ist doch die klare Ankündigung, daß Sie mit diesen Leuten der PDS zusammengehen wollen. ({12}) Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: Es geht uns doch überhaupt nicht darum - das gleiche gilt für die Wählerschaft der Republikaner -, den Leuten, die sich gestern verirrt haben und die heute bereit sind, in dieser Bundesrepublik Deutschland am Aufbau mitzuarbeiten, keine Chance zu geben, in den demokratischen Parteien mitzuarbeiten. ({13}) - Herr Ministerpräsident, dieser Zwischenruf zeigt, daß Sie überhaupt keine Ahnung von der Frühgeschichte dieser Bundesrepublik haben. Sie kommen wie immer auch dieses Mal zu spät. Auch daran kann es keinen Zweifel geben. ({14}) Was war denn in den 50er Jahren? In den 50er Jahren war es doch die Weitsicht, die Einsicht großer Persönlichkeiten - ich nenne hier bewußt Kurt Schumacher an erster Stelle, Konrad Adenauer und Theodor Heuss -, die den Leuten gesagt haben: Wenn ihr gestern bei der NSDAP wart und bereit seid, in diesem demokratischen Staat mitzuarbeiten, stoßen wir euch doch nicht zurück. Wir sind daran interessiert, daß ihr beim Aufbau Deutschlands, des freien Deutschlands, mitmacht. Und das gleiche gilt doch heute für die frühere DDR. Ich rede doch nicht von den Lernbereiten, die ich eben genannt habe, ich rede von den Kadern, die nichts, aber auch gar nichts dazugelernt haben. ({15}) Der eloquente Sprecher der PDS mag hier in diesem Haus noch so viele Kunststücke machen, wie er das Grundsatzprogramm seiner Partei interpretiert, jeder in Deutschland und jeder außerhalb Deutschlands, der dieses Programm liest, weiß: Hier geht es um eine Verhöhnung der Opfer. Meine Damen und Herren aus der SPD, Sie haben doch in vielen deutschen Städten, im Westen, in meiner Heimat und anderswo gegen die Kommunisten gestanden. Es waren doch auch Ihre Leute, und zwar in beachtlicher Zahl, die sich damals gegen Ulbricht stellten, die den Weg von Grotewohl nicht mitgegangen sind, die in Konzentrationslager nach Rußland verschleppt wurden und zu Tode kamen. Es waren genauso viele Hunderte aus der CDU dabei. Das sollten Sie wissen. Bevor Sie sich an dieses Thema wagen, sollten Sie sich kundig machen. Es waren auch Hunderte von CDU-Leuten dabei! ({16}) Meine Damen und Herren, dann haben wir uns Jahr für Jahr am 17. Juni an den Gräbern der Opfer in Berlin versammelt. Und jetzt sollen die alten Kader wieder das Sagen in Deutschland haben? Das ist indiskutabel! ({17}) Herr Ministerpräsident Scharping, diese Sache ist erst ausgestanden, wenn Sie jetzt an das Pult gehen und erklären oder bei anderer Gelegenheit den deutschen Wählern klar sagen: „Wir haben hier einen Fehler gemacht. " Das kann ja vorkommen. Ich mache die auch. ({18}) „Aber wir machen in Sachsen-Anhalt nicht weiter. Wir machen dort eine Koalition unter demokratischen Parteien." Das ist der Ausweg. ({19}) Meine Damen und Herren, es ist ja heute mit Recht viel über die vergangenen vier Jahre und über den Weg zur deutschen Einheit geredet worden. Meine Damen und Herren, es ist gar keine Frage für mich - das habe ich früher hier auch schon gesagt -: Wir haben auf diesem Weg Großartiges erreicht. Herr Solms, Sie haben da zu Recht Ihren amerikanischen Gesprächspartner erwähnt. Ich kann Ihnen ebenfalls Dutzende nennen. Es ist wahr, daß wir - auch ich - auf diesem Weg Fehler gemacht haben; denn, meine Damen und Herren, es ist ein einzigartiger Vorgang. Bei vielen Dingen konnte man deshalb nicht sagen: „Das haben wir früher so gemacht, das hat sich bewährt" , sondern wir haben uns auf Neuland begeben. Das macht sich im Positiven wie im Negativen bemerkbar. Wenn Sie mich wegen des Negativen kritisieren, bin ich natürlich bereit, mich der Kritik zu stellen. Aber Ihre Kritik ist nicht sehr überzeugend, weil die deutsche Einheit gar nicht gekommen wäre, wenn wir beispielsweise Ihrer Politik, Herr Lafontaine, oder der von Herrn Schröder gefolgt wären. ({20}) Einer Ihrer Freunde hat in großer Ehrlichkeit, die ihn später wohl gereut hat, in Berlin als Regierender Bürgermeister am Tag nach dem Fall der Mauer gesagt, es geht nicht um Wiedervereinigung, sondern um Wiedersehen. Meine Damen und Herren, als ich damals ausgepfiffen wurde - übrigens von jenen Vertretern unserer Bevölkerung, die sich auch hier vorhin geäußert haben -, da waren die wirklich der Meinung, es ginge gar nicht um Wiedervereinigung. Wir aber wollten sie. Wir haben immer daran geglaubt, und wir sind dankbar, daß wir die Wiedervereinigung erreicht haben. ({21}) Ungeachtet der riesigen Probleme geht es aber doch aufwärts. Es ist doch so: Vor zwei Jahren hieß es, der Kohl kann sich gar nicht mehr in die neuen Länder trauen. Jetzt lese und höre ich: Es werden Jubler zusammengekarrt. In Wahrheit kommen die Leute aus eigenem Antrieb zu vielen Tausenden zusammen und sie sind offensichtlich durchaus auch erfreut, mich wiederzusehen, meine Damen und Herren. ({22}) Deswegen, denke ich, warten wir auch das Wahlergebnis dort gelassen ab. Ihre Prophezeiungen erinnern mich sehr an das Frühjahr 1990 vor der ersten freien Volkskammerwahl. Da waren Sie doch so sicher, daß Sie siegen. Am Wahlabend habe ich nur lange Gesichter im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und Pseudointellektuelle gesehen, die Bananen schwenkten. Das war doch alles ziemlich komisch. Warten Sie doch die Wahl ab. Ich muß sie auch abwarten, meine Damen und Herren. ({23}) Lassen Sie uns das mit Ruhe jetzt miteinander austragen. Wahr ist, daß wir - es ist gestern gesagt worden - ein kräftiges reales Wachstum in den neuen Ländern haben, daß wir eine der schlimmsten Heimsuchungen für die Menschen dort langsam überwinden können mit der Schaffung eines neuen selbständigen Mittelstands. Eines der großen Verbrechen des SED-Regimes war die Durchsetzung des Prinzips: Wer Eigenturn hat, der engagiert sich auch für Freiheit; wenn ich also das Eigentum abschaffe, schaffe ich auch die Freiheit ab. ({24}) Wir haben jetzt langsam eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt. Ich würde mir auch wünschen, daß das sehr viel schneller geht, aber jeder sieht, es geht auch da langsam aufwärts. Wir haben großartige Erfolge erzielt, für die ich all denen dankbar bin, die mitgeholfen haben, etwa bei der Lehrstellenoffensive. Meine Damen und Herren, eine Ihrer Staatsministerinnen rennt in den neuen Ländern herum und hetzt die Leute auf. Die Dame hat nicht eine einzige Lehrstelle beschafft, aber sie hetzt. Das ist ihr Hauptgewerbe. ({25}) Wir haben in diesem Jahr wieder 12 000 neue außerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen, gemeinsam mit der Wirtschaft, mit dem Handwerk, mit den Betriebsräten, mit den Gewerkschaften - wie ich überhaupt viel Grund habe, mich bei denen zu bedanken, die vor Ort Verantwortung übernommen haben, den Männern und Frauen, die in die Rathäuser gegangen sind, die in die Landesregierungen gegangen sind, die andere verantwortliche Funktionen übernommen haben. Ich wünsche mir oft - auch auf die Gefahr hin, daß einige sich beleidigt fühlen-, daß jeder westdeutsche Oberbürgermeister und Landrat mit der gleichen Entschiedenheit ans Werk geht, auch mit der gleichen inneren Leidenschaft und dem Engagement, die ich in den neuen Ländern tagtäglich erlebe, und das gehört auch zum Dank, den wir auszusprechen haben. ({26}) Meine Damen und Herren, dann reden Sie vom Sozialabbau und von der Misere Deutschlands. Aber warum reden Sie eigentlich nicht einmal davon, was sich in vier Jahren für die Rentner in den neuen Ländern vollzogen hat? Meine Damen und Herren, es ist doch wahr: Im Sommer 1990, am Tag der innerdeutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, hat ein Mann oder eine Frau, der oder die 45 Jahre gearbeitet hat, rund 500, 550 Ostmark bekommen. Die gleiche Frau, der gleiche Mann bekommt jetzt, im Sommer 1994, 1 450 DM. ({27}) Und da in der ostdeutschen Gesellschaft im Unterschied zum Westen, häufiger beide Ehepartner berufstätig waren, hat das zur Folge, daß rund 80 oder 85 % der Rentnerehepaare in den neuen Ländern zwei Renten bekommen. ({28}) Wenn Sie nun diese Beträge addieren, kommen Sie auf eine Größenordnung, meine Damen und Herren, die sich in Europa sehen lassen kann. Diese Rentner reisen im Urlaub ins Ausland - ich gönne es Ihnen - und sagen nicht: Wir leben in einem unsozialen Staat. - Die meisten sind recht dankbar, und Sie werden übrigens bei der Wahl sehen, wie sich Dankbarkeit auswirken kann. ({29}) Meine Damen und Herren, der Sozialstaat Deutschland gehört zu den leistungsfähigsten in der Welt. Wir haben 3 Billionen DM Sozialprodukt, und 1 Billion DM geben wir für Sozialleistungen aus. Jetzt frage ich Sie wirklich: Wo gibt es Vergleichbares? Es geht nicht um Abbau, natürlich nicht, es geht um Umbau. Man kann ja darüber reden, was wir in dem oder jenem Felde dabei noch verbessern können und verbessern müssen. Nach der Wahl, wenn ich hier wieder die Regierungserklärung abzugeben habe, ({30}) werde ich Ihnen konkret sagen, in welchen Fällen - wofür ich noch gar kein Rezept habe, um das auch klar zu sagen - wir uns mehr einfallen lassen müssen. Wir wissen beispielsweise - Herr Schröder hat gestern darauf hingewiesen; da stimme ich ihm zu -, daß nach jeder Rezession in jeder modernen Volkswirtschaft der Sockel der Arbeitslosen, der dann zurückblieb, höher war, und wir wissen auch, meine Damen und Herren - dieses Wort „Sockel" trifft ja nicht das menschliche Schicksal der Betroffenen -, daß die Betroffenen zu einem erheblichen Teil Männer und Frauen sind, die bei dem Modernisierungsprozeß etwa in der Industrie Schwierigkeiten haben, den wesentlich erhöhten Anforderungen gerecht zu werden. Das ist überhaupt kein Vorwurf, das ist eine Feststellung. Deswegen müssen wir uns etwas einfallen lassen, wie wir beispielsweise auf dem Gebiet der Teilzeitarbeit - und das ist ja nun wirklich nicht nur eine Sache der Regierung, sondern das ist eine Sache der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, denn die rechtlichen Voraussetzungen für Teilzeitarbeit sind alle geschaffen - mehr tun können. Darüber sind wir im Gespräch mit Gewerkschaften und Arbeitgebern. Wir müssen, wie ich denke, auch dafür Sorge tragen, daß wir bei diesen - ich setze es jetzt einmal in Anführungszeichen, damit es nicht mißverstanden wird - „Arbeitsplätzen mit einfacheren Anforderungen" ein größeres Angebot bekommen. Das ist einfach eine dringende Notwendigkeit. ({31}) Wenn Sie nun die Entwicklung in den neuen Ländern, betrachten, wie viele neue Betriebe trotz aller Schwierigkeiten entstanden sind - obwohl z. B. die Absatzmärkte in der Sowjetunion weggebrochen sind -, dann ist das zwar erfreulich, aber ich habe keinen Grund, mich zurückzulehnen und zufrieden zu sagen: Das ist alles okay, das ist alles in bester Ordnung. - Aber wir sind doch auf einem guten Weg. Das gleiche gilt auch für die Gesamtwirtschaft in Deutschland. Meine Damen und Herren, stellen Sie sich einmal vor, die Erwartungen der sozialdemokratischen Redner von vor ein paar Monaten wären eingetreten und der Aufschwung wäre nicht gekommen, was heute hier für ein Geschrei wäre. Als wir Anfang 1994 das Bruttosozialprodukt für dieses Jahr schätzten, haben Sie uns mit Spott und Hohn überschüttet. Jetzt reden Sie schon gar nicht mehr davon, daß wir in diesem Jahr in die Nähe von zwei Prozent Wachstum, im nächsten Jahr sogar von drei Punkten kommen. Daß inzwischen auch die Wende bei den Arbeitsplätzen da ist, das wissen Sie ebenfalls. Es hat doch gar keinen Sinn, das zu leugBundeskanzler Dr. Helmut Kohl nen. Natürlich könnte auch dieses schneller gehen. Einverstanden. Sie reden überhaupt nicht von der sozialsten Tat unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik, nämlich daß die Währung stabil und die Inflation niedrig ist. Das ist die beste Sozialpolitik, meine Damen und Herren! ({32}) Niemand weiß das besser als die Generation der Rentner. Niemand weiß das besser als die Leute mit kleinem Einkommen. Wir wissen auch, daß die Rezession - da stimme ich einem meiner Vorredner ausdrücklich zu - bei uns ein Jahr später gekommen ist als anderswo, und zwar wegen des Wiedervereinigungsbooms, der vor allem der westdeutschen Wirtschaft hohe Gewinne gebracht hat. Deswegen ist es richtig, diese Gewinne über Transfers in die neuen Länder fließen zu lassen. Meine Damen und Herren, wir mußten in den Jahren der Rezession die Erfahrung machen, daß wir als Hochlohnland und Exportland eine viel stärkere Konkurrenz bekommen haben und daß wir uns deshalb mehr anstrengen müssen. Im Blick auf die zukünftige Entwicklung gibt es überhaupt keinen Grund zur Entwarnung. Wir müssen die Republik „fit" machen in den Jahren, die vor uns liegen. Und das geht nur nach einer Rezession - das habe ich lernen müssen -, weil sonst die Einsicht in diese Notwendigkeit in der Bevölkerung viel geringer ist. Wir müssen, was den Staat betrifft, mit dem Abbau von Regeln und mit der Deregulierung vorankommen, und zwar auf allen Gebieten. Wir haben hier doch Beachtliches gemacht. Das ist in der Debatte bisher überhaupt nicht richtig zur Geltung gekommen. Wir haben die Postreform und die Bahnreform ermöglicht. Sie haben ja mitgemacht. Wir müssen uns schon gemeinsam den Schuh anziehen, meine Damen und Herren, daß wir das 20 oder 25 Jahre zu spät gemacht haben. Wir wären halt weiter mit den schnellen Zügen, wie Herr Schröder gestern verlangt hat, ({33}) wenn wir das schon in den fünfziger und sechziger Jahren gemacht hätten. Ich bin ja ganz damit einverstanden, wenn ich jetzt höre - Herr Schröder hat das gestern, wenn ich es richtig verstanden habe, so gesagt -, daß wir im Bereich der Gentechnik vorankommen müssen. Aber warum hat es denn so lange gedauert? Es ging doch nicht darum, daß irgend jemand in diesem Saal Manipulationen an Menschen zulassen wollte. Das ist doch gar nicht unser Thema. Das Thema ist vielmehr, daß sich hier ein weites Wissenschaftsfeld mit großen Zukunftschancen aufgetan hat und daß wir eben jahrelang darüber geredet haben, während die Amerikaner und die Japaner gehandelt haben. Wenn in den USA jetzt 300 gentechnische Labors in Betrieb sind und in Japan rund 100, und bei uns sind es, glaube ich, erst vier, dann haben wir Terrain verloren. Ich bin ja mit Ihnen einverstanden, lassen Sie uns doch nach der Wahl mit der Bundesregierung, die jetzt hier sitzt und sicher dort bleiben wird, und der Bundesratsmehrheit, die Sie haben, vernünftig darüber reden, wie wir vorankommen, statt daß wir diese nächtlichen Grabenkämpfe im Vermittlungsausschuß ohne jeden Sinn und Verstand miteinander führen. ({34}) Für mich stellt sich in der nächsten Legislaturperiode, vor allem bei karger Finanzlage - wir werden den Sparkurs eisern fortsetzen -, die Notwendigkeit - ({35}) - Natürlich, weil die Voraussetzung eben ist, solide zu haushalten. Wir haben - das hat Theo Waigel Ihnen vorgehalten und vorgetragen, Sie können alles nachlesen - auch da Wort gehalten. Aber es gibt drei Felder, wo einfach Handeln angesagt ist, und zwar im Bundestag wie im Bundesrat. Das eine ist, wenn wir Arbeitsplätze neu schaffen wollen, die Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform. Wenn wir nicht die Betriebe, vor allem die mittelständischen Betriebe, entlasten, gibt es keine neuen Arbeitsplätze. ({36}) Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß wir jetzt den Reichen Geld zuschaufeln wollen, wie das bei Ihnen dargestellt wird. Zum zweiten, meine Damen und Herren, geht es darum, daß trotz knapper Kasse der Staat - das sind Bund und Länder - zusammen mit der Wirtschaft Überlegungen anstellt, wie wir die Dinge im Bereich der Forschung noch ganz wesentlich ins 21. Jahrhundert vorantreiben können. Das ist eine Frage auch des Geldes, aber eben nicht nur des Geldes; es ist auch eine Frage, ob wir wieder ein forschungsfreundliches Land werden, in dem Leute, die etwa in der Chemie arbeiten, nicht von vornherein verteufelt werden, daß sie die Umwelt zerstören wollen. Wir brauchen zu diesem Thema wieder ein vernünftiges Klima. ({37}) Daß wir in Deutschland, meine Damen und Herren, im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder anderen Ländern in der Welt bei der Entwicklung eines vernünftigen Verhältnisses von Ökologie und Ökonomie in der vordersten Linie stehen, kann doch niemand bestreiten. Die Vorwürfe, die hierzu heute früh erhoben wurden, sind doch ziemlich absurd. Wenn Edzard Reuter eine grundlegende Neuausrichtung der Politik in Sachen Technik und Forschung verlangt hat - das geht uns alle an -, dann hat er recht. Das muß nicht automatisch in jedem Feld, das er genannt hat und wo auch Firmeninteressen nicht zu leugnen sind, so sein; aber die Grundrichtung - darüber gibt es gar keinen Zweifel - muß so sein. Ich kann es auch anders sagen: Wir brauchen in unserer Demokratie, in unserer Gesellschaft eine klare Verständigung, daß auch in Forschung und Technik Leistungseliten dringend notwendig sind und unterstützt werden müssen. ({38}) Meine Damen und Herren, ich werde Sie dann, wenn wir beim Ausbau einer familienfreundlichen und kinderfreundlichen Gesellschaft weiter vorangehen, einladen, daran mitzuwirken, auch im Bundesrat. Wir haben eine Menge getan: Familienlastenausgleich, Erziehungsurlaub, Erziehungsgeld, Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung und vieles andere mehr. Wir werden auf alle Fälle die zur Verfügung stehenden Finanzierungsspielräume auch und gerade für dieses Feld mit einsetzen, wobei ich denen zustimme - Herr Klose, ich glaube, auch Sie haben davon gesprochen -, die darauf hinweisen, daß eines der drängendsten Probleme die Frage bezahlbarer Wohnungen für junge Familien, vor allem in Ballungsräumen, ist. Lassen Sie uns auch darüber zu klaren Absprachen zwischen Bund und Ländern kommen. Wir sind dazu bereit. ({39}) Meine Damen und Herren, die Koalition von CDU, CSU und F.D.P. kann mit gutem Recht auf ein gewaltiges Pensum an erfolgreicher Arbeit verweisen, wenn sie in diesem Oktober vor die Wähler tritt. Wir bitten die Wählerinnen und Wähler um Vertrauen in eine Politik der Mitte, die sich in den vergangenen vier Jahren bewährt hat. Manches konnten wir nicht optimal leisten, aber wahr ist auch, daß die Bundesregierung weltweit Vertrauen genießt. Es gibt ja kaum einen Sozialdemokraten in wesentlicher Funktion im europäischen Ausland, der einen Sieg der SPD in Deutschland will. ({40}) - Nennen Sie doch einen, meine Damen und Herren! ({41}) Glauben Sie im Ernst, daß es einen führenden Sozialisten oder Sozialdemokraten in Europa gibt, der das will? ({42}) - Dann nennen Sie doch einen von diesen fünf! ({43}) Ich kann Ihnen nur sagen: Ich kenne keinen. Mit einer Reihe dieser Persönlichkeiten bin ich ja zum Ärger mancher meiner politischen Freunde in den jeweiligen Ländern befreundet, und da weiß ich nur eines: Sie sind ganz froh, daß es uns gibt. ({44}) Meine Damen und Herren, wenn ich so durchs Land gehe, denke ich, daß es auch in Deutschland eine Menge Leute gibt, die sagen: Es ist ganz gut, daß es uns gibt. Denn die Deutschen wollen keine Extreme, weder von links noch von rechts. Sie wollen keinen Schlingerkurs, sie wollen keine Unberechenbarkeit. Sie wollen, bei all unseren Schwächen, einen Kurs der Mitte, und - ich sage es noch einmal - dafür steht die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. Darum bitten wir bei diesen Wahlen - bei Landtagswahlen und dann natürlich bei der Bundestagswahl - um Zustimmung. Meine Damen und Herren, wir können viel streiten. Wir sollten in Demut die Entscheidung der Wähler abwarten, und am Abend setzen wir uns dann zusammen. Ich denke, wir in der Union haben noch viel zu tun. Die Wahl ist überhaupt noch nicht gewonnen. Wir brauchen jede Stimme, aber wir haben gute Chancen. So will ich versuchen, mich jetzt wieder an meinen Platz zu schleppen und dort weiterhin sitzen zu bleiben. ({45})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Rudolf Scharping das Wort. ({0}) Ministerpräsident Rudolf Scharping ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Rede des Bundeskanzlers kann man sich ja fast jede Hoffnung darauf abschminken, daß in diesem Hause über den Haushalt und über die Zukunft des Landes debattiert würde, ({2}) wobei ich Ihnen, Herr Dr. Kohl, sage: Wir werden am 16. Oktober auch sehen, daß die selbstgefällige Inszenierung die inhaltliche Leere in keiner Weise verdekken kann. ({3}) Sie drücken sich vor der Antwort auf jede einzelne konkrete Frage, die die Zukunft unseres Landes betrifft. ({4}) Sie geben keine Antwort auf die Frage, wodurch Deutschland in den nächsten Jahren zusammengehalten werden soll und wie wir eine gerechtere und friedliche Zukunft in diesem Land erreichen können. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Entschuldigen Sie, Herr Ministerpräsident. - Ich bitte den Ordnungsdienst, den Protestanten sofort zu entfernen. Herr Ministerpräsident, fahren Sie fort. Ministerpräsident Rudolf Scharping ({0}): Die entscheidende Frage für die Zukunft unseres Landes wird sein, wodurch es eigentlich zusammengehalten werden soll. Da gibt es - hier stimme Ministerpräsident Rudolf Scharping ({1}) ich Ihnen, Herr Dr. Kohl, ausdrücklich zu - zwei völlig verschiedene Antworten. Die eine ist vom Prinzip gegenseitiger Verantwortung geprägt, von dem Versuch, die Starken und die Schwachen, die Frauen und die Männer, die Jüngeren und die Älteren, die Ostdeutschen und die Westdeutschen zusammenzuführen. Die andere ist von dem Versuch geprägt, die offenkundigen sozialen Ungerechtigkeiten, die Bitterkeiten und Enttäuschungen, wie Herr Barbier es in der „FAZ", wahrlich keinem sozialdemokratischen Organ, geschrieben hat, einer rationalen Diskussion zu entziehen und sie nationalistisch zu verkleiden. Das ist der Versuch, den Sie unternehmen. ({2}) Dieser Versuch wird nicht nur mit Äußerungen aus der Vergangenheit fortgesetzt, man wolle die Bundeswehr im Innern einsetzen, die Nation habe eine quasi religiöse Bedeutung und vieles andere mehr. Er wird auch fortgesetzt, wenn aus den Reihen der Union jetzt den europäischen Partnern signalisiert wird, es gebe in Europa Staaten und Mitglieder erster und zweiter Klasse, die ersten gehörten zum Kern Europas, die zweiten zum Rand. Das ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die sich in Schweden oder Norwegen, in Finnland oder andernorts darum bemühen, diese Länder an Europa heranzuführen. ({3}) Daß Sie, Herr Bundeskanzler, dann in der gewohnt wolkigen Art darüber hinwegreden, sich ein bißchen vor Herrn Schäuble stellen, gleichzeitig ein bißchen Distanz und anderes mehr erkennen lassen, kennzeichnet nicht Stärke, sondern Schwäche. ({4}) Sie sind nicht mehr in der Lage, in einer so zentralen Frage einen klaren Satz zu sagen und die Vorstellungen abzulehnen, die in allen europäischen Hauptstädten abgelehnt werden. ({5}) Sollen wir denen die in diesem Hohen Hause mehrfach beschworene Dankbarkeit, von der Sie geredet haben, Herr Dr. Kohl, denn so vergelten, wie das jetzt signalisiert wird? Sollen wir den Polen, den Tschechen und den Ungarn auf Dauer und fest sagen: „Ihr habt gar keine Chance, zu diesem Kerneuropa zu gehören", nachdem wir ihnen vorher auf die Schulter klopfend gesagt haben: „Ihr habt ein großes Verdienst an dem, was die Deutschen an Einheit erreicht haben"? ({6}) Wollen Sie den Staaten, die am Anfang des europäischen Prozesses mitgewirkt haben, beispielsweise Italien, signalisieren, sie gehörten nicht mehr dazu? ({7}) Wollen Sie den Vereinigten Staaten von Nordamerika signalisieren, daß am Ende die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität unter Gefährdung der NATO denkbar wäre, wie sich das aus dem Papier von Herrn Lamers - er ist ja wohl der eigentliche Vordenker - ganz eindeutig ergibt? Herr Bundeskanzler, wenn Sie nicht mehr in der Lage sind, solchen Entwicklungen sofort und klar zu widersprechen, dann verfehlen Sie eine Aufgabe von Führung. Die Attitüde der Glucke, die alles zudeckt, macht das keineswegs besser. ({8}) Sie haben hier über die deutsche Einheit geredet. Ich will auch an dieser Stelle - obwohl es nur noch fünfeinhalb Wochen bis zur Bundestagswahl sind - sagen: Niemand von uns - auch ich nicht - bestreitet Ihre Verdienste um die deutsche Einheit. ({9}) Es wäre besser, wenn an die Stelle der selbstgefälligen Inszenierung eine kritische Betrachtung dessen träte, was seither geschehen ist, ({10}) was die Menschen betrifft, und ein Signal dafür zu setzen, daß die Menschen in Deutschland unabhängig von ihrem Einkommen, von ihrem Geschlecht, von ihrem Wohnort oder anderen Kriterien den gleichen Respekt, die gleiche Achtung verdient haben. Aber Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, ist nicht der Ausdruck gleichen Respekts und gleicher Achtung, sondern die organisierte Mißachtung der Schwächeren in diesem Land. ({11}) Wer es fertigbringt, in der Grundsatzaussprache über seinen eigenen Haushalt und seine eigene Politik nur noch in Nebensätzen über die drängenden Probleme von Menschen in Deutschland zu reden, ({12}) der ist so weit abgehoben, daß er die Menschen nur noch ameisenhaft wahrnimmt ({13}) und kaum noch eine Vorstellung davon hat, was es in einem Land bedeutet, wenn 6 Millionen Menschen Ministerpräsident Rudolf Scharping ({14}) keine Arbeit haben, was es bedeutet, wenn 1 Million Kinder mit Sozialhilfe groß werden, ({15}) was es bedeutet, wenn 500 000 Kinder kein anständiges Dach über dem Kopf haben, was es bedeutet, daß alleinerziehende Mütter immer stärker abgegrenzt werden usw. Wer kaum noch ein Wort für das soziale Schicksal der Menschen im eigenen Land übrig hat, der drückt sich vor den Ergebnissen und den Folgen seiner eigenen Politik. Das ist verständlich, aber auch unverantwortlich. ({16}) Jawohl, wir reden auch über die arbeitslosen Mitbürger, wegen der Menschen und auch wegen der Sicherheit, nicht nur der sozialen Sicherheit, in unserem eigenen Land. Manche sagen uns ja gerne, wir gerierten uns wie der Betriebsrat einer Gesellschaft. Nun ist das ja alles andere als eine ruchlose oder weniger ehrenwerte Rolle. ({17}) Es weiß aber auch jeder in Deutschland. - Sie hoffnungslos überforderter Pfarrer als Generalsekretär sollten über Scharlatanerie gar nicht reden, Sie nicht! ({18}) Machen Sie sich mal keine Hoffnungen; Sie kommen noch dran! Wir reden dann über die soziale Sicherheit auch der anderen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland; denn wenn mehr Menschen in diesem Land arbeiten können, dann ist das nicht nur gut für diejenigen, die jetzt keine Arbeit haben; es ist auch gut für das Selbstbewußtsein und die Sicherheit derer, die heute noch Arbeit haben, und es ist gut für die Sicherheit derjenigen, die von der Arbeit der Menschen ihre Renten und anderes erhalten. ({19}) Ihre Politik führt doch dazu, daß die Ausgrenzung großer Gruppen der Bevölkerung am Ende den Zusammenhalt im ganzen Land schädigt. Ihre Politik, Herr Kohl, hat dazu geführt, daß die Investitionen nicht mehr das Niveau haben, das wir brauchen, um die dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes sicherzustellen. Ihre Politik hat dazu geführt, daß die Innovation in Deutschland zurückgegangen und weiter geschwächt worden ist. Ihre Politik - ich erinnere Sie an Ihre gestrige Entscheidung - führt dazu, daß die Möglichkeiten für Bildung und Ausbildung in Deutschland beschädigt werden - der wichtigste Rohstoff, den wir haben, um unsere zukünftige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. ({20}) Dann stellen Sie sich hierhin und sagen, Sie hätten Wort gehalten. Ich finde, das ist schon ein starkes Stück. Manchmal bringt man sich ja etwas mit, und das will ich Ihnen, Herr Dr. Kohl, einmal vorlesen. In der „Welt am Sonntag" vom 25. November 1990 gab es eine Anzeige, die lautete: Es bleibt dabei: Keine Steuererhöhung für die deutsche Einheit. Diese Garantie kann Ihnen nur die Regierung Helmut Kohl geben. ({21}) Ihre Garantien sind das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt worden sind. ({22}) Sie haben seither die Steuern erhöht, Sie haben die Kaufkraft beschädigt. Das behindert den wirtschaftlichen Aufschwung. Wenn dann die Sozialdemokratie auch von den Eliten und den Leistungsstarken Verantwortung für den gemeinsamen Fortschritt einfordert, diffamieren Sie das als Neidkomplex. Ich dachte immer - und das wird auch unsere Politik bleiben -, daß man Elite dadurch wird, daß man Verantwortung für andere übernimmt, und nicht dadurch, daß man nur egoistisch denkt. ({23}) Offenkundig haben Sie aus diesem Vorgang gelernt; denn jetzt sagen Sie ja hier im Deutschen Bundestag: Da müssen wir mal überlegen, da müssen wir mal gemeinsam nachdenken, da muß überlegt werden, in welche Richtung es gehen könnte. - Das alles sind Signale dafür, daß Sie diesmal eines jedenfalls gelernt haben: Vor der Bundestagswahl am 16. Oktober bloß nichts Konkretes über die eigene Politik sagen, damit der Vorwurf der Lüge nicht wiederholt werden kann. Aber es wird ein anderer Vorwurf daraus entstehen: Sie haben die Täuschung versucht, und Sie werden am 16. Oktober damit keinen Erfolg haben. ({24}) Ich will Ihnen im übrigen etwas zur Leistung in Deutschland und zu dem Begriff sagen, den Sie den Menschen suggerieren, als hätte das nur etwas mit dem dicken Geldbeutel zu tun. Wissen Sie, was ich hi Deutschland als Elite empfinde? Zum Beispiel die Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die mit der Qualität ihrer Arbeit unseren gemeinsamen wirtschaftlichen Wohlstand sichern. ({25}) Zum Beispiel die Polizistinnen und Polizisten, die unter manchmal schwierigen Bedingungen für die allgemeine Sicherheit in diesem Land sorgen. ({26}) Ministerpräsident Rudolf Scharping ({27}) Zum Beispiel die Frauen und Männer, die in den Altenheimen oder Krankenhäusern für die Pflege von Behinderten oder älteren Menschen sorgen. ({28}) Das verstehe ich unter Elite, weil das für den sozialen Zusammenhalt unseres Landes sorgt. ({29}) Unter Elite verstehe ich auch jene Frauen, die zum Teil allein Kinder großziehen müssen, häufig unter den Bedingungen der Sozialhilfe, und von denen ich sehr genau weiß, wie verdammt schwer das ist. Daß Sie, Herr Bundeskanzler, darüber kein Wort verlieren, ist ebenso bezeichnend, wie es bezeichnend ist, daß Sie zulassen, daß solche Frauen diffamiert werden, wenn sie wegen ihrer Kinder nebenbei mal putzen gehen. Sie bleiben als Politiker unfähig, etwas gegen den eigentlichen Krebsschaden unserer gegenwärtigen Entwicklung zu tun: die Arbeitslosigkeit, aber auch die Steuerhinterziehung und den Subventionsbetrug. Da hätten Sie eine Menge zu tun, aber nichts ist von Ihnen zu hören. ({30}) Statt dessen betreiben Sie weiter Ausgrenzung. Ihre Entscheidung von gestern, das Schlechtwettergeld zu streichen, ist ein Schlag gegen die Würde von arbeitenden Menschen auf dem Bau, in der Landwirtschaft, in der Forstwirtschaft. Das wird wieder korrigiert werden. ({31}) Was Sie da machen, ist ein Rückfall in die Tarifsituation der 50er Jahre, und denen sind Sie offensichtlich nicht nur tarifpolitisch sehr verbunden. ({32}) Wissen Sie, was Sie mit dem Vorschlag Ihres Kollegen Waigel anrichten, längerfristig arbeitslose Bürger in die Sozialhilfe zu treiben? Wissen Sie, wie die Gefühle und Stimmungen von Menschen sind, die 30 oder 35 Jahre gearbeitet haben, die unverschuldet arbeitslos werden und denen man jetzt sagt: Dann seid ihr auf Sozialhilfe angewiesen? ({33}) Warum verschweigen Sie, daß das auch die Eltern der Betroffenen und die Kinder der Betroffenen im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung einbeziehen wird, daß Sie damit nicht nur den Arbeitslosen, die keine Chance mehr haben, ins Gesicht schlagen, sondern gleichzeitig auch noch wirtschaftlich blühenden Unsinn betreiben, weil sie erneut die Investitionskraft der Gemeinden schwächen, die dann für die Kindergärten, die Schulen, die Bibliotheken und anderes nicht mehr tun können, was sie eigentlich tun müßten. ({34}) Herr Bundeskanzler, Sie reden hier wolkig und freundlich von Europa. Sie reden ein bißchen zornig von dem Thema, das Sie angeblich so heftig erregt - darauf komme ich noch zurück -, und ansonsten erfahren die Menschen nichts über die Grundlinien Ihrer Politik, nichts über Ihre konkreten Vorhaben, nichts über die Entscheidungen, die Sie beabsichtigen. ({35}) Das ist doch absurd. Man kann doch Politik im demokratischen Wettbewerb gar nicht gestalten, wenn sich der eine ständig jeder Auseinandersetzung entzieht. Herr Kohl, hier können Sie nicht ausweichen. Das ist anders als bei SAT 1 oder so. Hier können Sie nicht ausweichen. ({36}) Wenn ich dann aus Ihrem Munde höre, Sie hätten solide gehaushaltet, bei 2 000 Milliarden DM öffentlicher Gesamtverschuldung, ({37}) einer geplanten Kreditaufnahme von 70 Milliarden DM, bei mittlerweile - ({38}) - Ich will Ihnen mal folgendes sagen: Ich räume den Fehler ein, das Wort „steuerpflichtig" nicht hinzugefügt zu haben. ({39}) Da unterscheide ich mich im Zweifel wohltuend von einem Bundesfinanzminister, der noch im Sommer behauptet hat, es gebe aus der Arbeitslosenversicherung gar keinen Transfer in den Osten Deutschlands, und der hinterher sagen muß, daß es doch mehrere 10 Milliarden DM sind. Das können wir uns gegenseitig vorrechnen. Ich räume den Fehler gerne ein, damit habe ich keine Probleme. ({40}) Im übrigen: In der Fachsprache wäre es das Tara, weder das Brutto noch das Netto, aber das, Herr Hintze, dürfen Sie sich mit dem Lexikon näher erschließen. Wenn Sie aber behaupten, Sie hätten solide gehaushaltet, kann ich nur sagen: Man kann die Intelligenz, das Urteilsvermögen, die Argumentationsfähigkeit von Bürgerinnen und Bürgern auch auf die Weise verhöhnen, wie Sie das tun. Jeder in Deutschland weiß: Sie haben nicht solide gewirtschaftet, Sie haben nicht solide gehaushaltet. Sie haben noch 1980 hier im Deutschen Bundestag gestanden und Helmut Schmidt, einem wahrlich fähi21446 Ministerpräsident Rudolf Scharping ({41}) gen Bundeskanzler, gesagt, er versündige sich an den künftigen Generationen. Da lag der Schuldenstand des Bundes bei 300 Milliarden DM. Herr Bundeskanzler, wenn Sie es hier nicht sagen, dann vielleicht irgendwo an einer anderen Stelle. Sünden kann man beichten und bereuen, aber in der Politik ist es notwendig, es dann auch sehr deutlich zu sagen. Wenn das damals eine Versündigung an den künftigen Generationen war, dann ist die Tatsache, daß wir bald jede vierte Steuermark für Zinsen im Bundeshaushalt einstellen müssen, nicht nur eine Sünde, sondern eine Todsünde gegenüber künftigen Generationen. ({42}) Wir wollen eine Politik, die Innovation und Investition, also Wachstum ermöglicht. Wir sagen klar und deutlich: Das wird nicht mit einer immer weiter wachsenden Verschuldung gehen, und das darf auch nicht durch immer weiter wachsende Steuerbelastungen finanziert werden. Also wird es Umschichtungen geben müssen. Man kann in der Politik nicht mehr nach der Methode verfahren, die Sie hier eben gerade versucht haben: freundlich über die Probleme hinweggehen, ein paar allgemeine Formulierungen, ansonsten die Gelegenheit suchen, über die Sozialdemokratie herzuziehen. ({43}) Nein, wer den gleichen Respekt vor Menschen hat, der wird keinen Wahlkampf mit Angst und Diffamierung führen, der wird das eigene Konzept nicht verschweigen. Genau das aber tun Sie: Sie diffamieren, Sie verleumden die Sozialdemokratie. Sie versuchen, vor neuen Entwicklungen angst zu machen, die aber dringend notwendig sind, ({44}) und verschweigen dabei Ihr eigenes Konzept. Das ist eine Verhöhnung der Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. ({45}) Wir wollen Kreativität, Phantasie und Verantwortung zusammenführen, die innovativen Kräfte an der Auswanderung aus Deutschland hindern, ihnen wieder neue Chancen in Deutschland geben. ({46}) Wenn Sie beklagen, daß junge Leute aus Deutschland während oder nach ihrer Ausbildung in Labors, in Computerfabriken, in Ingenieurbüros der Vereinigten Staaten oder anderer Länder gehen, ({47}) dann fragen Sie sie doch einmal nach den Bedingungen, unter denen dieses Urteil gefallen ist. Das hat etwas mit Ihrer Politik zu tun. ({48}) Sie haben beispielsweise die Erfindervergütung gestrichen. Sie sind beispielsweise immer noch unfähig geblieben, bei Existenzgründungen in ausreichendem Maße für Risikokapital zu sorgen. ({49}) Sie sind immer noch unfähig geblieben, in ausreichendem Umfang für Innovationen an den Universitäten zu sorgen. Wer den Forschungshaushalt auf 1,9 % des Gesamthaushaltes zurückfährt, der hat jedes Recht verloren, die Menschen dafür zu beschimpfen, daß sie selber zuwenig innovationsfreudig seien; ({50}) denn Sie haben die Bedingungen dafür geschaffen. Wir wollen Kreativität und Phantasie zusammenführen. ({51}) Das wird auch notwendig sein; denn die zukünftigen Entwicklungen unseres Landes werden ganz stark davon abhängig sein, ob wir auf den großen Wachstumsfeldern der Zukunft - der Informationstechnik, der Kommunikationstechnik, der Umwelttechnik, der Solartechnik, ({52}) der Gen- und Biotechnologie - offen und mutig in die Zukunft gehen. Aber wenn ein Bundeskanzler wie Sie, Herr Dr. Kohl, bei der Frage nach den Autobahnen an die Kompetenzen der Länder denkt, weil er Daten- und Information-Highway nicht zusammendenken kann, dann ist das ganz offenkundig nicht in guten Händen. ({53}) Ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit, weil ich erwarte, daß ein Bundeskanzler in der Lage ist, sich Sachverstand zu erschließen, übrigens unabhängig davon, in welcher gesellschaftlichen Gruppe oder mit welcher parteipolitischen Präferenz er auftritt; das ist völlig gleichgültig. ({54}) Ich sage Ihnen auch: Ich finde es völlig in Ordnung, daß ein so ausgewiesener Wissenschaftler wie Jens Reich zu seiner parteipolitischen Überzeugung kommt. Das mindert seinen wissenschaftlichen Sachverstand und seine Kompetenz in keiner Weise. ({55}) Wer Integration, wer das Bündeln von Kräften erreichen will, der wird die Grenze nicht bei der parteipolitischen Präferenz ziehen, sondern wird sie beim Ministerpräsident Rudolf Scharping ({56}) Sachverstand ziehen. Das könnte ich auch auf andere Personen beziehen. ({57}) Aber das fällt Ihnen, Herr Dr. Kohl, offenkundig außerordentlich schwer. Die guten Leute in der CDU können Sie doch schon als CDU-Mitglieder nicht aushalten. Dann wird es noch verständlicher, daß Sie sie in anderen Parteien erst recht nicht aushalten können. ({58}) Welche Rolle spielt denn Herr Geißler noch? Welche Bedeutung hat denn Lothar Späth noch? ({59}) Wie soll sich denn der unbefangene Beobachter einen Vers darauf machen, daß Kurt Biedenkopf, nun wahrlich ein guter Ministerpräsident - ich sage das, selbst wenn das meinen Freunden in Sachsen schadet -, ({60}) sagt: Den Herrn Dr. Kohl will ich in meinem Wahlkampf nicht sehen; das Ding stemme ich alleine. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN -

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Das hat er überhaupt nicht gesagt!) Sie können doch die guten, unabhängigen Geister in Ihrer eigenen Partei gar nicht mehr aushalten. Um so weniger können Sie sie in anderen Parteien aushalten. Ich will Ihnen eines sagen: Auf diese Weise reduzieren Sie Integrationskraft, Phantasie, Durchsetzungsvermögen und Sachkunde der Politik. Was in den letzten zehn, zwölf Jahren in Deutschland passiert ist, ist genau dieser Prozeß. Das können Sie von vielen Unternehmern, Wissenschaftlern und von denen hören, die sagen: Wir sind diese folgenlosen Gesprächsrunden, aus denen nie eine Entscheidung resultiert und wo man nur gut gelitten ist, wenn man sagt, was der Kanzler gerne hört, eigentlich leid. ({0}) Das ist ein Modell von Politik, das die Selbstbespiegelung, die Selbstgefälligkeit an die Stelle der notwendigen Entscheidungen setzt. Es ist nicht meines; ich will das auch ändern, meine Damen und Herren. ({1}) Dahinter steckt, um dies deutlich zu sagen, auch ein anderes Verständnis von Führung in der Demokratie. ({2}) Wenn Sie der Auffassung sind, so wie es Ihre Sprache, Ihr Verhalten und Ihr Auftreten signalisieren, daß Sie die Führung in der Demokratie in einer hochkomplexen Gesellschaft mit 80 Millionen Menschen, großer internationaler Verflechtung und großen Herausforderungen an die Zukunft gewährleisten können, indem sich einer an die Spitze setzt und den Eindruck erweckt, er wisse und könne alles, ({3}) dann viel Vergnügen! Ein Land kann am Ende nur bedauern, wenn diese Art von Verständnis demokratischer Führung in Deutschland weiterhin Platz haben sollte. ({4}) Mein Verständnis ist das nicht. Deswegen nehme ich mir die Freiheit und die Souveränität, mir selbst von den Leuten Rat zu holen, die sagen: Parteipolitisch stehe ich der Sozialdemokratie nicht nahe; ich bin aber bereit, einer neuen Regierung sachkundigen Rat zu geben und ihr bei der ökologischen Erneuerung, bei der sozialen Befestigung, beim Aufbau im Osten und bei anderen großen Zukunftsaufgaben dieses Landes zu helfen. ({5}) Von all diesen Fragen versuchen Sie abzulenken. Sie haben viele Minuten verbraucht, um Ihre scheinbare Empörung über die Entwicklung in SachsenAnhalt zum Ausdruck zu bringen. ({6}) Ich will Ihnen einmal folgendes sagen: Haben Sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, wie es einem jungen Menschen geht, der 14 Jahre alt war, als die Mauer fiel, der die große und berechtigte Begeisterung seiner Eltern mitbekam: „Jetzt können wir endlich frei leben! Jetzt ist diese schändliche Todesgrenze in Deutschland und Europa weg! ", der seine Eltern mit den großen Hoffnungen, der großen Euphorie erlebt hat: „Bald können wir so leben, so frei, so sicher und auch so gut wie die im Westen! ", ({7}) die gesagt haben: „Na ja, der Kanzler hat es ja versprochen! ", der dann 16 Jahre alt geworden ist und die ersten Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Lehrstelle hat, erlebt, wie seine Mutter arbeitslos wird? Haben Sie eine Vorstellung davon, welchen Bruch an Identität und Selbstbewußtsein es bedeutet, wenn Frauen - vorher haben fast alle gearbeitet -jetzt die Hauptopfer der Arbeitslosigkeit im Osten Deutschlands werden? ({8}) Machen Sie sich ein Bild davon, wie dieser 16jährige reagiert, der sieht, wie die Turnhalle des Sportvereins weiter kaputtgeht, er seine Freizeit nicht ordentlich Ministerpräsident Rudolf Scharping ({9}) Ministerpräsident Rudolf Scharping@organisieren kann, der dann auch noch erlebt, wie sein Vater arbeitslos wird? ({10}) - Das ist Ihnen lästig; das kann ich gut verstehen. Wir reden aber über Menschen, für die Politik dazusein hat, nicht über irgendwelche hohlen Phrasen. Davon gibt es nämlich genug. ({11}) Haben Sie sich einmal klargemacht, mit welcher Stimmung dieser junge Mami oder diese junge Frau jetzt, nach fünf Jahren, zum erstenmal zur Wahl des Deutschen Bundestags geht? Ich will Ihnen eines sagen, Herr Dr. Kohl: Sie haben mit Ihrer Politik jenen Herren, die Sie jetzt als Knüppel gegen die Sozialdemokratie benutzen wollen, erst den Boden für ihre Popularität geschaffen. Auf diesem konnte die PDS wachsen. Sie haben sie politisch gemästet und wollen sie jetzt noch einmal mißbrauchen. ({12}) Das alles werde ich Ihnen nicht ersparen. Der 13. August und das Menschenrecht: „Die Schutzmaßnahmen unserer Regierung an den Grenzen der Republik zur Frontstadt West-Berlin haben die Zustimmung der großen Mehrheit der friedliebenden Bürger unserer Republik gefunden. " Von wem ist das wohl? Das ist von „Union teilt mit". ({13}) Das war ziemlich kurz nach dem Bau der Mauer. Dann heißt es: In 40jährigem Aufbau Erreichtes weiterführen. 40 Jahre DDR, das sind vier Jahrzehnte eines unablässigen politischen, ökonomischen, sozialen und geistig-kulturellen Wandels. An ihm waren und sind wir Christlichen Demokraten verantwortlich beteiligt. Das ist das kameradschaftliche und fruchtbringende Zusammenwirken aller Parteien und Organisationen, geführt von der Partei der Arbeiterklasse, das ist ihr freundschaftliches Miteinander im Demokratischen Block und in der Nationalen Front. Dieses freundschaftliche Miteinander setzen Sie jetzt in Ihren eigenen Reihen fort. Die unausgesprochene Übereinstimmung mit der PDS besteht darin, daß man die Sozialdemokratie kleinkriegen muß. ({14}) Helmut Schmidt, über den Sie sich äußern, wie Sie sich geäußert haben, er sei zu feige, sich deutlich und klar zu äußern, hat genau das gesagt, was auch ich sage: Wir werden mit der PDS nicht zusammenarbeiten, ({15}) aber wir lassen uns von Ihnen auch nicht in irgendeiner Weise über Demokratie und Freiheit belehren. ({16}) Diese Partei besteht 130 Jahre. Sie hat ihren Namen nicht wechseln müssen. Sie hat alles an Demokratie und Freiheit, an sozialer Sicherheit und Gleichberechtigung der Frau, an Fortschritt in Deutschland gegen konservative Kräfte verteidigen, durchsetzen und manchmal gegen den Faschismus schützen müssen. Wir brauchen von Ihnen keine Belehrungen in Freiheit und Demokratie, wahrlich nicht! ({17}) Schon gar nicht von Leuten, die ihre Mehrheiten auf andere stützen, die früher die Diktatur gestützt haben, nicht nur, aber eben auch in Mecklenburg-Vorpommern. Wir sagen der deutschen Öffentlichkeit genauso deutlich: In dem dortigen Landtag regiert die CDU mit einer einzigen Stimme Mehrheit, und die kommt von einem Mann, der 23 Jahre lang mit voller Zustimmung der SED in der Volkskammer der DDR saß, und der auch immer voll zugestimmt hat, wenn es um Honecker, Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl ging. Wir brauchen von Ihnen keine Belehrungen über Freiheit und Demokratie, wahrlich nicht! ({18}) Helmut Schmidt hat recht. Er hat Ihnen ausdrücklich zugestimmt: Die Grenze verläuft zwischen Ruchlosigkeit und Anstand. Anständig ist es nicht, was Sie da treiben, Herr Dr. Kohl. ({19}) Anständig ist es auch nicht, was Ihre Hilfstruppen da betreiben. Ich will Ihnen das an einem zweiten Beispiel vorführen. Ich will Sie als Parteivorsitzender zur absoluten Ablehnung eines Plakats auffordern, das in Brandenburg zur Zeit geklebt wird und von dem man fürchten muß, daß es in Deutschland insgesamt geklebt wird: Wir wissen nicht, was die Polizei empfiehlt. Straftäter empfehlen: SPD wählen! ({20}) Das ist von einer „Aktionsgemeinschaft gegen Lügner in der Politik" unterzeichnet. Da ist die Junge Union mit dem Ihnen sicher bekannten Herrn Axel Wallrabenstein dabei. ({21}) Da ist der Generalsekretär der CDU Brandenburg dabei. Herr Bundeskanzler, ich erwarte von Ihnen, daß Sie von diesem Pult aus deutlich sagen: Das ist eine Denunziation demokratischer Politik. ({22}) Wenn Sie schon die Kraft nicht aufbringen, Ihre Mitglieder der Jungen Union, Ihre eigenen Parteigliederungen auf einem einigermaßen verträglichen demokratischen, d. h. auch von Respekt und kulturellem Verständnis getragenen Kurs zu halten, dann Ministerpräsident Rudolf Scharping ({23}) erwarte ich, daß Sie das überdeutlich und klar sagen, damit Sie nicht mit denen verwechselt werden. Wenn Sie schon die Kraft nicht haben, über die Menschen in Deutschland und ihre Zukunftshoffnungen zu reden, dann sollten Sie wenigstens in der Gegenwart dafür sorgen, daß dieser Wahlkampf nicht völlig entartet, wie sich das hier andeutet. ({24}) Sie sagen, Sie hätten die Einheit immer gewollt und richten diese Feststellung dann gegen die Sozialdemokratie. Wenn ich mir die Politik von Willy Brandt und Helmut Schmidt in bezug auf menschliche Erleichterungen, den kleinen Grenzverkehr, Verwandtenbesuche und telefonische Kontakte anschaue, komme ich zu dem Schluß: Das war in jener Zeit und unter den obwaltenden Umständen die konsequente und alleinig mögliche Politik, die Nation und das Volk zusammenzuhalten. ({25}) Zum Kollegen Glos im Zusammenhang mit dem, was er zu Oskar Lafontaine sagte, fallen mir eigentlich nur zwei Sätze ein. Der erste ist: Es gibt eine Niveaulosigkeit, die sich selbst richtet. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. ({26}) Der zweite Satz lautet: Im Gegensatz zu dem Mann, der jetzt auf dem Stuhl des Bundeskanzlers sitzt, hat jener Mann, der saarländischer Ministerpräsident ist und Finanzminister werden wird, jedenfalls 1990 den Menschen in Deutschland die Wahrheit gesagt. Das ist der ganze Unterschied. ({27}) Von alledem wollen Sie ablenken. Das werden wir Ihnen aber nicht durchgehen lassen. Noch im November 1989 standen Sie doch hier im Deutschen Bundestag und haben, wie andere auch - ich werfe Ihnen das nicht vor - von einer Konföderation in Deutschland geredet. Wenn Ihr ehemaliger Mitarbeiter Teltschik es richtig aufgeschrieben hat, dann haben Sie am 10. Januar 1990 in der Sitzung des Bundeskabinetts gesagt, es müsse ein großer Lastenausgleich her. Das hat dann später Richard von Weizsäcker wiederholt; das haben Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wiederholt. Aber Sie haben die Erkenntnis, die Sie im Januar 1990 hatten, der deutschen Bevölkerung geflissentlich verschwiegen. Sie haben die Solidarität, die Bereitschaft zum Zusammenhalten auf bittere Weise enttäuscht und zum Teil den Zorn und die Wut hervorgebracht, die jetzt einen Teil der Menschen leider, leider beherrschen. ({28}) Mit einem so nebenbei hingeworfenen Satz, man habe sich ein bißchen geirrt, möglicherweise aber nur im Zeitraum, jedenfalls nicht in der Richtung usw., wird etwas bemäntelt, an dem das deutsche Volk vermutlich noch einige Jahrzehnte zu knabbern haben wird. ({29}) Die Enttäuschung zu überwinden, die Hoffnung neu zu begründen, den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt miteinander zu verknüpfen, statt sie gegeneinander auszuspielen, den ökologischen Modernisierungsprozeß unseres Landes voranzubringen und jedem Menschen in Deutschland wieder die Gewähr dafür zu bieten, daß er mit seinen Erfahrungen, mit seinen Hoffnungen auf das Leben, mit seinen Ideen ernst genommen wird und nicht einfach zur Seite gedrückt wird, wenn es einem Kanzler einmal nicht paßt - nur so geht es, und nur so wächst ein Volk zusammen. ({30}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Land hat eine ungeheure soziale Kraft, ein außerordentlich großes Verantwortungsbewußtsein bei den Menschen. Das kann man an jeder Stelle sehen, nicht nur, aber eben auch in Mostar und an vielen anderen Stellen der Welt: Menschen, die sich in ihrer Freizeit auf einen Lastwagen setzen und Hilfsgüter nicht nur in das südöstliche Europa transportieren, Schüler, die bereit sind, gemeinsam mit dem Technischen Hilfswerk Schulen wieder aufzubauen, die ein schrecklicher Krieg verwüstet hat, andere Menschen, die als Krankenschwestern oder Ärzte - selbst wenn es einmal schlecht organisiert ist - in die Katastrophengebiete der Welt fliegen, Ärzte, die nie irgendein öffentliches Wort etwa der Anerkennung erfahren, wenn sie in den Slumgebieten von Manila Impfungen für Kinder durchführen, und viele, viele andere, die hier in diesem Land etwas Ähnliches unternehmen. Meine Damen und Herren, warum sollte es denn einer Regierung in Zukunft nicht gelingen, an diesem Verantwortungsbewußtsein, an diesem festen Willen zum gegenseitigen Zusammenhalt, an dieser Fähigkeit zum sozialen Ausgleich anzuknüpfen, das aufzugreifen und es für Deutschland insgesamt fruchtbar zu machen? Dann muß man aber eine andere Politik betreiben, als Sie das heute tun. ({31}) Mit Blick auf die Außenpolitik füge ich hinzu: Diese Menschen, ob nun in Mostar, Rumänien, Bulgarien, Weißrußland, der Ukraine oder an vielen anderen Stellen, sind gute Botschafter für das Ansehen eines friedlichen Landes. ({32}) Ich habe im Sommer einiges von Ihnen dazu gehört, aber nicht in dieser Debatte: Wie stehen Sie denn jetzt eigentlich zu der Überlegung, daß es eine bessere Koordination mit Hilfe eines deutschen Hilfscorps für solche Aktivitäten geben sollte? ({33}) Wie ist das eigentlich? Erst lehnen Sie das hier im Deutschen Bundestag ab, dann sagen Sie während Ministerpräsident Rudolf Scharping ({34}) der Sommerferien: Vielleicht kann man doch mal darüber nachdenken, aber bitte erst nach der Wahl. Genauso kommt der Herr Finanzminister und sagt: Ich will die Unternehmensteuern senken, aber wie das im einzelnen geht, erklären wir erst nach der Wahl. Einen Freifahrschein werden Sie nach den Erfahrungen des Jahres 1990 von den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes nicht mehr bekommen. ({35}) Sie haben noch fünfeinhalb Wochen Zeit, und Sie dürfen ganz sicher sein: Wir werden Ihnen keine Möglichkeit geben, aus den Erfahrungen des Jahres 1990 den falschen Schluß zu ziehen, nämlich nicht mehr die offenkundige Unwahrheit zu sagen, sondern einfach die wahren Absichten zu verschweigen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({36}) Daß sich Ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Rüttgers in den Deutschen Bundestag stellt und eine notwendige Sitzung mit Hilfe der Koalition absagen läßt, nach dem Motto, wir wollen Herrn Scharping keine Möglichkeit zum Auftritt geben, ({37}) das kann ich nach den bisherigen Erfahrungen in diesem Hause gut nachvollziehen. ({38}) Auch wenn es Sie so scheinbar fröhlich stimmt, Herr Bundeskanzler: Wenn Sie die Souveränität, wenn Sie die Argumentationsstärke, die Überzeugungskraft hätten, dann würden Sie doch jede Gelegenheit nutzen, um solche Auseinandersetzungen führen zu können. ({39}) Aber Sie kneifen ja regelmäßig. Sie versuchen durch kümmerliche, diffamierende und verleumderische Angriffe auf die Sozialdemokratie, die Mängel Ihrer eigenen Politik und die Zerstrittenheiten innerhalb der Koalition zu verdecken. Wie soll ich denn das, was Sie über das Papier von Herrn Schäuble gesagt haben, mit dem zusammenbringen, was Herr Kinkel dazu sagt? Wie soll ich denn die Behauptung der finanzpolitischen Solidität durch diesen Finanzminister mit dem zusammenbringen, was sein Koalitionspartner Graf Lambsdorff zu dem Thema sagt? Er mißtraut den Zahlen. Herr Rexrodt gibt gleich öffentlich bekannt, daß das, was Sie uns hier vorgelegt haben, die reine Makulatur ist - die reine Makulatur! Das sagen sogar Sie selbst, Herr Bundeskanzler; denn angesprochen auf die Kinderfreibeträge, die die Ungerechtigkeit dadurch vergrößere sollen, daß sie erhöht werden, sagen Sie: Da muß ich erst mal Kassensturz machen. ({40}) Ja, was ist denn das für ein Bundeskanzler, der fünfeinhalb Wochen vor der Wahl im Vorfeld einer Grundsatzaussprache zu seinem eigenen Haushalt sagt: Da muß ich erst mal Kassensturz machen; ich weiß nicht, ob das geht? Sie haben offenkundig selber weder im Griff noch im Kopf, was man von seinem Haushalt wissen muß, um politische Fragen beantworten zu können. ({41}) Ihre Souveränität entlarvt sich als selbstgefällige Attitüde, sonst ist es nichts. ({42}) Wir werden vermutlich im September doch noch die Gelegenheit bekommen, ein bißchen miteinander zu reden. Ich appelliere noch einmal und abschließend an Sie, Herr Bundeskanzler: Wenn Sie schon nicht konkret über die Absichten Ihrer Politik Auskunft geben wollen - es wird auch weniger wichtig, das genau zu wissen -, ({43}) dann seien Sie doch wenigstens so korrekt und so souverän, die offenkundigen Diffamierungen aus der Welt zu schaffen, von denen ich gesprochen habe. Ich fordere Sie noch einmal ausdrücklich dazu auf. ({44}) Sie wollen offenkundig in der Hoffnung, es könnte Ihnen parteipolitisch nutzen, ein vergiftetes politisches Klima erzeugen. Aber diesen Weg gehen wir mit Ihnen nicht. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Der scheinbare parteipolitische Vorteil rechtfertigt weder das Verschweigen des Erkannten noch die Diffamierung des politischen Gegners. Ich fordere Sie auf, das in Ordnung zu bringen. ({45})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scharping, der Schluß Ihrer Rede war in doppelter Weise überraschend. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, daß Sie irgend etwas zur Zukunft Deutschlands in Ihrer Rede sagen. Aber dann haben Sie einfach aufgehört. Eigentlich haben wir erwartet, daß in dieser Debatte etwas dazu gesagt wird, wie es denn nun nach den Vorstellungen der Opposition und ihres Kanzlerkandidaten in den kommenden vier Jahren in Deutschland sein soll. Das haben Sie vergessen zu sagen. ({0}) - Da so viele Kollegen der SPD nach der Rede des Kollegen Scharping gegangen sind, könnten Sie am besten ebenfalls gehen. Sie schreien ja doch nur meine ganze Rede über. ({1}) - Wenn Sie beklagen, daß man nicht zuhört, bleiben Sie da und hören ein bißchen zu! Dann haben Sie ein Zerrbild von unserem Land gezeichnet und in einer Weise über Bundeskanzler Helmut Kohl geredet, die nun dem Manne und auch dem Bild, das die Deutschen von diesem Kanzler der Einheit haben, in keiner Weise entspricht, und anschließend haben Sie zum fairen Wahlkampf aufgefordert. Das war die zweite Überraschung. Also, so geht es nun wirklich nicht zusammen. ({2}) - Ich kenne das Plakat in Brandenburg nicht. ({3}) - Lassen Sie mich doch etwas dazu sagen. - Ich kenne es nicht. Ich weiß, daß es jedenfalls nicht von der Christlich-Demokratischen Union weder Deutschlands noch Brandenburgs verantwortet wird. Im übrigen gehen wir dem nach. Wenn wir etwas damit zu tun haben und es nicht in Ordnung sein sollte, (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Wir billigen es nicht!) dann wird es zurückgezogen; das ist doch völlig in Ordnung. Wir billigen so etwas nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD -

