Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserer Sitzung in Berlin. Ich eröffne die Sitzung und komme zunächst zu einigen Mitteilungen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung um drei Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses erweitert werden. Es handelt sich um die Beschlußempfehlungen zum Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz auf Drucksache 12/7832, zum Fünften Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes auf Drucksache 12/7996 und zum Sachenrechtsänderungsgesetz auf Drucksache 12/8204.
Die Zusatzpunkte werden heute am Ende der Tagesordnung aufgerufen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann können wir so verfahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Verfassungsdebatte
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 12/6633 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 12/8165 Berichterstattung:
Abgeordnete Hermann Bachmaier Norbert Geis
Dr. Friedrich-Adolf Jahn ({2}) Detlef Kleinert ({3})
Dr. Rupert Scholz
Dr. Hans-Jochen Vogel
b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines .. . Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
- Drucksache 12/6323 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4})
- Drucksache 12/8165 -
Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a -
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/8166 Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth ({6}) Dr. Wolfgang Weng ({7}) Thea Bock
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Annahme einer neuen Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes
- Drucksache 12/6570 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8})
- Drucksache 12/8165 -
Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a -
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({9}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/8167 Berichterstattung:
Abgeordnete Thea Bock
Adolf Roth ({10})
Dr. Wolfgang Weng ({11})
d) Zweite und dritte Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verfassungsreform
- Drucksache 12/6686 -
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({12})
- Drucksache 12/8165 -
Berichterstattung:
Abgeordnete - wie bei 17 a -
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({13}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/8169 -Berichterstattung:
Abgeordnete Thea Bock
Adolf Roth ({14})
Dr. Wolfgang Weng ({15})
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({16}) zu dem Antrag des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchführung eines Verfassungsreferendums nach Artikel 146 des Grundgesetzes
- Drucksachen 12/6716, 12/8165 -Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a -
f) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Werner Schulz ({17}), Konrad Weiß ({18}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes über die Direktwahl des Bundespräsidenten/der Bundespräsidentin
- Drucksache 12/6105 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19})
- Drucksache 12/8165 -
Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a -
g) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Köppe, Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({20})
- Drucksache 12/5695 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21})
- Drucksache 12/8165 -
Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a -
h) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Ingrid Köppe, Konrad Weiß ({22}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid im Grundgesetz
- Drucksache 12/3826 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23})
- Drucksache 12/8165 -
Berichterstattung:
Abgeordnete - wie bei 17 a -
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({24}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/8168 Berichterstattung:
Abgeordnete Thea Bock
Adolf Roth ({25})
Dr. Wolfgang Weng ({26})
i) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgestzes ({27})
- Drucksache 12/7109 -Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({28})
- Drucksache 12/8165 -
Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a -
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({29}) zu dem Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages
- Drucksachen 12/1590, 12/1670 - und Beschluß des Bundesrates - Drucksache 741/91 ({30}) -- Drucksachen 12/6000, 12/8165 -
Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a -
k) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konrad Elmer, Susanne RahardtVahldieck, Dr. Christoph Schnittler und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({31})
- Drucksache 12/6708 ({32})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({33})
- Drucksache 12/8165 Berichterstattung: Abgeordnete - wie bei 17 a Es liegen zahlreiche Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache bis ca. 17 Uhr dauern. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Um ca. 17 Uhr werden die Abstimmungen beginnen. Zahlreiche Abstimmungen werden namentlich erfolgen. Dabei wird teilweise nach dem gewohnten Verfahren mit den Abstimmungskarten abgestimmt. Einige Abstimmungen erfolgen mit besonderen Stimmzetteln. Die Stimmzettel werden eine Stunde vor Beginn der Abstimmung hier im Plenarsaal und an den Eingangstüren verteilt. Das Abstimmungsverfahren wird vor den Abstimmungen erläuPräsidentin Dr. Rita Süssmuth
tert. Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung werden, soweit sie nicht schriftlich zu Protokoll gegeben werden, nach den Abstimmungen aufgerufen.
Ich weise darauf hin, daß nach den Abstimmungen zur Änderung des Grundgesetzes noch weitere Abstimmungen zu drei Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschusses und zum Gesetzentwurf zur Regelung der finanziellen Voraussetzungen für die Neugliederung der Länder Berlin und Brandenburg durchgeführt werden. Debatten sind dazu nicht vorgesehen.
Ich komme nun zur Eröffnung der Aussprache. Als erster Redner hat Kollege Dr. Friedrich-Adolf Jahn das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verfassungen beinhalten auf höchster Normebene den Grundkonsens der Gesellschaft. Verfassungen müssen deshalb mehr sein als nur eine Momentaufnahme politischer Mehrheitsverhältnisse. Verfassungsänderungen haben sich auf das sachlich Unabdingbare zu beschränken. In einer Welt, in der vieles im Umbruch ist, muß die Verfassung Kontinuität gewährleisten.
Wer einer Änderung der Verfassung das Wort redet, trägt also - wie jeder Veränderer - die Beweislast ihrer Notwendigkeit. Er muß dartun, warum und mit welchem Ziel er die Verfassung ändern will.
Meine Damen und Herren, dies ist der Ausgangspunkt, mit dem die CDU/CSU in die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission und in die parlamentarischen Beratungen gegangen ist.
Von diesem Ansatz aus wird verständlich, daß in der Gemeinsamen Verfassungskommission rund 80 Änderungsanträge zum Grundgesetz beraten worden sind, jetzt aber im interfraktionellen Gesetzentwurf nur sieben Vorschläge gemacht werden, die Aussicht auf verfassungsändernde Mehrheit besitzen.
Deshalb gleich vorweg: Die geleistete Arbeit darf nicht allein an dem gemessen werden, was verändert werden soll; die geleistete Arbeit ist vor allem an dem zu messen, was wir am Grundgesetz bewahren wollen.
({0})
Was soll verändert werden? Ich nenne zunächst die Einführung eines Staatsziels Umweltschutz. Umweltschutz ist ein existentielles, langfristiges Interesse des Menschen. Die sich daraus ergebende Herausforderung an den Staat war bei Schaffung des Grundgesetzes noch nicht absehbar. Ein hinreichender Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist im geltenden Verfassungsrecht bislang nicht verankert. Reformüberlegungen für ein Staatsziel Umweltschutz sind in den vergangenen Legislaturperioden stets gescheitert.
Der Gemeinsamen Verfassungskommission ist es nach langem Ringen gelungen, eine mehrheitsfähige Formulierung zu finden, die den Umweltschutz in die
Gesamtheit der verfassungsmäßigen Ordnung einbettet. Ein einseitiger Prioritätsanspruch ist damit nicht verbunden, der Industriestandort Deutschland nicht gefährdet. Auch das Staatsziel Umweltschutz muß sich der Abwägung mit anderen Rechtsgütern stellen.
Ich nenne ein weiteres Staatsziel: die Förderung der Gleichberechtigung von Frau und Mann. Zwar enthält unser Grundgesetz schon jetzt das Gebot der Gleichberechtigung; es ist jedoch unbestreitbar, daß Frauen - etwa im Berufsleben - tatsächlichen Benachteiligungen ausgesetzt sind.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es Aufgabe des Staates, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern. Dies wollen wir tun - nicht in der Form eines einklagbaren Grundrechts, sondern, wie gesagt, als Staatszielbestimmung. Der Gleichberechtigungssatz soll in Richtung auf verbesserte Chancengleichheit vor allem in den Startbedingungen ausgebaut werden. Das ist das Entscheidende: Die neue Regelung zielt auf Gleichheit der Ausgleichschancen, nicht aber - wie ursprünglich von der SPD gefordert - auf Ergebnisgleichheit.
Meine Damen und Herren, wir haben uns auch auf einen besonderen Diskriminierungsschutz zugunsten behinderter Menschen verständigt. Schon immer ist die Union dafür eingetreten, daß Behinderte nicht benachteiligt werden dürfen.
({1})
Selbst Herr Vogel hat das nie bestritten. Deshalb wiederhole ich das: Schon immer ist die Union geschlossen dafür eingetreten, daß Behinderte nicht benachteiligt werden dürfen.
({2})
Es ist eine ganz andere Frage, ob man in das Grundgesetz noch weitere Bestimmungen aufnimmt. Wir sind davon überzeugt - nach einer längeren Diskussion -, daß die Behindertenanliegen im Grundgesetz bereits verankert sind, nämlich über die Menschenwürdegarantie und das Sozialstaatsgebot. Wir haben aber gesagt: Wenn wir es noch einmal ausdrücklich hereinschreiben, ist das ein Signal an die Gesellschaft, für Behinderte mehr zu tun. Dies beschließen wir heute gemeinsam.
Herr Kollege Jahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?
Bitte.
Herr Kollege Jahn, ich freue mich ja, daß Sie jetzt konstatieren, daß die CDU schon immer dafür war, das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen festzuschreiben. Aber sagen Sie mir bitte: Warum haben noch im April Vertreter Ihrer Partei gesagt, daß sie
nicht dafür sind, das ins Grundgesetz aufzunehmen? Das ist immerhin erst zwei Monate her.
Ich habe das gerade ausgeführt. Es ist unstreitig, daß die Belange der Behinderten bereits jetzt im Grundgesetz verankert sind, und zwar im Rahmen der Menschenwürde und des Sozialstaatsgebots.
({0})
Das hat nie jemand bestritten.
Es war eine andere Frage, ob man gleichwohl noch eine Formulierung ins Grundgesetz schreibt, daß Behinderte nicht benachteiligt werden dürfen. Das ist für alle in diesem Hause, so meine ich, selbstverständlich.
({1})
Der Grund, es aufzunehmen, ist letztlich die Überlegung, daß durch eine solche ausdrückliche zusätzliche Bestimmung ein Appell an die Gesellschaft gerichtet werden soll, sich dementsprechend zu verhalten.
Meine Damen und Herren, neben Ausführungen zur Länderneugliederung und kommunalen Selbstverwaltung haben wir das Nähere in den Ausschüssen debattiert.
Ich hoffe, daß die Vorschläge des Rechtsausschusses insoweit heute hier im Bundestag und dann auch im Bundesrat die erforderliche Mehrheit finden. Ich möchte eines betonen: Die Demokratie lebt von Kompromissen und nicht von der Politik des Alles oder Nichts.
Meine Damen und Herren, wesentlicher und vielleicht sogar vorrangiger Auftrag aus Art. 5 des Einigungvertrages war die Überprüfung des Bund-Länder-Verhältnisses, und zwar mit dem Ziel einer Stärkung des Föderalismus. Der Föderalismus kann seine gewaltenteilende Wirkung nur entfalten, wenn Bund und Länder gleichermaßen über substantielle Zuständigkeiten verfügen.
Hier wird geltend gemacht, daß sich das Schwergewicht in den letzten 40 Jahren deutlich zu Lasten der Länder verschoben hat. Wir haben in langwierigen und mühsamen Verhandlungen einen Kompromiß gefunden und nicht etwa einseitig Kompetenzen auf die Länder verlagert, sondern durchaus auch neue Kompetenzen für den Bund begründet. Ich erinnere insoweit an die Staatshaftung, die Gentechnologie, die Organtransplantation und die Fortpflanzungsmedizin.
Wie Sie wissen, hat dieser Kompromiß, soweit er die Neufassung der Bedürfnisklausel des Art. 72 und die Rahmenkompetenz im Hochschulwesen betrifft, nicht die Zustimmung meiner Fraktion gefunden.
({2})
Mein Wunsch ist, daß es auf diesem Felde im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen so schnell wie
möglich doch noch gelingt, die Interessen von Bund und Ländern angemessen auszugleichen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich sagte eben: nur zwingend notwendige Gesetzesänderungen. Wenn wir zu etwas nein sagen, kann daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß wir materiell dagegen seien.
({4})
- Herr Kollege Vogel, wir sind für Datenschutz. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns in seiner Rechtsprechung gesagt, daß der Datenschutz in der Verfassung der Bundesrepublik bereits jetzt hinreichend verankert ist.
Ein anderes Beispiel: Wir sind für Tierschutz. Eine andere Fage ist, was davon in der Verfassung verankert werden soll.
({5})
Nach unserer Auffassung umschließt der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, wie er jetzt in das Staatsziel Umweltschutz Eingang findet, wesentliche Aspekte auch des Tierschutzes. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, daß das Grundgesetz den Tierschutz als Regelungsbereich in der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 Nr. 20 ausdrücklich aufführt.
Der Bundesgesetzgeber hat von dieser Kompetenz - international anerkannt - vorbildlich Gebrauch gemacht. Deshalb möchte ich den § 1 des Tierschutzgesetzes zitieren. Er lautet:
Zweck des Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.
Wo etwa im Rahmen von Tierhaltung, des Transports von Tieren oder im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen und medizinischen Forschung Bedarf an einer weiteren Konkretisierung bzw. Verbesserung des Tierschutzes besteht, kann und muß dies auf einfach-rechtlicher Ebene in Abwägung mit anderen Rechtsgütern geschehen. Die einfach-rechtliche Ebene ist der richtige Ort, um mit Bedacht zu klären und zu entscheiden, wo die genaue Abgrenzung der Tierwelt zur Pflanzenwelt verläuft und welche Tiere in welchen Situationen und in welchem Umfang wirksam zu schützen sind. Entsprechende Konkretisierungen bzw. Differenzierungen lassen sich auf Verfassungsebene kaum - ich sage sogar: nicht - herbeiführen.
