Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung nach Art. 56 des Grundgesetzes.
Namens des Deutschen Bundestages und des Bundesrates begrüße ich alle Ehrengäste aus dem In- und Ausland. Ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen.
Besonders begrüße ich den scheidenden Bundespräsidenten, Dr. Richard von Weizsäcker, und Frau von Weizsäcker
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sowie den künftig en Bundespräsidenten, Professor Dr. Roman Herzog, und Frau Herzog.
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Wir haben uns heute zur Vereidigung und Amtseinführung des neugewählten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland in Berlin versammelt. Es ist die erste gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat hier im Reichstagsgebäude. Wir wollen heute auch Richard von Weizsäcker für seine Arbeit danken, der nach zehnjähriger Amtszeit aus dem Präsidentenamt scheidet. Welcher Ort wäre geeigneter als Berlin, wo er als Regierender Bürgermeister gearbeitet hat, für die alte und neue Hauptstadt eingetreten ist, die der neue Präsident als seinen ersten Amtssitz gewählt hat.
Gestern haben wir die Vorschläge und Ergebnisse der von Bundestag und Bundesrat eingesetzten Verfassungskommission lebhaft debattiert und entschieden. Es fügt sich gut, wenn heute am selben Ort der Bundespräsident den Eid auf die Verfassung leistet. Gerade an diesem höchsten Staatsamt wird deutlich, welch hohe verfassungsrechtliche und politische Klugheit der Architektur unseres Staatsgefüges zugrunde liegt.
Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben diesem hohen Amt ein unverwechselbares Profil gegeben. Unser Bundespräsident hat ein Amt ganz eigener Art inne. Er steht über Parlament, Regierenden und Parteien, nimmt nicht teil am politischen Richtungsstreit und ist doch in vielfältiger Weise mit uns verbunden.
Obwohl er in diese Prozesse nicht eingebunden ist, ist seine Rolle höchst bedeutend für uns. Es kommt
diesem Amt bewußt nicht die politische Macht der Regierenden, wohl aber hohe politische Autorität zu.
Die Aufgabe des Bundespräsidenten ist es, Menschen zusammenzuführen, zu vermitteln und Brücken zu bauen. Seine Aufgabe ist es, stets das Ganze im Blick zu haben, nicht die Regierung, nicht die Mehrheit oder die Minderheit, nicht die Parteien, sondern das Miteinander aller. Es ist gerade seines Amtes, sich zu Wort zu melden, sich einzumischen und, falls notwendig, nachhaltig anzumahnen, worauf wir uns in unserer Verfassung verständigt haben. Das betrifft die Rechte, aber auch die Pflichten jedes Einzelnen, das Miteinander, unseren Umgang mit deutschen und ausländischen Bürgern und unseren Einsatz als Bürger für unser Gemeinwesen.
Unser Bundespräsident ist nicht Hüter, wohl aber wachsamer Anwalt unserer Verfassung. Als erster Bürger führt er uns immer wieder unsere wichtigsten gemeinsamen Wertgrundlagen vor Augen: die Würde des Menschen - ob Deutscher oder Ausländer -, die Achtung voreinander, die Sorge füreinander, das hohe Gut der Freiheit und den verantwortlichen Umgang mit ihr, soziale Gerechtigkeit, das unbedingte Nein zu jeder Form von Radikalität und Gewalt.
Wir brauchen von ihm immer wieder das eindringlich mahnende und fordernde, aber auch Orientierung gebende, uns ermutigende Wort, auch das unpopuläre, wenn es notwendig ist.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einer Umbruchsituation mit schwierigen Herausforderungen, unbequemen Lernprozessen, aber zugleich auch mit großen Chancen. Wir haben Grund zu großer Dankbarkeit, aber auch zur Sorge. Damit uns die innere Einheit und unsere eigene Zukunft gelingt, sind große Anstrengungen notwendig. Dabei möge uns unser neuer Bundespräsident helfen.
In dieser Zeit muß jeder in Deutschland sein Verständnis dafür schärfen, daß unsere Gemeinschaft mehr ist als die Summe der Einzelinteressen. In dieser Gemeinschaft wollen wir zu Hause sein, uns wohl fühlen, füreinander einstehen. Es kann auf Dauer nur dann jedem einzelnen gutgehen, wenn es der Gemeinschaft als ganzer gutgeht. Dieses Zuhause
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
muß Sicherheit und verläßlichen Schutz gewähren, nach innen wie nach außen.
Aus diesem Grunde drängen wir nach Europa und weltweiter Verbundenheit mit allen. Aus diesem Grunde aber auch setzen wir uns auseinander mit den Bedrohungen der Umwelt. Und aus dem gleichen Grunde sind wir aufgebracht über zunehmende Kriminalität, über gedankenloses oder bedenkenloses Ausnutzen, über Radikalität und Gewalt, die immer Attentate sind auf die Gemeinschaft und das Mitgefühl, auf das Einfühlungsvermögen und das Interesse am Mitmenschen.
Aber täuschen wir uns nicht: Der Widerwille gegen Unrecht und Gewalt wächst, weil die Bürger und Bürgerinnen unseres Landes überzeugt sind, daß Mitmenschlichkeit nichts von ihrer Bedeutung verloren hat und eine unverzichtbare Leistung ist. Das spüren die meisten Menschen. Zorn richtet sich gegen jene, die glauben, es handle sich bloß darum, so viel wie möglich aus der Gemeinschaft für sich herauszuholen.
Besonders bedroht fühlen wir unser Zuhause durch Arbeitslosigkeit. Ohne Arbeit gerät das Selbstwertgefühl in Not, fühlt man sich bei sich selbst nicht mehr wohl, verliert das Zuhause an Stabilität, auch weil Geborgenheit fehlt.
Sorgen wir dafür, daß alle Menschen, jung und alt, sich selbst vertrauen können! Selbstvertrauen kann nur der haben, der seinen Wert für die Gemeinschaft erfährt. Auch unsere innere Einheit wird nur wachsen und bestehen, wenn wir in dieser Erkenntnis einig sind, uns in diesem Ziel treffen.
Wir befinden uns noch immer in einer Umbruchsituation, in der viele nach unserer inneren Verfassung fragen und auch danach, wie wir unser Zusammenleben, wie wir unser Zuhause gestalten. damit jeder in ihm seinen Platz finden, sich angenommen, respektiert und wohl fühlen kann.
Ein zukunftsoffenes Zuhause ist nicht denkbar ohne das gestaltende Mitwirken unserer Jugend. Wir müssen Chancen für die Jugend und für künftige Generationen bieten. Das braucht Pflege, Geduld und Verständnis. Nur dann fühlt sich die Jugend in Deutschland zu Hause. Versäumen wir das, könnten Teile unserer Jugend in orientierungslose, auf gabenverweigernde Kraftausbrüche abstürzen, die tiefe Risse in unserer Gesellschaft verursachen.
Wir Älteren sind verpflichtet, unsere Jugend wissen zu lassen, daß wir uns gegenseitig brauchen. Wir müssen zeigen, daß nur generationsübergreifende Einstellungen Grundstein für unsere gemeinsame Zukunft sind. Sie werden zuerst in dem kleinen Bereich des Zuhause, in der Familie, erfahren.
Die Zeit des Umbruchs, die wir erleben, hat manchen aufgeschreckt, uns alle aufgeweckt. Viele von uns haben gemeint, es gehe ohne Veränderungen. Dankbar erinnern wir uns der mutigen Bürgerinnen und Bürger der früheren DDR, die 1989 die friedliche Revolution initiierten.
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Sie haben maßgebliche Veränderungen in Gang gesetzt, die uns alle betreffen.
Inzwischen ist das Bewußtsein für notwendige Veränderungen in ganz Deutschland gewachsen. Wir müssen die Frage beantworten, wie unser künftiges Zuhause, wie unser Land aussehen soll. Das ist unsere gemeinsame und erste Sorge.
Sich sorgen im guten Sinne des Wortes steht immer am Anfang großer, kreativer Veränderungen, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Schwachstellen. Wir brauchen Menschen, die uns Wege weisen. Wege aber beginnen nicht jetzt und hier. Sie kommen aus der Vergangenheit, auf die wir immer wieder blicken müssen, wenn wir frühere Fehl- und Irrgänge vermeiden möchten.
Unsere Verfassung ist eine hohe Verpflichtung zu jener inneren Verfaßtheit, die wir brauchen, um an der Gestaltung für eine friedvolle Zukunft für uns und unsere Nachbarn mitzuarbeiten. Sie ist Voraussetzung und Zielsetzung zugleich. Herr Präsident, wir sind davon überzeugt, daß Sie uns dabei begleiten und unterstützen werden, unsere Verfassung zu leben.
Sie, verehrter Herr Bundespräsident von Weizsäcker, scheiden nach zehn Jahren aus Ihrem Amt. Sie scheiden aus dem Amt voller Kraft, Lebendigkeit, intellektueller und politischer Wachheit. Sie haben Ihr Amt im Geist unserer Verfassung ausgeübt. Sie waren der erste Bürger unseres Staates im besten Sinne des Wortes: aufnahmebereit, einfühlsam anteilnehmend an Problemen und Schicksalen der Menschen, sich sorgend um Gegenwart und Zukunft der Deutschen, um ihr inneres Zusammenwachsen, um ihre europäische und globale Verantwortung.
Sie waren ein Präsident, der stets fragte: Was ist weiterzudenken, weiterzuentwickeln, und was ist zu korrigieren? Ihnen war wichtig, stets ein Mehr zu erstreben an Erkenntnis und im Handeln, an nüchterner Einsicht in das Widerständige und Widersprüchliche und dennoch weiterzuarbeiten an der Kultur des Menschlichen. Sie wollten uns wissen lassen, daß ein Mensch nie fertig ist, sondern immerwährend weiterwachsen kann. Sie an der Spitze unseres Staates zu wissen hat uns allen gutgetan.
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Sie haben unseren Blick für Brennpunkte gesellschaftlicher Nöte und Herausforderungen geschärft. Sie wollten den aktiven Bürger und die aktive Bürgerin, die von Bürgern getragene Gesellschaft.
Eines Ihrer großen Anliegen war, uns näherzubringen, daß unsere Verfassung nicht etwa nur ein schönes, aber alltagsfernes hehres Buch ist, sondern daß sie von uns täglich neu gelebt werden muß. In ihr ist die Richtschnur allen Handelns, daß es nicht genügt, Freiheit zu haben, sondern, daß der wichtigste und schwerste Teil der Freiheit darin besteht, verantwortungsvoll mit ihr umzugehen.