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Gott sei Dank!) Aber es kommt immer mal vor, daß der eine oder andere dummes Zeug redet. Es kommt auch vor, daß Fehler gemacht werden; dann kann man sie korrigieren. ({0}) Aber das ist doch nicht das Zentrale. Deswegen finde ich, das, was Sie über diejenigen gesagt haben, die in der Christlich-Demokratischen Union vielleicht seit 1945/1946 waren, wie mein Vater in Südbaden oder die Eltern von Freunden, die ich in den neuen Ländern, z. B. in Mecklenburg-Vorpommern, habe und die dort geblieben sind, hat jedenfalls wenig mit den Problemen zu tun, die zu einer kommunistischen Diktatur in Deutschland geführt haben. Deswegen können Sie mit dieser Debatte doch nicht davon ablenken. Wir haben ja gesagt - ich denke, da sind wir uns einig -, es geht uns um die Menschen; wir sind nicht gegen die Menschen, nicht gegen die, die in der SED waren. Der

Not found (Kanzler:in)

Es war - das erinnere ich noch - Kurt Schumacher, der neben anderen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Elend der Nazidiktatur dafür geworben hat, daß man auch denjenigen, die sich damals verirrt haben, eine Chance zur Besserung und zum Mittun in der Demokratie bietet. Es geht darum, daß man heute als demokratische Partei nicht mit einer Partei zusammenarbeitet, die nicht eine demokratische Partei ist. Daß die PDS keine demokratische Partei ist, haben Sie, Herr Scharping, bei verschiedener Gelegenheit, z. B. am 9. August bei Ihrer Funktionärskonferenz in Godesberg, gesagt. Das Problem ist nur, daß Sie mit genau dieser Partei eine Koalition machen. ({0}) - Hören Sie mal, Sie haben doch gerade vom Zuhören und von fairem Wahlkampfstil gesprochen. Wenn Sie einmal einen Moment in den Spiegel schauen! Was ist es denn anders, wenn Sie in Sachsen-Anhalt gegen die stärkste Partei ({1}) - da mögen Sie lachen; die stärkste Partei im Landtag von Sachsen-Anhalt ist durch die Entscheidung der Wähler die CDU - mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS einen Ministerpräsidenten wählen? ({2}) So ist er gewählt worden; so war die Absprache. Sie war zielgenau auf die Stimmenzahl ausgerichtet. Wenn Sie das nicht glauben - der Bundeskanzler hat das schon zitiert -, dann muß ich das noch einmal zitieren. ({3}) Was meint denn Herr Ministerpräsident Höppner, wenn er im „Tagesspiegel" vom 4. September - das war der vergangene Sonntag - sagt: „Ich hätte das so nie durchgesetzt, wenn da ein Nein gekommen wäre. Ich habe schon am Tag nach der Wahl die Führungsspitze der SPD gefragt. " Was hat er Sie denn gefragt? Ob er eine Regierung mit Hilfe der Stimmen der PDS bilden soll oder nicht! Darum geht es, nicht um die Menschen. Davon können Sie nicht ablenken. ({4}): Verleumdung!) Wenn Sie noch eine Weile so weitermachen, dann lese ich Ihnen vor, was Herr Scharping und Herr Höppner noch zwei Tage vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt gesagt haben, daß nämlich niemals eine Zusammenarbeit mit der PDS in Frage komme. ({5}) Herr Scharping, Sie haben ja noch Anfang und Mitte Juni davon geredet, daß für Sie eine Koalition mit den Grünen nicht in Frage komme. Ich habe die entsprechenden Zitate da. Im Gegensatz zu Ihnen lese ich, was Sie sagen. Sie haben noch Mitte Juni gesagt, daß Sie für eine Koalition mit den Grünen nicht zur Verfügung stünden. Jetzt redet kein Mensch mehr davon. Es geht nur noch um die Frage, in welcher Form die Zusammenarbeit mit der PDS organisiert werden soll. Das ist der Unterschied, der sich seit Sachsen-Anhalt vollzogen hat. ({6}) Davon kommen Sie nicht weg, bis Sie das machen, wozu Helmut Kohl Sie aufgefordert hat: Lösen Sie die Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt, die nur durch die Stimmen der Kommunisten zustande gekommen ist, wieder auf, und machen Sie eine demokratische Mehrheitsregierung. Nur dann werden Sie wieder glaubwürdig. ({7}) Vorher werden wir Ihnen nicht glauben können, niemand in diesem Land wird Ihnen glauben. Wer so gegen das, was er bis zur Schließung der Wahllokale gesagt hat, am Tag nach der Wahl verstößt, dem kann man nicht glauben, wenn er sagt, daß er nach dem 16. Oktober dasselbe nicht wieder macht. ({8}) Deswegen gibt es nur einen Weg, um Ihnen zu ersparen, nach dem 16. Oktober wieder in Versuchung zu kommen: Die Koalition braucht nach dem 16. Oktober die Mehrheit; dann brauchen Sie Ihr Versprechen nicht zu brechen. ({9}) Weil Sie von Herrn Lafontaine und dem Jahre 1990 gesprochen haben ({10}) - Sie müssen nicht, aber Sie dürfen ({11}) - er muß nicht, niemand muß zuhören -, weil Sie davon gesprochen haben, wer da mehr oder weniger recht gehabt hat - ich habe das auch schon öffentlich gesagt, Herr Lafontaine; wir beide haben ja damals trefflich gelegentlich miteinander gestritten -: Sie haben in manchen Prognosen darüber, was das kostet, mehr recht gehabt als ich. Ich habe wirklich nicht geglaubt, daß Sie mit der Zahl 100 Milliarden DM an Transferleistungen recht hätten. Aber Sie haben 1990 niemals ein ungequältes Ja zur Einheit gesagt. Sie haben den Staatsvertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion abgelehnt. ({12}) - Entschuldigung, Sie haben beim Staatsvertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion dafür plädiert, die Oppositionsfraktion solle ablehnen, im Bundesrat müsse man passieren lassen, weil man es nicht verhindern dürfe. Und beim Einigungsvertrag - ich erinnere mich sowohl an die erste wie an die zweite Lesung; ich habe es Ihnen ja vorgehalten - haben Sie nicht ein einziges Mal ja zur Einheit gesagt. ({13}) Alle Ihre Vorhersagen waren doch im Grunde dazu angetan, bei dem zu bleiben, was Ihr Genosse Momper damals gesagt hat: nicht Wiedervereinigung, sondern Wiedersehen. Wir wollten die Einheit. Wir haben an der Einheit festgehalten, wir haben sie durchgesetzt, und wir haben uns auch durch die Kosten und die Folgen davon nicht abschrecken lassen. Wir haben den Menschen nicht Angst, sondern Mut gemacht! ({14}) Wir haben sie nicht auseinandergetrieben, sondern zusammengeführt. Und so haben wir die Einheit verwirklicht, erreicht und vollendet. ({15}) Weil Sie, Herr Scharping, von der Politik der menschlichen Erleichterungen gesprochen haben - ich würde ja lieber über Gegenwart und Zukunft reden, als in die Vergangenheit zurück -, muß man noch einmal sagen, auch angesichts mancher unwahren Äußerungen in diesem Jahr: Die Sozialdemokraten hatten überwiegend - gestern oder vorgestern war das in einer Dokumentation in einer großen Zeitung nachzulesen - die eine deutsche Staatsangehörigkeit aufgegeben. Sie hatten am Ziel der Einheit nicht festgehalten. Sie haben nicht mehr daran geglaubt. ({16}) Und weil Sie nicht mehr dran geglaubt haben, haben Sie auch nicht die Kraft gehabt, am Widerstand gegen die Geraer Forderungen von Honecker festzuhalten. Sie haben es doch angeboten, öffentlich und intern. Als Helmut Kohl, auch unterstützt vom damaligen Chef seines Kanzleramtes, Schäuble, mit Honecker und der SED-Führung darum gerungen hat, Erleichterungen im innerdeutschen Reiseverkehr zu erlangen, ohne in der Grundsatzfrage nachzugeben - das war nach den Gesprächen im Frühjahr 1985 in Moskau -, sind Sie, Herr Lafontaine - und das gehört zu den Dingen, die mich früh bei Ihnen sehr gestört haben -, z. B. in Leipzig gewesen, haben eine Pressekonferenz gemacht und gesagt: Die DDR-Führung kann ja in Fragen des Reiseverkehrs gar nicht nachgeben, solange wir nicht die eigene Staatsangehörigkeit der DDR anerkennen. Das heißt, Sie sind uns in den Rücken gefallen. ({17}) Sie sind uns in den Rücken gefallen! Sie haben die SED-Führung aufgefordert, nicht nachzugeben, solange wir in der Grundsatzfrage nicht nachgeben. Und darin sind Sie sich treu geblieben. Deswegen hätten Sie die Einheit nicht erreicht, und deshalb haben im wesentlichen wir sie mit unserem Festhalten gemacht. ({18}) - Nein, entschieden haben es die Menschen, die Menschen in der friedlichen Revolution. Aber die Voraussetzungen, daß es dazu gekommen ist, daß es dazu kommen konnte, die haben wir aufrechterhalten. ({19}) Herr Scharping, ich habe Ihr Buch gelesen; ich habe es mir angetan, es zu lesen. ({20}) - Nein, es ist ziemlich mühsam zu lesen. Dagegen ist Ihr Wahlprogramm fast noch spannend geschrieben. - Wenn Sie mir in Ihrem Buch unterstellen, ich würde an der Westintegration nicht festhalten wollen, dann gehört das zu den größeren Unverschämtheiten. Die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union und die Koalition der Mitte haben gegen die Mobilisierung der Straße am westlichen Bündnis festgehalten, als Sie im Vollzuge des NATO-Doppelbeschlusses aus der NATO heraus wollten! ({21}) Wir brauchen doch keine Belehrung, daß wir Frieden, Freiheit und Einheit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur auf dem Weg der europäischen Einigung und des Atlantischen Bündnisses erhalten haben, erhalten können und auch für die Zukunft nur so bewahren werden. ({22}) - Nein, nein. Die Einheit ist bei Ihnen unterschiedlich gesehen worden. Die einen haben sich genauso gefreut wie wir, die anderen nicht so sehr. ({23}) - Na sicher war es unterschiedlich. Das können Sie ja nicht bestreiten. Als Sie aber gesehen haben, daß es nicht mehr aufzuhalten ist, haben Sie gesagt: Dann aber wenigstens heraus aus der NATO. Als wir gesagt haben: Nein, die Zugehörigkeit zur NATO steht für uns nicht zur Disposition, und Helmut Kohl dies durchgesetzt hat, da haben Sie sich ungläubig die Augen gerieben. Es war leichter, Gorbatschow und unsere Nachbarn in Osteuropa zu überzeugen als die SPD. Sie wollten heraus aus der NATO. Wir sind drin geblieben. ({24}) Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie wirklich auf mit Ihrem verleumderischen Popanz. ({25}) Jetzt zitiere ich Alfred Grosser - der ja vielleicht selbst für Sie unverdächtig ist -, der in einer Besprechung meines Buches geschrieben hat: Nur jemand, der das Werk nicht gelesen hat ({26}), kann Wolfgang Schäuble als bösen Nationalisten darstellen, der durch die Wiedervereinigung zu Machtgelüsten verleitet wurde. Genau das Gegenteil trifft zu. Ach würden doch französische Politiker so klar, eindeutig und mutig über Europa sprechen! ({27}) - Nein, ich finde, Sie sollten Ihre verleumderische Kampagne gegen mich aufhören. ({28}) Wissen Sie, wir haben ein Beispiel erlebt. Der Kollege Klose hat ausdrücklich gesagt, daß ich das mit der transzendentalen Dimension nicht gesagt habe. Aber Herr Scharping schämt sich nicht - obwohl Sie, Herr Klose, heute morgen gesagt haben, daß ich das gar nicht gesagt habe, sondern daß ich durch Ihren Vorgänger verfälschend zitiert worden bin -, es zu wiederholen. Herr Scharping sagt es drei Stunden später in der Debatte wieder. Das ist Ihre Methode, Herr Scharping. Sie sollten, wenn Sie nicht mich lesen, wenigstens auf Klose hören. ({29}) Klose hat es heute morgen ausdrücklich bestätigt. Das war in Ordnung. Sie aber haben das falsche Zitat drei Stunden später wiederholt. Das finde ich schäbig, und Sie sollten damit endlich einmal aufhören. ({30}) - Aber verehrter Herr Duve, ich antworte auf Herrn Scharping. Es tut mir leid. Ich hätte lieber auf anderes geantwortet. Aber ich muß ja auf das antworten, was er gesagt hat. Sie werden mir wohl noch das Recht zugestehen, wenn ich von Ihnen verleumdet werde, und zwar systematisch, daß ich mich dagegen auch wehre. ({31}) Nun will ich auch das sagen: Was haben denn die Kollegen, die mit mir zusammen Überlegungen zur europäischen Politik veröffentlicht haben - die man teilen kann, nicht muß; da kann man unterschiedlicher Meinung sein - getan? Es gibt bei den Sozialdemokraten welche, die die Meinung teilen, und es gibt welche, die anderer Meinung sind. Es gibt auch in der Union welche, die anderer Meinung sind. Auch in der Koalition gibt es unterschiedliche Meinungen. Was haben wir denn gesagt? Was wollen wir denn? Wir wollen erstens eine Erweiterung der Europäischen Union, und zwar gerade um unsere Nachbarn in Osteuropa. Denen verdanken wir übrigens - den Polen zuerst - den Weg zur deutschen Einheit. Was ich übrigens am Ende dieses Jahrhunderts - ich habe es von diesem Pult aus schon gesagt - für etwas ungeheuer Bewegendes halte, ist, daß in Polen 1981 der Weg begann, der den Deutschen am Ende dieses Jahrhunderts die Chance zur Einheit in Frieden und Freiheit eröffnete. Das können wir gar nicht oft genug sagen. Daran können wir uns gar nicht oft genug erinnern. ({32}) Deswegen haben wir eine Verpflichtung, den Weg zu Demokratie, Sozialer Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit in Frieden und Freiheit bei unseren Nachbarn in Osteuropa zu stützen und dort zu helfen. Da tun die Deutschen mehr als andere. Manches von der Larmoyanz über die Belastung der öffentlichen Haushalte und der Steuerzahler, über die Sie hier reden, hat ja nicht nur mit dem Aufbau in den neuen Ländern zu tun, sondern mit unserer Hilfe für Osteuropa und die ehemalige Sowjetunion, zu der wir uns bekennen und für die wir uns ein stärkeres und einigeres Europa wünschen. Denn die Aufgabe, den Weg in Osteuropa zu stabilisieren, zu flankieren, überschreitet die Kräfte Deutschlands. Deswegen ist auch dafür die europäische Einigung notwendig. Deswegen sind Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union nach meiner Auffassung und nach der Auffassung meiner Freunde keine Gegensätze, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Wir werden die gewaltige Aufgabe der Erweiterung der Europäischen Union nicht meistern, wenn wir nicht gleichzeitig auch in der Vertiefung der Europäischen Union vorankommen. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein; meine Meinung ist diese. Wir sagen in unserem Papier, Herr Scharping - so weit haben Sie es nicht lesen lassen -, ({33}) daß wir bis zum Jahre 2000 für unsere Nachbarn in Osteuropa den Beitritt zur Europäischen Union wollen. Da sagen manche, das sei unrealistisch früh. Ich sage: Ich weiß nicht, ob die Geschichte den Europäern mehr Zeit läßt, dieses so voranzubringen. Weil es so ist, müssen wir jetzt auch die Europäische Union vertiefen. Wir schließen doch niemanden aus, um Himmels willen nicht. Italien ist uns so willkommen wie alle anderen, jeder ist gefordert und gefragt. Wir wollen alle drängen. Aber wir sagen: Diejenigen, die heute schon bereit und in der Lage sind, einen Schritt weiter voranzugehen, sollten durch andere, die diesen Schritt noch nicht gehen wollen oder können, nicht zurückgehalten werden, weil wir mehr Fortschritte in der europäischen Einigung brauchen und nicht weniger. ({34}) Genau dieses steht in unserem Papier. ({35}) - Aber, Herr Duve, wenn Sie die Reaktionen und übrigens auch die Pressestimmen in Europa verfolgen, und zwar objektiv, dann werden Sie feststellen, daß in Großbritannien die Mehrzahl der Stimmen sagt: Das ist überwiegend richtig. In Frankreich ist die Mehrzahl der Stimmen eher zustimmend. In Italien gibt es natürlich eine Menge Betroffenheit, das ist wahr, aber es gibt viele in Italien - vom Notenbankpräsidenten bis zum Finanzminister -, die sagen, es ist halt so, und wir Italiener müssen uns anstrengen, damit wir möglichst rasch die Voraussetzungen erfüllen, damit wir dazugehören. Wir jedenfalls wollen Italien und alle anderen dabei haben, und wir wollen niemanden hindern. ({36}) - Herr Kollege, lassen Sie mich doch reden! Ich bin ja gerne bereit, ich versuche ja, einen Dialog zustande zu bringen. ({37}) Nun will ich zunächst einmal sagen, Ihr Zwischenruf ist deswegen etwas irreführend oder mißverständlich, weil Herr Scharping gerade vorher dem Bundeskanzler vorgeworfen hat, er distanziere sich nicht von diesem Papier. ({38}) Jetzt werfen Sie mir vor, daß sich der Bundeskanzler distanziert. Also: das eine oder das andere. So, jetzt lese ich vor, was der Bundesminister des Auswärtigen am 24. August in einer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gesagt hat. Da steht: Die Frage für die Regierungskonferenz 1996 ist: Soll sich der Geleitzug auch künftig nach dem langsamsten Schiff richten? Diese Frage muß man ja stellen. Oder sollen die, die schneller voran wollen, das auch tun? Unser Ziel ist ein möglichst starkes Kerneuropa, aber unsere Präferenz bleibt eindeutig, alle 12 oder ab 1995 hoffentlich alle 16 mit an Bord zu haben. Ich füge hinzu: alle 20, wenn die Osteuropäer dazukommen. ({39}) Ich unterschreibe jedes Wort von diesen Sätzen. Herr Kinkel, wir stimmen völlig überein: ein möglichst starkes Kerneuropa, möglichst mit allen 12, möglichst mit allen 16 und allen, die weiter dazukommen. Wir sind da nicht unterschiedlicher Meinung. ({40}) - Europa, liebe Frau Fuchs, ist genau die Versicherung gegen nationale Alleingänge. ({41}) Europa ist genau die Versicherung und Vorkehrung gegen nationale Alleingänge. ({42}) Dann will ich das eine auch noch sagen. Sie mit Ihrer Politik, die Übernahme gleicher Rechte und Pflichten durch die Bundesrepublik Deutschland in DeutschDr. Wolfgang Schäuble land, in Europa, in der Atlantischen Allianz, in den Vereinten Nationen zu verweigern, Sie wollen auch für die Zukunft eine Sonderrolle Deutschlands festschreiben. Damit beschädigen Sie unsere Fähigkeit zur europäischen Einigung, zu weltweiter Zusammenarbeit und zur atlantischen Integration, und im Ergebnis gefährden Sie den Frieden. ({43}) Meine Damen und Herren, ich will noch zwei Dinge von Herrn Scharping ausdrücklich zurückweisen. Er hat sich für den Moment entschuldigt, das ist ja auch in Ordnung. Jeder muß nach stundenlanger Debatte auch einmal für ein paar Minuten den Saal verlassen. Herr Scharping hat kritisiert, daß wir das Schlechtwettergeld nicht über Ende 1995 hinaus verlängert haben. Er hat es in der ihm in dieser Rede eigenen Art angegriffen. ({44}) Ich will dazu vor dem Forum der Nation etwas sagen. Es hat mich so beeindruckt, daß ich es für notwendig finde, die Wahrheit zu sagen. ({45}) Vor dem Forum der Nation will ich die Gemeinsame Erklärung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes vom 10. März 1994 verlesen. Darin steht mit den Unterschriften der Vorsitzenden der IG Bau-SteineErden, des Zentralverbandes des deutschen Baugewerbes und des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, daß die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes sich darin einig sind, „unmittelbar nach Beendigung der Einkommenstarifverhandlungen 1994 mit der Umsetzung der Vereinbarung vom 9. Mai 1992 ({46}) " zu beginnen. Aufgrund dieser Vereinbarung werden die Tarifvertragsparteien in Verhandlungen über ein ganzjährig gesichertes Einkommen und die Möglichkeit einer Verstetigung desselben sowie über bauspezifische Lösungen der Wochen- und Jahresarbeitszeit eintreten. Diese Verhandlungen werden sich auch mit der Lösung der Probleme befassen, die sich aus dem vorgesehenen Wegfall der Schlechtwettergeldregelung ab 1996 ergeben. ({47}) - Schreien Sie doch nicht! Lassen Sie mich noch einen Satz dazu sagen:. Die Regelungen sollen zum 1. Januar 1996 in Kraft treten. Die Tarifvertragsparteien bekunden ihre Bereitschaft zu diesen Verhandlungen unter der Voraussetzung, daß für die Übergangszeit bis zum Inkrafttreten der tarifvertraglichen Regelung bei witterungsbedingten Arbeitsausfällen die bisherigen Regelungen ... oder eine gleichwertige Ersatzregelung wieder wirksam werden. Sie wissen genau, daß wir miteinander - die Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen, die Kollegen Solms, Glos und ich, sowie die Bundesregierung - mit den Tarifvertragsparteien gesprochen haben, die uns damals gebeten haben, die Zahlung von Schlechtwettergeld bis Ende 1995 zu verlängern, damit die Tarifvertragspartner genügend Zeit hätten, eine Anschlußregelung miteinander zu vereinbaren. ({48}) Deswegen ist es eine große Verleumdungskampagne, wenn jetzt gesagt wird, dies sei nicht im Einvernehmen mit den Tarifvertragsparteien so geregelt worden. Deswegen haben wir gestern so beschlossen. ({49}) - Ja, das ist die Wahrheit. Ich habe nur den Text verlesen. ({50}) Dann hat Herr Scharping die Ablehnung der Erhöhung der Leistungen für die Ausbildungsförderung kritisiert. ({51}) Das kann man kritisieren. Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Er hat dann gesagt, damit verweigere man die notwendigen Mittel für Zukunft, weil unser Kapital in der Bildung liege. ({52}) Aber, Frau Kollegin Fuchs, Sie wissen genau, daß das Ergebnis im Vermittlungsausschuß, das wir abgelehnt haben, bedeutet hätte, daß die Mittel für den Hochschulbau um dieselbe Summe gekürzt worden wären. ({53}) Wir haben in Deutschland derzeit nicht zuwenig Studenten, sondern zuwenig Hochschulplätze. Deswegen müssen wir die Mittel in Investitionen ins Bildungssystem stecken und nicht verkonsumieren. ({54}) Wir können die Zukunft nicht verkonsumieren, sondern wir müssen investieren, damit wir weiter vorankommen. ({55}) Darum, meine Damen und Herren, geht es, in den kommenden Jahren. ({56}) Wenn die Frage geprüft wird, die in einer Haushaltsdebatte auch fünfeinhalb Wochen vor einer Wahl geprüft werden muß, ob wir den richtigen Weg in diesen vier Jahren gegangen sind: Wir haben in diesen vier Jahren - diese Bundesregierung, dieser Bundeskanzler Helmut Kohl, der Bundesfinanzminister Theo Waigel, der Bundeswirtschaftsminister Rexrodt und alle anderen Mitglieder des Kabinetts - in diesem Lande nach den ungeheuren Verwerfungen, nach 40 Jahren Teilung und Sozialismus eine ungeheuere Aufbauleistung zustande gebracht. Wir sind auf dem Weg der Modernisierung in den neuen Bundesländern mit der Schaffung einer leistungsfähigen Infrastruktur in diesen vier Jahren mehr vorangekommen, als die allermeisten es überhaupt für möglich gehalten hätten. ({57}) Wenn wir nicht 1991 gegen den Widerstand der Sozialdemokraten das Planungsvereinfachungsgesetz für die neuen Länder durchgesetzt hätten, dann wären wir immer noch in den Planfeststellungsverfahren, und keiner der 7 000 Straßenkilometer wäre inzwischen neu gebaut. ({58}) Wir haben dazu gewaltige finanzielle Belastungen aller öffentlichen Haushalte und der Steuer- und Abgabenzahler in Kauf nehmen müssen - mehr, als wir es uns vor 1990 vorstellen konnten und 1990 geglaubt haben. Damit sind wir heute wieder bei einer Staatsquote angelangt, die so hoch ist, wie sie am Ende der sozialdemokratischen Regierungszeit 1982 gewesen ist. ({59}) Was das Verhältnis der Neuverschuldung zum Bruttosozialprodukt anbelangt, so muß man die vereinigungsbedingten Sonderlasten berücksichtigen. ({60}) - Frau Fuchs, ich bitte Sie wirklich. Ich weiß nicht, wie man da lachen kann, wenn man der Schattenmannschaft von Herrn Scharping angehört. Das ist doch albern! Im Verhältnis zum Volkseinkommen ist die Neuverschuldung nicht gestiegen. Sie konnten ja in diesen Tagen auch die Zahlen lesen: Unter allen europäischen Industrieländern mit Ausnahme von Luxemburg haben wir im Verhältnis der Neuverschuldung zum Bruttosozialprodukt schon wieder die niedrigste Zahl. Wir haben inzwischen wieder die besten Zahlen bei der Erfüllung der Stabilitätskriterien des Maastricht-Vertrages. Wir sind im Haushaltsvollzug entgegen allen Ihren Reden besser als vorausgesehen. Jedes Jahr haben Sie ja fürchterliche Vorhersagen gemacht: Alles, was der Bundesfinanzminister vorlege, sei Makulatur und stimme nicht; es würde viel schlechter werden. Am Ende jedes Jahres aber waren die Ist-Zahlen besser als die Soll-Zahlen. Auch im Jahr 1994 - Bundesfinanzminister Waigel hat es gestern gesagt - wird ja die Neuverschuldung nicht so hoch sein, wie sie im Haushaltsplan steht, während Sie gesagt haben, sie würde um mindestens 10 Milliarden DM höher sein. Dafür sind die Wachstumszahlen 1994 wesentlich höher, als selbst im Jahreswirtschaftsbericht unterstellt, und schon dafür ist die Bundesregierung kritisiert worden: Das sei unrealistisch optimistisch. Das alles war vor einem halben Jahr. Wir sind viel besser und erfolgreicher, als wir dies selbst vorhergesagt haben. ({61}) - Die Zahlen sprechen doch eine eindeutige Sprache. ({62}) Im Jahreswirtschaftsbericht stehen 1 1/2 % reales Wachstum. Das haben Sie als zu optimistisch kritisiert. Die OECD hat inzwischen gesagt: 1994 1,8 % real, 1995 voraussichtlich 2,6 % mehr. Das heißt, beim Aufbau in den neuen Ländern sind wir mit realen Wachstumsraten von 81/2 % und bei der Überwindung der Wirtschaftskrise in ganz Deutschland mit realen Wachstumsraten von 1,8 % in diesem Jahr und 2,6 % im nächsten Jahr auf dem richtigen Weg. Unsere Politik ist erfolgreich, und deswegen muß sie fortgesetzt werden. ({63}) Wir haben dies erreicht, indem wir auf die Modernisierung unserer Volkswirtschaft gesetzt haben. Ich habe schon vom Planungsvereinfachungsgesetz gesprochen, und vielleicht sind Sie in den nächsten vier Jahren mit Ihrer noch vorhandenen Mehrheit im Bundesrat nicht mehr so hinderlich, wie Sie es in den vergangenen vier Jahren waren. Es gibt ja Anzeichen dafür, daß auch Herr Scharping begreift: Wir müssen bei der Genehmigung von öffentlichen wie privaten Investitionen schneller werden. Dann lassen Sie uns doch die positiven Erfahrungen mit dem Planungsvereinfachungsgesetz in den nächsten Jahren auch auf Westdeutschland übertragen. ({64}) Sie haben lange Widerstand geleistet gegen die Postreform und gegen die Novellierung des Gentechnikgesetzes, und Sie führen bei der Kernenergie noch immer einen merkwürdigen Schleiertanz auf, obwohl jeder weiß, daß weltweit auf die friedliche Nutzung der Kernenergie auf absehbare Zeit nicht verzichtet werden kann und nicht verzichtet werden wird, weil eine Klimabelastung durch noch mehr fossile Brennstoffe unverantwortlich wäre. Das hat ja auch der Club of Rome gesagt. Weil dies so ist, Herr Lafontaine, halte ich es für falsch, daß wir den Beitrag der deutschen Kernkraftindustrie, die nachweislich den höchsten Sicherheitsstandard hat, zur sicheren Nutzung der Kernenergie weltweit verweigern sollen, indem wir aussteigen. Ich meine vielmehr, wir sollten unsere Kräfte für möglichst viel Sicherheit in der Nutzung der Kernkraft in Deutschland, Europa und weltweit einsetzen. Das ist besser. ({65}) Wir glauben auch nicht, daß Verbote und bürokratische Administration zukunftsgerichtet sind. Deswegen sind wir noch immer der Überzeugung, daß ein generelles Tempolimit der Umwelt nichts nützt und uns technologisch in unserem Lande nicht voranbringt. Daher werden wir es auch ablehnen. Wir haben die Auseinandersetzung darüber doch schon vor zehn Jahren geführt. ({66}) Als wir in der Bundesrepublik Deutschland schadstoffarme Autos eingeführt haben - davon sprechen Sie schon gar nicht mehr -, haben Sie das bekämpft und haben gesagt: Das bringt nichts. Sie waren dagegen. Sie haben gesagt: Das bringt nichts; nur ein Tempolimit bringt etwas. ({67}) Inzwischen fahren wir überall mit Katalysatoren und haben den Schadstoffausstoß und den Benzinverbrauch wesentlich reduziert. - Natürlich waren Sie dagegen! ({68}) Jetzt sind Sie schon wieder dagegen. Ja, wofür sind Sie eigentlich? Herr Zöpel hat die Programmannschaft verlassen, weil er für ein generelles Tempolimit ist und Herr Scharping im Juni noch nicht dafür war. Von dem Kollegen Schäfer will ich gar nicht sprechen; er hat beim Tempolimit seinen eigenen Stil. Aber Ihre Umweltministerin ist ja nun für eine gleichmäßige Auslastung von Bahn und Schiene. Sie fährt im Blitzlicht der Fotografen umweltbewußt zur Umweltkonferenz nach Nürnberg mit der Bahn, und das Gepäck schickt sie mit dem Dienstwagen hin. Diese Leute haben wir gern. ({69}) Herr Scharping sagt, er sei jetzt auch für Tempo 100; bei der Automobilindustrie fügt er allerdings hinzu: pro Achse! ({70}) So, mit dem „sowohl - als auch", geht es nicht. Nein, wir sagen Ihnen klar: Wir werden Umwelt nur schützen, wenn wir auch in Zukunft auf technologische Innovation setzen. ({71}) Wir brauchen eine leistungsfähige Wirtschaft, um die Umwelt zu schützen und zu erhalten. Wenn es an zuviel Wirtschaftswachstum gelegen hätte, hätten wir ja in den neuen Bundesländern, in der ehemaligen DDR keine Umweltprobleme; denn soviel Wirtschaftswachstum ist es ja dort nicht gewesen! ({72}) Wir müssen auf Modernisierung setzen. Wir können nur mit technischem, wissenschaftlichem Fortschritt weiter vorangehen, und wir dürfen dabei unsere Volkswirtschaft nicht überfordern. Aber es macht auch keinen Sinn, das Blaue vom Himmel herunterzureden. Ich bin es langsam leid. In jeder Debatte wird die zu hohe Verschuldung beklagt. Die zu hohen Steuern und Abgaben werden beklagt. Jeder Sparvorschlag von uns wird abgelehnt und diffamiert, und eigene Sparvorschläge bleiben aus. ({73}) Ihr Regierungsprogramm rechnet sich auf mindestens 100 Milliarden DM zusätzliches Defizit, wenn man Einnahmenminderungen und Mehrausgaben zusammenrechnet. ({74}) - Ach, Frau Fuchs! - Unser Regierungsprogramm ist selbst von den linken Medien nicht kritisiert worden, sondern es ist gesagt worden, es sei ein realistisches, solide finanziertes Programm. ({75}) Wir haben keine unrealistischen, nicht solide finanzierten Versprechungen gemacht. ({76}) Ich will Ihnen ein Beispiel sagen, weil Beispiele besser sind. Herr Lafontaine ist ja hier. Sie haben es fertiggebracht, im vergangenen Jahr dem Solidaritätszuschlag zuzustimmen. ({77}) Herr Scharping hat heute davon gesprochen - ich habe es mir aufgeschrieben -: Wir brauchen eine große solidarische Anstrengung aller zur Finanzierung der deutschen Einheit!, um dann anschließend gegen den Solidaritätszuschlag zu polemisieren. Das ist ein merkwürdiger Widerspruch. ({78}) Sie sagen jetzt: An Stelle des Solidaritätszuschlags eine Ergänzungsabgabe nur für Besserverdienende, wobei der Charme der Geschichte ist, daß die Menschen unter „Besserverdienenden" die anderen verstehen sollen. Das ist nicht die solidarische Anstrengung aller Deutschen. Aber das viel Schönere ist, daß Herr Lafontaine gleichzeitig fordert, den Beitrag zur Bundesanstalt für Arbeit, den Versicherungsbeitrag, zu senken, indem man die versicherungsfremden Leistungen für die Bundesanstalt durch den Bund finanziert, und zwar aus den Mitteln der Ergänzungsabgabe, mit 30 Milliarden DM. ({79}) Ja, meine Damen und Herren, wenn Sie 30 Milliarden DM zweimal ausgeben, wundert es mich nicht, warum Sie im Saarland die Finanzen nicht in Ordnung halten können. ({80}) - Herr Lafontaine, seien Sie vorsichtig, ich habe es dabei. Es ist nicht falsch. ({81}) Sie haben zur Finanzierung der beitragsfremden Leistungen der Bundesanstalt ausdrücklich eine Ergänzungsabgabe gefordert. ({82}) Diese Ergänzungsabgabe fordern Sie gleichzeitig als Alternative zum Solidaritätszuschlag. Deswegen geben Sie die 30 Milliarden DM zweimal aus, ({83}) und das ist unsolide. ({84}) Es ist ja auch merkwürdig. Wir haben in den letzten vier Jahren nach heftigen Auseinandersetzungen und auch bei viel verständlichem Protest betroffener Bevölkerungskreise Ausgaben im Bundeshaushalt um jährlich 70 Milliarden DM gekürzt. Das ist nicht zum Nulltarif zu haben und bringt Auseinandersetzungen um Schlechtwettergeld, BAföG und alles andere. Wir würden es uns auch lieber bequemer machen. Nur, meine Damen und Herren, wenn wir Stabilität als die wichtigste Voraussetzung für soziale Sicherheit bewahren wollen, wenn wir Stabilität als Voraussetzung dafür sichern wollen, daß die Zinsen niedrig bleiben und die Investitionen gefördert werden, dann müssen wir eben bei diesen gewaltigen Belastungen Ausgaben kürzen, um solide zu wirtschaften, damit es auch in der Zukunft weiter vorangeht. Diesen Weg werden wir in den kommenden Jahren fortsetzen. ({85}) Nur wenn wir diesen Weg gehen, haben wir eine Chance, die großartigen Möglichkeiten, die wir haben, auch für die Zukunft zu nutzen. Herr Kollege Klose, Sie haben von Problemen gesprochen, die es auch in unserem Lande gibt. Wir nehmen sie ernst. Der Bundeskanzler hat gesagt, es sei Miesmacherei auf hohem Niveau. Die Wirklichkeit unseres Landes wird doch auch dadurch beschrieben - das müßten auch Sie sagen -, daß keine Generation vor uns jemals so großartige Möglichkeiten für ein Leben in Frieden, Freiheit, Wohlstand und sozialer Sicherheit hatte wie unsere Generation. ({86}) Zu der Wirklichkeit unseres Landes gehört doch auch - gerade wenn man von den dramatischen Problemen dieser einen und immer weniger teilbaren Welt spricht -, daß es wenige Menschen auf dieser Erde gibt, die unter besseren Verhältnissen leben können, als wir Deutschen leben dürfen. ({87}) Deswegen sollte man nicht ein solches Bild der Larmoyanz und der Miesmacherei zeichnen, sondern man sollte sagen: Wir haben großartige Möglichkeiten. Wir haben auch viele große Aufgaben, die man allerdings nicht mit dem entschiedenen „sowohl - als auch" des Herrn Scharping lösen kann, sondern die man nur mit klaren Entscheidungen, mit schmerzhaften Prioritätsentscheidungen angehen kann. Warum müssen wir denn nationale Solidarität einfordern? Wie anders sonst soll man den Menschen diese große solidarische Anstrengung nach der Wiedervereinigung erklären, wenn nicht mit einem Grundbestand an nationaler Solidarität? ({88}) Wie sollte denn beispielsweise ich die Auseinandersetzungen ertragen, die viele Menschen in Bonn - zu Recht oder verständlicherweise - mit mir wegen meines Drängens auf den Umzug nach Berlin geführt haben? Nach der Art von Herrn Scharping geht es nicht. In Bonn hat er gesagt: viel zu schnell. In Berlin hat er gesagt, er würde früher nach Berlin umziehen. ({89}) Beides zusammen geht nicht. ({90}) - Es hilft alles nichts. ({91}) Wir kommen ohne ein Mindestmaß an nationaler Solidarität in diesen Zeiten der Veränderung nach meiner Überzeugung nicht aus. „Der Kern des Problems liegt darin, daß die deutschen Intellektuellen mit dem Gedanken der Nation nicht fertig werden können" , schreibt Ralf Dahrendorf im Jahre 1991 in seinen „Betrachtungen über die Revolution in Europa". Wir können den Rechtsstaat nicht sichern, wenn wir nicht begreifen, daß, solange wir in der europäischen Integration noch nicht weiter sind als heute, die Organisationsform des Nationalstaats die Ebene ist, auf der sich das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen mit dem staatlichen Gewaltmonopol deckt. Darauf müssen wir bauen, um die Stabilität, um Frieden, Freiheit und Toleranz zu bewahren. Wir dürfen auch den Rechtsstaat und die innere Sicherheit nicht verkommen lassen. ({92}) Wir müssen immer wieder auch darüber nachdenken, daß der Staat nicht zu stark wird und die Bürokratie nicht zu sehr wuchert, um die Freiheit zu unterdrücken. Das ist wahr. ({93}) Aber meine Sorge heute ist mehr die, daß der Staat zu schwach werden könnte, um die Freiheit noch zu schützen. Beides ist schlecht. Immer wieder muß die Balance bewahrt und neu errungen werden, damit die Freiheit nicht verkommt. Deswegen müssen wir auch unseren Polizeibeamten, denen der Länder und denen des Bundes, den Männern und Frauen, die notwendige Unterstützung durch die Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen beim Kampf für Recht und Sicherheit geben. Wir müssen ihnen die notwendigen Gesetze an die Hand geben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Kampf gegen organisierte Kriminalität werden wir auf den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Gangsterwohnungen auf Dauer nicht verzichten können. ({94}) Übrigens, Herr Scharping, was sagen Sie denn eigentlich dazu, daß die PDS zusammen mit allen möglichen linken, linksradikalen, linksextremen und gewalttätigen Organisationen dazu auffordert, die Feierlichkeiten zur Verabschiedung der Alliierten morgen in Berlin zu stören? ({95}) - Weil Sie mit denen zusammenarbeiten, hat das etwas mit Scharping zu tun. ({96}) Wir müssen die Menschen von der PDS weggewinnen. Wir müssen die Menschen gewinnen, demokratische Parteien zu wählen, aber wir dürfen mit dieser Partei nicht zusammenarbeiten. Übrigens, bei der Verabschiedung der russischen Streitkräfte waren sie wenigstens noch anständig, Gott sei Dank. Aber ich finde, es ist ein schlimmer Skandal, daß die PDS als eine Partei, die leider noch im Deutschen Bundestag vertreten ist, dazu auffordert, die Verabschiedung unserer Alliierten, die über 40 Jahre lang Freiheit und Frieden in Berlin und Deutschland geschützt haben, zu stören. ({97}) Im Kampf gegen die Eskalation der Gewalttätigkeit brauchen wir ein Haft- und Verfahrensrecht und, wie ich glaube, auch ein Demonstrations- und Versammlungsrecht, das der Polizei ein rechtzeitiges Einschreiten ermöglicht und das sicherstellt, daß Strafe wieder auf dem Fuße folgt und Gewalttäter, wenn sie einmal festgenommen sind, nicht nach Feststellung der Personalien wieder auf freien Fuß gesetzt werden müssen. ({98}) Ich sage Ihnen in aller Bitterkeit: Lassen Sie uns doch um Himmels willen das Notwendige und Richtige zur Bewahrung von Frieden und Freiheit rechtzeitig tun, damit das Kind nicht wieder in den Brunnen fällt. Was wäre unserem Land erspart geblieben, wenn Sie die notwendige Änderung des Asylrechts, die wir gefordert haben, fünf Jahre früher ermöglicht hätten! Das wäre für unsere ausländischen Mitbürger besser gewesen. ({99}) So hätten wir Liberalität, Toleranz und Freiheit besser gesichert. ({100}) - Aber, Frau Fuchs, können Sie angesichts dessen, was in diesen fünf Jahren den deutschen wie den ausländischen Menschen in diesem Lande angetan wurde, angesichts der Brandanschläge, der gewalttätigen Ausschreitungen, des unverantwortlichen ausländerfeindlichen Geredes an Stammtischen und wo immer sagen, dies sei alles gut und in Ordnung? Können Sie nicht verstehen, daß man verbittert ist und sich sagt, daß uns das alles hätte erspart bleiben können, wenn man rechtzeitig gehandelt und uns nicht fünf Jahre lang diffamiert hätte? ({101}) Deswegen meine Aufforderung: Machen Sie denselben Fehler nicht wieder! Wir dürfen Zukunft nicht blockieren. Wir haben große Chancen. Wir haben eine große Verantwortung auch und gerade für den Frieden in der Welt, zu dem wir durch Wahrnehmung unserer Verantwortlichkeiten in Europa und darüber hinaus, auch in den Vereinten Nationen, beitragen müssen. Wir müssen aber auch mehr für die Dritte Welt tun. Ich habe meine Augen gerieben, als ich las, daß Sie das Entwicklungshilfeministerium abschaffen wollen. Wie paßt das denn zusammen? Wir haben eine große Verantwortung für die innere Liberalität und für die Stabilität der freiheitlichen Demokratie in unserem Lande. Wir haben eine große Verantwortung dafür, daß wir unsere Zukunftschancen nutzen. Aber dazu müssen wir auch auf Zukunft setzen. Ein rot-grünes Bündnis mit oder ohne PDS wird immer nur „Zukunft? - Nein, danke! " sagen. So aber kommen wir nicht voran. ({102}) Nein, in diesem Land ist unter der Führung der Koalition der Mitte, unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl viel und Großartiges erreicht worden, und es lohnt sich, daran weiter zu arbeiten und weiter zu bauen. Die Aufgaben, die vor uns liegen, sind nicht von der Art, daß wir in den Anstrengungen nachlassen dürften. Aber die Erfolge, die wir erreicht haben, machen uns Mut, uns auch in den kommenden Jahren gemeinsam und solidarisch anzustrengen für mehr Wohlstand, für mehr Stabilität, für mehr soziale Gerechtig21460 keit. Dafür werden wir auch in der Zukunft weiter arbeiten. ({103}) Vizepräsident Helmuth Becker Ich erteile dem Herrn Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel das Wort.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Klose, Herr Scharping, Herr Fischer, ich dachte, wir bekommen heute während der Haushaltsdebatte die große Auseinandersetzung in der Außenpolitik. Wir haben immerhin Hoch-Zeit im Wahlkampf. Ich habe mich auf viel eingestellt. Dagegen: Schweigen im Walde, absolutes Schweigen im Walde zur Außenpolitik - mit zwei ganz kleinen Ausnahmen, auf die ich nachher gern eingehen möchte. Daraus schließe ich zweierlei: Erstens. Offensichtlich haben Sie nichts zu kritisieren. Das finde ich gut, sogar sehr gut. ({0}) Zweitens - das allerdings wäre bedauerlicher und traurig -: Sie haben dazu nichts zu sagen. Das fände ich nicht so gut. ({1}) Einen Kritikpunkt, Herr Klose, haben Sie herausgegriffen, der zwischenzeitlich wirklich eine uralte Platte ist, die leiert, Risse hat und quietscht: unseren Wunsch, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erhalten. Aber auch da liegen Sie, wenn ich es richtig sehe, falsch und schreien auf dem falschen Bein hurra. Sie wissen sehr genau, daß Sie dies als erste gefordert haben und daß das - ich kann es Ihnen vorlesen - wörtlich in Ihrem Beschluß des SPD-Parteitags vom 16. bis 19. November 1993 steht. Gilt das nicht mehr? Das scheint mir ein bißchen komisch zu sein. Wenn das der einzige Kritikpunkt bleibt, kann ich gut damit leben, ({2}) zumal 85 % der deutschen Bevölkerung diesen unseren Wunsch unterstützen. Damit kann ich sehr gut leben. ({3}) Der zweite Punkt ist die Europapolitik. Dazu will ich gleich etwas sagen. ({4}) Herr Fischer ist, wenn ich es richtig sehe, nicht mehr da. Das halte ich nicht für einen guten Stil. Gerade wenn man aus einem Bundesland kommt und hier so große Töne spuckt, sollte man auch dabei sein, wenn man eine Antwort erwarten kann. ({5}) - Da Sie mich fragen: Ich war gestern abend bei der Konferenz der Europäischen Union und der SADCAußenminister in Berlin. Da habe ich für dieses Land Außenpolitik gemacht. Den Vorwurf halte ich aus. Herr Fischer, Sie waren wahnsinnig laut ({6}) - das nächste Mal bringe ich Ohropax mit -, aber schreien nützt hier nichts, und Argumente haben Sie überhaupt keine gebracht. Sie schreien nur. ({7}) Was den Schatten anbelangt, von dem Sie gesprochen haben, rufe ich Ihnen nach: Seien Sie nicht böse, Sie werfen persönlich auch keinen ganz so kleinen Schatten - das räume ich ein -, wenn ich mir Ihre Figur ansehe, sonst aber eher einen kleinen. ({8}) Dazu möchte ich klar und deutlich sagen: Wer im Glashaus sitzt, sollte eigentlich nicht mit Steinen werfen. ({9}) Im übrigen - das sage ich ein klein wenig nach links gerichtet -: Ich habe schon sehr genau registriert, woher der Hauptbeifall nach der Rede von Herrn Fischer kam. Das war für mich leicht merkwürdig und auch sehr aufschlußreich. ({10})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Minister, eine Sekunde bitte. - Zwischenrufe sind gestattet, das wissen wir alle, aber nicht dauernde Störungen. Ich bitte also, bei dem zu bleiben, was wir bisher hatten, damit wir uns gegenseitig verständigen können. Deswegen bitte ich, sich auf das zu beschränken, was in der Geschäftsordnung steht: Zwischenrufe ja, aber keine dauernden Störungen. Bitte, Herr Minister.

Dr. Klaus Kinkel (Minister:in)

Politiker ID: 11002696

Meine Damen und Herren, vor einer Woche - es ist schon darauf hingewiesen worden - haben die letzten russischen Soldaten Deutschland verlassen. ({0}) Damit ist die Nachkriegsepoche für Deutschland zu Ende gegangen. Morgen verabschieden wir die Westalliierten. Sie bleiben uns als Freund und Bündnispartner verbunden und in Deutschland präsent. Dafür danken wir, vor allem aber danken wir für die schützende Haltung in der Zeit des Kalten Krieges. ({1}) Einige hören das nicht gerne, aber ich sage es trotzdem deutlich: Man muß wirklich lange suchen, bis man in der deutschen Geschichte einen Abschnitt findet, in dem außenpolitisch in so kurzer Zeit soviel erreicht worden ist. ({2}) Wir genießen weltweit Anerkennung und Vertrauen. Das Ende des Ost-West-Konflikts hat uns die Wiedervereinigung gebracht. Deutschland hat endlich den Zustand erreicht, daß es mit allen seinen Nachbarn, eigentlich erstmals in der Geschichte, in Freundschaft und Partnerschaft verbunden ist. ({3}) Wer hätte vor vier Jahren gedacht, daß der deutsche Bundespräsident zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes eingeladen wird und daß deutsche Soldaten den französischen Nationalfeiertag in Paris auf den Champs-Élysées mitfeiern können? Präsident Clinton hat uns bei seinem ersten offiziellen Besuch als Schlüsselpartner in Europa bezeichnet. Ja, ohne Fortune - wie Bismarck gesagt hat - geht es nicht. Diese Erfolge sind aber vor allem das Ergebnis einer langfristig angelegten, konsequenten und zielgerichteten Politik dieser Koalition und dieser Regierung. ({4}) Vor allem - auch das ist vorhin schon einmal gesagt worden -: Wir haben die Chance der Wiedervereinigung am Schopf gepackt, als andere zauderten und zögerten. ({5}) Mit dieser Bilanz brauchen wir uns nicht zu scheuen, in einigen Wochen vor den Wähler zu treten. Am 16. Oktober wird darüber entschieden, ob unsere bewährte Politik der Bündnis- und Partnerschaftsfähigkeit fortgesetzt wird oder wieder Sonderwege an ihre Stelle treten. Wir können deutlich und klar sagen: Das Ausland vertraut dieser Koalition, vertraut dieser Regierung, vertraut der Außenpolitik, die wir gemacht haben und die wir weiterhin betreiben werden. ({6}) Das ist - viele sind sich darüber vielleicht nicht mehr im klaren - mit das wichtigste Kapital, das wir haben. Denn wir sind eine große Wirtschafts- und Industrienation und bleiben hoffentlich auch eine große Kulturnation. Wir dürfen uns nicht zu sehr auf uns selber fokussieren. Es kann uns nicht egal sein, wie wir nach außen hin wirken, welches Ansehen wir draußen haben. Deshalb können wir stolz darauf sein, daß wir viele Freunde und Partner haben und großes Ansehen und Vertrauen gewonnen haben. ({7}) Ich möchte doch noch ein Wort zur PDS sagen. ({8}) Die Tatsache, daß diese Partei in diesem Land wieder etwas zu sagen, mitzubestimmen hat, hat nicht nur bei einer übergroßen Mehrheit in diesem Land Sorge und Angst produziert; ({9}) auch das Ausland sieht das mit großem Mißtrauen. Fragen Sie doch einmal die mittel- und osteuropäischen Länder, was sie dazu sagen, daß ausgerechnet diejenigen, die für 40 Jahre einer wahrhaftig anderen, nicht zu unterstützenden Außenpolitik verantwortlich waren, in Deutschland wieder sollen mitgestalten dürfen. ({10}) Die Bundesregierung jedenfalls wird sich auch weiterhin nicht das zurechtmalen, was einige wollen, sondern ihre Außenpolitik auf die neue Weltlage und die veränderten Herausforderungen ausrichten. Sie wird sich in Europa, aber auch in den Vereinten Nationen ihrer gewachsenen Verantwortung stellen, nicht als Einzelkämpfer, sondern wie bisher als zuverlässiger Mannschaftsspieler - ohne Machtallüren, mit Verantwortungsbewußtsein und dem Sinn für das Machbare. Meine Damen und Herren, leider gibt es in dieser schnellebigen Welt kein Ausruhen. Wir stehen mitten in neuen Situationen, vor neuen notwendigen Entscheidungen. Deutschland muß mit seinem gewachsenen Gewicht dafür sorgen, daß Europas Zukunft von Gemeinsamkeit und nicht wieder von Nationalismus bestimmt wird. ({11}) Weder in Deutschland noch in Europa darf Renationalisierung je wieder eine Chance bekommen. Das heißt: Europa auf Integrationskurs halten, die Europäische Union vertiefen und erweitern. ({12}) Wem Europa am Herzen liegt, für den kann es eben kein Entweder-Oder geben. Für die Bundesregierung - das sage ich nicht nur als deutscher Außenminister, sondern auch für die Europäische Union - heißt Europa das Europa der Zwölf, ab 1. Januar 1995 hoffentlich der Sechzehn, mit der Option des Beitritts für die mittel- und osteuropäischen Umbruchländer. Das haben wir beschlossen; dabei bleibt es. ({13}) Jedes Mitglied der Union und jeder neu hinzukommende Partner soll die Chance haben, sich in diese Integration mit einzubringen. ({14}) Nicht spalten, sondern integrieren - an diesem Kurs werden wir festhalten. Natürlich darf es kein Europa erster und zweiter Klasse geben; das will auch niemand. ({15}) In diesem Zusammenhang noch ein Wort zum deutsch-französischen Motor. Ich möchte deutlich unterstreichen: Niemand hat die Absicht, niemand darf sie aber auch haben, daraus ein deutsch-französisches Direktorium in Europa zu machen. Europa kann nicht allein auf deutsch-französischen Schultern gedeihen. So wichtig die deutsch-französische Achse ist - ohne die Beiträge der anderen, insbesondere ohne Großbritannien, Spanien oder Italien, kann aus der europäischen Integration nichts werden. ({16}) Der Fahrplan für die Vertiefung ist da: Regierungskonferenz 1996, Wirtschafts- und Währungsunion 1997, spätestens 1999. An unserem klaren Ja zu diesen Schritten ist nicht zu rütteln, allerdings auch nicht an der Grundvoraussetzung strikter Stabilitätskriterien. Bei der Sitzung des Europäischen Rats in Essen wird die Heranführung der mittel- und osteuropäischen Nachbarn ein Hauptthema sein. Wir arbeiten gegenwärtig zusammen mit der Kommission hierfür eine Strategie aus. Kern ist die möglichst weitgehende Einbeziehung in die politische Zusammenarbeit in allen Bereichen und die entsprechende Rechtsangleichung schon vor dem eigentlichen Beitritt. Wir haben bereits damit begonnen, die Fachminister mit an den Tisch zu holen; das muß die Regel werden. Die Entwicklung bei den Beitrittskandidaten muß mit der Union verzahnt werden. Die Räder müssen schon beim Beitritt ineinanderlaufen, so daß das gesamteuropäische Getriebe nicht blockiert. Die nächsten Kandidaten für Europaabkommen sind die baltischen Staaten und Slowenien. ({17}) Was für die alten Mitgliedstaaten gilt, gilt auch für die neu hinzukommenden. Wir wollen möglichst alle an Bord haben. Darauf können sich gerade auch unsere östlichen Nachbarn verlassen. Es ist wichtig, ihnen das so zu sagen. ({18}) Meine Damen und Herren, zur europäischen Handlungsfähigkeit gehört natürlich auch eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die diesen Namen wirklich verdient. Da gibt es Kritik - zum Teil zu Recht, zum Teil aber auch zu Unrecht, weil wir doch erhebliche Schritte weitergekommen sind. Die gestrige Konferenz der Außenminister der Europäischen Union und der Staaten des südlichen Afrika ist dafür ein weiterer Beweis. Der Startschuß für eine neuartige Kooperation zwischen diesen beiden Regionen ist - das kann ich, glaube ich, sagen - gelungen. 100 Tage Mandela haben ein Hoffnungszeichen für den ganzen afrikanischen Kontinent gesetzt. Darauf hat die Europäische Union - das ist ganz wichtig -, u. a. durch diese Konferenz, kreativ geantwortet. ({19}) Auch im Nahost-Friedensprozeß gibt es Hoffnung, steht die Europäische Union mit ihrer finanziellen Unterstützung vorne. Wir haben als Bundesregierung mit der Eröffnung unseres Verbindungsbüros in Jericho ein Zeichen gesetzt. Deutsche und europäische Politik sind in dieser für Europa so existentiell wichtigen Nachbarregion besonders gefordert. In wenigen Tagen werden die Außenminister aller EU- und ASEAN-Staaten auf meine Einladung hin nach Deutschland kommen. Gleichzeitig werden deutsche und asiatische Unternehmer in Stuttgart konkrete Kooperationsprojekte erörtern. Wir wollen dadurch den politischen Dialog und die Zusammenarbeit der Wirtschaft gerade mit dieser ungeheuer wichtigen asiatisch-pazifischen Region, wo im Augenblick im wahrsten Sinne des Wortes die Musik spielt, verzahnen. ({20}) Unsere Außenpolitik weiß, welche Bedeutung gerade in Zukunft der asiatisch-pazifischen Region zukommt. Der deutschen Wirtschaft kann ich nur sagen: Da ist in der Vergangenheit viel verschlafen worden. Wir werden - das ist mir gerade bei unserem EU/ASEAN-Treffen in Bangkok wieder klargeworden - sehr aufpassen müssen, daß wir in der Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit unseres Landes von dieser Region nicht in Kürze überholt werden, wenn wir nicht zum Teil schon überholt sind. Wir müssen auf die wirtschaftliche Dynamik dieser Region achten und sehen, daß dort die Hälfte der Menschheit lebt, allerdings auch die größte Zahl der Menschen auf dieser Erde, die in Not sind. Zur Sicherung des Standorts Deutschland - das wird sehr oft vergessen - gehören auch unser kulturelles Ansehen und die enge kulturelle Verflechtung mit dem Ausland. Ausländischen Führungsnachwuchs bei uns auszubilden ist eine der besten strategischen Zukunftsinvestitionen. Da tun wir mit unserer Außenstelle in Berlin außerordentlich viel, wo wir die jungen Menschen aus den anderen Ländern ausbilden. Meine Damen und Herren, der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien bleibt zentraler Prüfstein für die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Uns allen, der Völkergemeinschaft und allen Beteiligten, ist es leider noch nicht gelungen, dort endgültig zu einem Frieden zu kommen. Eine Lockerung der Sanktionen, die wir bei unserem nächsten Fünfertreffen zumindest theoretisch vorgesehen haben, setzt weitere Taten von Milosevic und nicht nur Worte voraus. Milosevic muß zulassen, daß Beobachter an die geschlossene Grenze kommen. Er muß dafür sorgen, daß wirklich keine Waffen mehr an die bosnischen Serben geliefert werden. Er muß vor allem Kroatien und Bosnien-Herzegowina in den international festgelegten Grenzen anerkennen. ({21}) Solange er das nicht tut, hat die Völkergemeinschaft, haben vor allem wir den Eindruck, daß noch nicht sicher ist, daß aus einem Saulus wirklich ein Paulus geworden ist. ({22}) Wir müssen den internationalen Druck auf die bosnischen Serben erhöhen. Es kann nicht wahr sein, daß letztlich eine Million Menschen mit einer absolut uneinsichtigen Führung die friedliche Lösung in dieser Region verhindern. Eine Aufhebung des Waffenembargos, insbesondere von amerikanischer Seite verlangt, kann und darf wirklich nur das allerallerletzte Mittel sein. In diesem Konflikt ist es schwer, Optimist zu bleiben. Zu oft sind wir alle, auch ich persönlich, enttäuscht worden. Trotzdem dürfen wir nicht nachlassen, auch weiterhin alles zu tun, um vielleicht doch noch zu einer Lösung zu kommen. Mit der Verwaltung, die Hans Koschnick in Mostar übernommen hat, tut er etwas im Namen Europas, was konkret Versöhnung und Wiederaufbau bedeutet. Dafür verdient er Achtung und Unterstützung. ({23}) Ich war bei seiner Einführung dort. Es sind schreckliche Eindrücke, die man dort gewinnt. Er leistet dort eine mehr als unterstützungswürdige Arbeit für uns alle. Hoffnung auf das Ende des Blutvergießens und eine Versöhnung gibt es jetzt auch in Nordirland. Die Menschen in ganz Irland sehnen den Frieden herbei. Ich habe gestern in Berlin zusammen mit dem irischen Außenminister Spring an alle Seiten appelliert, die jetzt bestehende Chance auf einen Dialog und auf Vernunft nicht wieder wegzubomben. Wir werden uns am kommenden Wochenende bei dem informellen Treffen in Usedom mit dieser Thematik befassen. Wenn hier im Rahmen der Haushaltsdebatte über Außenpolitik gesprochen wird, dann muß auch die jüngste Serie von Versuchen erwähnt werden, nukleares Material in unser Land zu schmuggeln. Das ist eine schlimme Sache. Ein Warnsignal ist notwendig. Wir müssen gegenüber Rußland, Weißrußland, Kasachstan und der Ukraine auf bessere Sicherungsmaßnahmen drängen. Wir wollen von der Europäischen Union her die notwendige finanzielle Unterstützung über das PHARE-Programm geben. Wir wollen bei den G7-Staaten, bei den Europäern und auch im Sicherheitsrat diese Thematik aufnehmen. Ich kann nur die Forderung aus meinem Zehn-Punkte-Katalog wiederholen: Wir müssen die Gefahren an der Quelle bekämpfen, d. h. wir brauchen ein internationales Plutoniumregime. ({24}) Meine Damen und Herren, europäische Schicksalsgemeinschaft heißt auch gemeinsame Sicherheit und Verteidigung. Mit der Partnerschaft für den Frieden hat die NATO ein flexibles Instrument geschaffen, um Europa auch hier zusammenzuführen. Wenn Warschau und Prag uns näherrücken - das ist ja Gott sei Dank der Fall -, darf die Distanz zu Kiew und Moskau dadurch nicht größer werden. Europa muß das Signal des russischen Rückzugs aus Mitteleuropa aufnehmen, als Partner und als Freund. ({25}) Denn nach wie vor gilt: Ohne Rußland kann es in Europa keine stabile Friedensordnung geben. Meine Damen und Herren, Deutschland muß sein größeres Gewicht voll hinter einen realistischen und wirksamen weiteren Multilateralismus stellen. Zur UNO habe ich bereits Stellung genommen. Auch nach dem Urteil von Karlsruhe ist es mit Sicherheit nicht Ziel deutscher Außenpolitik, die Bundeswehr in alle Ecken der Welt zu schicken, wo es knallt und nach Pulver riecht. Nein, nochmals - ich habe es wiederholt erklärt -: Es muß und es wird bei der bewährten Kultur der Zurückhaltung bleiben. ({26}) Wenn die SPD immer wieder davon spricht, es drohe die Militarisierung deutscher Außenpolitik, dann ist das ein absurder und langsam ein böswilliger Vorwurf. Auch da fordere ich Sie auf: Legen Sie endlich auch insoweit einmal eine andere und neue Platte auf. Es bleibt dabei: Militärische Gewalt ist und bleibt das letzte Mittel. Es geht nicht darum, daß wir unsere deutschen Soldaten jetzt immerwährend an die Front schicken, sondern es geht darum, daß wir im Rahmen der Völkergemeinschaft und der Vereinten Nationen die Pflichten übernehmen, die andere auch haben, und die Verantwortung, die andere vor uns übernommen haben. Darum geht es, um nicht mehr und nicht weniger. ({27}) Die SPD findet im übrigen auch nach dem Karlsruher Urteil aus ihrer Verweigerungsecke nicht heraus. Den in der UNO-Charta vorgesehenen Fall, daß ein Einsatz der Staatengemeinschaft im alleräußersten Notfall eben auch mit Waffen erforderlich ist, einfach wegzudenken genügt nicht. Da sage ich Ihnen: Es wird im Ausland sehr genau beobachtet, wie Sie sich in dieser Beziehung weiter verhalten, auch und gerade nach dem Urteil. Regierungsfähigkeit zeigen Sie jedenfalls mit einer solchen Einstellung, was Außenpolitik anbelangt, wahrhaftig nicht. ({28}) Wir setzen weiter auf die Kraft der präventiven Diplomatie, auf Vertrauensbildung und auf Früherkennung von Konflikten. Der beste Beweis dafür ist unsere KSZE-Politik. Diese Organisation ist der einzige umfassende Rahmen gesamteuropäischer Sicherheitskooperation; er umspannt die USA und Kanada wie alle Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Diesen Rahmen zu stärken haben wir uns vorgenommen. Ich habe für das Budapester Gipfeltreffen am 5. und 6. Dezember zusammen mit meinem niederländischen Kollegen - ganz bewußt mit meinem niederländischen Kollegen - folgendes vorgeschlagen: Erstens. Bei Konflikten unter den Mitgliedern muß die Devise lauten: zunächst die KSZE befassen. Zweitens. Kommt die KSZE allein nicht weiter, werden die übrigen KSZE-Mitglieder gegenüber den Konfliktparteien im Rahmen der Vereinten Nationen geschlossen vorgehen. Drittens. Der Aufenthalt fremder Streitkräfte zur Friedenswahrung in KSZE-Mitgliedstaaten muß dem Geist und dem Buchstaben der KSZE entsprechen und von ihr mandatiert und kontrolliert werden. Das gilt im übrigen auch für den GUS-Bereich. Diese Vorschläge haben, wie es im Augenblick aussieht, in Budapest eine gute Chance, daß sie sich durchsetzen. Meine Damen und Herren, angesichts der globalen Verflechtung in unserer Zeit müssen wir auch in diesem strategischen, globalen Rahmen außenpolitisch denken und handeln. Sicherheit und Wohlstand für unser Land - daran liegt uns ja wohl allen - heißt heute auch, unser Gewicht zur Geltung zu bringen, gegen alle Versuche, Protektionismus durch die Hintertür einzuführen; das heißt vor allem eben auch, einen Beitrag zur Lösung der Menschheitsaufgaben zu leisten, zur Bekämpfung von Armut, Umweltzerstörung und Bevölkerungsexplosion. ({29}) Das Schicksal der Menschen in Zaire, Ruanda und anderen Brandherden dieser Erde darf und wird uns nicht gleichgültig sein. ({30}) Den Menschenrechten muß weiterhin unser ganz besonderes Engagement gelten: den Geschundenen, den Erniedrigten und den Vergessenen. Unsere Außenpolitik darf sich nicht nur an Interessen orientieren, sie ist und bleibt werteorientiert. Meine Damen und Herren, nur wenn wir im globalen Wettbewerb an der Spitze mithalten, werden wir auch unseren Beitrag zur Lösung der großen Menschheitsprobleme leisten können. Das sind Klimaveränderungen, Umweltbelastungen, Artenschwund, Bevölkerungszuwachs, Bodenerosionen, Migration und Flüchtlingselend. Sie wissen, vorgestern hat in Kairo die Weltbevölkerungskonferenz begonnen. Jährlich wächst die Weltbevölkerung um nahezu 100 Millionen Menschen. 90 % dieses Wachstums entfallen auf die ärmeren Länder. In vielen Ländern des Südens ist die Hälfte der Bevölkerung unter 22 Jahre alt und hat kaum Zukunftsperspektiven. Dies ist Nährboden für Extremismus und Fanatismus. Im Norden Afrikas stoßen einige Länder - das sollten wir nicht vergessen - unmittelbar an die Europäische Union. Die Großkatastrophen in Afrika haben den Bedarf an humanitärer Hilfe immens anwachsen lassen. Die Spenden- und Hilfsbereitschaft unter den Bürgern unseres Landes ist bewundernswert. ({31}) Ich möchte gern von diesem Pult im Deutschen Bundestag all den Menschen, die gerade in letzter Zeit unwahrscheinlich viel getan haben - in persönlicher Hilfe und durch finanzielle Unterstützung -, für die Bundesregierung und für die Koalition, sehr herzlich danken. ({32}) Es sind in erster Linie die Hilfswerke und natürlich auch die Behörden gefordert, um dafür zu sorgen, daß die Hilfe tatsächlich vor Ort kommt. Ich sage aus ganz bestimmtem Grunde: Hier darf es jetzt kein Schaulaufen und keine Profilierungsbestrebungen geben. Das ist das, was wir im Augenblick am wenigsten brauchen. Ich habe vorige Woche mit den Vertretern aller Hilfswerke gemeinsam beraten, wie sich unsere Hilfsbemühungen national und international wirksamer koordinieren lassen. Dafür wird der Arbeitsstab „Humanitäre Hilfe" im Auswärtigen Amt von mir weiter ausgebaut. Aber es wird auch notwendig sein, daß weitere materielle und personelle Verstärkung in diesen Bereich kommt. Deutschland hat Interessen wie jedes andere Land. Indem wir sie offen definieren, gewinnen wir Vertrauen und Berechenbarkeit. Wir wissen allerdings: Unsere Geschicke sind unauflöslich mit denen unserer Nachbarn verbunden und verflochten. Das prägt unsere Politik. Mit unseren Partnern verbindet uns die gemeinsame Orientierung an universalen Werten: der Würde des Menschen und dem Schutz seiner Rechte. Wir wollen, daß sich gerade auch unsere östlichen Nachbarn dieser Wertegemeinschaft voll zugehörig fühlen können. Paul Claudel hat einmal gesagt, es sei Deutschlands Berufung, die Nationen Europas zusammenzuführen. Von dieser Berufung wird sich die deutsche Außenpolitik auch in Zukunft leiten lassen. Sie war, ist und bleibt bei dieser Koalition und bei dieser Regierung gut aufgehoben. Das Ausland weiß das, schätzt das; die Bürger in diesem Lande, glaube ich, auch. Vielen Dank. ({33})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Renate Schmidt das Wort.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Lieber Herr Glos, ich freue mich ja so ungeheuer, wie sehr Sie meine Bierzeltreden zur Kenntnis nehmen. Offensichtlich ärgert es Sie ungeheuer, daß der Unterhaltungswert nicht aller CSU-Kollegen ganz so hoch ist wie meiner. ({0}) Es freut mich auch ungeheuer, daß Sie zur Kenntnis nehmen, daß ich etwas barock bin. Aber vielleicht werden auch Sie auf Ihre älteren Tage noch lernen, Frauen auf Grund ihrer politischen Inhalte zu beurteilen und nicht auf Grund ihres Aussehens. Vielleicht gewöhnen Sie sich irgendwann einmal Ihre alten Chauvi-Allüren hier in diesem Parlament ab. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich, wenn mir das nicht angerechnet wird.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Schmidt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß - Franken zuliebe - „fränkisch barock" bei mir ein Kompliment bedeutet?