Meine Damen und Herren, ein weiteres Beispiel. Die CDU/CSU ist für den Minderheitenschutz. Eine andere Frage ist nur, was in der Verfassung geregelt werden soll. Die Bundesrepublik schützt ihre nationalen Minderheiten, sowohl individuell über Art. 3 des Grundgesetzes wie auch als Gruppe. Der Individualrechtsschutz wird insbesondere durch die allgemeiDr. Friedrich-Adolf Jahn
nen Freiheitsrechte unserer Verfassung gewährleistet. Beim gruppenrechtlichen Minderheitenschutz geht es in der Sache um die Unterstützung der Minderheiten bei ihren Bemühungen, ihre kulturelle Identität als Gruppe in Deutschland zu bewahren. Insoweit aber besteht kein Bedarf für eine bundesverfassungsrechtliche Regelung, da die Landesverfassungen dort, wo es geboten ist, bereits Minderheitenschutzartikel enthalten. So werden die Volksgruppen der Friesen und der Sorben sowie die dänische Minderheit durch Minderheitenschutzregelungen in den Verfassungen der Länder Schleswig-Holstein, Brandenburg und Sachsen als Minderheit geschützt.
Die Landesverfassungen sind hierfür auch der richtige Ort. Der Schutz und die Förderung einer nationalen Minderheit als Gruppe ist originäre Aufgabe der Länder. Unabhängig davon haben wir in den Ausschußberatungen angeregt, einen auf die Sorben, Friesen und die dänische Minderheit bezogenen Minderheitenschutzartikel in die Verfassung aufzunehmen. Die SPD hat dies abgelehnt.
Herr Kollege Jahn, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Hirsch?
Wenn das nicht angerechnet wird, Frau Präsidentin.
Nein.
Herr Kollege Hirsch.
Herr Kollege, wenn Sie alle Grundsätze aus der Verfassung herausstreichen wollen, die zufriedenstellend einzelgesetzlich geregelt sind, müßten Sie dann nicht sehr viel mehr aus der Verfassung herausstreichen, als sich nur zu weigern, den Tierschutz aufzunehmen?
({0})
Und muß eine Verfassung nicht sehr viel mehr sein; muß sie nicht vielmehr etwas ausdrücken, was das Lebensgefühl und die Zielsetzung einer Gesellschaft beinhaltet?
({1})
Herr Kollege Hirsch, unser Grundgesetz zeichnet sich dadurch aus, daß es in abstrakten Formulierungen gelungen ist, nahezu alle Schichten der Bevölkerung zu erfassen. Wir sind jetzt in der Gefahr, durch Einzelregelungen unser Grundgesetz zu atomisieren und immer nur auf einzelne Gruppen zuzuschneidern. Das ist nicht zum Wohle der Verfassung und der Bürger dieses Landes.
({0})
Meine Damen und Herren, ich möchte weiter hervorheben, daß die Wertorientierungen des Grundgesetzes der CDU/CSU am Herzen lagen, und sie sind auch gewahrt worden.
Es ist gefordert worden, in der Präambel die Bezugnahme auf Gott zu streichen. CDU und CSU haben dem entgegengehalten, daß die Bezugnahme auf Gott in der Präambel weder eine Verpflichtung des einzelnen auf das Christentum hin noch eine Charakterisierung der Bundesrepublik Deutschland als christlicher Staat beinhaltet. Vielmehr sollte mit dieser Formulierung das Grundverständnis der Mitglieder des Parlamentarischen Rates dokumentiert werden, daß es überstaatliche Normen und Werte gibt, über die auch der Verfassungsgeber nicht verfügen kann. Grundaussage der Präambel ist also die Einsicht in die Endlichkeit allen menschlichen Tuns und Handelns. Dieser Grundgehalt der Verfassung ist und bleibt für die CDU/CSU auch in Zukunft weitere Verpflichtung.
({1})
Das zweite Beispiel für die Wertorientierung besteht darin, daß die CDU/CSU an dem besonderen Schutz für Ehe und Familie im Grundgesetz festhalten will. Die geltende Regelung bedeutet keine Diskriminierung anderer Lebensformen. Wer in einer anderen Lebensgemeinschaft leben möchte, hat dazu bereits jetzt die umfassende Freiheit. Er wird darin auch grundrechtlich geschützt, nämlich durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Art. 2 des Grundgesetzes.
Meine Damen und Herren, ich bitte deshalb, zu unterscheiden, daß der besondere Schutz für Ehe und Familie in Art. 6 etwas ganz anderes ist als der Schutz der persönlichen Freiheit in Art. 2. Die Ordnungsfaktoren Ehe und Familie, die früher galten, haben auch heute noch aktuelle Bedeutung. Deshalb möchten wir nicht, daß an Art. 6 des Grundgesetzes gerüttelt wird.
({2})
Meine Damen und Herren, die Präambel ist die Magna-Charta einer Verfassung. Sie zeigt den politischen Weg und ist ein politisches Dokument. Deshalb möchten wir sie für tagespolitische Ereignisse auch nicht ändern. Deshalb werden wir es ablehnen, daran zu rütteln.
An die Sozialdemokraten gewandt: Auch wir sind für Gerechtigkeit;
({3})
auch wir sind für Solidarität; auch wir sind für innere Einheit, aber das alles braucht nicht in der Präambel des Grundgesetzes verankert zu werden. Nicht jedes tagespolitische Ereignis soll für eine Veränderung herhalten.
({4})
Nehmen wir das Thema innere Einheit: In eine Verfassung, in eine Präambel gehören langfristige Aspekte. Nach unserer Politik soll die innere Einheit bereits mittelfristig herbeigeführt werden, und wir möchten nicht durch eine Aufnahme in die Präambel eine politische Diskussion, die da lautet: Dies ist eine Aufgabe, die sich mittelfristig nicht erledigen läßt.
({5})
Meine Damen und Herren, aufs Ganze gesehen ist das Grundgesetz ein gelungener Entwurf gewesen. Am 40. Jahrestag haben wir alle das Grundgesetz gefeiert, und alle haben gesagt: Es hat sich bewährt. Deshalb: Als Rahmenordnung der Freiheit hat sich das Grundgesetz auch als den jeweiligen Herausforderungen gewachsen erwiesen. Das Grundgesetz sollte deshalb nicht einseitig geändert werden.
Das Grundgesetz ist vom Parlamentarischen Rat bewußt als eine offene und zurückhaltende, aber in den Grundentscheidungen strikt normative Ordnung verstanden und angelegt worden. Deshalb sollte die Ausgestaltung des Grundgesetzes nur dort verändert werden, wo es dringend erforderlich ist. Die aufs Ganze gesehen moderaten Ergänzungsvorschläge bestätigen im Ergebnis den Ausgangspunkt der Beratungen, daß kein Anlaß für eine Totalrevision des Grundgesetzes besteht.
Meine Damen und Herren, wer für eine neue Verfassung streitet - wie die PDS -, muß sich sagen lassen, daß die PDS eine andere, nämlich sozialistische Republik mit einer neuen Verfassung will.
({6})
- Ja, auch an die Adresse der SPD muß gesagt werden: Wer solche Absichten bekundet, sollte für eine Zusammenarbeit nicht in Betracht kommen.
({7})
Wenn ich das hinzufügen darf - wir haben in den letzten Tagen ja einiges erlebt -: Sie sollten bei der SPD nicht der Versuchung erliegen, aus machtpolitischen Überlegungen die PDS/Linke Liste hoffähig zu machen.
({8})
Meine Damen und Herren, die verfassungspolitische Debatte läßt sich nicht allein an der Quantität der vorgeschlagenen Grundgesetzänderungen ablesen. Selbst wenn eine vordergründige politische Öffentlichkeit rasch dazu neigt, die gesamte Arbeit der Verfassungskommission wegen der in ihrer Zahl doch nur geringen Änderungen abzuqualifizieren oder gar für gescheitert zu erklären, so bleibt demgegenüber in aller Deutlichkeit festzuhalten: Das Grundgesetz ist in seiner Gesamtheit durch einen äußerst intensiven und vielfach grundlegenden Verfassungsdiskurs gegangen. Wir haben lange viele Stunden getagt. Meine Damen und Herren, wir haben eine Diskussion gehabt, die mit dieser Intensität seit den Beratungen des Parlamentarischen Rates nicht stattgefunden hat. Aus diesem Diskurs ist das Grundgesetz gestärkt hervorgegangen; denn zumindest die Mehrheit hat sich dafür ausgesprochen - bei 80 gestellten Änderungsanträgen -, daß sich das, was als Status quo im Grundgesetz steht, bewährt hat.
Stabilität und Kontinuität des Grundgesetzes sind auch nötig, angesichts der Turbulenzen, die der Prozeß der inneren Einheit und der Prozeß der europäischen Integration auslösen. Wo vieles in Bewegung gerät, meine Damen und Herren, sollten die rechtlichen Rahmenbedingungen staatlichen Handelns, also unsere Verfassung, möglichst unangetastet bleiben.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir zum Abschluß noch eine persönliche Bemerkung. Nach 22jähriger parlamentarischer Tätigkeit werde ich wie auch der Kollege Vogel in einigen Wochen aus dem Deutschen Bundestag ausscheiden. In der letzten Rede im Deutschen Parlament möchte ich daher Dank sagen.
Ich möchte danksagen für freundschaftliche Verbundenheit und kollegiale Ratschläge - oftmals über Parteigrenzen hinweg. Das deutsche Volk hat sich ausweislich der Präambel unseres Grundgesetzes ein Grundgesetz mit dem Vorspann gegeben:
Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen . . .
Mein Wunsch: Stellen wir uns auch in Zukunft dieser Verantwortung! Bleiben unser Volk und Vaterland in guter Verfassung - mit unserer Verfassung!
Ich danke Ihnen.
({9})
Als nächster spricht der Kollege Dr. Hans-Jochen Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Unsere heutige Debatte beschäftigt sich nicht mit Routinefragen, wie sie uns in der Flut unserer Tagesordnungspunkte in jeder Sitzungswoche begegnen. Unsere heutige Debatte hat vielmehr die Verfassung unseres Gemeinwesens, also die zentralen Fragen unserer Daseinsordnung und damit unseres Zusammenlebens zum Gegenstand. Ich finde, es ist deshalb gut, daß diese Debatte hier im Reichstagsgebäude in Berlin stattfindet.
({0})
Das unterstreicht den besonderen Charakter.
Wegen ihres besonderen Charakters muß sich unsere Debatte auch in ihrer Ernsthaftigkeit und in ihrem Verantwortungsbewußtsein an den Maßstäben messen lassen, die der Parlamentarische Rat bei der Erarbeitung des Grundgesetzes vor über vier JahrDr. Hans-Jochen Vogel
zehnten gesetzt hat. Ich meine, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns bei dieser Gelegenheit durchaus auch an diejenigen erinnern, die vor fast 150 Jahren in der Paulskirche um die erste freiheitliche und rechtsstaatliche Verfassung unseres Deutschlands gerungen haben,
({1})
und ebenso an die Männer und Frauen, die vor 75 Jahren in einer bedrückenden Situation die Verfassung von Weimar geschaffen haben.
Wenn über die Verfassung und über Ergänzungen und Änderungen ihres bisherigen Inhalts gesprochen wird, dann muß man sich einen Moment auf die Aufgaben besinnen, die sie erfüllen soll, aber auch darauf, wie sie beschaffen sein muß, um diesen Aufgaben gerecht zu werden. Wir sagen - ich glaube, fast alle in diesem Hause können sich dem anschließen -: Aufgabe der Verfassung ist es, die Leitprinzipien zu bestimmen, nach denen Macht ausgeübt wird und sich die politische Einheit aus der Vielzahl der wirkenden Kräfte immer aufs neue bilden soll.
({2})
In diesem Sinne stellt sie zugleich die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens dar, die dem politischen Prozeß nicht nur einen Rahmen gibt, sondern den Menschen auch richtungsweisende Orientierungen geben soll. Nur auf diese Weise kann die Verfassung dazu beitragen, daß die Bürgerinnen und Bürger das Gemeinwesen als ihren Staat erkennen, sich in ihm wiederfinden und sich in das Gemeinwesen eingliedern können. Daß das dem Grundgesetz vor 45 Jahren gelungen ist, ist die große Leistung der damaligen Männer und Frauen gewesen.
({3})
Das, was ich da umrissen habe, vermag die Verfassung zu leisten, wenn sie sich nach den Worten Konrad Hesses, des Altmeisters des deutschen Verfassungsrechts, „mit den spontanen Kräften und lebendigen Tendenzen der Zeit so zu verbinden vermag, daß sie diese Kräfte zur Entfaltung bringt und einander zuordnet." Tut sie das nicht, „ignoriert sie den geistigen, sozialen, politischen oder ökonomischen Entwicklungsstand ihrer Zeit, dann fehlt ihr" - wiederum drücke ich es mit Hesses Worten aus - „der unerläßliche Keim ihrer Lebenskraft" . Sie vermag dann nicht zu erreichen, daß der Zustand eintritt, den sie im Widerspruch zu diesem Entwicklungsstand zu normieren versucht. Darum genau geht es.
Darum, welche Kräfte und Tendenzen unserer Zeit im Grundgesetz ihren Niederschlag finden sollen, geht auch in dieser Debatte unser Streit. Denn bei aller Übereinstimmung darüber, daß sich das Grundgesetz in seinen Kernelementen bewährt hat, und bei all Ihrer, meine Damen und Herren von der Union, immer wieder öffentlich bekundeten und ebenfalls hier gerade ausgeführten grundsätzlichen Abneigung gegen Änderungen des Grundgesetzes wollten und wollen auch Sie die Verfassung modifizieren, wollen
auch Sie neu hervorgetretene Tendenzen auf das Grundgesetz einwirken lassen, und zwar nicht nur in Randfragen, sondern durchaus in seiner Substanz. Aber bei Ihnen - erlauben Sie mir diese Bemerkung - sind es nach meinem Urteil rückwärtsgerichtete Tendenzen, sind es Tendenzen, die hinter den Stand des Grundgesetzes zurückführen.