Mit Leidenschaft haben Sie in der Öffentlichkeit darüber nachgedacht, wie der enge nationalstaatliche, die übrige Welt verkleinernde Gedanke überwunden werden kann zugunsten einer patriotischen Gesinnung und Heimatliebe, die in eine europa- und weltoffene Haltung eingebettet ist.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Seit 1989 hat Sie kein Thema stärker bewegt als das Zusammenfinden aller Deutschen in einem gemeinsamen Staat. Sie waren erfüllt von dem Bemühen, in uns die Überzeugung zu stärken, daß wir zur Verwirklichung auch der inneren Einheit fähig sind, wenn wir alle an Bereitschaft gewinnen, uns zu ändern und uns einander zuzuwenden.
Sie haben in Ihrer Amtszeit das Gößte erlebt, was ein deutscher Präsident seit 1945 erleben konnte: den Zusammenbruch des Kommunismus, das Ende der Teilung Deutschlands, das Ende der Teilung Europas. Feste Verankerung im Westen, Entspannungspolitik nach Osten und vor allem Mut und Entschlossenheit der Bürgerrechtsbewegung und des Volkes der früheren DDR haben die deutsche Einigung ermöglicht.
Höchstleistungen entstehen nicht in einsamen Höhen. Ohne nahe menschliche Begleitung sind sie unmöglich, wären sie auch für Richard von Weizsäcker nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe und Mitarbeit von Frau von Weizsäcker.
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Liebe Frau von Weizsäcker, Sie haben viele ehrenamtliche Aufgaben übernommen, sich im Müttergenesungswerk und in der deutschen Sektion von UNICEF engagiert und sich darüber hinaus eines dringenden Problems unserer Zeit angenommen, indem Sie die Initiative der Eltern drogengefährdeter Kinder unterstützten. Sie haben großen Anteil am Wirken Ihres Mannes. Ich möchte in diesem Sinn von einem gemeinschaftlichen Wirken sprechen. Für Ihren Einsatz danken wir Ihnen sehr.
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Ihnen und Ihrem Mann wünschen wir für die Zukunft Gesundheit und weiterhin Tatkraft. Sie beide können sicher sein: Die Zuwendung der Menschen wird Ihnen erhalten bleiben.
In Respekt vor Ihrer Leistung erheben sich die Mitglieder von Bundestag und Bundesrat, um im Namen des deutschen Volkes vor der Öffentlichkeit zu bekunden: Richard von Weizsäcker hat sich um das Vaterland verdient gemacht.
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Herr Präsident, Sie haben das Wort.
Dr. Richard von Weizsäcker: Frau Präsidentin! Für Ihre guten Worte danke ich Ihnen von Herzen, und zwar im Namen meiner ganzen Familie.
Herr Bundespräsident, mein erster Gedanke gilt heute Ihnen. Sie übernehmen eine Aufgabe, die schwer und erfüllend zugleich ist. Mit bewährter Erfahrung, mit nüchternem Sinn und Witz, mit Herz und Mut werden Sie ans Werk gehen. Das wird uns allen zugute kommen. Mögen Sie ihres Amtes mit Kraft und Weisheit walten, und mögen Glück und Segen Sie geleiten!
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Meine herzlichen Wünsche gelten nicht weniger Ihrer Frau. Ich habe ja miterlebt, was es bedeutet, daß die Frau des Präsidenten - später vielleicht auch einmal der Mann einer Bundespräsidentin ({8})
von der Verfassung sozusagen gar nicht vorgesehen ist, daß sie dennoch dieselbe innere Verpflichtung für das Amt empfindet und sie bereitwillig trägt - weniger spektakulär, dafür aber zuweilen entsagungsreicher und ganz gewiß genauso verantwortungsvoll, hilfsbereit gegenüber allen, die ihre Hoffnungen zuletzt auf sie setzen, weil ihnen sonst niemand im Lande zu helfen wußte. So wie ich meiner Frau dafür einen tiefen Dank schulde, den ich gar nicht genügend abtragen kann, möchte ich Sie, verehrte Frau Herzog, desselben Vertrauens versichern, das wir Ihrem Manne entgegenbringen.
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Beim Wechsel der Stafette schaut man nicht zurück, sondern voraus. Doch zuvor möchte ich meinen Dank für eine unvergeßbliche Fülle und Dichte menschlicher Zuwendung abstatten. „Gedenke der Quelle, wenn Du trinkst", so sagte man es im alten China. Die Quelle meines Amtes waren die Menschen, denen ich begegnet bin: Wähler und Politiker, Inländer und Ausländer, Experten und Laien, Arbeitslose und Beschäftigte, Obdachlose und Behauste, Männer, Frauen und auch Kinder aus nah und fern. Sie haben gemahnt und ermutigt, Vertrauen geschenkt, Kritik geübt, Sorge und Freude mit mir geteilt. Es geht ganz direkt bei uns zu. Da lernt man, worauf es wirklich ankommt. Amtliche Einsamkeit kann gar nicht aufkommen, und das ist ein großes Glück.
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Bald sind fünf Jahre vergangen, seit die Mauer fiel. Es war ein epochales Ereignis, weit über Deutschland hinaus. Für mich war es auch das größte persönliche Erlebnis. Wer immer wieder in Berlin lebte, der hatte zwar stets empfunden, daß die Mauer keinen Bestand in der Geschichte haben könne. Nach dem Plan ihrer Erbauer sollte sie uns trennen. Doch sie war so sehr gegen Wesen und Willen der Menschen, daß sie selbst unaufhörlich zu ihrer Überwindung mahnte, zur Einheit. Nur eines hatte keiner von uns gewußt: ob er ihren Fall noch erleben würde.
Und dann konnte ich am 11. November 1989 allein über den Potsdamer Platz auf die Ostberliner Kontrollbaracke zugehen. Ein Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee kam mir entgegen, machte eine korrekte Ehrenbezeugung und sagte: „Herr Bundespräsident, ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse",
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als ob nichts gewesen wäre - doch es war überwältigend. Damals, im November 1989, gingen ein tiefes Gefühl der Befreiung und eine Welle der Freude mit uns Deutschen um die ganze Welt. Das wollen wir an keinem Tag vergessen, nun, da wir in Deutschland und Europa miteinander unterwegs sind.
Ohne Beispiel in der Geschichte war es, die Vereinigung in Frieden mit allen beteiligten Mächten und Nachbarn, zu erreichen. Die innere Einheit stützte sich aus gutem Grund auf den Artikel 23 der Verfassung, weil der Osten nicht weniger als der Westen die Leitlinien dieses Grundgesetzes wollte.
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Dr. Richard von Weizsäcker
Doch sollten wir getrost aufhören, vom „Beitrittsgebiet" zu sprechen.
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Dieser Begriff ist zwar verfassungsrechtlich korrekt
- der Herr Bundespräsident wird das bestätigen -,
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aber der menschliche und historische Vorgang ist kein Verbund von Bundesdeutschen und Beigetretenen.
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Wir haben verschiedene Lebenserfahrungen und wachsen nun gemeinsam in eine für beide Teile neue innere Einheit hinein.
Wir kommen vorwärts, und wir werden es schaff en.
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Dabei helfen uns die Vorzüge der offenen Gesellschaft: die festen Regeln der Demokratie und die Effizienz der Marktwirtschaft. Sie bieten die besten uns bekannten Entdeckungswege zur Lösung der immer wieder neuen Probleme. Sie sind vernünftig, weil sie uns befähigen, Konflikte gewaltlos zu bestehen. Herzerwärmend sind sie nicht. Das ist keine weltfremde Anmerkung, sondern eine Erinnerung an den Gedanken von Ranke, daß die Völker nicht allein von rationaler Umsicht bestimmt werden, sondern vor allem von starken Gefühlen.
So ist es auch bei uns. Die Landsleute im Osten sind dankbar für die so lang entbehrte Freiheit. Sie wissen die riesigen Transferleistungen sehr wohl zu würdigen. Sie spüren eine gute Wirkung der Partnerschaft von Gemeinden und Verbänden und des persönlichen Einsatzes zahlreicher selbstloser Helfer und Ratgeber.
Gleichwohl ist vieles noch fremd. Daß der Markt unentbehrlich ist und sich zur Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen bewährt, das verkennt ja niemand. Aber allzu viele müssen den Zugang zum Markt noch suchen, nämlich ihre Beschäftigung, zumal Frauen. Oft hört man es so: „Früher waren wir alle gleich, und alle hatten Arbeit." Darin äußert sich ganz gewiß keine Sehnsucht nach neuer Unfreiheit. Doch bei allem Respekt für den Wettbewerb hoffen die Menschen auf eine Marktwirtschaft, die nicht nur den Arbeitslosen sozial auffängt, sondern die die Kraft aufbringt, dem Arbeitsuchenden solidarisch weiterzuhelfen.
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Es geht auch um mehr als nur um materielle Sorgen. Wettbewerb und Gewinn sind nicht das Maß der Dinge. Wert ist etwas anderes als Preis.
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Auch sollten wir uns hüten, die Vergangenheit pauschal zu dämonisieren oder gar nachträglich umzuschreiben. Die Menschen haben unter dem barbarischen Zwang zum Kollektivismus wahrlich genug gelitten. Dabei brauchen sie sich aber nicht ständig einreden zu lassen, sie hätten deshalb persönlich bisher ein nur verlorenes Leben gehabt.
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Heute suchen sie nach Gerechtigkeit und Nachbarschaft, nach einer Verbindung von Solidarität und Sicherheit. Wer wollte das nicht ernst nehmen?
Der Arbeitsmarkt verstärkt unser wechselseitiges Verständnis im Einigungsprozeß. Auch die Menschen im Westen haben Sorgen und müssen lernen. Dort waren Prosperität der Wirtschaft und Bewährung des Sozialstaates gewohnte Lebensumstände. Die Kräfte des Marktes konnten sich durchsetzen. Der Abbau der Handelsschranken in Europa und weltweit wirkte belebend.
Im Zuge steigender Produktivität wuchs jedoch schon während der Hochkonjunktur Arbeitslosigkeit heran. In einer großen Kraftprobe hat der Sozialstaat gesellschaftliche Erschütterungen abgewehrt. Angesichts der schweren zusätzlichen Lasten nach der Einheit ist seine Tragfähigkeit wahrhaft eindrucksvoll. Nun wird allen Beteiligten ein hohes Maß an Flexibilität abgefordert, an Kraft zur Innovation und zur Überwindung eines hemmenden Denkens in Besitzständen. Wir haben die Aufgaben am Arbeitsmarkt bisher nicht gelöst. Das ist jetzt eine unserer großen gemeinsamen Herausforderungen.
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Wir werden sie, meine Damen und Herren, um so besser bestehen, je mehr wir für humane Voraussetzungen sorgen. Ich meine damit unsere Kultur im weitesten Sinne des Wortes: die Kultur der Beziehungen vorn Menschen zum Mitmenschen, vom Menschen zur Natur und vom Menschen zur Zukunft.