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Glos, ich nehme bei fast allem, was Sie sagen, zur Kenntnis, daß Sie es immer ein bißchen anders gemeint haben, als Sie es gesagt haben. ({0}) Ich habe auch mit großer Freude zur Kenntnis genommen, Herr Glos, wie informiert Sie über den Anstieg der Zahl der Mitarbeiter in der Ministerialbürokratie in Niedersachsen sind, der in der letzten Zeit stattgefunden hat. Vielleicht sollte man auch da eher vor der eigenen Tür kehren und sich den entsprechenden Anstieg der Ministerialbürokratie in Bayern in den letzten zehn Jahren anschauen, der nämlich 10 % beträgt. ({1}) Vielleicht sollte man auch zur Kenntnis nehmen, daß wir in Bayern die größte Staatskanzlei im ganzen Bundesgebiet haben. Vielleicht sollte man dort abbauen und sparen, bevor man andere in dieser Frage angreift. ({2}) Dann, lieber Herr Glos und alle anderen Vorredner, möchte ich doch noch zwei oder drei Sätze zu Ihrer Kampagne - insbesondere auch in meinem schönen Heimatland - betreffend die Volksfront sagen. Herr Glos, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Ihr Parteivorsitzender, der sehr verehrte Herr Minister Waigel, am 17. August Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern gemacht hat? Das ist noch nichts Anrüchiges. Aber er hat das dort mit einem Bürgermeister gemacht, der eindeutig mit den Stimmen der PDS zum Bürgermeister gewählt worden ist. Das ist kein Einzelfall, sondern diese Fälle wiederholen sich in den neuen Bundesländern dauernd. ({3}) Ich darf einmal zitieren: „Die PDS bemüht sich intensiv um Lösungen und leistet konkrete Arbeit." Das ist nicht meine Meinung, sondern das ist die Meinung eines CDU-Landrats im Landkreis Prignitz, der ebenfalls mit den Stimmen der PDS in sein Amt gekommen ist, um zu verhindern, daß ein SPD-Mitglied in dieses Amt kommt. Insoweit ist Ihre Kampagne schlicht und einfach reine Heuchelei. Wenn es Ihnen um Machterhalt geht, sind Sie bereit, mit jedem zu paktieren. ({4}) Herr Schäuble kann im Moment offensichtlich nicht da sein, aber ich möchte mich doch in einigen Punkten gerne auch mit dem auseinandersetzen, was er gesagt hat. Herr Schäuble hat uns hier vorgeworfen, wir würden aus der Kernenergie aussteigen wollen. Das ist zweifelsohne richtig. Wir wollen das. Es ist sicherlich auch richtig, daß unser Ziel, so etwas in zehn Jahren zu erreichen, ein sehr ehrgeiziges Ziel ist. Ich glaube nicht, daß das eingehalten werden kann. Wir sind keine Illusionisten. Aber das, was ich Ihnen vorwerfe, ist Ihre absolute Phantasielosigkeit. Sie können sich nicht vorstellen, was es bedeuten würde, endlich regenerative Energien von ihren Benachteiligungen zu befreien, ohne daß wir sie bevorzugen wollen. Meine große Sorge ist, daß wir wieder einmal den Zug in die Zukunft verschlafen, so ähnlich wie bei den Fax-Geräten: bei uns erfunden und irgendwo anders in der Welt produziert. ({5}) Meine große Sorge ist, daß wir nicht mehr sehen, was die anderen eigentlich vorhaben. Die Amerikaner wollen in den nächsten zehn Jahren ihren Anteil an Solarenergie jedes Jahr mindestens verdoppeln. Die Japaner haben ähnliches vor. Die Australier haben jetzt Solarzellen mit Silicium entwickelt, das nur noch einen Verschmutzungsgrad von 10 % des bisherigen hat, und hoffen, in zehn Jahren mit Kohle konkurrenzfähig zu sein. Und was machen wir? Wir sehen zu, wir warten ab, und wir beobachten interessiert. So die Antwort an meinen Kollegen Kubatschka, der eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung zum Thema regenerative Energien gestellt hat. Wenn doch auch wir das endlich machen würden und mit wirklichen Energiesparprogrammen verbinden würden! Es ist nicht so, wie es mir Herr Bötsch - er ist im Moment nicht da - letztes Mal vorgeworfen hat, der sagte, ich wolle unsere Kühlschränke mit einem Fahrraddynamo betreiben. So ein Krampf! Energiesparen bedeutet, Energie effizienter auszunutzen, bedeutet Blockheizkraftwerke, bedeutet die Verabschiedung von zentralen Strukturen. Das wollen wir in Angriff nehmen; wir wollen anfangen. Wir wissen, daß das Problem nicht in sieben Renate Schmidt ({6}) oder acht Jahren zu lösen ist. Wir wissen, daß wir bis dahin unseren Energiebedarf nicht mit regenerativen Energien decken können. Aber wir sagen: Wir wollen heute anfangen und nicht wieder den anderen hinterherdackeln, die uns zeigen, wie man es macht. ({7}) - Bitte, Herr Faltlhauser.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Kollegin Schmidt läßt die Zwischenfrage des Kollegen Faltlhauser zu. Bitte, Kollege Faltlhauser.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Schmidt, würden Sie angesichts der Tatsache, daß der Freistaat Bayern seinen Strombedarf zu 60 % aus der Kernenergie bezieht, also zu einem wesentlich höheren Prozentsatz als im Bundesdurchschnitt, doch sehen, daß diese Lücke, wenn man diese Kernkraftwerke in 10, 20 oder vielleicht 25 Jahren abschalten wollte, nach allen Untersuchungen, die es gibt, mit regenerativen Energien, bestenfalls zu etwa 10 % - wenn wir großzügig sind und Phantasie walten lassen, vielleicht zu 20 % - geschlossen werden könnte? Sehen Sie, Frau Kollegin Schmidt, daß dadurch die große Lücke, die durch das Eliminieren der Kernenergie entsteht, niemals geschlossen werden könnte? Sehen Sie also, wenn Sie einen derartigen Vorschlag machen und mit den Grünen in eine Koalition wollen, nicht, daß Sie dadurch die Energiebasis Bayerns zerstören würden?

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Faltlhauser, ich bin keine Illusionistin. Natürlich dauern manche Dinge ein bißchen länger, als man es gerne hätte. Natürlich ist das Projekt „Deckung unseres Energiebedarfs mit Solarenergie, Thermalwärme und anderen regenerativen Energien" ein Projekt, das unter Umständen eine Generation länger dauert. ({0}) - Man muß auch mit dem Abschalten beginnen, Herr Glos. Das heißt doch nicht, alles auf einmal zu machen. Aber man muß einmal damit beginnen. Man muß sich doch etwas zutrauen. Man muß doch den Menschen vertrauen, daß ihr Erfindungsreichtum noch nicht am Ende ist. Man muß doch endlich einmal einen Schritt vorwärts gehen und in die Zukunft investieren und nicht nur immer in die Vergangenheit. ({1}) Nun noch zu einem weiteren Punkt, den Herr Schäuble geäußert hat: Er hat hier ja bitter beklagt, daß das Entwicklunsghilfeministerium mit dem Außenministerium zusammengelegt werden soll. Ich muß sagen, für mich gilt: Die Qualität von Entwicklungspolitik zeigt sich nicht in der Anzahl der Minister, die in einer Regierung vertreten sind, sondern in der Höhe des Etats, der zur Verfügung gestellt wird, und was damit gemacht wird. Da muß ich sagen: Es ist nicht besonders berauschend, was diese Regierung bisher geleistet hat. ({2}) Dann wurde der Kollege Lafontaine von Herrn Schäuble kritisiert, weil er doch tatsächlich sagt: Versicherungsfremde Leistungen, die in der Arbeitslosenversicherung und in der Rentenversicherung für Transferleistungen in die neuen Bundesländer erbracht werden, sollten nicht über Beiträge finanziert werden. Ich frage mich, was an diesem Projekt eigentlich falsch ist. Heute zahlen nur Arbeiter und Angestellte sowie ihre Arbeitgeber, d. h. also Handwerksmeister und mittelständische Betriebe mit einem hohen Personalkostenanteil. Die sind alleine dafür „zuständig", 50 Milliarden DM jährlich in die neuen Bundesländer zu transferieren. Dieses wäre eine Aufgabe aller Erwerbstätigen, also auch von Selbständigen, von Freiberuflern, auch von Beamten, auch von uns, den Abgeordneten. Das können wir doch nicht denen allein überlassen. ({3}) Damit könnten wir Lohnnebenkosten senken, mehr Wettbewerbsfähigkeit erreichen und zusätzlich auch noch einen Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit leisten. ({4}) Herr Schäuble hat auch noch gesagt, daß er für unsere Generation ungeheure Chancen sieht. Damit hat er recht. Wir haben eine Chance, daß Ideologien so nicht mehr bestehen. Es ist eine ungeheure Chance für uns und unsere Zukunft, daß es den Ostblock nicht mehr gibt. Er hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Nutzen dieser Chancen darauf beruht, daß bei uns Solidarität praktiziert wird. Nur, das ist ein Appell. Wie ist die Wirklichkeit? Da sage ich: Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Union und von der F.D.P., sehen offensichtlich die Qualität von Sozialpolitik dadurch bewiesen, daß die Ausgaben für Soziales besonders hoch sind. Es ist heute hier die Zahl von insgesamt 1 Billion DM genannt worden. Diese Summe stimmt zweifelsohne. Nur, Sie bezeichnen es als Ausweis Ihrer sozialen Gesinnung, daß Sie in Anbetracht dieser Billion angeblich nur ganz minimale Kürzungen beabsichtigen. Was sind denn in Ihren Augen schon 4 Milliarden DM Kürzungen in der Arbeitslosenhilfe in Anbetracht dieser Riesensumme? Ich sage Ihnen: Diese Betrachtungsweise ist in beiden Punkten falsch. Wenn 20 Prozent dieser Billion - die auch in einem hohen Ausmaß, zu über zwei Dritteln, über Versicherungsbeiträge der Betroffenen aufgebracht wird -, ({5}) wenn 20 Prozent all dieser Ausgaben für Arbeitslosenhilfe, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe ausgegeben werden, wenn die Sozialhilfeleistungen in der Bundesrepublik Deutschland den höchsten Stand seit dem Krieg erreicht haben, dann ist das für mich kein Ausweis der Qualität von Sozialpolitik, sondern dann ist das ein Beweis für das Versagen von Sozialpolitik, Renate Schmidt ({6}) von Arbeitsmarktpolitik und von Wirtschaftspolitik, kein Beweis für deren Qualität! ({7}) Herr Waigel hat am Wochenende - zumindest dem Vernehmen nach, ich kann es jetzt nicht als ein wörtliches Zitat belegen, ich habe es nur in der Zeitung gelesen - angeblich gesagt, er verstehe das Gerede von der zunehmenden Armut in unserem Land nicht. Herr Waigel, wenn es stimmen sollte, daß Sie das gesagt haben: Haben Sie eigentlich mal zur Kenntnis genommen, was unsere bayerischen Bezirke sagen? Alle sieben sagen, sie erhoffen sich Zuschüsse für die Sozialhilfeleistungen, weil sie nicht mehr in der Lage sind, das allein zu finanzieren. Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß in meinem heimatlichen Bezirk Mittelfranken CSU und SPD gemeinsam gegen den Freistaat Bayern klagen? Sie sagen: So kann es mit den Belastungen durch Sozialhilfe nicht weitergehen. Eigentlich wäre das Land zuständig, Hilfe zu leisten. Wir machen so nicht mehr weiter. Und, Herr Waigel, wenn Sie das Gerede von Armut nicht verstehen, dann sage ich: Sie haben offensichtlich eine eingeschränkte Sicht auf die Menschen! Warum begeben Sie sich nicht einfach einmal zu den Menschen, in eine Arbeitsloseninitiative? Hören Sie sich mal an, was Ihnen diese Menschen erzählen, Menschen übrigens, die teilweise mit 45 Jahren drei Jahre arbeitslos sind, sich hundertfach, ja zweihundertfach bemüht haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Mir ist in einer Diskussion beim Deutschen Familienverband von einem Mann gesagt worden, daß er nicht mehr wisse, was er tun solle. Er habe vor drei Jahren ein Haus gebaut, 1 700 Mark Belastungen, drei kleine Kinder; er bekomme jetzt 2 000 Mark Arbeitslosengeld, weil seine Firma pleite gegangen sei. Er sei bereit, nahezu jeden Job anzunehmen. Dieser Mann hat erzählt, ihm sei von seiner Arbeitsvermittlerin gesagt worden, er sei nicht mehr oder nur schwierig vermittelbar. Diesen Mann - er sah noch ziemlich knackig aus - habe ich dann gefragt, wie alt er sei. ({8}) - Ich darf doch auch mal, Herr Glos. Was Sie können, kann ich schon lange. ({9}) Darauf antwortete er mir, er sei 42 Jahre und auf Grund seines Alters schwer vermittelbar. Ich kenne aus meiner Bürgersprechstunde, aus der Post, die mich erreicht, 42jährige, 45jährige, 47jährige, 49jährige. Ich wäre heute mit meinen 51 Jahren auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar, Sie, Herr Glos, auch nicht mehr. Aber es kann doch nicht angehen, daß wir Menschen, die eigentlich noch 10, 20 Jahre Erwerbstätigkeit vor sich haben müßten, sagen: Ihr seid nichts mehr wert, ihr werdet nicht mehr gebraucht. Geht nach Hause, schaut, wie ihr über die Runden kommt. Das kann doch nicht das Richtige in der Politik sein! ({10}) In einer der kirchlichen Arbeitsloseninitiativen in meiner Heimatstadt haben Arbeitslose gesagt, sie seien bereit, unter Tarif zu arbeiten, deutliche Abstriche beim Arbeitsentgelt hinzunehmen. - Reaktion gleich Null. Ihre Politik - die sagt, wir wollen die Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre begrenzen und dann Sozialhilfe zahlen - damit zu begründen, man wolle Druck ausüben, damit diese Menschen wieder arbeiten, ist doch in Anbetracht von 3,6 Millionen Arbeitslosen und 300 000 offenen Stellen schlicht und einfach schon mathematisch unsinnig. ({11}) Begeben Sie sich doch irgendwann mal in eine Obdachlosensiedlung! Mich läßt zumindest der Gedanke, daß 500 000 Kinder in Obdachlosensiedlungen leben und zusätzlich noch Kinder zunehmend auf der Straße sind, weil sie nicht einmal mehr in einer Obdachlosensiedlung Unterkunft finden, nicht ruhen. Mich läßt auch der Gedanke nicht ruhen, daß es in der Zwischenzeit 3 Millionen ältere Frauen in unserem Land gibt, die von Kleinstrenten leben und die sich im Winter entscheiden müssen, ob sie im Wintermantel ihre Suppe essen oder ob sie auf die Suppe verzichten und eine warme Stube haben wollen. Ich halte es für ungeheuerlich, daß in dem Entwurf des Kirchenpapiers vom „Armutsrisiko Kinder" geredet wird; ich wiederhole: vom „Armutsrisiko Kinder" . 1,4 Millionen Kinder in unserem Land leben von Sozialhilfe. Ich bitte Sie, sich nur einmal vorzustellen, was es für diese Kinder - aber auch für ihre alleinerziehenden Mütter oder ihre Familien - bedeutet, wenn sie bei jeder Klassenfahrt, bei jedem Ausflug „krank" werden, weil sie nämlich das Geld nicht haben, das für die Fahrtkosten notwendig ist, und weil sie das Geld nicht haben, das notwendig ist, um sich die Cola oder die Limo bei der Einkehr in der Gaststätte zu kaufen - 1,4 Millionen Kinder! ({12}) Ich weiß nicht, ob einen so etwas ruhig lassen kann und wieso man sagen kann, man verstehe das Gerede von der zunehmenden Armut in unserem Land nicht. Ich wundere mich auch ein ganz klein bißchen, wieso Sie diesem Entwurf eines Kirchenpapiers plötzlich so absolut ablehnend gegenüberstehen. Als 1982 von den Kanzeln Hirtenbriefe wegen der angeblich verfehlten Politik von Helmut Schmidt und dessen angeblicher Schuldenpolitik verlesen worden sind, da haben Sie kräftig Beifall geklatscht. Jetzt sollen die Kirchen ihren Mund halten. So geht es nicht, meine Herren, so kann man damit nicht verfahren! ({13}) Nein, meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben einen beschränkten Blick auf die Menschen, Renate Schmidt ({14}) und Sie reden selbstzufrieden von Aufschwung. Ich freue mich wie alle, daß Wirtschaftsdaten besser ausschauen. Das will ich überhaupt nicht negativ bewerten. Aber ich rede von einem Aufschwung erst, wenn es nicht nur ein Aufschwung für Aktienbesitzer, für Tantiemenbezieher in Großkonzernen ist, sondern wenn es ein Aufschwung ist für Arbeiter und Angestellte, für Rentnerinnen und Rentner und für die 3,6 Millionen registrierten Arbeitslosen. Dann kann man von Aufschwung reden. ({15}) Herr Glos, ich weiß gar nicht, woher Sie Ihre Zahlen eigentlich nehmen. Sie haben vorhin gesagt - ich habe es hoffentlich richtig gehört -, daß die Arbeitslosenzahlen gesunken seien. ({16}) Jetzt ist immer die Frage: Was vergleicht man? ({17}) Wenn man die Arbeitslosenzahlen mit dem jeweiligen Vergleichsmonat des Vorjahres vergleicht, dann sind die Arbeitslosenzahlen bundesweit überall gestiegen, im Freistaat Bayern zwischen 10 und 20 % in jedem einzelnen Monat. ({18}) Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, beschränken Ihren Blick auf die sogenannten Leistungsträger. ({19}) - Ich verstehe Sie im Moment nicht gut, Herr Faltlhauser. Vielleicht melden Sie sich lieber. - Sie haben einen etwas eingeschränkten Leistungsbegriff. Ihr Leistungsbegriff bezieht sich ausschließlich auf das Monatseinkommen und auf das, was auf dem Bankkonto ist. Ich möchte hier kein Mißverständnis aufkommen lassen. Natürlich braucht man in jedem Land - auch wir brauchen sie - Eliten. Natürlich braucht man Leistungsträger, die hart arbeiten, die sich überdurchschnittlich einsetzen und hohe Verantwortung übernehmen.- Die haben dann auch hohe Einkommen. Auch wir gehören zu denen. - Deshalb darf man diese Menschen nicht dafür beschimpfen, daß sie das tun. ({20}) - Ja, selbstverständlich nicht. Ohne die kommt man nicht aus. Aber es gibt doch noch die anderen Leistungen. Rudolf Scharping hat von ihnen gesprochen. Es gibt auch die Leistung der Kleinstrentnerin, der ehemaligen Trümmerfrau, die, wie gesagt, heute nicht weiß, wie sie über die Runden kommen soll, und zwar nur deshalb, weil früher für sie im Handel oder auch in der Hauswirtschaft keine Beiträge gezahlt worden sind und sie deshalb heute nichts hat. Es gibt auch die Leistung der Familien, die mit einem Einkommen versuchen, mehrere Kinder großzuziehen, und es gibt die Leistung der Menschen, die unverschuldet nach einem langen Arbeitsleben arbeitslos geworden sind. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Mich berührt so etwas noch. Mich hat vor einigen Wochen in Erlangen ein Mann angesprochen. Der hätte in diesem Gespräch beinahe angefangen, zu weinen. Er hat gesagt: Frau Schmidt, ich weiß jetzt nicht, was ich machen soll. Ich bin vor einigen Wochen arbeitslos geworden. Ich bin 52 Jahre alt. Ich war sofort beim Arbeitsamt. Dann hat mir meine Vermittlerin gesagt, ich sei mit meinen 52 Jahren nicht mehr vermittelbar, ich solle nach Haus gehen, ihr die Zeit nicht stehlen. - Dann hat er gefragt, wie es denn jetzt eigentlich für ihn ausschaut. Das war an dem Wochenende, als zum erstenmal in der Zeitung stand, daß die Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre begrenzt werden soll. Dann hat er gesagt: Ich bekomme jetzt noch so ungefähr zwei Jahre Arbeitslosengeld, dann kommt die Arbeitslosenhilfe - maximal zwei Jahre, wenn es nach Ihnen ginge -, und dann, was kommt dann? Dann käme - ich sage „käme", denn sie kommt vielleicht auch nicht - die Sozialhilfe. Zuerst muß er vielleicht sein Auto verkaufen, in jedem Fall muß er sein Sparguthaben plündern. Und wenn es dann so vom örtlichen Sozialamt entschieden wird, muß er vielleicht sogar noch seine Lebensversicherung beleihen. Und dann, meine sehr geehrten Herren und Damen - wenn es nach Ihnen geht -, steht dieser Mensch so 57, 58 Jahre alt, der seine Reserven aufgebraucht hat, plötzlich vor dem Nichts. Dann werden seine Kinder gefragt, ob sie den Vater mit unterhalten können. Und was das für manche für eine Schande ist, das können Sie sich vielleicht doch noch vorstellen. ({21}) Und dann kommt, meine sehr geehrten Herren, nach einem 35jährigen Arbeitsleben wie in diesem Fall die nackte Rente. Alles andere ist weg, was man sich erarbeitet hat. Und solche Leute, die 35 Jahre gearbeitet und Steuern und die Beiträge gezahlt haben, wollen Sie in die Sozialhilfe abdrängen. Woher nehmen Sie eigentlich das Recht, Herr Waigel, in Ihrem Parteinamen noch das Wörtchen „sozial" führen zu wollen? ({22}) Und Sie erreichen noch einen anderen Effekt. ({23}) All diejenigen Langzeitarbeitslosen, die in der Sozialhilfe sind, haben Sie, ohne einen Finger krumm zu machen, aus der Arbeitslosenstatistik heraus - wunderbar! So kann man Arbeitslosigkeit auch bekämpf en. ({24}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind keine Sozialromantiker. Wir wissen natürlich, daß nicht jeder Arbeitslose von Natur aus - nur weil er arbeitslos ist - ein guter Mensch ist. Wir wissen natürlich, daß es auch bei den Sozialhilfeempfängern Renate Schmidt ({25}) Menschen gibt, die die Sozialhilfe mißbrauchen. Für solchen Mißbrauch - sei es bei der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, sei es bei anderen Leistungen - gibt es bei den Sozialdemokraten nicht die geringste Sympathie, denn für uns sind das Verstöße gegen die Solidarität, die selbstverständlich aufgespürt werden müssen. ({26}) Aber weil Sie so einen eingeschränkten Blick, einen Blick nur auf einen Teil dieser Gesellschaft haben, sehen Sie eben nur diesen Mißbrauch. Den anderen Mißbrauch sehen Sie überhaupt nicht, nämlich die Tatsache, daß in unserem Land nach einer Schätzung der Steuergewerkschaft jährlich 340 Milliarden DM an Steuern nicht gezahlt werden. Würden wir nur ein Viertel dessen realisieren können, müßten wir uns um so manche Sparmaßnahme in diesem Land keinerlei Gedanken mehr machen. ({27}) Indem Sie in Ihren Programmen Selbstverständlichkeiten wie die Tatsache wiederholen, daß Sozialhilfeempfänger auch zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen werden können, schüren Sie Sozialneid, und zwar den Sozialneid von oben nach unten. Das ist infam, weil er die Schwächsten der Schwachen in dieser Gesellschaft trifft. ({28}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist keine Forderung, die eine Minderheit in dieser Gesellschaft betrifft. Das ist keine Minderheitenpolitik, sondern unsere Forderung nach sozialer Gerechtigkeit bedeutet Politik für alle, weil sozialer Friede nicht etwas ist, was nur einem Teil der Gesellschaft nutzt, sondern etwas, was uns allen nutzt, was mehr Sicherheit bedeutet, was mehr Freiheit bedeutet. Deshalb müssen wir, die Stärkeren, akzeptieren, daß wir, wenn wir den sozialen Frieden erhalten wollen, auch bereit sein müssen, im Verhältnis zu unserer Stärke dazu beizutragen, daß er erhalten werden kann. Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren, werden wir uns daranmachen, die Hauptursachen von Armut in unserem Land zu bekämpfen. Eine dieser Hauptursachen ist, in einem Ballungsgebiet zu wohnen, die Miete nicht mehr bezahlen zu können und unter Umständen obdachlos zu werden. Deshalb werden wir uns daranmachen, daß sich Bodenspekulation in diesem Land nicht mehr lohnt. Wir werden dafür sorgen, daß wir endlich wieder Mieten haben, die sich Menschen auch leisten können. ({29}) Wir werden dafür sorgen, daß Wohnungen nicht schneller in teuere Eigentumswohnungen umgewandelt werden, als die Kommunen überhaupt nachkommen, neue zu bauen. ({30}) Damit auch hier kein Mißverständnis aufkommt, will ich sagen: Es ist ja immer erstaunlich, mit welch eigenartigen Dingen, die man hört, hier argumentiert wird. Man fragt sich: Woher kommen die überhaupt darauf? Wir werden doch nicht die Häuslebauer bestrafen. Wir sind doch froh, daß sich die Menschen Häuser bauen können. Denn wer sich ein Haus bauen kann, der geht aus einer Mietwohnung heraus, und die wird für andere frei. Wieso wollten wir die bestrafen wollen? Wir haben in unserem Programm eindeutig stehen: Wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, daß es Veränderungen bei der Bewertung von Vermögen, das aus Grundbesitz stammt, geben muß, werden wir dafür sorgen, daß diejenigen, die eigengenutzte Eigentumswohnungen oder Häuser haben, eben nicht mehr zahlen. Das haben wir uns zum Anliegen gemacht. Sie können doch nicht einfach solche Gerüchte in die Welt setzen. ({31}) Wir werden dafür sorgen, daß Altersarmut bekämpft wird. Das ist unser Projekt einer sozialen Grundsicherung, die dazu dienen soll, daß die Kleinstrentnerinnen, die sich nicht zum Sozialamt trauen, eben nicht mehr entscheiden müssen, ob sie eine warme Stube oder ein warmes Essen haben wollen. Wir werden in der Zukunft für eine vorbeugende Sozialpolitik sorgen, weil wir nämlich sagen: Die nächste Generation der armen Kleinstrentnerinnen wird heute produziert, wenn wir weiter zulassen, daß versicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse, mit 560 DM entlohnt, in unserem Land explosionsartig zunehmen. ({32}) Wir werden auch nicht zulassen, daß Langzeitarbeitslose bestraft werden. Denn wir wollen Arbeitslosigkeit bekämpfen und nicht etwa die Arbeitslosen. Wir haben auch etwas dagegen, daß die Stopand-go-Politik dieses Haushalts weitergeht. Denn die 4 Milliarden DM, die der Bundeshaushalt bei der Arbeitslosenhilfe einspart, müssen dann über die Sozialhilfe irgendwo wieder gezahlt werden - aber nicht vom Bund, nicht von den Ländern, sondern von den Kommunen, die sowieso schon auf dem letzten Loch pfeif en. ({33}) Allein im Freistaat Bayern eine Mehrbelastung der Kommunen zwischen 350 und 500 Millionen DM. Wir werden dafür sorgen, daß es endlich einen fairen Familienleistungsausgleich, einen Kinderleistungsausgleich gibt. Denn es ist unerträglich, daß die Menschen, die gut verdienen, für ihr Kind pro Monat derzeit 251 DM bekommen, und die Menschen, die Durchschnittsverdiener sind, maximal 135 DM, und zwar über eines der kompliziertesten Systeme, das man sich überhaupt vorstellen kann: über Kindergeld einkommensabhängig, Kindergeldzuschlag, wenn man es nicht ausnutzen kann, und Kinderfreibeträge. Kein Mensch kann mehr kalkulieren, was ihm überhaupt zusteht. Wir werden dort Bürokratie sparen. Wenn nun Herr Waigel ankündigt, daß er im nächsten Jahr den Kinderfreibetrag auch noch erhöhen wird, so bedeutet das, daß dann pro Kind in den obersten Einkommensgruppen 295 DM anfallen und Renate Schmidt ({34}) in den niedrigsten wiederum nur ein Betrag von unter 150 DM. So kann das doch nicht weitergehen. ({35}) Wie er dieses Projekt finanzieren will, hat uns der liebe Herr Waigel wohlweislich verschwiegen. Von Seriosität kann bei diesem Haushalt wie bei dem vorhergehenden keine Rede sein. ich freue mich auf den Wechsel, und wir werden ihn gemeinsam gestalten. ({36})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Bundesfinanzminister Theo Waigel das Wort.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) - Seit wann sind Sie ein Prophet und wissen, was ein anderer sagt, bevor er etwas gesagt hat? Wenn Sie so prophetisch wären, würden Sie in der SPD eine andere Stellung einnehmen. Frau Kollegin Schmidt, Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte in Wittenburg in Mecklenburg-Vorpommern Wahlkampf gemacht; dort sei ein CDU-Kandidat mit den Stimmen der PDS gewählt worden. Wahr ist: Ein CDU-Kandidat hat sich dort zur Wahl gestellt und er wurde gewählt ohne jede Abstimmung, ohne jede Kooperation ({1}) und ohne den Hintergedanken, daß man, wie Sie in Magdeburg, nur mit den Stimmen der PDS gewählt wird. Sie werden dem Mann doch nicht verwehren können, daß er dort kandidiert. Es ist eine Unverschämtheit, hier mit solchen Vergleichen zu kommen und damit Unvergleichbares miteinander vergleichen zu wollen. ({2}) Ein Zweites will ich Ihnen sagen, Frau Schmidt. Sie haben uns unterstellt, wir würden, wenn es darauf ankommt, mit jedem zusammenarbeiten. Vor fünf Jahren haben die Republikaner zu unserem Ärger - und ich hoffe, auch zu Ihrem Ärger - in Bayern bei der Europawahl und in manchen Kommunen leider beachtliche Erfolge erzielt: 10 %, 15 %, 18 %, in manchen Bereichen sogar 20 %. ({3}) - Hören Sie einmal zu! Das könnte vielleicht nicht schaden. Bei der letzten Europawahl ist es uns gelungen, diesen Stimmenanteil zu reduzieren und auf weniger als die Hälfte zurückzuführen. ({4}) Ich halte das für eine ganz große politische Leistung, die hier erreicht worden ist. Ich lasse mir deswegen weder von Ihnen, Frau Schmidt, noch von sonst jemandem unterstellen, wir würden, wenn es darauf ankommt, mit jedem zusammenarbeiten. ({5}) Die CSU hat seit 1949 noch mit keiner radikalen Kraft in Bayern oder in Deutschland zusammengearbeitet. Nehmen Sie darum Ihren Vorwurf zurück. ({6}) Frau Kollegin Schmidt, ich weiß aber nicht, ob Sie ein Papier vom 8. Dezember 1988 kennen, das in der „Baracke" gefertigt worden ist, von dem allerdings Frau Anke Fuchs damals sagte, solche Überlegungen seien nie zur Grundlage der Politik gemacht worden. Aber das Papier existiert. Als interne Positionsbeschreibung der SPD aus der Zeit vor der Europawahl heißt es dort: Je besser es der SPD gelingt, den Linienkampf in der Union zu thematisieren, den Rechtsruck zu kritisieren, die liberalen Kräfte ob ihrer Ohnmacht zu bedauern, desto schwerer wird es CDU und CSU fallen, sich aus der Zwickmühle zu befreien. In dem Vermerk wird auch vermutet, daß „eine solche dauerhafte Intervention unsererseits die Chancen der Rechtsextremen bei der Europawahl steigern wird" und das der SPD zugute kommt. ({7}) Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Fuchs, die Sie 1987 im Wahlkampf (

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Da waren Sie doch dabei!) mir gegenüber nicht fair waren und als falsch erkannte Dinge in Spots noch permanent haben laufen lassen, ({0}) will ich es sehr fair machen. In der „Süddeutschen Zeitung" vom 14. Juli 1989 steht noch, daß sich Herr Rau intern gegen das Papier gewandt hat. Nur, es ist schon ein Stück aus dem Tollhaus, daß es bei Ihnen darüber überhaupt eine Diskussion gegeben hat. Sie hätten das Papier sofort einstampfen und nicht ankündigen sollen, Sie würden diesen Haushalt einstampfen, wenn Sie an die Macht kämen. ({1}) Insofern sollten Sie sehr vorsichtig sein, uns Strategien und anderes zu unterstellen. ({2}) Meine Damen und Herren. Sie haben wieder von der Gerechtigkeitslücke gesprochen. Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen: Das obere Viertel der LohnBundesminister Dr. Theodor Waigel und Einkommensteuerpflichtigen trägt fast drei Viertel des gesamten Lohn- und Einkommensteueraufkommens, während die Bezieher von Einkommen bis zu 22 000 DM wesentlich weniger aufbringen, als ihrem Prozentanteil entspricht. Nun höre ich von Herrn Lafontaine etwas über die Mehrwertsteuer. Jetzt will ich Ihnen etwas sagen. Während einer der „Troikaner" 1992 gegen die Mehrwertsteuer polemisierte, hat mich ein anderer „Troikaner„ aufgefordert, miteinander die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht um einen, sondern um zwei Punkte zu beschließen, um so die Finanzprobleme von damals zu lösen. Nehmen Sie zur Kenntnis: Sie können diese Auseinandersetzung haben. Wir führen sie dann auf der Basis dessen, was die Troika 1992 zur Steuerpolitik gesagt hat, auch im Jahre 1994. Diese Auseinandersetzung können Sie jederzeit haben. ({3}) - Vor Ihnen werde ich weglaufen! Wissen Sie, vor Ihnen läuft in Deutschland wirklich niemand mehr weg, und ich schon gar nicht. Das dürfen Sie mir glauben. ({4}) Ich lasse mir auch von Ihnen, Frau Schmidt, soziales Gewissen nicht absprechen. Ich komme aus kleinen Verhältnissen wie Sie auch. Mein Vater war Maurerpolier und fast jeden Winter arbeitslos. Ich komme aus Ursberg, einem der größten Behindertenzentren in Deutschland. Ich weiß, was Not, menschliches Leid und anderes bedeuten können. ({5}) Sie werden doch nicht behaupten, daß wir heute, was Sozialhilfe anbelangt, was Renten und Durchschnittseinkommen anbelangt, schlechtere Verhältnisse als 1982 haben. Die Rentenecksätze und anderes sind doch angehoben worden. Natürlich gibt es Not. Natürlich gibt es unverschuldete und auch verschuldete Not, der man gerecht werden muß. Aber man kann doch dann nicht die Sozialhilfe quasi als Schande bezeichnen, wie Sie es getan haben. ({6}) Gerade um hier die Dinge zu wenden, haben wir endlich - niemand hat sich darum so gekümmert wie die CDU/CSU - die Pflegeversicherung eingeführt und damit eine neue Antwort der Solidarität auf eine drängende soziale Frage gegeben. ({7}) Was die Kinderfreibeträge anbelangt, kann ich Ihnen nur sagen: Selbst mit einem Kindergeld von 250 DM würden Sie schon in wenigen Jahren das Existenzminimum nicht mehr sicherstellen können. Sie müssen das wissen. ({8}) Darum bin ich sehr wohl für einen differenzierten Weg, nämlich den, über den Kinderfreibetrag das Existenzminimum zu sichern und dann das Kindergeld anders zu gestalten als jetzt. Denn ich habe es nie als richtig angesehen, daß der Besserverdienende ebenso 70 DM für das erste Kind bekommt wie der andere. ({9}) Darm kann ich es endlich verändern. Dann kann ich es endlich den Familien mit wenig Einkommen und mit mehr Kindern geben. Dann können wir es tun. Das halte ich für den richtigen Weg. ({10}) Übrigens, warum ist denn der Kinderfreibetrag unsozial, und auf der anderen Seite wird die Erhöhung des Grundfreibetrags von 5 600 DM auf 12 000 DM gefordert, mit einem Ausfall von über 40 Milliarden DM? Das kommt doch auch dem, der 300 000 oder 400 000 DM verdient, in gleichem Umfang zugute. ({11}) Daß Sie sich, Frau Schmidt, nicht zu schade waren und wieder mit der Mär gekommen sind, es gebe mehr als 100 Milliarden DM von Steuerausfällen! Nehmen Sie doch wenigstens eine Stunde Nachhilfeunterricht bei Herrn Schleußer, der mir jetzt wieder mitgeteilt hat, daß dies Unfug ist, daß es diese Summe nicht gibt. Ich habe es auch der Deutschen Steuergewerkschaft gesagt. Frau Schmidt, Sie wissen nicht Bescheid. Sie wußten vor einiger Zeit ja nicht einmal, wie hoch der Haushalt des Freistaats Bayern ist. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Wolfgang Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Drei Überlegungen möchte ich meinem Beitrag zu dieser Debatte voranstellen. Erstens. Ein Verweilen in der Vergangenheit erschwert Handeln in der Gegenwart. Zweitens. Nicht gegen, sondern für etwas zu sein, das zeigt allein den Weg in die Zukunft. Drittens. Eine Diskussion in der Politik ist unmöglich mit jemandem, der die Wahrheit nicht sucht, sondern glaubt, sie allein zu besitzen. ({0}) Das sind ein paar Gedanken, die ich hier zum Schluß meiner parlamentarischen Tätigkeit voranstellen wollte. Es gilt für uns, den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes verantwortliche Orientierungen zu geben, und nicht, Stimmungen nachzulaufen. Besteht nicht die Gefahr, daß unsere Informationsgesell21472 Schaft, die wir wollen, zu einer Schlagzeilengesellschaft verkommt? ({1}) Der informierte Bürger kann dadurch leicht zum uninformierten Bürger und dann zum uniformierten Bürger werden. Dann haben es Radikale - rechts oder links - leicht; ihr Weizen blüht, wenn dies geschieht. Hüten wir uns davor! ({2}) Wer in ein politisches Amt gewählt ist, darf seine Glaubwürdigkeit nicht selbst gefährden. Wir müssen ein realistisches Gesamtbild dieses Staates vermitteln. Mahnen ist richtig, ist notwendig - Madigmachen hilft aber nur den Radikalen. Auch davor sollten wir uns hüten. ({3}) Was der eine oder andere an unterschiedlichen Gedanken hat, muß diskussionswürdig bleiben und darf nicht nur um des Verreißens willen in den Orkus geworfen werden. Wer jetzt z. B. von einem Debakel in den neuen Bundesländern spricht, weiß entweder nicht, wovon er redet, ({4}) oder will bewußt Mißmut und Mißgunst schüren und damit nicht einen, sondern spalten. ({5}) Ich sage das doch nicht in Unkenntnis der Schwierigkeiten, die es noch gibt, sondern ganz im Gegenteil: in Kenntnis der Schwierigkeiten. Wir müssen auch deshalb ein realistisches Gesamtbild des Staates vermitteln, weil derjenige, der das nicht tut, immer mehr Mitbürger für die Parole zugänglich macht, die 1992 auch noch zum Wort des Jahres erklärt wurde: „Politikverdrossenheit" . Der Wahrheit entsprechend müßte es „Politikverweigerung" heißen, nicht Politikverdrossenheit. Man verweigert die Übernahme von Verantwortung und zieht sich sozusagen privatisiert zurück. Jeder ist verantwortlich für das, was er tut; aber jeder ist auch mitverantwortlich für das, was er geschehen läßt, wobei er weiß, daß er es geschehen läßt. ({6}) Für mich war während meiner ganzen Tätigkeit immer Leitmotiv, daß in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat Rechte und Pflichten aufs engste miteinander verbunden sind. 1946 habe ich mit meinen jungen Freunden in Sachsen - LDP-Mitglieder; ich habe mich nie gescheut, das zu sagen; ich scheue mich auch heute nicht, daß ich das 1945 gewesen bin - auf Plakaten, Handzetteln und in Veranstaltungen die Jugend aufgerufen - auch wenn heute manches, zu dem wir aufgerufen haben, unverständlich erscheinen wird -: Bekenne dich zur Arbeit, zur Freiheit, zur Demokratie, zur Einheit! Es entsprach meiner Erziehung, meiner Grundeinstellung, dem Gemeinwesen zu dienen. Wir haben damals bei diesen jungen Menschen eine Riesenzustimmung gefunden. Soll ich nun denjenigen, die bereit waren mitzuwirken, die dann später feststellen mußten, daß die demokratische Entwicklung nicht so stattfand, die aber in der Partei geblieben sind, weil sie dort eine Nische fanden, heute einen Vorwurf machen und sie damit schlechterstellen als diejenigen, die in der SED waren? Nein, das kann es nicht sein. ({7}) Deshalb kann ich nur herzlich bitten - wenn man schon aufarbeiten will -, hier nicht davon zu sprechen. Natürlich meinen wir die PDS-Wähler, die wir gewinnen wollen. Aber gleichzeitig andere, die bei der CDU, bei der LDP oder bei anderen Parteien gewesen sind, auszugrenzen, das kann nicht der richtige Weg sein. Bitte, überlegen Sie sich das noch einmal. Unser Staat gibt jedem einzelnen von uns ein Bündel von Rechten und Freiheiten. Dafür sollte aber auch jeder Pflichten für das Gemeinwesen übernehmen, Mitverantwortung übernehmen in der Nachbarschaft, im Dorf, in der Stadt oder in der Region. Damit festigt man das demokratische Fundament dieses freiheitlichen Staates. Dann gleitet uns die Freiheit auch nicht aus den Händen. Für uns Liberale ging der Kampf immer darum, diese Freiheit den Menschen zu erhalten, sie auszubauen und ihnen begreifbar zu machen, was sie an dieser Freiheit haben. Dankbar bin ich dem Schicksal, daß ich noch die Wiedervereinigung Deutschlands mitgestalten durfte. Mir wird der 9. November 1989 nie aus dem Gedächtnis gehen, als wir im Plenarsaal zusammenkamen und ich meine Landsleute aufforderte, auf den gepackten Koffern zu bleiben, nicht wegzugehen, weil ich zu diesem Zeitpunkt schon überzeugt war: Die Einheit steht vor der Tür; wir haben gepackt, was wir über Jahrzehnte gemeinsam erreichen wollten. ({8}) Als dann der Bundestag gemeinsam die Nationalhymne sang, ({9}) war das wirklich ein Ereignis, das innerhalb meiner politischen Tätigkeit zu den Höhepunkten zählte. Herr Präsident, ich bin etwas erstaunt, daß ich schon bei zwei Minuten angelangt sein soll.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Für Sie waren zehn Minuten angemeldet, Herr Kollege Mischnick.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Entschuldigung. Wenn Sie Nachsicht mit mir hätten und mich noch ein paar Minuten mehr anhörten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte.

Wolfgang Mischnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001512, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, für uns, die wir in den letzten Jahrzehnten bereit waren, auf diesen Tag hinzuarbeiten, geht es jetzt darum, nicht nur die wirtschaftliche und die soziale, sondern auch die geistige Einheit herbeizuführen. Das gelingt aber nur, wenn das Verständnis füreinander über diese jahrzehntelangen unterschiedlichen Entwicklungen stärker wird. Ich bin sehr froh darüber, daß das in einem Bereich offenbar besonders gelungen ist, nämlich bei der Bundeswehr mit der Eingliederung der NVA. ({0}) Ich möchte allerdings auch hinzufügen, daß ich jetzt im Erzgebirge wieder die Frage hören mußte: Wie ist es eigentlich möglich, daß diejenigen, die uns die Pässe verweigert haben, jetzt beim Arbeitsamt darüber zu entscheiden haben, ob wir Arbeitsplätze bekommen? Das sind natürlich Punkte, denen wir nachgehen müssen, weil dies zu Reaktionen führt, die nicht immer dazu beitragen, das Zusammenwachsen zu fördern. Da ich meine Redezeit nicht über das Maß überschreiten will, lassen Sie mich mit einem Dank schließen. Ich habe meine politische Tätigkeit in Sachsen begonnen, ich beende sie jetzt als sächsischer Abgeordneter. Mein Heimatland Sachsen ist auf dem Wege, wieder so blühend zu werden, wie es einmal war. Immer dann, wenn in Sachsen liberale Grundlagen vorhanden waren, dann war es als Industrie-, als Kulturland führend in Deutschland. Das wird wieder erreicht werden. Ich danke allen, mit denen ich im Parlament zusammenarbeiten durfte, insbesondere natürlich meinen politischen Freunden, aber auch denen, die in anderen Fraktionen tätig waren. Ich kann feststellen, daß das eigentlich immer eine Zusammenarbeit war, die von dem Gedanken geprägt war, etwas für unser Land zu tun. Ich danke allen Mitarbeitern. Sehen Sie mir nach, wenn ich sage: Ich danke meiner Frau, die in 45 Jahren Ehe 40 Jahre parlamentarische Tätigkeit mitgetragen und ertragen hat. Tinelein, herzlichen Dank. ({1}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen als Abschiedsgruß meiner Heimat - neben meiner Vaterstadt Dresden ist das das Erzgebirge - zurufen: Ein herzliches Glückauf! ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Sehr geehrter Herr Kollege Mischnick, das Präsidium schließt sich den guten Wünschen, die Ihnen jetzt übermittelt worden sind, in sehr herzlicher Weise an und bedankt sich. Ich persönlich bedanke mich für eine 25jährige gemeinsame Arbeit in diesem Haus. ({0}) Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Hans Modrow das Wort.

Dr. Hans Modrow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001518, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Haushaltsdebatte sollte sein, Wahlkampf pur und Schlagabtausch wird geboten. Der Herr Bundeskanzler ging als Schwergewicht ans Pult; im Rahmen politischen Schlagabtausches sieht er mehr wie ein Leichtgewicht aus. ({0}) Herr Kohl trinkt öffentlich Wasser, wie er hier verkündet, und heimlich offensichtlich Wein. Er spricht von den kommunistischen Kadern und schimpft auf die PDS. Mir wurde am Sonntag in Chemnitz ein Bild überreicht - offensichtlich war das auch ein Kadergespräch -, auf dem zu sehen ist, wie sich Herr Waigel und Herr Schalck mit dem Ausdruck großer Freude damals in einem Betrieb in KarlMarx-Stadt trafen. Die Herren Gorbatschow, Schewardnadse, Jelzin, Horn und viele andere, mit denen der Herr Bundeskanzler immer wieder spricht und sich trifft, müssen offensichtlich seit eh und je christlich-demokratische Eliten gewesen sein. Ich jedenfalls habe sie in anderen Positionen kennengelernt, getroffen und mit ihnen diskutiert und beraten. China und Vietnam befinden sich in einem Reformprozeß, aber ich habe nicht gehört, daß sie darüber gesprochen haben, sich nicht mehr als sozialistische Staaten zu sehen. Die gesellschaftlichen Prozesse sind und bleiben in Bewegung. Geschichte bleibt nicht stehen. Erstaunlicherweise stellt hier unser Herr Außenminister fest, daß die PDS auch außerhalb der Grenzen nun schon im Gespräch sei. Ja, das ist in der Tat so. In Polen, in Ungarn, in der Ukraine und in Belorußland sind Wahlen abgelaufen, und nicht wenige, die in diesen Regierungen tätig sind, sind mir gut bekannt. Der Verteidigungsminister Polens ist jener Kommandierende der polnischen Flotte, der mit jenem Admiral gemeinsam über viele Jahre auf der Ostsee Manöver fuhr, der in der Bundesrepublik Deutschland demnächst vor ein Gericht soll. Da wird man schon über diese Vergangenheit sprechen und sie anders sehen, als die Politiker der Bundesregierung es tun. Die Realitäten sprechen eine andere Sprache als jene Wertung von Bewährungsproben und guter Außenpolitik der Bundesregierung, wie sie hier vertreten wurden. Es wurde und wird zwar viel von Europa, auch Gesamteuropa, geredet, notwendige Initiativen zur Wiederbelebung der KSZE, zur Schaffung gesamteuropäischer Strukturen der Sicherheit und Zusammenarbeit gibt es jedoch nicht. Das vergangene Woche von der Unionsfraktion vorgestellte, wenig einfühlsame Konzept eines Kern21474 europas hat in manchen Partnerländern die Vermutung gestärkt, die Deutschen wollten wieder herumkommandieren. Priorität haben die Konkurrenzinteressen der stärksten westeuropäischen Staaten. Das übrige Europa, vor allem Osteuropa, wird für die nächsten zehn oder zwanzig Jahre zum Nebenschauplatz degradiert. Bis heute fehlen praktische Denkansätze zur Lösung der zahlreichen globalen Fragen. Es kann nicht oft genug gesagt werden: Das vereinigte Deutschland wäre auf Grund seiner Traditionen und seiner Geschichte, der Verletzlichkeit seiner Mittellage, aber auch wegen seines politischen und ökonomischen Gewichts gut beraten, seine Selbstbeschränkung, insbesondere den zivilen Charakter seiner Außenpolitik nicht aufzugeben. Diese Politik hat es - ebenso wie Japan - zu den führenden Wirtschaftsmächten nach den USA werden lassen. Auch in unseren Tagen taugt es nichts, Großmachtpolitik zu betreiben. Die Bundesregierung sollte deshalb ihre Finger von allen Versuchen lassen, Dominanz- und Weltpolitik zu betreiben. Schon die ersten Gehversuche in dieser Richtung - ich nenne nur Stichworte wie Jugoslawien und Somalia - zeigen, wie schnell das in einem Fiasko enden kann. Meine Damen und Herren, seit Tagen wurde in der deutschen Öffentlichkeit die Frage diskutiert, ob die Anerkennung der Enteignungen von 1945 bis 1949 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR eine Bedingung für die Vereinigung der beiden deutschen Staaten war oder nicht. Ausgelöst hat sie bekanntlich Michail Gorbatschow, der nun bei seiner Ankunft in der Bundesrepublik erklärte, die Deutschen hätten die Sache selbst zu entscheiden, und nun sollte man sie auch nicht mehr rückgängig machen. ({1}) Aber gerade diese Gefahr besteht, wenn diese Enteignungen nicht als demokratische Konsequenz des Potsdamer Abkommens und als Ergebnis der Zweiplus-Vier-Verhandlungen betrachtet werden. Wenn Helmut Kohl und Hans Modrow heute davon ausgehen, daß dies in der Tat eine Forderung der Sowjetunion war, haben sie dafür gewiß ganz unterschiedliche Motive. Für den Bundeskanzler war diese Forderung eingehüllt in den Mantel der Geschichte, und mit diesem Preis wollte er den Mantel packen. Er ist herausgefordert, an diesem Preis auch in der Zukunft festzuhalten. Für mich war das Motiv die Verantwortung der Regierung der DDR, im Prozeß der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Interessen von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern der DDR in den Eigentumsfragen zu wahren. Am 1. März 1990 gab die Regierung der DDR eine Erklärung zu den Eigentumsfragen ab. Diese Erklärung wurde am 2. März 1990 den Herren Kohl und Gorbatschow übermittelt. Am 8. März wurde ich gerade deswegen von Herrn Kohl mit fürchterlichen Vorwürfen bedacht. Heute hält er aber an ihr fest - zum Glück. Am 27. März 1990 erklärte die Regierung der UdSSR zu dieser Angelegenheit unmißverständlich: Unter Berücksichtigung ihrer Rechte und ihrer Verantwortung in den deutschen Angelegenheiten tritt die Sowjetunion für die Wahrung der Gesetzlichkeit der Eigentumsverhältnisse in der DDR ein, und sie ist gegen die Versuche, die Vermögensverhältnisse in der DDR im Falle der Bildung der Währungs- und Wirtschaftsunion mit der BRD sowie im Falle des Entstehens des einheitlichen Deutschlands in Frage zu stellen. Damit waren die Pflöcke für alle nachfolgenden Positionen der Sowjetunion bei den Zwei-plus-VierVerhandlungen gesetzt. Heute könnte man geneigt sein zu sagen: Viel Wind um nichts. Aber schon heute werden mit dem sogenannten Kompromiß zum Entschädigungsgesetz für den Ausgleich von Enteignungen in Ostdeutschland Schlupflöcher gesucht und gefunden, um hier auszuhöhlen. Mit dem Spiel, die Sowjetunion habe auf die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Enteignung gepocht, nie aber auf ihre Unantastbarkeit, wird der Weg der Aushebelung dieser völkerrechtlichen Beschlüsse fortgesetzt. Die Bundesregierung steht hier weiter in hoher Verantwortung. Ganz offensichtlich geht es um den Grundbesitz und anderes Eigentum. Es gibt eine große Lobby für jene, die interessiert sind, hier etwas rückgängig zu machen. Die Spekulationen und die Diskussionen gehen weit durch die Presse; die Bundesregierung gibt Erklärungen ab. Nichts ist auf diesem Gebiet zu überhören, nichts ist laut genug, kein Palaver, kein Reden. Hoffentlich steht man zu den gegebenen Erklärungen. Michail Gorbatschow hat beinahe zeitgleich auch zu einer anderen für den deutschen Einigungsprozeß gewichtigen Frage Stellung genommen, was der bundesdeutschen Öffentlichkeit allerdings weitestgehend vorenthalten wurde. In einem Schreiben an mich, über das ich den Herrn Bundeskanzler informiert habe, erinnerte er daran - hier will ich ihn zitieren -, daß seine deutschen Partner in allen Verhandlungen über die Vereinigung versichert haben, es werde keinerlei Diskriminierung der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik und ihrer politischen Führung zugelassen werden, das Verhältnis zu den östlichen Bundesländern werde sich auf keinen Fall nach der Formel von Siegern und Besiegten gestalten. ({2}) - Von Herrn Gorbatschow ist hier in aller Eindeutigkeit formuliert - ich wiederhole es -, daß die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik und ihre politische Führung nicht juristisch zu verfolgen sind. Was Sie meinen, ist offensichtlich etwas anderes. Wenn wir hier schon zu diesen Problemen miteinander polemisieren: Der Bundeskanzler hat zur Sache nicht, wie Herr Gysi es gefordert hat, sachlich Stellung genommen, sondern versucht, ein anderes Pferd aufzuzäumen. Eines müssen Sie wissen: Das eine ist 1930, bevor der Faschismus da war, gesagt worden. Die anderen Redensarten stammen aus der heutigen Zeit. Das genau ist das Problem. Wenn Sie schon über die gegenwärtige Situation der Reps reden - Herr Waigel ist nicht mehr da -, dann sollte nicht übersehen werden, daß heute alle Meinungsforschungsinstitute in der Bundesrepublik vor der Bundestagswahl darauf verweisen, daß etwa 20 % der Wähler der CSU aus dem rechten Spektrum kommen. Das stellt die Abwanderung dar, die sich gegenwärtig vollzieht. Mit dem, was Sie betreiben, wenden Sie sich auch in der eben erwähnten Frage gegen den Zwei-plusVier-Vertrag. Man sollte hoffen, daß sich die politisch Verantwortlichen in diesem Lande an diese Tatsache, die ebenfalls im Zwei-plus-Vier-Vertrag ihren völkerrechtlich verbindlichen Niederschlag gefunden hat, erinnern und daß nicht Rache und Haß gegen die damaligen politischen Führer geschürt wird. Meine Damen und Herren, wir haben meines Erachtens nur eine Wahl; sie ist von historischer Dimension: Entweder wird der Kurs der sozialen Revanche, der Vergeltung und des Hasses so fortgesetzt, wie er sich gegenwärtig in diesem Lande gestaltet, oder es wird bewußt ein Kurs der nationalen Eintracht, des ideologischen und politischen Pluralismus unter dem für alle gleichen Schutz des Rechtes gewählt. Warum sollten nicht Vernunft, Toleranz und geistige Auseinandersetzung den Weg dieser Bundesrepublik in die Zukunft bestimmen können? Es geht nicht an, sich an Nelson Mandela zu wenden und zu sagen: „Verfahren Sie so, daß Sie Gerechtigkeit walten lassen! ", während man hier zur Toleranz nicht bereit ist. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir nur dann das Vertrauen anderer Völker haben werden, wenn wir uns alle zusammen dieser großen Herausforderung stellen. Die Antwort hängt allein von uns ab. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Gerd Poppe das Wort.