({4})
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie wollten das Individualrecht auf Asyl abschaffen,
({5})
das die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes für eine ihrer wichtigen Errungenschaften hielten. Sie wollten dieses Grundrecht durch eine Ermessensentscheidung, durch eine Institutsregelung ersetzen. Nur mit Mühe ist es gelungen, in einem Kompromiß, der nicht wenigen unverändert zu schaffen macht, den Grundrechtscharakter des Asyls wenigstens im Prinzip im ersten Absatz zu erhalten.
Sie wollen eine möglichst weitreichende Befugnis zum weltweiten Einsatz der Bundeswehr. Einige von Ihnen, und zwar bis an die Spitze Ihrer Fraktion, wollen sogar den Einsatz der Bundeswehr im Innern seines an präzise Voraussetzungen geknüpften absoluten Ausnahmecharakters entkleiden und ebenfalls zu einer Ermessensfrage machen. Auch das ist eine deutliche Abkehr vom bisherigen Verfassungskonsens. Das darf doch in einem Parlament gesagt werden.
({6})
Ich leugne gar nicht, daß es in unserer Gegenwart Kräfte und Tendenzen gibt, die das befürworten und verlangen, die sogar gerne noch weiter gehen würden. Aber es sind doch Kräfte und Tendenzen, die eher am rechten Rande unseres Spektrums zu finden sind, denen damit entgegengekommen wird. Es sind Kräfte - ich bitte, darüber doch ein wenig nachzudenken -, die die Lehren unserer Geschichte historisieren, d. h. aber: zu den Akten legen möchten, die beispielsweise auch mit der europäischen Einigung brechen und die - das kann ich erst seit 14 Tagen sagen, weil der Text erst seit 14 Tagen vorliegt - der Nation aufs neue eine transzendentale Dimension beimessen wollen, also eine Dimension, die - jedes Wörterbuch der Philosophie sagt, was Transzendenz bedeutet - die Grenzen der Erfahrung des Bewußtseins und des Diesseins überschreitet.
({7})
- Meine Damen und Herren, es ist ja gut, wenn meine Anregung zur Nachdenklichkeit sofort aufgegriffen wird,
({8})
aber ich bitte, mir die Nachdenkzeiten nicht anzurechnen. - Das heißt aber, daß die Zugehörigkeit zu einer Geschichts-, Sprach-, Kultur- und Gefühlsgemeinschaft - das nämlich ist die Nation bei nüchterner Prüfung - nicht als ein wichtiger Lebenssachverhalt neben anderen angesehen wird, sondern sie - so
heißt es in dem Buch vom Kollegen Schäuble - „der religiösen Transzendenz als mögliche Ersatzalternative gegenübergestellt" wird.
({9})
Um es klar zu sagen, meine Damen und Herren von der Union: Wir sind uns bewußt, daß wir Glieder dieser Nation sind, aber eine solche Überhöhung des Nationenbegriffs wollen wir nicht.
({10})
Wir wollen ganz anderen Kräften und Tendenzen die Chance geben, sich mit der Verfassung zu verbinden und so deren Lebens- und Wirkungskraft zu verstärken:
({11})
beispielsweise den Tendenzen, die die Bürgerbewegung in der ehemaligen DDR zum gewaltlosen Erfolg geführt haben;
({12})
denen, die im konziliaren Prozeß für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung innerhalb der christlichen Kirchen manifest geworden sind;
({13})
auch den Kräften, die überzeugt sind, daß der Schutz der Schwächeren in unserem Gemeinwesen nicht abgebaut, sondern verstärkt werden muß.
({14})
Nur so bleibt die „Verfassung geprägte Form, die lebend sich entwickelt", um ein Wort Adolf Arndts aufzugreifen.
Ungeachtet dieser grundlegenden Auffassungsunterschiede, die jene bedenken mögen, die in jüngster Zeit gerne behaupten, zwischen den großen politischen Kräften unseres Landes gäbe es eigentlich gar keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten mehr, haben wir uns in einem langen und zum Teil zermürbenden Diskussionsprozeß in der Gemeinsamen Verfassungskommission und zuletzt im Rechtsausschuß auf einige Verfassungsänderungen verständigen können. Ich will das in keiner Weise geringschätzen und gerade auch im Blick auf den schon anwesenden einen Vorsitzenden, Herrn Scholz, gerne sagen: Ich würdige den sachlichen und - trotz aller Gegensätze - von wechselseitigem Respekt getragenen Umgangston, besonders in der Gemeinsamen Verfassungskommission, auch heute noch einmal ausdrücklich und danke allen, die daran beteiligt waren - und das ging quer durch die Fraktionen.
({15})
In der Tat: Der schon als Art. 23 in Kraft getretene Europaartikel, die Aufnahme der beiden Staatsziele „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen" und „Frauenförderung" einschließlich der Beseitigung bestehender Nachteile - die Frauen werden es nicht unterschätzen, daß künftig im Verfassungsdokument steht, daß für sie Nachteile bestehen; das hat erhebliche Beweiskraft - und die Klarstellung, daß die Selbstverwaltungsgarantie auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung umfaßt, sind keine Kleinigkeiten.
Wer sie heute geringschätzt, der möge sich daran erinnern, welche substantiellen Wirkungen der von Elisabeth Selbert erkämpfte Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" im Laufe der Zeit entfaltet hat.
({16})
Auch dieser Satz ist damals von vielen, zumeist von Konservativen - aber ich muß hinzufügen: auch von Leuten meiner eigenen Partei -, als überflüssig und bestenfalls als unschädlich bewertet worden. Dieser eine Satz hat, mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, eine gesetzgeberische Revolution ausgelöst.
({17})
Bekanntlich haben wir uns in der Gemeinsamen Verfassungskommission nach intensiven, über viele Monate andauernden Verhandlungen auf eine weitere wichtige Änderung mit sehr großer Mehrheit - ich glaube, sogar einstimmig - verständigt, nämlich auf einen stärkeren Schutz der den Ländern noch verbliebenen Gesetzgebungsbefugnisse - sie sind gering genug - gegen Eingriffe des Bundes durch eine Präzisierung der Bedingungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung. Damit - wenn ich jetzt Herrn Glos besonders ansehe, wird er es verstehen - wäre erstmals der Trend zu immer umfassenderer Konzentration der Rechtsetzungsbefugnisse auf der Bundesebene gestoppt und dem Föderalismus in der Verfassung selbst aufgeholfen worden.
({18})
Genauso lautet auch der Auftrag in Art. 5 des Einigungsvertrages.
Im interfraktionellen Entwurf hat die Union, hat auch die F.D.P. diese Änderung noch mitgetragen. Vor zwei Wochen jedoch haben Sie diese Vereinbarung, die die Länder einstimmig gebilligt haben - wenn die Länder anwesend wären, würden sie es auch bestätigen ({19})
und die sie zu Recht für ein Kernstück der Kommissionsempfehlungen halten, ohne jede Vorwarnung, offenbar auf Grund einer momentanen Verärgerung, gebrochen und ihr die schon gegebene Zustimmung entzogen.
Daß Sie dazu formal berechtigt sind, leugne ich nicht. In der Sache ist es ein Wortbruch, und ich verDr. Hans-Jochen Vogel
stehe den Ärger der Länder, den übrigens der bayerische Ministerpräsident mit am schärfsten artikuliert hat.
Wir werden die ursprüngliche Abrede heute zur namentlichen Abstimmung stellen und sind gespannt, wie sich insbesondere die bayerischen Kolleginnen und Kollegen, besonders die der CSU, verhalten werden.
({20})
- Also, Herrn Kollegen Jahn habe ich so verstanden: Wenn Sie nein sagen, dann bedeutet das nicht, daß Sie nicht im Grunde dafür sind.
({21})
Also, wenn Sie dafür sind, können Sie das heute bei der namentlichen Abstimmung belegen.
({22})
- Warum sind Sie denn so aufgeregt, Herr Rüttgers? Ich muß leider feststellen, daß Herr Rüttgers schwer zu verstehen ist. Wenn Sie sich erheben und es laut sagen, dann höre ich es.
({23})
- Entschuldigung, die Frage habe ich angeschnitten, und daß Sie mir nachfolgen, finde ich sehr gut.
({24})
Vielleicht sind die Herren da, wo der Bundeskanzler ist. Da können Sie ja mal anrufen.
({25})
- Oh! Ich bitte beim Herrn Bundeskanzler - und das ist das letzte Mal, daß ich das tun kann - ausdrücklich um Entschuldigung.
({26})
Aber er war einmal Ministerpräsident. Darum kann er vielleicht erklären, warum seine früheren Kollegen nicht da sind. Aber gut!
({27})
Ich darf darum bitten, sich wieder zu sammeln.
Hingegen begrüßen wir, daß Sie buchstäblich in letzter Minute Ihren Widerstand gegen die von uns schon vor zwei Jahren vorgeschlagene Aufnahme eines Diskriminierungsverbots für Behinderte in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes aufgegeben
({0})
und am 23. Juni im Rechtsausschuß endlich unserem entsprechenden Antrag zugestimmt haben, Das zeigt, daß beharrliches Engagement - und dabei denke ich vor allem an die Behindertenverbände, deren Anregungen wir aufgegriffen und die uns nachdrücklich unterstützt haben - doch etwas bewirken kann. Die Behauptung, man könne als Opposition nichts durchsetzen oder nichts bewirken, ist in diesem Punkt widerlegt, und ich freue mich darüber.
({1})
Herr Dr. Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?
Aber gern.
Herr Kollege Vogel, ich freue mich, daß Sie die Rolle der Behindertenbewegung in diesem Punkt so deutlich hervorheben, Können Sie mir bitte sagen, warum Sie von der SPD, da Sie dieses Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen ausdrücklich befürworten, nicht auch ein Nachteilsausgleichsgebot analog zu den Frauenfragen befürworten und versuchen, das durchzusetzen? Denn daß Menschen mit Behinderungen real benachteiligt sind, steht doch wohl außer Frage.
Herr Seifert, vielen Dank für diese Frage. Wir haben das sorgfältig geprüft und erörtert und sind - auch nach Hinzuziehung von Sachverständigen, die selbst behindert sind - zu dem Ergebnis gekommen, daß die Einfügung des Diskriminierungsverbotes zusammen mit anderen Prinzipien der Verfassung insbesondere auch den Nachteilsausgleich ermöglicht,
({0})
so daß im Ergebnis dem Anliegen entsprochen ist.
Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben übrigens - zumindest ungewollt - einen Beitrag zu diesem guten Ergebnis geleistet, nämlich durch die zum Teil erstaunlichen Argumente, mit denen Sie noch in der ersten Lesung am 4. Februar unserem Antrag entgegengetreten sind. Etwa mit der Behauptung, die Verfassung werde geschwätzig, wenn sie auch die Behinderten erwähne. Wir haben das entsprechende Protokoll den Verbänden zur Verfügung gestellt, und der Ärger über diese Argumente hat deren Anstrengung merklich beflügelt.
({1})
Also, im Ergebnis haben auch Sie hier einen Beitrag geleistet.
Um so bedrückender ist es, daß die Union in der Frage des Minderheitenschutzes den in der Gemeinsamen Verfassungskommission hinsichtlich des ersten Satzes erzielten Konsens aufgekündigt und jetzt im Ergebnis - die F.D.P. ist da zum Teil anderer Meinung - jede Erwähnung der unter uns lebenden
Minderheiten im Grundgesetz verhindert hat, auch die der Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit.
Hier sind Sie offenbar vor Kräften zurückgewichen, von denen ich vorhin gesprochen habe. Aus Sorge vor diesen Kräften verweigern Sie - zugegebenermaßen - auch den unter uns lebenden Nicht-EG-Ausländern entgegen unserem Antrag weiterhin das kommunale Wahlrecht.
({2})
Jetzt rücken Sie diesen Kräften zuliebe von der Verpflichtung des Staates ab, die Identität ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten zu achten, der eine für die Zweidrittelmehrheit ausreichende Anzahl von Ihnen, von CDU-Kolleginnen und -Kollegen, in der Gemeinsamen Verfassungskommission bereits zugestimmt hat.
Wir haben gar nicht verlangt, daß der Staat die Identität solcher Minderheiten, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht besitzen, stärken oder gar fördern soll, aber achten soll er sie. Meine Damen und Herren, wollen Sie wirklich der kulturellen Identität der Türken, der Spanier oder der Griechen - um nur einige Beispiele zu nennen -, die in unserer Mitte leben, die Achtung versagen? Das kann doch nicht im Ernst Ihre Absicht sein!
({3})
Die F.D.P. hat sich, würde ich sagen, eines Guten besonnen, aber die Union sagt nein.
Unverständlich ist ebenso Ihre Weigerung, in die Verfassung zu schreiben, daß der Staat alteingesessene Volksgruppen und nationale Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit schützt und fördert. Das ist doch die wörtliche Übernahme einer Position, die die Bundesregierung im Rahmen der Vereinten Nationen immer wieder ausdrücklich vertritt und in die Resolutionen eingefügt wissen will und deren Aufnahme in die Verfassung anderer Staaten von der Bundesregierung zum Schutze deutscher Minderheiten, etwa in Polen, ausdrücklich verlangt wird. Ich fürchte, schlimmer kann die deutsche Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet nicht gefährdet werden.
({4})
Daß Sie das ablehnen, wird uns jetzt von unseren Nachbarn, bei denen wir es verlangen, ständig entgegengehalten werden.
({5})
Wie Sie den Dänen und Sorben, den Friesen, den Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit erklären wollen, warum ihnen zwar in den Landesverfassungen, nicht aber in der Bundesverfassung Schutz und Förderung zugesagt werden, das bleibt auch nach Ihren Ausführungen, Kollege Jahn, für mich noch immer ein Geheimnis.