Am Markt herrschen Wettbewerb und Leistung; das kann nicht anders sein. Zur Kultur gehört auch eine Zuwendung der Starken zu Schwachen,
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also nicht nur eine vertikale soziale Verpflichtung des Staates, sondern auch die Hilfe einer horizontalen Solidarität der Bürger untereinander.
Ein Beispiel von gewaltig gewachsener Bedeutung ist das Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten. Über Jahrhunderte war Deutschland überwiegend ein Auswanderungsland. Heute wollen weit mehr Menschen zu uns hinein als heraus. Um für eine derart veränderte Lage die menschliche Einstellung und den staatlichen Rahmen zu finden, brauchen wir Zeit. Wir müssen nach konsensfähigen Lösungen suchen, die die Mehrheit in der Bevölkerung versteht und mitträgt, und zwar in öffentlicher Diskussion. Es hat keinen Zweck, sich vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verstecken. Wer das Stichwort Einwanderungspolitik tabuisieren will, weil er sonst ausländerfeindliche Ausschreitungen befürchtet, der stellt die Zusammenhänge auf den Kopf.
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Soziale Konflikte haben ihre Ursache weit eher im Verschweigen oder Verzögern fälliger politischer Zielvorgaben als in ihrem Gefolge.
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Wir brauchen neue Regelungen für Einwanderung und Staatsangehörigkeit, aber natürlich nicht, um
Dr. Richard von Weizsäcker
unsere Tore für die Wanderer aus aller Welt unbegrenzt zu öffnen,
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sondern um die Zuwanderung gemäß den Interessen und Verpflichtungen unseres Landes steuern zu können.
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Dann wird die Einwanderung zu einer sinnvollen Vorsorge für die Zukunft. Wer sich in dieser Weise auf Einwanderer einstellt, hat mehr von ihnen, als wenn er sie nur als Eindringlinge fürchtet.
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In vielen Ländern der Europäischen Union stellen sich ähnliche Aufgaben. Gemeinsame Lösungen anzustreben ist nötig, aber kein Vorwand, um den nationalen Handlungsspielraum zu vernachlässigen. Nachholbedarf haben auch wir.
In jüngster Zeit haben wir überall in Deutschland schändliche Gewalttaten gegen Habe, Leib und Leben von Nichtdeutschen erlebt. Es sind Einzeltaten ohne zentrale Planung, jedoch nicht ohne Anstiftung. Sie entstammen einem überwiegend rechtsextremistisch erzeugten Klima, das sich aus Parolen und Aufmärschen, aus Pamphleten und Symbolen speist. Da möge niemand von Zufallslaunen oder, wie neulich, von unvorhersehbaren, spontanen Jagden auf Ausländer sprechen,
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um sich dann erst eines späteren Tages zu fragen, wie es dazu hatte kommen können. Eines Tages? - Das ist immer heute!
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Für die Ordnungskräfte des Staates ebenso wie für uns als Mitbürger.
Wir dürfen uns nicht an fremdes Unglück gewöhnen, wozu uns doch schon die täglichen Fernsehbilder verleiten. Wir wollen nicht wegsehen, wenn Unmenschliches im eigenen Gesichtskreis geschieht. Wer sich wegduckt, akzeptiert am Ende die Herrschaft und Gewalt von anderen auch über sich selbst.
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Wer sich nicht traut, für seine Freiheit einzutreten, wird zum Schwarzfahrer unserer freiheitlichen Demokratie. Er höhlt sie aus.
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Wir dürfen und wir wollen keinen zweiten Widerruf des Zusammenlebens mit den sogenannten „anderen" dulden, die einen anderen Paß oder andere Lebensgewohnheiten haben, die behindert oder obdachlos sind. Daran wollen wir nicht nur um unseres Ansehens im Ausland willen denken. Wichtiger ist, wie wir im eigenen Spiegel aussehen.
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Für uns muß - und darin ist sich die ganz überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung völlig einig - die Würde eines jeden Menschen unantastbar sein. Das ist der Kern unserer eigenen Freiheit.
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Zu ihrem Schutz lohnt sich jede zivile Courage. Sie ist die größte Tugend der demokratischen Bürgergesellschaft und überdies auch ihre beste Versicherung.
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Es gibt ermutigende Zeichen für unsere Kultur des Zusammenlebens mit Fremden. Neulich stieß ich auf einen Kulturverein in Stendal, im nördlichen Sachsen-Anhalt. Eine Laienspielschar von jungen Leuten führte ein Ballett auf, mit einem Schwarzafrikaner in der Hauptrolle. Die ganze Stadt lernte Achtung vor und Freude an seinem Wesen, seinen Bewegungen, seiner uns von Hause aus doch so fremden und uns dennoch so packenden Kultur. Aus Karlsruhe kamen unlängst Schüler zu mir. Sie hatten ein Theaterstück über das Zusammenleben mit Ausländern selber geschrieben und in der weiteren Umgebung aufgeführt. Die Resonanz war stark. So wird Kunst zur humanen Kraft.
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An dieser Stelle mögen mir die Haushälter und die Finanzverantwortlichen, also auch die Regierungschefs in Bund, Ländern und Kommunen, eine Bitte erlauben. Folgen Sie ruhig der Stimme Ihres Herzens, und begegnen Sie in Zeiten des dringenden Spargebots den vielen kulturellen und künstlerischen Zellen und Zentren im Lande, deren Lobby doch so schwach ist, mit Verständnis!
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Chöre, Orchester, Bühnen, Sammlungen, Ausstellungen und Initiativen aller Art gehören nämlich auch zu den Vorbildern in der Kosten-Nutzen-Relation. Ihre Kosten sind kleiner als fast alle anderen Haushaltstitel, ihre Wirkung aber geht tief und tut der ganzen Gesellschaft wohl.
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Es ist nicht nur schöner, sondern es spart am Ende auch Geld, gutes Zusammenleben und Entspannung unter den Menschen mit Hilfe der Kultur zu fördern, anstatt die Folgekosten von sozialem Unfrieden tragen zu müssen.
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Kultur ist eben kein entbehrlicher Zierat, sondern humane Lebensweise der Bürger.
In jeder Gesellschaft gehört die Beziehung zwischen den Generationen zu den Säulen der Kultur. Tragen sie uns noch genug? Schon die demographichen Zahlen alarmieren: Vor 100 Jahren standen zehn Jugendliche unter 21 Jahren nur einem Alten über 65 Jahren gegenüber. In wenigen Jahren aber, im Jahr 2000, werden beide Gruppen etwa gleich groß sein. Das kann nicht ohne schwerwiegende Folgen bleiben. Die Lasten für die Jungen steigen immer mehr, sowohl wenn sie eigene Kinder haben wollen als auch und vor allem wegen der Versorgung der Alten. Stehen wir hier am Anfang eines Aufstandes der Jungen gegen die Alten?
Jedenfalls wächst neues Denken innerhalb der Altersgruppen heran und kann ihr Verhalten zueinander verändern. Bei den Jungen ist dies normal; sie wollen ihre eigenen Erfahrungen machen. Dabei merken sie früher oder später, daß niemand ganz von
Dr. Richard von Weizsäcker
vorn anfangen kann. Es ist auch in ihrem Interesse, nicht alles Erfahrungswissen verlorengehen zu lassen. Die Kontinuität der Generationen zu wahren und zu achten ist gerade auch für die Jungen eine Hilfe.
Die Alten haben ebenfalls Grund zu neuem Denken. Wir sollten und wir können lebenslang dazulernen, uns bilden und erziehen. Leider ist es nach meinem Eindruck zur Zeit ganz allgemein um Fragen der Bildung und Erziehung merkwürdig ruhig im Lande. Verantwortliche Bildungspolitiker ringen zwar energisch um Reformschritte. Doch nehmen große Politik und Öffentlichkeit davon nur selten ernsthaft Notiz, obwohl wir doch mindestens eines wissen: daß das Bildungswesen eines Landes zu den zentralen Standortfaktoren in der liberalisierten Weltwirtschaft gehört.
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Aber über ihre reine Effizienz hinaus hängt die Qualität der Bildung vor allem von den Werten und Zielen im Zusammenleben der Menschen ab. Keine Bildung kommt ohne den Mut zur Erziehung aus, und Mut zur Erziehung bedeutet im Wandel der Zeitbedingungen zunächst Mut zur Veränderung unseres eigenen Lebens, zumal auch im Alter.
Das wichtigste Thema dafür ist die Umwelt. Auf allen Feldern wird die Endlichkeit der Lebensvoraussetzungen sichtbar. Was wir heute an Luft und Wasser, an Energie und Artenvielfalt verkommen lassen oder verschwenden, wird den Nachkommen fehlen. Welche bessere Aufgabe also gäbe es als die eigene Genügsamkeit und die gemeinsame Verantwortung für die natürlichen Ressourcen?
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Eine Kontinuität der Generationen kann es nur geben, wenn wir mit unserem heutigen Leben nicht unaufhörlich die Zukunft verbrauchen.
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Die ökologische Pflicht gilt weltweit, aber sie fängt immer zu Hause an.
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Der Umweltschutz wird vom parteilichen zum Allgemeingut. Hier wartet ein Staatsziel auf seine Überführung in die Praxis.
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Nach wie vor muß die Allgemeinheit die Kosten tragen, wann immer der private Markt externe Folgen verursacht, die nicht im Preis enthalten sind.
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Ehrlicher und gesamtgesellschaftlich auch ökonomischer ist es, wenn die Preise selbst die ökologische Wahrheit sagen.
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Was ökologisch notwendig ist, soll sich auf dem Markt auch behaupten können. Deshalb führt - um ein Beispiel zu nennen - letztlich kein Weg daran vorbei, umweltschädliche Produkte wie fossile Brennstoffe höher zu belasten und von uns aus auch in der
Europäischen Union auf eine entsprechende Einigung im CO2-/Energie-Bereich hinzuarbeiten.
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Dies ist eine der großen Aufgaben, die uns Deutsche mit der Welt verbinden. Unsere Nation ist nur Teil der größeren und wichtigeren Gemeinschaft der Menschheit. Wir nehmen an ihren Sorgen in dem Bewußtsein teil, daß viele Völker weit mehr zu leiden haben als wir.
Ich kann hier nicht auf die konkreten Felder der Außenpolitik eingehen, auf Sicherheit und Zusammenarbeit in unserem Teil der Welt und auf die Verbesserung der Entwicklungsbedingungen in der südlichen Halbkugel. Nur von einer Frage, Frau Präsidentin, erlauben Sie mir noch zu sprechen: Was ist die deutsche Nation? Und wohin zielt sie?
Es ist nicht verwunderlich, daß während des Kalten Krieges davon weniger die Rede war, wohl aber jetzt, da wir unsere politische Einheit im Frieden mit der Welt erreicht haben. Nun sind die Augen der Nachbarn und auch fernerer Länder auf uns gerichtet. Nach europäischen Maßstäben sind wir groß, für manche Nachbarn beunruhigend groß. Man horcht empfindsam auf unsere Tonlage. Man verfolgt mit angespanntem Interesse, was wir vorhaben mit unseren 80 Millionen Einwohnern mitten in Europa, wie wir unsere geistigen und materiellen Ressourcen einsetzen werden, und vor allem, welche menschlichen Temperaturen sich bei uns zu Hause entwickeln.