Gerd Poppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Scharfe Töne im Parlament, zugespitzte Formulierungen, die deutliche Akzentuierung eigener Positionen zu Lasten des politischen Widersachers - dies alles ist in der heißen Phase des Wahlkampfes akzeptabel. Nicht hinnehmen aber möchte ich - das eint mich mit vielen Menschen in Ostdeutschland - die falschen Versprechungen, die Lügen und Verleumdungen, die Legendenbildungen und Geschichtsfälschungen, von denen die Wahlkampfaussagen der Koalition häufig geprägt sind, insbesondere auch in der heutigen Debatte. Da wird z. B., auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bezogen, nicht nur wider besseres Wissen behauptet, wir wollten von einem auf den anderen Tag sämtliche Atomanlagen abschalten; vielmehr werden - das ist nun wirklich der Gipfel der Infamie - mit BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN auch die ostdeutschen Bürgerbewegungen in das Phantombild einer PDS-lastigen Linksfront eingebaut, als hätte es den jahrzehntelangen Widerstand gegen das SED-Regime und den Herbst 1989 nicht gegeben. ({0}) Dem entspricht andererseits, daß die von Ihnen übernommenen Blockparteien nachträglich fast zum Hort des Widerstands umgedichtet werden. Nun weiß ich zum Glück, meine Damen und Herren von der Koalition, daß sich nicht alle von Ihnen dieses Zerrbild zu eigen machen. Ich frage mich aber, was diejenigen, die so reden, in den letzten vier Jahren überhaupt von uns begriffen haben. Diejenigen, die sich in der DDR viele Jahre für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben, stehen nicht als billige Manövriermasse für derartige Wahlkampfauftritte, wie wir sie heute zum Teil erlebt haben, zur Verfügung, und für sie ist der demagogische Auftritt des Kollegen Glos eine ähnliche Zumutung wie die von ihm zitierten Passagen aus der Kommunistischen Plattform. ({1}) Zur Außenpolitik: Immer wieder wird behauptet, wir wollten die Bundeswehr auflösen und aus der NATO austreten. Auch diese Behauptung wird nicht dadurch wahr, daß sie ständig wiedergekäut wird. Nicht wir sind für einen deutschen Sonderweg in der Außen- und Sicherheitspolitik. Vielmehr kommen solche Vorschläge ausgerechnet aus der Spitze der CDU/CSU-Fraktion. Daß die Auslassungen von Herrn Stoiber zu Maastricht seinerzeit kein Einzelfall waren, zeigt nun das jüngste Papier zur Europapolitik, unterschrieben von Herrn Schäuble, Herrn Glos und anderen. „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?" scheint dieses Papier zu sagen. Diese Haltung ist nicht mehr neu. Jetzt sagen Sie aber schon: „Was kümmern mich die Verträge, die ich gestern unterschrieben habe?" Merken Sie denn nicht, daß Sie dabei sind, die Grundlagen des europäischen Einigungsprozesses aufzukündigen? Was wir erleben, ist eine Verschiebung der Gewichte in der Atlantischen Allianz und in der Europäischen Union, verbunden mit der Gefahr einer schrittweisen Rückkehr zu einer deutschen Großmachtpolitik. 1989/90 wurde das Ende der europäischen Teilung postuliert. Die deutsche Einheit sollte direkter Ausgangspunkt der europäischen Einheit werden. Dieses große Ziel wurde sehr schnell durch das einer westeuropäischen Besitzstandswahrung abgelöst, die neuen Demokratien im Osten wurden zunehmend mit vagen Versprechungen abgespeist. Nun soll der komplizierte und sensible Prozeß der gesamteuropäischen Einigung durch eine Politik zugunsten eines sogenannten Kerneuropa ersetzt werden. Wenn es nach der Bundesregierung geht, ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis aus dieser abenteuerlichen Konstruktion die reale Gefahr eines Deutschland, das sich für den Nabel der Welt hält, hervorgeht. Ich bin, bezogen auf das CDU/CSU-Papier - das sei Herrn Schäuble und Herrn Glos gesagt -, gegen Denkverbote jeder Art. Aber durch den Lärm, der mit diesem untauglichen Gedankenexperiment verbunden wird, relativieren Sie nicht nur das Atlantische Bündnis, verprellen Sie nicht nur die sieben bzw. elf Staaten der Europäischen Union, die Sie zu zweitrangigen deklassieren, tragen Sie nicht nur dazu bei, daß sich Wirtschaftsreform und demokratische Erneuerung im Osten weiter verzögern; Sie bewirken auch, daß der Traum von Europa, der vor fünf Jahren so viele Menschen im Osten in Bewegung gesetzt hat, verblaßt. Das ist nicht das Modell, das der 1990 beschworenen Rolle des vereinigten Deutschland entspricht, das die Gedanken europäischer Demokraten von Delors bis Havel aufgreift, das Maastricht, Partnerschaft für den Frieden, UNO und KSZE weiterentwikkelt, sondern es ist ein Modell, das Wasser auf die Mühlen von Separatisten, Nationalisten und Demagogen aller Couleur gießt und das alte Ängste bei unseren europäischen Nachbarn aufleben läßt. Dabei gibt es wahrlich genug Probleme in Europa zu lösen. Aber Bundesregierung und Koalition machen nicht die Demokratisierung der EU, nicht die Entflechtung ihres bürokratischen Apparates zu ihren Schwerpunktthemen, sie interessieren sich nicht für eine europäische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, nicht für eine ökologisch orientierte Steuerpolitik, sie verlieren kein Wort über das Versagen der Außen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Union, geschweige denn über die Unfähigkeit, durch rechtzeitige wirtschaftliche und politische Einwirkung Konflikte friedlich beizulegen und Kriege wie im ehemaligen Jugoslawien zu verhindern. Dafür reden Sie um so mehr über militärische Einsätze, als würde die vielbeschworene neue Rolle Deutschlands vor allem in der Entsendung von Soldaten bestehen. Statt Abrüstung voranzutreiben, offensiv orientierte Verbände und Waffensysteme abzubauen, zur Überwindung des Systems der nuklearen Abschreckung beizutragen, fällt Ihnen nichts anderes ein als die Bildung von militärischen Krisenreaktionskräften. Der von Ihnen für 1995 vorgesehene Verteidigungshaushalt - einschließlich der Zusatzhaushalte, in denen es Verteidigungsausgaben gibt -liegt immer noch in einer vergleichbaren Größenordnung zu dem des Jahres 1983, also der Zeit, als die beiden großen Militärblöcke ihre aufeinander gerichteten Raketen installierten. ({2}) - Ja, es gibt Kürzungen gegenüber den letzten Jahren; aber vergleichen Sie die Zahlen von 1995 einmal mit denen von 1983. ({3}) Obendrein wollen Sie die Exportkontrollen für Rüstungsgüter lockern und uns dies als europäische Harmonisierung verkaufen. Das Ergebnis wird natürlich ein Anstieg des Rüstungsexports sein. Seit vier Jahren präsentieren Sie sich in der Pose des Gewinners des Kalten Krieges. Aber ich frage: Worin lagen Ihre Bemühungen, die heißen Kriege zu verhindern, die seitdem ausgebrochen sind? Das als erfolgreiche Außenpolitik auszugeben ist schon recht unverfroren. Ohne jeden Anflug von Veränderungswillen so weitermachen zu wollen ist nicht nur phantasielos, sondern auch gefährlich. Seit Monaten stellt die Bundesregierung ihre Außenpolitik als die einzig mögliche dar; leider hat auch einmal der SPD-Vorsitzende diese Darstellung bestätigt, als er sagte, er würde die Außenpolitik Helmut Kohls fortsetzen. Wir meinen, daß dem Erfordernis einer politischen Wende auch eine veränderte Prioritätensetzung in der Außenpolitik entspricht, vor allem die konsequente Zivilisierung der Außenpolitik. ({4}) Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren das genaue Gegenteil getan. Sie hat nicht nur einmal mit Arroganz die sensiblen Beziehungen zu unseren Nachbarn beschädigt. Wir hören - der Außenminister hat es heute unterlassen, weil der Bundeskanzler schon davon sprach -, wie solche Forderungen wie die nach dem Sitz im Sicherheitsrat gebetsmühlenartig vorgetragen werden, im Sinne des „Wir sind wieder wer". Aber wenn aus Krisenregionen hoffnungsvolle Signale zu uns dringen - siehe Südafrika, Nordirland, Israel und Palästina, trotz aller von Terroristen zu verantwortenden Rückschläge -, so ist immer nur von den Bemühungen ausländischer Diplomaten zu hören, aus Norwegen, aus Schweden, den USA usw. Ich frage: Wann hört man in solchen Zusammenhängen jemals von deutscher Außenpolitik? Durchaus gibt es manchmal trotz einer gewissen Neigung zum Theatralischen hoffnungsvolle Zeichen: die Begegnung zwischen Kohl und Jelzin in Berlin, die Rede von Herzog in Warschau. Ich schöpfe dann sogleich Hoffnung, frage mich aber: Wo ist denn die Initiative des deutschen Außenministers, um die deutsch-tschechische Verstimmung zu beheben? Oder: Wo war er, als zum Zeitpunkt der SchmidbauerReise nach Moskau alle Medien so berichteten, als bestünde ganz Rußland einzig aus einem Mafiagestrüpp gewissenloser Atomschmuggler? Ein Erbpachtrecht einer Partei auf das Auswärtige Amt kann es nicht geben, zumal man sich fragen muß, was aus den liberalen Werten, die eben noch einmal so eindrucksvoll von Herrn Mischnick genannt wurden, geworden ist. Ein Beispiel soll genügen: der Widerspruch zwischen den vollmundigen Bekundungen zu den Menschenrechten, die wir auch heute wieder gehört haben, und dem nahezu devoten Verhalten gegenüber den Verantwortlichen für das Pekinger Massaker von 1989. ({5}) Wie Sie wissen, fällt das Abrücken der F.D.P. - oder mindestens eines Teils von ihr - von diesen liberalen Werten nicht nur mir auf. Diese Kritik wird authentisch und mit tiefem Ernst aus ihren eigenen Reihen vorgetragen. Es gibt also Gründe genug, wie ich meine, für eine außenpolitische Wende, Gründe genug auch gegen diese Idee vom Kerneuropa. Den Vertretern solcher Thesen sind die demokratischen, ökologischen und sozialen Defizite in Deutschland, in Europa und in der Welt immer noch nicht genug. Sie wollen nun auch noch den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, mit der Errichtung einer Wohlstandsfestung, möglicherweise eines deutschen autoritären National- und Hegemonialstaates. Selbst wenn diese deutsch-nationale Geisterbeschwörung in meist etwas subtileren Tönen vorgenommen wird - auch Herr Schäuble sagt das natürlich nicht so offen -, selbst wenn es sich um nichts anders handeln sollte als um eine Art Wahlkampfmanöver zum Einsammeln abgedrifteter Konservativer, selbst dann wäre das unverantwortlich. Abschließend bleibt mir nur festzustellen, daß wir für den von Ihnen aufgebauten Linksfrontpopanz nicht zur Verfügung stehen, eher schon für die Verteidigung der zunehmend gefährdeten liberalen Werte. Nicht wir sind eine Gefahr für Deutschland und Europa; die Gefahr liegt in der Fortsetzung Ihrer Politik. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Ministerpräsidenten des Landes Thüringen, Herrn Dr. Vogel, das Wort. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}): Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem gestern und heute nicht weniger als drei Kollegen aus den A-Ländern die Gelegenheit genutzt haben, hier zu sprechen, ist es vielleicht angebracht, daß auch ein Ministerpräsident aus einem unionsgeführten Land ein paar Bemerkungen in der Grundsatzdebatte dieser Woche macht. ({1}) Nachdem bisher ausschließlich Ministerpräsidenten aus den alten Ländern das Wort ergriffen haben, ist es vielleicht angebracht, daß auch ein Repräsentant aus den jungen Ländern das Wort nimmt, zumal ja von diesem Pult aus bereits viel über diese Länder gesprochen worden ist. Ich habe mich nicht gemeldet, um die Klage und das Lamento noch zu verstärken, sondern ich habe mich gemeldet, um in aller Bescheidenheit zwei Dinge festzustellen: Erstens. Von den Menschen in den jungen Ländern ist in ungewöhnlich kurzer Zeit in einer beispiellosen Kraftanstrengung Ungewöhnliches geleistet worden. ({2}) Dies verdient auch den Respekt, die Hochachtung, den Dank und die Anerkennung, ja die Bewunderung der alten Länder. Zweitens. Von den alten Ländern, insbesondere von den Partnerländern, vor allem aber vom Bund ist in ungewöhnlichem Maße geholfen worden. Es hat sich ein Finanztransfer vollzogen, der in der Kürze der Zeit und in seiner Höhe ohne Beispiel ist. Es verdient Anerkennung, ja Bewunderung der jungen Länder, daß diese Hilfe geleistet worden ist. ({3}) Herr Kollege Scharping hat jüngst die jungen Länder bereist. Am Ende seiner Reise hat er gesagt, er habe kaum Ansatzpunkte für eine erfolgreiche soziale und wirtschaftliche Entwicklung erkennen können. Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wo Herr Scharping war. ({4}) Ich weiß auch nicht, wer ihn geführt hat. ({5}) Nur eines weiß ich sicher: Wer nüchtern und offenen Auges durch die neuen Länder geht, ({6}) sieht, was alles neu entstanden ist und täglich neu entsteht. ({7}) Die Aussage, man könne nichts an sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung sehen, ({8}) kränkt die Männer und Frauen in den neuen Ländern, die angepackt und die Kane aus dem Dreck gezogen haben. ({9}) Mit meinen zwei einleitenden Bemerkungen zu den Menschen in den neuen und in den alten Ländern wollte ich eigentlich nur sagen, daß in der Legislaturperiode in den neuen Ländern, die überall zu Ende geht, oder in den vier Jahren seit der Wirtschafts- und Währungsunion die Grundlagen für die wiedererstandenen Lander gelegt worden sind, und zwar in allen Lebensbereichen. Die Grundlagen sind geschaffen. Der Umbau ist weit vorangetrieben worden, und zwar nicht nur in der Wirtschaftspolitik. Eine neue Rechtsordnung ist entstanden, neue Verfassungen sind verabschiedet worden. Es gibt ein neues Sozialsystem, ein neues Gesundheitswesen und ein neues Bildungswesen. Die Forschungs- und Hochschullandschaft hat sich verändert. Ebenso gibt es Veränderungen in der Landwirtschaft und beim Umweltschutz. Ein beachtlicher Umbau ist vollzogen worden. Natürlich stehen dabei Arbeit und Wirtschaft im Mittelpunkt. Die Wirtschaftsdaten sind zur Zeit gut, teilweise sogar sehr gut. Das ist objektiv so, auch wenn die eine Seite im Hause gerne hätte, wenn die Daten noch ein bißchen besser wären, und die andere Seite im Hause gerne hätte, daß die guten Nachrichten erst etwas später kämen. Aber objektiv ist die Wirtschaftsentwicklung gegenwärtig erfreulich. ({10}) Nur, meine Damen und Herren, Wirtschaft und Arbeit sind nicht Selbstzweck, sondern wir haben ebenso Verantwortung für die Schwachen. Diese Verantwortung hat gleichen Rang; denn die Soziale Marktwirtschaft wird letztlich daran gemessen, ob sie - jedenfalls in der Zielsetzung - allen, die arbeiten können, Arbeit gibt und ob sie kranken und alten Menschen, Behinderten und Verfolgten helfen kann. Der Bundeskanzler hat selber heute durch die Darstellung der Situation der meisten Rentner von 1989 und 1994 ein überzeugendes Beispiel gegeben. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({11}) Noch vorhandene ungerecht erscheinende Benachteiligungen wollen wir im Rentenbereich beseitigen. Es wird dazu eine Gesetzesinitiative der jungen Länder geben. Ein anderes Beispiel ist der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, in westlichen Ländern heftig diskutiert. Bei uns ist der Anspruch für Kinder ab dem 30. Lebensmonat längst gesetzlich festgelegt, und ein Landeskindergeld ist eingeführt. ({12}) Was die Wirtschaft betrifft, so ist für uns festzustellen, daß der Privatisierungsprozeß nahezu abgeschlossen ist. Am Beispiel Thüringen heißt das: 2 400 Thüringer Treuhandunternehmen sind privatisiert; 14 Betriebe sind noch im Angebot. Unser Bruttoinlandsprodukt ist zu niedrig; aber die Zuwachsraten geben Anlaß zu Optimismus: 8 % in den neuen Ländern, bei uns in Thüringen im letzten Jahr 12 %, im vorletzten Jahr 11,8 %. Die Vorhersagen für 1994 sind erfreulicherweise wieder zweistellig. ({13})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Ministerpräsident, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schulte zu beantworten? Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}): Jawohl.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Frau Kollegin.

Brigitte Traupe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Ministerpräsident, zu meinem großen Erstaunen habe ich in der „Süddeutschen Zeitung" vom 29. Juni 1994 die Statistik zum Bruttoinlandsprodukt je Einwohner 1993 gefunden und möchte von Ihnen erklärt haben, warum Thüringen an letzter Stelle steht. Es hat nach der Spannweite der Wirtschaftskraft mit 16 400 DM Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner mit Abstand die letzte Stelle erreicht. Daß der Bundesdurchschnitt bei 38 300 DM liegt, ist eine andere Sache. Aber auch bei den neuen Bundesländern liegt Thüringen an letzter Stelle. Vielleicht erklären Sie uns das hier. Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}): Gnädige Frau, Sie sollten sich das Protokoll kommen lassen und das, was ich gerade gesagt habe, lesen. Ich habe auf diese Frage gerade geantwortet. ({1}) Ich habe nämlich darauf hingewiesen, daß das Bruttoinlandsprodukt bei uns besonders niedrig ist. Das habe ich gerade gesagt. Sie können das nachlesen. Es liegt nicht an letzter Stelle -. ({2}) - Entschuldigung, glauben Sie alles, was in der Zeitung steht? -, aber wir liegen, zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern nicht gut. Um so erfreulicher ist es, daß wir die höchsten Steigerungsraten unter allen Ländern haben, weil wir nur so davon wegkommen. ({3}) Um so erfreulicher ist es, daß Thüringen und Sachsen die Wachstumsregion Nummer eins in ganz Europa ist. Auch von niedrigem Niveau kommt man nur weg, wenn das Bruttoinlandsprodukt rascher steigt als das anderer Länder. Während das Bruttoinlandsprodukt der anderen Länder um 8 % steigt - ich wiederhole das noch einmal für die Frau Kollegin -, steigt es bei uns Gott sei Dank um 12 %. Daß es so niedrig war, hat seinen Grund: Wir haben nämlich den Umwandlungsprozeß schneller als in den anderen neuen Ländern vorgenommen, und damit ist die Privatisierung der Treuhandbetriebe rascher vollzogen worden, was schneller zu einer Basissituation führte, von der wir aber Gott sei Dank wegkommen. Es ist richtig, daß die Exportaufträge zu niedrig sind. Es ist auch richtig, daß uns die traditionellen Ostmärkte noch immer nicht das bringen, was sie einmal gebracht haben. Meine Damen und Herren, natürlich sind wir deshalb auf Hilfe angewiesen. Der Haushalt 1995 sieht 150 Milliarden DM für die wirtschaftliche und soziale Integration vor. Das ist erfreulich. Aber ich füge hinzu, wir brauchen das auch. Wir sind darauf angewiesen, nicht weil wir für immer am Tropf hängen wollen, sondern weil wir nur vom Tropf wegkommen, wenn wir schnell zusätzliche Hilfe bekommen. Wir sind in diesem Punkt mit dem Haushalt einverstanden, weil er uns diese Stabilität gibt. Die Haushalte in den jungen Ländern 1995 stehen auf einer völlig anderen Basis als die Übergangshaushalte bisher, weil durch die Entscheidung zum Solidarpakt die Einbeziehung der Länder in den Finanzausgleich auf einer völlig anderen Basis gegeben ist. Unsere Steuerdeckungsquote im Haushalt 1994 betrug 26 %, unsere Steuerdeckungsquote nach dem Solidarpakt im Haushalt 1995 46 %. ({4}) Unsere Neuverschuldung im Jahre 1994 betrug 24 %, unsere Verschuldung im Haushalt 1995 wird 7,7 % betragen. ({5}) Um die konkreten Auswirkungen des Solidarpaktes zu sehen: Es muß von uns allerdings auch gesagt werden, die im Haushalt 1995 des Bundes vorgesehene Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre kann nicht unsere Zustimmung finden. ({6}) Diese Frage war Teil des Verhandlungspakets beim Solidarpakt. Wir sind nicht damit einverstanden, das, was wir damals einvernehmlich zum Schluß beschlossen haben, jetzt in einzelnen Stücken noch einmal nachserviert zu bekommen. Hier widersprechen wir. Es gibt, meine Damen und Herren, erhebliche regionale Unterschiede in der wirtschaftlichen EntMinisterpräsident Dr. Bernhard Vogel ({7}) wicklung in den neuen Ländern insgesamt und auch in den einzelnen Ländern. Sie sind vor allem auf die mangelhafte Verkehrsinfrastruktur zurückzuführen. Nur durch den zügigen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur werden wir gleichwertige Lebensbedingungen wirklich erreichen. Es ist ein großer Fortschritt, daß nahezu alle künstlich gerissenen Lücken bei Bahn und Straße zwischen den alten und neuen Ländern inzwischen geschlossen sind oder sich das Schließen im Bau befindet. Aber entscheidend ist für uns, daß die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit" verwirklicht werden. ({8}) Meine Damen und Herren, wer Arbeitsplätze in den jungen Ländern schaffen will, muß Straßen und Schienen ausbauen. Deswegen sind die Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat hierzu für uns eine Lebensfrage. Sie müssen bei der Südharz-Autobahn, bei der Bahnverbindung Mitte Deutschland und auch bei der Autobahn von Nürnberg über Erfurt nach Magdeburg durchgeführt werden. ({9}) Wer uns wirklich helfen will, darf uns diese Hilfe nicht versagen. Ich habe vorhin gesagt: Die Grundlagen sind geschaffen. Vieles ist auf den Weg gebracht. Nach den Aussagen aller Umfrageinstitute, die ich zu diesem Punkt kenne, sagen zwei Drittel der Thüringer und Thüringerinnen, daß sie ihre persönliche Situation und ihre wirtschaftlichen Zukunftsaussichten positiv bewerten. Wie Herr Klose heute früh zu der Beurteilung kommen kann, es herrsche eine miese Stimmung, ist mir völlig unklar und unverständlich. Er muß Herrn Scharping auf der vorhin zitierten Fahrt begleitet haben. ({10}) Nur, meine Damen und Herren, trotz dieser Aussage ist dies für mich kein Grund zur Zufriedenheit, sondern im Gegenteil Anlaß, uns um die Benachteiligten mehr als bisher zu kümmern, die Sorgen und Ängste vor allem der Generation zwischen 50 und 60 und der arbeitslosen Frauen noch ernster zu nehmen und zu begreifen und hier auch deutlich auszusprechen: Es gibt noch immer viele Menschen, die an dem in Gang gekommenen Aufschwung bisher nicht teilnehmen. Sie müssen unser Wollen spüren, daß diese Entwicklung für alle gilt und eben nicht nur für die, die der Aufschwung schon erreicht hat. Das heißt, Wesentliches bleibt noch zu tun, die Aufgaben sind noch lange nicht gelöst. Oder es kann auch so ausgedrückt werden: Es ist wie beim Hausbau. Wenn man einen guten Architekten hat, braucht man ein Drittel der Zeit zur Errichtung des Rohbaus und zwei Drittel der Zeit zum Ausbau. Der neue Rohbau ist ganz fraglos errichtet. Beim Ausbau ist noch viel zu tun. Wir haben keinen Grund, die Schwierigkeiten, die noch vor uns liegen, geringzuachten; aber wir haben auch keinen Grund, uns von ihnen überwältigen zu lassen. ({11}) Wir haben Schwierigeres gemeistert, als noch zu meistern ist. Zu den Schwierigkeiten, die wir zu bewältigen haben, gehört auch unsere eigene Vergangenheit. Bei der Diskussion, die in den jungen Ländern in diesem Zusammenhang geführt wird, möchte ich uns, die wir hier leben konnten, Zurückhaltung empfehlen. Ich möchte denen, die eine solche Situation nicht erleben mußten, empfehlen, vorsichtig mit vorschnellen Urteilen zu sein. Ich jedenfalls versuche, mich zurückzuhalten, und ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich nicht in Göttingen, sondern 15 Kilometer weiter östlich geboren wäre. Es war jedenfalls sehr viel leichter, auf höchster Ebene mit den SED-Funktionären zu verhandeln, als vor Ort in Greiz oder Altenburg zu entscheiden, was man wegen der Berufschancen seines Sohnes oder seiner Tochter an Kompromissen eingeht oder nicht. ({12}) Meine Damen und Herren, der verehrte Herr Kollege Lafontaine, die Wunderwaffe aus dem Musterland Westdeutschlands, ({13}) hat gestern einen richtigen Satz gesagt. ({14}) - Ja, einen will ich zitieren. Er hat davon gesprochen, wenn man die Telefonhäuschen sehe, dann solle man an Helmut Kohl denken. - Meine Damen und Herren, das tun die Leute bei uns; denn erst seit Helmut Kohl mit die Wiedervereinigung herbeigeführt hat, gibt es die Telefonhäuschen. ({15}) Und das ist sehr viel wichtiger als die anderen Fragen. Aber er hat darüber hinaus gestern die Ost-CDU in Mitverantwortung für den Mauerbau genommen. ({16}) Verehrter Herr Kollege Lafontaine: Das geht nicht! Wer das tut - heute zu lesen auch in den Zeitungen -, verrät völlige Unkenntnis hinsichtlich der Lebenssituation der Menschen zur Zeit der DDR, und er verrät noch größere Unkenntnis hinsichtlich der heutigen Lebenssituation dieser Menschen. ({17}) Ich möchte ihn einladen, einmal ohne Fernsehkamera und Öffentlichkeit zu kommen, um mit mir einen Kreisverband zu besuchen, der sich neu konstituiert hat, wo 40 % nach der Wende eingetreten sind, wo 10 oder mehr Prozent aus dem Demokratischen Aufbruch stammen oder woanders herkommen, wo allerdings auch Mitglieder sind, die seit 10, 20 Jahren und länger der Ost-CDU angehört haben. ({18}) - Sie sollten bitte zuhören, sonst müssen Sie hinterher noch einmal nachfragen. ({19}) Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({20}) - Entschuldigen Sie, Frau Fuchs, es gibt gelegentlich Themen, bei denen man nicht nach parlamentarischem Brauch verfahren sollte. Es mag ja sein, daß es Verbindungen gab, daß da einer war, der gemeinsame Sache mit der SED gemacht hat. Das mag ja sein. Genauso wie leider nicht alle Sozialdemokraten gezwungen werden mußten, sich mit der SED zwangsvereinigen zu lassen. ({21}) Es gab auch dort, meine Damen und Herren, natürlich den einen oder anderen, der leider viel zu früh gemeinsame Sache gemacht hat. ({22}) Nur, meine Damen und Herren, darum geht es doch gar nicht ({23}) in der Debatte, die wir jetzt führen. Es geht doch nicht um das Fehlverhalten einzelner gegenüber vielen, die durchgehalten haben, sondern es geht darum, wie wir es beurteilen, daß es wieder eine Partei gibt, die sich ganz ausdrücklich zur Nachfolgepartei der SED erklärt und deren heutiges Programm für die Zukunft an Lenin und der Oktoberrevolution festhält. Es geht darum, meine Damen und Herren, ({24}) daß es wieder eine Partei gibt, die aus der Geschichte nichts gelernt hat. Wer diese Unterscheidung zwischen der Frage, wie sich der einzelne verhalten hat, und der heutigen Kaderpartei der PDS nicht macht, der wird dem, was sich zur Zeit in der Bundesrepublik vollzieht, nicht gerecht. Meine Damen und Herren, es geht doch nicht um gegenseitige Vorwürfe, um das Nachrechnen, ob es irgendwo in irgendeiner Ecke Deutschlands irgendeinen Bürgermeister gibt, der so oder so gewählt worden ist, sondern es geht um die Einsicht, daß wir Grund haben, ein bißchen stolz darauf zu sein, daß es in der alten Bundesrepublik Bürgerinnen und Bürger gab und gibt, die die beste deutsche Verfassung, daß Grundgesetz, niedergeschrieben und sie 40 Jahre gelebt haben. Es geht darum, daß es Anlaß gibt, stolz darauf zu sein, daß in der DDR deutsche Bürgerinnen und Bürger lebten, die die erste friedliche und erfolgreiche demokratische Revolution in Deutschland zustande gebracht haben. ({25}) Meine Damen und Herren, es geht darum, daß wir zu diesem Punkt uns unserer Vergangenheit nicht zu schämen brauchen - weder der Vergangenheit in der ehemaligen DDR noch der Vergangenheit in der alten Bundesrepublik. Es wäre, glaube ich, sehr viel besser, wenn wir uns darauf verständigen könnten, daß im Westen viel Hilfe und im Osten ungeheure Kraftanstrengung war und ist, und daß im Westen viel Aufbauarbeit geleistet worden ist und damit ein Leuchtturm errichtet war, an dem sich viele orientiert haben, daß sich aber im Osten die Menschen die Freiheit bewahrt haben, auf die Straßen zu gehen, sobald das möglich war. Wenn man das bedenkt, dann muß man, glaube ich, ein bißchen vorsichtig sein, allzu kleinkariert Debatten und Auseinandersetzungen mitunter da und dort anzulegen. Ich glaube, von dieser Situation aus ist es auch verständlich, daß etwa gerade dieser Tage Michail Gorbatschow bei seinem Besuch in Thüringen die Leute fragte: Was sagt Ihr denn jetzt? Habe ich das richtig gemacht mit der Wiedervereinigung damals? Sie haben alle gesagt: Selbstverständlich. ({26}) Zu Tausenden haben sie es gesagt. Meine Damen und Herren, das ist die Grundlage, auf der wir diesen Aufbau betreiben, wofür wir aber noch sehr viel Hilfe brauchen. Ich schließe noch einen Dank an, der mit diesem Thema nichts zu tun hat. Ich möchte mich beim Deutschen Bundestag für die Zustimmung zur Grundgesetzänderung gestern bedanken. Wir erfüllen damit die Zusage des Einigungsvertrags, und wir vermeiden einen Konflikt zwischen Bundestag und Bundesrat. ({27}) Ich möchte mich ausdrücklich für die Zustimmung zum Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz bedanken, ({28}) und zwar - sehen Sie mir das bitte nach - vor allem wegen der Vertriebenen-Zuwendungsregelung. ({29}) Wir können den Vertriebenen nicht ihre Verluste ausgleichen, aber wir setzen jetzt wenigstens ein kleines Zeichen. Ich bedanke mich ausdrücklich, daß es gelungen ist, daß dieser Bundestag dieses Zeichen noch setzt. Herzlichen Dank dafür. ({30})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich erteile nunmehr der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Frau Dr. Angela Merkel, das Wort.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lafontaine hat uns hier in zwei Tagen immer wieder verdeutlicht, daß er 1990 alles gewußt hat über die Schwierigkeiten, über die Probleme, die es im Zusammenhang mit der deutschen Einheit gegeben hat. Aber ich sage: Wir haben damals im Osten gemerkt, daß Herrn Lafontaine die deutsche Einheit nicht paßt. Es gab in den alten Bundesländern Diskussionen - und ich nehme das gar niemandem übel - über ganz andere Probleme, über die Fragen der Freizeitgesellschaft, die Herrn Lafontaine damals sehr beschäftigt haben, und es paßte ihm nicht. Das haben die Menschen in den neuen Bundesländern, in der damaligen DDR, gemerkt, und deshalb hat die SPD keine Mehrheiten bekommen, als es um die Bundestagswahl ging. ({0}) Ich sage Ihnen: Wenn Sie heute mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fahren - manche von Ihnen scheinen das ja gar nicht zu tun -, dann werden Sie sehen, daß wir in schwierigen Zeiten des Umbruchs Unglaubliches geschafft haben. Und ich sage Ihnen noch etwas dazu: Wir haben dieses dank der Hilfe aus den alten Bundesländern geschafft, wir haben es aber vor allen Dingen auch geschafft, weil wir als CDU daran geglaubt haben, daß die Menschen Mut, Initiative, Tatkraft haben, und weil wir ihnen geholfen haben, diese in Taten umzusetzen. ({1}) Das hat dazu geführt, daß wir nicht nur die alten Wege der alten Bundesrepublik in den neuen Ländern gegangen sind, sondern daß wir neue Wege beschritten haben. Ansonsten hätten wir heute keine Straßen, hätten wir keine Autobahnspatenstiche und vieles andere mehr auch noch nicht, und wir werden in den nächsten Jahren zeigen, daß wir auch in ganz anderen Bereichen neue Wege gehen, sei es bei der Privatisierung im kommunalen Bereich oder bei vielem anderen mehr. ({2}) Darauf können die Menschen in den neuen Bundesländern - ich zumindest bin es - stolz sein, darauf, inzwischen zu wissen: Wir können viele Dinge alleine, und wir können einen Beitrag zu dem vereinigten Deutschland leisten, so daß es ein neues Land wird, ein bereichertes Land, und wir sind dankbar, aber gleichzeitig auch stolz auf das, was wir geschafft haben. ({3}) Meine Damen und Herren, nun hat Herr Scharping uns heute vorgeworfen, wir würden die eigentlichen Probleme der Menschen nicht kennen. Ich muß Ihnen sagen, als Frauen- und Jugendministerin kenne ich die Probleme und die Freuden junger Menschen und von Frauen. Es gehört für mich zu den schönsten Erlebnissen, wenn ich Jugendliche bei der Eröffnung eines Jugendclubs treffe und sie mir sagen, heutzutage müsse man sich ja um alles selber kümmern, aber wenn man es dann täte, hätte man direkt auch Erfolg. Das ist es, was für mich freiheitliche Gestaltung des eigenen Lebens bedeutet - sich mühen dürfen, nicht immer reglementiert werden, keine Übermacht des Staates, sondern ein Ansporn dazu, die eigenen Möglichkeiten zu entfalten. ({4}) Das, meine Damen und Herren, haben wir geschafft, und ich weiß sehr wohl, daß dies noch nicht für alle Menschen in den neuen Bundesländern gilt, aber die vielen Beispiele, wo es uns gelungen ist, werden der Ansporn und der Katalysator dafür sein, daß es uns für mehr und mehr gelingt und wir eine gerechte Gesellschaft in den neuen Bundesländern aufbauen können. ({5}) Meine Damen und Herren, ich sage dies ganz besonders in Richtung der Ministerpräsidenten aus den alten Bundesländern, die uns gestern und heute mit ihren Worten beehrt haben. Begleiten Sie doch einmal Herrn Stolpe, wenn er Wahlkampf in Brandenburg macht! Da werden Sie merken, daß er unsere Methoden genau anwendet. Er weiß, daß er die Menschen ermutigen muß und durch Panikmache und das Schüren von Angst überhaupt nichts erreicht, ({6}) und deshalb sage ich nur: Begleiten Sie ihn, dann werden Sie es sehen. Ich sage Ihnen auch: Allerdings erwarten wir - und das erwarten die Menschen in den neuen Bundesländern ganz besonders -, daß wir mit einer Zunge in Ost und West sprechen. Das fehlt uns bei der SPD an vielen Stellen ganz immens. Ein Beispiel sage ich Ihnen sofort, Frau Matthäus-Maier. Der Truppenübungsplatz in Wittstock soll beibehalten werden, und zwar als Tiefflugübungsplatz. Das Land Brandenburg bringt dagegen einen entsprechenden Antrag im Bundesrat ein. Dieser Antrag wird abgelehnt mit der Mehrheit der Länder und unter anderem vom Ministerpräsidenten Scharping aus Rheinland-Pfalz. Richtig sagen wir als CDU, denn wir brauchen auch Truppenübungsplätze im Osten. Herr Scharping ist jetzt im Sommer auf Wahlkampftour in Wittstock und natürlich auf der Seite der Demonstranten, die sich gegen den Bundesverteidigungsminister wehren. Herr Scharping ermutigt dort diese Demonstranten und sagt, wehrt euch gegen den Bundesverteidigungsminister, wählt mich, und anschließend werdet ihr sehen, werden wir keinen Truppenübungsplatz in Wittstock haben. So genau macht man die Einheit nicht, im Westen so, im Osten so, scheinbar immer auf der Seite der Menschen, aber mit verschiedenen Zungen. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Ministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Matthäus-Maier zu beantworten?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Ja, bin ich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Abgeordnete, bitte schön.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundesministerin, haben sie in dieser Sache einmal ganz persönlich Rudolf Scharping angesprochen? Denn ich will Ihnen sagen, warum ich diese Frage stelle. Es gibt auch Dinge, wo wir uns als Sozialdemokraten ärgern, daß Rheinland-Pfalz im Bundesrat anders abstimmt, als wir es möchten. ({0}) - Ja, langsam. - Die Nachfragen haben dann immer ergeben: Das ist das politische Geschäft; RheinlandPfalz hat eine Koalitionsregierung, und - das wissen sie ganz genau aus Berlin und aus anderen Ländern, wo Sie regieren - in einer Koalitionsklausel steht, daß der Koalitionspartner, wenn etwas streitig ist, darauf beharren darf, das dann im Bundesrat nicht anders abgestimmt wird. - Ich sehe, daß ein Kollege nickt. Wir sollten fair miteinander umgehen und sagen: In allen Koalitionsregierungen gibt es solche Absprachen. Deshalb meine Frage an Sie: Haben Sie ihn einfach mal persönlich gefragt, ob das nicht der Hintergrund ist?

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Darum geht es überhaupt nicht, ob ich ihn gefragt habe. Ich sage Ihnen, hier sind Vorwürfe erhoben worden. Da ist nicht einer von uns gefragt worden. Darm soll man doch nicht so tun, als würde über alles, was hier in den letzten zwei Tagen besprochen wurde, nun jeweils der andere befragt. Ich sage Ihnen nur: Rheinland-Pfalz hat gegen die Aufhebung dieses Truppenübungsplatzes gestimmt. So wie Sie tagelang und immer den Herrn Bundeskanzler von der Geburtenrate bis sonstwohin für alles verantwortlich machen, mache ich Herrn Scharping wenigstens für das Abstimmungsverhalten in seinem Lande verantwortlich. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Ministerin, der Abgeordnete Brecht möchte auch eine Frage stellen. Herr Abgeordneter, ich möchte Sie allerdings bitten, nicht wie die Vorgängerin das gleich zu einer Kurzintervention ausarten zu lassen. Bitte sehr.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, wenn Sie so vehement die Gleichheit im vereinigten Deutschland einklagen, ist Ihnen eigentlich bekannt, wie sich die Zahl der Truppenübungsplätze und der Standorte zwischen Ost und West verteilt? Und ist Ihnen klar, daß z. B. bei den Standorten der Osten Deutschlands wesentlich schlechter wegkommt als der Westen Deutschlands? ({0})

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Also, ich spreche jetzt über das, wovon ich Kenntnis habe. Da kann ich nur sagen: In Mecklenburg-Vorpommern ist die Bundeswehr der größte Arbeitgeber nach dem öffentlichen Dienst. Der Bundesverteidigungsminister wird acht Marinetechnikschulen im Westen schließen, um eine in Mecklenburg-Vorpommern zu eröffnen. ({0}) - Wir haben acht Marinetechnikschulen im Westen. So ist es. Da können Sie lachen, Sie können es auch sein lassen. Machen Sie sich kundig. Ich sage Ihnen nur: Das ist die Armee der Einheit, die auch aus dem Westen Einheiten abzieht, die für uns von Nutzen sind. Deshalb sind wir zufrieden in Mecklenburg-Vorpommern, und die anderen Dinge können wir dann klären. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Schulte, die Ministerin hat mir signalisiert, weitere Fragen wolle sie nicht beantworten. Ich möchte ein bißchen an das Haus appellieren, sich zurückzuhalten. Wir sind in der Zeit so, daß es sehr, sehr spät wird. Und der Herr Finanzminister wird erneut gebeten, seine Zwischenrufe vom Abgeordnetenplatz aus zu machen.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Ich möchte jetzt gerne noch auf ein anderes Thema kommen, das in den letzten Tagen hier eine Rolle gespielt hat. Und zwar, daß Sie als Sozialdemokraten in der gesamten Debatte immer wieder leugnen, daß es bei Ihnen eine Zusammenarbeit, und zwar auf hoher Ebene, mit der PDS gibt. Ich muß Ihnen entgegnen: Als erstes sind Sie dabei, uns dafür verantwortlich zu machen, welche Stimmenergebnisse die PDS hat. Ich frage Sie einmal: Wie erklären Sie sich dann - Frau Fuchs, wenn Sie mir eine Sekunde zuhören würden - die hohen Stimmenergebnisse der PDS bei den Kommunalwahlen in Brandenburg? Bei einer tollen Landesregierung und bei der kommunalen Selbstverwaltung, an die Sie wohl mindestens so sehr glauben werden wie ich, kann doch nicht alles Schuld des Bundes sein, daß es doch immer noch Menschen gibt, die bei so hervorragenden Persönlichkeiten nicht von den kommunalpolitischen und landespolitischen Fähigkeiten der SPD überzeugt wären. Ich sage Ihnen deshalb: Lassen Sie doch das Gerede, als seien wir auch noch für die Ergebnisse zuständig, die Oppositionsparteien erzielen! Fragen Sie sich statt dessen einmal, ob Sie ein richtiges Bild von der Lage in den neuen Bundesländern malen, von dem sich die Menschen angesprochen fühlen, auch die Menschen, die heute noch nicht klarkommen. Diese Frage sollten Sie sich redlicherweise einmal stellen. Was hat der Landesvorsitzende der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, Herr Ringstorff, der immerhin noch Parteiratsvorsitzender ist, gesagt? ({0}) - Herr Ringstorff, der immerhin heute erst einmal Parteiratsvorsitzender der SPD ist - das ist doch ein relativ hoher Posten -, sagt: Es geht eigentlich nur um eines: konservative Mehrheiten brechen, und zwar egal, mit wem. ({1}) - Warten Sie ab! Er sagte nämlich weiter: Wir haben ja mehr Berührungspunkte mit der PDS in vielen Fragen, insbesondere der Sozialpolitik, als mit den Konservativen. Wenn sich die PDS von ihrer „KommuBundesministerin Dr. Angela Merkel nistischen Plattform" etwas befreien würde, würden der Zusammenarbeit eigentlich überhaupt keine Hindernisse mehr im Wege stehen. Auf diese Weise haben wir in unserem Land vier Landräte und einen Oberbürgermeister von der SPD, die in Personalabsprachen mit der PDS gewählt wurden, und zwar so, daß die PDS jeweils einen Posten abbekommen hat, nämlich den Posten des Kreistagspräsidenten. ({2}) Das können Sie überhaupt nicht abstreiten. Das Ganze hat seine Fortsetzung gefunden in SachsenAnhalt, wo Sie Herrn Höppner überhaupt erst mit den Stimmen der PDS ins Amt bekommen haben. ({3}) - Frau Matthäus-Maier, Sie schreien immer so, und es wird davon nicht wahrer. Es ist so, wie ich es Ihnen sage. ({4}) Jetzt sage ich Ihnen noch folgendes. Sie versuchen, den Angriff abzuwehren, indem Sie in infamer Weise die Zeit der früheren Ost-CDU hervorzerren und so tun, als hätte die CDU damals etwas in markanter Weise zu sagen gehabt. Nun erkläre ich Ihnen: Ich habe zu denen gehört, die die Aufarbeitung der Vergangenheit auch der CDU in der früheren DDR mit vorangetrieben haben, vom Dresdner Parteitag über die Weimarer Erklärung. Wir haben das bei uns in intensiver Weise gemacht, und ich würde nie behaupten, daß der Prozeß abgeschlossen ist. Es ist doch geradezu abwegig, heute mit irgendwelchen alten Grußbotschaften zu argumentieren. Gehen Sie doch bitte auf den nächsten Gewerkschaftstag und versuchen Sie, dort bei dem DGB-Vorsitzenden und anderen Funktionsträgern auch Grußbotschaften herauszuholen! Ich könnte Ihnen dann auch noch meine Marxismus-Leninismus-Arbeit zeigen - ich habe sie leider nicht mehr -, und ich sage Ihnen: Wenn Sie in der früheren DDR gelebt hätten, hätten Sie solche Sachen auch verfaßt. Heute geht es doch darum, wie und auf welcher Grundlage wir die Zukunft gestalten wollen. ({5}) - Warten Sie ab! Es geht heute darum: Auf welcher Grundlage wollen wir die Zukunft gestalten? Für mich aber ist eine Partei, die sagt, sie ist alles, aber auf keinen Fall antikommunistisch, einfach auf dem Holzweg, weil sie keine Lehren aus der Geschichte gezogen hat. ({6}) Wenn Sie da nicht zustimmen, frage ich Sie wirklich, ob Sie nicht auch auf dem Holzweg sind. Deshalb zum Abschluß meine dringende Bitte an Sie: Lassen Sie uns das Schicksal und das Leben der Menschen in der früheren DDR ganz ruhig betrachten und aufarbeiten. Aber lassen Sie bitte nicht zu, daß Parteien, die sich heute wieder mit dem Kommunismus brüsten, an die Macht und in die Verantwortung kommen! Das setzt das Schicksal der gesamten Bundesrepublik aufs Spiel. Dieser Überzeugung bin ich, und es wäre traurig, wenn Sie nicht der gleichen Überzeugung wären. Herzlichen Dank! ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte findet statt inmitten einer gefährlichen, einer geradezu beängstigenden Entwicklung. Als wir im Januar 1987 in den 11. Deutschen Bundestag kamen, hätte niemand von uns auch nur im geringsten gedacht, daß es wenige Jahre später nicht mehr die Systemkonfrontation und nicht mehr die Sowjetunion, dafür aber ein wiedervereinigtes Deutschland geben würde. Heute, vielleicht gerade die Zahl von Jahren weiter, die es erlaubt, ein erstes, halbwegs fundiertes Urteil über die danach folgende Entwicklung abzugeben, muß man sagen: Was ein allgemeines freudiges, befreiendes Umbruchserlebnis hätte werden können, ist in vielen Aspekten und für Millionen von Menschen vor allem auch zur Quelle von Angst und Not geworden. Insbesondere die in Westdeutschland bereits vorher vorhanden gewesenen sozialen Widersprüche sind noch schärfer geworden. Zu dem Millionenheer der Arbeitslosen in Westdeutschland ist ein relativ noch größeres derartiges Millionenheer im Osten Deutschlands hinzugekommen. Der Wiedervereinigungsboom am Ende einer ungewöhnlich langen wirtschaftlichen Aufschwungperiode hat konsequent - darauf konnte man sich einrichten - zur größten Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in der Nachkriegsgeschichte überhaupt geführt. An diesem Punkt wird bereits mindestens einer von drei großen Fehlern und Versäumnissen dieser Bundesregierung, dieser Koalition deutlich. Es war ein Fehler sondergleichen, den gewaltigen Prozeß des Zusammenführens von west- und ostdeutscher Wirtschaft so plan- und konzeptionslos, so ohne alle Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen, insbesondere was die Arbeitsplätze im Osten betrifft, vor sich gehen zu lassen, wie es diese Bundesregierung getan hat. Dies ist und wird sein - insbesondere vor dem Hintergrund der weiteren politischen Entwicklung - ein wesentlicher Bestandteil der historischen Schuld dieser Bundesregierung und der sie tragenden Kräfte. Hinzu kommt als zweiter grundlegender Fehler der auch bereits vor 1989 vor allem aus Gründen radikal marktwirtschaftlicher Ideologie betriebene Sozialabbau, der ein weiteres Millionenheer von Armen, von Obdachlosen, von Ausgegrenzten, von sozial Schwachen und Hilflosen geschaffen hat. Diese bewußte Politik hat das Land sozial gespalten wie nie zuvor. Dadurch und durch das Versagen bei der wirtschaftspolitischen Überleitung auf die Bedingungen des vereinigten Landes ist eine gefährliche und in der Zukunft womöglich geradezu brisante oder explosive Situation entstanden. Ein ökonomisch und technologisch modernes, in vielen Bereichen hochmodernes, allerdings mit riesigen überschüssigen Produktionsmöglichkeiten ausgestattetes Land ist nunmehr konfrontiert mit riesigen und sich weiter verschärfenden sozialen Widersprüchen, wobei jeweils Millionen von Menschen betroffen sind, Menschen, die das irgendwie auch politisch verarbeiten müssen. Dieses Land ist zudem konfrontiert mit gewaltigen inneren strukturellen Problemen, die mit dem hochmodernen, aber eben weit überdimensionierten Produktions- und Wirtschaftsapparat dieses Landes, der zudem inzwischen hochgradig weltweit verflochten ist, verbunden sind. Dieses Land ist auch in besonderer Weise konfrontiert mit den zwangsläufig von der modernen Produktionsweise ausgehenden Umweltschäden und Umweltgefahren. Das weiß jeder. Es ist konfrontiert mit den vielfältigen Problemen, die im Zusammenhang mit der säkularen Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft und mit der Versagung von Beteiligungsrechten in den Betrieben und in anderen Bereichen der Gesellschaft stehen. In dieser brisanten Situation, die schnell explosiv werden kann, spielt diese Bundesregierung und spielen die sie tragenden politischen Kräfte mit dem Feuer. Statt sich systematisch und konsequent der Ursachen und der Bekämpfung der unsozialen Folgen anzunehmen, beginnen sie - teils grob fahrlässig, teils politisch absichtlich und bewußt - das Spiel mit dem Feuer eines neuen Nationalismus, und das in einem Land, das bis heute nicht wirklich die Zeit des Nationalsozialismus und seiner furchtbaren Verbrechen verarbeitet hat. Das ist bereits heute der größte und folgenschwerste Fehler dieser Bundesregierung und dieser Koalition. Er ist Ausdruck einer exakt falschen und insbesondere vor der deutschen Geschichte verantwortungslosen Politik dieser Bundesregierung und dieser Koalition in einer zugegebenermaßen alles andere als leichten Situation, wie sie sich nach dem weltgeschichtlichen Umbruch der endachtziger Jahre in Europa und in Deutschland herausgebildet hat. Es besteht die Gefahr, daß Geister bereits gerufen worden sind oder weiterhin noch gerufen werden, die nicht mehr zu beherrschen sind, die nicht mehr zurückzuholen sind und die eines Tages dieses Land in neue politische und womöglich auch militärische Abenteuer führen können. Wie sagte Brecht, die deutsche Geschichte meinend, sinngemäß: Karthago war noch mächtig nach dem ersten Punischen Krieg; es war noch da nach dem zweiten; es war nicht mehr aufzufinden nach dem dritten. Die Renationalisierung der deutschen Politik, die nicht aus der extremen Rechten gekommen ist, sondern aus der deutschen konservativen Mitte, ist im Zusammenhang mit der vielleicht viel zu leicht zustande gekommenen Wiedervereinigung das Hauptproblem der weiteren politischen Entwicklung in Deutschland. Es ist ein Prozeß, der leider läuft und der, fürchte ich, gerade unsere Beziehungen zu unseren westeuropäischen Nachbarn, auf die ich auch aus persönlichen Gründen sehr, sehr viel Wert lege - in den Niederlanden, in Paris usw. ansässig -, sehr stark beeinträchtigen kann. Er hat sie schon in bestimmten Aspekten beeinträchtigt. Das will ich einmal ganz deutlich dazu sagen. Man fühlt sich in Paris heute an manchen Punkten - etwa im Zusammenhang mit den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung von Paris - geradezu stigmatisiert, wenn man sieht, daß dort an jeder Ecke französische Bürger - zum Teil ganz normale Bürger, die nicht in irgendwelchen politischen Zusammenhängen aufgefallen sind - von Deutschen hingerichtet und massakriert worden sind. Das gehört zu unserer Geschichte; das dürfen wir nicht vergessen. Wenn ich mir nun vorstelle, diese Bundesregierung und diese Koalition würden mit ihrer scheibchenweisen Restauration, mit dem Sozialabbau, mit dem Gewurstel in der Wirtschafts- und Technologiepolitik nach dem 16. Oktober 1994 vier Jahre so weitermachen können, wird mir weiter angst und bange - noch viel stärker. ({0}) Sich vorzustellen, es würde vier Jahre in der Haushaltspolitik und im Haushaltsausschuß - das habe ich vier Jahre erlebt - so weitergehen wie in den abgelaufenen vier Jahren, reicht schon, um weitere gehörige Angst zu erzeugen. Aber, gerade auch nach dieser Debatte - das kann ich zum Schluß, glaube ich, anmerken - gilt: Wenn in der Politik und bei Wahlentscheidungen Rationalität und Problemorientierung den Ausschlag geben, wird es dazu nicht kommen. Es könnte allerdings sein, daß die Situation im Osten, an der diese Bundesregierung ein gerüttelt Maß an Schuld trägt, ein Wahlergebnis bringt, das eine Ablösung dieser Bundesregierung und dieser Koalition verhindert. Jedem und jeder muß klar sein, daß eine Konstellation wie in Sachsen-Anhalt bundesweit von den Beteiligten nicht gewollt wird, nicht hingenommen würde und deshalb auch nicht praktiziert werden kann. Der Westen ist in diesem Punkt entscheidend anders als der Osten. Herr Präsident, ich komme zum Schluß.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ja, das ist auch nötig.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat es die Wahlbevölkerung am 16. Oktober in der Hand, z. B. durch eine hohe Wahlbeteiligung und durch gezieltes Splitten von Erst- und Zweitstimme - das gilt vor allem für den Osten, und zwar in dem Zusammenhang, den ich jetzt angesprochen habe - den weiteren Marsch in neoautoritäre Verhältnisse zu verhindern. Herr Präsident, ich danke Ihnen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Rudolf Krause ({0}). ({1})

Dr. Rudolf Karl Krause (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001205, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsche Politik war und muß eine auf alle Deutschen auf dieser Welt ausgerichtete Politik bleiben. Der Staat ist die nationale Solidargemeinschaft. Gerade in den vier Jahren nach der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes funktioniert diese nationale Solidargemeinschaft. Es wäre unredlich, etwas anderes zu sagen als Dank den deutschen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die durch ihre fleißige Arbeit, durch ihre Sozialleistungen ermöglichen, daß für die Rentner in den neuen Ländern, daß für die Vorruheständler, daß für die Kranken diese Solidargemeinschaft funktioniert. Es muß Ziel der Politik sein, daß der deutsche Arbeitgeber und der deutsche Arbeitnehmer auch in der Zukunft in der Lage sein werden, diese Sozialleistungen zu bezahlen. Meine Schwiegereltern gehören zu denen, die als ganz normale Bürger der DDR zum Teil bis zum 70. Lebensjahr gearbeitet haben. Zusammen bekommen sie jetzt eine Rente von 3 000 DM. Sie haben ein schuldenfreies Haus. Sie leben materiell und auch sonst glücklich und zufrieden. Damit teilen sie das Los vieler in den neuen Ländern, die ein Leben lang gearbeitet haben. Ob es richtig ist oder nicht, lasse ich dahingestellt: Aber es war möglich - dazu habe auch ich beigetragen -, daß alle, die in der LPG gearbeitet haben, beim Rentenrecht wie Arbeiter und Angestellte behandelt wurden. Es gibt heute Ehepaare auf dem Lande, die 2 500 bis 3 200 DM Rente erhalten, die ihr Land schuldenfrei aus der LPG herausbekommen haben, die den Sozialismus dadurch besser überlebt haben als viele Bauern in Westdeutschland die EG. Diese Ehepaare verfügen jetzt über das Vierfache an Haushaltsnettoeinkommen im Monat gegenüber denjenigen, die 8 km weiter hinter der niedersächsischen Grenze wohnen. Ich sage das mit der Pflicht zur Dankbarkeit. Letztendlich ermöglicht der, der deutsche Waren und Dienstleistungen kauft, daß die Sozialbeiträge gezahlt werden. Ich sage das auch mahnend für die Zukunft: Wir müssen in einer nationalen Verantwortung bleiben, wenn der Staat als nationale Solidargemeinschaft weiterhin bezahlbar bleiben soll. Ich will in meiner Rede heute aber auch noch etwas anderes sagen. Wir in der ehemaligen DDR haben deutschlandpolitische Debatten im Fernsehen, im Deutschlandfunk als Höhepunkte empfunden. Wir haben an den Sendern geklebt, wir haben auf jedes Wort gelauscht, das sich mit uns Deutschen in der damaligen DDR beschäftigt hat. Jeder einzelne war sich als Angehöriger des deutschen Volkes ständig bewußt, daß wir potentiell auch Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland sein könnten, was wir dann auch geworden sind. Was heißt das aber in der jetzigen Verantwortung? Genauso wie wir uns als Angehörige des deutschen Volkes gefühlt haben und auch fühlen konnten, muß sich diese und auch jede zukünftige deutsche Regierung für alle Deutschen auf dieser Welt verantwortlich fühlen, so wie es 40 Jahre eine Verantwortung für die Deutschen in der ehemaligen DDR gab. Ich hatte in den letzten Jahren die Gelegenheit, in einigen anderen Ländern zu sein und dort mit Deutschen zu sprechen. Es sind ganz unterschiedliche Erwartungen, es sind ganz unterschiedliche Bedingungen, es sind ganz unterschiedliche Wünsche, und es sind ganz unterschiedliche Sorgen und Nöte, für die sich auch in Zukunft die Regierung eines starken, freien, demokratischen Deutschland verantwortlich fühlen muß. Am wichtigsten ist das wohl für die Deutschen in der Sowjetunion. Ich denke da vor allem an die Deutschen in Mittelasien. Es kann dort sehr schnell zu Verhältnissen kommen, wie sie jetzt in Bosnien sind. Es besteht eine akute Bürgerkriegsgefahr, und es ist notwendig, jeden Deutschen, der das möchte, aus diesem Krisengebiet herauskommen zu lassen und ihm hier wieder eine Heimstatt zu geben. Eine ganz andere Frage ist es mit den Deutschen in der Slowakei. Sie wohnen dort seit Jahrhunderten, sie wollen dort auch wohnen bleiben. Aber noch immer gelten dort die Benes-Dekrete, die völkerrechtswidrig waren und Nachkriegsunrecht und Kriegsverbrechen darstellten, auch wenn sie damals von einer demokratisch gewählten Regierung erlassen wurden. Ich würde also ganz intensiv jede Regierung in Deutschland darum bitten, hier Unrecht zu beseitigen, auch soweit es vor 1939 in Polen und nach 1945 in anderen europäischen Ländern aufgetreten ist. Zu den Deutschen in Südafrika, Südwestafrika, Südamerika, Mittelamerika: Hier gibt es wieder eine andere Situation, für die wir uns aber auch verantwortlich fühlen müssen. ({0}) - Das hat man auch gesagt, als es um die Deutschen in der DDR ging, und das haben diejenigen gesagt, die bei Erich Honecker auf dem roten Teppich Schlange standen. Wir haben Verantwortung für alle Deutschen in dieser Welt! Es ist notwendig, daß bei den wirtschaftlichen Umbrüchen Deutsche in der ganzen Welt eine Solidarität, auch eine kommerzielle Solidarität, entwickeln, die in anderen Nationen dieser Erde vorbildlich funktioniert; ich sage ausdrücklich: vorbildlich funktioniert. Wenn ich z. B. an die deutsche Gruppe in DeutschSüdwest, jetzt Namibia, denke: Sie erwartet von uns nicht nur, daß wir Kulturaustausch betreiben, vielleicht sogar auch nach wie vor bezahlen. Zur Zeit ist es so, daß nur kulturelle und kirchliche Bindungen die tragenden Elemente der Verbindung sind. Es muß dazu kommen, daß diejenigen, die im Ersten und im Zweiten Weltkrieg unschuldig interniert waren, weil sie Deutsche waren, jetzt auch in die Solidargemeinschaft hineingenommen werden. Dr. Rudolf Karl Krause ({1}) Das meine ich vor allem auch, was den Handel angeht. Es gibt durchaus die Möglichkeit, nicht Geld zu zahlen, was bei der gegenwärtigen Haushaltslage die deutschen Steuerzahler und damit die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft noch mehr belasten würde. Nein, man kann Bedingungen schaffen, daß Waren aus Betrieben, in denen Deutsche arbeiten, die von deutschen Unternehmern geleitet werden, gewisse Präferenzen auf dem deutschen und auf dem europäischen Markt erhalten. Man kann eine Solidargemeinschaft wiederherstellen, wie sie bis 1914 bestanden hat, wie sie uns aber auch andere Nationen dieser Erde vorbildlich vorleben. Ich wünsche mir, daß auch zukünftige Bundestage immer wieder Gelegenheit finden, sich der Aufgabe, Interessenvertreter aller Deutschen auf dieser Erde zu sein, würdig zu erweisen. Ich danke für die Aufmerksamkeit.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren! Ich möchte diesen Komplex jetzt abschließen. Dazu brauche ich vorher noch Ihre Zustimmung, daß ich die Reden des Bundesministers Carl-Dieter Spranger zum Haushalt des Entwicklungshilfeministeriums und des Bundesministers Volker Rühe zum Verteidigungshaushalt zu Protokoll nehmen darf.*) Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. - Dann wird das so geschehen. Bevor wir zur Sozialpolitik kommen, muß ich noch einige Abstimmungen vornehmen. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß die Tagesordnung um den Zusatzpunkt 15 erweitert wird: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs zur Änderung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes und Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Bericht der Bundesregierung über die Behandlung von Lebensmitteln mit ionisierenden Strahlen. Diese Vorlagen sollen ohne Aussprache behandelt werden, allerdings macht der Abgeordnete Dr. Seifert von seinem Recht Gebrauch, zur Abstimmung etwas zu sagen. Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf: a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes - Drucksache 12/8408 - b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Behandlung von Lebensmitteln mit ionisierenden Strahlen - Drucksachen 11/7574, 12/8439 - Herr Dr. Seifert, Sie haben das Wort. *) Anlage 2