Ich sagte, wir wollen Vorstellungen den Weg ins Grundgesetz öffnen, die die Bürgerbewegungen und darüber hinaus viele Menschen in der ehemaligen DDR motiviert haben und die nach der Wende in die Verfassungen der neuen Bundesländer aufgenommen worden sind. Dabei geht es vor allem - ich zitiere nur Dinge, die in allen neuen Verfassungen der fünf neuen Bundesländer stehen - um die Einführung der unmittelbaren Bürgerbeteiligung und die Aufnahme weiterer konkreter Staatsziele, um Schutz- und Förderungsaufträge. Frau Kollegin Hanewinckel wird sich dazu noch im einzelnen äußern. Ich beschränke mich auf vier Fragen.
Ich muß fragen: Warum mißtrauen Sie unserem Volk eigentlich so sehr, wenn es um Bundesangelegenheiten geht? Wenn es um Landesangelegenheiten geht, besteht bereits überall Konsens, daß das Volk entscheidet. Das führt doch angesichts der Tatsache, daß es die unmittelbare Bürgerbeteiligung - mit einer Ausnahme - in allen Bundesländern gibt, zu ganz absurden Ergebnissen.
In Niedersachsen etwa haben Sie doch gerade begrüßt - Herr Kollege Jahn, ich mit Ihnen -, daß auf Grund einer Volksinitiative die Worte „in Verantwortung vor Gott" in die niedersächsische Verfassung aufgenommen worden sind. Wenn diese Worte nicht schon in der Präambel des Grundgesetzes stünden, könnte nach Ihrem Willen aus der Mitte des Volkes das gleiche auf der Bundesebene nicht durchgesetzt werden. Warum eigentlich nicht?
({6})
Daß unser Volk gegenwärtig nicht ganz wenigen Politikern - dabei gucke ich nicht nur in eine Richtung - mit Skepsis und Vorbehalten begegnet, ist richtig. Dafür mag es auch Gründe geben. Welche Gründe aber haben Sie oder wir als Politikerinnen und Politiker eigentlich, unserem Volk und seiner Entscheidungsfähigkeit so zu mißtrauen?
({7})
Was soll denn das Bekenntnis zur Volkssouveränität, was soll denn der Satz in Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, daß unsere Befugnisse nur abgeleitet sind, wenn wir dem Volk die letzte Entscheidung auch in fundamentalen Fragen, so z. B. in der Frage des Übergangs von der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union, verweigern?
({8})
Sicher hätte ein Volksentscheid nach gründlicher und leidenschaftlicher Diskussion keine 100%ige Zustimmung ergeben - es wären vielleicht 57 oder 58 gewesen -, aber der Fortgang der europäischen Einigung hätte sich fortan auf einem belastbaren Fundament vollzogen und würde nicht als Fremdbestimmung von oben empfunden.
({9})
Außerdem - Österreich hat doch dafür vor drei Wochen ein auch von Ihnen gelobtes und anerkanntes
Beispiel gegeben -: Warum stimmen Sie nicht wenigstens der Volksinitiative zu? Ich wollte die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. an ihr Rostocker Programm erinnern, aber ich habe gesehen, daß sie den Antrag - in Anlehnung daran - schon gestellt haben.
Des weiteren wäre da die Aufnahme der Verpflichtung des Staates, sich für die Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse, also für einen hohen Beschäftigungsstand, für eine angemessene Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum und für den Schutz des Wohnrechts der Mieter, für soziale Sicherheit sowie für Schutz und Förderung des Zugangs zur Bildung und des kulturellen Lebens, einzusetzen. Wäre es nicht gerade jetzt am Platz gewesen, wo sich nicht nur in der Partei, die sich - das ist schon wieder überholt - besonders um die Besserverdienenden kümmern wollte,
({10})
immer mehr Stimmen erheben, die das alles dem deregulierten und privatisierten freien Spiel der Kräfte überlassen wollen und mehr oder weniger offen als ihre Meinung zu erkennen geben, wer bei dem freien Spiel der Kräfte unter die Räder komme, der sei im Grunde selber schuld und habe es selbst zu vertreten?
Wollen Sie wirklich zu einem Staatsverständnis zurück, bei dem sich der Staat auf die Ausübung polizeilicher und hoheitlicher Befugnisse beschränkt? Beim Schutz der Umwelt oder bei der Frauenförderung halten Sie das ja auch nicht für ausreichend. Warum soll denn für elementare Lebensvoraussetzungen etwas anderes gelten?
Weiter: Warum zeigen Sie eigentlich verfassungspolitischen Impulsen, die in den neuen Bundesländern Eingang in die neuen Verfassungen gefunden haben, so entschieden die kalte Schulter? Das tun Sie nicht nur bei der Bürgerbeteiligung, nicht nur bei den Staatszielen, sondern auch beim Grundrecht auf Privatheit und Datenschutz, das die Menschen in der ehemaligen DDR jahrelang in der schmerzlichsten Weise vermißt haben.
({11})
Muß denn den Menschen in den neuen Bundesländern immer wieder deutlich gemacht werden, daß nichts von dem, was sie für wichtig und ihrer Verfassungen für würdig halten, wert ist, in die gemeinsame Verfassung einzugehen?
({12})
Ich fürchte - nein, ich bin sicher -, hier wird eine Chance des Zusammenwachsens vertan, und die Lebens- und Wirkungskraft der Verfassung gerade im Prozeß der bewußtseinsmäßigen Einigung wird auch darunter leiden.
({13})
Schließlich: Der auf Ihren Vorschlag hin gewählte Bundespräsident, der morgen den Eid leistet und dann unser gemeinsames Staatsoberhaupt sein wird, hat sich zur Substanz dieser Vorschläge, soziale Staatsziele und Bürgerbeteiligung, ebenso positiv geäußert wie der bisherige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der heute aus dem Amt scheidet. Spielen denn diese Übereinstimmung und dieser Rat der beiden Männer gar keine Rolle?
({14})
Ich kann im Rahmen dieses Beitrags nicht noch einmal auf alle Vorschläge eingehen, die wir über die bereits genannten hinaus gemacht haben und die Sie abgelehnt haben: beispielsweise Vorschläge zur Konkretisierung der Friedensstaatlichkeit durch das Verbot von Massenvernichtungswaffen und durch die substantielle Beschränkung von Rüstungsexporten auf den Bündnisbereich, unsere Vorschläge, die Kinderrechte zu stärken, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern und ausdrücklich zu verbieten - das ist schon noch ein aktuelles Thema -, daß Menschen wegen ihrer sexuellen Identität diskriminiert werden.
({15})
Es bleiben drei Punkte unseres Entwurfs, die dankenswerterweise infolge der Zustimmung der F.D.P. im Rechtsausschuß eine Mehrheit gefunden haben und Ihnen deshalb als gesonderte Entwürfe vorliegen.
({16})
Dabei geht es einmal um die Präambel. Wir wollen in ihr das Bestreben verankern, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Herr Jahn, es ist mir nicht klar geworden, warum Sie das ablehnen. Wird das denn nicht für geraume Zeit eines unserer vornehmsten Ziele sein? Ich glaube, es war doch nicht Ihr Ernst, als Sie an diesem Pult gesagt haben, es sei ein Tagesereignis. Entschuldigung - es ist eine der zentralen Aufgaben, die wir im Interesse der Menschen zu lösen haben.
({17})
Außerdem wäre dieser Vorschlag in der Präambel noch einmal eine Chance, auf die Deutschen in den neuen Bundesländern zuzugehen und ihnen zu zeigen, wie ernst wir ihre Probleme nehmen. Wollen Sie denn auch hier - mit welchen Begründungen auch immer - die kalte Schulter zeigen?
Bei dieser Gelegenheit wollen wir - dem hat die F.D.P. leider nicht zugestimmt - in der Präambel auch den Willen unseres Volkes bekundet sehen, der Gerechtigkeit und der Solidarität in der einen Welt zu dienen. Die eine Welt war und ist doch - das sage ich an die Adresse der Union - ein Schlüsselwort des konziliaren Prozesses, und in Ihrem Grundsatzprogramm bekennen Sie sich ausdrücklich zu dem, was wir da fordern.
({18})
Wieder muß ich fragen: Warum sind Sie dann nicht
bereit, diese nach vorn gerichtete, lebendige Tendenz
unserer Zeit in der Verfassung wirksam werden zu lassen?
({19})
Zum zweiten wollen wir, daß die auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften in der Verfassung nicht länger mit Schweigen übergangen werden - schon um der Kinder willen, die in solchen Gemeinschaften leben.
Zu Recht hat auch das Bundesverfassungsgericht bereits gerügt, daß der Staat bislang diese Gemeinschaften der Ehe gleichstellt, wo ihm das finanziell vorteilhaft erscheint, die so Verbundenen aber als alleinstehende Einzelpersonen behandelt, wo ihm dies Geld einbringt oder erspart. Das jedenfalls sollte doch geändert werden. ({20})
Daß ich dabei sexueller Beliebigkeit das Wort rede, wie das da manchmal bei den Kritikern mitschwingt, das wird wohl nicht angenommen werden.
({21})
Der dritte Entwurf will die Schutzwürdigkeit der Tiere in der Verfassung normieren und damit den Rang des Tieres - ich greife Ihre Formulierung auf, Herr Jahn - als Mitgeschöpf deutlich machen. Es würde dem Tierschutz nicht im Detail Verfassungsqualität verleihen oder ihn gar verabsolutieren, aber es würde dem Gedanken, daß Tiere nicht unserer Willkür überantwortet sind, Eingang in die Verfassung verschaffen und damit überhaupt erst eine Abwägung des entsprechenden Verfassungspostulats mit anderen Verfassungsgütern, etwa der Forschungsfreiheit, ermöglichen und die Verfassungsmäßigkeit des § 1 des Tierschutzgesetzes, für die Sie sich auch alle entschieden haben, die gerade deshalb immer wieder bezweifelt wird, weil die Verfassung selbst über den Tierschutz schweigt, gewährleisten.
Außerdem - das ist mir das Wichtigste - würde in der Verfassung einmal mehr deutlich, daß menschlichem Tun Grenzen gesetzt sind, daß Menschen nicht alles tun dürfen und sollen, wozu sie in der Lage sind.
({22})
Wieder frage ich: Warum wollen Sie dazu nein sagen? Nicht nur die Christen unter Ihnen erinnere ich zusätzlich daran, wie sich Franz von Assisi wohl in dieser Frage entschieden hätte.
({23})
Die Behauptung, der Tierschutz werde vom Staatsziel Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen umfaßt, ist unzutreffend.
({24})
Das haben in gutachterlichen Äußerungen sowohl das Bundesjustiz- als auch das Bundesinnenministerium bestätigt. Im übrigen freue ich mich, daß Ihnen ein CDU-Abgeordneter aus Brandenburg noch einmal die gleiche Forderung als Pressenotiz auf den Tisch gelegt hat.
Unsere Verfassung ist ein kostbares Gut. Jeder von uns trägt für sie, gerade bei den heutigen Entscheidungen, besondere Verantwortung. Wir sollten dieser Verantwortung auch dadurch gerecht werden, daß wir heute dem Streben nach Geschlossenheit der jeweiligen Fraktion ein geringeres, dem Streben, so zu handeln und abzustimmen, wie jeder einzelne von uns das nach sorgfältiger Prüfung zum Besten des Gemeinwohls für richtig hält, ein höheres, nein, diesmal das entscheidende Gewicht beimessen.
({25})
Aus eben diesem Grunde werden wir jedem einzelnen im Parlament am Ende der Beratung in mehreren Verfahrensgängen - teils mit der Karte, teils mit entsprechenden Stimmzetteln - Gelegenheit geben, zu jedem dieser Anträge in namentlicher Abstimmung ja oder nein zu sagen. Wir glauben, daß dies der individuellen Verantwortung eines jeden von uns, so wie es im Art. 38 des Grundgesetzes umrissen ist, am besten gerecht wird.
Wer sich seiner Entscheidung auch nach sorgfältiger Abwägung in dem einen oder anderen Fall noch nicht sicher ist, der möge sich fragen, wie wohl die so oft berufenen Väter und Mütter des Grundgesetzes entscheiden würden. Ich bin überzeugt, sie stünden heute nicht an der Seite derer, die sich einer zeitgerechten Erneuerung des Grundgesetzes verschließen, sondern an der Seite derer, die mit Augenmaß erneuern und gerade dadurch das Bewahrenswerte sichern wollen.
({26})
Ganz sicher würden sie, die Väter und Mütter des Grundgesetzes, auch auf den Grundgedanken des von ihnen geschaffenen Art. 146 hinweisen und uns jedenfalls dringend mahnen, auf die Deutschen in den Ländern zuzugehen, denen - so sagte es die ursprüngliche Präambel - es damals versagt war, an der Erarbeitung des Grundgesetzes mitzuwirken.
Wenn wir alle so verfahren, dann könnte der heutige Tag doch noch zu einem Tag des Parlaments werden.
({27})
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, endet meine Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag im Herbst diesen Jahres. Meine gegenwärtige Rede ist deshalb voraussichtlich meine letzte Parlamentsrede nach über 20 Jahren, in denen ich unserem Gemeinwesen und in seinem Rahmen meiner politischen Gemeinschaft, der deutschen Sozialdemokratie, auf Bundesebene in unterschiedlichen Funktionen gedient habe, darunter jeweils acht Jahre als Bundesminister und als Vorsitzender der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion.
Ich leite daraus weder besondere Ansprüche noch Erwartungen ab. Und der von Johannes XXIII. überlieferte Ausspruch „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig! " ist mir mit zunehmendem Alter immer sympathischer und auch einleuchtender geworden.
({28})
Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode Dr. Hans-Jochen Vogel
Dennoch möchte ich, wie andere das auch getan haben, zum Abschied ein paar allgemeine Gedanken äußern, die mich in diesem Augenblick bewegen.