Der Wahn des Nationalismus in Europa, der nichts anderes gesucht hat als den Vorteil der eigenen zum Nachteil der anderen Nationen, hatte unseren Erdteil zu Boden geworfen. Das „right or wrong, my country" hatte sich als Absage an die Zivilisation erwiesen.
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In unserer Zeit hat nun ein neues, historisch hoch bedeutsames Kapitel begonnen: der Zusammenschluß in Europa. Damit hören wir sowenig wie unsere Nachbarn auf, eine Nation zu sein. Noch verfügen wir über keine andere Ebene als den Nationalstaat, um die Demokratie zu garantieren. Aber die Nation ist kein abstrakter Begriff, der ein für allemal feststeht. Vielmehr ist sie vom Willen ihrer Bürger geprägt, der ihren Charakter bewahren oder aber verändern kann.
Es sind nicht allein Religion oder Rasse, Hautfarbe, ethnische Wurzeln oder die Sprache, die eine Nation bilden. Gewiß, die geographische Lage eines Landes hat ihr starkes Gewicht, wie auch das Streben nach Sicherheit, das die Menschen zusammenhält. Prägend sind ferner die politischen Interessen. Wir müssen sie klar erkennen und offen und ehrlich beim Namen nennen. Sie sich selbst nicht einzugestehen oder vor anderen zu verheimlichen, obwohl sie doch existieren, würde nur allseits Mißtrauen wecken. Den wahren Kern der Nation aber bilden sie nicht. Vielmehr ist jede, auch die unsrige, ein geistiges Lebewesen, das, wie jedes Leben, in langer Zeit zur Gegenwart heranwächst. Es hat eine bedeutungsschwere Geschichte und einen gegenwärtigen Willen zum Zusammenleben.
Dr. Richard von Weizsäcker
Die Geschichte soll nicht unser Gedächtnis beschweren, sondern unseren Geist erleuchten, wie Lessing sagt. Sich erinnern zu können ist eine große Kraft. Das ganze Erbe der Vergangenheit anzunehmen, seine guten und seine schweren Kapitel oder, mit den Worten des großen französischen Religionshistorikers Ernest Renan, seinen Ruhm und seine Reue gemeinsam verantwortlich zu tragen, das ist das eine, was unsere Nation prägt.
Das andere ist unser Wille zur Gegenwart, unsere Bereitschaft, sich den Aufgaben unserer Zeit zu stellen: Wie gehen die Generationen miteinander um? Geben wir der Jugend die nötigen Chancen, steigende Lasten in der Zukunft zu tragen? Verstehen wir, daß internationale Wettbewerbsfähigkeit für den Arbeitsmarkt wichtiger ist als marginale Zuwächse in innergesellschaftlichen Verteilungskämpfen? Wie verhalten sich Einheimische und Zuwanderer zueinander? Sind wir offen zu uns und zu unseren Nachbarn? Vermögen wir das Eigene so zu achten und zu schätzen, daß es das Fremde nicht zu fürchten braucht, sondern ihm seine Würde beglaubigen und sie stärken kann? Tragen wir alle, wählende Bürger und gewählte Politiker, das Unsere dazu bei, daß die Zivilcourage spürbar gestärkt wird und so auch die Politik an Ansehen gewinnt? Sind wir uns bewußt, daß die Kultur Quelle unserer Humanität und Fundament unserer Zukunft ist, die es energisch zu fördern und allseits zu praktizieren gilt? Schließlich und vor allem: Bewahren wir die uns anvertraute Natur für unsere Nachkommen?
Wir können Vertrauen bilden, wenn wir Vertrauen haben - Vertrauen zu uns selbst -: im Bewußtsein von Last und Reichtum der Geschichte und mit dem festen und verantwortlichen Lebenswillen in der Gegenwart. Für unsere Nation, unterwegs nach Europa und als Glied der Gemeinschaft der Völker, setze ich darauf mit Zuversicht.
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Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ich habe meine Amtszeit beendet. Die Stafette ist übergeben. Sie haben mich glücklich überstanden.
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Ich danke Ihnen für die gemeinsame Zeit.
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Meine Damen und Herren, einen Satz muß ich noch hinzufügen, denn: Innehaben darf ich weiterhin - laut Lichtenberg - „freien Sitz und Stimme in dem Rat über Irrtum und Wahrheit" , jenem Rat in unserer Demokratie, dem wir alle, jung und alt, mit oder ohne Amt, zusammen angehören - zum Wohl unseres Landes.
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Uns bleibt ein einziges Wort: Danke!
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Meine Damen und Herren, am 23. Mai dieses Jahres hat die Bundesversammlung Herrn Professor Dr. Roman Herzog zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Herr Roman Herzog hat vor der Bundesversammlung diese Wahl angenommen und mit dem heutigen Tag das Amt des Bundespräsidenten angetreten.
Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsident - und ich bitte den Herrn Präsidenten des Bundesrates -, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten.
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Herr Bundespräsident, ich übergebe Ihnen das Original des Grundgesetzes und bitte Sie, den Eid zu sprechen.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe!
Herr Bundespräsident, Sie haben den Eid geleistet. Ich möchte Ihnen im Namen aller hier Versammelten Glück wünschen. Alles Gute, Gottes Segen und eine erfolgreiche Hand in diesem Amt für unser Land!
Danke schön.
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Das Wort hat der Herr Bundespräsident.
Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages! Herr Präsident des Bundesrates! Herr Bundespräsident von Weizsäkker! Verehrte Frau von Weizsäcker! Herr Bundeskanzler! Frau Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts! Meine Damen und Herren! Vor allem möchte ich mich bei Ihnen, Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages, und bei Ihnen, Herr Bundespräsident von Weizsäcker, aufs herzlichste für die guten Wünsche bedanken, die Sie mir soeben ausgesprochen haben.
In Stunden wie dieser wendet sich der Blick fast automatisch zurück, vor allem natürlich auf die Gestalten der bisherigen Bundespräsidenten, die alle, jeder auf seine Weise, unserem Staat in eindrucksvoller Weise gedient und dem Amt des Bundespräsidenten ihren jeweils ganz besonderen Charakter aufgeprägt haben: Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens, Richard von Weizsäcker.
Ich will nicht alle diese Männer vor dieser hohen Versammlung zu würdigen versuchen. Ihnen aber, verehrter Herr von Weizsäcker, gilt mein ganz besonderer Dank und mein Respekt, und man kann es in diesen Tagen ja mit Händen greifen: Es ist der Dank und der Respekt aller Deutschen, der sich mit dem
Bundespräsident Dr. Roman Herzog
meinen verbindet und den ich - gewissermaßen erstmals in meiner neuen Funktion - nur brennglasartig zusammenzufassen und auszudrücken brauche.
Zehn Jahre lang haben Sie das Amt des Bundespräsidenten - zusammen mit Ihrer Frau, die ich in diese Danksagung gleich mit einbeziehen möchte - in bewunderungswürdiger und unnachahmlicher Weise geführt. Sie haben zuerst die alte Bundesrepublik und sodann das wiedervereinigte Deutschland in der Welt so repräsentiert, wie es heute ist und wie es repräsentiert zu werden verdient. Sie haben den Deutschen in Ost und West Weg und Richtung gewiesen, Sie sind Vorbild für viele gewesen, und Sie sind nicht müde geworden, dort, wo es Ihnen nötig erschien, auch deutliche Kritik zu üben und zu mahnen. Das ist Aufgabe und Recht jedes guten Bundespräsidenten, und Sie sind beidem in wahrhaft glanzvoller Weise gerecht geworden. Herzlichen Dank dafür!
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Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat keine Regierungserklärungen abzugeben, am allerwenigsten am Tage seines Amtsantritts. Er braucht nicht alle Probleme zu erwähnen, die im Augenblick seines Amtsantritts vorhanden sind,
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und er braucht sie auch nicht gleich noch einer Lösung zuzuführen. Aus der Tatsache, daß er das eine oder andere Problem, die eine oder andere Institution nicht erwähnt, darf noch weniger als bei einer Regierungserklärung geschlossen werden, daß er damit nicht vertraut sei oder dazu vielleicht nicht einmal etwas zu sagen habe.
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Ich sage das gleich zu Anfang meiner Rede, um Mißverständnissen vorzubeugen.
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Und ich meine es auch nicht böse, meine Damen und Herren, es geht eben nicht alles in einer guten halben Stunde.
Aber unser Volk und Sie vor allem, meine Damen und Herren des Deutschen Bundestages und des Bundesrates, haben ein Recht darauf, zu erfahren, wie ich in den entscheidenden Fragen unserer Zeit denke und welche Grundsätze ich daher meiner Arbeit zugrunde zu legen beabsichtige.
Ich will mit der Außenpolitik beginnen, mit der Stellung des wiedervereinigten Deutschland in der Welt.
Es ist ja kein Geheimnis, daß diesem wiedervereinigten Deutschland, wenn es seine inneren Schwierigkeiten erst einmal überwunden haben wird, in Europa nach Bevölkerungszahl und Sozialprodukt besondere Bedeutung zukommen wird und daß auch seine Verantwortung in der Weltpolitik zunehmen wird. Deshalb ist in den jüngstvergangenen Jahren da und dort der Argwohn aufgekommen, es könnte sich nunmehr allmählich aus der Westbindung der vergangenen 40 Jahre lösen und auf die alten wilhelminischen Pfade zurückkehren. Ich spreche das so offen aus, weil ich der felsenfesten Überzeugung bin, daß es
meist schon die halbe Antwort auf eine Frage ist, wenn man die Frage nicht vornehm umschreibt, sondern eben ganz offen, frontal anspricht.
({4})
Wenn es nach mir geht, meine Damen und Herren, darf sich diese Befürchtung mancher unserer Nachbarn nicht einen Augenblick und nicht einen Zentimeter realisieren.
({5})
Deshalb ist es meines Erachtens unerläßlich, daß dieses neue und zunächst nur vermeintlich stärker gewordene Deutschland zusammen mit den anderen westeuropäischen Partnern unermüdlich an der Erweiterung und an der Vertiefung der Europäischen Union mitarbeitet.
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Deshalb ist die Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika, im Rahmen der Nordatlantischen Allianz, aber auch außerhalb dieses Rahmens so wichtig. Deshalb brauchen wir die Intensivierung der deutsch-französischen Freundschaft weit über den Kreis der Amts- und Funktionsträger hinaus in allen gesellschaftlichen Bereichen. Und deshalb brauchen wir die Stärkung der Vereinten Nationen, auch durch verstärkte deutsche Mitarbeit - wobei ich die Zuständigkeiten des Bundesverfassunsgerichts auch nicht thematisch gestreift haben möchte.