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn heute eine Änderung des Wohngeldsondergesetzes beschlossen wird - ich kann jetzt schon sagen, daß wir dem zustimmen werden, weil wir natürlich nicht dagegen sind, daß zumindest zeitweilig den Menschen dort eine Entlastung zuteil wird -, zeigt das zunächst einmal, daß die Regierung, wenn sie will, sehr schnell etwas Positives tun kann. Meistens will sie es nicht. Es zeigt aber auch, daß die Salamitaktik fortgesetzt wird, daß den Menschen immer nur so viel Luft gelassen wird, daß sie gerade nicht ersticken. Sinnvoll wäre es, diese Regelung bis mindestens Ende 1996 festzulegen und in der Zwischenzeit durch einen Mietenstopp dafür zu sorgen, daß Ruhe auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt eintritt und daß in der Zwischenzeit Konzeptionen erarbeitet und umgesetzt werden können, die wirklich ein gesamtdeutsches und gerechtes Mietsystem in Kraft setzen können. ({0}) Für die jetzt zu verabschiedende Wohngeldsonderregelung wäre es allerdings wichtig gewesen, daß nicht nur die Heizkosten weiterhin anteilig berücksichtigt werden, sondern daß auch die Wohngeldtabellen erweitert würden und daß Freibeträge für Menschen mit Behinderungen und Alleinerziehende analog dem Wohngeldgesetz West eingeführt würden. Bedauerlicherweise ist das nicht der Fall. Trotzdem werden wir uns, wie gesagt, der Zustimmung nicht verweigern, weil es einige Vorteile enthält, die wir gerne haben wollen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich stelle den Entwurf zur Änderung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes in der Ausschußfassung zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung auf der Drucksache 12/8454 zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist das Gesetz in zweiter Lesung einstimmig angenommen. Wer dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung einstimmig angenommen. Ich lasse jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Bericht der Bundesregierung über die Behandlung von Lebensmitteln mit ionisierenden Strahlen abstimmen. Wer stimmt der Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/8439 zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung von PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen. Meine Damen und Herren, im Rahmen der Haushaltsdebatte rufe ich nunmehr den Bereich Sozialpolitik auf. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine DebattenVizepräsident Dieter-Julius Cronenberg zeit von ca. drei Stunden vor. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. Ich erteile zunächst dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nehme im zwölften Jahr an den Haushaltsberatungen in der Konstellation Opposition: SPD, Regierung: CDU/CSU und F.D.P teil. Es dreht sich immer um die variantenreiche Wiederholung eines einzigen Themas: Kaputtsparen. Ich wette mein bescheidenes Vermögen, daß Herr Schreiner, der nach mir redet, dieses Wort wieder gebrauchen wird. Im Wahlkampf steigert sich die Etikettierung „zwölf Jahre Kaputtsparen" zum Ruin für Deutschland, geschmückt mit dem Vorwurf der „Sozialen Demontage". Das einzige, was in diesen zwölf Jahren demontiert wurde, waren die drei Kanzlerkandidaten der SPD. ({0}) Das Ergebnis ist, daß Sie jetzt mit drei Schattenkanzlern in den Wahlkampf ziehen. ({1}) Ich setze dem Vorwurf des Kaputtsparens das Wort „Rettungssparen" dagegen. ({2}) - Ich werde Ihnen das gleich erklären. - Wir sparen nicht für die reichen Leute, wir sparen nicht für die Ölscheichs. Wir sparen für die Lohnempfänger, wir sparen für die Rentner. Denn daß wir die Preissteigerungsrate unter 3 % gedrückt haben, halte ich für den größten sozialen Erfolg dieser Regierung in dieser Legislaturperiode. ({3}) - Ja, das haben Sie nie kapiert. Das weiß ich. Was hat Schmidt gesagt? - 5 % Inflation seien weniger schlimm als 5 % Arbeitslosigkeit. Am Schluß hatte er beides. Hätten wir eine Preissteigerung von 5%, ({4}) bedeutete dies einen Kaufkraftverlust in Höhe von 40 Milliarden DM, der zu Lasten der Rentner und Lohnempfänger ginge. Eine Reduzierung der Preissteigerung um 1 % bringt für die Leute eine Kaufkraftsteigerung von rund 20 Milliarden DM. Das ist Verteilungspolitik ohne Paragraphen, ohne Lärm, ohne Spektakel. Aber die Leute können sich davon mehr kaufen, und das ist sozial. ({5}) Ich mache es noch deutlicher: Eine Verringerung der Preissteigerung um 1 % bringt so viel wie 2 % Lohnerhöhung. Wissen Sie, warum? ({6}) Weil von der Lohnerhöhung bei den Empfängern nur die Hälfte ankommt, weil die andere Hälfte an das Finanzamt und die Sozialversicherungen geht. Bei der Senkung der Preissteigerungsrate entspricht die Brutto- der Nettowirkung. Dazwischen liegt kein Tara. Damit haben Sie ja ohnehin Schwierigkeiten. ({7}) - Ihr Kanzlerkandidat kennt doch die Tara nur aus dem Lied „Taritara", der glaubt doch, das sei ein russischer Mädchenname. ({8}) Ich stelle fest: Preissenkungen kommen bei den Rentnern, bei den Lohnempfängern ohne Abstriche an. Deshalb müssen wir sparen, um die Inflation zurückzudrängen, müssen wir sparen, um Preissteigerungen zurückzudrängen. Das halte ich für eine wichtige sozialpolitische Aufgabe. Ich habe ja zugehört, aber man muß das, was Sie wollen, sortieren. Sie wollen die Schulden abbauen, die Steuern senken und die Ausgaben steigern. Das ist ungefähr das, was ich in den zwei Tagen gehört habe. Das ist der sozialdemokratische Triathlon: Schwimmen, Laufen und Fliegen gleichzeitig. ({9}) Sie wollen Schulden abbauen, Ausgaben erhöhen und Steuern senken. Herr Dreßler, mein Schatten, den ich leider vermisse ({10}) - wenn das Licht ausgeht, sieht man die Schatten nicht mehr -, ({11}) sagt, Sie wollten die Sozialleistungen erhöhen. Herr Lafontaine hat davon gesprochen, auch die Sozialleistungen müßten gekürzt werden. Was sagt Scharping? Sie müßten geprüft werden. - Meine Damen und Herren, wir wählen keine Bundesregierung zum Prüfen - dafür haben wir den Bundesrechnungshof -, wir wählen die Regierung zum Regieren. Deshalb kann man mit dieser Politik nicht weiterkommen. ({12}) Ich gebe - zugegebenermaßen nachträglich - eine zweite Rechtfertigung für das Sparen, für Konsolidierung im Sozialbereich: Ohne die Stabilisierung in der Rentenversicherung, in der Krankenversicherung, in der Arbeitslosenversicherung hätten wir die Herausforderungen der deutschen Einheit gar nicht bewerkstelligen können, wir wären zusammengebrochen. Ein halbes Jahr, nachdem ich mein Amt übernommen habe, wäre die Rentenversicherung zah21488 lungsunfähig gewesen. Wir haben konsolidiert und damit ermöglicht, daß der Sozialstaat Deutschland eine der größten Herausforderungen in den letzten 100 Jahren bestanden hat. ({13}) Das werden Sie doch nicht bestreiten. Noch einige Bemerkungen: Die letzten Rentenzahlungen in der DDR lagen bei 16,7 Milliarden Ostmark. Wissen Sie, was wir nach dem Haushalt, den wir jetzt besprechen, im nächsten Jahr für die Rentner ausgeben? Es sind nicht mehr 16,7 Milliarden Ostmark, sondern 66 Milliarden DM - für das gleiche Gebiet und die gleiche Rentnerzahl. Ist hier jemand in diesem Hohen Haus, der bestreitet, daß die Rentner die Gewinner der deutschen Einheit sind? Wir sollten froh darüber sein; denn diese Generation hat viel mitgemacht. ({14}) Trotz Preissteigerung handelt es sich immer noch um einen Kaufkraftgewinn. Ich will noch ein Beispiel nennen: Die durchschnittliche Rente in der ehemaligen DDR betrug zwischen 470 und 602 Mark. Ab 1. Juli 1994 liegt die Eckrente bei 1 451 DM. Ist das mehr oder weniger? Bei den Sonderversorgungssystemen, die kaum zu durchschauen waren, kam es zu Beschränkungen. ({15}) - Diese Sonderversorgungssysteme umfassen 330 000 Mitbürger. Zu Beschränkungen kommt es höchstens bei 40 000 oder 50 000. Ich mache darauf aufmerksam, daß die frei gewählte Volkskammer eine Obergrenze von 2 010 festgesetzt hatte und wir diese auf 2 700 erhöht haben. Auch in den neuen Bundesländern kann es nämlich keine Rentner geben, die eine höhere Rente erhalten, als es die Beitragsbemessungsgrenze hergibt. Ansonsten hätten wir eine Zweiklassengesellschaft. ({16}) - Wissen Sie, wozu ich die meisten Briefe bekommen habe? Sie werden sich wundern. Es ging um die Rente von Herrn Honecker. Darüber haben sich die Bürger in den neuen Ländern beschwert. Sie haben es so gesehen, daß alte Privilegien im neuen Deutschland Gültigkeit behalten. Ich will dazu ausdrücklich sagen, daß eine Überführung nie vollständig gerecht sein kann und daß wir mit Pauschalierungen und Typisierungen arbeiten mußten. Wir haben diese Überleitung aber, verehrte Frau Kollegin Fuchs - jeder in der SPD sollte sich daran erinnern -, im Konsens verabschiedet. ({17}) Deshalb sollten wir jetzt dazu stehen. ({18}) Für den, der konstruktive Vorschläge hat, wie man die Gerechtigkeit verbessern kann, werde ich immer offen sein; denn es gibt - das gebe ich zu - keine befriedigende Einzelfallregelung. Das ist nun einmal so. Wenn man überführt, hat man nicht unendlich viel Zeit. Dann kann man nicht genau prüfen, sondern muß typisieren und pauschalieren. In jeder Typisierung und Pauschalierung aber liegt etwas Unbefriedigendes. Das will ich ausdrücklich anerkennen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, der Abgeordnete Dr. Seifert möchte Sie gerne etwas fragen. Sind Sie bereit, die Frage zu beantworten?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Minister Blüm, ich habe die Frage, ob es sich nicht in Ihrem eigenen Selbstverständnis - ich frage nicht nach dem, wie ich daran herangehen würde - bei der Rente um Eigentum desjenigen handelt, der jahrelang eingezahlt hat, und ob unter diesem Gesichtspunkt eine Deckelung, ob bei 2 010, bei 2 700 oder wo auch immer, überhaupt gerechtfertigt ist, wenn die Menschen doch eingezahlt haben. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Erstens haben sie das nicht bei allen Sonderversorgungssystemen. Zweitens füge ich noch einmal hinzu, daß eine Rente jenseits der Beitragsbemessungsgrenze deshalb nicht entstehen kann, weil sonst in Sachen deutscher Einheit zwei verschiedene Rentenniveaus entstünden. Ich weise darauf hin, daß das System von 64 Sonder- und Zusatzsystemen kaum zu durchschauen war und daß ein Teil dieser Systeme nicht auf Beitrag, sondern auf staatlichen Zuwendungen basiert hat. ({0}) - Ja, es ist deshalb durchschaubar, weil es sich an den Löhnen orientiert und nicht vom guten Willen und der Laune der Regierungen abhängt. Das war die alte Honecker-Rente. Wenn er gute Laune hatte, hat er erhöht. ({1}) Gott sei Dank haben wir jetzt eine lohnbezogene dynamische Rente. Das halte ich für einen großen Gewinn für die Rentner in den alten wie auch in den neuen Bundesländern. Daran lasse ich nicht wackeln. Allen, die neue, modische Vorstellungen z. B. von einer mit Steuern finanzierten Grundrente haben, kann ich nur sagen: Das ist ein Betrug gegenüber denjenigen, die ein Leben lang arbeiten und Beitrag zahlen. Bei einer Grundrente in Höhe von 1 200 DM muß ein Durchschnittsverdiener 27 Jahre lang arbeiten, in den neuen Ländern sogar 32 Jahre. Ich frage Sie: Warum sollte er arbeiten, wenn er auch ohne Arbeit 1200 DM Rente bekäme? Das ist eine Aussteigerprämie. Mit mir gibt es das nicht! ({2}) Außerdem würde sie 240 Milliarden DM kosten. Wenn sie durch Steuern finanziert würde - es gibt diese Vorschläge -, müßten wir die Mehrwertsteuer von 15 % auf 31 % erhöhen. In welchem Wolkenkukkucksheim werden diese Diskussionen eigentlich geführt? ({3}) Für eine kapitalgedeckte allgemeine Rente müßten wir 10 Billionen DM Deckungskapital haben. Das ist das Dreifache des deutschen Volksvermögens. ({4}) Mich bringen Sie von der Spur überhaupt nicht ab. Ich bin der Dammwächter der guten alten lohnbezogenen Rente. Darauf können sich die Rentner verlassen. ({5}) Wir haben nicht nur gespart. Wir haben auch weiterentwickelt. Wir haben die Reform der Hinterbliebenenversorgung durchgeführt, Erziehungszeiten ins Rentenrecht eingeführt. ({6}) Es ist nicht so, als hätten wir den ganzen Tag nur gespart. Wir haben gestaltet: Pflegezeiten, Kinderbetreuungszeiten. Wir haben die Wartezeit für die Rentner von 15 auf 5 Jahre gesenkt. Für die Nichtfachleute: Das bedeutet, früher hat man 15 Jahre Beitrag zahlen müssen, um einen Anspruch auf Altersrente zu bekommen. Meine Mutter hat 12 Jahre Beitrag gezahlt und hat keine Altersrente bekommen. Wir haben diese Zeit auf 5 Jahre gesenkt und damit vielen Frauen den Zugang zur Altersrente überhaupt erst geschaffen. Wir haben 150 000 Witwen in der DDR zum erstenmal einen Anspruch auf Renten beschafft. 780 000 Witwen in der DDR haben ihre monatliche Rente durch unsere Rentenversicherung um 240 DM erhöht. Ich frage Sie: Ist das nichts? Wie kommen Sie eigentlich dazu, vom „Kaputtsparen" zu sprechen? ({7}) Wir haben heute, meine Damen und Herren auch draußen, einen höheren Bundeszuschuß zur Rentenversicherung, als der Haushalt des Bundesarbeitsministers im letzten Jahr der Regierung Helmut Schmidt überhaupt ausgemacht hat. Da betrug der Haushalt des gesamten Arbeitsministeriums 59,1 Milliarden DM. Heute haben wir nur für die Rentenversicherung 72 Milliarden DM. Jetzt wird gleich Herr Schreiner kommen und sagen, wir hätten alles kaputtgespart. Nein, wir haben die Rente gesichert, Erziehungszeiten eingeführt, die Reform der Hinterbliebenversorgung durchgeführt. Wir haben den Rentnern in den neuen Ländern geholfen. ({8}) - Gut. Wenn wir einig sind, dann lassen Sie auch Ihre Kahlschlagtheorien weg. Wir konnten die Beiträge von 19,2 % auf 18,6 % senken. Das sind im nächsten Jahr 8 Milliarden DM mehr in den Kassen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Als der Rentenversicherungsbeitrag nur um 0,2 Prozentpunkte stieg, hat die ganze Öffentlichkeit davon gesprochen. Wenn er jetzt um 0,6 Prozentpunkte sinkt, spricht kaum jemand davon. ({9}) - Bitte.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Offensichtlich ist der Bundesarbeitsminister mit Lust und Laune bereit, Ihnen eine Frage zu beantworten. Bitte schön.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Mit Lust nicht, aber mit Respekt.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nett von Ihnen, Herr Blüm. - Ich habe folgende Frage. Sie bauen Ihre ganze Argumentation auf dem Wort „Kaputtsparen" auf. Ich habe hier zwei Tage lang unzählige Stunden gesessen. Das Wort „Kaputtsparen" ist überhaupt nicht gefallen. ({0}) Wir verlangen von Ihnen nur eines, und darauf bezieht sich meine Frage: Was haben Sie eigentlich dagegen, daß es beim Sparen etwas gerechter zugeht? Wenn Sie z. B. im Dezember ein Sparpaket von 20 Milliarden DM haben, der Herr Bundeskanzler, der Herr Finanzminister und Frau Matthäus-Maier bei den Kürzungen nicht mit einer Mark dabei sind: Ist das sozial gerecht? Warum sagen Sie nicht etwas dazu, daß es sozial gerechter zugehen soll? Von Kaputtsparen hat keiner gesprochen. ({1})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Liebe Frau Matthäus-Maier, ich habe vorhin eine gewisse Bandbreite angedeutet, aber es geht immer um das gleiche Wort. Sie können die Bandbreite auf „Kahlschlag", „soziale Demontage" ausdehnen. Das war die Grundmelodie. ({0}) Wir haben die Renten sicherer gemacht, wir haben ({1}) jetzt mache ich gleich im Text weiter ({2}) die Arbeitsmarktpolitik auf eine Weise betrieben wie keine Regierung vor uns: 53,7 Milliarden DM. In Ihrer Zeit wurden 27 % der Ausgaben der Bundesanstalt für Arbeitsmarktpolitik aufgewandt. Heute sind es 42 %. Was ist mehr? Auch wenn man in der Gesamtschule war, wird man erkennen, daß 42 % mehr sind als 27 %. ({3}) Was Gerechtigkeit betrifft, bin ich immer mit von Ihrer Partie. Aber auch beim Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit haben wir im letzten Jahr 25 Milliarden DM hinzugezahlt. Also haben nicht nur die Beitragszahler finanziert, sondern auch die Steuerzahler. Diejenigen, die höhere Steuern zahlen, zu denen auch ich gehöre, haben dazu einen größeren Beitrag geleistet. Ich kann noch weitere Zahlen nennen, z. B. betreffend die berufliche Rehabilitation; da geht es um Behinderte. Wir sind ja hier bei der Abrechnung. Im letzten Jahr der Regierung Schmidt gab es für die berufliche Rehabilitation 1,9 Milliarden DM, heute, 1994, liegen wir bei 4,4 Milliarden DM. Wir haben die Mark nicht zweimal umgedreht, bevor wir sie ausgeben; das ist richtig. Wir haben sie auch dann ausgegeben, wenn es notwendig war. Wir haben das sozial Verantwortliche gemacht. Wir haben den Sozialstaat nicht im Stich gelassen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, es gibt noch einmal den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Nein. Nachher, wenn ich am Schluß bin, kann jeder sich noch melden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sie lösen keine Verzögerung bei mir aus, sondern bei Ihrem Fraktionskollegen. Ich bin gar nicht böse darum.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich bin so gut in Fahrt. Laßt mich das gerade noch fertig machen. ({0}) Die größte sozialpolitische Leistung - von wegen „Demontage" - ist die Pflegeversicherung. Darüber haben Sie ja 20 Jahre geredet. Endlich wurde in dieser Legislaturperiode die Pflegeversicherung durchgesetzt. Sie ist, Frau Matthäus-Maier, die größte familienpolitische Unterstützung, die sozialpolitisch überhaupt denkbar ist. ({1}) Die Frauen bekommen endlich eine Rentenversicherung und eine Unfallversicherung. ({2}) Sie können Urlaub machen. - Dann können doch nicht Redner von Ihnen hier an das Rednerpult gehen und diese Regierung als kaltherzig darstellen und sagen, daß sie Demontage betreibt. Wir haben nicht demontiert; wir haben den Sozialstaat gerecht ausgebaut. ({3}) Ich möchte noch einige weitere Dinge erwähnen. Zum Schlechtwettergeld: Wer an dem Schlechtwettergeld festhalten will, ist kein Freund der Bauarbeiter. ({4}) Wissen Sie, warum? Falls Sie es nicht merken: Es gibt einen europäischen Binnenmarkt, auf dem demnächst die Schweden und die Finnen antreten. Sie können im Winter bauen. Wenn es uns nicht gelingt, eine Jahresarbeitszeit für Bauarbeiter und eine Winterbauförderung zustande zu bekommen, dann werden die Schweden und die Finnen im Winter in Deutschland bauen und arbeiten, in der Zeit, in der die deutschen Bauarbeiter Schlechtwettergeld beziehen. Das kann doch wohl nicht der Sinn des Schlechtwettergeldes sein. ({5}) Trotz einer auf absehbare Zeit hohen bauwirtschaftlichen Nachfrage leisten wir uns in Deutschland im Gegensatz zu Nachbarländern mit weit schwierigeren Witterungsbedingungen, wie z. B. Schweden, den Luxus, die vorhandenen Kapazitäten nur unzureichend auszulasten. An Stelle der jetzigen Beschränkung auf witterungsbezogene Ausgleichszahlungen ({6}) sollten zur erneuten Ankurbelung des Winterbaus ergänzende produktive Investitionsanreize geschaffen werden. Nach einer Auswertung der Nettoeinkommen eines Bauarbeiters in den Wintermonaten bei gefördertem produktiven Winterbau, trotz des im Vergleich zum Schlechtwettergeld erheblich niedrigeren Wintergeldes, erleiden die Bauarbeiter einen Verdienstausfall von 23 %. Die Bauarbeiter bevorzugen eindeutig kontinuierliche Bautätigkeit bei gesichertem Einkommen im Vergleich zur jetzigen Praxis periodischer witterungsbedingter Arbeits- und Einkommensausfälle. Dieser Text stammt von der IG Bau - Steine - Erden. Ich wünsche mir, daß das Agitationsmaterial dieser Gewerkschaft auch an die Bauarbeiter verteilt wird, versehen mit diesem im August 1992 im Vorstand angefertigten Material. Daraus geht nämlich hervor, daß ein Tarifvertrag mit Jahresarbeitsentgelt und Winterbauförderung dreimal besser als das Schlechtwettergeld ist. Dafür setzen wir uns ein. ({7}) Zur Arbeitslosenhilfe: Wenn uns die Umsetzung dieses Vorschlags erspart bleibt, ist es mir sehr recht. Sie dürfen nicht denken, es würde mir leichtfallen. Er ist aber ganz schnell vom Tisch - das hat der Kollege Waigel selber gesagt -, wenn ein Einsparungsvorschlag in vergleichbarer Höhe gemacht wird. Ich kann Ihnen einen ganz naheliegenden sagen. Die Länder sollten sich gerechter an den Lasten der deutschen Einheit beteiligen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat, wie die übrigen Länder, im Rahmen des Solidarpaktes 7 % mehr von der Umsatzsteuer erhalten. Es hat von diesen 7 % gerade einmal 23 % an die Kommunen weitergegeben, obwohl die Kommunen mit 44 % an den Lasten der deutschen Einheit beteiligt sind. Wenn es zu einer gerechteren Verteilung kommt, ist der Vorschlag ganz schnell vom Tisch. Es wäre mir sehr recht, wenn er vom Tisch wäre. Ich will allerdings hinzufügen: Einige Rechnungen, die hier aufgemacht wurden, stimmen deshalb nicht, weil wir ja gar nicht vorsehen, daß die Personen, die über 55 Jahre alt sind, und die, die in einem Sozialplan sind, davon betroffen werden. Um der Kollegin Schmidt noch einen Hinweis zu geben: Wir haben die Dauer des Bezuges des Arbeitslosengeldes auf 32 Monate für die Älteren erweitert. Zur Schmidt-Zeit - nicht Schmidt, Renate, sondern Schmidt, Helmut - betrug die Dauer nur ein Jahr; jetzt beträgt sie für die Älteren 32 Monate. Zum Thema Armut: Hier sollten wir vielleicht einmal die Statistikdiskussion zurückstellen, denn ich glaube, für den Betroffenen ist es relativ belanglos, ob er sein Schicksal mit 2 Millionen Armen teilt. ({8}) - Ja, gut; ich sage dazu: Wer in Armut lebt, lebt in Armut. Wenn es sich dabei nur um zehn Personen handelte, müßte auch ihnen geholfen werden. Das ist der alte Fuchs-sozialistische Irrtum: Eine Sache wird erst dann zu einem Problem, wenn es sich um Massen handelt. Nein, für mich ist es schon dann ein Problem, wenn es nur einzelne betrifft. Deshalb müssen wir uns den Armen zuwenden, allerdings nicht nur mit Geld. Die Darstellung, die Frau Schmidt vorhin gegeben hat, nämlich von der kleinen Rente auf die Einkommenslage der Rentner zu schließen, ist deshalb irrig, weil viele Rentner nicht allein von der Rente leben. Ich beispielsweise - ich sage das, damit Sie ein abschreckendes Beispiel haben - werde einmal eine sehr kleine Rente bekommen, weil ich nur wenige Jahre lang Beiträge gezahlt habe. ({9}) - Deshalb habe ich trotzdem eine hohe Altersversorgung. Jetzt hören Sie zu. Eine Untersuchung zeigt: Männer mit einer Rente unter 500 DM hatten im Westen im Durchschnitt ein Gesamthaushaltseinkommen von 3 050 DM. Frauen mit einer Rente von unter 500 DM hatten ein durchschnittliches Gesamthaushaltseinkommen von 2 370 DM im Westen und von 1 410 DM im Osten. Das rührt daher, daß 80 % der Ehepaare, 50 % der Ledigen und 75 % der Witwen zwei oder drei Transferzahlungen erhalten. Um es weniger kompliziert zu sagen: Viele haben entweder zwei Renten oder neben ihrer Rente noch eine andere Versorgung, sind selbständig oder Beamte geworden. Insofern ist die kleine Rente kein Ausweis für Armut. Wie erfolgreich unser Rentensystem im Kampf gegen Armut war, zeigt folgendes: Von den 16 Millionen Rentnern - ich lasse jetzt einmal die Rentner in den Pflegeheimen weg, deretwegen mußten wir ja eine Pflegeversicherung schaffen - erhalten 280 000 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt. Das sind immer noch 280 000 Menschen, um die wir uns kümmern müssen. Aber ich kenne kein Alterssicherungssystem in der Welt, das im Kampf gegen Altersarmut so erfolgreich war wie unsere gute alte Rentenversicherung. ({10}) - Nein. - Ich möchte meine Betrachtungen damit schließen. Aus meiner Sicht ist die Frage: Welchen Platz hat die Sozialpolitik? Wenn Herr Schröder sagt - er hat ja hier gesprochen; ich habe das Zitat dabei -, daß die PDS in sozialen Fragen der SPD nähersteht, dann muß ich sagen: Das ist verräterisch. Sozialpolitik gibt es nämlich nicht isoliert. Sozialpolitik ist in der Sozialen Marktwirtschaft etwas ganz anderes als Sozialpolitik in der sozialistischen Versorgungsgesellschaft. Unsere Sozialpolitik verbindet Leistungsansprüche mit sozialem Ausgleich, verbindet Solidarität mit Subsidiarität, verbindet solidarische Risikoabsicherung mit Selbstversorgung. Insofern ist der Unterschied zwischen dieser PDS/SPD-Sozialpolitik und unserer Sozialpolitik nicht nur ein Unterschied in Mark und Pfennig, dahinter stehen unterschiedliche Vorstellungen von dem, was die Sozialpolitik soll. Sie soll nicht den absoluten Versorgungsstaat bringen. Sie soll Leistung anreizen. Sie soll auch den Schwachen stützen, sie soll solidarisch sein und den sich in Not Befindlichen stützen. Aber wir wollen nicht alle Probleme vom Staat gelöst haben. Ich möchte meinen Kindern keine Gesellschaft zurücklassen oder übergeben, in der für alles, was Schwierigkeiten bereitet, und für alle Probleme der Sozialstaat zuständig ist und alles mit Geld erledigt wird. Ich möchte eine solche kalte Versorgungsgesellschaft nicht. Ich weiß, daß wir für die sozialen Belange Geld brauchen, aber nicht nur Geld. Die Nächstenliebe ist nicht nur eine Frage von Mark und Pfennig, sondern auch eine Frage, ob es spontane Zuwendung, ob es Samariter, ob es Nachbarschaft und Familie gibt. Insofern laßt uns nicht nur über mehr oder weniger Geldausgaben streiten, sondern darüber, wie die Gesellschaft von morgen aussehen soll. Arbeit für alle - das ist die erste Voraussetzung -, Stärkung der Familie, eine nachbarschaftliche, nicht eine kalt verwaltete Gesellschaft: Das sind unsere Ziele. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Ottmar Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 1949 ist keine Bundesregie21492 rung mit einer derart katastrophalen sozialpolitischen Schlußbilanz wie diese Bundesregierung in den Wahlkampf gezogen. ({0}) Jeder 20. Bürger in Deutschland geht inzwischen zum Sozialamt; darunter sind ein Drittel Kinder und Jugendliche. Nahezu vier Millionen Arbeitslose sind registriert - der höchste Stand seit 1932. Die Arbeitslosigkeit von 1932 war der soziale Anfang vom politischen Ende der Weimarer Republik. Fast sieben Millionen fehlende Arbeitsplätze in Gesamtdeutschland, rund drei Millionen fehlende Wohnungen, Hunderttausende Obdachlose - die Zahl steigt -, Vervierfachung der Bundesschulden innerhalb der letzten drei Legislaturperioden - meine Güte, Herr Blüm, Sie sind die sozialpolitische Abbruchbirne des Bundeskanzlers! ({1}) Es gibt seit 1949 keine Regierung mit einer derart miserablen, ja geradezu völlig perspektivlosen arbeits- und sozialpolitischen Schlußbilanz wie Ihre. Entsprechend war auch Ihre Rede. Ich will Ihnen zu diesem Thema zwei Stimmen zitieren, die nicht aus den sozialdemokratischen Reihen kommen. Ich will Ihnen aus dem Entwurfspapier der Evangelischen Kirche Deutschlands und der Katholischen Bischofskonferenz zitieren, die auf ihre Weise versuchen, die sozialen Realitäten in Deutschland zu beschreiben: Deutschland ist ein wohlhabendes Land. Gleichwohl wachsen Armut und Not vieler Menschen mitten in diesem Wohlstand. Diese Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer, in etablierte Interessen und ausgegrenzte Gruppen stellt die solidarischen Beziehungen zwischen allen Bürgern wie auch das bisher anerkannte Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft in besorgniserregender Weise in Frage. Die hohe Massenarbeitslosigkeit markiert einen tiefen Riß in unserer Gesellschaft. Die Jugend wird um ihre Entwicklungs- und Zukunftsperspektiven gebracht. Die Verbitterung und Resignation von Arbeitslosen kann eine unheilvolle Wirkung auf den inneren Frieden und das Miteinander in der Gesellschaft haben und politisch Unberechenbaren, Gewaltbereiten und Fremdenfeindlichen Wasser auf die Mühlen sein. Verheerender als diese Stellungnahme in den Entwurfspapieren der Evangelischen Kirche Deutschlands und der Katholischen Bischofskonferenz kann eine Beschreibung des sozialpolitischen Zustandes dieser Republik nicht sein. ({2}) Ich könnte Ihnen seitenlang aus einem Positionspapier von 120 Sozialwissenschaftlern, Rechtswissenschaftlern und Wirtschaftswissenschaftlern zitieren. In dieser Breite hat es eine entsprechende kritische Beschreibung des Zustandes dieser Republik seit Jahren und Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Das Papier ist vor kurzem von Professor Hengsbach, dem Leiter des Oswald-von-Nell-Breuning-Instituts bei der Katholischen Hochschule in St. Georgen vorgestellt worden. Der zentrale Satz dieses Papiers - ich könnte seitenlang zitieren - lautet, daß die anhaltende Arbeitslosigkeit und die drastische Zunahme der Armut in Deutschland die Demokratie in hohem Maße gefährden. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schreiner, der Abgeordnete Louven möchte gerne eine Frage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe zu beantworten?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Abgeordnete Louven möchte eine Frage stellen? - Dann soll er das mal tun. Bitte schön.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, Sie reden hier von einem Papier der katholischen und evangelischen Kirche. Darf ich Sie fragen, ob dies ein offizielles Papier ist und ob Sie bereit sind, mir dieses Papier zur Verfügung zu stellen?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe ausdrücklich gesagt, daß es sich um einen Entwurf handelt. Aber Entwürfe - auch Regierungsentwürfe - haben in aller Regel die Absicht, irgendwann einmal verabschiedet zu werden. Ich gehe fest davon aus, daß die beiden Kirchen an den grundsätzlichen Aussagen dieses Papieres nichts mehr ändern werden. Im übrigen waren auch Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion bei den diesem Entwurf vorausgegangenen Konsultationsgesprächen im Katholischen Büro hier in Bonn anwesend. Auch ich war anwesend, und ich will zitieren. Als ich vom stillen Örtchen kam, um an den Beratungen wieder teilnehmen zu können, stürzte gerade ein Prälat aus der Versammlung und sagte zu der an der Tür postierten Nonne, die dort mit ordnungspolitischen Aufgaben betraut war: „Die Schwarzen" - gemeint waren die CDU/CSU-Vertreter in dieser Diskussion - „reden hier nur Mist." Genau das war der Fall, weil sie überhaupt keine Sensibilität für die Probleme der Massenarbeitslosigkeit, der wachsenden Armut, der sozialen Erosion und der sozialen Spaltung in unserer Gesellschaft haben. Der letzte Beweis war die Rede des Bundesarbeitsministers, der sozialpolitischen Abbruchbirne: kein Wort zur Massenarbeitslosigkeit, kein Satz dazu, mit welchen Konzepten die Regierung sie bekämpfen will, ({0}) so gut wie kein einziger Satz zu wachsenden Armutsprozessen in Deutschland. Und dieser Mann nennt sich Bundesarbeits- und -sozialminister. Es ist unglaublich, was in dieser Republik noch alles möglich ist. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der nächste Fragesteller hat sich zu Wort gemeldet, der Abgeordnete Göhner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Uhr hier vorne ist weitergelaufen, Herr Präsident.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nein, die Uhr läuft nicht weiter. Darauf haben wir geachtet.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich nehme gerne weitere Fragen an, da das bei korrekter Behandlung erkennbar dazu beiträgt, die Redezeit des Redners zu verlängern.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das ist Ihr gutes Recht. - Bitte schön.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schreiner, da ich in der evangelischen Kirche an der Meinungsbildung zu diesem Diskussionsentwurf beteiligt bin, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß dieser Entwurf hauptamtlicher Mitarbeiter auch als Diskussionsentwurf von beiden Kirchen nicht akzeptiert worden ist?

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will Ihnen sagen: Bei den Gesprächen, bei denen u. a. die Abgeordneten dabei waren, waren mehrere Bischöfe der katholischen Kirche anwesend. Es waren eine Fülle von sachkundigen Prälaten und Fachleute von beiden Kirchen - der evangelischen wie der katholischen Kirche - dort. Das für mich eigentlich Deprimierende ist, daß beide Kirchen nicht den Mut haben, dieses Entwurfspapier so rechtzeitig der gesamten Öffentlichkeit vorzustellen, daß die Bürgerinnen und Bürger in der anstehenden Wahlentscheidung ihr Gewissen befragen können vor dem Hintergrund dessen, was die Kirchen zu diesen Problemen zu sagen haben. ({0}) Wer den Wechsel in Deutschland politisch begründet - das Entwurfspapier der Kirchen ist eine klassische Begründung für den Wechsel -, der muß auch den Mut haben, zu der politischen Wende in Deutschland zu stehen. ({1}) - Damit reichen nun die Zwischenfragen. Jetzt zitiere ich Ihnen noch die Ausführungen eines Herrn Warnfried Dettling. Warnfried Dettling war jahrelang - es geht hier um die Beschreibung der sozialen Realität in dieser Republik - Leiter der Hauptabteilung Politik beim Bundesvorstand der CDU drüben in der Bundesgeschäftsstelle. Ich zitiere aus einem Text, der wenige Wochen alt ist: Mit dem realen Sozialismus ist plötzlich und unbemerkt auch die Soziale Marktwirtschaft auf der Strecke geblieben. Bis in die einstige Mitte der Gesellschaft und der CDU hinein werden nun soziale Fortschritte als antiökonomische Verirrungen gegeißelt und zurückgenommen. Was in Deutschland zur Debatte steht, ist weit mehr als der fällige Umbau des Sozialstaates, die Transformation des Wohlfahrtstaates auf der einen und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft auf der anderen Seite. Es ist ein fundamentaler historischer Bruch. Das ist die Aussage von Dettling, der lange Jahre Leiter der Hauptabteilung Politik beim Bundesvorstand der CDU war: In Deutschland findet ein fundamentaler historischer Bruch statt. Ich füge noch ein paar Sätze hinzu: Was ist nur in und mit der Bundesrepublik Deutschland los? Was bewegt Helmut Kohl und vor allem Wolfgang Schäuble, den deutschen sozialen Konsens aufzukündigen, der eine mit sichtlich schlechtem Gewissen und noch unsicher in der Sprache, kalt und klar hingegen sein möglicher Erbe? Warum lassen sie sich auf Alternativen ein, die die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland so eindrucksvoll überwunden hat? Warum lassen sie es zu, daß sich unter dem Vorwand oder auch in dem Glauben, erst einmal ihre ökonomische Schlagkraft wiederzufinden, die deutsche Gesellschaft mehr und mehr verhärtet, von innen her zu zerfallen droht und so immer mehr das verhindert wird, was die Politiker - und dies mit Recht - immerzu fordern: gemeinsame Anstrengungen, solidarische Leistungen? Man kann auf Dauer nicht beides haben: Gemeinsamkeit und Entsolidarisierung, nationale Identität gar und gesellschaftliche Spaltung. So trocknen die moralischen Ressourcen aus, von denen das Land neue Energie gewinnen könnte. ({2}) - Das ist Warnfried Dettling, früher Leiter der Hauptabteilung Politik beim Bundesvorstand der CDU. Ich habe Ihnen jetzt drei Stimmen vorgetragen, alle drei gewissermaßen aus dem christlichen Lager. Die Quintessenz dieser drei Stimmen ist, daß Sie eine zutiefst unchristliche Politik betreiben. Was hat eigentlich diese Politik der sozialen Spaltung, der gleichgültigen Hinnahme von Armut und sozialen Erosionsprozessen noch mit Ihrem wie eine Monstranz vor sich hergetragenen christlichen Weltbild zu tun? Nichts mehr, gar nichts mehr. Danken Sie ab, treten Sie zurück! ({3}) Meine Damen und Herren, der Bundesarbeitsminister hat der SPD vielfältige Stimmen im Bereich der Sozialleistungen vorgeworfen. Sie haben Oskar Lafontaine zitiert: Sozialleistungen gehören auf den Prüfstand. Ich sage Ihnen: Sie gehören nicht nur auf den Prüfstand. Wir wollen die Umschichtung. Ein klassisches Beispiel ist die längst überfällige Reform des Familienlastenausgleichs. ({4}) Der Staat verzichtet jährlich auf mehr als das Doppelte dessen an Geld, was er an Kindergeld auszahlt, infolge des Ehegattensplittings - völlig kinderunabhängig. Oskar Lafontaine hat Ihnen gestern vorgehalten, daß Sie angesichts dieser verheerenden Zahlen Ihren Familienbegriff einmal überprüfen müssen: Familie ist nicht das Zusammenleben von Erwachsenen, sondern das Zusammenleben von Erwachsenen mit Kindern. ({5}) Meine Güte, müssen Ihnen die Sozialdemokraten immer wieder das christliche Familienbild vorhalten? Wo sind Sie eigentlich gelandet? Wir sind inzwischen die einzig ernst zu nehmende Partei in Deutschland, die das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft noch verteidigt. Wo sind wir eigentlich hingekommen? ({6}) Zu dem zentralen Thema Massenarbeitslosigkeit ist so gut wie kein Wort gefallen, von Vorschlägen ganz zu schweigen. Ich empfehle Ihnen dringend, sowohl das Papier der 120 Wissenschaftler unter Anleitung von Professor Hengsbach als auch das Entwurfspapier der beiden Kirchen wegen der dort gemachten Vorschläge sorgfältig nachzulesen. Die sind in vielen Teilen mit dem identisch, was wir als Sozialdemokraten immer wieder vorgetragen haben: Neue Verteilung der Arbeitszeit, vorübergehend expansive Arbeitsmarktpolitik, neue preisliche Bewertung der Produktionsfaktoren Arbeit und Energie, ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft, Umweltschutz schafft mehr Arbeitsplätze usw. Dort können Sie viele, viele Vorschläge nachlesen, die ein glattes Kontrastprogramm zu dem sind, was diese Regierung treibt oder auch nicht treibt. Und wenn Ihnen überhaupt nichts mehr an Lektüre einfällt: Die Bundesrepublik Deutschland hat die EG-Ratspräsidentschaft übernommen. Gucken Sie mal in das Weißbuch „Wachstum und Beschäftigung" der EG-Kommission vom Dezember vorigen Jahres. Da stehen zahllose Vorschläge drin, ({7}) die sich fundamental von dem unterscheiden, was diese Bundesregierung an politischem Gemurkse vor sich hin treibt. In keinem einzigen ernsthaften Punkt ist die Bundesrepublik Deutschland, ist die Politik in der Lage, das, was von der EG-Kommission als Lösungswege aus der Massenarbeitslosigkeit vorgeschlagen wird, auch nur kritisch aufzunehmen. Sie sind mit Abstand die reaktionärste Regierung in diesem EG-Bereich. Es ist ein Riesenjammer, daß die große Chance, über die EG-Ratspräsidentschaft das Weißbuch EG-weit wirklich konstruktiv zu diskutieren, dann von vornherein vergeben wird, wenn Sie - was niemand glaubt - am 16. Oktober wieder da sind, wo Sie heute sind. ({8}) Meine Damen und Herren, wenn man sich ansieht, was die Bundesregierung in den letzten Jahren an Vorschlägen diskutiert hat, dann muß man erst einmal darauf hinweisen, daß es seit 1982 keine Regierungserklärung mehr gegeben hat - jetzt von der großen Abbruchbirne -, wo das Wort „Vollbeschäftigung" als gesellschaftliches Ziel überhaupt noch formuliert worden wäre. Es hat keine Regierungserklärung mehr gegeben, wo das Wort „Massenarbeitslosigkeit" auch nur halbwegs angemessen thematisiert worden wäre. Was aber gemacht worden ist: Anstatt Konzepte zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu entwikkeln, sind Konzepte zur Drangsalierung der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger vorgetragen worden. Eines der letzten Beispiele war der Vorschlag des Bundeskanzlers, die Sozialhilfeleistungen für Menschen im arbeitsfähigen Alter deutlich zu kürzen. Das Bundesfamilienministerium hat vor wenigen Monaten der Öffentlichkeit eine Studie präsentiert. Die Quintessenz dieser Studie war: Es gibt einen erheblichen und hinreichenden Abstand zwischen Sozialhilfeeinkommen auf der einen Seite und den unteren Lohneinkommen auf der anderen Seite. Einzige Ausnahme: Mehrkinderfamilien - nicht deshalb, weil die Sozialhilfe zu üppig wäre, sondern weil wir keinen funktionierenden Kinderlastenausgleich haben. Dennoch werden von derselben Bundesregierung entsprechende Studien veröffentlicht. Vom Bundeskanzler und anderen führenden Kräften dieser Republik - der konservativen Seite - wird nichts anderes gemacht, als vorhandene Vorurteile in dieser Bundesrepublik schamlos auszubeuten, populistisch zu wenden und den Menschen die Illusion zu vermitteln, über solche Vorschläge könne ein ernsthafter Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit geleistet werden. ({9}) Sie haben in der ganzen Arbeitszeitfrage von Anfang an auf das völlig falsche Pferd gesetzt. 1984 ist der Versuch der Führung der IG Metall, in die 35-Stunden-Woche hineinzukommen, vom Bundeskanzler als „töricht", „absurd" und „dumm" kommentiert worden. Derselbe Bundeskanzler hat vor wenigen Monaten die Bundesrepublik mit dem Begriff „Freizeitpark" überrascht, nach dem Motto: Es muß länger gearbeitet werden und nicht kürzer. Ja, meine Güte, er kann offenbar nicht einmal mehr bis vier rechnen, weil jeder weiß, daß verlängerte Arbeitszeiten noch höhere Arbeitslosigkeit bedeuten würden. ({10}) Man könnte die Beispiele ergänzen. Sie haben über Jahre eine geradezu schamlose Debatte über die Arbeitskosten geführt, wohl wissend, daß die Arbeitskosten als solche überhaupt nicht aussagefähig sind. Diese Debatte ist um so ruhiger geworden, je näher der Wahltermin rückt. Das hat gewisse Gründe. Sie hätten als erstes die Möglichkeit gehabt, die politisch erhöhten Arbeitskosten zu korrigieren. Weil Sie zu feige waren, die deutsche Einheit über gerechte Steuern zu finanzieren, haben Sie sie über die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit über die massive Anhebung der Lohnnebenkosten finanziert. Wenn also Ihr Argument der Arbeitskosten wirklich von Ihnen selbst ernst genommen worden wäre, hätten Sie die Möglichkeit gehabt, politische Verirrungen unverzüglich zu korrigieren. ({11}) Meine Damen und Herren, Ihre Politik hat die Gesellschaft tief gespalten. Folgen sind wachsende Gewalt, Haß, Intoleranz und Massenkriminalität. Jede Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode Ottmar Schreiner Gesellschaft, in der die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen sozialer Teilhabe und sozialem Ausschluß unerträglich groß geworden sind, kennt das Problem der Armutskriminalität, kennt das Problem wachsender Gewaltbereitschaft. Mehr noch: Ihre Politik hat die deutsche Gesellschaft zutiefst entsolidarisiert. Sie grenzen nicht nur aus: Sie stellen die Ausgegrenzten auch noch an den öffentlichen Pranger. Sie bekämpfen nicht die Arbeitslosigkeit, sondern - völlig konzeptlos - Sie drangsalieren die Arbeitslosen. Schlimmer noch: Sie beuten schamlos Vorurteile aus und verstärken sie. Deutschland wird am 16. Oktober am Scheideweg stehen. In der Tat geht es um folgende Weichenstellung: ob das Deutschland der Zukunft am Sozialstaatspostulat festhält oder ob sich Deutschland zu einem Staat wandelt, der seine schwächeren Teile ausgrenzt und drangsaliert und so seine Probleme zu bewältigen sucht. Entweder werden diejenigen in die Regierungsverantwortung kommen, die noch einmal versuchen werden, das soziale Band der Integration um diese Gesellschaft zu legen, oder aber es werden diejenigen bestätigt werden, die die sozialen Erosionsprozesse weiter tatenlos hinnehmen ({12}) und in wachsendem Maße neonationalistische Integrationstendenzen an den Tag legen. Das wird die eigentliche Entscheidung am 16. Oktober sein, ({13}) und darüber werden die Wähler zu befinden haben: soziale Integration oder der Versuch, über plumpen Neonationalismus diese Gesellschaft noch einmal zusammenzubringen. ({14})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans-Gerd Strube das Wort.

Hans Gerd Strube (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schreiner, meine sehr begrenzte Redezeit ist mir zu schade, um auf das, was Sie - vor allem zuletzt - gesagt haben, einzugehen. Das spricht für sich selbst. ({0}) Meine Damen und Herren, mit einem Anteil von über 27 % am gesamten Bundeshaushalt ist der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung der mit Abstand größte Einzelplan. ({1}) Dies dokumentiert augenfällig, welch herausgehobene Bedeutung, welchen unanfechtbaren Stellenwert der Sozialstaat bei uns genießt. Die Sozialausgaben steigen insgesamt auf 178 Milliarden DM. 1989 waren es noch 98 Milliarden DM. Wer da von Sozialabbau spricht, der kann nicht die Bundesrepublik Deutschland meinen. Auch 1995 fließt wieder mehr als jede dritte Mark des Bundesetats in den sozialen Sektor. Er weist einen Anteil von 37 % auf. Meine Damen und Herren, das ist beispiellos. In erfreulichem Zustand präsentiert sich die Sozialversicherung. Die Rentenpolitik der Bundesregierung hat sich als verläßlich erwiesen und das Vertrauen der Bevölkerung in die langfristige Sicherung der gesetzlichen Altersversorgung gestärkt. ({2}) Sinkende Beiträge, konstanter Bundeszuschuß, eine Rücklage, die Ende 1994 um rund 10 Milliarden DM über der Mindestrücklage liegt - so war das nicht immer, meine Damen und Herren. Die SPD-geführte Bundesregierung hätte es in ihrer Amtszeit beinahe geschafft, mit willkürlichen Eingriffen in geltende Rechte und Regelungen die Fundamente der sozialen Sicherheit zu untergraben. Sie von der Sozialdemokratie haben Sprengsätze an die gute alte Sozialversicherung gelegt. Sie haben damals das Vertrauen der Menschen mißbraucht. Ja, wie war es denn damals? Da die Menschen in Deutschland ja so schnell vergessen und da Sie den Mut haben, sich wieder zur Wahl zu stellen, muß Ihnen das eine oder andere hier noch einmal spiegelhaft vorgehalten werden. ({3}) 1977 haben Sie die vorgesehene Rentenerhöhung um ein halbes Jahr verschoben. ({4}) Einmal auf der schiefen Bahn, Frau Fuchs, wurden Sie noch ungenierter und strichen die Rentenerhöhung für 1978 gleich ganz. ({5}) Von 1979 - hören Sie gut zu - bis 1981 haben Sie dann den Rentnerinnen und Rentnern einmal ein bißchen was gegönnt, aber viel weniger, als nach dem Gesetz vorgeschrieben war. Es war rentenpolitische Unterschlagung, was Sie gemacht haben. ({6}) Sie haben damals ungeniert und ungehemmt die Sozialkassen geplündert. Sie haben Wechsel auf die Zukunft gezogen, nur: Gedeckt waren diese Wechsel nicht. Von 1972 bis 1982 wurde die Rücklage von 9,3 Monatsausgaben auf 2,1 Monatsausgaben zurechtgestutzt. ({7}) Sie haben am Bundeszuschuß manipuliert. In den 13 Jahren Ihrer Regierungsverantwortung haben Sie den Bundeszuschuß zur Rentenversicherung nicht weniger als viermal gekürzt und dreimal die Zahlungen verschoben. ({8}) Sie haben konzeptlos herumgewurstelt, bis das Ende der Fahnenstange 1982 dann da war. ({9}) Wir haben die Rentenversicherung erst wieder aus ihrem schwierigen Fahrwasser in sicheres Gewässer gelotst, in geordnete Bahnen geführt. ({10}) Meine Damen und Herren, nur Verläßlichkeit und Klarheit zählen bei der Rente. Das Rentennettoniveau bleibt heute stabil, die pünktliche Rentenzahlung ist gesichert. ({11}) Die Lohn- und Beitragsbezogenheit und das Zusammenspiel von Beitragsbedarf, Bundeszuschuß und Nettoanpassung sind die Bürgen für stabile Rentenfinanzen und eine solide Altersversorgung. Unsere Rentenversicherung gründet wieder auf festem und gesichertem Fundament. ({12}) Welch solidarischer Kraftakt die Rentenversicherung für das Zusammenwachsen des einigen Sozialstaates Bundesrepublik Deutschland vollbracht hat, hat Norbert Blüm eben schon angeführt. Die Zahlen dokumentieren es. Sie sollen noch einmal gesagt sein. In 1995 werden in den neuen Bundesländern 66,5 Milliarden DM ausgezahlt. Zum Vergleich: 1989 wurden in der gesamten DDR lediglich 16,7 Milliarden Ostmark ausgezahlt. Das ist gerade mal ein Viertel. ({13}) Nun, meine Damen und Herren, etwas zu unserer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik. In diesem Jahr weist die aktive Arbeitsmarktpolitik ein Ausgabevolumen von 53,7 Milliarden DM aus. Damit trägt die Arbeitsmarktpolitik entscheidend zum sozialen Umstrukturierungsprozeß in den neuen Bundesländern bei. ({14}) Es ist besser, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Die Arbeitsmarktpolitik hat seit 1982 - ich nenne dieses Jahr wieder sehr bewußt - entscheidend an Bedeutung und Gewicht gewonnen. Dies drückt sich in Zahlen und Zuwachsraten handfest aus. Lediglich 39 Milliarden DM wurden 1982 für die Arbeitsmarktpolitik aufgewandt. Knapp 129 Milliarden DM sind es 1994. Der Anteil des Bundes konnte annähernd vervierfacht werden. Die Erfolgsbilanz hat weitere Seiten. Die Ausgaben für Fortbildung und Umschulung konnten von 3,4 Milliarden DM in 1982 auf 14,8 Milliarden DM in 1994 gesteigert werden. Das sind, in Prozenten ausgedrückt, 335 % mehr. ({15}) Rund neunmal so hoch wie 1982 mit 95,2 Millionen DM sind 1994 die Aufwendungen für Lohnkostenzuschüsse an ältere Arbeitnehmer. Wir zahlen hier 854 Millionen DM aus. Die Zahl der Empfänger stieg von 3 000 auf 36 000. Dies dokumentiert, wie umfassend, offensiv und engagiert die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung gestaltet ist. Wichtige Impulse gehen im kommenden Jahr vom neuen Beschäftigungsförderungsgesetz aus, mit welchem wesentliche Teile des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung realisiert werden. Nach den guten Erfahrungen mit dem auf Ostdeutschland beschränkten § 249h AFG wurde nunmehr für die alten Bundesländer ein ähnliches Instrumentarium geschaffen. Auch hier können jetzt produktive Lohnkostenzuschüsse in Höhe des ersparten Arbeitslosengeldes bzw. der ersparten Arbeitslosenhilfe gezahlt werden. Denn - ich wiederhole - es ist besser, auf diese Weise Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren und dabei Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik sinnvoll zu verzahnen. ({16}) Meine Damen und Herren, zu einer erfolgreichen Sozialpolitik gehört auch, zu sparen bzw. umzuschichten, wo es unabdingbar ist. Unsere Sozialpolitik hat konsolidiert, wo es gilt, neue Kraft zu schöpfen für andere Aufgaben, neue Herausforderungen. Ohne Sparmaßnahmen kein Schuldenabbau, ohne Schuldenabbau keine wirtschaftliche Belebung, ohne Aufschwung keine neuen Arbeitsplätze. Das ist sicherlich klar. Obwohl der vorgesehene Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit um rund 2,8 Milliarden DM gegenüber 1994 zurückgefahren werden kann, wird die aktive Arbeitsmarktpolitik noch weiter ausgebaut. Allein über 27 Milliarden DM werden für die berufliche Bildung sowie für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bereitgestellt. Damit kann rund eine halbe Million Menschen, etwa die Häfte davon in den neuen Bundesländern, eine Fortbildung oder Umschulung beginnen. Dies baut Brücken hin zu neuer Beschäftigung. Dies bietet den Menschen für die Zukunft verläßliche Perspektiven. Dies sind gute Investitionen in den Wirtschaftsstandort Deutschland. ({17}) Wir setzen im kommenden Haushalt mit großer Energie und gewaltigem Aufwand erfolgreich fort, was unsere Arbeit in dieser Legislaturperiode durchzogen hat: ({18}) Geld im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu investieren, günstige Voraussetzungen für die endgültige Überwindung des Strukturbruchs in Ostdeutschland zu schaffen, verläßliche Perspektiven für die Zukunft aufzuzeigen, noch mehr Beschäftigung für noch mehr Menschen zu sichern. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen nicht nur einen Ausblick auf den Haushalt 1995 gegeben, nicht nur eine Leistungsbilanz dieser Legislaturperiode, sondern auch dargestellt, wie sich die Lage im Bereich der Rentenversicherung und der Arbeitsmarktpolitik seit 1982, also dem Jahr der großen sozialdemokratischen Pleite, elementar verbessert hat. Wenn wir bedenken, daß für die damaligen miserablen Zustände als Parlamentarischer Staatssekretär derjenige Verantwortung trug und inhaltlich scheiterte, der jetzt als Schattenarbeitsminister alles besser machen will, so wissen wir erst recht zu schätzen, was wir Norbert Blüm für seine zwölf Jahre Tätigkeit als Bundesarbeitsminister zu verdanken haben. Herzlichen Dank, Norbert Blüm! ({19}) Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({20})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Bruno Menzel.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns zumindest darin einig, daß eine Gesellschaft auch über ihre sozialen Möglichkeiten wie z. B. Arbeit, Wohnen, Alters- und Gesundheitsversorgung definiert wird. Dabei ist entscheidend, unter welchen Bedingungen der einzelne diese Möglichkeiten verwirklichen kann. Ideal wäre es demnach, wenn niemand ohne Arbeit, niemand ohne Wohnung ist, alle eine ordentliche Rente bekommen und keiner die Folgen einer Krankheit zu fürchten braucht. ({0}) - Das wäre ideal. Jeder weiß, daß wir im vereinigten Deutschland zumindest in den ersten beiden Punkten ein gutes Stück von diesem Ziel entfernt sind. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Die sozialpolitischen Ansätze zur Beseitigung dieser Probleme sind es ebenfalls, wie wir im Verlauf dieser Debatte gehört haben. Leider, meine Damen und Herren, wird bei uns - auch in Teilen dieses Hauses - Sozialpolitik automatisch mit staatlicher Fürsorge gleichgesetzt, mit dem Ruf nach mehr Staat, nach mehr staatlichen Geldern für arbeitsmarktpolitische Instrumente, mehr staatlichen Geldern für den Wohnungsbau, nach einer staatlich garantierten Grundrente und womöglich noch nach einem staatlichen Gesundheitswesen. Ich möchte diesen Rufern ihren guten Willen überhaupt nicht absprechen. Aber wie so oft ist gut gemeint nicht gerade auch gut getan. Meine Damen und Herren, ich möchte keinen Zweifel aufkommen lassen: Für die F.D.P. stehen die gegenwärtigen sozialen Probleme in Deutschland, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit, aber auch die finanziellen Belastungen der Familien oder etwa der Zustand unserer Systeme der sozialen Sicherung, an der ersten Stelle der politischen Tagesordnung, auch über die kommende Wahlperiode hinaus. ({1}) - Ich glaube, das ist ein frommer Wunsch, der sich nicht erfüllen wird. Aber im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren links von mir, haben wir die besseren Rezepte, um die Probleme in Angriff zu nehmen. Wir sind der Auffassung, daß es nicht allein Aufgabe des Staates sein kann, für die Befriedigung der sozialen Grundbedürfnisse zu sorgen. Der Staat kann nicht als Arbeitgeber, Bauherr, Rentenanstalt und Krankenhaus fungieren, sondern nur die Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß diese Funktionen von denjenigen übernommen werden, die das besser können. ({2}) Weder ist der Staat in der Lage, solche Aufgaben zu bewältigen, ohne an den Rand seiner Leistungsfähigkeit zu stoßen, noch entspricht diese Art einer fürsorglichen Belagerung der Bürger den Prinzipien, auf denen unsere freiheitliche Gesellschaft gegründet ist. Soziale Politik, meine Damen und Herren, ist keine Einbahnstraße. Sie muß nicht nur absichern, sondern auch den einzelnen in die Verantwortung nehmen, ihm natürlich aber auch die Möglichkeit verschaffen, eigenverantwortlich handeln zu können. Ein leistungsfähiges Sozialsystem gründet nicht nur auf dem Prinzip der Solidarität, sondern auch auf der Basis von Subsidiarität und Eigenverantwortung. Leistungsfähig ist ein Sozialsystem aber gerade nicht, wenn es die Menschen in die Abhängigkeit von staatlichen Leistungen treiben läßt, zu Mißbrauch einlädt ({3}) und vermeintlich Wohltaten verteilt, und das alles auf ungedeckte Wechsel in die Zukunft. ({4}) Soziale Politik darf nicht nur bis zum Tellerrand einer Wahlperiode reichen oder auf dem Altar von Wahlversprechen geopfert werden. Solange die sozialen Themen Zukunftsthemen sind - das werden sie noch lange Zeit sein -, muß sich die Beantwortung dieser Fragen an langfristigen Prämissen orientieren. Das heißt, daß nur verteilt werden kann, was vorher vorhanden - sprich: erwirtschaftet - ist. ({5}) Den Menschen ständig neue soziale Leistungen anzubieten ist unredlich, solange die finanziellen Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind. Denn wenn eine Sozialpolitik auf Pump die Haushalte erst einmal überfordert hat, wird es keine sozialen Leistungen mehr geben können, und einen solchen Pyrrhussieg möchte ich selbst Ihnen nicht zumuten wollen, meine Damen und Herren von der Opposition. Soziale Verantwortung ist nicht dort anzutreffen, wo gießkannenartig überall etwas hinkommt oder angeblich hinkommen soll; soziale Verantwortung heißt, die zur Verfügung stehenden Mittel dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden, und daß gegebenenfalls auch gekürzt werden muß, um die soziale Sicherung nicht in Gänze zu gefährden. ({6}) Jetzt wird man wahrscheinlich einwenden wollen, daß es unsozial sei, angesichts der Situation in den neuen Bundesländern kleinkrämerisch auf das Geld zu schauen; gerade jetzt sei es auf Grund des wirtschaftlichen Strukturanpassungsprozesses infolge des Zusammenbruchs der sozialistischen Planwirtschaft, auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit, des Steigens der Mieten und von vielem mehr erforderlich, daß der Staat für alles und jedes zu sorgen hat. ({7}) Selbstverständlich steht der Staat in der Verantwortung - aber eben nicht nur, um die Arbeitslosigkeit zu verwalten. ABM, § 249h, Fortbildung und Umschulung sowie Vorruhestand bleiben wichtige Instrumente, um für die Betroffenen das Schicksal der Arbeitslosigkeit zu mildern. Auch wenn die aktive staatliche Beschäftigungspolitik nicht der Marktwirtschaft letzter Schluß ist, hat sie sich bewährt; Überbrückungsmaßnahmen gegen Arbeitslosigkeit bleiben unverzichtbar und sind auch für eine weitere Zeit notwendig. ({8}) - Das sind die Tatsachen. Wir nennen immer die Tatsachen, Frau Fuchs. Sie hören sonst vielleicht nicht richtig zu; das mag ja sein. ({9}) - Vielleicht hören Sie noch etwas weiter zu; es geht ja weiter. Die genannten Maßnahmen dürfen aber nicht in Konkurrenz zu regulären Arbeitsverhältnissen stehen, sondern müssen genügend Anreize für den Wechsel in den freien Arbeitsmarkt bieten. Niedrigere ABM-Tarife, Prüfung der Wirtschaftlichkeit von AB-Maßnahmen, verbesserte Möglichkeiten zum Durchstieg in den ersten Arbeitsmarkt, Zuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose, Überprüfung der Zumutbarkeitskriterien, flexible Einstiegstarife für Langzeitarbeitslose - eine erfolgsorientierte Beschäftigungspolitik hat viele Elemente. Sie alleine aber können an der qualitativen Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern wenig ändern. Nicht dem zweiten Arbeitsmarkt, sondern der Schaffung besserer Rahmenbedingungen für den regulären Arbeitsmarkt gehört die Zukunft, und dies natürlich nicht nur in den neuen Bundesländern. ({10}) Denn zukunftsorientierte und damit sichere Arbeitsplätze können nur in Unternehmen entstehen, die investitionsfreundliche Voraussetzungen vorfinden. Dazu zählen einige Bereiche, in denen der Staat tatsächlich aktiv werden kann und in denen er dies in den vergangenen vier Jahren auch getan hat: Verbesserungen der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur, Förderung der Privatisierung, Straffung von Genehmigungsverfahren und vieles andere mehr. Die Zahl von 460 000 selbständigen Existenzen mit über drei Millionen Beschäftigten soll als Beispiel genügen. Dies ist allerdings kein Grund, sich auf den zarten Lorbeeren auszuruhen, sondern es ist noch viel zu tun, um den berechtigten Anliegen der Menschen in Ost und West gerecht zu werden. Aber, meine Damen und Herren, Wirtschaftswachstum ist nicht alles. Sensibilität und Respekt gegenüber den Lebensleistungen und Biographien der Menschen in den neuen Bundesländern sind leider nicht immer und überall so ausgeprägt, wie ich es mir wünschen würde. Die F.D.P. hat bewiesen, daß sie die Belange der Menschen im Osten ernst nimmt. ({11}) Mit ihren Initiativen zum Entschädigungsgesetz, zur Lehrerbesoldung, zur Wochenendproblematik usw. hat sie wichtige Impulse für die innere Einheit unseres Landes gegeben. ({12}) - Sie waren sicherlich dabei, Sie werden es genau wissen, nehme ich an. ({13}) In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Altersversorgung zurückkommen. Die Sicherung der Renten in den neuen Bundesländern durch die Überführung in das westdeutsche Rentensystem ist ein Beispiel erfolgreicher Sozialpolitik. Trotz dieser positiven Entwicklung ist die Berücksichtigung der Angehörigen von Versorgungssystemen der ehemaligen DDR im Rahmen des Renten-Überleitungsgesetzes nach wie vor unbefriedigend. ({14}) Die F.D.P. hat in der Vergangenheit mehrfach betont, daß das Rentenrecht wertneutral ist und daher keine politischen Wertungen verträgt. ({15}) Wer sich im DDR-System schuldig gemacht hat, weil er nachweisbar Straftaten beging, muß mit strafrechtlichen Mitteln zur Verantwortung gezogen werden. Eine pauschale Absenkung der Renten für ganze Personengruppen ohne Einzelfallprüfung darf aber nicht zur Aufarbeitung von DDR-Geschichte instrumentalisiert werden. ({16}) Es gilt daher, sorgfältig zu prüfen, ob nicht in einem Befreiungsschlag jedwede Rentenkürzung auf Grund einer bloßen Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem abgeschafft werden könnte. Meine Damen und Herren, leider ist meine Redezeit zu Ende. Aber eines darf ich noch sagen. An Hand all der von mir genannten Beispiele wird deutlich, daß mit konkreten Leistungen, wenn auch nicht immer spektakulär und aufsehenerregend, eine weitaus bessere Sozialpolitik für die neuen Bundesländer gemacht wird als mit leeren Versprechungen und vermeintlichen Wohltaten. Die F.D.P. fühlt sich der Einheit verpflichtet. Mit kleinen, aber wirksamen Schritten werden wir unser Ziel, die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse in Ost und West, eher erreichen, als es die Unkenrufe gewisser, den fortschreitenden Einigungsprozeß torpedierender Kreise die Bürger glauben machen wollen. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Petra Bläss das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident. Meine Damen und Herren! Der Sozialstaat ist eines der wesentlichen Elemente in unserer freiheitlichen Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands. Ihn für die Zukunft zu gestalten ist eine der großen Aufgaben der kommenden Legislaturperiode. Ich habe mich der Mühe unterzogen, einmal in die Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und F.D.P. vom Januar 1991 zu sehen, und ich habe versucht, sie mit der Realität zu vergleichen. Wie sieht sie aus, die Realität im Wahljahr 1994? Zu Recht hat die Nationale Armutskonferenz festgestellt, daß die Bundesrepublik derzeit vor einer sozialen Zerreißprobe steht. Auf der einen Seite mußten noch nie mehr Menschen am Rande unserer Gesellschaft leben, zum Teil in schlimmster Weise unterversorgt und in Armut. Ich finde es sehr traurig, wie der Sozialminister dieses Thema nach wie vor ignoriert. Auf der anderen Seite haben wir Milliardengewinne von Banken und Konzernen und offensichtlich zunehmenden Reichtum. Die Statistik weist mehr als vier Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, mehr als 3,6 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose und über eine Million Obdachlose aus. Das ist weit mehr als eine alarmierende Bilanz am Ende einer Legislaturperiode. Dies ist zu allererst Ergebnis einer von Sozialabbau und Deregulierung geprägten Regierungspolitik. Es sind vor allem Frauen, ältere Arbeitslose, Menschen mit Behinderungen, Ausländerinnen und Ausländer sowie Jugendliche, die zunehmend an den Rand einer durch Erwerbsarbeit geprägten Gesellschaft gedrängt werden. Sie müssen den Preis für die schrittweise Absage an das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip zu allererst zahlen. Armut im Wohlstand - die sozialpolitischen Entscheidungen der Regierungskoalition in den letzten vier Jahren haben sie systematisch befördert, beispielsweise durch massive Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, durch die Streichung der besonderen Hilfen im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes zur beruflichen Integration junger Menschen sowie durch die Deckelung der Regelsätze in der Sozialhilfe. Zumeist wurde dies alles in irreführend, zungenzerbrecherisch betitelten umfangreichen Gesetzespaketen sehr geschickt getarnt - siehe FKP oder SKWPG. Herr Blüm, ich finde es ebenso beschämend, wie Sie als Sozialminister die gegenwärtig in der Fachliteratur geführte Debatte um die Notwendigkeit der Einführung einer sozialen Grundsicherung - z. B. über den ersten Schritt: Einführung einer Mindestsicherung im Alter - ignorieren. Zurück zur Koalitionsvereinbarung. Dort heißt es: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist auf hohem Niveau fortzusetzen. Ihre Instrumente sind verstärkt auf Problemgruppen zu orientieren. Angesichts der gestern veröffentlichten Arbeitsmarktzahlen und angesichts des systematischen Abbaus im Bereich von Arbeitsmarktpolitik empfinde ich das als einen absoluten Hohn. Das besonders Alarmierende bei der Analyse der gestrigen Zahlen war für mich die Rekordhöhe der Langzeitarbeitslosenquote. Es wird immer sehr viel über die Kosten von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosigkeit gesprochen. Im Jahre 1993 wurden bekanntlich 117 Milliarden DM ausgegeben, um Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Im neuesten IAB-Werkstattbericht findet sich eine Argumentation zum Thema Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik. - Beim IAB handelt es sich zweifellos um eine sehr seriöse Institution. - In dem Bericht wird klar ausgeführt, daß sich aktive Arbeitsmarktpolitik - zumindest teilweise - selbst finanziert und daß die finanzielle Entlastung bei den Lohnersatzleistungen über die eingesparten Ausgaben hinausgeht, z. B. durch zusätzliche Einnahmen der Gebietskörperschaften oder der Sozialversicherungsträger. Ich denke, das Phänomen Massenarbeitslosigkeit kann einfach nicht mehr wegdiskutiert werden. Es ist in der Tat ein globales Problem. Es wird keine einzelne politische Kraft mehr geben, die ein Patentrezept zur Lösung hat. Deshalb ist es meiner Meinung nach ganz wichtig, in der nächsten Legislaturperiode überfraktionell darüber nachzudenken, wie die Arbeit - und die ist in diesem Lande reichlich vorhanden - gerechter umverteilt werden kann - Stichwort: Arbeitszeitverkürzung. Wie kann - als Frauenpolitikerin liegt mir sehr an dieser Frage - Arbeit neu- und umbewertet werden? Wir müssen auf die Leistungen von Frauen schauen, die seit Jahrhunderten unbezahlt und unbewertet im Reproduktions- und Dienstleistungssektor erbracht werden. Sonntagsreden über die Anerkennung von Pflege- und Familientätigkeit der Frauen reichen eben nicht mehr aus. ({0}) Eine weitere Anmerkung zur Koalitionsvereinbarung - mir fehlt die Zeit, auf alle Aspekte der Sozialpolitik einzugehen -: Es ist interessant, zu sehen, welche Punkte erfüllt wurden und welche nicht. Sämtliche Deregulierungsvorhaben sind geradezu „vorbildlich" erfüllt worden. Ich nenne nur die Stichworte Arbeitszeitregelung, Abbau von Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerschutzrechten. Die Schulaufgaben wurden nicht erfüllt, was z. B. die Arbeitsschutzrahmengesetzgebung betrifft, aber auch die versprochene Neuregelung des SGB IX, des Schwerbehindertenrechtes, kam nicht. Lassen Sie mich nun noch zum Komplex Frauenpolitik kommen, obwohl ich große Probleme habe, sie als Ressort zu diskutieren. Zeitlich geht es bei mir jetzt nicht anders; ich bin gespannt, ob Frau Merkel als Frauenministerin ihre Chance nutzt und in die Haushaltsdebatte auch noch fachlicherseits eingreift. Der Gesetzgeber wurde laut Einigungsvertrag aufgefordert, „die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Gleichstellung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwickeln " . Mit dem Anschluß der DDR an die Bundesrepublik hat es jedoch eine gegenteilige Praxis gegeben: Die Politik der Bundesregierung lief darauf hinaus, die geschlechtsspezifische Rollenzuweisung weiter zu zementieren und mit einem traditionellen Frauenleitbild auch in den neuen Bundesländern die Frauen auf ihre Aufgaben im Haushalt, in der Familie und bei der Kinderbetreuung festzulegen. Gleichzeitig sollen Frauen als Manövriermasse für konjunkturelle Schwünge uneingeschränkt verfügbar bleiben. Über zwei Millionen Frauen sind seit 1990 in den neuen Bundesländern entweder ganz oder teilweise aus dem Erwerbsleben gedrängt worden. Die Koalitionsvereinbarung hatte versprochen, daß Frauen „an den Qualifizierungs- und AB-Maßnahmen entsprechend ihrem Anteil an den Personen ohne Beschäftigung zu beteiligen" sind. Trotz AFG-Novellierung mit der unverbindlichen Sollregelung besteht eine sehr große Unstimmigkeit. Der Frauenanteil bei den Arbeitslosen in den neuen Bundesländern hat sich bekanntermaßen um die 65 % eingepegelt. Ich finde es sehr traurig, daß man diese Höhe mittlerweile fast als selbstverständlich ansieht. Die Teilnahme der Frauen an der Arbeitsmarktpolitik ist von dieser Prozentzahl noch meilenweit entfernt. Ich denke auch, daß die AFG-Novellierungen, die wir in dieser Legislaturperiode ja reichlich hatten, genau das Gegenteil von dem erreicht haben, was in der Koalitionsvereinbarung eigentlich versprochen worden war. Sie haben den Zugang bzw. den Wiedereinstieg von Frauen ins Erwerbsleben nicht erleichtert, sondern nur erschwert. Meine Damen und Herren, zu erkennen, daß etwas gegen die Ausgrenzung von Frauen und ihre Unterrepräsentanz in Gremien und Chefetagen zu tun ist, ist das eine; Lösungsangebote zur Beseitigung dieses Mißstandes zu unterbreiten ist das andere. Wir wissen alle, das zentrale Gesetzgebungsverfahren des Bundesministeriums für Frauen und Jugend war das Gleichberechtigungsgesetz. Ich halte es nach der Beratung hier im Parlament, die sehr beschämend war, für ein Alibigesetz - mit den Soll- und Kannvorschriften, mit der Reduzierung auf den öffentlichen Dienst, mit dem Fehlen von Sanktionen und mit nicht ausreichenden Kompetenzen für Frauenbeauftragte. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Politik, Wirtschaft und Kultur ist in einer patriarchal geprägten und strukturierten Gesellschaft nur mittels Quoten, wirksamer Antidiskriminierungsgesetzgebung und verbindlicher Frauenförderplänen durchzusetzen. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Ich darf aber einen Punkt wohl nicht auslassen. Am gestrigen Abend oder heute nacht wurde ein neues Kapitel in der unendlichen Geschichte des § 218 aufgeschlagen. Praktisch in letzter Minute ist die Große Koalition in Sachen Neuregelung des § 218 geplatzt. Ich sehe das als eine Chance, in der nächsten Legislaturperiode in einem ersten Schritt das Karlsruher Urteil über die Gesetzgebung so auszureizen, daß tatsächlich alle Freiräume, die dort für Frauen, für Beraterinnen und für Ärztinnen und Ärzte gegeben worden sind, voll ausgenutzt werden. Grundrechte von Frauen sind nicht teilbar. Deshalb wird die PDS/Linke Liste, die sich für die ersatzlose Streichung des § 218 einsetzt, in der nächsten Legislaturperiode ihre Forderung wiederholen, daß im Grundgesetz das Recht jeder Frau auf Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper und über ihr Leben verankert wird. Wir sollten alle daran denken, daß Frauen nicht nur die Hälfte der Bevölkerung, der Menschheit überhaupt sind, sondern auch die Hälfte der Wählerschaft. Ich hoffe vor allem, daß im 13. Deutschen Bundestag mehr Frauen als bisher sein werden. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Konrad Weiß ({0}).