Mich bewegt zunächst und vor allem ein Gefühl der Dankbarkeit. Der Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal - oder, wie ich persönlich, ohne andere in Anspruch zu nehmen, sagen möchte, gegenüber dem Herrgott - dafür, daß unser Volk nach all dem, was in der Zeit der NS-Gewaltherrschaft von Deutschland an Schrecklichem seinen Ausgang genommen hat und dann schrecklich auf uns zurückschlug, wieder einen geachteten Platz in der Völkergemeinschaft eingenommen und von neuem seine Einheit gefunden hat, und das ohne einen Tropfen Blutvergießen.
({29})
Natürlich haben große und letzten Endes gemeinsame Anstrengungen über die Jahrzehnte hinweg wesentlich dazu beigetragen. Für jemanden, der wie ich 1945 das Kriegsende als junger Mann in der Kriegsgefangenschaft erlebt hat, grenzt aus der damaligen Sicht indes allein schon die Tatsache, daß ich das hier in Berlin und im ehemaligen Reichstagsgebäude sagen kann, immer noch an ein Wunder.
Es wäre gut, wenn dieses Grundgefühl von Zeit zu Zeit auch denen nähergebracht würde, die erst nach 1945 geboren wurden. Manches erschiene dann weniger selbstverständlich, und mancher würde dann wohl nicht so vollmundig und weniger selbstgerecht auftreten. Vielleicht würde es dann auch deutlicher, daß die Sorgen und Nöte anderer Völker die unseres Volkes, die ich weiß Gott nicht bagatellisiere, bei weitem übertreffen.
({30})
Dankbarkeit empfinde ich auch ganz persönlich, nämlich dafür, daß mir zunächst meine Partei, die deutsche Sozialdemokratie, und auf ihren Vorschlag sodann das Gemeinwesen ein Leben lang mitunter schwierige und unbequeme, aber stets sinnvolle und notwendige Aufgaben übertragen haben. Erst in München, dann in Bonn, später in Berlin und wieder in Bonn konnte ich mithelfen, unsere gesellschaftliche Wirklichkeit etwas freiheitlicher, gerechter und solidarischer zu gestalten und unsere Grundordnung, wo das notwendig war, zu bewahren und auch mit aller Entschiedenheit zu verteidigen.
({31})
Das und auch, daß ich meiner Partei - keine Partei ist vor solchen Momenten bewahrt - helfen konnte, in schwieriger Situation wieder Tritt zu fassen mag dazu beigetragen haben, daß nicht wenige Menschen etwas erträglicher und erfüllter leben konnten und können, als es ohne diesen Beitrag möglich gewesen wäre.
Das klingt nicht sehr eindrucksvoll, aber es ist ehrlich, und es ist genug, um mit sich selbst einigermaßen im reinen zu sein.
({32})
Eine Sorge allerdings bedrängt mich, die Sorge nämlich, daß auch ich selbst die Verpflichtung nicht ernst genug genommen habe, die sich aus dem Guten ergibt, das unserem Volk widerfahren ist. Und das ist eine doppelte Verpflichtung. Die eine nach außen: die Verpflichtung, den Völkern zu helfen, die im Elend leben und die unsere Unterstützung - ich glaube, das ist doch im Ernst kein Streitpunkt, wenn wir nur gut zuhören - nicht erst dann benötigen, wenn es um militärisches Eingreifen geht oder sonst der Scheinwerfer internationaler Medieninteressen auf sie fällt, sondern die unserer Hilfe schon lange zuvor bedürfen, damit diese Situationen gar nicht eintreten.
({33})
Die andere Verpflichtung geht nach innen. Die Verpflichtung, mehr für diejenigen zu tun, die in unserer Mitte auf der Schattenseite leben: als Arbeitslose, als Sozialhilfeempfänger, als sonstige Benachteiligte. Zu leicht erliegen wir - ich sage immer „wir" - der Versuchung, angesichts des Wohlergehens einer Mehrheit die Bedrängnis einer Minderheit zu übersehen. Eine Bedrängnis, die da und dort die Grenzen zur Verzweiflung überschreitet und die Selbstachtung beschädigt. Das gilt auch für nicht ganz wenige unserer Landsleute in den neuen Bundesländern, die der Transformationsprozeß in existentieller Weise fordert und da und dort auch überfordert.
({34})
Eine zweite Sorge will ich nur andeuten, nämlich daß wir die Augen davor verschließen, wie sehr wir, jeder von uns, unsere Lebensweise in überschaubarer Zeit ändern müssen, wenn unser Planet überleben und eine Zukunft haben soll.
({35})
Dann bewegen mich noch zwei kurze Bitten, die ich bei dieser Gelegenheit an Sie richten will: zum einen die Bitte, bei aller Notwendigkeit streitiger Auseinandersetzungen und zugespitzter Aussagen - daran habe ich es ja wahrlich bis zum heutigen Tage nicht fehlen lassen - den Grundkonsens zu bewahren und die Möglichkeit im Auge zu behalten, daß der jeweils andere, ja, sogar die jeweils andere Gruppe, recht haben und man selbst unrecht haben könnte.
({36})
Zum anderen stünde es uns auch gut an, Ausführungen von Mitgliedern anderer Fraktionen im Tagesbetrieb - nicht heute - im Zweifel nicht mit Ablehnung oder dem Ausdruck - meist ist es schon der Gesichtsausdruck - unerschütterter Standfestigkeit oder Selbstgerechtigkeit entgegenzunehmen. Das sage ich in alle Richtungen.
Damit steht etwas anderes im Zusammenhang - das ist wieder eine höchst persönliche Aussage -, nämlich meine Überzeugung, daß unsere Gesellschaft neben der Orientierung an den Grundwerten
- der Menschenwürde, der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität - auch eines Mindestmaßes an althergebrachten Tugenden bedarf, wenn dieses Gemeinwesen sauber existieren will,
({37})
also beispielsweise der Zuverlässigkeit, der Ehrlichkeit, des Fleißes, der Sparsamkeit und der sauberen Unterscheidung zwischen öffentlichem Amt und privatem Interesse.
({38})
Zu Unrecht sind diese Tugenden in der Vergangenheit hie und da als Sekundärtugenden bespöttelt worden.
({39})
- Da ist schon wieder der Punkt der Selbstgerechtigkeit, dieses Mit-dem-Finger-Zeigen. Meinen Sie, ich weiß nicht, wen ich meine? Herrgott noch mal!
({40})
Gerade als Bayer füge ich hinzu: Nicht alle preußischen Traditionen, nicht alle samt und sonders, waren schlecht und verachtungswürdig.
({41})
Die andere Bitte ist die, über Fraktions- und Parteigrenzen hinweg im Kampf gegen den Rechtsextremismus zusammenzuwirken.
({42})
- Sie sind so ungeduldig. Mich braucht man nicht über die Gefährlichkeit des Linksextremismus zu belehren. Sind Sie jetzt zufrieden?
({43})
Den Satz habe ich nämlich hineingeschrieben, weil ich diesen Zwischenruf in genauer Kenntnis der Mentalität erwartet habe.
Die Terroranschläge in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre stehen mir als damaligem Justizminister stets vor Augen. Heute droht die Gefahr aber in erster Linie von rechts. Diese Gefahr ist nicht schon deshalb überwunden, weil die Wahlergebnisse der betreffenden Parteien in jüngster Zeit rückläufig sind.
({44})
Nein, die Gefahr ist nach wie vor relevant. Ich werbe dafür, ihr mit allem Nachdruck zu widerstehen, und das nicht nur und nicht einmal in erster Linie deshalb, weil die rechtsextremistischen Gewalttaten auf den Straßen - Brandanschläge, Morde und Menschenjagden - dem Deutschlandbild im Ausland schaden - das ist schlimm genug -, nein, sondern weil sie die Fundamente unseres friedlichen Zusammenlebens in Frage stellen und den Eindruck erwecken, hier sollten aufs neue Minderheiten, insbesondere die in unserer Mitte lebenden Minderheiten, ausgegrenzt, verteufelt und zum Gegenstand des Hasses gemacht werden, hier würde neuerdings einem Freund-FeindDenken und der Gewalt als Mittel der Politik das Wort geredet. Ich werbe dafür, daß wir dem - wenn es links auftritt, in genau derselben Weise - widerstehen, weil wir nur gewaltlos dieses Gemeinwesen weiterentwickeln können.
({45})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, mir bleibt übrig, mich bei denen zu entschuldigen, die ich in diesem Haufen im Laufe dieses Jahres - ({46})
- Entschuldigung, das war wirklich unabsichtlich. ({47})
Mein Vorgänger im Amt des Münchner Oberbürgermeisters war ein Meister des beabsichtigten Sich-Versprechens. Aber diese Fähigkeit habe ich nicht übernommen.
Mir bleibt übrig, mich bei denen zu entschuldigen, die ich in diesem Hause im Laufe der Jahre gekränkt habe, und denen zu danken, die mir in dieser Zeit in der eigenen Fraktion und außerhalb der eigenen Fraktion des Parlaments Weggefährten und kritische Begleiter - da denke ich insbesondere an die Medien
- waren. Daß ich dabei mit zwei Ausnahmen keine Namen nenne, bitte ich mir nachzusehen. Sie alle kennen die Situation, daß man bei solchen Gelegenheiten bei jeder namentlichen Erwähnung mindestens zwei oder drei nicht Erwähnte verletzt, die das ebenso erwarten dürfen.
Die Ausnahmen sind Willy Brandt und Herbert Wehner, weil sie schon von uns gegangen sind und weil jeder von ihnen in seiner Weise und zu seiner Zeit für mein politisches Engagement und für meine politische Arbeit besonders wichtig war. Willy Brandt und Herbert Wehner nenne ich dabei übrigens ganz bewußt in einem Atemzug und miteinander.
({48})
Denen von Ihnen, die auch dem nächsten Bundestag angehören, wünsche ich Geduld und Kraft im immer neuen Ringen um die beste Lösung.
Meinen politischen Freunden und Freundinnen - und sie werden diese Differenzierung sicher verstehen - wünsche ich darüber hinaus, daß sie im neuen Bundestag möglichst zahlreich vertreten sind.
({49})
Allen aber, die die Arbeit fortsetzen, wünsche ich, daß sie dem gerecht werden können, was Adolf Arndt, einer der großen Parlamentarier der Nachkriegszeit, so ausgedrückt hat:
Die Wahrheit seiner Antwort kann kein Politiker verbürgen, wohl aber die Wahrhaftigkeit des Fragens und des immer neuen, unermüdlichen Bemühens.
Deutscher Bundestag - 1: Wahlperiode Dr. Hans-Jochen Vogel
Ich danke Ihnen.
({50})
Lieber Kollege Vogel, was sich gerade in unserem Parlament ereignet hat, gehört zum Schönsten und Besten, zu dem was im Parlamentarismus eine Sternstunde genannt werden kann.
({0})
Es zeigt, wie mitten aus der streitigen Debatte der Konsens erwachsen kann.
Ich sage von diesem Orte aus: Es ist noch nicht der Augenblick des Abschieds, aber des Dankes, des Respektes und der ganz hohen Wertschätzung. Dies wage ich im Namen aller Mitglieder des Hauses zu sagen. Herzlichen Dank für Ihre große parlamentarische Arbeit.
({1})
Nun hat unser Kollege Detlef Kleinert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich sehr, daß ich die Gelegenheit habe, hier das Wort zu bekommen, um nach diesen eindrucksvollen Schlußworten, nach so vielen eindrucksvollen Reden - es sollen mit der heutigen 225 gewesen sein - nicht etwa nur für diese Rede, sondern für eine Leistung, von der wir alle, jeder auf seine Art, viel gehabt haben, sehr herzlich zu danken und zu gratulieren. Das tue ich nicht nur abstrakt. Hans-Jochen Vogel weiß vielmehr, daß wir im Guten und im weniger Guten einige Dinge zusammen bewegen konnten. Ich bin sehr dankbar, daß ich daran beteiligt sein konnte.
({0})
Wenn heute zu Recht von gewissen altmodischen Dingen die Rede gewesen ist, dann möchte auch ich etwas erwähnen, was sehr wesentlich ist und was sich viele nicht mehr trauen in den Mund zu nehmen, nämlich das Wort „Vorbild" . Für mich ist Hans-Jochen Vogel in mehr als einer Hinsicht, auch in der parlamentarischen Tätigkeit, ein Vorbild gewesen.
({1}) Dafür möchte ich sehr herzlichen Dank sagen.
Die Bemühungen der Verfassungskommission setzen ja nicht bei den Ideen des Grundgesetzes an, dem unsere Republik nicht zuletzt ihre unglaublich glückliche Entwicklung zu verdanken hat. Vielmehr ist die Geschichte jahrhundertealt. Der Kampf um die Freiheit, der Kampf um ganz einfache Rechte des Bürgers, um elementare Freiheitsrechte im Kleinsten, wie z. B. die Freiheit von dem Grundherrn, die 'Freiheit von ständiger Bevormundung, von Drangsalierung und von einer sklavenähnlichen Haltung - das war noch vor etwa 100 Jahren das Los vieler Bürger in diesem Land -, hat jahrhundertelang gedauert und hat jetzt zu dem Ziel, dem Ergebnis geführt, das vorhin von meinem Vorredner so zutreffend dargestellt worden ist. Das Erreichte verführt leider dazu, die Gaben, die uns da zuteil geworden sind, die ja nicht vom Himmel gefallen sind, sondern die von unseren Vorfahren - sei es im Parlament, sei es außerhalb des Parlamentes - erkämpft worden sind, geringzuschätzen. Das darf nicht sein.
({2})
In diesem größeren Rahmen, über die Jahrhunderte hinweg, sind die Verfassungsbemühungen in unserem Lande zu sehen und zu verstehen. Ein Höhepunkt war die Gestaltung des Grundgesetzes in einer der schwersten Stunden unserer Geschichte, in einer Stunde, in der zu Recht niemand daran geglaubt hat, daß wir heute im Gebäude des Deutschen Reichstags würden tagen können, und auch nicht daran, in welchem damals unvorstellbaren Komfort wir das tun können. Auch diesen empfinden wir obendrein noch als selbstverständlich. Dieses Grundgesetz ist erst in einer Turnhalle in Bonn beraten worden und dann in dem notdürftig genutzten Museum Koenig.