({7})
Sowohl die innere Sicherheit als auch die Überlebensfähigkeit der Menschheit hängen davon ab, ob es uns in unserer Lebensspanne gelingt, in Bereichen wie Friedenssicherung, wie Umweltschutz, Artenschutz, Rohstoffverbrauch und Ernährung zu Lösungen zu kommen, die den Namen einer Weltinnenpolitik wenigstens in Ansätzen verdienen.
Besondere Verantwortung haben wir Deutschen für die Zukunft der frei gewordenen Völker östlich von uns.
({8})
Dazu drängt uns nicht nur unser eigenes politisches Interesse, meine Damen und Herren, sondern auch die Vergangenheit, die unser Verhältnis zu vielen dieser Völker immer noch belastet. Was an mir liegt, soll geschehen, daß diese Last Stück für Stück abgetragen oder doch wenigstens gemildert wird und daß die Deutschen dort als das erscheinen, was sie schon immer hätten sein sollen: als friedliche, hilfsbereite und - vor allem im Politischen - auch der Uneigennützigkeit fähige Nachbarn.
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Aus der Hilfe, die wir diesen Völkern anbieten, darf auch nicht der Hauch einer politischen Präponderanz entstehen; schon deshalb brauchen wir übrigens die Vertiefung der Europäischen Union.
({10})
Und es darf auch durch diese Hilfe nicht der Schein eines deutschen Sonderweges entstehen. Ich bin im übrigen sicher, daß er gar nicht entstehen kann, meine Damen und Herren. In der 40jährigen Geschichte der
Bundespräsident Dr. Roman Herzog
europäischen Einigung ist bisher noch jede Erweiterung mit einer Vertiefung einhergegangen.
({11})
Aber wenn wir uns das alles vornehmen, dann müssen wir auch unserer selbst etwas sicherer werden, als wir das im Augenblick sind. Sie ahnen, was jetzt kommt: die Frage der deutschen Nation, die wir aus guten Gründen lange Jahre ganz tief gehängt haben, die wir jetzt aber nicht irgendwelchen Rattenfängern überlassen dürfen.
({12})
Ich habe zu dieser Frage schon in meiner Rede zum 17. Juni 1988 im Bonner Wasserwerk Stellung bezogen. Was ich damals gesagt habe, gilt unverändert fort und kann nachgelesen werden. Aber ein paar wesentliche Punkte will ich hier doch wenigstens wiederholen.
Ich habe mich damals zur deutschen Nation bekannt und will das auch in dieser Stunde wieder tun. Der Nationalstaat aber als alleinige Form politischer Gestaltung, der hat sich überlebt; das erfahren wir an allen Ecken und Enden.
({13})
Aber ob wir es wollen oder nicht, ob wir Deutsche, Franzosen, Amerikaner oder Türken sind, wir alle sind nun einmal - so wie die Dinge heute liegen - in eine Nation hineingeboren oder hineinversetzt. Jede Nation hat ihr eigenes historisches Erbe. Dazu gehört auch, daß die deutsche eine lange, reiche und vergleichsweise friedliche Geschichte hatte, ehe sie - später als andere -- zum Nationalstaat wurde. Wir können auch diesen Teil unseres Erbes nicht ausschlagen.
Aber wir Deutschen haben allen Grund, uns in dieser Frage sehr, sehr vorsichtig zu bewegen. Dazu sollten uns schon die Schandtaten veranlassen, die in deutschem Namen begangen worden sind, genauso aber auch die Erfahrung, daß unser Volk, vielleicht mehr als andere, sowohl in der Niedergeschlagenheit als auch im Jubel zur Übertreibung neigt und daraus wieder neues Unheil und neues Unrecht entstehen könnte.
({14})
Ich rate uns aus allen diesen Gründen, meine Damen und Herren, die Liebe zu unserem Land nicht einen Augenblick zu verschweigen, uns dabei aber, wie ich vor sechs Jahren schon sagte, ausgesprochen leiser Töne zu befleißigen. Nationales Trara, Fanfaren und Tschinellen sind das letzte, was wir dabei brauchen können.
({15})
Ich pflege in diesem Zusammenhang meist einen Satz des politisch gewiß unverdächtigen Kurt Tucholsky zu zitieren, der genau zum Ausdruck bringt, was ich jetzt meine. 1929 hat er geschrieben:
In allen Gegensätzen steht - unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert - die stille Liebe zu unserer Heimat.
In diesem Zusammenhang sind dann natürlich auch einige Worte zum Umgang mit unserer Geschichte nötig. Das Thema ist aus Gründen, die ich hier weder analysieren noch beurteilen möchte, immer noch schwierig, und es ist in letzter Zeit sogar wieder schwieriger geworden, weil es zu viele zwar geistvolle, aber eben auch irreführende neue Formeln dazu gegeben hat. Mit Formeln wie „Die Nachkriegszeit geht zu Ende" oder „Nach Ausschwitz gibt es keine Geschichte mehr" ist der Sache, die uns alle umtreibt, meine Damen und Herren, nicht gedient.
({16})
Wichtig ist etwas ganz anderes: der ungeschminkte, offene Blick auf die historische Wahrheit und die Bereitschaft, diese historische Wahrheit weder umzuschminken noch wegzuinterpretieren. Nichts weglassen und nichts hinzufügen!
Es ist historische Wahrheit, daß in den unseligen zwölf Jahren vom deutschen Boden ein Angriffskrieg ausgegangen ist, der die ganze Welt in Brand gesteckt hat, daß Millionen von Juden und Hunderttausende aus anderen Minderheiten ermordet worden sind, daß es KZs und Vernichtungslager gegeben hat, so wie es historische Wahrheit ist, daß unter den Folgen dieses verbrecherischen Systems auch ungezählte Deutsche gelitten haben, und wie es Wahrheit ist, daß auf den selbstverschuldeten Ruinen nachher ein freiheitlicher und demokratischer Staat aufgebaut worden ist und daß sich der Teil unseres Volkes, der dieses Glück und diese Chance zunächst nicht hatte, in einer unblutigen Revolution selbst befeit hat.
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Nur, meine Damen und Herren, auch wenn wir das alles nicht verschweigen können und nicht verschweigen wollen: Aufrechnungen sind hier genausowenig möglich. Man kann nicht Hitler gegen Beethoven aufrechnen oder Himmler gegen Robert Koch oder Hilde Benjamin gegen Grundgesetz und Rechtsstaat. So können wir und so dürfen wir unsere Geschichte nicht betreiben; das würde wieder einmal alles schraffieren und alles verwischen, was wir aus ihr zu lernen haben.
Ebensowenig kann man historische Lasten der eigenen Nation gegen Lasten anderer Nationen, Verbrechen des einen Unrechtsregimes gegen die des anderen, Hitler gegen Stalin, Dresden gegen Coventry, Bautzen gegen Dachau aufrechnen. Der Gleichheitsgrundsatz gilt nicht im Unrecht.
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An der historischen Einmaligkeit des Grauens von Auschwitz ist nun einmal nicht zu deuteln. Daß es eine historische Einmaligkeit bleibt, ist nicht ein Thema für streitende Historiker, meine Damen und Herren, sondern es ist Verantwortung und Pflicht für uns alle.
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Denn natürlich haben wir aus den schlimmen Teilen unserer Geschichte am meisten zu lernen; das ist immer so im menschlichen Leben.
Nur hat sich durch den Zeitablauf - auch das will ich in aller Deutlichkeit sagen, weil ich es als eine Grundaufgabe meiner Amtszeit betrachte - auch die Struktur dieser Aufgabe zu verändern begonnen. Je
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mehr Zeit ins Land geht, desto weniger Sinn macht es, nach persönlicher Schuld einzelner Personen zu suchen, so sehr ich dafür bin, auch noch den letzten KZ-Schinder bis an sein Lebensende zu verfolgen.
Lassen Sie mich aber persönlich sagen: Als der Krieg zu Ende war, war ich elf Jahre alt, und schon da kann man zwar von Scham und Verantwortung für die Zukunft, schlecht aber von persönlicher Schuld reden. Von meinen Söhnen kann ich noch weniger verlangen, daß sie solche individuelle Schuld empfinden. Aber das kann man von uns verlangen: daß wir aus der Geschichte des Volkes, in das wir hineingeboren sind, lernen, daß wir uns engagiert damit auseinandersetzen und daß wir mit vollem Einsatz dagegen antreten, wenn sich in diesem Land wieder totalitäre und menschenverächterische Tendenzen zeigen.
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Totalitarismus, meine Damen und Herren, den bekämpft man nicht, wenn er schon die Macht an sich gerissen hat; denn dann ist es für den einzelnen, für den kleinen Mann zu spät. Man bekämpft Totalitarismus, wenn er zum erstenmal sein Haupt erhebt, und schon dann mit aller Entschiedenheit.
({21})
In diesem Zusammenhang will ich gleich ein paar Worte zu den kriminellen Taten sagen, unter denen gegenwärtig die in Deutschland lebenden Ausländer zu leiden haben. Meine Damen und Herren, ich bin gern bereit, mich an Diskussionen darüber zu beteiligen, ob es nicht in der Ausländerpolitik Fehler und Versäumnisse gegeben hat und ob es nicht eine Perspektivlosigkeit gibt, unter der wenigstens die Jugendlichen unter den Tätern leiden, auch darüber, ob es mehr die Schulen und die Medien sind, die hier zuwenig entgegengewirkt haben, oder vielleicht nicht doch auch die Elternhäuser.
Aber das will ich auch hier mit aller Klarheit sagen - das werden Sie vielleicht einem früheren Innenminister nachsehen -: Hier sind auch Polizei und Strafgerichte gefordert. Wer es selbst nicht weiß, daß man lebendige Menschen nicht in Brand steckt, daß man sie nicht zusammenschlägt und daß man sie nicht durch Städte jagt, meine Damen und Herren, dem muß das eben auch mit den Machtmitteln des Rechtsstaates klargemacht werden.
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Es ist üblich geworden, in diesem Zusammenhang unsere Mitbürger zur Zivilcourage aufzurufen, zur beherzten Nothilfe. Das will ich auch von dieser Stelle aus und in allem Ernst tun. Meine Damen und Herren, wir müssen alle wissen, daß es hier auch um unser Ansehen im Ausland geht, daß es aber vor allein darum geht, ob in Deutschland eine politische Atmosphäre erhalten bleibt, in der man gern und frei lebt, in der jeder von uns gern und frei lebt, und daß schließlich auch unser eigenes Schicksal, das Schicksal jedes deutschen Bürgers, zur Debatte steht. Denn die Verbrecher, von denen ich hier rede, werden, wenn erst einmal eine Atmosphäre der Gewalt entstanden ist, bei den Ausländern eben nicht haltmachen.