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die diesjährige Haushaltsdebatte war weniger die Diskussion des Haushalts für das kommende Jahr als vielmehr der Versuch, sich für die Versäumnisse der vergangenen vier Jahre zu entschuldigen oder sie dem politischen Gegner in die Schuhe zu schieben. Ich frage mich besorgt, welche Wirkung eine solche ritualisierte Debatte auf die Bürgerinnen und Bürger und ihre Absicht, zur Wahl zu gehen, haben mag. ({0}) Diese Bundesregierung hat zweifellos Fehler gemacht; manche davon sind schwerwiegend und zum Nachteil vieler in unserem Land. Aber es wäre Konrad Weiß ({1}) doch purer Hochmut, wenn irgend jemand für sich beanspruchen würde, daß der schwierige Prozeß der Vereinigung Deutschlands ohne Fehler und Irrtümer hätte vollzogen werden können. ({2}) Kein Bundeskanzler und keine Bundesregierung, welcher Couleur auch immer, hätte das bewältigen können. Das wissen Sie alle so gut wie ich. Vier Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir, die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Bundestages, zu prüfen - und ich hätte mir gewünscht, daß wir das deutlicher und intensiver getan hätten -, wie es um Deutschland steht. Ist es uns gelungen, den Impuls der friedlichen Revolution aufzunehmen und weiterzutragen, oder ist das Feuer des Herbstes 1989 erloschen? Ist es uns gelungen, 15 Millionen DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die über drei Generationen hin keine Erfahrungen mit Demokratie und Freiheit machen durften, von Freiheit und Demokratie zu überzeugen? Haben wir. die Abgeordneten, die Menschen in Deutschland aktivieren können und dazu beigetragen, daß sie als mündige Bürgerinnen und Bürger handeln? Haben wir alles getan, damit soziale Gerechtigkeit in unserem Land herrscht, damit die Schwachen gestärkt und die Benachteiligten gleichgestellt werden und damit junge Menschen in Deutschland eine Zukunft haben? Sie kennen die sozialen Defizite, die mit der Wiedervereinigung entstanden sind oder vertieft wurden, so gut wie ich. Ich bin nicht der Meinung, daß wir alles Menschenmögliche getan haben, um die Benachteiligung von Frauen, von Kindern, von Familien, von Behinderten, von Pflegebedürftigen, von Ausländern, von Arbeitslosen zu beseitigen. Statt die Arbeitslosigkeit entschieden zu bekämpfen, wurden durch eine verfehlte Struktur- und Eigentumspolitik zusätzlich Arbeitsplätze vernichtet und der wirtschaftliche Aufschwung gehemmt. Die Strategie, einerseits die mangelnde Solidarität in unserer Gesellschaft zu beklagen, andererseits aktiv die Spaltung unserer Gesellschaft durch den Aufbau von Feindbildern zu fördern, mag einen kurzfristigen Wahlerfolg bescheren. In Wahrheit aber wird durch solchen Parteienegoismus das wichtigste Kapital eines sozialverfaßten Gemeinwesens verspielt: die Mitmenschlichkeit und die Solidarität mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Die Zukunft des Sozialstaates, die gesichert werden soll - ich denke, das ist unser aller Anliegen -, wird so aber gefährdet. Die anhaltende wie überflüssige Debatte um das Lohnabstandsgebot und die Familienpolitik dieser Bundesregierung sind dafür symptomatisch. Leider sind wir weiter denn je von einem funktionierenden Familienlastenausgleich entfernt. Die aktuellen Vorschläge der Union würden sogar dazu führen, daß sich die Situation der bedrängten Familien mit kleinen Einkommen noch mehr verschlechtert. Obwohl der Haushaltsentwurf ausweist, daß allein 1994 1,4 Milliarden DM für den Kindergeldzuschlag aufgewendet werden müssen, weil zahlreiche kindergeldberechtigte Familien nicht einmal den heutigen Kinderfreibetrag nutzen können, soll nach den Vorstellungen des Finanzministers der steuerliche Kinderfreibetrag auf etwa 7 000 DM pro Jahr erhöht werden. Dieser Vorschlag ist ein Paradebeispiel für die paradoxe Sozialpolitik der Regierungskoalition. Notwendig sind nach den Vorstellungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tiefgreifende soziale Reformen, durch die wir die immer knapper werdenden öffentlichen Mittel auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Selbsthilfe kann doch nur von jenen gefordert werden, die dazu auch wirtschaftlich in der Lage sind. Für die Familienpolitik bedeutet dies eine Abkehr vom heutigen dualen System des Kinderlastenausgleichs; denn durch die Steuerprogression ist die unterschiedliche Entlastungswirkung des Kinderfreibetrages zwangsläufig. Wir schlagen deshalb in einem ersten Schritt die Einführung eines einheitlichen Kindergeldes von 250 DM vor, das den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Im Gegenzug soll der steuerliche Kinderfreibetrag gestrichen werden. Darüber hinaus soll ein zusätzlicher, einkommensabhängiger Betrag für all diejenigen gewährt werden, bei denen die 250 DM nicht greifen. Für einkommensschwächere Familien kann so ein Kindergeld von bis zu 400 DM pro Kind bereitgestellt werden. Diese Leistungen werden wir nicht aus dem Nichts, sondern durch eine sozialverträgliche Reform der Ehegattenbesteuerung aufkommensneutral finanzieren. Durch die bisherige steuerliche Bevorzugung der Ehe entstehen jährlich Steuerausfälle von über 36 Milliarden DM. Die gesellschaftliche Bedeutung der Ehe, vor allem aber das Gleichheitsgebot rechtfertigen dieses Privileg längst nicht mehr. Nach der heutigen Rechtslage werden Ehegatten, wenn sie die Zusammenveranlagung wählen, so besteuert, als würden sie das gemeinsame Einkommen jeweils genau zur Hälfte erzielen. Wegen der Progression ist das Ehegattensplitting um so vorteilhafter, je mehr die tatsächlichen Einkommen voneinander abweichen. Der Vorschlag der Union, statt des Ehegattensplittings ein Familiensplitting einzuführen, vertieft das strukturelle Problem, anstatt es zu vermindern. Wir wollen daher das für geschiedene und getrennt lebende Paare bereits bewährte Modell des Realsplittings auf zusammenlebende Ehepaare übertragen. Das heißt, die Ehepartner werden prinzipiell getrennt veranlagt, Unterhaltsleistungen zwischen den Ehepartnern werden jedoch in einem begrenzten Umfang steuermindernd anerkannt. Für uns ist dabei wichtig, daß die Bezieher kleiner Einkommen nicht schlechter gestellt werden als unter den heutigen Bedingungen. Durch die Abschaffung des Ehegattensplittings werden so unter Berücksichtigung des Realsplittings steuerliche Mehreinnahmen von mindestens 6 Milliarden DM pro Jahr erzielt. Mit diesem Betrag wollen wir die Mehrkosten für das von uns geforderte Kindergeld vollständig bestreiten. Prinzipiell ist eine grundlegende Vereinfachung und Harmonisierung der Familienbesteuerung notwendig. Dies erfordert jedoch eine Verfassungsände21502 Konrad Weiß ({3}) rung. Wir wollen, daß statt der Ehe künftig Lebensgemeinschaften mit Kindern unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt werden. So kann der Gesetzgeber den notwendigen Handlungsspielraum gewinnen, sozialpolitische Maßnahmen auf diejenigen Familien zu konzentrieren, die der staatlichen Unterstützung am dringendsten bedürfen. Entschieden weisen wir den Versuch der Bundesregierung zurück, sich mit einer Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre finanziellen Spielraum zu verschaffen. Nach den Vorstellungen des Bundesfinanzministers sollen so 350 000 Menschen zusätzlich zu Sozialhilfeempfängern gemacht werden. Die daraus resultierende Mehrbelastung für die Gemeinden ist mit mindestens 3,5 Milliarden DM anzusetzen. Auch die Beitragszahler der Sozialversicherung hätten diesen Beitrag zur Konsolidierung der Bundesfinanzen teuer zu bezahlen; den Sozialkassen würden rund 1,5 Milliarden DM pro Jahr an Beitragseinnahmen verlorengehen, was zweifellos eine Anhebung der Beitragssätze zur Folge hätte. Am Ende der Ära Kohl ist festzustellen, daß die fortgesetzten Kürzungen in vielen Bereichen der Sozialpolitik letztlich zu einem drastischen Anstieg der Sozialhilfekosten geführt haben. Immer neue Leistungsausgrenzungen in den vorgelagerten Sicherungssystemen haben immer mehr Menschen zu Sozialhilfeempfängern gemacht. Der ursprüngliche Charakter der Sozialhilfe als Ausfallbürge für vorübergehende Notlagen einzelner hat sich angesichts der Massenarbeitslosigkeit grundlegend gewandelt. Für Millionen Betroffener ist die Sozialhilfe zu einer unverzichtbaren Dauerleistung geworden. ({4}) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werben seit langem für ein Modell der bedarfsorientierten Grundsicherung, mit dem wir die Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz ablösen wollen. Damit werden wir für die Betroffenen eine verläßliche Lebensplanung und soziale Teilhabe gewährleisten. Zum anderen werden wir den Bund so endlich in die direkte finanzielle Verantwortung nehmen, um sicherzustellen, daß alle Möglichkeiten der Armutsprävention genutzt werden. Denn die Frage, welche Kosten die Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung erfordert, wird sich zuallererst daran entscheiden, inwieweit endlich gangbare Wege aus der Armut aufgezeigt werden. Für uns kommt dabei der Verzahnung von Grundsicherung und Arbeitsförderung sowie natürlich einer wirksamen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oberste Priorität zu. Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß ein persönliches Wort. Es hat hier bereits verschiedene Abschiedsreden gegeben. Die meisten derjenigen, die sich aus diesem Haus verabschiedet haben, waren sehr, sehr viel länger in diesem Parlament als ich. Bei mir waren es vier Jahre. Hinzu kamen ein halbes Jahr Volkskammer und wenige Monate des Runden Tisches. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Es war nicht immer ganz einfach, als Abgeordneter einer sehr kleinen Gruppe - ohne den Rückhalt einer starken Fraktion - in diesem Hause anwesend zu sein. Ich habe ungefähr 130mal an diesem Pult gestanden. ({5}) Das hat immer auch Arbeit bedeutet. Ich danke Ihnen, daß Sie mir mit Geduld zugehört haben. ({6}) Ich hoffe, daß im nächsten Deutschen Bundestag eine starke Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vertreten ist, die dann für Sie ein guter Gesprächspartner sein wird. Ich bitte all diejenigen, denen ich in den vergangenen vier Jahren beabsichtigt oder - wie zumeist - unbeabsichtigt wehgetan habe, um Verzeihung, wenn die Argumente zu hart ausgefallen sind. Ich denke, es kommt darauf an, daß dieser Deutsche Bundestag weiterhin ein Parlament demokratischer Parteien ist, ({7}) in dem gestritten und nach dem besten Weg für das deutsche Volk gesucht wird. Ich werde in diesem Sinne an anderer Stelle weiterarbeiten. Vielen Dank. ({8})'

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, weil sich das nun so ergibt, will auch ich sagen: Herr Kollege Konrad Weiß, ich glaube, das ganze Haus ist Ihnen für die Arbeit, die Sie in diesen vier Jahren hier geleistet haben, dankbar. Das gilt, so glaube ich, für alle. ({0}) Nun erteile ich unserem Kollegen Heinz-Adolf Hörsken das Wort. ({1})

Heinz Adolf Hörsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000931, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Entwurf für den Haushalt des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung weist gegenüber 130,4 Milliarden DM im Jahre 1994 für 1995 ein Volumen von 131,6 Milliarden DM auf. Damit bleibt er auch im nächsten Jahr mit einem Anteil von über 27 % mit Abstand der größte Einzelplan des Bundeshaushalts. Auf Grund der derzeitigen ökonomischen Annahmen für das kommende Jahr werden insgesamt 177,6 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt für Soziales ausgewiesen. Damit fließt jede dritte Mark des Bundesetats in den Sozialbereich. Es wird deutlich: Der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland wird seiner Verantwortung gerecht. Er ist weltweit führend. Die deutsche Einheit stellte den Sozialstaat vor eine gewaltige Aufgabe. Für den Vorgang „ deutsche Einheit" gab es kein Beispiel. Für Modellversuche, für Zögern und Zaudern war keine Zeit; denn die Tür zur Einheit stand nur für kurze Zeit offen. Erst im Rückblick zeigt sich, welche Herausforderung die Herstellung der Einheit in der Praxis mit sich gebracht hat. Vergleichbares hat es in der hundertjährigen deutschen Sozialgeschichte nicht gegeben. Auf diese Bilanz sind wir stolz. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, natürlich könnte vieles besser sein, natürlich wünschen auch wir uns dies. Nur: Wir wissen, daß die Politik die Kunst des Möglichen ist. ({0}) Viele verwechseln den Sozialstaat mit einer milchgebenden Kuh, ohne jedoch an die Fütterung zu denken. Sozialleistungen müssen immer aktuell erwirtschaftet werden; so ist das nun einmal. Deswegen haben wir in den vergangenen Jahren wichtige Beiträge zur Konsolidierung der Staatsfinanzen geleistet und so zur Belebung der Wirtschaft und zur Sicherung des Standorts Deutschland beigetragen. Ohne Sparmaßnahmen hätten mehr Schulden gemacht werden müssen, was die wirtschaftliche Belebung und damit weitere Arbeitsplätze gefährdet hätte. Die wirtschaftliche Erholung in Deutschland ist ein entscheidender Erfolg unserer Politik. ({1}) Wirtschaftliches Wachstum sowie eine flexible und leistungsfähige Wirtschaft sind unverzichtbare Voraussetzungen für den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Alle Maßnahmen müssen darauf gerichtet sein, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. Trotz anziehender Konjunktur wird die Arbeitslosigkeit nicht automatisch drastisch gesenkt werden können. Wir brauchen eine Aufbruchstimmung, um zusätzliches Wachstum und Beschäftigung zu sichern. Das ist die beste Vorsorge für die Zukunft des Industriestandorts Deutschland. ({2}) Die SPD zieht über das Land und versucht, mit Negativschlagzeilen Stimmung in der Bevölkerung zu machen. Der größte Negativrekord liegt darin, daß sie nicht erkennen will, daß sie sich mit ihren Vorschlägen auf dem Holzweg befindet. ({3}) Es ist nicht in Ordnung, wenn von der SPD der Eindruck erweckt wird, die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland gehe auf das Versagen der von der CDU/CSU und der F.D.P. gestellten Bundesregierung zurück. ({4}) Wer so an dieses Thema herangeht, verdeckt das eigentliche Problem, daß nämlich die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern die Erblast einer 40jährigen sozialistischen Fehlbesetzung gewesen ist, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Die Bundesregierung hat alles darangesetzt, die Lebensbedingungen der Menschen in den neuen Bundesländern so schnell wie möglich und bestmöglich denen der westlichen Länder anzugleichen. Seit der Wiedervereinigung konnten über zwei Millionen Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern weiter- und fortgebildet bzw. umgeschult werden. 1992 wurden allein in den neuen Bundesländern im Jahresdurchschnitt dreizehnmal soviele Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen finanziert wie 1982 in allen Altländern unter der Regierung Schmidt. Damals gab die SPD nur 18 % der Mittel der Bundesanstalt für eine aktive Arbeitsmarktpolitik aus; heute sind es annähernd 50 %. Dies hat 1983 bundesweit zu einer Entlastung auf dem Arbeitsmarkt in Höhe von immerhin zwei Millionen Arbeitslosen beigetragen. Wenn man sich die großen SPD-Reden anhört, stellt man fest, daß sich die SPD damit brüstet, daß es am Ende ihrer Regierungszeit 1982 bedeutend weniger Arbeitslose gab als heute. Dabei verschweigt sie total die Tatsache, daß in der Zeit der Regierung Kohl drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden sind. ({6}) Daß es möglich war, den hohen Beschäftigungsstand von 29 Millionen Erwerbstätigen bis jetzt zu halten, ist eine Leistung, die ihresgleichen in der Welt sucht. ({7}) - Ich weiß, daß das alles schwierig ist. Die ganze Welt schaut bewundernd auf diese Tat. Nur die SPD versucht, sie zu verteufeln. Dies hat mit objektiver Betrachtungsweise nichts mehr zu tun. Hört endlich auf mit der Hetze, sondern geht an die Fakten! Meine Damen und Herren, trotz der Sparzwänge hat es keinen Stillstand gegeben. Wir mußten sparen. Aber dies ist keine originäre Angelegenheit der Bundesrepublik Deutschland. Wenn Sie wollen, lese ich Ihnen hier drei Seiten vor, was in den anderen europäischen Staaten jetzt alles geschieht, damit auch die dortigen Haushalte konsolidiert werden können. Das geht mit den Sozialisten in den Niederlanden los und hört bei den Sozialisten in Spanien auf. Sie wissen doch selbst, daß dies keine originäre Angelegenheit der Bundesrepublik Deutschland ist. ({8}) Trotz der Sparzwänge hat es aber keinen Stillstand bei neuen sozialpolitischen Anstrengungen gegeben. Nach 20jähriger Diskussion - die ist hier schon mehrfach angesprochen worden - haben wir die fünfte Säule des Sozialversicherungssystems eingeführt. Sie selber haben doch daran mitgewirkt. Warum zerreden Sie denn die Leistung, die wir gemeinsam zustande gebracht haben? ({9}) Die Pflegeversicherung war der entscheidende Testfall für den notwendigen Umbau und die Reformfähigkeit des Sozialstaats. Die größten Ausgabenblöcke im BMA-Haushalt sind die Mittel für die Sozialversicherung einschließlich der Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung mit 76,3 Milliarden DM, die Arbeitsmarktpolitik mit 40,3 Milliarden DM sowie der Kriegsopferhaushalt mit 13,5 Milliarden DM. Der vorgelegte Haushaltsentwurf für Arbeit und Sozialordnung festigt das Fundament auf dem Weg zum einigen deutschen Sozialstaat. Unter Berücksichtigung des Bundeszuschusses an die Bundesanstalt für Arbeit belaufen sich die einigungsbedingten Ausgaben auf 46,5 Milliarden DM. Der tiefgreifende Umstrukturierungsprozeß in den neuen Bundesländern wird damit weiterhin sozialverträglich abgesichert und die aktive Arbeitsmarktpolitik auf einem hohen Niveau fortgeführt. Die Rentenversicherung ist solide und sicher. Der Beitragssatz wird von derzeit 19,2 % im Jahr 1995 auf 18,6 % sinken, obwohl in der Rentenversicherung ein West-Ost-Transfer von 14 Milliarden DM stattfindet. Die Entwicklung des Beitragssatzes nimmt somit einen günstigeren Verlauf, als der Gesetzgeber 1989 vor der deutschen Einheit bei der Verabschiedung des Rentenreformgesetzes angenommen hat. Damals wurde für 1995 ein Satz von 19 % zugrunde gelegt. Ursache für die erfreuliche Situation ist die konjunkturelle Aufwärtsentwicklung, die sich bereits 1994 in steigenden Beitragseinnahmen niederschlägt. Die Schwankungsreserve wird Ende 1994 33,9 Milliarden DM betragen und damit um 124 Milliarden DM über der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestreserve von einer Monatsausgabe liegen. Erinnern Sie sich noch an die Schwankungsreserve, die Sie 1981/82 verantworten mußten? ({10}) Hier ist vorhin schon davon gesprochen worden; nur deswegen erinnere ich daran. Während die Bundeszuschüsse 1994 wegen der Beitragssteigerung von 17,5 % auf 19,2 % um 9 Milliarden DM auf 72,4 Milliarden DM anstiegen, ist für 1995 wegen der Beitragsentwicklung kein Zuwachs zu verzeichnen. Von den 72,4 Milliarden DM entfallen 59,3 Milliarden DM auf die Rentenversicherung in den alten Bundesländern und 13,1 Milliarden DM auf die neuen Bundesländer. Die Arbeitsmarktpolitik leistet weiterhin einen entscheidenden Beitrag zum historischen Umwandlungsprozeß in den neuen Bundesländern. Sie garantiert die sozialverträgliche Gestaltung des raschen Umstrukturierungsprozesses und fördert Wachstum und Beschäftigung in ganz Deutschland. Der Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit wird auf der Basis der derzeitigen ökonomischen Annahmen für 1995 und unter Fortschreibung der derzeitigen Haushaltsansätze mit rund 15 Milliarden DM veranschlagt. Auf dieser Basis wird die aktive Arbeitsmarktpolitik 1995 auf dem hohen Niveau des Vorjahres fortgeführt werden können. Die Mittel für berufliche Bildung sowie für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden in etwa auf dem Niveau des laufenden Jahres liegen. Dies ermöglicht etwa so viele Teilnehmer wie in diesem Jahr. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sollten bei den Zahlen und Fakten, die wir hier vortragen, immer daran denken, daß hinter all diesen Maßnahmen Menschen und Schicksale stehen, so daß wir nicht einfach nur auf die Zahlen schauen sollten. Diese Zahlen können sich jedenfalls sehen lassen. Ohne unsere große Stabilisierungsanstrengung wäre weder die Weiterentwicklung des Sozialstaats noch die deutsche Einigung möglich gewesen; denn der Sozialstaat kann nicht einfach durch Expansion seiner Ausgaben weiterentwickelt werden. Wir haben in der jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode ohne jegliches Beispiel und Vorbild in der Geschichte des Sozialstaats die Sozialversicherungen in Sachen deutsche Einheit auf eine sichere Grundlage gestellt, und unsere Arbeitsmarktpolitik hat eine beschäftigungspolitische Katastrophe verhindert. Aber die Sozialpolitik kann die Arbeitsplätze nicht schaffen. ({11}) Das ist und bleibt in unserer sozialen Marktwirtschaft Aufgabe der Wirtschaft, also der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, und nicht des Staates. Was wir tun können und tun müssen, ist, die Rahmenbedingungen zu setzen und eine solche Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, wie wir es getan haben und weiterhin tun werden. Denn auch am Arbeitsmarkt kann nicht mehr verteilt werden, als erwirtschaftet wird. ({12}) Gleichzeitig muß auch für die Einhaltung der Spielregeln auf dem Arbeitsmarkt gesorgt werden, und illegale Beschäftigung sowie Leistungsmißbrauch müssen entschlossen bekämpft werden. Meine Damen und Herren, ich sage an dieser Stelle ausdrücklich: Das darf sich nicht nur auf den Sozialbereich beziehen; dies muß auch in anderen Bereichen geschehen, beispielsweise bei der Steuerhinterziehung. Aber Sie wissen, daß das zu einem großen Teil Sache der Länder ist. Hier könnten andere schon längst tätig werden. ({13}) Das Beschäftigungsförderungsgesetz 1994, mit dem wesentliche Teile des Aktionsprogramms für mehr Wachstum und Beschäftigung umgesetzt werden, wird seine positiven Impulse im Jahr 1995 voll entfalten können. 6,4 Milliarden DM stehen im Haushalt für das Altersübergangsgeld bereit; dazu kommen weitere 2,3 Milliarden DM aus dem Haushalt der Bundesanstalt. Insgesamt beziehen rund 290 000 Empfänger diese Leistung, die weiter als wichtige Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und Rente dient. Erstmals erhalten ab 1995 die Bezieher von Altersübergangsgeld, denen die Rente wegen Alters zuerkannt wird, vom Zeitpunkt der Rentenzuerkennung an einen Ausgleichsbetrag. Der Ausgleichsbetrag wird für die restliche Dauer des Altersübergangsgeldes, maximal bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, gewährt. Für rund 140 000 Empfänger sind hierfür 1995 430 Millionen DM eingeplant. Für die Zahlung von Vorruhestandsgeld sind weitere 0,8 Milliarden DM vorgesehen. Die Ausgaben für die Arbeitslosenhilfe schlagen mit 15,7 Milliarden DM zu Buche. Bei der vorgesehenen Begrenzung der Bezugsdauer werden wir nach einer sozialverträglichen Lösung suchen müssen; hier müssen wir nach einer Alternative suchen, die sicherlich auch gefunden werden kann. Die immensen Anstrengungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern schlagen sich in eindrucksvollen Bilanzzahlen nieder: Rund 150 Milliarden DM wurden von 1991 bis 1994 u. a. für den engagierten und forcierten Einsatz von Fortbildung und Umschulung, ABM und Vorruhestand sowie für Kurzarbeitergeld aufgewandt. Ende 1995 wird diese Summe voraussichtlich die Marke von 180 Milliarden DM erreicht haben. Ich sage dies nicht, um deutlich zu machen, was wir leisten und was wir in die neuen Bundesländern transferieren - ich halte das für selbstverständlich und richtig -; ich sage dies, um den Bürgerinnen und Bürgern ein positives Signal zu geben. Dies ist ein Stück Solidarität, das hier gelebt wird. Laßt uns diese Solidarität doch nicht permanent zerreden! ({14}) Die arbeitsmarktpolitischen Anstrengungen und Erfolge halfen nicht nur, vielfache Sorgen und Nöte der einzelnen betroffenen Menschen zu vermeiden, sondern schufen in den neuen Bundesländern zugleich die humanen und sozialverträglichen Grundlagen für den Wirtschaftswandel und damit für die Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Viertel der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik floß 1991 bis 1994 in die berufliche Bildung. Das ist gut für die Zukunft und gibt den Menschen die Möglichkeit, sich den veränderten Anforderungen des Arbeitsmarktes im vereinten Deutschland zu stellen. Die mittel- und langfristig angelegte Strategie der Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland bedarf gerade in dieser historischen Umbruchsituation der Begleitung durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Ziel ist es, die Menschen zu neuer Beschäftigung zu bringen.. Dazu müssen auch neue Wege in der Lohn- und Gehaltspolitik beschritten werden. Ich nenne nur Beispiele: die Förderung der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, die Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Erschließung neuer Beschäftigungsfelder. Neue Beschäftigungsfelder, z. B. in den Bereichen Pflege, Kinderbetreuung, Erziehung, in den modernen Kommunikationstechnologien, in der Freizeitindustrie und in der Umwelttechnik, müssen zügig erschlossen werden. Der Zuwachs an Beschäftigungsverhältnissen, der durch die Pflegeversicherung möglich wird, wird mittelfristig bei 150 000 Arbeitsplätzen liegen. Dies alles zeigt, daß wir zwar nach wie vor riesige Probleme haben, insbesondere in den neuen Bundesländern. Es zeigt aber auch, daß wir sie nicht allein in der Bundesrepublik Deutschland haben, sondern auf der wanzen Welt, insbesondere in allen Industriestaaten. Es zeigt auch, daß es unrichtig und unwahr ist, das, was wir hier vorlegen, als den sozialen Kahlschlag zu bezeichnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist nicht der Fall, sondern hier ist deutlich gesagt: Wir haben einen Sozialstaat, der sich im Vergleich mit anderen rühmen und sehen lassen kann. Herzlichen Dank. ({15})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, Günther Heyenn, das Wort.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird bei diesem Haushalt, lieber Herr Kollege Hörsken, nicht dazu kommen, daß er in den Ausschüssen beraten wird. ({0}) Deswegen haben Sie heute versucht, heute für den Deutschen Bundestag eine Einführung in eine Ausschußberatung zu geben. Vielen Dank! Aber ersparen Sie es mir, daß ich auf diese - einem Ausschuß angemessenen - Ausführungen vertiefend eingehe. Nur eines: Es ist nichts Tolles in unserem Land, wenn der Haushalt des Bundesarbeitsministers das höchste Volumen der Einzeletats des Bundeshaushalts hat; ({1}) denn das ist u. a. auf die hohe Zahl der Arbeitslosen, die wir haben, zurückzuführen. ({2}) Nun sagen Sie, Herr Hörsken, für die hohe Zahl der Arbeitslosen in den neuen Ländern -1,1 Millionen - sei die Regierung der früheren DDR verantwortlich. Mit den 2,5 Millionen Arbeitslosen - das muß ich daraus schließen - in den alten Bundesländern hat die Wirtschaft zu tun. Ich würde daraus doch folgern, daß für die 2,5 Millionen Arbeitslosen in Westdeutschland auf jeden Fall diese Regierung den entscheidenden Anteil der Verantwortung trägt; denn warum hat sie nicht - wie auch immer diese hätten gestaltet sein können - die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung in diesem Land schaffen können? - Sie hat versagt! ({3}) Frau Dr. Babel, „von jetzt auf gleich": Wie lange ist denn 1982 vorbei? Wenn ich richtig rechne, ist das zwölf Jahre her. Da kann man nicht mehr „von jetzt auf gleich" reden. Herr Schreiner hat darauf hingewiesen, daß es einen Entwurf der evangelischen und katholischen Kirche gibt, mit dem die Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Bundesrepublik scharf kritisiert wird. Es ist ein Entwurf, der aus bestimmten Gründen vor dem 16. Oktober nicht verabschiedet wird. Ich möchte jedoch eines daraus entnehmen: Es geht ein tiefer Riß durch unsere Gesellschaft. - Diesen tiefen Riß hat die Koalition zu verantworten. Was ich Ihnen darüber hinaus vorwerfen muß, ist, daß Sie nicht einmal in der Lage sind, die in dieser Spaltung liegenden Gefahren für unsere Gesellschaft, den darin liegenden Sprengsatz zu beseitigen. Für Sie sind - ich muß das so konstatieren - 3,6 Millionen registrierte Arbeitslose eine anonyme statistische Masse, ({4}) der Sie - das möchte ich hinzufügen - mit Kälte begegnen. ({5}) Für Sie sind annähernd sieben Millionen in Armut lebende Menschen, Hunderttausende - das ist hier schon gesagt worden -, die in Notunterkünften, in Obdachlosenheimen oder auf der Straße hausen, offenkundig eine notwendige Begleiterscheinung einer sogenannten freien Gesellschaft. Wenn es anders wäre, hätten wir doch in diesen zwei Tagen von Ihnen etwas dazu gehört, wie Sie das beseitigen wollen. ({6}) Aber dazu ist nichts gekommen. Wenn Sozialdemokraten diesen Zustand beklagen, dann heißt es: Die jammern. ({7}) Wenn wir die wachsende Armut beklagen und dem gegenüberstellen, daß die privaten Haushalte in der Republik ein Vermögen von 8 Billionen DM haben, dann sagen Sie: Sie zetteln eine Neiddiskussion an. ({8}) Wenn wir uns über den fortgesetzten Sozialabbau beklagen, dann heißt es: Sie wollen Investitionshemmnisse für die deutsche Wirtschaft erhalten bzw. neue aufbauen. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, welche Maßnahmen Sie der verharrenden Massenarbeitslosigkeit und der sich darin begründenden Armut in unserem Lande entgegensetzen wollen. Ich habe auch nicht gehört, daß Sie sich mit unseren Forderungen nach einer aktiven Beschäftigungsförderung, nach einem Beschäftigungspakt, nach besserer Verteilung der Arbeit und nach Arbeit statt Arbeitslosigkeit hier intensiv auseinandergesetzt haben. Ich glaube nicht einmal, daß Sie bereit sind, sich mit dieser sozialen Spaltung auseinanderzusetzen. Ich bezweifle, daß, wenn es vier Jahre so weitergeht, der Sozialstaat noch effektiv Verfassungsrang in unserer Republik haben wird. ({9}) Nehmen Sie zwei Dinge zur sozialen Gerechtigkeit zur Kenntnis: Seit einigen Jahren finanzieren wir aus westdeutschen Beitragsaufkommen die nötige Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern. Seit einigen Jahren finanzieren wir die verbesserte Situation auf dem Rentensektor. Wir haben dafür schon über 140 Milliarden DM ausgegeben. Aber nicht die gesamte Gesellschaft - nicht der Abgeordnete, nicht der Minister, nicht der Arzt, nicht der Zahnarzt, nicht der Landwirt, nicht der Selbständige und zum Teil auch nicht einmal der Beamte -, sondern nur die Arbeitnehmer zahlen die Beiträge. Das macht die Menschen in unserem Lande so mißmutig, weil soziale Gerechtigkeit hier nicht vonstatten geht. ({10}) Oder: Was ist mit den verarmten Familien? Was bedeutet für sie der Kinderfreibetrag? Was bedeutet für ein mit geringen Einkünften versehenes Ehepaar das Ehegattensplitting? Diese Gesellschaft ist doch darauf ausgerichtet, die Interessen derjenigen, die etwas haben, zu gestalten. Die anderen läßt sie links liegen. Lassen Sie mich ein versöhnliches Wort sagen. Da, wo wir in dieser Legislaturperiode zusammengearbeitet haben, haben wir relativ gute Ergebnisse erzielt. Ich könnte nun daraus schließen - aber das wäre überzogen -, daß Sie uns dazu gebraucht haben. ({11}) - Gut, vielen Dank. Sie haben uns dazu gebraucht; ich korrigiere mich. Aber wir haben es geschafft, daß die Rentenüberleitung in die neuen Länder 95 % der Menschen dort zu Recht zufriedenstellt. Wir haben es nicht geschafft - da begreife ich die klagenden Worte der F.D.P. nicht; Sie hätten es in der Koalition ändern können -, das Strafrecht aus dem Sozialrecht herauszunehmen. Das wollen wir in der nächsten Legislaturperiode tun. ({12}) Wir haben gemeinsam, wenn auch erst im Vermittlungsausschuß, die Pflegeversicherung geschaffen. Ich glaube, das ist neben all den unangenehmen Dingen, die Sie in diesen vier Jahren in die Politik eingebracht haben, ein gemeinsamer Erfolg der Politik dieses Deutschen Bundestages. ({13}) - Dazu will ich mich aber nicht mehr äußern; denn hier leuchtet eine rote Lampe. Die habe ich nach 18 Jahren auch gesehen. ({14}) Ich will kurz sagen: Ich bin dankbar, daß ich hier schaffen konnte. Ich bin denjenigen dankbar, mit denen ich zusammenarbeiten konnte. Ich bin meiner Familie für die Duldsamkeit dankbar. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, allzeit eine glückliche Hand! ({15})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesen zwei Tagen ist wiederholt festgestellt worden, daß Wahlkampf ist Vizepräsident Helmuth Becker und daß es natürlich die eine oder andere Bemerkung gibt, die sonst vielleicht nicht fallen würde, und daß das eine oder andere klarer herausgearbeitet wird. Aber trotzdem möchte ich nicht versäumen, weil ich weiß, daß es interfraktionell so beurteilt wird, dem Kollegen Heyenn für seine Arbeit als Ausschußvorsitzender ganz herzlich zu danken. ({0}) Nun erteile ich unserem Kollegen Dieter-Julius Cronenberg das Wort.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich bemühen, den Wahlkampfstil auf das Allernötigste zu reduzieren, weil mich, da ich hier wohl zum letztenmal die Ehre habe, von diesem Podium aus zu sprechen, natürlich auch ein wenig Wehmut überkommt. Da ich mir aber die Freiheit genommen habe, ohne Außen- und Innendruck auf eine Wiederkandidatur zu verzichten, fühle ich mich gleichzeitig von der Last der Verantwortung befreit und frei genug, nicht nur ein paar Bemerkungen zum Haushalt, sondern auch zu grundsätzlichen Positionen liberaler Sozialpolitik zu machen. Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen, die nicht so sehr mit den Gewohnheiten und Methoden der Sozialpolitik vertraut sind, einmal darauf aufmerksam machen, daß die polemische Auseinandersetzung zwischen Norbert Blüm einerseits und Ottmar Schreiner andererseits nicht verhindert, daß es, wo notwendig, zu einer produktiven und erfolgreichen Zusammenarbeit kommt. Sie beschreiben übrigens in ihrer Zustandsbeschreibung die unterschiedlichen Seiten der gleichen Medaille. Es ist völlig richtig, Ottmar Schreiner, wenn von der Regierung - bei anderer Gelegenheit auch von den Oppositionsvertretern - deutlich gemacht wird, daß es keine vergleichbare Industrienation gibt, die so exportorientiert ist wie die Bundesrepublik und insgesamt soviel für Transferleistungen zum sozialen Ausgleich zur Verfügung stellt. Ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts wird insgesamt für den sozialen Ausgleich zur Verfügung gestellt. Da sind wir Spitzenreiter in der Welt. Das ist für uns, die wir als exportorientiertes Land nur über einen Faktor unserer Kosten bestimmen können, den Preis für Arbeit, eine außerordentlich hohe Belastung. Wir müssen immer darauf achten - das ist unsere Aufgabe -, daß wir nicht unsere Wettbewerbschancen auf den internationalen Märkten, aber auch auf unserem eigenen Markt verlieren. Ebenso richtig ist es - das wird auch nicht bestritten -, daß es im Lande Not gibt, Menschen, die echt Not leiden. Das treibt uns alle um. Deswegen, lieber Günther Heyenn, die herzliche Bitte: nicht den Menschen, die sich hier um Abhilfe bemühen - möglicherweise mit anderen Rezepten, als Sie sie für richtig halten -, den guten Willen absprechen. Das tut weh. Ich glaube, das ist nicht die Art, in der wir miteinander umgehen sollten. ({0}) Ich möchte zu den erhobenen Vorwürfen aus meiner Sicht ganz kurz Stellung nehmen. Lassen Sie mich zunächst einmal mit der unsinnigen Behauptung aufräumen, meine Freunde und ich betrieben eine eiskalte Sozialpolitik, wir hätten kein Verständnis für die Menschen in Not, für den notwendigen sozialen Ausgleich in unserer Marktwirtschaft; unsere Absicht sei es, Reiche reicher zu machen und Arme ärmer, in der Sprache meiner sauerländischen Heimat würde man sagen: fetten Gänsen den Os zuschmieren. Meine Damen und Herren, ich habe mich - so wie mein allzu früh verstorbener Freund Hans-Heinrich Schmidt ({1}) und meine Nachfolgerin Frau Dr. Gisela Babel - bemüht, unter dem Motto „Leistung und Mitmenschlichkeit müssen sich lohnen" - und ich bedaure es außerordentlich, daß in Veröffentlichungen, aber auch in diesem Haus diese Mitmenschlichkeit häufig nicht zur Kenntnis genommen worden ist - Sozialpolitik mitzugestalten. Unser Bemühen, nicht mehr auszugeben, als eingenommen wird, unser Bemühen, gegen die Überbelastung der arbeitenden Menschen anzukämpfen, unser Bemühen, trotz knapper Mittel ausreichend und möglichst gerecht berechtigte Ansprüche zu bedienen, ist bei Gott nicht Ausdruck sozialer Kälte. Im Gegenteil, das ist Ausdruck sozialer Verantwortung. ({2}) Es ist nicht unchristlich, es ist nicht unsozial und schon gar nicht unbarmherzig, wenn um des Erhaltens der Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft willen und wegen knapper Kassen einzelne Sozialleistungen dem Grunde und der Höhe nach überprüft und gegebenenfalls den veränderten politischen Verhältnissen angepaßt werden. Das ist dankenswerterweise auch früher der Fall gewesen. Ich möchte in diesem Zusammenhang mit Dankbarkeit feststellen, daß es nicht zuletzt unsere Sachargumente waren, die sowohl bei der Union als auch bei der SPD dazu geführt haben, daß sie z. B. der Netto- statt der Bruttoerhöhung von Renten zugestimmt haben, daß die Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen, also bei Medikamenten und Heil- und Hilfsmitteln, nicht mehr als Teufelswerk bezeichnet wird. Wenn ich mich daran erinnere, wie wir - insbesondere auch ich - von Norbert Blüm, von Eugen Glombig und anderen beschimpft worden sind, als wir dies zum erstenmal in die Diskussion eingebracht haben, dann finde ich diese Anpassung an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse beachtlich. Ich bin dankbar dafür, daß wir uns gemeinsam zu diesen Positionen durchgerungen haben. ({3}) Jedenfalls sind diese Maßnahmen jetzt keine soziale Demontage mehr; sie sind im Interesse der nächsten, der nachwachsenden Generationen vorgenommen worden. Das beweist, daß wir reformwillig und reformfähig sind. Wenn ich sage „wir", dann meine ich alle Fraktionen des Hauses. Meine Damen und Herren, nur eine gesunde Wirtschaft, nur gesunde Betriebe ermöglichen es, den notwendigen sozialen Ausgleich vorzunehmen. Wir brauchen eine erfolgreiche Wirtschaft, wir brauchen mehr steuerzahlende mittelständische Betriebe und Dieter-Julius Cronenberg ({4}) weniger steuerverbrauchende subventionierte Großbetriebe. ({5}) Da ich annehme, daß Sie alle dieser Meinung sind, können Sie eigentlich aus meiner Sicht alle den Ehrentitel - den man uns gegenüber immer als Vorwurf erhebt - „Wirtschaftspartei" in Anspruch nehmen. Deswegen verstehe ich nicht, warum diese unsere Position boshaft als soziale Demontage bezeichnet wird. Ich bin überzeugt: Eiskalte Spekulanten sind diejenigen, die Nichterwirtschaftetes verteilen wollen. ({6}) Wer die Chancen, zu arbeiten, zu investieren, um richtige und notwendige soziale Leistungen zu finanzieren, durch unvertretbare Abgabenerhöhungen zerstören will, wer - statt mehr zu arbeiten, um mehr Werte zu schaffen - abkassiert und umverteilt, der zerstört die Grundlagen unserer sozialen Sicherheit, ({7}) der gefährdet die Soziale Marktwirtschaft. Das ist soziale Demontage. Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liberale Sozial- und Gesellschaftspolitik orientiert sich an den Menschen, wie sie sind, und nicht daran, wie sie vielleicht im Idealfall sein könnten. Um sich entsprechend seiner Individualität entfalten zu können, braucht der Mensch die Freiheit. Deswegen steht auch für Liberale die Freiheit an erster Stelle der gesellschaftlichen Wertordnung. Deswegen meinen wir, daß die großen Ziele Gleichheit und Brüderlichkeit, also Solidarität, eine dienende Funktion gegenüber der Freiheit haben. Wir wissen auch, daß die Freiheit durch bürokratische Vorschriften, durch übertriebene Detailregelungen zentimeterweise sterben kann. ({8}) Wir haben alle - aus ehrenwerten Gründen - in den letzten Jahrzehnten gesündigt. Mir ist übrigens bei der Übertragung der vielen Einzelvorschriften auf die neuen Bundesländer schmerzhaft bewußt geworden, wie sehr wir uns oft im Detail verloren haben. Da liegt auch das Motiv, weshalb wir uns fragen, ob nicht durch einen Befreiungsschlag in Form des Bürgergeldes wieder mehr Freiheit, Freiheit zur Selbstverwirklichung, hergestellt werden kann; ({9}) denn durch die Freiheit der Selbstbestimmung und Gestaltung werden die Abhängigkeiten der Ketten, von denen Rousseau gesprochen hat, beseitigt. Auch und gerade für unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt müssen die Prinzipien von Freiheit und Verantwortung unverzichtbar Gültigkeit haben. Sie sind geradezu Voraussetzung für unsere Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, in der auch Individualinteressen und Eigennutz erfolgreich als Triebfedern in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden. Freiheit und Verantwortung, Wettbewerb und Chancengleichheit sind aber ohne Solidarität, meine Damen und Herren, nicht denkbar. Und entgegen allen bösen Unterstellungen: Die Idee des solidarischen Einstehens füreinander ist im Liberalismus tief verwurzelt. Genossenschaften, Unterstützungskassen, Arbeiterbildungsvereine und Gewerkschaften gehen auf Ideen von Liberalen zurück und sind nichts anderes als praktizierte Solidarität. ({10}) - Wenn da Zweifel bestehen, empfehle ich, in dieser Frage bei Frau Matthäus nachzufragen, die das genauso gut kennt wie ich, vielleicht noch besser. ({11}) - Nein, Ingrid, da unterscheiden wir uns in der Beurteilung. Nach liberalem Verständnis sollte Sozialpolitik dafür Sorge tragen, daß die Möglichkeiten zur eigenverantwortlichen Vorsorge - wo immer möglich - erweitert, Selbstbestimmung und Wahlfreiheit des einzelnen in unserem gegliederten System der sozialen Sicherheit erhöht werden und das gegliederte System durch Selbstverantwortung und Mitwirkung des einzelnen gestärkt wird. Ein staatliches Versorgungs- und Fürsorgesystem wäre der sichere Weg in die Entmündigung zu Lasten der Freiheit. Helmut Schmidt hat Ende der 70er Jahre öfter zu Recht daran erinnert, daß eine Demokratie, die letztlich darauf vertraut, der Staat werde alles richten, schweren Schaden nehmen kann. Man kann das auch heute nur sehr unterstreichen. ({12}) Eine Expansion kollektiver Vorsorge bewirkt übrigens nicht etwa ein Mehr an Zufriedenheit. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, das Gegenteil ist der Fall. Der allumfassende Versorgungsstaat schränkt den Bürger in seiner Entscheidungsfreiheit ein und führt dazu, daß sein frei verfügbares Einkommen langsam, aber sicher zu einer Restgröße zu werden droht. Das ist dann die Taschengeldgesellschaft, vor der ich warne. ({13}) Weit, meine Damen und Herren, sind wir nicht mehr davon entfernt, wenn man sich folgendes Beispiel vor Augen führt: Für einen Arbeitnehmer in meiner Firma, der ca. 3 000 DM brutto verdient - wahrlich kein hoher Lohn -, müssen wir einschließlich der Lohnzusatzkosten 6 000 DM in Ansatz bringen. Das heißt: Dieser Arbeitnehmer muß für 6 000 DM arbeiten, Leistung erbringen. Der Arbeitnehmer muß diese Leistung erbringen, nicht etwa der Unternehmer, nicht ich. Netto ausbezahlt erhält er jedoch lediglich - je nach Familienstand und Steuerklasse - zwischen 1 800 und 2 000 DM. ({14}) - Nein, ich komme darauf. Bereits dieses kleine Beispiel zeigt zweierlei: zum einen die enorme Belastung der Unternehmen in Deutschland durch Lohn- und Lohnzusatzkosten und zum anderen, inwieweit Arbeit sich noch lohnt. Denn Dieter-Julius Cronenberg ({15}) wenn ich lediglich ein Drittel meines erarbeiteten Einkommens netto ausbezahlt erhalte, ist das nicht unbedingt leistungsmotivierend. ({16}) - Verehrte Frau Kollegin Fuchs, wir sind alle Sünderlein. ({17}) Lassen wir doch einmal einen Moment diese üblichen Wahlkampfüberlegungen sein und gestatten Sie mir, diese Grundüberlegung zu Ende zu führen. Die immer höher gestiegenen Personalzusatzkosten - ich vermeide bewußt den verniedlichenden Begriff „Lohnnebenkosten" - sind inzwischen praktisch zum zweiten Lohn geworden, der auch die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Möglichkeit, den Menschen in unserem Land Arbeit zu geben, in großem Umfang behindert; ({18}) denn Arbeit, meine Damen und Herren, wird es nur geben, wenn wir mit unseren Produkten und Dienstleistungen als export-orientiertes Land auf den internationalen Märkten und auch im Inland wettbewerbsfähig sind. Als rohstoffarmes Land - die Steinkohle verbessert ja unsere Wettbewerbsfähigkeit nicht; wenn wir ehrlich sind, verschlechtert sie diese - können wir nur den Preis für den Faktor Arbeit bestimmen. Es ist unser aller Verpflichtung, für möglichst alle Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen die Möglichkeit zur Arbeit zu schaffen. Allerdings können die Probleme unter dem Motto „Es mangelt dem Land an Arbeit, deswegen müssen wir diesen Mangel bewirtschaften, also gerecht verteilen" meiner festen Überzeugung nach nicht gelöst werden, ({19}) sondern wir müssen durch erhöhte Wettbewerbsfähigkeit Arbeit schaffen und nicht den Mangel verwalten. ({20}) Meine Damen und Herren, ich kenne keinen mittelständischen Unternehmer, der seine Strukturprobleme - und ich habe sie im eigenen Betrieb gehabt -, seinen Wettbewerbsverlust, seinen Auftrags- und damit seinen Arbeitsmangel durch weniger Arbeit, durch weniger Leistung beseitigen kann. Im Gegenteil: In der Situation sind größere Anstrengungen und mehr Leistung erforderlich, und prinzipiell gilt der Satz „Arbeit schafft Arbeit". Nichts schafft mehr Arbeit als Arbeit, und was für mittelständische Betriebe stimmt, kann für die großen Konzerne und letztlich auch für den Staat nicht falsch sein. Im übrigen, meine Damen und Herren, gibt es genügend Arbeit in unserem Land. Allerdings ist sie häufig nicht bezahlbar. Diese eigentlich unbestrittene Feststellung - und nun bitte ich Ingrid Matthäus, aufzupassen - ist ja eine Ursache für die Forderung, durch ein Bürgergeld - wohlgemerkt, nur für steuerfinanzierte Leistungen, nicht, wie hier unterstellt worden ist, für beitragsfinanzierte Leistungen - auch Empfängern von Transferleistungen, z. B. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, einen Anreiz zu bieten, auch weniger gut bezahlte Arbeit anzunehmen. Meine Damen und Herren, dabei gebe ich offen zu, daß ich noch kein Rezept habe, wie man mißbräuchliche Lohnsubventionen für höher bezahlte Arbeit verhindern kann. Aber ich glaube, daß es sich lohnt, so darüber nachzudenken, daß man für diese unbestritten offene Frage eine Lösung findet. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, darüber und über die nötigen Umstrukturierungen und Umschichtungen in unseren sozialen Sicherungssystemen werden Sie und neue Kollegen diskutieren müssen und zu entscheiden haben. Ich wünsche Ihnen und insbesondere meinen Nachfolgern, daß sie dies so unvoreingenommen, vertrauensvoll, sachlich und in weiten Bereichen auch freundschaftlich miteinander tun können, wie mir dies 18 Jahre vergönnt war. Ich sage nicht leichtsinnig „vertrauensvoll" und „freundschaftlich", sondern tue dies in voller Überzeugung. Ich möchte mich an dieser Stelle bei einigen persönlich sehr herzlich bedanken, die zum Teil hier sind: bei Hermann Rappe, bei Eugen Glombig, bei Herbert Ehrenberg, bei Rudolf Dreßler und auch bei Günther Heyenn. Ebenso herzlich möchte ich mich bei dem leider zu früh verstorbenen Haimo George, bei Horst Seehofer, Horst Günther, Bernhard Jagoda, Julius Louven und Alexander Warrikoff bedanken. Und nun, lieber Norbert, auch ein offenes Wort zu dir. Zwar bin ich - und ich sage das mit allem Ernst - nach wie vor überzeugt, daß die überwiegende Mehrheit dieses Hauses einen großen, einen sehr großen Fehler gemacht hat, als sie den Lohn zur Bemessungsgrundlage für die Abführung der Beiträge für eine durchaus notwendige Pflegeversicherung gemacht hat, ({21}) anstatt sich eines vielleicht nicht perfekten, aber einer modernen Industriegesellschaft entsprechenden Kapitaldeckungsverfahrens zu bedienen. Und du, lieber Norbert - auch das sei in Offenheit gesagt -, bist der Hauptverantwortliche für diesen Kardinalfehler. Ich kann ihn dir nicht verzeihen; das mußt du an anderer Stelle klarmachen. ({22}) Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ich viele Gründe für ein herzliches Danke habe. An deinem guten Willen, an deinen ehrenwerten Motiven habe ich nie gezweifelt. Dafür und für viele freundschaftliche Zeichen sage ich dir ein herzliches Dankeschön von dieser Stelle aus. ({23}) Meinen Nachfolgern Gisela Babel, Dr. Dieter Thomae, Dr. Bruno Menzel und Frau Dr. Eva Pohl wünsche ich eine ebenso gute und hoffentlich erfolgreiche Zusammenarbeit, wie ich sie mit den Kollegen aus den Dieter-Julius Cronenberg ({24}) anderen Fraktionen gehabt habe. Wenn es ernst wird, meine Damen und Herren, können Sozialpolitiker im Interesse der Sache hervorragend zusammenarbeiten. Lassen Sie sich da durch die Polemiken, die sich manche heute hier geleistet haben, nicht täuschen. Meine Damen und Herren, auch als scheidender Vizepräsident muß ich mich an die vorgegebenen Zeiten - jedenfalls in etwa - halten. Deshalb bedauere ich es außerordentlich, daß ich keine Gelegenheit mehr habe, mich zu den Fragen der Familienpolitik zu äußern. Nur eine kurze Bemerkung: Wenn es uns nicht gelingt, in allen Politikbereichen die offensichtlichen Benachteiligungen der Familien mit Kindern abzubauen, dann rütteln wir an den, ja dann gefährden wir die Grundlagen unserer Gesellschaft. ({25}) Ich würde mich freuen, wenn man den Vorstellungen und Ideen meines Freundes Norbert Eimer mehr Beachtung schenkte. Ein letztes Wort, ein Wort des Vizes. Sie alle haben es mir leichtgemacht, dieses schönste Amt, das es in Bonn zu vergeben gibt, mit Freude auszuüben. Ich habe es gern getan. Mir hat es Spaß gemacht. Dem ganzen Haus und last but not least der Verwaltung sage ich für Hilfe und Unterstützung tausendmal Dank. Es bleibt mir nun nichts anderes mehr übrig, als Ihnen Glück und Erfolg im Interesse des ganzen Volkes zu wünschen. Herzlichen Dank. ({26})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben durch Ihren Applaus schon zum Ausdruck gebracht, daß wir unserem Kollegen Dieter-Julius Cronenberg für seine Arbeit in der Sozialpolitik viel Dank schulden, auch für manchen Hinweis, auch für manche kontroverse Diskussion. Er ist bei manchen Punkten immer sehr standfest gewesen. Das muß nicht immer ein Nachteil sein. ({0}) Ich persönlich möchte mich bei Ihnen bedanken für vier Jahre kollegialer Zusammenarbeit. Ich habe sofort Streit mit Ihnen, ob dies das schönste Amt ist, das wir ausüben. Da bin ich mit Ihnen nicht einer Meinung. Für mich war das mit sehr, sehr viel Arbeit verbunden. Meine Damen und Herren, wir haben diesen Teil erledigt. Ich erteile jetzt der Bundesministerin für Familie und Senioren, unserer Kollegin Hannelore Rönsch, das Wort.