Es waren - das erwähne ich bei dieser Gelegenheit selbstverständlich gerne und mit Freude, auch mit einem gewissen Stolz - ganz wesentlich von den Liberalen beteiligt Theodor Heuss, Thomas Dehler, Hermann Höpker-Aschoff, um nur einige wenige zu nennen. Frauen und Männer, auf die wir stolz sein können, waren da für die deutschen Liberalen in einer Stunde, in der liberales Gedankengut wohl gekrönt und für eine sehr lange Zeit festgeschrieben worden ist, beteiligt.
({3})
Weil das so war, müssen wir mit dem so vorsichtig umgehen, was in einer ganz besonderen Stunde unserer Geschichte entstanden ist. Darum haben wir uns u. a. in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern so schwergetan, zwischen dem Wünschenswerten, ja dem geradezu notwendig Erscheinenden - was noch hinzugefügt werden sollte - und der Wahrung der Kontinuität, der Beschränkung auf das Wesentliche, der Wahrung eines festen Fundaments für unser Zusammenleben in diesem Volk und in diesem Staat zu unterscheiden.
Daher und nicht aus parlamentarischer Streitsucht und Kleinlichkeit sind die Auseinandersetzungen langwierig und schwierig gewesen. Sie sind, wie das komplizierte Abstimmungsverfahren des heutigen Tages zeigen wird, auch nicht beendet. Es gibt keine Lösungen, mit denen jeder zufrieden sein kann. Es gibt im Verfassungsrecht nicht das - und bei der Verfassungssetzung schon gar nicht -, was man gemeinhin als Patentlösung bezeichnet. Dazu sind die Dinge eben zu schwergewichtig, zu vielschichtig, zu kompliziert.
Detlef Kleinert ({4})
Die Bürger der DDR, - der damals immer noch DDR - haben durch Beschluß ihrer nur einmal frei gewählten Volkskammer, den Weg über Art. 23 unseres Grundgesetzes, der dort in Hoffnung auf die Einheit 1949 aufgeschrieben war, beschritten, um sich in diese geschichtliche Reihe der Entwicklung unserer Verfassungen einzureihen, ihr wieder beizutreten. Das ergibt gewisse Folgerungen für die äußere Gestaltung, die heute nicht das Thema sein können.
Die Verfassungskommission hat eine gute Arbeit geleistet. Man hört landauf, landab - besonders von Leuten, die wenig Zeit haben, sich mit Einzelheiten zu plagen, und lieber ihren ersten, etwas allgemein gewonnenen Eindruck benutzen, um darauf Urteile aufzubauen -, daß die Arbeit nichts getaugt haben könne, weil sowenig dabei herausgekommen sei. Eine ganz merkwürdige Betrachtungsweise. Als ob das Nachdenken daran gemessen werden könnte, was hinterher an Papierausstoß herauskommt!
Wichtig ist, daß man sich Gedanken macht, daß man miteinander diskutiert und ringt, daß man erwägt. Ob man dann aber nach gründlichem Erwägen verwirft oder akzeptiert, das ist eben die Entscheidung, die das Nachdenken erst ergeben muß. Deshalb sei den Kritikern geraten, sich doch weniger mit dem Nachzählen von einzelnen Verfassungsänderungen aufzuhalten, sondern sich einmal mit den Gedanken, die vorgetragen worden sind, mit den Prüfungen, die stattgefunden haben, zu beschäftigen und sich dann ein eigenes Urteil zu bilden - in der schwierigen Abwägung, die ich schon versucht habe anzudeuten.
({5})
Auch dieser Vorgang ist nicht neu. Theodor Heuss hat am 8. Mai 1949 gesagt: „Ob Staatsrechtler und Staatstheoretiker" - man könnte hinzufügen: Fachjournalisten - „mit uns zufrieden sind, wird uns später interessieren, wenn sie ihre Kommentare geschrieben haben. Es wird uns aber nicht zu stark beeindrukken können, denn sie sind die Perfektionisten auf dem Papier, während wir in die Wirklichkeit der deutschen Geschichte gestellt sind." Dies gilt damals wie heute.
({6})
Unsere Verantwortung, nicht nur gegenüber dieser Verfassungsgeschichte, sondern gegenüber der Geschichte unseres Volkes und der Freiheit unseres Volkes, bringt uns dazu, daß wir grundsätzlich davon ausgehen, eine Verfassung müsse nicht in kürzeren Abständen dem Zeitgeist angepaßt werden oder gar modischen Tendenzen. Vielmehr ist besonders wesentlich - das ist unsere Auffassung -, daß das, was endlich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte als Gegenstand unserer Verfassung in das Bewußtsein der Bürger eingegangen ist, nicht so tangiert werden darf, daß es sich wieder verflüchtigen kann, daß es durch Veränderungen vergeht, sondern es muß eine tragfähige Basis des gemeinsamen Bewußtseins für das Zusammenleben sein. Die Verläßlichkeit der Verfassung beruht auf ihrer Stetigkeit. ({7})
Deshalb haben wir nur in sehr wenigen Punkten einem anderen Gedanken Rechnung getragen, nämlich dem Gedanken, daß in den Fällen, in denen sich das Bewußtsein von uns allen, das Bewußtsein unseres Volkes im Laufe der Jahrzehnte so verändert oder sich neuen Dingen geöffnet hat, eine ganz wichtige neue Lage, eine wichtige neue Beurteilung entstanden ist. Eine solche Beschreibung unserer Gesellschaft ist in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes zu finden. Bei der Beschreibung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit kann eine solche Veränderung nicht ausgeschlossen werden.
Zu diesem Ergebnis sind wir nach jahrelangen Bestrebungen im Umweltschutz gekommen, und zwar bezeichnenderweise im ganzen Hause übereinstimmend. Es ist nun einmal so, daß früher das Verständnis für die Endlichkeit der Ressourcen, für die Besonderheit unserer Umwelt und für die dringende Notwendigkeit, sie zu schützen, noch nicht so ausgeprägt war. Leider war es so. Wenn dieses Bewußtsein nun endlich da ist, dann kann an diesem wesentlichen Umstand, an diesem Bezugspunkt unseres gesellschaftlichen Bewußtseins und unserer gesellschaftlichen Existenz, nicht vorbeigegangen werden. Dann muß dieser Punkt auch im Grundgesetz angesprochen werden. Das geschieht nun zu unserer Freude.
({8})
In einigen weiteren Punkten kann man nach den gleichen Grundsätzen zu dem Ergebnis kommen, daß die Sachverhalte, die Lebenswirklichkeit, in diesen beschreibenden Teil des Grundgesetzes hineingehören. Man kann es mit Rücksicht auf die andere Seite der Erwägung, die ich vorher darzustellen versuchte, auch mit der Begründung verwerfen: Wir wollen den alten Text möglichst klar erhalten und es z. B. dem Verfassungsgericht überlassen, die Fortbildung des Rechts zu betreiben oder die Sachverhalte aus dem alles überragenden Grundrecht der Menschenwürde in Art. 1 abzuleiten.
Wir Freien Demokraten sind jedenfalls zu dem Ergebnis gekommen, daß zusammen mit der Betonung des Umweltschutzes auch der Tierschutz, das Verhältnis zu unseren Mitgeschöpfen, einen Platz an dieser Stelle finden soll.
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Wir sind des weiteren der Meinung, daß das ganz besondere und sich immer noch verstärkt ausbreitende Schicksal der Behinderten an dieser Stelle angesprochen werden soll, um eine Verpflichtung auszusprechen, um auszudrücken, daß wir sehen, mitfühlen und mitleiden können und daß wir uns dessen bewußt sind.
({10})
Wir sind darüber hinaus der Meinung, daß es die in den letzten Jahrzehnten leider bei einem ganz kleiDetlef Kleinert ({11})
nen Teil unserer Bevölkerung aufgetretenen Probleme im Umgang mit ausländischen Mitbürgern geraten erscheinen lassen, die Rechte der ethnischen und kulturellen Minderheiten in diesem Teil des Grundgesetzes anzusprechen und zu berücksichtigen.
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Das gleiche gilt für einen Sachverhalt, der für jeden einzelnen in seiner Umwelt völlig unübersehbar ist und nicht als gesellschaftliche Wirklichkeit zur Kenntnis genommen werden soll, wohl aus dem falschen Gedanken heraus, daß damit die zentrale Bedeutung der Ehe für unsere Gesellschaft etwa herabgemindert werden könnte. Es handelt sich dabei um die Achtung - nicht mehr, aber keineswegs weniger - anderer Lebensgemeinschaften.
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Damit wird nicht die zentrale Rolle der Ehe angegriffen, sondern damit wird lediglich ein gesellschaftlicher Sachverhalt an herausragender Stelle zur Kenntnis genommen, um unser Zusammenleben auf offener, ausgesprochener, deklarierter Basis in unserer Gesellschaft freier und normaler gestalten zu können.
({14})
Das ist der Grund für diese, unsere Anliegen, zu denen wir uns entschlossen haben, obwohl man - wenn ich vom Umweltschutz absehe - in jedem einzelnen Punkt unter Berücksichtigung der Frage, die Verfassung möglichst stringent, knapp, klar und in sich stetig zu erhalten, auch zu einem anderen Ergebnis kommen könnte. Wir haben uns jedenfalls aus den dargelegten Gründen für das Ergebnis entschieden, das ich vorgetragen habe.
In einigen Punkten haben wir etwas verknautschte Formulierungen gefunden. Das tut richtig weh. Ich möchte dazu eine Bemerkung machen: Die Formulierung des Umweltschutzes ist wirklich nicht als geglückt zu bezeichnen. Es handelt sich eher um so etwas wie eine sprachliche Laokoon-Gruppe.
({15})
Aber die Sache hat ihren Grund, und diesen möchte ich gern ansprechen. Wir haben nicht die nötige Gelassenheit, aus einer langen Tradition erwachsene Sicherheit und daraus erwachsene Gelassenheit in der Trennung der Gewalten, in dem Verständnis von dem, was des Parlaments ist, und dem, was der Rechtsprechung ist. Weil hier ein latentes Mißtrauen gegenüber möglichen Übergriffen der Rechtsprechung eine große Rolle gespielt hat, ist es zu diesen interessanten, aber unschönen Sprachungetümen gekommen. Wünschenswert wäre also, daß dieses Parlament mit dem nötigen Selbstbewußtsein auch sein Verhältnis zur Rechtsprechung betrachtet und die Rechtsprechung uns liebenswürdigerweise dabei hilft, indem sie sich an das hält, was ihres Amtes ist.
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Dann kann man in Zukunft vielleicht etwas kürzer und klarer an einer solchen Stelle formulieren.
Die wesentlichen Fundamente unseres Grundgesetzes, die Eckpfeiler, auf denen jeder einzelne, ob er das weiß oder nicht, hier sein Leben aufbaut, seine Zukunftsplanung betreibt und sein Schicksal gestaltet, sein Lebensschicksal und dann das seiner Familie, seiner Kinder und seiner Enkel, sind die Würde des Menschen, die Handlungsfreiheit der Person, die Gleichheit in den verschiedenen Bezügen, nicht nur vor dem Gesetz, die Berufsfreiheit und das Eigentum, das alles dieses erst in die nötige Unabhängigkeit und damit wiederum Gelassenheit zu bringen hilft - nur hilft.
Je mehr wir hinzufügen, je mehr wir glauben, über das Grundgesetz in das tägliche politische Geschehen eingreifen zu können, um so weniger wird dieser Grundkonsens, dieses tragende Fundament unserer gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklung, deutlich.
Deshalb müssen wir so behutsam mit unserem Grundgesetz umgehen.
({17})
Deshalb müssen wir uns darüber freuen, daß es den Müttern und Vätern des Grundgesetzes in einer historischen Stunde seinerzeit gelungen ist, diesen großen Wurf zu tun und das Grundgesetz so zu gestalten, wie das geschehen ist, und müssen es bei dem gelegentlichen Versuch, es ein wenig weiterzuentwickeln in bezug auf das, was sich in unserer Gesellschaft nun einmal geändert hat, sehr pfleglich und behutsam behandeln.
Der Zusammenschluß freier und unabhängiger Bürger, die wissen, daß sie zusammengehören - ich vermeide damit den vorhin mir jedenfalls etwas aufgesetzt erschienenen Streit um das wichtige Wort Nation -, die aus Überzeugung zusammengehören wollen und die natürlich wissen müssen, daß sie aufeinander, auf die Freiheit des anderen Rücksicht zu nehmen haben, daß sie sogar hinsichtlich seines Wohlergehens und seiner Wohlfahrt verpflichtet sind, wenn ihre eigene Freiheit ihnen Freude machen soll, wird durch unser Grundgesetz gestärkt und gefördert, ist dadurch ermöglicht worden. Wir wollen sie bewahren und weiterentwickeln.
Herzlichen Dank.
({18})
Als nächster spricht der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die deutsche Verfassungsgeschichte ist nicht arm an herausragenden Verfassungsdokumenten. Zu nennen sind die Paulskirchenverfassung von 1849, die Weimarer Reichsverfassung und die beiden deutschen Verfassungen von 1949. Es ist unter uns wohl schon jetzt unstrittig, daß
sich ihnen keine Berliner Verfassung zuordnen wird. Die wenigen von der Gemeinsamen Verfassungskommission und dann vom Rechtsausschuß des Bundestages empfohlenen Verbesserungen, für deren Verabschiedung ich nachdrücklich eintrete, entsprechen weder dem tatsächlichen Reformbedarf unserer Verfassungsordnung noch den Verfassungsforderungen der Bürgerinnen und Bürger.