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Heute sind die Ausländer dran, morgen dann wieder einmal die Juden, dann die Behinderten, die Katholiken und die Protestanten, die Gläubigen und die Ungläubigen - um nur einige Beispiele zu nennen. Ich will das nicht im einzelnen ausführen. Aber in diesen Fragen werden nicht nur unser Ansehen und die Atmosphäre, in der wir leben, es wird auch unser Lebensrecht gefährdet.
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Das deutsche Volk lebt - bei allen Problemen und allen Ungerechtigkeiten, die ich keinen Augenblick übersehe - in Verhältnissen, wie sie im Weltmaßstab exzeptionell sind, und das gilt sowohl von der inneren Verfassung unseres demokratischen Rechtsstaates her als auch von dem Wohlstand dessen wir uns erfreuen.
Man braucht sich das nur vorzustellen: 200 Jahre - wenn überhaupt - von 6 000 Jahren Menschheitsgeschichte gibt es demokratische Rechtsstaaten. Schauen Sie sich den Globus an, schauen Sie sich an, wie groß der Anteil der demokratischen Rechtsstaaten im Verhältnis zur bewohnten Erdoberfläche ist! Viele von uns nehmen das als selbstverständlich. Aber, meine Damen und Herren, es ist nicht selbstverständlich. Ein Blick auf den Globus und auf die Geschichte zeigt, daß wir uns seit je in einer Ausnahmesituation befinden, die sich immer wieder aufs neue bewähren und vor allem verdient werden muß, und zwar nicht nur auf dem Feld der Wirtschaft und der Technik, sondern - damit auch das gleich gesagt wird - auch auf den Feldern der Humanität und der sozialen Solidarität.
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Ich kann in der Kürze der Zeit nicht im einzelnen darstellen, was das alles bedeuten könnte. Wieder müssen einige Hinweise genügen, und der wichtigste davon scheint mir zu sein, daß wir in sehr, sehr vielen Fragen einfach werden umdenken müssen, auch wenn unsere bisherigen Lösungen noch so erfolgreich gewesen sein mögen.
Das beginnt schon in unserem Verhältnis zu Wirtschaft und Technik. Wir werden es uns auf die Dauer nicht leisten können, mit beidem so umzugehen, wie wir es bisher getan haben. Weder haben wir Anlaß, die beiden Bereiche so absolut zu setzen, wie es im Überschwang vergangener Wohlstandsepochen mitunter der Fall war, noch können wir es uns auf die Dauer leisten, auf jene Kuh einzuprügeln, von deren Milch wir leben. Wir werden einfach ein realisitischeres Verhältnis zu Wirtschaft und Technik entwickeln müssen, als es sich bisher im Hin und Her zwischen Technologiebegeisterung und Zivilisationskritik gezeigt hat.
Dann werden wir auch unsere jungen Leute wieder zu Leistung und zu Lust an der Leistung bringen. Denn diese jungen Menschen spüren zutiefst, daß hier Fragen bestehen, auf die es bisher nur widersprüchliche und vor allem auf allen Seiten festgefräste Antworten gibt. Diese junge Generation ist zu Realismus und Leistung bereit, wenn man ihr einerseits die Chance des Erfolgs nicht wegdiskutiert und wenn man ihr andererseits die Möglichkeit läßt, die fortschreitende und fast unvermeidliche Technisierung
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mit ihren selbstverständlichen Humanitätsbedürfnissen halbwegs in Einklang zu bringen. Ich wiederhole: Das verlangt Umdenken in vielen Bereichen. Aber die Jungen, so wie ich sie kenne, sind dazu bereit. Und - ich sage das mit allem Ernst, nicht um eines Gags willen -- sie werden uns Ältere vor der Zeit ablösen, wenn wir uns weiterhin in Situationsanalysen erschöpfen.
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Eine so hochentwickelte technische Zivilisation behält ihr Lebensrecht aber auf die Dauer nur, wenn sie Raum für Humanität läßt, ja wenn sie diesen Raum recht eigentlich schafft. Technischer Fortschritt darf, um nur einige Beispiele zu nennen, nicht dazu führen, daß andere, weniger entwickelte Wirtschaften dadurch völlig aus der Bahn geworfen werden. Sie müssen umgekehrt in einem System vernünftiger internationaler Arbeitsteilung weiter leben können. Technischer Fortschritt darf nicht zur weiteren Vernichtung der Umwelt führen, sondern er muß Schritt für Schritt - und zwar in kräftigen Schritten - zum pfleglichen Umgang mit der Natur, zu ihrer Wiederherstellung verwendet werden. Technischer Fortschritt muß uns gewiß im Weltmaßstab konkurrenzfähig erhalten, aber er darf nicht zugleich im eigenen Land zur Verdrängung des Menschen aus dem Produktionsprozeß führen.
Ich halte das für eines der bedrängendsten Probleme der nächsten Zukunft, und da ich oft genug darüber öffentlich gesprochen habe, will ich mich auch hier auf das Nötigste beschränken.
Es ist eine Tatsache, daß sich der Arbeitsmarkt in letzter Zeit zumindest teilweise von der konjunkturellen Entwicklung abzukoppeln beginnt. Die Prognosen sagen es ja auch deutlich, daß im Augenblick zwar die Konjunktur wieder anspringt, daß das aber nicht ohne weiteres zu einem Schwinden der Arbeitslosigkeit führen wird. Man kann das nicht einfach als Sachverhalt abtun,
({27})
selbst wenn das soziale Netz Arbeitslose nach wie vor auffängt. Aber Arbeit ist mehr als eine Geldquelle. Sie ist zugleich eine Quelle von Selbstwertgefühl, von Sozialprestige, von innerer Zufriedenheit. Wenn das einer relevanten Anzahl von Menschen auf längere Dauer oder gar für immer vorenthalten wird, wird eine solche Gesellschaft ganz einfach inhuman.
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Aus der Lektüre Hunderter von Verfassungsbeschwerden in den letzten Jahren weiß ich, daß auch das noch nicht alles ist. Je komplizierter unser Leben, unsere Wirtschaft, aber auch unsere Rechtsordnung und unser soziales System geworden sind, desto mehr Menschen gibt es auch, die damit ganz einfach nicht mehr fertig werden, die sich darin nicht mehr zurechtfinden.
Ich habe heute kein Patentrezept dafür anzubieten. Aber auch diese Form der Unbehaustheit kann kein Dauerzustand in unserer Gesellschaft sein. Damit möchte ich mich nicht abfinden, gleichgültig wie sie sich äußert: als Obdachlosigkeit, als Stadtstreichertum, als Drogenabhängigkeit, als allgemeine Antriebslosigkeit oder was sonst.
Damit keine Mißverständnisse auftreten, will ich hinzufügen: Ich bin natürlich weit davon entfernt, diese Unbehaustheit als den alleinigen oder auch nur als den Hauptgrund von Obdachlosigkeit und Drogenkonsum anzusehen. Einen Zugang zu diesen Problemen gibt es aber auch von hier aus.
Diese selbstverständliche soziale Verpflichtung gilt auch im Verhältnis zwischen den Volkswirtschaften. Sowenig ein Rechtsstaat eine rein machiavellistische Außenpolitik treiben kann, sowenig kann sich eine soziale Marktwirtschaft nach außen benehmen, als ob wir noch im Zeitalter des Manchester-Liberalismus lebten.
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Es ist gewiß eine Utopie, wenn ich hier das Bild einer sozialen Weltwirtschaft an die Wand male. Aber ich glaube, solche Idealvorstellungen braucht der Mensch, gerade wenn er weiß, daß sie zu seinen Lebzeiten nicht zu erreichen sind. Deshalb habe ich vorher an die Notwendigkeit einer humaneren internationalen Arbeitsteilung erinnert, und deshalb will ich hier - kurz, aber doch in aller Eindringlichkeit - auf die Notwendigkeit einer entschiedenen Entwicklungshilfepolitik hinweisen.
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Die internationale Solidarität, an die ich erinnere, beginnt übrigens auch hier im Inneren unseres Landes: bei den Ausländern, die mit uns und unter uns leben. Das Amt, das ich heute angetreten habe, verbietet es mir, hier in die Details zu gehen, zumal ich aus eigener jüngster Erfahrung weiß, daß jede Silbe, die man nicht nach allen Seiten absichert, zu den größten publizistischen Katastrophen führen kann.
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Deshalb will ich hier auch nur an das Grundsätzliche erinnern, und das beginnt schon bei der Klarheit der Vorstellungen und Begriffe. Wie sollen wir eigentlich über Deutschland als Einwanderungsland und wie über eine multikulturelle Gesellschaft reden und entscheiden, wenn sich jeder etwas anderes darunter vorstellt?
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Wie sollen wir über eine geregelte Einwanderung diskutieren, wenn nicht klar ist, ob wir sie jetzt eigentlich aus humanitären Gründen wollen oder nur zur Korrektur unserer eigenen demographischen Kalamitäten?
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Ich sage es so ungeniert: Hier bringt uns nur eine faire, offene Diskussion weiter, und um die sollten wir uns nicht länger mit Schlagworten herumdrücken.
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Über zwei Eckpunkte müßte aber in jedem Falle Einigkeit bestehen: Die ausländischen Arbeiter, die wir selbst geholt und die unsere Wirtschaft mit vorangebracht haben, müssen ihr Gastrecht behalten können; das gehört in die ganz primitive Kategorie der menschlichen Dankbarkeit, um nicht zu sagen der
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Kollegialität. Und die Angehörigen der zweiten und dritten Ausländergeneration, die in Deutschland zu Hause sind, müssen hier Heimatrecht haben, wie immer das dann rechtlich ausgestaltet werden mag.
({35})
Dazu werden Sie von mir keine weitere Silbe mehr hören. Meine Damen und Herren, wir haben als Deutsche gerade das Heimatrecht zu beharrlich betont, als daß wir es ihnen gegenüber in Abrede stellen dürften.
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Lassen Sie mich nun noch ein paar Worte zur inneren Einheit zwischen den Deutschen sagen. Die staatliche Einheit ist erreicht; unter uns aber ist seit einiger Zeit weniger vom Glück dieser Einheit die Rede als von den Problemen und den Kosten des Zusammenwachsens.
Ich kann es gut verstehen, wenn die Stimmung in den sogenannten neuen Bundesländern mitunter gedrückt ist. Die meisten Menschen dort erleben Erfolg und Scheitern in einem. Sie erfahren nie geahnte Möglichkeiten und zugleich den Verlust bisheriger Berechenbarkeiten.