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Vizepräsident Cronenberg, gestatten Sie auch mir, daß ich mich ganz herzlich für Ihre immer faire Präsidentschaft bedanke. ({0}) Wenn man hier vorne steht und sieht, wie einem die Zeit davonläuft, bin ich heute gerne bereit, von meiner sehr knapp bemessenen Redezeit mindestens eine Minute diesem Dank zu widmen; denn ich weiß, daß ich doch immer mal so eine halbe Minute bei Ihnen guthatte. Da ich das nicht alleine war, möchte ich Ihnen dafür ein herzliches Dankeschön sagen. Ich denke, dies gilt auch im Namen der Kolleginnen und Kollegen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es macht wieder so richtig Spaß, Familienpolitik zu machen. Man kann sich sogar mit der Opposition jetzt wieder darüber unterhalten. Man kann in den Wettstreit treten, wie Leistungen für Familien ausgebaut werden können. Als ich vor dreidreiviertel Jahren dieses Amt übernommen habe, da wurde dieses Ministerium in Frage gestellt: Ein Ministerium für Familie und Senioren sei doch völlig unsinnig. Noch im Mai dieses Jahres hat der Kanzlerkandidat der SPD gesagt, dieses Ministerium könne komplett gestrichen werden. Mittlerweile, im Internationalen Jahr der Familie, haben offensichtlich die Familien und die älteren Menschen doch noch Beachtung bei Ihnen gefunden. Darüber freue ich mich, und dazu gratuliere ich Ihnen. Jetzt treten wir in den Wettbewerb um die Leistungen für Familien ein; denn die Familien erbringen ja Leistungen für unsere Gesellschaft, die leider viel zu lange diese Leistungen unbemerkt hingenommen hat. Ich habe noch vor zwei Jahren mit linken Frauen darüber diskutieren müssen, ob Familienförderung überhaupt sinnvoll sei. Es würde doch den Singles die Zukunft gehören, wurde mir in Talk-Shows tatsächlich gesagt. Familienförderung könne man generell streichen; denn nur Singles hätten Zukunft. Man hat damals wohl nicht darüber nachgedacht, daß unsere Zukunft dann, wenn wir nur noch Singles förderten, sehr schnell der Vergangenheit angehörte; denn eine Gesellschaft ohne Kinder ist eine Gesellschaft ohne Zukunft. ({2}) Insofern freue ich mich: Jetzt streiten wir gemeinsam darüber, wie die Leistungen für die Familien in einem Familienleistungsausgleich noch besser ausgebaut werden können. Auch wenn die Opposition und die linken Medien immer wieder meinen, Familie habe keine Zukunft, ist es doch ganz anders. Denn Familien erfreuen sich in unserer Bevölkerung und auch bei unserer jungen Generation einer ausgesprochen großen Wertschätzung. Für 80 % der jungen Menschen sind Ehe und Familie Wunsch und Lebensziel. ({3}) - Davon mußten wir Sie ja erst einmal überzeugen, Frau von Renesse. ({4}) - Aber selbstverständlich! ({5}) - Darauf komme ich gleich noch. Aber Ihre Aufregung zeigt ja doch, daß Sie sich auf einem neuen Politikfeld bewegen. 86 % der 18- bis 50jährigen sehen in der Ehe einen Faktor von Sicherheit und Geborgenheit. Rund 96 % der Frauen und Männer halten ein Leben mit Kindern für intensiver und erfüllter, ({6}) und 80 % aller pflegebedürftigen älteren Menschen werden in der Familie gepflegt. Das ist gelebte Realität in unserem Lande, und die gilt es auch weiterhin zu unterstützen. Die Einrichtung eines eigenständigen Bundesministeriums für Familie und Senioren im Jahr 1991 war eine bahnbrechende politische Antwort unseres Bundeskanzlers Helmut Kohl auf die Herausforderungen des demographischen Wandels und des dauerhaften Erhaltes des Generationenvertrags. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten schon damals der Einrichtung eines solchen Ministeriums mit der gleichen Vehemenz zugestimmt, mit der Sie es jetzt verteidigen. Wo waren Sie denn damals? Sie haben doch gesagt: Eine Teilung ist völlig überflüssig, wir brauchen kein eigenständiges Ministerium. Offensichtlich hat man dieses Politikfeld jetzt bei Ihnen neu entdeckt. Ich gratuliere Ihnen dazu. Die älteren Menschen stehen als wichtiger Aktivposten mitten in unserer Gesellschaft genauso wie die Familien. Das Bild von den Familien in unserer Gesellschaft ist wesentlich pluraler geworden. Gleichberechtigung, Wahlfreiheit und Partnerschaft bestimmen das Bild, und der Wunsch nach Kindern ist nach wie vor stark ausgeprägt. Jetzt gilt es, die im Familienbericht festgestellten strukturellen Rücksichtslosigkeiten auf allen Gebieten in unserer Gesellschaft abzubauen. Das heißt auch, daß den Familien von einem Ministerium geholfen wird, daß sie unterstützt werden und daß man sie nicht diskriminiert und deshalb ein Familienministerium erst einmal generell in Frage stellt. Die meisten jungen Menschen wägen heute natürlich wesentlich sorgfältiger ab, ob und wann sie sich für Kinder entscheiden, und fragen, wie sie Familienarbeit mit Erwerbstätigkeit vereinbaren können. Diese Tatsache macht deutlich, daß eine der entscheidenden Aufgaben in der Familienpolitik die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ist. Wir sind in diesem Bereich nicht nur durch eine Reihe von Modellvorhaben und Initiativen weitergekommen; auch im gesetzgeberischen Bereich hat es wichtige Fortschritte gegeben. Ich will noch einmal darauf hinweisen, daß wir die Anerkennung der Kindererziehungszeiten mittlerweile auf drei Jahre ausgeweitet haben. Auch die Verlängerung des Anspruchs auf Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub will ich noch einmal erwähnen. Dabei erinnere ich Sie an die Diskussionen und Debatten aus dem Jahr 1986, als Sie gesagt haben, das Erziehungsgeld ist ein Instrument, um Frauen wieder an den Herd zu holen. Sie waren doch am Anfang gar nicht sosehr dafür. Mittlerweile hat sich Ihre Position erfreulicherweise auch an dieser Stelle geändert. Wir haben bezüglich des Rechtsanspruchs auf Freistellung bei Erkrankung des Kindes eine Ausweitung auf je zehn Tage für Mutter und Vater - bei Alleinerziehenden auf 20 Tage - vorgenommen. Und wir werden an dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz auch weiterhin festhalten. ({7}) Die SPD-geführten Länder haben seinerzeit zugestimmt. Aber jetzt, da es an die Umsetzung geht, verkriechen sie sich hinter dem Bund. Sie waren es doch, die seinerzeit auch dafür plädiert haben. An etwas Weiteres will ich erinnern. Bei der Beratung des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes im Jahr 1992 haben wir vorgeschlagen, daß ein Familiengeld in Höhe von 1 000 DM für junge Mütter und Väter bei der Geburt eines Kindes eingeführt werden sollte. Dieser Vorschlag wurde von Ihnen seinerzeit als „Kopfprämien" diffamiert. Mittlerweile hat man offensichtlich in Brandenburg eingesehen, daß es eine ganz gute Einrichtung ist. Die ehemalige DDR hatte das auch. Man hat es übernommen, und jetzt wird nicht mehr von Kopfprämie gesprochen. Ich will einfach Ihre alten Vokabeln nur noch einmal in Erinnerung rufen. ({8}) Für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist es zwingend erforderlich, daß sich die Gewerkschaften endlich auch dazu aufraffen können, ({9}) mehr Teilzeitarbeitsplätze bei den Tarifverhandlungen zu fordern, Frau Fuchs. ({10}) Das wäre nicht nur human, sondern auch ein Arbeitsmarktinstrument. Die meisten jungen Männer und Frauen, besonders natürlich die Frauen, wollen Teilzeitarbeitsplätze. Warum blockieren die Gewerkschaften? ({11}) Ich wäre dankbar, wenn wir hier zu einer Allianz kämen und die Möglichkeit der Teilzeitarbeit wesentlich stärker anbieten würden. Auch beim Familienlastenausgleich haben wir die richtigen Weichen für seinen weiteren verfassungsgemäßen Ausbau gestellt. Die SPD dagegen verwickelt sich in immer neue Widersprüche. Sie verspricht mit ihren plakatierten Kindergeldzahlungen den Müttern und Vätern jetzt 250 plus 250 plus 250 gleich 750 DM; die Kasse klingelt. Familienpolitik, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, ist mehr. Selbstverständlich muß die Kasse stimmen, und dafür werden wir uns einsetzen. Aber Familienpolitik ist breiter angelegt und nicht nur am Finanziellen festzumachen. Die strukturellen Rücksichtslosigkeiten in unserer Gesellschaft müssen insgesamt abgebaut werden. ({12}) Sie versuchen, den Müttern und Vätern Sand in die Augen zu streuen. Ich werde Ihnen das im Detail beweisen. Sie fordern einerseits die Freistellung des Existenzminimums. Sie können auch gar nicht anders, denn das Bundesverfassungsgericht fordert das auch. ({13}) Gleichzeitig diffamieren Sie aber den Kinderfreibetrag. Wieso denn? Er soll ungerecht sein. ({14}) Dabei weiß jeder, der etwas von Steuern versteht, daß der Kinderfreibetrag in der Höhe des Existenzminimums genau das bewirkt, was das Bundesverfassungsgericht von Ihnen und von uns verlangt, nämlich die steuerliche Freistellung des Existenzminimums für jeden Steuerpflichtigen. ({15}) Der Kinderfreibetrag führt dazu, daß eine Steuer, die aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erhoben werden darf, gar nicht erst einkassiert wird. Das hat nichts mit Förderung zu tun. Der Verzicht auf eine Steuer, die nicht erhoben werden darf, beläßt lediglich den Leuten ihr selbstverdientes Geld. Und das wollen wir ihnen auch belassen. Darum ist es falsch und auch unredlich, wenn Sie davon sprechen, daß Besserverdienende stärker gefördert würden als Geringverdiener. Sie wissen das auch, aber Wahlkampfzeiten nivellieren so etwas. ({16}) Eine echte Sozialleistung ist dagegen das Kindergeld. Ich will, daß das Kindergeld vor allem denen zugute kommt, die mehr Kinder haben und deren Einkommen geringer ist. Das sind nämlich diejenigen. die in ganz besonderer Weise unsere Unterstützung und unsere Solidarität brauchen. An deren Seite steht die Bundesregierung. ({17}) Sie von der SPD dagegen versprechen allen das gleiche, egal, ob nun jemand reich oder bedürftig ist. Sie wollen dem Spitzenmanager genausoviel geben wie der alleinerziehenden Altenpflegerin. Die Ungerechtigkeit Ihrer Einheitsleistung liegt dabei auf der Hand. Wir dagegen wollen bei diesem Beispiel nur der Altenpflegerin die Sozialleistung „Kindergeld" zahlen. ({18}) - Sehr geehrte, liebe Frau Fuchs, es wäre sinnvoll, wenn Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch einmal genau lesen würden; denn darin steht, daß wir jedem, egal, ob er Spitzenverdiener oder Geringverdiener ist, das Existenzminimum steuerfrei stellen müssen. So sieht es aus. Das müssen Sie auch draußen einmal deutlich sagen. Ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Wo bleibt denn eigentlich bei Ihrem Modell die Freistellung des Existenzminimums? Sie haben heute hier die Chance, Frau Fuchs, darauf einzugehen. Sie können bei Frau Matthäus-Maier ja noch einmal nachfragen, wie es ist. Ich hätte wirklich gerne gewußt, wie bei Ihrem Modell die Freistellung des Existenzminimums aussieht und was von den 250 DM noch als Sozialleistung übrigbleibt. Sie nehmen auf der einen Seite und geben dann mit 250 DM Kindergeld als großes Geschenk das zurück, was Sie gar nicht nehmen dürfen. Das hat das Bundesverfassungsgericht doch vorgegeben. ({19}) Sie müssen doch auch das Existenzminimum steuerfrei stellen; daran führt kein Weg vorbei. ({20}) - Bitte schön.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau MatthäusMaier, die Ministerin gestattet eine Zwischenfrage. Bitte sehr.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich gebe zu, das ist schwierig im Rahmen einer Zwischenfrage statt im Rahmen einer Kurzintervention, aber ich versuche es. Ist Ihnen bekannt, Frau Rönsch, daß Karlsruhe bei der Beschreibung des Existenzminimums, das steuerfrei zu sein hat, das Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag - lesen Sie einmal die Urteile; sie sind seitenlang - umrechnet, genau wie Sie selber es tun. Es verlangt, daß ab einem persönlichen marginalen Steuersatz von 40 % das Existenzminimum steuerfrei sein muß. Wenn Sie dies gelesen haben sollten: Würden Sie mir nicht recht geben - wenn Sie unsere 250 DM als Abzug von der Steuerschuld in einen fiktiven Kinderfreibetrag nach dem Rezept von Karlsruhe bei einem marginalen Steuersatz von 40 % umrechnen -, daß Sie hundertprozentig und sauber dazu kommen, daß die Forderung der SPD erstens die Forderung des Verfassungsgerichtes erfüllt, zweitens die Familien mit Kindern steuerlich entlastet - denn derjenige, der am Fließband arbeitet und zwei Kinder hat, würde gleich 500 DM weniger Steuern zahlen als sein Kollege nebenan -, drittens von Karlsruhe ausdrücklich erlaubt wird, und viertens solide finanziert ist? Der entscheidende Unterschied zwischen uns beiden ist, daß bei Ihrem Vorhaben die Personen mit sehr hohem Einkommen viel mehr Entlastung für ihr Kind erfahren als die Kleinen. Das wollen wir nicht. ({0})

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Frau Matthäus-Maier, erstens stelle ich fest, daß Sie das gleiche Kindergeld an jeden zahlen. ({0}) - Wollen, ja. ({1}) - Na ja, aus dem Schatten sind Sie noch nicht herausgetreten. ({2}) Zweitens stelle ich fest, daß Sie mit den 250 DM natürlich Zukunftsmusik posaunen. ({3}) - Aber selbstverständlich, es ist Zukunftsmusik. Wie wollen Sie das denn finanzieren? Drittens stelle ich fest, daß Sie nicht solide finanzieren - das werde ich Ihnen gleich beweisen -, ({4}) in dem Sie nämlich das Ehegattensplitting heranziehen wollen, wie das hier mehrfach gesagt wurde. Wir werden noch dazu kommen, wie die Finanzierung aussehen soll. Viertens will ich Ihnen gerne bestätigen: Das Bundesverfassungsgericht hat uns offengelassen, ob wir nur Kindergeld zahlen oder ob wir den bewährten dualen Weg weitergehen. Auch dazu werde ich Ihnen nachher eine Stellungnahme vom Institut des Bundes der Steuerzahler vorlesen, die Sie sicher kennen. Nur Geduld. ({5}) - Das Modell funktioniert. Das ist unbestritten. Es kommt nur auf die Gerechtigkeit an. Es kommt darauf an - Sie haben uns hier Zukunftsmusik vorgespielt -, ob das Existenzminimum mit diesem Betrag im nächsten Jahr überhaupt noch sichergestellt ist. Wir wehren uns auch die Gleichmacherei. Sie werden wir nicht zulassen. ({6}) Herr Präsident, die Uhr ist eben bei der Zwischenfrage nicht angehalten worden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Unter Bezeugung meiner beiden Schriftführer: ja.

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Darf ich die Frage von Frau MatthäusMaier, wie die Finanzierung aussehen soll, denn noch beantworten?

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Ja.

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Sie wollen für Ihr Kindergeldmodell 32 Milliarden DM einsetzen. Durch die Abschaffung des Kinderfreibetrags werden 17 Milliarden DM erwirtschaftet. Jetzt fehlen Ihnen noch 15 Milliarden DM. Deshalb soll das Ehegattensplitting geschliffen werden; wir haben es dauernd gehört. Jetzt muß man sich einmal ausmalen, wen Sie mit dem abgeschliffenen Ehegattensplitting treffen. Sie treffen die Familienmutter, die zu Hause geblieben ist und ihre Kinder großgezogen hat, die daheim die Familienarbeit geleistet hat, wo nur der Mann erwerbstätig war. Die Mutter wird getroffen. ({0}) Sie treffen die Frau, deren Kinder schon aus dem Haus sind. Auch die können Sie wohl nicht meinen. Sie meinen wohl die jungen Ehepaare ohne Kinder, bei denen beide Partner berufstätig sind, bei denen die Frauen genauso gut ausgebildet sind wie die Männer. Bei diesen Paaren ist das Einkommen annähernd gleich hoch, und es ergibt sich gar kein Splittingvorteil. Es wäre sinnvoll, Frau Matthäus-Maier, wenn Sie gerade an dieser Stelle zuhören würden; ({1}) denn hier geht es um die unsolide Finanzierung. Wenn Sie diese Personengruppen treffen wollen, dann sagen Sie es bitte laut. Denn hier nehmen Sie der Familie mit der einen Hand über die Streichung des Ehegattensplittings das Geld weg, und mit der anderen Hand geben Sie es in einer großzügigen Geste wieder zurück. Das wird es mit uns nicht geben. ({2}) Eine Einschränkung, ja selbst die Abschaffung des Ehegattensplittings würde höchstens 9 Milliarden DM ausmachen. Hier klafft immer noch eine Lücke. Wo, bitte schön, nehmen Sie dieses Geld her? Jetzt fasse ich zusammen: Zur Finanzierung Ihres 32-Milliarden-DM-Versprechens bleibt eine Finanzierungslücke von 6 Milliarden DM. Sie folgen dem Gießkannenprinzip und wollen Ihr Kindergeldversprechen durch Streichung beim Ehegattensplitting und durch Schuldenmachen finanzieren. Das wird es mit uns nicht geben. Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine Redezeit ist leider zu Ende. Ich hätte gerne noch zu den wichtigen Bereichen der Senioren- und vor allem der Sozialpolitik Stellung genommen, weil gerade bei der Sozialpolitik im Wahlkampf mit Schicksalen von Menschen Mißbrauch getrieben wird. Dazu hätte ich gerne noch Stellung genommen. Dies ist mir nicht möglich. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Frau Minister, gestatten Sie noch eine Frage? - Bitte, Herr Kollege.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, gestern und heute wurde immer wieder die Sozialhilfe angesprochen. Der Herr Abgeordnete Schreiner hat es vorhin getan, und sein Chef hat heute morgen davon gesprochen, daß immer mehr Kinder der Sozialhilfe anheimfallen. Das muß Sie als Familienministerin sehr bedrücken. ({0})

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Sie müssen nur zuhören. Das macht er doch gerade. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege, wenn Sie nicht dazwischengeschrieen hätten, hätte ich die Frage stellen können. Liebe Frau Ministerin, meine Frage: Welche Überlegungen, welche Planungen haben Sie im Ministerium diesbezüglich? ({0})

Hannelore Rönsch (Minister:in)

Politiker ID: 11001870

Es gibt die Diskussion um eine neue Armut in Deutschland. Leider haben auch die Debattenredner der Opposition immer wieder verkehrte Zahlen verwandt. Ich bin Ihnen deshalb dankbar, Herr Kollege Riegert; denn es stimmt einen bitter, wenn immer mehr Kinder in Sozialhilfebedürftigkeit kommen. Nur, man muß auch ganz einfach einmal nach den Ursachen fragen. ({0}) Wenn die Bundesrepublik Deutschland das Land ist, das mehr Bürgerkriegsflüchtlinge aufnimmt als alle anderen europäischen Länder zusammen, und wenn die Bundesrepublik Deutschland das Land ist, das Asylsuchenden hier Schutz und Raum gibt, dann darf man dieser Bundesregierung nicht vorwerfen, sie sei unsozial, weil dadurch mehr Kinder in die Sozialhilfe kommen. Bei 2,3 Millionen Männern und Frauen, die 1992 sozialhilfebedürftig waren, möchte ich Sie wirklich bitten, das Schicksal eines jeden einzelnen ernst zu nehmen und um Himmels willen nicht mehr zu versuchen, mit Zahlenmanipulationen Wahlkampf zu machen. ({1}) Es muß ganz einfach eine sachliche Diskussion beginnen, damit wir den jungen Männern und Frauen helfen, nicht länger sozialhilfebedürftig zu sein. Mir macht besonders Sorge, Herr Kollege Riegert, daß wir 268 000 junge Männer und Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren haben, die Sozialhilfe empfangen, weil sie vorher keine Berufstätigkeit hatten. Hier werden wir anregen, daß sie zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen werden, damit sie so schrittweise an Arbeit herangeführt werden. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ende dieser Legislaturperiode den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Hauses, den Mitgliedern des Ausschusses für Familie und Senioren, den Kollegen aus dem Haushaltsausschuß ein ganz herzliches Dankeschön für die geleistete Arbeit sagen. Besonders bedanken möchte ich mich bei der Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk, weil ihre große Sachkenntnis und ihre freundschaftliche Verbundenheit, ihr soziales Herz uns die Familien- und Seniorenpolitik ausgesprochen erleichtert haben und damit auch der Bürger etwas davon hatte. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst eine Entschuldigung, Frau Minister, daß ich mich eingangs versprochen habe. Zweitens. Die Redezeit haben wir jetzt sehr großzügig gehandhabt. Drittens. Frau Matthäus-Maier hat eine Frage gestellt. Ich will auch am Ende dieser Wahlperiode doch noch einmal auf die Usancen aufmerksam machen: Eine Frage kann höchstens in zwei Unterfragen geteilt werden. ({0}) Das Wissensbedürfnis von Frau Matthäus-Maier war schon in fünf Fragen aufgeteilt. Nun möchte sie auch noch eine Zwischenbemerkung gemäß § 27 unserer Geschäftsordnung machen, die ich ausnahmsweise an dieser Stelle schon zulassen will. Bitte sehr.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Rönsch, ich möchte nur auf Ihre Äußerung zu unserem Vorschlag eingehen, das Ehegattensplitting zu kappen. Unsere Anfragen bei der Bundesregierung haben ergeben - die Zahlen werden unter Finanzfachleuten gar nicht bestritten -: Das Ehegattensplitting führt im Jahr zu Steuerausfällen von etwas über 30 Milliarden DM. Nur zum Vergleich: Das Kindergeld beträgt mit Kindergeldzuschlag etwas über 22 Milliarden DM. Da sieht man schon die unterschiedlichen Prioritäten. Wir sagen als Sozialdemokraten: Die etwa 10 bis 11 Milliarden DM, die wir zur Finanzierung unseres Vorschlags - 250 DM Kindergeld vom ersten Kind an - noch brauchen, holen wir durch eine maßvolle Kappung des Splittings. Daß es maßvoll ist, sehen Sie daran, daß rund zwei Drittel des ganzen Ehegattensplittings bestehenbleiben, wenn wir 10 bis 11 Milliarden DM herausnehmen. Daß es maßvoll ist, sehen Sie auch daran, daß wir es an einer Obergrenze kappen möchten. Sie führen immer die Hausfrau an, die die Kinder erzieht. Dazu darf ich darauf hinweisen, daß die Masse der deutschen Hausfrauen nicht in FamilienverhältIngrid Matthäus-Maier nissen lebt, in denen der Ehemann 240 000 DM oder auch 140 000 DM nach Hause bringt. Das ist doch das Ärgernis: Heiratet ein Spitzenverdiener eine nichterwerbstätige Frau, führt die pure Heirat, auch wenn in der Ehe überhaupt kein Kind vorhanden ist, dazu, daß dieser Ehe Jahr für Jahr ein Steuervorteil von 22 842 DM entsteht. Als Niedrigverdiener mit einem Kind brauchen Sie 14 Jahre Kindererziehung, um auf diese völlig verrückten 22 842 DM zu kommen. ({0}) Also: maßvolle Einschränkung, Reform des Splittings zugunsten der Familien mit Kindern. Ich weiß, daß jede Menge Ihrer Kolleginnen längst wissen, daß das heutige System ungerecht ist: ehefreundlich, aber nicht familienfreundlich. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Berliner Senatorin für Arbeit und Frauen, Frau Dr. Christine Bergmann, das Wort. Senatorin Dr. Christine Bergmann ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, Gerechtigkeit ist doch nicht das große Thema der CDU. ({1}) Ich kann jetzt leider nicht auf alle Aspekte eingehen. Ich werde am Ende noch einen nennen, aber es wird in der Debatte wohl noch einiges dazu zu sagen sein. Mir liegen einfach einige andere Themen auch noch am Herzen. Ich will vorab sagen: Ich stehe hier als Arbeits- und Frauensenatorin eines Stadtstaates, bin also sehr nahe dran an den existentiellen Problemen vieler Menschen. Mir geht es hier nicht nur um die leidvolle Erfahrung einer Landespolitikerin mit der Bundespolitik. Für mich ist diese Auseinandersetzung auch eine mit meinen eigenen Erwartungen an die Politik. Ich habe noch nicht zwölf Jahre Regierungstätigkeit auf dem Buckel wie der Kollege Blüm. Ich habe also Erwartungen an mich selbst und an die Politik. ({2}) Es geht mir um das Ausschöpfen von Handlungsspielräumen, die Politik hat oder die sich Politik schaffen muß. Es geht mir darum, wie politische Verantwortung wahrgenommen wird. Wenn es um politische Verantwortung geht, dann besteht für mich die Frage, wie sich Politik verantwortlich fühlt für diejenigen, die keine Lobby in der Gesellschaft haben, hinter denen nicht gewichtige Interessengruppen stehen, insbesondere die vom Arbeitsmarkt Verdrängten, insbesondere die Frauen, die immer noch um Gleichstellung kämpfen müssen. Es geht mir auch sehr um Jugendliche, denen wir als Elterngeneration Zukunftsperspektiven schulden. ({3}) Der Prüfstein des politischen Handelns ist für mich die Ernsthaftigkeit, mit der um die Lösung dieser Fragen gerungen wird, z. B. bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Prüfstein ist für mich, wie die Nutzung von Kompetenz stattfindet, auch außerhalb der eigenen Reihen, wie Sachinteressen akzeptiert werden. Als sich vorhin der Stil dieser Debatte hier abgezeichnet hat, war ich mir nicht so ganz darüber im klaren, ob man das hier überhaupt so sagen kann; aber ich habe es einfach einmal versucht. ({4}) Für mich ist an der Debatte, wie ich sie bisher mitbekommen habe, einiges schon sehr bemerkenswert gewesen. Ich wollte eigentlich gar nicht so viel zur Arbeitsmarktpolitik sagen, weil auch die Frauenpolitik heute so gut wie noch gar nicht vorgekommen ist, auch nicht seitens der Frauenministerin. ({5}) Aber ich mache es doch: Ich fand es sehr erstaunlich, daß der Arbeitsminister zum Kardinalproblem, das unsere Gesellschaft umtreibt, nämlich zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, fast nichts gesagt hat. Dies tauchte nur marginal auf. Ich frage mich wirklich, welche Ursache das hat. Wir kennen alle die Zahlen zu diesem Thema; ich brauche sie Ihnen nicht zu nennen. Gestern wurden sie von der Bundesanstalt für Arbeit wieder veröffentlicht. Heute wird natürlich der Rückgang der Arbeitslosigkeit bejubelt, weil es irgendwo 10 000 oder 20 000 Arbeitslose - was weiß ich - weniger gibt. Aber ich glaube, das kann und sollte uns alle nicht beruhigen Ich würde hier gerne sagen: Prima, der Aufschwung hat den Arbeitsmarkt erfaßt. - Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, positive Botschaften zu verkünden. - Aber dem ist leider nicht so: 14,7 % aller Ostdeutschen finden keinen Arbeitsplatz. Das ist nun wirklich kein Grund zum Jubeln. Wir haben im Land eine reale Arbeitslosigkeit von fast sechs Millionen Menschen. Ich sage das immer wieder deutlich. Wir kennen alle diese Zahlen, aber irgendwie rutschen sie immer wieder aus dem Bewußtsein heraus oder gehen in der Normalität unter. ({6}) Der entscheidende Punkt ist für mich: Wir alle wissen sehr genau - dies bestätigen alle Experten, und das muß sich doch auch hier herumgesprochen haben -, daß sich an dieser Situation auch dann, wenn das Wirtschaftswachstum ein bißchen über dem bescheidenen Zuwachs, den wir jetzt haben, liegt, nichts ändern wird. Wir werden also über das Jahr 2000 hinweg mit dieser hohen Arbeitslosigkeit leben. Senatorin Dr. Christine Bergmann ({7}) Angesichts dieser Situation stellt sich für mich natürlich die Frage, was jetzt passiert. ({8}) Es passiert Schlichtweg nichts. Ich bin darüber wirklich persönlich erschüttert, weil ich glaube, daß das eigentlich gar nicht sein kann. Gut, wir haben 1991 das Füllhorn der AB-Maßnahmen über uns ausgeschüttet bekommen. Dies war zu einer Zeit, in der noch manche glaubten, die Arbeitslosigkeit würde sich vielleicht doch bald von alleine verflüchtigen. Aber mir geht es hier um gesellschaftliche Konzepte. Wo ist eigentlich der Beschäftigungspakt, auf den wir alle warten? Es gibt in diesem Lande so viele gesellschaftliche Gruppen, die dazu bereit sind und die solche Maßnahmen eingefordert haben: die Kirchen, die Gewerkschaften, natürlich die Arbeitnehmer, auch die Arbeitgeber. Sie alle fordern: Laßt uns doch ein Konzept aufstellen, mit dem wir es wenigstens versuchen wollen; wir können doch nicht von vornherein so tun, als gäbe es nichts zu tun. Dies ist nicht passiert. Es gibt viele Gruppen, die solche Konzepte in die Gesellschaft hineintragen würden, die für einen Konsens werben würden. Wenn man schon keine Lust hat, selbst etwas zu machen, dann kann man doch vielleicht auf das zurückgreifen, was es in diesem Bereich schon gibt, und das ist gar nicht so wenig. Ottmar Schreiner hat vorhin die Konzepte der Kirchen angesprochen. Ich will einmal ganz unbescheiden anführen, daß wir vor einigen Wochen die „Berliner Erklärung", ein Konzept zur Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000, vorgelegt haben. Es beinhaltet Maßnahmen, auf die wir uns als EU-Länder eigentlich alle verständigt haben. Dieses Weißbuch ist unser Programm. Nur sind diese Konzepte wieder irgendwo in der Schublade verschwunden, und kein Mensch redet darüber, geschweige denn, daß man versucht, das konkret anzugehen. Nun will ich gar nicht behaupten, daß diese „Berliner Erklärung", an der wir wirklich alle gesellschaftlichen Gruppen beteiligt haben, der Stein der Weisen ist. Wir haben versucht, die Maßnahmen zu bündeln, die zu dieser Halbierung der Arbeitslosigkeit beitragen können. Wir haben uns einfach gesagt: Man kann das doch nicht hinnehmen; wir müssen etwas tun. Wir haben dieses Konzept auch auf breiter Ebene verschickt und eine große Resonanz bekommen. Ich will einmal darlegen, wie die Resonanz des Bundesarbeitsministers aussah, der vorhin - es ist jetzt zwei Stunden her - erklärt hat, wir sollten ihm unsere Vorschläge doch auf den Tisch legen; er sei ja bereit, über alles zu reden, und werde dazu beitragen, das durchzusetzen. Wir haben ihm dieses Konzept auf den Tisch gelegt. Seine Anmerkung dazu war, wir hätten die Flexibilisierung der Arbeitszeit nicht ausreichend berücksichtigt - natürlich in Richtung auf die Entwicklung, die er durchsetzen will. Damit hatte es sich dann. Der Bundeswirtschaftsminister hat mir mitgeteilt, die eigentliche Strategie, nämlich die Schaffung von Niedriglohnarbeitsplätzen, hätten wir überhaupt nicht aufgenommen. ({9}) Das war wirklich die gesamte Debatte. - Ich sage es noch einmal: Ich bin gar nicht der Meinung, daß wir das Patentrezept haben, hätte aber schon erwarten dürfen, daß man sich zusammensetzt und tatsächlich ernst darüber diskutiert. Das ist nicht passiert. ({10}) Die großen Strategien, die ich einfordere und die leistbar sind, habe ich genannt. Ich will noch eines sagen: Als vorhin in der Debatte einige CDU-Kollegen etwas zur aktiven Arbeitsmarktpolitik gesagt haben, ist mir schon ziemlich die Galle hochgekommen, weil die Hälfte davon schlicht und einfach falsch war. Wir haben in der Arbeitsmarktpolitik keine vergrößerte Zahl von Maßnahmen. Schauen Sie sich doch einmal die monatlichen Zahlen an; die Statistiken liegen doch auf dem Tisch. Der Haushalt wurde reduziert: Der Anteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik wird, wie sich aus den Zahlen ablesen läßt, in dem klassischen Instrumentarium geringer. Die Zahlen für ABM, § 249h, Fortbildung und Umschulung sind rückläufig. In Berlin habe ich noch 50 % der Maßnahmen von 1992, obwohl wir als Land immer mehr bezahlen, weil die Leistungen auf die Länder verschoben werden. Wenn ich etwas Vernünftiges machen will, muß ich eben sehen, wie ich selber das Geld dafür auftreibe. Das ist doch die Realität. Sie tun immer so, als sei hier Friede, Freude, Eierkuchen und als würden wir alle Anstrengungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik gemeinsam unternehmen. ({11}) Sie haben die Terminologie ein bißchen übernommen. Ich finde es ja auch gut, daß Sie darüber reden, Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren zu wollen. Dann tun Sie es aber doch bitte auch! ({12}) Ich will noch einen Punkt ansprechen, bei dem es nicht um die Finanzierung geht. Wir haben gesagt, die Lohnkostenzuschüsse nach § 249h seien zwar für die Länder sehr teuer, stellen aber einen Weg in die richtige Richtung dar. Dies ist nämlich längerfristig: Wir können über längere Zeit etwas machen. Wir können vor allen Dingen die Älteren ganz gut unterbringen. - Auch in diesen Bereichen lassen Sie uns noch nicht einmal das tun, was wir in unseren Ländern für notwendig halten. Es geht mir gar nicht darum, hier mehr Geld dafür einzutreiben, sondern darum, mit diesem Instrument wenigstens so hantieren zu können, wie ich es für vernünftig halte. ({13}) Das geht nicht. Auch da werden wir geknebelt und bekommen Vorgaben, wie wir es machen können. Senatorin Dr. Christine Bergmann ({14}) Wenn Sie dann § 242 s, also die Ausweitung auf die Altbundesländer, als große Errungenschaft preisen, kann ich nur sagen: Die Initiative für diese Ausdehnung ist von uns, von Berlin, ausgegangen, weil ich als Arbeitssenatorin in einer zusammenwachsenden Stadt, wo die Arbeitslosenquote von Ost und West mittlerweile gleich ist, auch die gleichen Instrumente brauche. Wir wollten dieses; es waren nicht alle auf unserer Seite. Was aber am Ende herausgekommen ist, ist eigentlich eine verschlechterte ABM. Wir haben die gesamten Kriterien von ABM, die sich als wirklich urpraktikabel erwiesenen haben, auf § 242 s draufgepackt und auch wieder nur die Felder vorgegeben. Wir finanzieren aber viel mehr, als es bei ABM der Fall ist. Wenn Sie noch einmal das Beschäftigungsförderungsgesetz loben wollen, will ich noch einen Punkt nennen: Wir haben die staatlich verordnete untertarifliche Bezahlung. Das ist der Abschied von einer Politik, die mir, die ich aus den neuen Bundesländern komme, eigentlich auch immer in den Jahrzehnten der DDR vorgeschwebt hat, von der Politik der eigenständigen Tarifautonomie. Davon verabschieden Sie sich vollständig. Das kann ich nun wirklich nicht als Fortschritt bezeichnen. ({15}) Es war auch von Sozialhilfe die Rede. Ich will noch einmal deutlich sagen: Wir wollen keine generellen staatlich geförderten Arbeitsplätze; auch dieser Vorwurf kommt. Wir wollen, daß Menschen die Möglichkeit zur Arbeit erhalten. Wir wollen nicht die staatlich alimentierte Ausgrenzung, die wir im Moment in großem Umfang betreiben. Ich glaube, Sie wissen einfach nicht, was das für Menschen bedeutet; denn sonst würden nicht diese ganz bösen Worte wie die Bemerkung des Kanzlers vom „Freizeitpark" kommen. Es gibt eine Bemerkung der Bundesfrauenministerin, die in Sachsen-Anhalt erklärt hat, sie könne doch den Frauen nicht die Arbeitsplätze auf dem silbernen Tablett präsentieren. Im Moment gibt es wegen der schwierigen Ausbildungssituation auch den flapsigen Spruch von der Mobilität der Jugendlichen. Dies alles suggeriert den Menschen, daß sie eigentlich selber daran schuld sind, daß sie in dieser Misere stecken, und daß sie sich nun gefälligst kümmern sollten, und es macht ihnen auch deutlich, daß sich die Gesellschaft von der Verantwortung verabschiedet hat, Arbeit für Menschen zu schaffen. Wir wollen diesen Eindruck vermeiden. Ich stehe dafür auch als Arbeitssenatorin und natürlich als Sozialdemokratin. Ich halte mich jetzt sehr bei der Arbeitsmarktpolitik auf. Aber sie ist natürlich ein sehr wichtiges Thema auch für die Frauenpolitik. ({16}) Sie ist die Säule auch meiner Frauenpolitik in Berlin. Frau Merkel, wenn Sie es als Erfolg hochjubeln, daß Sie eine Soll-Bestimmung in das AFG hineinbekommen haben, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil usw. beteiligt werden sollen, so ist das wirklich ein sehr mageres Ergebnis. Wir alle wissen, was solche Soll-Bestimmungen wirklich bewirken. ({17}) Auf der anderen Seite wissen wir, was alles herausgefallen ist und welche Maßnahmen, die besonders Frauen zugute gekommen sind, wie die Eingliederungszuschüsse usw. bei der 10. AFG-Novelle oder auch später aus dem ganzen Instrumentarium schlichtweg verschwunden sind. Ich habe vorhin gesagt, daß ich mir bei der Politik auch ansehe, wie Kompetenzen genutzt werden. Die Frauenministerinnen der Lander - einige von uns sind auch Arbeitsministerin - haben Ihnen alle Unterstützung angeboten. Wir haben Ihnen Vorschläge gemacht, was im AFG unter frauenpolitischen Aspekten enthalten sein müßte. Wir haben darüber hinausgehende Vorschläge gemacht: Lohnkostenzuschüsse für Frauen, Existenzgründungsförderungen für Frauen usw. Die Vorschläge liegen eigentlich alle auf dem Tisch. Mich frustriert, daß nichts neu erfunden werden muß, Sie die Vorschläge aber schlichtweg nicht beachten. ({18}) Ich komme noch einmal auf Ihre Bemerkung zurück, daß Frauen nicht erwarten können, daß sie den Arbeitsplatz auf dem Silbertablett serviert bekämen. Ich empfinde das ebenso wie andere wirklich als Zynismus. ({19}) Ich bin wirklich vor Ort. Ich bin an Projekten beteiligt, führe viele Bürgergespräche usw. Wenn ein 50jähriger Diplommathematiker kommt, der sich 150mal bundesweit beworben hat und einfach nichts findet, weil er zu alt ist, kann ich dem natürlich etwas vom „Freizeitpark" erzählen. Sie wissen, daß insbesondere Frauen betroffen sind. Auch Herr Jagoda hat gestern noch einmal betonen müssen, daß der konjunkturelle Aufschwung den Arbeitsmarkt zwar erreicht hat, nur leider vor den Frauen haltgemacht hat. Das heißt, in diesem Bereich wächst die Arbeitslosigkeit nach wie vor relativ weiter. Das ist ein ganz bedenkliches Zeichen. Ich weiß, wie sich die Frauen kümmern. Da kommt eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, 35 Jahre alt, Verkäuferin, zu mir und sagt, sie hat sich 70- oder 80mal beworben und findet keine Arbeit, und versucht dann, in irgendeiner Förderung oder in irgendeinem Projekt unterzukommen, weil sie arbeiten will. Sie möchte nämlich nicht Sozialhilfeempfängerin werden. Soll ich dieser Frau sagen, ich kann ihr einen Arbeitsplatz nicht auf einem silbernen Tablett servieren? Ich habe in den vier Jahren, in denen ich in meinem Amt bin, sehr viel Kreativität von Frauen erlebt. Ich kann diese Vorstellung für die Frauen daher nur zurückweisen. ({20}) Nun aber Schluß mit der Arbeitsmarktpolitik. Ich glaube, das war deutlich genug. Ich möchte auch noch Senatorin Dr. Christine Bergmann ({21}) zu einigen anderen Dingen in der Frauenpolitik kommen. Ich glaube, auch Sie kennen die Meinung der Frauenministerinnen zu dem Bundesgleichberechtigungsgesetz; es ist heute schon einmal angesprochen worden. Sie haben es als vorbildlich hingestellt. Alle Sachverständigen in der Anhörung des Bundestagsausschusses für Frauen und Jugend haben diese Auffassung nicht geteilt; sie waren der Meinung, es sei zahnlos, bißlos und in dieser Form überflüssig. Ich spreche hierzu auch als Senatorin eines Landes mit einem sehr viel weiter gehenden Gleichstellungsgesetz. Wir erwarten vom Bund ähnliches. Wir erwarten, daß der Bund immer ein Stück vorneweg ist, daß der Bund uns bestimmte Möglichkeiten bietet, so daß unsere Ländergesetze ein Stück Unterstützung und nicht genau das Gegenteil erfahren. Ich kann jetzt nicht auf die einzelnen Punkte eingehen, die alle weit hinter dem zurückbleiben, was wir im Lande geregelt haben. Ich denke nur, Frauen haben wirklich Besseres verdient. ({22}) Sie haben es ebenfalls verdient, daß man sich um sie kümmert, wenn sie in der freien Wirtschaft sind. Das Argument, daß dies alles nicht mit dem EG-Recht in Einklang stehe, ist inzwischen schon eine ganze Weile vom Tisch. Das heißt, man muß mindestens den Vorstoß wagen, um in dieser Richtung wirklich etwas erreichen zu können. Sie wissen, daß die Frage der leistungsbezogenen, aus unserer Sicht: der qualifikationsbezogenen Quote in diesem Gesetz ausgespart wurde. Wenn ich mich auf eine Äußerung von Ihnen beziehen darf, die da lautet: „Die Quotenregelung behindert die notwendige Flexibilität in der Personalentscheidung und beeinträchtigt unzumutbar den Betriebsfrieden", dann heißt das für mich, daß Sie der Meinung sind, daß ein guter Frauenanteil, am besten auch in höheren Positionen, offensichtlich mit dem Betriebsfrieden nicht vereinbar ist. ({23}) Ich finde das wirklich unglaublich und frage mich, wie Sie Ihr Amt hier eigentlich auffassen. ({24}) Ich will noch auf einen Punkt hinweisen, um den es mir eigentlich leid tut. Ich würde Sie ja gerne unterstützen; das würde mir sehr viel mehr Spaß machen. Es handelt sich um die Teilzeitdebatte, um die Debatte über die Arbeitszeitverkürzung. Es gibt diese Debatte. Ich halte sie für notwendig, weil wir nicht unbegrenzt neue Arbeitsplätze, wie wir vorhin schon gesagt haben, zur Verfügung haben. Daher steht die Frage der Umverteilung der Arbeit natürlich an. Sie bezieht sich auch auf die Generation, die nachwächst. Die Frage ist: Wie verhalten wir uns eigentlich den Jugendlichen gegenüber, die auf den Arbeitsmarkt drängen? Wir müssen an dieses Problem wirklich ernsthaft herangehen. Diese Debatte müssen wir natürlich nutzen, um für Frauen ein Stück herauszuholen, so sage ich es einmal flapsig. Bisher sind es die niedrig bezahlten Frauen, die die Teilzeitarbeitsplätze haben. ({25}) Wenn es uns jetzt gelingt, die Teilzeitarbeit aufzuwerten und sie für höhere Funktionen durchzusetzen, ({26}) Männerteilzeitarbeit einzuführen, neue Modelle umzusetzen, ({27}) die Frage der generellen Arbeitszeitverkürzung anzugehen - eine generelle Arbeitszeitverkürzung kommt immer Frauen zugute, weil es ihnen dann eher möglich ist, Familienarbeit und Berufsarbeit unter einen Hut zu bringen -, dann kommen wir in der Debatte weiter, und dann können wir auch die Frage der sozialen Absicherung mit diskutieren. Sie gehört nämlich dort hinein. ({28}) Im Moment finanzieren wir immer die unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Wenn jemand freiwillig Teile seines Arbeitsvolumens zur Verfügung stellt, um damit anderen die Möglichkeit zum Arbeiten zu geben, lassen sich sehr gute Modelle konstruieren, wie das zu finanzieren ist. Auch dies haben wir vorgelegt; es liegt alles auf dem Tisch. Man muß nur herangehen. ({29})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Senatorin, jetzt haben Sie Ihre Redezeit schon ein Stück überschritten. Senatorin Dr. Christine Bergmann ({0}): Gut, ich komme dann mit einer Bemerkung zum § 218 zum Schluß. Das muß ich hier natürlich noch loswerden: Es hat keinen Kompromiß in der Frage des Änderungsgesetzes zum Schwangeren- und Familienhilfegesetz gegeben. Ich finde das gut, weil das, was auf dem Tisch war, für die Frauen nicht zumutbar war. ({1}) Das, was CDU und CSU vorgelegt haben, geht noch ein Stück hinter das zurück, was das Bundesverfassungsgericht uns auferlegt hat. Ich sage folgendes einmal ganz deutlich als Ost-Frau - die West-Frauen betrifft es genauso -: Es ist von den Frauen nicht akzeptiert worden. Ich kann nicht einsehen, daß wir dann noch hinter dem zurückbleiben, was möglich ist. ({2}) Senatorin Dr. Christine Bergmann ({3}) Darum werden wir einen neuen Anlauf unternehmen und sehen, daß wir eine bessere Regelung hinbekommen. Sie tun immer so, als sei nichts passiert. Es gibt mittlerweile in den Ländern Regelungen, auch in einem Land wie Berlin, das von einer großen Koalition regiert wird, die wirklich den gesamten Handlungsspielraum ausschöpfen. Ich frage: Warum sollten wir dann eigentlich einem Kompromiß zustimmen, bei dem ich mich hinstellen und den Frauen sagen muß: Das war es nun; 1995 würde eine ganze Gruppe von Frauen aus der Regelung herausfallen. Daneben gibt es andere Dinge, die dabei noch eine Rolle spielen. Zum Thema Jugend kann ich jetzt nichts mehr sagen. Auch dazu wäre einiges auszuführen, auch unter Arbeitsmarktaspekten. Zum Schluß will ich festhalten: Es fügt sich eines zum anderen. Es wurde die Chance nicht ergriffen, die Massenarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, die Chancengleichheit für Frauen ein Stück voranzutreiben, Jugendlichen das Gefühl einer Zukunftsperspektive zu geben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Verehrte Frau Senatorin! Senatorin Dr. Christine Bergmann ({0}): Für das Schlimmste halte ich folgendes: Sie haben zugelassen, daß die Gesellschaft auseinanderdriftet, daß viele Menschen nicht mehr das Gefühl, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, haben oder in ihren Erwartungen bitter enttäuscht sind. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, die von der Unionsfraktion gemeldete Rednerin ist offensichtlich verhindert. Dann gehen wir jetzt vom Prinzip der Rede und der Gegenrede ab, und ich erteile unserer Kollegin Anke Fuchs das Wort.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch zu dieser späten Stunde wollte ich ganz gerne meinen Eindruck von der Debatte heute nachmittag zur Sozialpolitik zusammenfassen. Es ist schade, daß der Bundesarbeitsminister und diejenigen, die auch aus Arbeitnehmersicht die großen Erfolge so gefeiert haben, nicht mehr da sind. Ich will für uns alle noch einmal festhalten: Wir haben die ganze Rentenversicherungspolitik gemeinsam gemacht. Wir haben die Pflegeversicherung gemeinsam gemacht. Was mich stört, ist, daß mit Erfolgen hausieren gegangen wird, die wir alle gemeinschaftlich gemacht haben, daß aber überhaupt keine Sensibilität für die Realität dieser Gesellschaft da ist. ({0}) Das treibt mich richtig hoch. Sagen Sie Norbert Blüm bitte: Ich bin davon richtig betroffen. Ich meine, Sie können Ihre Erfolge vorzeigen; das würden wir auch machen. Wahlkampf ist ja auch in Ordnung. Aber man muß doch auf die Folgen und Konsequenzen in der jetzigen Zeit eingehen. Da hätte ich vom Arbeitsminister schon erwartet, daß er sagt: Da gibt es die beitragsbezogenen Systeme; Gott sei Dank haben wir sie einigermaßen funktionsfähig gehalten, aber wir sind mit der Massenarbeitslosigkeit überhaupt nicht fertig geworden. Er müßte sagen: Wir bedauern zutiefst, auch als CDU, daß es die Wirtschaftspolitik nicht schafft, die unternehmerische Wirtschaft so zu entlasten und zu fördern, daß genug Arbeitsplätze entstehen; wir bedauern zutiefst, daß die Instrumente des öffentlich geförderten Arbeitsmarktes immer hin und her und her und hin geschoben werden müssen, gerade wie es Herrn Waigel paßt. - Das hätte Herr Blüm doch sagen können, und das wäre ehrlich gewesen. ({1}) Nein, er ist eben in den beitragsbezogenen, leistungsbezogenen Systemen verhaftet und hat mit Sozialhilfe, Massenarbeitslosigkeit und Armut offensichtlich nichts am Hut. Das bedaure ich, weil wir - das wissen Sie doch auch - in einem Klima leben, das ich immer aggressiven Egoismus nenne. Wir müssen das soziale Miteinander wieder neu definieren und neu aufbauen. Da hilft es gar nichts, wenn Sie immer so tun, als ob das alles phantastisch sei; denn der große Etat des Arbeitsministers ist doch nur ein Zeichen dafür, wieviel wir für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe ausgeben müssen. Ich wäre froh, wenn der sehr viel kleiner wäre. ({2}) Herr Cronenberg ist auch nicht mehr da. Vielleicht sagen Sie es ihm. Ich habe mit ihm viele Jahre sehr gut zusammengearbeitet. Von Liberalität ist bei ihm noch etwas zu spüren, bei der F.D.P. im übrigen nicht mehr; denken wir nur an die Finanzierung der Pflegeversicherung und sonstige Dinge. Wir wollen das nicht vertiefen. Da so zu tun, als ob die ganze F.D.P. auf Mitmenschlichkeit und Solidarität baut, fand ich ein bißchen weit hergeholt. Herrn Cronenberg nehme ich das ab. Aber von Liberalität ist in dieser Partei so viel - finde ich - nicht mehr übriggeblieben. ({3}) Soziale Kälte, Egoismus und mangelnde Sensibilität: Das ist es. ({4}) - Nein, Herr Kollege, Sie haben das moderat gemacht, da bin ich Ihnen dankbar. Ich will auch noch einmal auf Ihre Argumentation zum öffentlich geförderten Arbeitsmarkt eingehen. Ich habe viele Jahre im Wirtschaftsausschuß debattiert, und das würde ich allen Sozialpolitikern ans Herz legen. Es hat mich eine ziemliche Kraftanstrengung auch in meiner eigenen Partei gekostet, klarzumachen: Wer sich mit Arbeitslosigkeit abfindet, Anke Fuchs ({5}) beschädigt die Demokratie, weil die Qualität der Demokratie davon abhängt. ({6}) Wenn die wirtschaftliche Entwicklung mit allen Maßnahmen, die wir kennen - Arbeitszeitverkürzung usw. -, nicht dazu führt, daß wir genügend Arbeitsplätze haben, dann müssen wir uns zu einem öffentlich geförderten Arbeitsmarkt bekennen. Das ist dann aber nicht Sozialklimbim, sondern Teil einer beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik. Dann bekommt es ein ganz anderes Gesicht. ({7}) Sie haben das gesagt. Ich habe darum furchtbar gerungen. Aber Sie kennen das auch aus Ihrer Fraktion: Da sind wir, die Teuren von der Bundesanstalt. Wir wären ganz billig, wenn die Wirtschaftspolitik dafür sorgen könnte, daß es auf dem ersten Arbeitsmarkt genügend Arbeitsplätze gibt. Dann wäre die Sache eigentlich ganz gut gelöst. ({8}) Es hat auch viele Auswirkungen auf die anderen Bereiche. Denn wenn es nicht gelingt, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, dann leiden darunter die Kassen der sozialen Sicherungssysteme, dann leidet darunter auch die Sozialhilfe, die ja völlig zur Unterstützung von Massenphänomenen verkommen ist. Sie war eigentlich für Hilfe im Einzelfall gedacht, um im Einzelfall armen und bedürftigen Menschen helfen zu können. Das muß wieder umgedreht werden. Da ist die öffentlich geförderte Arbeitsmarktpolitik der gedankliche Ansatz - weil uns nichts anderes einfällt; das will ich gerne so zugeben. Ich höre gleich auf und komme zum nächsten Thema. Aber bei diesem Arbeitsminister, der immer mit einem strahlenden Blick durch die Gegend geht, bewegt mich das schon. Auch er, finde ich, muß lernen, was diese jahrelange Arbeitslosigkeit in den Köpfen und Herzen der Familien kaputtgemacht hat. Dabei unterschätzt er, glaube ich, auch den Sprengsatz. Er fängt auch an zu schwindeln. Die Arbeitsmarktzahlen aus diesen Tagen waren wieder typisch für mich. Man vergleicht den Monat August mit dem Monat Juli. Ökonomisch sinnvoll ist es jedoch, den Vorjahresmonat heranzuziehen, und danach ist die Arbeitslosenzahl gestiegen. ({9}) Wir haben mehr Arbeitslose als im vorigen Jahr. Das wird verschwiegen. Es sind zwar weniger im Osten, aber mehr im Westen als vor einem Jahr. Das halte ich für eine dramatische Entwicklung. Dann sagt Norbert Blüm, daß es nicht so schlimm sei, wenn diese Menschen in die Sozialhilfe abrutschten. Das ist für mich mit das Schlimmste, was jetzt passiert. Daß die Sozialhilfe belastet wird, ist die eine Seite. Aber stellen Sie sich einmal jenen Mann vor, von dem er selbst gesprochen hat: viele Jahre, 20 Jahre, beitragspflichtig beschäftigt. Er bekommt 32 Monate Arbeitslosengeld und zwei Jahre Arbeitslosenhilfe. Dann ist er Ende 40 und rutscht in die Sozialhilfe. Die Kommunen müssen das bezahlen. Dann sagt Norbert Blüm, ob dieser Mann nun bei der Sozialhilfe registriert sei oder beim Arbeitsamt, das sei doch ganz egal. Es ist nicht egal, weil die Förderinstrumente bei der Bundesanstalt für Arbeit sind und weil Sie durch diese Rechnung sehr geschickt 315 000 Menschen weniger in der Arbeitslosenstatistik haben. Sie haben gar keine Langzeitarbeitslosen mehr. Das ist der Betrug an dieser Geschichte. ({10}) Wenn wir diese sozialen Mißstände anprangern, dann will ich - lassen Sie mich das noch einmal betonen -, überhaupt nicht die gemeinsamen Anstrengungen niedrig halten, die wir im Zuge der deutschen Einheit miteinander unternommen haben. Sie erinnern sich, daß viele in Ihren Reihen gar nicht für die Sozialunion waren. Sie wollten die Währungsunion, Sie wollten auf den Markt setzen. Daß überhaupt auch die ganze Sozialpolitik angegliedert wurde, haben wir gemeinsam, aber insbesondere mit den Sozialdemokraten vorangebracht. Ich darf an die Fraktionen damals in der Volkskammer denken. Ohne uns wären diese ganzen sozialpolitischen Maßnahmen gar nicht zustande gekommen. Ich finde es respektabel, was dort geleistet worden ist, und akzeptiere es. Aber an der sozialen Empfindsamkeit in unserem Lande ist doch etwas kaputtgegangen. Merken Sie das nicht? Der soziale Konsens droht doch kaputtzugehen, wenn wir uns nicht alle miteinander anstrengen. Da geht es noch nicht, wie Frau Rönsch bei den Familien sagt, um Betreuung und auch nicht um Unterstützung, sondern da geht es um die Frage: Wie haben die Menschen in unserem Lande Chancen, integriert zu bleiben, Chancen z. B., mit Kindern zu leben und nicht angewiesen zu sein auf eine wohltätige Obrigkeit, die sie unterstützt? Sie brauchen Rechte, auf die sie sich verlassen können. ({11}) Nun hat die Familienministerin zum wiederholten Male - meine Kolleginnen können das alles schon singen; für mich ist das in gewisser Weise neu - die strukturelle Rücksichtslosigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber den Familien zitiert und angeprangert. Wie finden Sie das? Da ist eine Regierung zwölf Jahre im Amt. Nach zwölf Jahren finden wir in allen Familienberichten die „strukturelle Rücksichtslosigkeit dieser Gesellschaft". Das hat doch dann diese Regierung verursacht, oder nicht? Ich sehe das so. ({12}) Sehr verehrte Frau Ministerin, ich finde, eine gute Familienpolitik, eine gute Seniorenpolitik, eine gute Jugendpolitik oder eine gute Frauenpolitik hängt nicht davon ab, ob man dafür ein eigenes Ressort kreiert, sondern davon, welche Politik man wirklich Anke Fuchs ({13}) durchsetzt. Da sieht es bei Ihnen wirklich nicht so gut aus. ({14}) Ich komme noch einmal zum Kindergeld zurück. Sie wissen ja, daß das Bundesverfassungsgericht - damals noch mit dem jetzigen Bundespräsidenten als Bundesverfassungsgerichtspräsidenten - viele steuerliche soziale Fragen aufgegriffen hat. Kein Mensch hat sich darum gekümmert, weil das damals bei Roman Herzog nicht die gleiche politische Wirkung hatte wie heute. Wenn der Bundespräsident das heute wiederholt, hat er doch recht. Sie beschimpfen ihn dafür; aber ich finde das ganz in Ordnung. Die Familienpolitik ist ungerecht. Sie verstößt gegen Verfassungsprinzipien. Sie haben die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vorliegen und begehen permanent Verfassungsbruch, meine Damen und Herren. Darauf muß man hinweisen. ({15}) Ich will nicht noch einmal die Kindergelddebatte beginnen. Aber es ist schon interessant, zu sehen, wie die Ministerin das so verdreht hat, daß sie meinte, unsere Konzeption rechnete sich nicht. In der Tat, der Kern, Frau Rönsch, ist, wie Sie selbst gesagt haben: Wir wollen, daß Vater Staat das Kind des Managers genausoviel wert ist wie das Kind der Verkäuferin. ({16}) Das unterscheidet uns von Ihnen; denn Sie wollen - das haben Sie verklausuliert gesagt -, daß der Spitzenverdiener über steuerliche Freibeträge für sein Kind dreimal soviel zur Verfügung hat als derjenige, der mit kleinem oder mittlerem Einkommen auskommen muß. Das muß vorbei sein. Wir haben mit Ihnen zusammen in den 60er Jahren das einheitliche Kindergeld für alle eingeführt. Es ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit, daß wir dazu wieder zurückkehren. ({17}) Hinzu kommen muß die Steuerfreiheit des Existenzminimums. Das wären Elemente, um Armut zu bekämpfen. Die soziale Grundsicherung ist eine weitere Forderung. Das würde eine Situation schaffen, um den Menschen, die selbst bei sicherem Einkommen und bei einem festen Arbeitsplatz bis an die Halskrause mit Abgaben und Gebühren belastet sind, endlich zu einer Entspannung in ihrem Portemonnaie zu verhelfen. Es ist ja nicht mehr so, daß wir eine Zweidrittelgesellschaft haben. Das mittlere Drittel muß strampeln, um seinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Das liegt daran, daß Sie die deutsche Einheit überwiegend über Steuern und Beiträge der Arbeitnehmer finanziert haben und die stärkeren Schultern nichts dazu beitragen mußten. ({18}) - Nein, das, was Sie sagen, stimmt so nicht, Herr Kollege. Aber ich will darauf nicht weiter eingehen. Es ist interessant - darin stimme ich Ihnen übrigens zu -, daß junge Leute mit Kindern leben wollen. Wir würden uns wahrscheinlich alle freuen, wenn wir über die Frage „Kinder in der Gesellschaft", „Kinder sind eine Bereicherung für das Leben" und über die Freude, die Kinder machen, reden könnten. Daß junge Menschen den Wunsch haben, mit Kindern zu leben, finde ich sehr gut. Ich wäre heilfroh, wenn die materiellen Verhältnisse so wären, daß wir, ohne daß sich der Staat einmischt, zurechtkämen. Aber die Rahmenbedingungen sind nicht so. Deswegen reden wir über Kindergeld und über Steuerfreiheit des Existenzminimums. Deswegen müssen wir über bezahlbare Wohnungen reden. Wir müssen auch über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie reden, damit nicht die Frauen diejenigen sind, die an den Kochtopf zurückkehren, und die Männer ihren Vollzeitarbeitsplatz behalten. So kann das nicht gehen, meine Damen und Herren. Wir müssen über die Rahmenbedingungen sprechen. ({19}) Jetzt kommt mein Lieblingsthema. Auch wenn dazu heute schon gesprochen worden ist, muß ich dazu noch etwas sagen. Ich fand es besonders zynisch, als in den Papieren zur Arbeitslosigkeit von Frauen stand: Die Frauen im Osten sind zu 90 % einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Sie werden sich in ihrem Erwerbsverhalten den Westdeutschen anpassen, und damit ist die Hälfte des Arbeitsmarktproblems gelöst. - Nein, wir bleiben dabei: Recht auf Arbeit gilt auch für Frauen, und zwar so, daß sie von ihrer bezahlten Arbeit auch leben können. ({20}) Das ist bei der Teilzeitarbeit das Problem. Sie belassen damit die Struktur in den Familien. Ich weiß ja, warum die Männer Teilzeitarbeit für Frauen ganz gut finden. Es bleibt alles beim Alten: Mutter arbeitet einen halben Tag und ist glücklich und zufrieden, weil sie ein bißchen außer Haus tätig sein kann; aber im Kern ist das Ganze keine partnerschaftliche Veranstaltung von Mann und Frau, auch dann, wenn sie Kinder erziehen wollen. Wenn Teilzeitarbeit, dann bitte sozialversicherungspflichtig. Endlich weg mit der Geringfügigkeitsgrenze, sonst können wir darüber gar nicht weiter reden. ({21}) Arbeitsplätze, Kindergartenplätze und Flexibilisierung, all dies ist für die Familien wichtig, um ihnen Sicherheit zu geben. Ich sage noch einmal: Das sind Rahmenbedingungen. Wir wollen uns nicht einmischen. Familienpolitik ist auch eine sehr private Angelegenheit. Aber es ist bedauerlich, daß wir in dieser massiven Art und Weise jetzt endlich dazu kommen müssen, daß der Verfassungsbruch behoben wird und daß es nicht nur um Förderung von Familien, sondern Anke Fuchs ({22}) um Gerechtigkeit und um Verfassungskonformität in dieser Frage geht. ({23}) Wenn wir beide mehr Zeit hätten, Frau Rönsch, würden wir uns nun um die Senioren kümmern. Auch da reicht es nicht aus, wenn man sagt: Wir haben Beratungsbüros. Sie wissen, daß wir eine EnqueteKommission zum demographischen Wandel haben. Ich glaube, über die Frage der heutigen Seniorenpolitik hinaus wird uns in der nächsten Legislaturperiode die Frage beschäftigen: Wie geht diese Gesellschaft mit dem demographischen Wandel um, der sich darin dokumentiert, daß heute 20 % unserer Bevölkerung über 60 Jahre alt sind und im Jahre 2030 fast 40 % unserer Bevölkerung sind? Das wird unglaubliche Veränderungen in unserem Lande bewirken. Dann werden die Älteren das Sagen haben. Dann kommt die Frage: Gibt es nur noch Golfplätze und keine Bolzplätze mehr? Wie leben Kinder in einer solchen älter werdenden Gesellschaft? Das sind Herausforderungen, um die wir uns nicht drücken können. Ich glaube, wir alle können froh sein, daß wir uns dieses Themas auch in einer Enquete-Kommission rechtzeitig angenommen haben, so daß man Weichenstellungen in den Fragen vornehmen kann: Welche Veränderungen bedeutet das in der Arbeitswelt? Welche Veränderungen bedeutet das in der Rentenpolitik? Wie verhindern wir, daß Frauen im Alter auf Dauer arm bleiben und ausgegrenzt werden? All diese Fragen der gesundheitlichen Versorgung müssen im Zuge dieses Themas „demographischer Wandel" thematisiert werden. Dann machen wir nicht nur eine Politik für heute und morgen, sondern sichern auch Weichenstellungen in eine richtige und wichtige Zukunft. ({24}) Aber ich finde, ein paar Dinge aus der Enquete-Kommission hätten schon heute aufgebracht werden können, nämlich die Frage der Pflegebedürftigkeit. In der Sozialhilfe, über die ich jetzt so viel auch nicht mehr sagen möchte, ist ein enormer Reformbedarf. Ich war dem Herrn Cronenberg dankbar, daß er gesagt hat, ihr Bürgergeld gilt nicht für die Leistungen und beitragsbezogenen Leistungen. Dann kämen wir an das Thema, wie durchforsten wir die Sozialhilfe? Dazu, daß daraus ordentliche, für den Menschen auch berechenbare Leistungen werden. Da wäre schon heute eine ganz wichtige Frage, die wir lösen könnten, indem wir endlich die Regreßpflicht für die Angehörigen aus der Sozialhilfe streichen, meine Damen und Herren. Dies ist das entwürdigendste, was es gibt. ({25}) Dann kommt die Pflegeversicherung. Darüber will ich auch nicht viel mehr reden, sondern nur sagen: Wenn man den Zeitungen entnimmt, daß der Bundesarbeitsminister jetzt Richtlinien blockiert oder durch Richtlinien die Umsetzung blockiert, dann ist das, finde ich, fatal; denn die Seniorinnen und Senioren wiederum - das habe ich in den letzten Tagen erfahren - sind sehr verunsichert durch das, was vom Arbeitsminister kommt. Wir sollten darauf drängen, daß eine verläßliche Umsetzung der Pflegeversicherung so kommt, daß das Ziel, das wir mit der Pflegeversicherung erreichen wollten, auch erreicht wird, nämlich den Menschen die Sorge zu nehmen, was aus ihnen wird, wenn sie pflegebedürftig werden. Sie sagen, ich habe eine ordentliche Rente, meine Wohnung ist auch ganz okay, aber dieses Risiko der Pflegeversicherung muß vernünftig organisiert und abgewickelt werden. Wir fordern den Bundesarbeitsminister auf, hier nicht zu verzögern, sondern für sozial gerechte Regelungen zu sorgen. Zum § 218 stimme ich allen zu, die sagen, dieses Gesetz wollten wir nicht. Jetzt kommt es nicht, und wir werden versuchen, daß wir es in der nächsten Legislaturperiode besser machen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Menzel?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Eine ganz kurze Frage nur, Frau Fuchs. Würden Sie auch mit der gleichen Intensität dafür sorgen wollen, daß der finanzielle Ausgleich für die Pflegeversicherung durch Abschaffung eines Feiertages in anderen Ländern ebenso betrieben wird, daß wir das dann also gemeinsam haben und nicht davon ausgehen müssen, zuerst die Pflegeversicherung einzuführen und hinterher den Ausgleich nicht schaffen können?