Herr Jahn hat hier erklärt, wir sollten die Arbeit der Verfassungskommission besonders deshalb loben, weil sie so wenig geändert hat. Auch Herr Kleinert hat eben gesagt, wir müßten ganz behutsam sein. Ich möchte jedoch darauf aufmerksam machen - auch Hans-Jochen Vogel hat das schon getan -, daß mit dieser Verfassung während der Laufzeit unserer Arbeit eine ganze Menge geschehen ist, nicht durch die Verfassungskommission, aber durch den Bundestag: Das Asylrecht ist weitgehend beseitigt worden, gestern ist die Postreform mit der erforderlichen Verfassungsänderung verabschiedet worden. Der große Lauschangriff wird von mehreren Parteien in unterschiedlicher Formulierung gefordert. Es sind also gravierende Verfassungsänderungen erfolgt, allerdings nicht in der Richtung, von der ich meine, daß sie notwendig ist. Damit sind Verfassungserwartungen enttäuscht worden, sowohl der ostdeutschen wie der westdeutschen Demokratieinitiativen.
In der DDR wurde am Schluß immer wieder das Wort von Erich Honecker kolportiert, daß sich alles bewährt habe. Viele DDR-Bürger waren dadurch genervt und zunehmend verstört. Ich glaube, daß die Aussage, etwas habe sich bewährt, alleine nicht ausreicht, wenn man sich über die Fragen dieser Gesellschaft ernsthaft unterhalten will. Erich Honecker hat dann allerdings immer noch hinzugefügt: Das Erreichte ist nicht das Erreichbare.
Ich meine - auch darüber sollten wir nachdenken-, daß sich das Scheitern der Arbeit der Verfassungskommission aus der Logik des Einigungsvertrages ergab. Durch diesen Vertrag war bereits entschieden worden, daß es nicht um eine neue Verfassung nach Art. 146 geht, sondern um einen Beitritt nach Art. 23. Dieses Scheitern war ein Ergebnis dieser Grundentscheidung, die damals gefallen ist.
Wir haben einen Entwurf einer neuen Verfassung vorgelegt. Allerdings, Herr Kollege Jahn, möchte ich sagen, es handelt sich nicht um eine sozialistische Verfassung. Ich meine, daß man nach dem Scheitern dieses Sozialismus in Europa nicht den Mut haben kann, heute zu sagen, wie denn eine sozialistische Verfassung aussehen soll. Ich würde das für halsbrecherisch halten. Wir haben eine radikaldemokratische Verfassung vorgelegt, und wir sollten auch ernsthaft darüber diskutieren.
Unser Problem ist nicht so sehr die Ohnmacht der Verfassungsänderung, sondern wir müssen überlegen, woran das lag. Ich meine, daß ein ernstes Problem auch darin liegt, daß die Reformkräfte in der DDR nicht durch neue Bündnisse und auf andere Weise die Kraft aufgebracht haben, rechtzeitig die DDR zu einem demokratischen Verfassungsstaat umzugestalten und davon ausgehend auch den gesamtdeutschen Staat mitzuformen.
Ein weiteres Problem liegt allerdings darin - und davon kann ich andere wiederum nicht freisprechen-, daß weder von der letzten Volkskammer noch aus der Mitte dieses Hauses im grundsätzlichen Widerstand kam. Auch die SPD hat den Kampf um eine andere Weichenstellung in dieser Verfassungsdebatte in meinen Augen nicht mit der notwendigen Konsequenz vor allem im Zusammenhang mit dem Einigungsvertrag geführt. Sie hat eben damit akzeptiert, daß der Anspruch des Grundgesetzes, aus der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes hervorzugehen, mit dem Beitritt der DDR erfüllt sei.
Verfassungsaufträge wie der des Art. 146 sind nur dann wirksam, wenn sich relevante politische Kräfte für sie einsetzen. Der Art. 146 hatte damals die Absicht beinhaltet, daß bei einer Vereinigung Deutschlands eine neue Verfassung erforderlich sei, und das ist nicht geschehen. Der Art. 146 ist noch unverbraucht. Er wird zur Verfügung stehen, wenn Kräfte einer grundlegenden Verfassungserneuerung stark genug sind.
Schon heute ist nicht zu übersehen, daß mit dem wachsenden Abstand vom 3. Oktober 1990 die ungelösten Verfassungsfragen hinsichtlich der Demokratieproblematik, des Eigentumsrechts der Ostdeutschen und vieler anderer Probleme drängender werden.
Meine Damen und Herren, für mich gibt es einen eklatanten Widerspruch zwischen dem Inhalt der Verfassungsdebatte und ihrem Ergebnis. Die Arbeit in der Gemeinsamen Verfassungskommission, überhaupt die Debatte um die Verfassungsreform war wohl der angenehmste Teil meiner parlamentarischen Arbeit hier. Es gab ernsthafte und gute Debatten, aber doch recht magere Ergebnisse.
Berücksichtigt man auch die öffentlichen Anhörungen zu Verfassungsfragen, so ist zumindest mein Eindruck, daß wir an fast allen wichtigen verfassungspolitischen Fragen dran waren, jedoch kaum akzeptable Lösungen gefunden wurden. Das betrifft vor allem die weitgehende Reduzierung des Demokratieprinzips auf repräsentative Demokratie und Parteiendemokratie, die Kluft zwischen dem Friedensprinzip und der unübersehbaren Tendenz zur Militarisierung der Außenpolitik, das Ungenügende des Sozialstaatsprinzips als Schranke gegen Massenarbeitslosigkeit und soziale Not, die verfassungsrechtliche Negierung des Ost-West-Gegensatzes einschließlich von Minderheitsrechten der Ostdeutschen.
In der Gemeinsamen Verfassungskommission - so ging es jedenfalls mir - hatte man hin und wieder das Gefühl, Mitglied einer verfassunggebenden Versammlung zu sein. Es gab eine Debatte, zum Teil auch Mehrheiten über Fraktionsgrenzen hinweg. Ich hoffe, daß das auch heute noch der Fall ist. Allerdings ließ dann, wie in der Frage des Umweltschutzes, die Disziplinierung durch die Fraktionsführung der CDU/ CSU nicht lange auf sich warten.
Bei der nachfolgenden Verfassungsdebatte in den Ausschüssen kehrte man dann zur Normalität des parlamentarischen Betriebes zurück. Die vorher beschworene hohe Autorität der Gemeinsamen VerfasDr. Uwe-Jens Heuer
sungskommission galt wenig, als dann die CDU/CSU abrückte von der Achtung der Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten.
Vor einem Jahr, am 1. Juli 1993, haben wir in der Gemeinsamen Verfassungskommission mit 45 gegen 12 Stimmen bei einer Stimmenthaltung für diese Formulierung gestimmt, und diese Abstimmung stand unter dem Eindruck der rassistischen Ausschreitungen gegen Türken, Vietnamesen und andere ethnische Minderheiten. Sie fand damals die Zustimmung auch einer Reihe von Abgeordneten der CDU/CSU und damit eine Zweidrittelmehrheit.
Es hätte meiner Ansicht nach sehr große negative internationale Auswirkungen, wenn dieser Artikel heute nicht die erforderliche Mehrheit fände. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß das nicht beschlossen wird, weil die Interessen der fast 2 Millionen Türkinnen und Türken keine Rolle spielen, da sie kein Wahlrecht besitzen, und daß in der gegenwärtigen Diskussion nur noch solche Mehrheiten zustande kommen, von denen man meint, daß sie auf die Wahlentscheidung Einfluß nehmen können. Das halte ich für gefährlich auch für das internationale Ansehen Deutschlands.
Ich meine auch, daß die Formulierung von den alteingesessenen Minderheiten sehr unglücklich ist, weil sie offensichtlich die Sinti und Roma von Schutz und Förderung ausschließen soll. Dem kann ich mich nicht anschließen.
Für die gesamte Verfassungsdebatte war ein völlig unterschiedliches Gewicht der verschiedenen außerparlamentarischen Verfassungsinitiativen typisch. Für den Vorschlag, das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft im Grundgesetz zu verankern, gab es Eingaben mit insgesamt über 100 000 Unterschriften. Der entsprechende Antrag aber wurde gegen meine Stimme bei einer Enthaltung abgelehnt. Als der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages an die Mitglieder des Rechtsausschusses schrieb, das Abgehen von einer einheitlichen Bundeskompetenz in den Empfehlungen der Kommission hinsichtlich der beruflichen Bildung sei unakzeptabel, entsprach die Fraktionsführung der CDU/CSU diesem Hinweis unverzüglich.
Es war eine positive Erfahrung während der gesamten Verfassungsdebatte, daß sehr viele Vorschläge eingingen. Immer dann, wenn diese Initiativen Massencharakter annahmen, konnte die Verteidigungsposition zur Sicherung des Status quo durchbrochen werden. Ich erinnere mich noch immer mit großer Freude an unsere Anhörung, als 500 selbstbewußte Frauen in Bonn im Saal waren und dieser Diskussion einen Stempel aufdrückten; davon geht jetzt wirklich etwas in dieses Grundgesetz ein.
Jetzt, wo die Verfassungsdebatte gewissermaßen in den Wahlkampf übergegangen ist, besteht augenscheinlich die Chance, ein Verbot der Benachteiligung der Menschen mit Behinderungen sowie den Tierschutz verfassungsrechtlich zu verankern. Ich meine aber, daß es ein Wermutstropfen ist, daß es bei Nichtwählern eine solche Entscheidung nicht so leicht gibt.
Die F.D.P. hat sich jetzt in einer Reihe von Fragen zu für ihre Verhältnisse etwas radikalen Vorschlägen hinsichtlich der Aufnahme der Einheit Deutschlands in die Präambel, des Tierschutzes und der auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft durchgerungen. Allerdings kann ich mich dem Eindruck nicht verschließen, daß diese Radikalität auf dem sicheren Fundament der Ablehnung dieser Vorschläge durch die CDU/CSU beruht, so daß die Kühnheit doch vielleicht nicht so groß ist.
Radikal werden alle Forderungen einer direkten Volksgesetzgebung abgelehnt. Ich unterstütze den Vorschlag der Demokratie-Initiative 1994, 88147 Achberg, Hohbuchweg 23, Tel. 08380-500, gleichzeitig mit der Bundestagswahl 1994 einen Volksentscheid über die verfassungsrechtliche Ausgestaltung der Volksgesetzgebung durchzuführen.
Großes Gewicht legen wir auf klare verfassungsrechtliche Aussagen, wie das staatlich vereinigte Deutschland seine wiedergewonnene Souveränität nutzen sollte. Wir verstehen uns vorbehaltlos als Befürworter der Option, daß sich Deutschland einem Höchstmaß an militärischer Selbstbeschränkung unterwirft. Wir unterstützen Vorschläge der SPD, halten sie aber für nicht weitgehend genug.
Zu den ungelösten Problemen der Verfassungsdebatte zählt das Problem der Vollendung der Einheit Deutschlands. Herr Kleinert hat gesagt, wir sollten das Grundgesetz dann ändern, wenn eine wirklich neue Lage eingetreten ist. Hier ist nun einmal eine wirklich neue Lage eingetreten. Ich meine also, hier müßten Änderungen vorgenommen werden.
Meine Damen und Herren, Herr Jahn hat in der Debatte des Rechtsausschusses gesagt, es ginge bei dieser Fragestellung um eine momentane Frage; heute war von einer Tagesfrage die Rede. Ich halte dieses Augenverschließen vor der deutschen Realität für wirklich schlimm. Zweifellos ist der DDR-Staat zerbrochen. Manche sagen, er sei ruhmlos untergegangen. Ich halte eine solche Formulierung für gefährlich: Was ist denn ein ruhmreicher Untergang? Das erinnert etwas an die Nibelungen. - Herr Vogel hat hier mit Recht gesagt: Es ist kein Tropfen Blut geflossen. Ich halte das für sehr wichtig und sehr gut.
Aber jetzt wird unter den Ruinen dieses Staates eine DDR-Gesellschaft sichtbar. Mir scheint, daß viele von Ihnen angenommen haben, was vielleicht noch im Jahre 1953 möglich gewesen wäre, daß nach dem Wegräumen des DDR-Staats die alte bürgerliche Gesellschaft wieder zutage tritt. Tatsächlich hat sich in diesen vierzig Jahren in Ostdeutschland eine andere Gesellschaft herausgebildet. Ich habe das dringende Anliegen an Sie, diese andere deutsche Gesellschaft zu erkennen, sie nicht von vornherein für die schlechtere zu halten und sie erst einmal zu studieren und zu untersuchen, sie vielleicht wie die Indianer vorurteilslos zu betrachten. Aber das hat man bei den Indianern erst gemacht, nachdem sie ausgerottet waren.
Also: Sehen Sie sich diese Gesellschaft vorurteilslos an und überlegen Sie, wie Sie mit dieser Gesellschaft zu Rande kommen wollen! Ich meine, daß die Entschließung der Enquete-Kommission dabei nicht hilf20966
reich war, indem sie Absagen an Amnestie gegeben hat und statt dessen Ausbau der Ermittlungs- und Justizorgane gefordert hat.
Ich will noch auf ein jüngstes Beispiel dafür hinweisen, nämlich das mecklenburgische Landeshochschulgesetz vom 9. Februar 1994, in dem festgelegt ist, daß alle Professoren, Hochschuldozenten und Dozenten Mecklenburgs sich einem Ehrenrat stellen müssen, der prüft, ob sie überhaupt berechtigt sind, diese Titel weiter zu führen. Darüber entscheidet dann abschließend die Kultusministerin. Das halte ich für gefährlich und für nicht gut. Wir sollten versuchen, Rechte für die Ostdeutschen aufzunehmen. Wir haben solche Vorschläge gemacht, z. B. hinsichtlich einer dritten Kammer und hinsichtlich einer Toleranzregelung.