Wenn man es nicht am eigenen Leibe erlebt, kann man wahrscheinlich gar nicht ermessen, was es heißt, wenn von heute auf morgen ein ganzes Wirtschafts-, Gesellschafts- und Rechtssystem ausgewechselt wird, was es heißt, sich auf ganz neue Methoden der sozialen Sicherung einstellen zu müssen, und was es heißt, über Nacht eine völlige Veränderung der Lebensperspektiven, den Verlust eines sicher geglaubten Arbeitsplatzes, den Verlust erworbener Qualifikationen und Ansprüche, das Wertloswerden von Erfahrungs- und Orientierungswissen verkraften zu müssen.
Ich kann das alles, wie gesagt, nur ahnen. Aber gerade deshalb bewundere ich die Umstellungsleistungen, die dort immer noch erbracht werden, Tag für Tag.
({37})
Deshalb sage ich den Menschen in den alten Ländern: Machen Sie sich klar, wie privilegiert Sie 40 Jahre lang waren und wie privilegiert Sie heute noch sind, trotz aller Kosten und Opfer des Wiederaufbaus in den neuen Bundesländern!
({38})
Und dann das ganz andere, was ich überhaupt nicht verstehe: Unter uns Deutschen macht sich Erstaunen breit, daß wir auch geistige und mentalitätsmäßige Unterschiede feststellen. Dieses Erstaunen zeigt, wie wenig wir in den letzten Jahrzehnten wirklich voneinander gewußt haben und wie weit wir uns voneinander entfernt haben. Das böse Wort von der „Mauer in den Köpfen" geht um.
Aber haben wir denn im Ernst annehmen können, wir wären nach 40 Jahren der Trennung, der unterbundenen oder zumindest sehr erschwerten Information, der unterschiedlichen Lebenserfahrungen und dazu noch nach zweimaligem Generationenwechsel sowohl westlich als auch östlich der Mauer wirklich noch dieselben - wohlgemerkt, dieselben, von denen
uns unsere Großeltern erzählt haben? Das kann doch nicht sein, und es ist auch nicht so. Aber, meine Damen und Herren, damit muß sich doch fertig werden lassen, zumindest dann, wenn man nichts Unmögliches verlangt. Hinter dem Wort von der „Mauer in den Köpfen" steckt die Idee des Einheitsdeutschen, und das ist etwas in jedem Sinne des Wortes Unmögliches.
({39})
Es trifft zu: Deutschland ist am 3. Oktober 1990 nicht nur größer und bevölkerungsreicher geworden, es ist auch bunter, widersprüchlicher und sogar konfliktreicher geworden. Aber ist das eigentlich ein Schaden?
({40})
Uniformität ist noch nie das Wesensmerkmal unseres Landes gewesen, so gern das manche Stromlinienförmigen unter uns gehabt hätten. Unser Reichtum waren immer Vielfalt und Vielgestaltigkeit. Daraus ist unsere Kultur und wahrscheinlich auch unsere Kreativität entstanden. Da kann es doch nur von Nutzen sein, daß beide Teile unseres Volkes jetzt mit ganz neuen, ihnen bisher fremden Ideen und Erfahrungen konfrontiert werden. Was neu hinzugekommen ist - im Westen wie im Osten -, ist zwar vielleicht mühsam, aber es regt an, es muß anspornen, und es kann uns ohne weiteres zum Segen werden, wenn wir es nur zu nutzen verstehen.
({41})
Ich spreche jetzt nicht nur von den beruflichen Fähigkeiten der Ostdeutschen, von ihren Sprachkenntnissen und ihren Beziehungen zu Osteuropa, die wir eines Tages noch bitter nötig haben werden,
({42})
sondern ich spreche vor allem von ihrer politischen Leistung , die heute hinter einer Wolke von Irritationen zu verschwinden droht: von der Wiedererlangung der deutschen Einheit in Freiheit. Denn diese Freiheit, die Freiheit von 1989, ist durch das Volk selbst erkämpft worden. Die Westdeutschen haben beim Aufbau ihrer Demokratie bestimmt viel geleistet, aber viele haben es zunächst auf Grund einer totalen Niederlage und unter dem Drängen der Siegermächte getan. Die Ostdeutschen dagegen haben ihre Demokratie selbst erkämpft.
({43})
Ich finde - und ich sage dies auch auf die Gefahr hin, daß ich Protestschreiben aus Frankfurt und Neustadt an der Weinstraße bekomme -: Das ist mehr als Hambacher Fest und Paulskirche zusammen; denn sie sind, so bedauerlich das ist, letzten Endes gescheitert. 1989 ist gelungen.
({44})
Darauf kann man doch stolz sein. „Stolz" ist ein Wort, das ich ganz ungern in den Mund nehme, das hier aber wirklich einmal berechtigt ist.
({45})
Und das wird, wenn ich recht sehe, weder im Westen noch im Osten bisher ausreichend gewürdigt. Deshalb sage ich den Mitbürgern in den neuen
Bringen Sie Ihre Freiheitserfahrungen in den politischen Prozeß mit ein! Gestalten Sie Ihre Länder, Ihre Gemeinden nach diesen Erfahrungen, und geben Sie damit auch ein Beispiel für den Westen! Sie wissen doch am besten, wie schwer es ist, ohne Freiheit zu leben. Vergessen Sie das nicht, auch nicht unter den Belastungen, die diese Freiheit jetzt mitunter mit sich bringt! Vielleicht springt davon sogar etwas auf die kleinmütigen Westdeutschen über.
({0})
Die Westdeutschen aber frage ich noch einmal, ob sie sich wirklich darüber klar sind, wie privilegiert sie 40 Jahre lang waren, und ich frage sie weiter, wie willkommen ihnen die Menschen in den neuen Ländern nun eigentlich wirklich sind. Können sie ins Haupthaus ziehen, oder sollen sie in einem Anbau Ost wohnen bleiben? Wird akzeptiert, daß sie nach ihren eigenen Erfahrungen und Überzeugungen leben und mitbestimmen wollen, oder dürfen sie vielleicht nur mitspielen, wenn sie sich an die Spielregeln des Westens halten? Meine Damen und Herren, die Antwort auf diese künstlich gestellten Fragen kann doch nicht eigentlich problematisch sein. Aber dann ziehen wir doch auch die Konsequenzen daraus, so unbequem sie mitunter sein mögen!
Die Deutschen haben es mit ihrer Einheit nie leicht gehabt. Oft wurde diese Einheit nicht erreicht, weil die Opfer dafür zu groß waren oder doch wenigstens als zu groß empfunden wurden. Oft war es genau umgekehrt: Der äußere Nutzen der Einheit war groß und begann die Geister zu blenden. Zwischen Scylla und Charybdis hat sich folglich das deutsche Schicksal vollzogen.
Heute stehen wir wieder einmal an einer solchen Wegmarke. Wir haben keinen Grund, die Schwierigkeiten, die noch vor uns liegen, gering einzuschätzen. Aber wir haben auch keinen Grund, uns von ihnen überwältigen zu lassen. Unsere Großeltern und Eltern haben ganz andere Probleme bewältigt, meine Damen und Herren. Sorgen wir dafür, daß auch wir das zustande bringen! Wir haben alle Möglichkeiten. Es liegt an uns, was wir aus dem Geschenk des Jahres 1989 machen.
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Ich danke Ihnen, Herr Bundespräsident, und spreche Ihnen noch einmal die besten Wünsche für Ihr Amt aus.
Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, der Präsident des Senats, Bürgermeister Klaus Wedemeier.
Präsident des Bundesrates Klaus Wedemeier: Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Auf den Tag genau 45 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde zum zehntenmal das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Mit der heutigen Eidesleistung wechselt zum sechstenmal der Inhaber des höchsten Amtes in unserem Staat. Dieser Vorgang steht für die Erfolgsgeschichte unserer jungen deutschen Demokratie. Er wäre glückvolle Routine, würde heute nicht der erste Bundespräsident seine Amtszeit beginnen,
der von den Volksvertreterinnen und Volksvertretern aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und dem Ostteil Berlins mitgewählt wurde.
Ihre zweite Amtsperiode, verehrter Herr Dr. von Weizsäcker, begann kurz vor dem bedeutsamsten und zugleich bewegendsten Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Fall der Mauer hier in Berlin, der Stadt, der Sie als Regierender Bürgermeister selbst einige Jahre an vorderster Stelle gedient haben, bedeutete nicht nur das Ende der DDR, sondern auch der Bundesrepublik, wie sie bis dahin bestand. Seit dem 3. Oktober 1990 waren Sie auch Präsident der Deutschen in den neuen Ländern. Diesen Gliedern unseres Bundesstaates und ihren Bürgerinnen und Bürgern haben Sie fortan einen Großteil Ihrer Kraft und Ihrer Zeit gewidmet. Von Anfang an haben Sie die großartigen Chancen der deutschen Einheit herausgestellt und haben damit Mut gemacht. Sie haben aber auch die in der Vergangenheit wurzelnden und die in der Gegenwart entstehenden Probleme bei der Vollendung der deutschen Einheit offen angesprochen und damit einen wichtigen Beitrag zur notwendigen nüchternen Analyse unserer Situation geleistet.
Zum Verhältnis aller Deutschen zueinander haben Sie in Ihrer Dankesrede zur Verleihung des Heine-Preises 1991 einen wichtigen Satz gesagt, den ich hier zitieren möchte:
Versöhnung unter Menschen kann ohne Wahrheit nicht gelingen. Wahrheit ohne Aussicht auf Versöhnung aber ist unmenschlich.
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Meine Damen und Herren, das Amt des Bundespräsidenten ist mit eng begrenzten Kompetenzen ausgestattet. Eine Präsidialdiktatur, wie sie am Ende der Weimarer Republik entstanden war, sollte nach dem Willen der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes im Ansatz ausgeschlossen werden. Die Mitwirkung der Länder sollte gestärkt werden. Mit der Verteilung der Gewichte auf die Verfassungsorgane ist die Bundesrepublik bisher gut gefahren.
Der Föderalismus, der durch die Vielfalt und Vielgestaltigkeit seiner Glieder, durch die Wahrnehmung unterschiedlicher wirtschaftlicher Funktionen und durch unterschiedliche landsmannschaftliche Traditionen lebendig ist, vermittelt nicht nur Wir-Gefühl und stiftet Identität. Er sorgt zugleich dafür, daß die für ein Gemeinwesen notwendige Erfahrung von Zusammengehörigkeit außerhalb Deutschlands nicht als Bedrohung empfunden wird. Ein vielgestaltiger Föderalismus und sein Beitrag zur Verteilung staatlicher Macht ist ein Garant dafür, daß das vereinte Deutschland der Zukunft nicht das Deutschland der Vergangenheit sein wird.
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Er ist damit ein maßgeblicher Beitrag zur Vertrauensbildung bei unseren europäischen Nachbarn, mit denen wir zu einer Union zusammenwachsen wollen.