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, ich hoffe j a auf einen Wahlsieg. Wollen wir mal sehen, wie wir es mit der Finanzierung halten. Ich kann mir vorstellen, daß wir dann ganz darauf verzichten, diese unsinnige, von der F.D.P. da reingejuckte Geschichte mitzumachen, daß man jetzt einen Feiertag abschafft, was eigentlich eine Arbeitszeitverlängerung ist und deshalb konjunkturell überhaupt nicht in die Landschaft paßt. ({0}) Aber ich bin ja als Gesetzgeberin treu und sage: Okay, wir müssen das machen. Der Punkt ist doch wohl nach wie vor, daß sich Bayern weigert, den Feiertag abzuschaffen. Soweit ich es aus den Länderdiskussionen kenne, sind die alle auf dem Weg dahin, etwas Einheitliches zu schaffen. Ich gehe davon aus, daß wir das auch hinkriegen. Das wäre ja wohl ganz wichtig. ({1}) Ja. ({2}) - Ich lasse die Bayern gar nicht aus dem Spiel, weil sie diejenigen sind, die es verhindern werden, Herr Finanzminister. Sie sollten mal ein bißchen Bewegung in die Debatte bringen und dafür sorgen, daß von den Anke Fuchs ({3}) vielen, vielen Feiertagen die Bayern einen opfern, damit insgesamt eine vernünftige bundesweite Regelung zustandekommen kann. ({4}) - Nein, wir haben etwas anderes vereinbart, Herr Finanzminister. Ich nehme das gern zur Kenntnis, wir haben es gehört, meine Damen und Herren, die Bayern wollen verhindern, daß ein Feiertag abgeschafft wird, weil sie lieber mit der F.D.P. zusammen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belasten wollen. Das ist doch eine interessante Aussage zu dieser sehr späten Abendstunde. ({5}) - Sie verklagen mich gar nicht, Herr Waigel, weil ich nichts sage, was zu verklagen wäre; denn Sie haben heute bestätigt, daß Sie am liebsten einen Beitrag leisten würden, daß kein Feiertag abgeschafft wird, damit über Tarifverträge die Arbeitnehmer dann die Kosten, auch die Arbeitgeberanteile für die Pflegeversicherung zahlen müssen. Dies wollen wir nicht, wie Sie wissen. Deswegen ist es interessant, wenn Sie das hier so deutlich sagen. Der Bundeskanzler hat ja heute eine fabelhafte Rede gehalten. Haben Sie mal zugehört, was der gesagt hat? - Über die Langzeitarbeitslosen wird er nachdenken. Und er hat gesagt, für die Familien müssen wir auch was tun. Dann hat er noch gesagt, wir werden das alles mal gucken. Aber er hat gar nichts Konkretes gesagt. Und die Familienministerin hat heute auch gesagt, im Etat ist nichts drin für mehr Familienpolitik, da sind keine Steuerfreibeträge drin, kein Kindergeld ist drin, nichts ist drin, was das Verfassungsgericht eigentlich will. Die Frage ist eigentlich, mit welcher Vorgabe gehen die Leute auf die Wählerinnen und Wähler zu? Das ist für mich eine gute Zusammenfassung. Rudolf Scharping hat ja zu recht gesagt, letztes Mal haben sie gelogen, dieses Mal sagen sie gar nichts. Aber, ich glaube, die Wählerinnen und Wähler wollen wissen, was sie erwartet, wenn die jetzige Regierung weiter regiert. Da sind wir in einer sehr viel komfortableren Situation; ({6}) denn wir haben unser Wahlprogramm dargestellt. Wir bleiben dabei. In der Familienpolitik: einheitliches Kindergeld für alle; schrittweise Einführung des steuerfreien Existenzminimums. Wir bleiben an dem Thema Kindergartenplätze mit Bundesfinanzierung dran. Wir bleiben an dem Thema Ganztagsschulen und Tageseinrichtungen dran, und wir werden uns verstärkt um eine aktive Arbeitsmarktpolitik bemühen, so daß auch Beruf und Familie von den Frauen miteinander vereinbart werden können. Das ist unser Angebot an die Wählerinnen und Wähler. Ich gehe deswegen sehr gestärkt aus der heutigen Debatte. Wie hieß es: 60 Ankündigungen sind ein Töpfer, 70 Ankündigungen sind eine Frau Rönsch? So ähnlich muß man das ja wohl formulieren. Denn außer Platitüden habe ich nichts Konkretes gehört. Das bedaure ich. Aber um so mehr ist ein Wechsel fällig, meine Damen und Herren. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich muß jetzt erst eine Bemerkung an die Adresse der Kollegin Fuchs machen, die ich aber sozusagen zu einer allgemeinen Bemerkung nutze. Sie machen mir das Leben wahnsinnig schwer, Frau Kollegin Fuchs. Durch die direkte Ansprache der Bayern verleiten Sie nämlich den Herrn Bundesfinanzminister zu Reaktionen von der Regierungsbank, ({0}) was wiederum ein ansonsten relativ unübliches - wenn auch nicht bei ihm - Verfahren ist, ({1}) das uns heute schon im Ältestenrat beschäftigt hat. ({2}) - Herr Bundesfinanzminister, in allgemeiner Art natürlich. Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Rönsch.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Aber auf eine Bemerkung, liebe Frau Kollegin Fuchs, will ich dann doch noch einmal antworten. Wenn Sie meinen, daß diese Regierung an irgendeiner Stelle gelogen hat, will ich Sie doch noch einmal an Ihre recht kurze und, wie ich in der Biographie gelesen habe, auch recht lustlose Amtszeit und an ihre Vorgängerin erinnern. ({0}) - Das habe ich in der Biographie gelesen. Das stammt nicht von mir. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie dieses Amt als Familienministerin doch nur angenommen, weil Frau Antje Huber wegen der Kindergeldkürzung der SPD-Regierung 1980 zurückgetreten ist. ({1}) Sie haben unmittelbar vor der Bundestagswahl Kindergelderhöhungen verkündet, sie sogar beschlossen und in ein Gesetz umgesetzt, und ganze elf Monate hat die Erhöhung gedauert. Nach der Wahl hat der Bürger gemerkt, wen er gewählt hat, nämlich diejenigen, die nur genau elf Monate ein Wahlversprechen halten. Mit Ihrer Amtszeit ist verbunden, daß das Kindergeld gekürzt wurde. Das ist die Erfahrung, die der Bürger, die die Familien mit Ihnen machen mußten. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zu einer kurzen Replik erteile ich der Frau Kollegin Fuchs das Wort.

Anke Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, ich habe eine sehr lustige Ministerinnenzeit gehabt, und ich fand das auch ganz spannend, ({0}) und ich habe das ganz fröhlich gemacht. Insofern kann ich ganz ungerupft über diese politisch schwierige Zeit für die damalige sozialliberale Koalition sprechen. Ich habe daraus eines - anders als Sie - gelernt. Sie machen gar keine Vorschläge. Ich aber mache Vorschläge, die solide finanziert sind. Das ist der Unterschied zwischen uns. ({1}) Die Leute wissen, wenn wir regieren, gibt es 250 DM Kindergeld. Ingrid Matthäus-Maier hat gesagt, wir kappen dafür das Ehegatten-Splitting. Ich verspreche nur das, was ich halten kann. Das habe ich in der Tat aus der damaligen Zeit behalten, und diese Erfahrung hat mich sicherer gemacht in dem, was ich im Wahlkampf sagen kann und was nicht. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Dr. Angela Merkel.

Dr. Angela Merkel (Minister:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Fuchs, das, was Sie aus Ihrer Amtszeit gelernt haben, ist in der Tat etwas Wichtiges. Daß Sie das sicherer gemacht hat, das spüren wir ja. Wenn Sie jetzt noch etwas vorsichtiger mit den Wörtern „gelogen" und „schwindeln" und ähnlichen Synonymen umgingen, wäre es prima. ({0}) Sie haben nämlich erst den Bundesarbeitsminister der Lüge - nein, des Schwindelns; ich will es wörtlich machen - -({1}) - ich habe einmal gelernt, daß das ungefähr dasselbe ist -, also des Nicht-die-Wahrheit-Sagens bezichtigt und anschließend als Beweis dafür angeführt, daß er Statistiken anwendet, die Sie für unzureichend halten, daß er also die Arbeitslosenzahlen mit dem Vormonat vergleicht. Das ist keine Lüge, liebe Frau Fuchs, und ich finde, man sollte das dann auch deutlich zum Ausdruck bringen. ({2}) Daß man Statistiken verschieden interpretieren kann - Herr Kuessner kommt gleich noch mit einer Parole aus dem sozialistischen Betrieb, die ich auch gut kenne -, das verstehen wir, aber ansonsten würde ich wirklich um Vorsicht bitten. Ich habe das Wort heute so oft gehört, und ich muß Ihnen wirklich sagen: daß man irrt, daß man etwas falsch macht, daß man etwas nicht durchsetzt - das kommt häufiger vor. ({3}) Ich würde für mich in Anspruch nehmen, daß ich in meiner Amtszeit nicht gelogen habe, und das tun alle meine Kollegen im Kabinett mit gleichem Recht. ({4}) Meine Damen und Herren, wir haben eben viel über die Erwerbstätigkeit von Frauen und über die Notwendigkeit von aktiver Arbeitsmarktpolitik gesprochen. Leider ist Frau Bergmann nun schon von dannen geschritten. Frau Fuchs, ich habe zu keinem Zeitpunkt gemeint, daß die Frauen aus den neuen Bundesländern nicht mehr erwerbstätig sein wollen. Ich weiß auch, daß viele Frauen in den alten Bundesländern erwerbstätig sein wollen, und deshalb weiß ich, daß die Rolle der Frauen auf dem Arbeitsmarkt ein ganz wichtiges Feld von Frauenpolitik ist. ({5}) Wir haben uns deshalb auch im Gegensatz zu dem, was Frau Bergmann gesagt hat, sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt. Da gab es z. B. eine konzertierte Aktion, eine Konferenz von Gewerkschaften, Deutschem Frauenrat, Bundeswirtschaftsminister, Bundesarbeitsminister und uns als Frauenministerium, um uns genau mit diesem Problem in den neuen Bundesländern zu beschäftigen. Nun muß ich Ihnen sagen, wir haben alle nachgedacht, und meine Konzepte haben nicht dazu geführt, daß das Thema Frauenerwerbslosigkeit beendet wäre, aber die Vorschläge der Gewerkschaften und der anderen Seiten waren auch nicht um so viel erleuchtender - und ich würde film mich in Anspruch nehmen, daß ich zugehört habe -, als daß wir hier so tun könnten, als läge es nur an uns, daß solche Probleme nicht bewältigt worden sind. ({6}) Deshalb ist in der Tat die aktive Arbeitsmarktpolitik eine der. wesentlichen Stützen und Brücken, die wir in den neuen Bundesländern gebraucht haben und weiter brauchen werden. Wir haben deshalb - und ich danke dem Bundesarbeitsminister hier sehr - einen § 2 aufgenommen, in dem es heißt: Frauen sollen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit an allen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen beteiligt sein. Von der SPD kam lediglich die Bemerkung, daß man mit „sollen" nichts anfangen kann. Nun sage ich Ihnen heute einfach die Zahlen. 1991 gingen 35 % aller Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an Frauen. Heute sind wir bei 60 %. ({7}) Nun kann man sagen, das sei ein reiner Zufall. Ich würde sagen, das hängt auch damit zusammen, daß das Bewußtsein geschärft wurde, daß man sich hingesetzt hat, daß man überlegt hat: Wo können wir auch für Frauen Möglichkeiten schaffen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchzuführen? Und es hat geklappt. Und dann haben wir das nächste Instrumentarium. Es wurde immer wieder von der Opposition und genauso von uns gesagt, es gibt Arbeit, und wir müßten doch Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Nun wurde von Frau Bergmann hier so larifari gesagt, der § 249h sei ja nun auch wieder nichts. Ich kann nur sagen, dies ist genau der Weg. Das Arbeitslosengeld wird genommen, um in wichtigen Bereichen, wo Arbeit zuhauf vorhanden ist - im ökologischen Bereich, im Jugendbereich, jetzt im Kulturbereich, im Sportbereich, bei den sozialen Diensten -, genau das zu tun. Das kann man machen. Allerdings muß man dann auch zur Kenntnis nehmen, daß man ungefähr noch einmal doppelt soviel Geld braucht wie man von der Bundesanstalt für Arbeit bekommt, um das volle Lohnentgelt dann in Form eines versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses, was wir ja beide wollen, zur Verfügung zu stellen. Dieses Geld muß aufgebracht werden. Sie rechnen solide, wir rechnen solide, und deshalb sind wir dankbar, daß Kommunen und Länder hier großzügig unterstützt haben und daß der § 249h sich bewährt hat. ({8}) Dann möchte ich Ihnen sagen, wir haben in der Frauenpolitik in den letzten vier Jahren durchaus auch im Etat sehr deutlich gemacht, daß wir hier einen Schwerpunkt gesetzt haben. Als ich Ministerin wurde, haben wir 14,5 Millionen DM für Maßnahmen in der Frauenpolitik ausgegeben. Heute, mit dem Ansatz 1995, sind wir bei 26 Millionen DM. ({9}) Leider sind ja heute von der Opposition solche Zahlen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Ich nenne hier gleich noch die Zahlen für die Jugendpolitik: 1990 - 120 Millionen DM im Bundesjugendplan, heute über 200 Millionen DM im Bundesjugendplan, und ich kann nur sagen, das ist ein Zeichen dafür, daß wir in diesen Bereichen Prioritäten gesetzt haben. ({10}) Nun komme ich noch einmal kurz zu dem Bundesgleichberechtigungsgesetz, das zu meiner Freude am 1. September 1994 in Kraft getreten ist und das durchzusetzen auch in meiner eigenen Fraktion nicht immer einfach war, ({11}) aber das haben ja nun Frauenthemen manchmal so an sich. Aber ich muß Ihnen schon sagen, ich bin bitterlich enttäuscht. Ich habe soviel von der Gemeinsamkeit in der Frauenpolitik gehört, von den gemeinsamen Anstrengungen, von den überparteilichen Bemühungen. Daß Sie hier im Bundestag dagegen gestimmt haben, dazu würde ich sagen: Das ist alles okay. Aber als wir dann in den Bundesrat kamen und die SPD auch bei einem nicht zustimmungspflichtigen Gesetz über den letzten Trick nachgesonnen hat, um irgendwie zu versuchen, dieses Gesetz zu Fall zu bringen, da war ich enttäuscht. Seitdem bin ich über die überparteilichen Anstrengungen in der Familienpolitik einigermaßen belehrt. Ich würde sagen, ich verlasse mich auf meine Leute, auf meine Fraktion, auf die Koalitionsfraktionen. ({12}) Dann wird es schon irgendwie klappen. Damit fährt man am allerbesten. ({13}) Ich möchte hier nur ganz kurz Leistungen in der Frauenpolitik erwähnen, die hier noch gar nicht zur Sprache gekommen sind und die querschnittsmäßig den Frauen viel mehr zugute kommen: Pflegeversicherung, aber vor allen Dingen auch die agrarsoziale Sicherung für Frauen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Ihnen von der Opposition muß man natürlich sagen: Wer sich nicht einmal einen eigenen Landwirtschaftsminister leisten kann, der wird an die Bäuerinnen schon gar nicht denken. ({14}) Insofern bin ich da nicht weiter überrascht. Heute ist über die Jugend so gut wie überhaupt nicht gesprochen worden. Lassen Sie mich deshalb noch kurz einige Dinge sagen. Wir haben im Bundesjugendplan nicht nur die finanziellen Möglichkeiten wesentlich erweitert. Wir haben in dieser Legislaturperiode das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz in Kraft gesetzt, zuerst in den neuen Bundesländern, dann in den alten Bundesländern. Jeder, der sich auf diesem Gebiet etwas auskennt, weiß, welch harte Anforderung das an Länder und Kommunen ist. Deshalb bitte ich Sie von dieser Stelle aus - egal, welcher Partei Sie angehören -, dafür zu sorgen, daß dieses Kinder- und Jugendhilfegesetz auf allen Ebenen mit Leben erfüllt wird. Das können die Kinder und Jugendlichen gebrauchen. ({15}) Wir erhöhen im Bund unsere Ausgaben für den Bereich der Jugendhilfe um 80 %. Leider geschieht das auf anderen Ebenen zur Zeit nicht. Da kann ich nur appellieren, dafür zu sorgen, daß die Dinge wieder besser werden. Wir haben das Gesetz zur Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres eingeführt. Das ehrenamtliche Engagement von jungen Leuten nicht nur im sozialen Bereich, auch im ökologischen Bereich ist jetzt möglich. Wir sehen daran, wie junge Leute motiviert und bereit sind, sich zu engagieren, für ein Taschengeld für ein vernünftiges Projekt zu arbeiten. Ich denke, das muß man hier einmal sagen, weil Jugend sehr häufig nur im Zusammenhang mit negativen Schlagzeilen in unseren Medien ist. Für mich war einer der wesentlichen Punkte in dieser Legislaturperiode immer wieder die Frage der Gewalt in unserer Gesellschaft, auch der Gewalt in den Medien. Wir haben versucht, auf den verschiedensten Ebenen Beratungs- und Betreuungsangebote zu machen, Aufklärung zu bieten und das Thema auch immer wieder deutlich zu machen. Wir müssen in der nächsten Legislaturperiode unsere Arbeit fortsetzen. ({16}) In der vergangenen Woche haben wir den Abzug der russischen Soldaten aus den neuen Bundesländern erlebt. Dies war natürlich - das ist hier auch gesagt worden - ein ganz besonderes Ereignis. Wir haben als Kinder - ich kann mich gut daran erinnern - immer gewettet, ob sie denn vor dem Jahre 2000 abziehen würden oder nicht. Unsere Eltern fanden das immer komisch, weil sie meinten, das wird auf Ewigkeit so bleiben. Deshalb ist für mich die Verstärkung des internationalen Jugendaustausches ein ganz wichtiger Punkt. Ich glaube, daß wir insbesondere mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn den Jugendaustausch intensivieren und ausbauen müssen. ({17}) Wir haben durch die Gründung des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes in dieser Legislaturperiode einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. 5,3 Millionen DM stehen jetzt für Begegnungsmaßnahmen im deutsch-polnischen Jugendaustausch zur Verfügung. Dieses Jugendwerk muß ausgebaut werden. Wir haben das in unserem Regierungsprogramm noch einmal ganz deutlich festgeschrieben. Wichtig ist aber auch die Hilfe und der Jugendaustausch mit anderen Ländern. Wir haben zum erstenmal ein Jugendabkommen mit der Türkei abgeschlossen. Wir haben mit fast allen mittel- und osteuropäischen Ländern jetzt Grundlagen für eine Kooperation. Wir bieten die Möglichkeit dafür, daß die Jugend der Bundesrepublik Deutschland nicht immer nur auf die eigenen Probleme fixiert ist, sondern daß sie den Blick dafür bekommt, daß es auf der Welt an anderen Stellen Probleme gibt, von denen wir glücklicherweise zur Zeit verschont sind. Ich finde, das muß auch einmal gesagt werden. Ansonsten können die jungen Menschen in unserer Gesellschaft vor lauter Selbstmitleid nicht mehr richtig aufwachsen. Ich halte es für ganz wichtig, daß sie in die richtigen Maßstäbe hineinwachsen. Dafür werde ich weiterarbeiten. Herzlichen Dank. ({18})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer, Sie haben das Wort.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Frau Rönsch, ich möchte auf eine Ihrer Bemerkungen Bezug nehmen, die ich persönlich sehr empörend finde. Sie haben erklärt, Flüchtlinge seien die Ursache dafür, daß Kinder von uns von Sozialhilfe leben müßten. Ich möchte darum bitten, daß solche Bemerkungen hier nach Möglichkeit nicht fallen. Auch Herrn Menzel möchte ich ansprechen. Herr Menzel hat an dieser Stelle gesagt, daß er nicht explizit zum Gesundheitswesen spricht; er hat über die soziale Situation im Land gesprochen. Als Arzt weiß er aber doch ganz genau, wie sich Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit auf das Leben und auf die Gesundheit von Menschen und natürlich - ich bin Kinderärztin - besonders auf Kinder auswirken. Ich kann es meinem Minister leider nicht ersparen, daß ich im Rahmen der Debatte zum Einzelplan 15 ganz explizit sprechen werde; da geht es um die Gesundheit. Ich muß zunächst mit Betroffenheit feststellen, daß es die Koalition und die Regierung tatsächlich fertigbringen, die Ausgaben des Bundes ausgerechnet für gesundheitliche Zwecke erneut zu kürzen, und zwar von rund 860 Millionen DM im Jahr 1994 auf nur noch etwa 800 Millionen DM im Jahre 1995. Man muß daran erinnern, daß dies geschieht, obwohl beim Einzelplan 15 von 1993 auf 1994, vor allem durch das Abwälzen der Mutterschaftspauschale auf die gesetzliche Krankenversicherung, überhaupt die höchste Kürzung eines Teilhaushaltes um etwa 20 % vorgenommen worden war. Besonders schlimm dabei ist, daß davon erneut die Mittel für die Aidsbekämpfung, nicht zuletzt die für Präventionsmodelle in den neuen Bundesländern, betroffen sind. Wir wissen doch, daß gerade die auf dem Gebiet von Aids so überaus nutzbringend tätigen Organisationen wie die Deutsche Aids-Hilfe e. V. immer wieder darauf aufmerksam machen, daß Kürzungen im Aidsetat zwangsläufig erneut steigende Zahlen bei HIV-Infektionen und Aidserkrankungen nach sich ziehen müssen. Ebenso nimmt die Verelendung der Betroffenen mit all ihren Folgen zu. Meine Damen und Herren, für die gesundheitliche Vorsorge aller Menschen dieses Landes ist besonders schwerwiegend das, was in der Drucksache 12/8001, also im Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998, als „Gesundheitsreform in Deutschland in drei Schritten" angesprochen wird. Mit einigen wohlklingenden Sätzen, die den Anschein eines durchdachten stufenweisen Vorgehens erwecken sollen, wird dort das Dilemma dieser Bundesregierung in der Gesundheitspolitik verschleiert. Jeder auch nur einigermaßen Beteiligte weiß: In Wahrheit verbergen sich dahinter ein bereits jetzt angerichteter Scherbenhaufen und ein nicht mehr zu überbietendes Ausmaß an Konzeptionslosigkeit. Es sei daran erinnert: Mit dem sogenannten Gesundheits-Reformgesetz - bekanntlich ab 1998 wirksam - wurde keineswegs, wie erneut behauptet, die Solidarität neu bestimmt oder etwa die Eigenverantwortung der Versicherten gestärkt. Vor allem wurden steigende finanzielle Lasten auf die Patienten abgewälzt. Die damit angestrebte Kostendämpfung wurde allerdings eklatant verfehlt. Die Blamage von Herrn Blüm, der sich ja stolz als Vater eines Jahrhundertwerkes präsentiert hatte, konnte gar nicht größer sein; denn schon 1991 und 1992 stiegen die Ausgaben der Kassen wieder doppelt so schnell wie die Einnahmen. Erneut tat große Eile not. Gehetzt vom nächsten finanziellen Desaster in der gesetzlichen Krankenversicherung wurde im zweiten Halbjahr 1992 mit dem sogenannten Gesundheitsstrukturgesetz die nächste Flickschusterei veranstaltet und innerhalb kürzester Zeit durch Bundestag und Bundesrat gejagt. Da sich die SPD schließlich zu einer „großen gesundheitspoliDr. Ursula Fischer tischen Koalition" mit ins Boot setzte, kam es zwar in Ansätzen zu einigen strukturellen Komponenten; den anspruchsvollen Namen eines Gesundheitsstrukturgesetzes rechtfertigte aber auch das bei weitem nicht. Erneut drehte und dreht sich alles lediglich um eine finanzielle Entlastung der Krankenversicherung. Daß dies - natürlich nur im Sinne einer Atempause - erreicht wurde, Herr Minister, ist weder eine Leistung noch gar ein Wunder. Schließlich wurden dafür solche Instrumentarien wie nochmals erhöhte Belastungen der Patienten, Zulassungssperren für ärztliche Niederlassungen, vor allem aber auch die rigorosen Budgetierungen aller wesentlichen Bereiche des Gesundheitswesens eingesetzt. Inzwischen sind wir mit den fatalen Folgen des damals vielfach gefeierten Projektes konfrontiert. Zum ersten müssen - das sagt keiner - die Patienten fast 11 Milliarden DM mittlerweile aus der eigenen Tasche zulegen; das wird immer vergessen. Das Motto lautet: Weil du krank bist, mußt du kräftig zahlen. Zum zweiten wurden die beruflichen Perspektiven der jungen Ärztegeneration drastisch beschnitten, statt mehr Ärztinnen und Ärzten Raum für eine patienten- und gesprächsorientierte Medizin zu geben. Dahinter steht die eiskalte Logik: Je weniger Ärztinnen und Ärzte, desto weniger kostet das Gesundheitswesen. Drittens. Die Bürokratie wuchert weiter. Verbrauchsrichtgrößen, Prüfverfahren und unzählige andere Reglementierungen bestimmen mehr und mehr die medizinische Arbeit. Viertens. Im niedergelassenen Bereich ist es im Gefolge der Ausgabendeckelung zu tendenziell sinkenden Einkommen und verstärkten innerärztlichen Verteilungskämpfen zum Schaden der Patienten gekommen. Am härtesten sind viele der häufig noch hochverschuldeten Ärzte in Ostdeutschland betroffen, denen nach Schließung ihrer Poliklinik oft gar nichts anderes übrigblieb, als sich niederzulassen und darauf zu vertrauen, daß die Versprechungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auch eingehalten werden. Jetzt aber stehen schon Existenzgefährdungen und erste Praxisschließungen auf der Tagesordnung. Fazit: Die Reform ist gründlich mißraten. Die Widersprüche spitzen sich weiter zu. Entgegen der vollmundigen Erklärung von Minister Seehofer, daß die Krankenversicherung nun wieder gesund sei, muß festgestellt werden, daß sich ihre Grundkrankheiten eher verschlimmert haben. Die eigentlichen Auseinandersetzungen, meine Damen und Herren, stehen uns allerdings in Zukunft noch bevor. Vor diesem Hintergrund ist wohl zu sehen, daß Regierung und Koalition bereits bis 1995 eine weitere Reformstufe angekündigt haben. Im Zwischenbericht der zu ihrer Vorbereitung vom Minister eingesetzten Sachverständigenkommission wird mit schockierender Deutlichkeit klar, wohin die Reise gehen soll. Unter dem Leitspruch einer Neubestimmung des Verhältnisses von Eigenverantwortung und Solidarität sind alle Überlegungen nur noch darauf gerichtet, daß die Versicherten die Krankheitskosten noch erheblich stärker als bisher tragen sollen. Die vorgesehene Trennung des Leistungskatalogs in Regel- und Wahlleistungen heißt im Klartext Aufgabe des Solidarprinzips, Abschied vom sozialen Charakter der Krankenversicherung und Rückkehr zur Zweiklassenmedizin. Die Weichen für eine grundsätzliche Richtungsänderung sind gestellt. Für mehr Geld soll es wieder bessere, für weniger Geld schlechtere Medizin geben. Was seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung im Gesundheitswesen Schritt für Schritt an Sozialstaat erkämpft wurde, soll nun wieder zurückgefahren werden. Noch nie ist ein solcher Einschnitt in die soziale Qualität der gesundheitlichen Versorgung gewagt worden. Heute ist allerdings der gesellschaftspolitische Zusammenhang eindeutig. Man fühlt sich wieder stark genug, den Ballast der Sozialstaatlichkeit abzuwerfen, Wirtschaft und Staat nach dem gleichen Mechanismus zu entlasten, wie er bereits bei der Pflegeversicherung praktiziert wurde. Das war im übrigen ein Pilotprojekt. Daß damit finanzielle Zumutungen für die Menschen verbunden sind, gegen die alles Bisherige nur als harmlos bezeichnet werden kann, daß die sich ohnehin vertiefende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wieder voll auf die Gesundheitsversorgung durchschlagen würde, daß das soziale Menschenrecht auf Chancengleichheit für ein Leben in Gesundheit wieder völlig ad acta gelegt würde - all das scheint, so unglaublich das klingt, die Protagonisten dieser Entwicklung nicht allzusehr zu stören. Das muß uns nicht wundern, denn sie sind in der Regel privat versichert. Es ist jedenfalls zutiefst erschreckend, wenn man sieht, mit welchem Aufwand und auf wieviel Ebenen dieser Rückfall gegenwärtig geistig vorbereitet wird. Deutlich ist allerdings auch, daß die Koalitionsparteien wohlweislich bemüht sind, im Wahlkampf über diese von Ihnen anvisierten Szenarien möglichst zu schweigen. Das sieht man hier. Dafür verspreche ich Ihnen allerdings: Um so mehr werden wir jede Gelegenheit nutzen, den Menschen zu sagen, was im Gesundheitswesen auf sie zukommt, wenn die heute regierenden Parteien auch künftig freie Hand für die weitere Verwirklichung ihrer Absichten bekommen. Ich möchte am Schluß etwas zitieren.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, jetzt reden Sie über acht Minuten.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich weiß, aber es ist meine letzte Rede. Ich gehe ja dann in den Landtag. Ich möchte gern etwas zitieren.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dann ist es etwas anderes.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich möchte etwas zitieren, damit man uns nicht immer nachsagt, daß allein wir das so sehen. Ich möchte Herrn Wolfgang Wöppel, Chefarzt der Hufeland-Klinik für ganzheitliche immunbiologische Therapie in Mergentheim, zitieren. Es geht um eine Krebspatientin, der zu einer Rehabilitationskur keine Verlängerung gestattet wurde. Ich zitiere: Ich kenne in unserem Kurwesen sinnvollere Sparmöglichkeiten, die nicht die schwächste Gruppe treffen. Es muß gespart werden - das sieht jeder ein; es darf jedoch nicht sein, daß die Sparpolitik Ihrer Regierung einer neuen Inhumanität Tür und Tor öffnet, deren Auswüchse ... im Dritten Reich soviel Leid über das ganze deutsche Volk gebracht haben. Wehren Sie den Anfängen! Es handelt sich um einen westdeutschen Mediziner! Der Staat darf nicht wieder Wegbereiter einer menschenverachtenden geistigen Grundhaltung sein, die den Wert des Geldes höher ansetzt als den Wert des Menschen!

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, entschuldigen Sie, das ist kein würdiger Abschluß Ihrer Abgeordnetentätigkeit. Ihre Zeit ist wirklich weit überschritten.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich schließe; nur noch ein Satz: Die geistige Wende, die die CDU/CSU 1982 so vollmundig angekündigt hat, sollte schließlich eine Wende zum Besseren sein. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort der Abgeordneten Christina Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will diese Gelegenheit am Ende der Legislaturperiode dazu nutzen, die Arbeit des Bundesministeriums für Frauen und Jugend etwas genauer zu betrachten. In Vorbereitung dieser Rede hatte ich eine Mitarbeiterin von mir gebeten, beim Bundesfrauenministerium nachzufragen, ob es so etwas wie einen Tätigkeitsbericht der Ministerin, so etwas wie eine Bilanz über vier Jahre ministerielle Tätigkeit gibt. Im Frauenministerium sagte man meiner Mitarbeiterin, so etwas gebe es nicht. Man fügte interessanterweise hinzu: In Wahlkampfzeiten machen wir so etwas nicht! ({0}) Leider ist Frau Merkel nicht mehr hier. - Ich kann das wirklich sehr gut verstehen. Wie sieht denn ihre Bilanz nach vierjähriger Tätigkeit als Frauenministerin aus, als einziger Ostfrau - das muß man ja noch dazu sagen - und damit dicht an der Seite des Kanzlers? Ich habe auf zwei Dokumente zurückgegriffen, die zum einen die Aufgabenbereiche und zum anderen die Vorgaben für die Arbeit des Bundesministeriums für Frauen und Jugend beschreiben. Das ist zum einen die Broschüre mit dem schönen Titel „Politik für Frauen", erschienen in der Reihe der Informationsmaterialien der Bundesregierung, und zum anderen der Einigungsvertrag. Nehmen wir den zentralen Punkt einer jeden Frauenpolitik, wenn sie denn als solche ernstgenommen werden will: die Berufstätigkeit von Frauen - Basis für ökonomische Unabhängigkeit, für eine eigenständige Lebensplanung, Voraussetzung nicht nur für die Gleichstellung von Frau und Mann in der Gesellschaft, sondern für Emanzipation schlechthin. Diese Broschüre vermerkt unter dem Stichwort Erwerbstätigkeit lediglich solche Punkte wie berufliche Bildung, ABM, Mütterschutz; auch Existenzgründungsprogramme sind dabei. Das eigentliche Problem, die Diskriminierungen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Ausgrenzungen, die im Osten in sehr drastischer Weise zu erleben sind, vor allem dann, wenn Frauen Kinder haben oder wenn sie in Bereichen bleiben wollen bzw. in solche hineinwollen, die Männerdomänen sind bzw. im Osten wieder zu welchen gemacht worden sind, wird mit keinem Wort erwähnt. Im Einigungsvertrag heißt es in Art. 31 Abs. 1: Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiterzuentwikkeln. Wie sieht die Bilanz nach vier Jahren konservativer Politik aus? In Ostdeutschland gibt es eine De-factoArbeitslosigkeit von 35 bis 40 %, wenn man all die Parkpositionen und Warteschleifen mitrechnet. Der Anteil von Frauen an den Erwerbslosen lag im Osten im Januar 1991 bei ca. 55 % schon schlimm genug -; aber heute liegt der Anteil von Frauen an der Erwerbslosigkeit im Osten bereits bei über 66 %. Bei den Langzeitarbeitslosen beträgt er mittlerweile 74 %. Die Arbeitslosenquote von Frauen ist also im Osten doppelt so hoch wie die von Männern - und das bei etwa gleichem Qualifikationsniveau, was ja im Osten etwas anders als im Westen ist. Statt eigenständiger Existenzsicherung also Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe; statt Selbstbestimmung Erosion sozialer Identität von Frauen, flankiert von frauenfeindlicher Heim-und-Herd-Ideologie; statt Unabhängigkeit wieder der Verweis auf die Partnerschaft als Versorgungsinstitution. Frau Merkel hat Anfang dieses Monats das Inkrafttreten ihres sogenannten Gleichberechtigungsgesetzes mit großem Getöse verkündet. Die Frage ist doch: Was können insbesondere ostdeutsche Frauen mit einem derartigen Gesetz anfangen? - Nichts, sie können sich das Ding regelrecht an den Hut stecken, zumal das Gleichberechtigungsgesetz im wesentlichen nur für die Mitarbeiterinnen von Bundesbehörden gilt - nicht aber für die, die es am nötigsten bräuchten: die Frauen in der Privatwirtschaft. Zudem ist dieses Gesetz eine Sammlung von formalen Absichtserklärungen ohne klare Verbindlichkeiten, ohne Sanktionsmöglichkeiten. Kurzum: Es ist eine Luftnummer; es macht in der Realität keinen Unterschied, ob es dieses Gesetz gibt oder nicht. Für die Frauen im Osten wäre anderes erforderlich gewesen: verbindliche, auf die jeweilige Situation in den Unternehmen abgestimmte Zielquoten, die VerChristina Schenk pflichtung zur Entwicklung von Gleichstellungsplänen, die Bindung der Vergabe öffentlicher Mittel im Rahmen der Wirtschaftsförderung an das Maß der Gleichstellungsförderung in den jeweiligen Firmen - um hier nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Insbesondere wäre die Bevorzugung von Frauen bei den mit öffentlichen Mitteln geschaffenen Arbeitsplätzen - entsprechend ihrem Anteil an den Erwerbslosen - ein wirksamer Beitrag gegen die fortschreitende Ausgrenzung gewesen. In einem Gespräch mit einem Boulevardblatt hat Frau Merkel am 31. Mai dieses Jahres die Stirn besessen, zu behaupten, sie selbst habe durch die Änderung des AFG dafür gesorgt, daß Frauen nicht mehr wie am Anfang der Legislaturperiode zu 30 % bei den ABM berücksichtigt würden, sondern nunmehr einen Anteil von 60 % daran hätten. Die ganze Wahrheit erschließt sich erst, wenn man dann auch die 249-h-Maßnahmen dazunimmt - dort haben Frauen nur einen Anteil von ca. 35 % - und außerdem berücksichtigt, daß die Zahl der Vermittlungén von Männern in reguläre Arbeitsrechtsverhältnisse weit über der von Frauen liegt. Die Vermittlungsquote beträgt bei Frauen nur etwa 40 %, und das, obwohl zwei Drittel der Erwerbslosen Frauen sind. Von einer Frauenministerin, die diese Bezeichnung auch verdient, erwarte ich ein besonderes Engagement gerade in Sachen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, denn das sind die Bereiche, in denen die wichtigsten frauenpolitischen Entscheidungen fallen. Es muß endlich dazu kommen, daß die Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Frauen zum Schwerpunkt arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen gemacht und zugleich in den Zielgrößenkatalog der Wirtschaftspolitik integriert wird. Aber auch in dieser Hinsicht war von der Regierung nichts zu vernehmen. Die Verbindung von Frauenpolitik und Wirtschaftspolitik - das möchte ich hier allerdings auch an die Adresse der SPD sagen - wird auch künftig ein wesentliches Kriterium dafür sein, welchen Stellenwert die Interessen von Frauen in der Bundespolitik haben. In der Frauenpolitik ist ein Wechsel ebenso dringend erforderlich wie auf allen anderen Feldern der Politik. Das ist gestern und heute hier ausführlich debattiert worden. Auch auf dem Gebiet der Frauenpolitik geht es am 16. Oktober um eine Richtungsentscheidung. Das ist einer der wenigen Punkte, bei denen ich den Konservativen recht geben würde. Es geht tatsächlich um eine Richtungsentscheidung. Es geht darum, ob es mit dieser reaktionären Frauenpolitik weitergeht oder ob die Chance für eine Frauenpolitik eröffnet wird, die diesen Namen auch tatsächlich verdient. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Nähe der Wahlen, persönliche Einsicht oder Mitgefühl machen es möglich: Der Bundeskanzler macht sich zumindest grob mit Problemen des Arbeitsmarktes vertraut. Er hat die seit Mitte der 70er Jahre in der BRD diskutierte Sockelarbeitslosigkeit entdeckt. Dies ist im übrigen ein Begriff aus dem Wörterbuch jener Arbeitsmarkttechnokraten im wissenschaftlichen Bereich, die ihr Entstehen eigentlich ebenfalls dem dauerhaften Verlust der Vollbeschäftigung Mitte der 70er Jahre verdanken. Aber der Bundeskanzler hat recht: Diese Sockelarbeitslosigkeit - bleiben wir bei diesem Begriff - wird von Krise zu Krise höher. Sie betrug etwa 1 Million Arbeitskräfte nach der Krise 1975, sie betrug etwa 2 Millionen nach der Krise 1981/82, und sie wird voraussichtlich 3 bis 4 Millionen Arbeitskräfte nach der jetzigen Krise betragen. Und was wird nach der nächsten Krise und der übernächsten? Wenn aber jemand annimmt, der Bundeskanzler würde diesen dramatischen Befund mit seinen verheerenden sozialen und politischen Folgen mit umfassenden Konzepten und energischen Maßnahmen beantworten, dann täuscht er sich. Fehlanzeige! Ich denke, wenn es nach dem 16. Oktober bei diesem Bundeskanzler bliebe, würde dieser entscheidende Aspekt der Arbeitsmarktpolitik schnell wieder aus der politischen Debatte verschwinden. Wie konnte es aber nach über 15 Jahren Voll- und zum Teil Überbeschäftigung - das war die Zeit von 1955 bis 1973 - in der Bundesrepublik überhaupt zu dieser Entwicklung kommen? Die Erklärung mit Lohnkosten greift zu kurz. Es hat auch in Zeiten der Vollbeschäftigung hohe und zum Teil - im internationalen Vergleich - Spitzenlöhne gegeben. Die Tarifverträge sind heute zum Teil löchriger als in den 60er Jahren. Bei der Lohnstückkostenentwicklung, also bei der Steigerung der Lohnstückkosten - das ist ja nun sattsam bekannt - liegt die BRD im schlechtesten Fall im Mittelfeld, häufig sogar im unteren Bereich. Der entscheidende Grund liegt ganz woanders. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre hat sich die Struktur der Volkswirtschaft in Westdeutschland grundlegend geändert. Im größten Investitionsboom der Nachkriegszeit nach der ersten größeren Krise in Westdeutschland wurden riesige moderne Kapazitäten geschaffen, die größtenteils, etwa in der Stahlindustrie, schnell zu Überkapazitäten wurden. Die Verkäufermärkte wurden zu Käufermärkten. Die Wirtschaft antwortete auf die von ihr selbst geschaffenen Bedingungen konsequent mit verschärfter technischer und organisatorischer Rationalisierung, mit Direktinvestitionen im Ausland und mit Betriebszusammenschlüssen und versuchte dadurch eben die von ihr selbst geschaffenen Überkapazitäten und die dadurch bedingten Kosten der Unterauslastung dieser modernen Kapazitäten aufzufangen. Alles das kostete weitere Arbeitsplätze; die Konsumnachfrage als größter Block der effektiven Nachfrage stagnierte folglich. Das wiederum kostete weitere Arbeitsplätze und schuf weitere Stagnationstendenzen, auf die wieder mit Rationalisierung, Abbau von Arbeitsplätzen usw. geantwortet wurde. Es begann der Abbau von Vollarbeitsstellen, von betrieblichen Sozialleistungen. Die Lohndrift ging zurück, also die Spanne zwischen Effektivlöhnen und Tariflöhnen. Später sanken - um das als Beispiel zu erwähnen - die Abfindungen auf Grund von Sozialplänen usw. bei Betriebsstillegungen, Massenentlassungen usw. usf. Zug um Zug damit verschärften sich die betrieblichen Rationalisierungsbemühungen. Neue Konzepte wie systemische Rationalisierung, Gemeinkostenrationalisierung usw. wurden entwickelt und praktiziert. Nebenher schnellte auch die Zahl der Konkurse dauerhaft in die Höhe. Allein dadurch entsteht ein Verlust von jährlich 200 000 bis 400 000 Arbeitsplätzen. Sie waren und sind aber nicht Folge zu hoher Lohn- und Lohnnebenkosten, sondern sie sind Folge fehlender Aufträge bei hochgradig überbesetzten Märkten und Überkapazitäten. Das ist auch heute noch die Situation, ja, sie ist sogar noch schwieriger geworden. Allein seit 1989 sind weit über 1 000 Milliarden DM in neue Maschinen, in Gegenstände der Betriebs- und Geschäftsausstattung usw. investiert worden. In hohem Maße waren diese Investitionen Rationalisierungsinvestitionen. Der Wiedervereinigungsboom der Jahre 1990/91 hat zum Aufbau zusätzlicher moderner Kapazitäten und Überkapazitäten geführt. Der Osten ist gleichzeitig über die Treuhandanstalt - das wissen wir nun - systematisch deindustrialisiert worden. Es muß zumindest der Verdacht naheliegen, daß das etwas mit den riesigen Überkapazitäten, die insbesondere nach acht Jahren Aufschwung und Wiedervereinigungsboom im Westen existierten, zu tun hatte. Abschließend, Herr Präsident, noch ein Wort zur Technik der Zukunft. Es ist zumindest problematisch, von dieser Seite durchgreifende Verbesserungen bei der sogenannten Sockelarbeitslosigkeit zu erwarten. Viele der neuen Technologien, z. B. im Bereich der Informations- und Kommunikationstechniken, stellen überwiegend - das muß man einfach sehen - Verfahrensinnovationen dar, nur zum kleineren Teil dagegen Produktinnovationen. Nicht umsonst suchen gegenwärtig Hersteller, aber auch z. B. die EU nach neuen Märkten, beispielsweise für ISDN-Anwendungen oder die sogenannten - das ist ein bißchen ein Phantasiewort - Cyberspace-Anwendungen, was immer das ist. Gemeinsamer Nenner der weitaus meisten dieser und anderer neuer Technologien ist die Verringerung der Zeit zur Erbringung einer bestimmten Leistung oder die Erhöhung der Leistung bei konstantem oder sinkendem Zeitbedarf. Mit neuen Technologien wird in diesem Zusammenhang der faktische Abbau gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, ein säkularer Prozeß, gnadenlos weitergetrieben. Die wichtigste, die entscheidende Antwort auf diese strukturellen Bedingungen in der Volkswirtschaft und auf die neuen Technologien ist daher vor allem eine systematische Politik der weiteren Arbeitszeitverkürzung: die 35-Stunden-Woche, die 30-StundenWoche und auf lange, sehr lange Sicht sogar noch erheblich darunter - eine Herausforderung erster Ordnung an die Sozialparteien, aber auch an den Staat.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Briefs!

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident, ich fürchte nur, dieser Bundeskanzler und diese Bundesregierung sind damit heillos überfordert. Der Bundeskanzler befindet sich trotz seiner neuerlichen Wahrnehmung der Sockelarbeitslosigkeit auf dem völlig falschen Weg, wenn er fordert, mehr und länger zu arbeiten, statt die Arbeitszeit je Beschäftigten zu verkürzen. Herr Präsident, ich danke für die Geduld.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Das Haushaltsgesetz 1995 und der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998, Drucksachen 12/8000 und 12/8001, sollen an den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vor Aufruf des nächsten Tagesordnungspunktes hat der Kollege Dr. Struck um das Wort zur Geschäftsordnung gebeten.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung steht jetzt die Diskussion über den Abschlußbericht des Treuhand-Untersuchungsausschusses. Der Treuhand-Untersuchungsausschuß hat sehr lange sehr intensiv in herausragender Arbeit das Problem der Privatisierung der Betriebe in der ehemaligen DDR erörtert und untersucht. Er hat auch untersucht, inwieweit dem zuständigen Finanzministerium Mängel bei der Rechts- und Fachaufsicht anzulasten sind. Der Bundestag beabsichtigt jetzt, zu dieser Zeit dieses wichtige Thema, dieses Thema von höchstem öffentlichen Interesse - nicht nur in den neuen Bundesländern - sondern auch in den alten Bundesländern, in der sehr kurzen Beratungszeit von zwei Stunden zu diskutieren. Wir halten das für die Arbeit dieses Ausschusses und für die Probleme, die dieser Arbeit zugrunde lagen, für völlig unangemessen. Ich beantrage deshalb, Herr Präsident, diesen Tagesordnungspunkt heute abzusetzen und auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung dieses Bundestages zu nehmen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Struck, ich vermute, daß es so ist, wie Sie sagen. Ich stelle nur fest: Ich habe einen Tagesordnungspunkt aufzurufen, der interfraktionell vereinbart ist, sowohl hinsichtlich der Dauer als auch hinsichtlich des Zeitpunktes der Diskussion. Nächster Redner ist der Herr Kollege Hörster.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß dieser Tagesordnungspunkt interfraktionell vereinbart worden ist. Daher halte ich es für höchst ungewöhnlich und für in jeder Hinsicht unfair, daß der Kollege Struck die Situation der augenblicklichen Plenarbesetzung dazu nutzen will, diesen Tagesordnungspunkt abgesetzt zu bekommen.. Ich bin schon der Auffassung, Herr Kollege Struck - bei allen Turbulenzen, die die letzten Sitzungstage mit sich gebracht haben -, daß nun die Verpflichtung, den Bericht des Treuhand-Untersuchungsausschusses zu diskutieren und hier zur Kenntnis zu nehmen, gegenüber dem Bundestag erfüllt werden muß. ({0}) Ich halte es nach alldem, was wir im Vorfeld dieses Treuhand-Untersuchungsausschusses diskutiert haben, für völlig unangemessen, daß hier in letzter Minute mit solchen Tricks gearbeitet wird. ({1}) Es hat den ganzen Tag über ausreichend Gelegenheit gegeben, zwischen den Fraktionen über die Verhältnisse zu sprechen. Auch hätte heute mittag im Ältestenrat über diese Angelegenheit gesprochen werden können. ({2}) Dies ist nicht erfolgt. Ich halte den Antrag des Kollegen Struck im Verfahren für nicht anständig und bewerte ihn als einen Bruch der Sitten, wie sie in diesem Parlament, über alle Schwierigkeiten hinweg, beachtet werden sollten. Ich bin der Auffassung, daß der Antrag des Kollegen Struck abgelehnt werden muß, und bin der Meinung, daß die Debatte heute stattfinden kann. Alle sind auf diese Debatte vorbereitet. Es gibt überhaupt keinen Grund, nun von der vereinbarten Tagesordnung abzuweichen und eine andere Debattenlinie zu verfolgen. Ich fordere Sie auf, Herr Kollege Struck, Ihren Antrag zurückzunehmen. Wenn das Schule macht, was Sie jetzt betreiben, dann wird dies ({3}) in bezug auf die Verhältnisse untereinander, auf die Verhältnisse im Ältestenrat und auf die Verhältnisse der Parlamentarischen Geschäftsführer untereinander - zu einer nicht unerheblichen Vergiftung des Klimas in diesem Hause beitragen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Menzel, bitte.

Dr. Bruno Menzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001474, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Struck, auch ich finde es bemerkenswert, daß sich in dieser kurzen Zeit, die seit der letzten Beratung des Ältestenrates verstrichen ist, plötzlich neue Erkenntnisse ergeben haben sollen, die diesen Antrag, den Sie eben gestellt haben, rechtfertigen. Damit stellen Sie uns vor eine Situation, deren Begründung Sie uns schuldig geblieben sind. Einfach zu sagen, Sie hätten die Absicht, dieses Thema nicht zu behandeln, weil es heute abend nicht behandelt werden kann, reicht nicht. ({0}) Diese Situation war bekannt, als das Thema erstmalig abgesprochen wurde. Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich hier die Unterstellung ausspreche, daß irgendwelche taktischen Überlegungen ausschlaggebend dafür sind, daß Parlamentsberatungen, die festgelegt worden sind und auf die wir uns eingestellt haben, plötzlich abgesetzt werden sollen. Ich denke, diese Methode wird diesem Parlament nicht gerecht. Aus diesem Grunde bin ich der Meinung, Herr Präsident, daß wir entsprechend den Festlegungen, wie sie im Ältestenrat getroffen worden sind, verfahren sollten. Wir werden der Situation durchaus gerecht, wenn wir in später Stunde über den Bericht diskutieren. Dieses Parlament hat schon über andere sehr bedeutende Themen zu später Stunde beraten. Ich denke, es wird auch den Kollegen nicht gerecht, wenn man ihnen jetzt plötzlich sagt: Ihr könnt jetzt, um halb neun abends, nicht mehr diskutieren! - Wir haben schon andere wichtige Pläne nachts um halb eins beraten. Deshalb möchte ich Sie bitten, Herr Kollege Struck - das wäre nämlich das einfachste -, Ihren Antrag zurückzuziehen. Sollten Sie das nicht tun, bleibt mir nur, für unsere Fraktion zu sagen: Wir können uns diesem Antrag nicht anschließen. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Liegen weitere Wortmeldungen zur Geschäftsordnung vor? - Das ist nicht der Fall. Herr Kollege Menzel, wenn eine Fraktion die Absetzung eines Tagesordnungspunktes beantragt, muß ich - nach kurzer Diskussion - darüber abstimmen lassen. ({0}) - Ihr Beitrag eben war zur Abstimmung. Es gibt bei Geschäftsordnungsdebatten nicht zwei Diskussionsrunden. ({1}) Ich kann Ihnen nicht das Wort erteilen, es sei denn, Sie wollen den Antrag zurückziehen.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich verweise auf § 45 der Geschäftsordnung: Wird vor Beginn einer Abstimmung die Beschlußfähigkeit von einer Fraktion ... bezweifelt . . ., so ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlußfähigkeit durch Zählung der Stimmen ... festzustellen. Ich bitte, die Beschlußfähigkeit des Deutschen Bundestags festzustellen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das geschieht im Regelfall durch Hammelsprung. ({0}) Herr Kollege Hörster.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich beantrage, die Sitzung für eine Viertelstunde zu unterbrechen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Dem Antrag ist stattgegeben. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Sitzung fort. Die Fraktion der SPD bezweifelt die Beschlußfähigkeit des Hauses. Es ist daher die Beschlußfähigkeit in Verbindung mit der Abstimmung über den Absetzungsantrag der SPD festzustellen. ({0}) Hat auch die SPD ihre Schriftführer, die die Türen für den Hammelsprung besetzen müssen, benannt? - Das ist der Fall. Dann bitte ich Sie, den Saal zu verlassen. Wer dem Absetzungsantrag der Fraktion der SPD zuzustimmen wünscht, möge durch die Ja-Tür gehen, wer den Antrag abzulehnen gedenkt, durch die NeinTür. Selbstverständlich sind auch Enthaltungen möglich. Wenn alle Kolleginnen und Kollegen den Saal verlassen haben, bitte ich, die Türen zu schließen. Ich eröffne die Abstimmung. Kann ich die Abstimmung schließen? - Die Abstimmung ist geschlossen. Ich bitte die Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen. Meine Damen und Herren, ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Für den Antrag der SPD haben 19 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, ({1}) gegen den Antrag 124. ({2}) Stimmenthaltungen hat es keine gegeben! Die Beschlußfähigkeit ist damit nicht erreicht. Zur Beschlußfähigkeit sind 332 Stimmen erforderlich. Das Haus ist somit nicht beschlußfähig. Infolgedessen hebe ich die Sitzung gemäß § 20 Abs. 5 GOBT auf. Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages wird zu einem späteren Zeitpunkt einberufen. Der Termin wird dann auch bekanntgegeben. Die Sitzung ist geschlossen.