Ein demokratisches Staatswesen mit einem so vielgestaltigen Verfassungsaufbau und Institutionenge21160
Präsident des Bundesrates Klaus Wedemeier
füge braucht eine symbolische Klammer. Als solche hat das Amt des Bundespräsidenten von Anfang an gewirkt. Ihm wurde Gewicht verliehen durch die Persönlichkeiten, die es ausgefüllt haben, jede auf ihre charakteristische Weise, jede zum Wohle unseres Volkes und unseres Staates.
Die wirkungsvollste Aufgabe des Bundespräsidenten wird in der Verfassung nicht erwähnt: die öffentliche Rede. Richard von Weizsäcker ist ein Mann des Wortes. Er hat die Fähigkeit bewiesen, auf den Punkt zu bringen, was Sache ist. Er hat damit im Inneren die öffentliche Diskussion immer wieder auf ein höheres Niveau gehoben und ihr Klarheit und Richtung gegeben. Nach außen hat er dadurch das Ansehen Deutschlands gemehrt. Der Einfluß des Wortes auf historische Prozesse ist schwer zu bestimmen. Dennoch bin ich sicher: Die in zwanzig Sprachen übersetzte Rede zum 8. Mai 1985 in der Sie, verehrter Herr von Weizsäcker, die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands auch aus deutscher Sicht als „Tag der Befreiung" und als „Ende eines Irrweges deutscher Geschichte" bezeichnet haben, war ein Schlußstein im Fundament des Vertrauens, das Europa und die Welt der Bundesrepublik entgegenbrachten und das die deutsche Vereinigung in Frieden und Freiheit zuließ.
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Dieses Vertrauen darf nicht erschüttert werden. Aus Fremdenhaß und Menschenverachtung hervorgehende Morde, Brandanschläge, Überfälle und Hetzattacken sind jedoch erst in zweiter Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer außenpolitischen Wirkung zu bewerten. Die Humanität und unser Rechtsstaat stehen auf dem Spiel. Das ist der Kern der Bedrohung, die von Gewalttaten gegen ausländische und auch jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger ausgeht, neben dem unfaßlichen Leid, das sie über die Betroffenen und ihre Angehörigen bringen.
Schon Gustav Heinemann hat darauf hingewiesen, daß es in Art. 1 Satz 1 des Grundgesetzes nicht heißt: „Die Würde des Deutschen ", sondern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Der Rechtsstaat ist unteilbar. Er hat allen Menschen in seinem Geltungsbereich ohne Ansehen der Person, ihrer sozialen Position, ihrer Herkunft, Staats- oder Religionszugehörigkeit gleichermaßen Schutz zu gewähren. Er hat ebenfalls ohne Unterschied jeden Menschen, der die rechtlich fixierten Regeln unseres Zusammenlebens mißachtet, zu verfolgen und zu bestrafen. Die Gesetze reichen aus; sie müssen nur konsequent angewendet werden.
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Herr Dr. von Weizsäcker, Sie haben Ihre persönliche Autorität auch mit kritischen Äußerungen in die Waagschale geworfen. Ihre Anmerkungen zu einem Problemfeld, das der damalige Präsident des Bundesrates, der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, anläßlich Ihrer Eidesleistung als Bundespräsident vor genau zehn Jahren bereits mit dem Begriff „Politikverdrossenheit" benannt hatte, waren durchaus umstritten. In einer Ihrer Reden sprachen Sie einmal von der „Heilsamkeit des Streits". In diesem
Sinne ist es für die Demokratie förderlich, wenn auch der oberste Repräsentant des Staates ein in der Bevölkerung weit verbreitetes Unbehagen aufgreift und formuliert. Schließlich sind die politischen Systeme des sowjetischen Machtbereichs nicht zuletzt auch an der Irrealität ihrer politischen Kommunikation gescheitert, an der ritualisierten Leugnung der für alle greifbaren Probleme. Der mutige Eingriff des Bundespräsidenten in die öffentliche Diskussion um Gefährdungen und Fehlentwicklungen unserer Parteiendemokratie hat allein schon der Verdrossenheit entgegengewirkt und hat den Streit nach einer anfänglichen Verstärkung ganz wesentlich in eine heilsame Richtung befördert.
Sehr geehrter Herr Dr. von Weizsäcker, Sie haben die Bundesrepublik Deutschland nach außen wie innen mit Klugheit und Würde repräsentiert. Sie haben mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich die Rolle eines gerechten Mittlers zwischen den Organen unseres Staates wahrgenommen. Sie haben integrierend auf unsere Gesellschaft gewirkt; und Sie haben maßgeblichen Anteil an den fortdauernd nötigen Bemühungen gehabt, die Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder in unserer nun gemeinsamen Bundesrepublik heimisch werden zu lassen. Dafür spreche ich Ihnen den Dank des Bundesrates und der deutschen Länder aus.
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In diesen Dank schließe ich Sie, sehr verehrte Frau von Weizsäcker, mit ein. Sie haben das Wirken Ihres Mannes auf zurückhaltende, aber um so wirksamere Weise unterstützt. Besonders herzlich danke ich Ihnen für Ihr soziales Engagement. Es hat unserer oft unbarmherzigen Gesellschaft Mitmenschlichkeit gegeben.
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Meine Damen und Herren, heute führen wir nicht nur den neuen Bundespräsidenten in sein Amt ein. Mit dem heutigen Tag geht auch erstmals seit der Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Union im Februar 1992 in Maastricht die Ratspräsidentschaft an die Bundesrepublik über, bevor sie in einem halben Jahr von Frankreich übernommen wird, von dem Land, mit dem uns nach historischer Feindschaft heute eine tiefe Freundschaft verbindet.
Sie, verehrter Herr Bundespräsident Professor I lerzog, waren Präsident eines Verfassungsorgans, das mit seiner Entscheidung vom Oktober letzten Jahres den Weg in die Europäische Union freigegeben hat und das mehrfach durch seine Urteile den Föderalismus gestärkt und die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Länder betont hat. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht zugleich nach dem bündischen Prinzip des Einstehens füreinander die bundesstaatliche Solidargemeinschaft eingefordert. Dies ist ein starkes Moment der Zukunftssicherung für alle Glieder des Föderalismus, insbesondere auch für die neuen Länder.
Herr Bundespräsident, Sie sind ein überzeugter Europäer und ein überzeugter Föderalist zugleich. Beide Überzeugungen sind in der Tat heute die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der Grund dafür liegt im Ziel, ein Europa der Regionen zu schaffen, und
Präsident des Bundesrates Klaus Wedemeier
im Prinzip der Subsidiarität. Regionale und lokale Gebietskörperschaften sollen gestärkt, die nationale Vielfalt geschützt werden. Die Union der Völker Europas kann nur Bestand und Erfolg haben, wenn sie wie unser Bundesstaat das Prinzip der Einheit in der Vielfalt und der Vielfalt in der Einheit beherzigt. Nur dann können die Bürgerinnen und Bürger Europas so aktiv mitwirken, daß die Europäische Union zu ihrem Herzensanliegen wird. Deshalb muß Politik jeweils auf der Ebene gestaltet werden, wo größtmögliche Wirksamkeit bei größtmöglicher Bürgernähe erzielt werden kann. Darauf zu achten ist vornehme Aufgabe der Länder - innerhalb der Bundesrepublik über den Bundesrat, der kraft Verfassung das Recht und die Pflicht erhalten hat, in Angelegenheiten der Europäischen Union mitzuwirken, und auf europäischer Ebene durch den Ausschuß der Regionen, der in der politischen Praxis seine volle Bedeutung noch entfalten muß. Die deutschen Länder sind sich dabei Ihrer Unterstützung, Herr Bundespräsident, gewiß.
Die Menschen in unserem Land erhoffen sich von Ihnen, daß Sie als Anwalt des Bundesstaates, des Rechtsstaates und des Sozialstaates wirken. Dieses dritte tragende Prinzip unserer Verfassung, seine Beachtung und seine weitgehende Verwirklichung bilden die Basis für sozialen und damit auch inneren Frieden und garantieren so auch Friedfertigkeit nach außen. Denn wo die Hoffnungen auf ein Leben ohne Existenznöte zerbrechen, wo die Angst vor sozialem Abstieg zunimmt, wo das Leben vieler durch alltägliche Demütigungen beschwert wird, da wachsen Haß und Aggression, da wächst Unrecht. Dem Einhalt zu gebieten und vorzubeugen ist angesichts von fast vier Millionen Arbeitslosen, über acht Millionen Armen und Hunderttausenden von Obdachlosen in unserem Land die vordringlichste Aufgabe deutscher Politik auf allen Ebenen.
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Herr Bundespräsident, Sie haben in Ihrer unverkrampften Diktion bereits angekündigt, wie sehr Sie sich um die neuen Länder kümmern wollen. Wir können Sie dazu nur ermuntern. Die Menschen dort brauchen Sie, Ihre Fähigkeit zum Zuhören, Ihre Neigung zur sorgfältigen und nüchternen Analyse und Ihre Begabung zu mitreißendem Optimismus. Unser
ganzes Land braucht diese Tugenden, damit es wirklich zusammenwachsen kann.
Sie, Herr Bundespräsident, haben jüngst gesagt, die Unterstützung der Menschen in den neuen Bundesländern durch uns Westdeutsche sei ein ganz normales Gebot menschlichen Zusammenlebens. Wir haben es auch heute wieder gehört. Dafür müsse man nicht den Begriff der Nation bemühen, der Begriff des Volkes reiche dafür aus. Dies ist ein wichtiges Signal nach innen wie nach außen. Und es stimmt mich zuversichtlich, daß Sie unser Land mit der gebotenen Selbstverständlichkeit, Zurückhaltung und Gelassenheit repräsentieren werden.
Im Namen des Bundesrates, dem Sie selbst viele Jahre angehörten, wünsche ich Ihnen und Ihrer verehrten Frau für die vor Ihnen liegenden großen Aufgaben Gesundheit, Kraft und Glück.
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Bei seiner Verabschiedung vor nunmehr 35 Jahren sagte der erste Bundespräsident Theodor Heuss, ein Staat könne zerbrechen oder zerbrochen werden. Ein Volk aber wolle weiterleben, es bedürfe der Herberge.
Herr Bundespräsident, wir alle hoffen und sind guter Zuversicht, daß Sie einen Prozeß mitgestalten werden, in dem unserem vereinten Land und seinen Menschen das europäische Haus zur Herberge wird.
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Damit kommen wir an das Ende unserer Sitzung.
Ich danke noch einmal dem scheidenden Bundespräsidenten und seiner Ehefrau Marianne.
Ich wünsche unserem neuen Bundespräsidenten recht viel Erfolg, Glück bei seiner Arbeit und alle guten Wünsche für Sie, Frau Herzog, und schließe ein, daß wir gut vorankommen, daß Sie jetzt aber erst einmal ein paar Tage Urlaub haben - wenig genug wird es sein.
Mit den besten Wünschen für Sie und für Deutschland schließe ich die gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates.
Die Sitzung ist geschlossen.