({0})
Meine Damen und Herren, ich halte es für gefährlich, wenn man mit der Gesellschaft in Ostdeutschland nicht versteht umzugehen. Es gab gegenseitigen Haß, darüber gibt es gar keinen Zweifel. Es gab viel Schlimmes zwischen diesen beiden deutschen Staaten. Aber man sollte das nicht auf diese Gesellschaft, auf die Menschen, die dort leben, und auf ihre Strukturen übertragen. Deshalb schlagen wir mit Artikel 116 b eine Toleranzregelung mit Verfassungsrang vor, die klarstellt, daß es keine Diskriminierung oder Ausgrenzung von ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern allein wegen ihrer politischen Haltung zur DDR geben darf.
({1})
Eine solche Regelung hat der Deutsche Bundestag hinsichtlich des Saargebiets im Jahre 1956 beschlossen, so daß eine solche Regelung nicht grundgesetzwidrig sein dürfte. Was als verfassungsrechtliche Lösung in Südafrika, was zwischen Palästinensern und Israelis möglich ist, das müßte doch auch in Deutschland zu erreichen sein. Schließen Sie Frieden mit dieser ostdeutschen Gesellschaft! Was wäre dazu besser geeignet als die Verfassung!
({2})
Als nächster spricht der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was für ein Volk sind wir nun, am Ende einer mehr als vierjährigen Verfassungsdebatte, deren Ergebnis von Herzen nur von denen begrüßt wird, die diese Debatte gar nicht gewollt haben und alles taten, um sie zu verhindern?
({0})
Was für ein Volk sind wir jetzt, nachdem wir unsere verfassungsgebende Gewalt im Herbst 1989 so laut ausgerufen haben wie selten in unserer Geschichte? Denn auch wenn diese Rufe auf dem Alexanderplatz und der Karl-Liebknecht-Straße in Berlin angestimmt
wurden, gemeint war mit ihnen doch etwas, das alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes anging, nämlich nichts anderes als der Auftrag der damaligen Präambel des Grundgesetzes, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
({1})
Was sind wir jetzt für ein Volk mit einer Verfassung, die nun aus lauter Widersprüchen besteht. Präambel und Art. 146 - neu - setzen voraus, daß diese Einheit vollendet sei. Eine Mehrheit des Rechtsausschusses hat sich vorige Woche - Herr Kollege Vogel hat das eindrucksvoll begründet - für eine Ergänzung der Präambel ausgesprochen, in der die innere Einheit Deutschlands als ein noch weiter anzustrebendes Ziel bezeichnet ist. Also meinen neue Präambel und neuer Art. 146 nur eine äußere Einheit?
Das Recht auf Asyl gilt weiter als Grundrecht, aber seine Wahrnehmung ist fast vollständig blockiert. Die gemeinsame Kommission hat mit Recht im Blick auf das Zusammenwachsen der Europäischen Union die Länderrechte zur Mitwirkung an Kompetenzübertragungen gestärkt. Sie hat das gleiche im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen und -verfahren getan. Gerade hiergegen hat es wegen des Hochschulrechts Einspruch aus den Reihen der Unionsfraktionen gegeben. Am Ende des Ganzen steht der nunmehr leerlaufende Art. 146. Niemand weiß derzeit, was mit der in diesem Artikel erwähnten Verfassung, deren Inkrafttreten das Grundgesetz ablöst, gemeint sein soll.
Die Frage, was für ein Volk wir eigentlich sind, stellt sich noch dringender angesichts der Tatsache, daß dieses Grundgesetz mit all seinen immanenten Widersprüchen auch noch eine gespaltene Geltung hat. Es gilt in den beigetretenen Ländern der ehemaligen DDR, aber es gilt dort mit einschneidenden Änderungen. Obwohl der neue Art, 28 das Gegenteil sagt, unterliegen die Kommunen der ehemaligen DDR noch immer den Einschränkungen ihres Vermögensrechtes, die der Einigungsvertrag festgeschrieben hat.
Ähnlich geht es den Ländern. Sie müssen noch immer mit der Bundesvermögensverwaltung um jene Ländereien streiten, die in den Händen der den DDR-Zentralismus noch immer verlängernden Treuhandverwaltung sind. Die hinter dem Rücken der Volkskammer von der de Maizière-Regierung vollzogene Außerkraftsetzung bundesdeutschen Bergrechtes erlaubt es, besonders in der Gegend von Borna, Wurzen und Leipzig, gegen alle Umweltinteressen der Anwohner ganze Gegenden in Kiesgruben zu verwandeln und diese Verwandlung auch noch zu einem lukrativen Zweig der Bodenspekulation auszubauen.
({2})
Auf die Degradierung der individuellen Eigentumsrechte ehemaliger DDR-Bürger werde ich noch eigens eingehen.
Jetzt ist es unerläßlich, noch einmal an die Vorgeschichte dieser gescheiterten Verfassungsdiskussion zu erinnern. Daß die Demokratiebewegung der DDR
nicht nur nach Verfassungsgebungskompetenz gerufen hat, sondern sie auch wahrnahm, zeigt der schon in der ersten Sitzung des Runden Tisches im Berliner Bonhoeffer-Haus gefaßte Beschluß, eine Verfassung für die DDR auszuarbeiten, die der frei gewählten Volkskammer zur Beratung vorzulegen und über die am 17. Juni 1990 durch Volksentscheid abzustimmen sein sollte. Gegen immer wieder von interessierter Seite ausgestreute Gerüchte muß hier festgehalten werden, daß an dieser Beschlußlage irgendwelche Zweifel nicht möglich sind, auch wenn die Arbeitsgruppe Verfassung des Runden Tisches am 12. März 1990, dem Termin der letzten Sitzung, ihre Verhandlungen noch nicht abgeschlossen hatte. Die zu diesem Tag gefaßten Beschlüsse machen das unzweifelhaft. Es wird künftiger Geschichtsschreibung vorbehalten sein, aufzuhellen, welche Kräfte im Hintergrund tätig waren, um die Behandlung des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches in der Volkskammer zu verhindern. Ich muß diese Dinge in Erinnerung rufen, denn sie sind die eine Ursache für das Versagen der politisch Verantwortlichen angesichts einer historischen Aufgabe, wurde doch damit das Mitwirkungsrecht des DDR-Parlaments an der Vorbereitung der gesamtdeutschen Verfassungsdebatte blockiert.
Ich bitte sehr darauf zu achten, meine Damen und Herren: Ich werfe das nicht Westdeutschen vor, sondern es ist in der Volkskammer verhindert worden, daß diese Verfassungsdebatte durchgeführt wurde.
Jetzt stehen wir vor der Tatsache, daß die Gemeinsame Verfassungskommission eine Volksabstimmung in ganz Deutschland angesichts der Ergebnisse ihrer Arbeit nicht für geboten hält.
Die verfassunggebende Gewalt aller Deutschen ist es nunmehr, die ihrer Rechte beraubt wird. Als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Rechtsausschuß den Antrag stellten, dann doch nicht nur über das dürftige Ergebnis der Kommission, sondern auch über die Entwürfe von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste durch Volksentscheid abstimmen zu lassen, wurde das mit allen Stimmen außer der des Antragstellers abgelehnt. Selbst die PDS/Linke Liste wagte nicht, für ihren eigenen Entwurf zu stimmen und enthielt sich.
Ich will Ihnen die Gründe nennen, meine Damen und Herren, warum ich die Verfehlung dieses Verfassungsauftrags für schwerwiegend halte. Am Anfang des deutschen Vereinigungsprozesses mußte das stehen, was das Kreisauer Widerstandsprogramm gegen den Nationalsozialismus die Wiederherstellung des zerstörten Rechts genannt hat. Gesetzgebung vollzieht sich in einer Demokratie auf der Grundlage der Verfassung. Darum mußte Verfassungsgebung der erste Schritt der Wiederherstellung des zerstörten Rechts in ganz Deutschland sein.
({3})
Zerstörung der Rechtsgrundlagen, das ist es gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen, was uns in die Zerstörung unserer nationalen Einheit und in die endlosen Verlogenheiten des Kalten Krieges geführt hat. Die Präambel einer neuen Verfassung hätte mit der
unverklausulierten Feststellung beginnen müssen, daß die in Nürnberg und anderswo verurteilten Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit nicht nur im Namen von Deutschen, sondern durch Deutsche begangen worden sind und daß deutsche Jurisprudenz, Medizin und Theologie in ihrer übergroßen Mehrheit alles getan haben, um diese Verbrechen zu legitimieren.
Beim Formulieren einer solchen Präambel wären wir wohl kaum auf jene theologisch wie verfassungsrechtlich gleich haltlosen Versuche verfallen, dieser Aufgabe durch eine in sich unklare und zweideutige Berufung auf Gott zu entgehen.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Vogel hat uns ja heute vorgeführt, wie man mit dieser Zweideutigkeit zu der neuheidnischen Vergötzung des Volks- und Nationenbegriffes kommen kann. Daran zeigt sich doch, wie unsicher diese Grundlagen sind.
({4})
Hätte es die hier fällige gesamtgesellschaftliche Willensbildung gegeben, dann wüßten wir einerseits, warum auch die Geschichte der DDR an dem Urteil über Unmenschlichkeit, Friedens- und Rechtszerstörung gemessen werden muß. Andererseits wäre es wohl nach einer solchen unzweideutigen Willensäußerung unmöglich, daß Altnazis die Unverschämtheit besitzen, eine Petition zur Einsetzung eines Ausschusses zur Untersuchung der sogenannten Auschwitz-Lüge an Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu richten.
({5})
Ebenso unmöglich, meine Damen und Herren, wäre es, das Thema der Rechtszerstörung durch jene den Grundsatz und das Thema verfehlende Debatte über Totalitarismus und Antitotalitarismus abhandeln und aufarbeiten zu wollen.
Was in deutschen Landen zerstört worden ist, war auch die Einheit des Eigentumsrechtes. Es muß leider immer wieder erst in Erinnerung gerufen werden, daß diese Zerstörung mit dem skrupellosen Raub des Eigentums deutscher Staatsbürger jüdischer Herkunft begonnen hat. Zu dieser Vorgeschichte aber kommt die ungleiche Verteilung der Kriegsfolgelasten hinzu, die zu einer völlig ungleichen Verteilung der Vermögen in den beiden Teilen Deutschlands geführt hat.
Wer den Art. 14 des Grundgesetzes auf dieses rudimentäre Eigentum in der ehemaligen DDR anwenden wollte, der mußte zu einem Privatisierungskonzept wie dem des Zentralen Runden Tisches kommen, für welches Privatisierung eben nicht nur Verkauf an den Meistbietenden, sondern immer auch Sicherung des individuellen Anteils am Volksvermögen heißen mußte.
Warum, meine Damen und Herren, sage ich das in einer Verfassungsdebatte? Weil der Runde Tisch in Berlin ein noch uneingeholtes Beispiel für das ist, was das Weißbuch der Kommission der Europäischen Union den großen sozialen Dialog nennt, den es für die europäische Ebene fordert. Sollte er in Gang kom20968
men, muß er der Dialog über das Recht auf Arbeit und Wohnung werden, der in diesem Lande längst fällig ist, aber bis jetzt noch nicht einmal in der Ernsthaftigkeit begonnen hat, die nötig ist.
15 Millionen bis 17 Millionen Arbeitsplätze müssen in der Europäischen Union bis zum Jahre 2000 geschaffen werden, in einem Gebiet, in dem 50 Millionen Arme leben. Wagt man angesichts dieser Tatsächlichkeiten noch immer zu bestreiten, daß das Ernstnehmen der Menschenwürde ohne die verfassungsrechtliche Konstatierung dieser Grundrechte nicht denkbar ist?
Die bis zum Überdruß wiederholte Beteuerung, Arbeitsplätze und Wohnungen könnten nicht durch die Verfassung, sondern allein durch die freie Marktwirtschaft geschaffen werden: Was ist sie anderes als eine Variante jenes stumpfsinnigen ökonomischen Materialismus, den wir uns im Herbst 1989 endlich vom Halse schaffen konnten?
({6})
Es ist denkbar, Arbeitsplätze und Wohnungen so zu schaffen, daß die Menschenwürde unserer Mitmenschen nicht mehr angetastet wird. Es ist denkbar, die Gewährleistung dieser Grundrechte ganz anders durchzuführen als in der Scheinbarkeit ineffektiver Produktionen wie in der DDR. Sie wäre sofort möglich, wenn Ökologie nicht als ein einzelnes Staatsziel, sondern als eine neue politische und darum auch verfassungsrechtliche Dimension verstanden würde: nämlich als die, in der Leben als das anerkannt wird, was zu schützen Ziel allen Rechtes ist, und die darum Tierschutz genauso umfassen muß wie Mitmenschlichkeit und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen um ihrer selbst willen.
Vor dieser Frage, meine Damen und Herren Kollegen, stehen wir also noch immer: Sind wir ein Volk mit einer stillgelegten Verfassung, einer stillgelegten Demokratie? Oder einen wir uns endlich, indem wir unser Selbstbestimmungsrecht als Entscheidungsrecht über eine in sich stimmige und darum alle Bürger und Bürgerinnen einende Verfassung praktizieren?
Die eingangs gestellte Frage „Was für ein Volk sind wir eigentlich?" kann ich nur beantworten, indem ich sage: Wir sind das Volk, dessen innere und äußere Einheit davon abhängen, daß es zu einer einmütigen gesellschaftlichen Willensbildung über die gemeinsame Zukunft der Arbeit und der Demokratie kommt
({7})
mitten in einer Epoche, da sich die Völker West- und Osteuropas zu einem Verbund des gemeinsamen Engagements für Freiheit und Menschenwürde neu zusammenfinden.
({8})
Ich erteile dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen haben die Frauen und Männer des Parlamentarischen Rates im Jahre 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland geschaffen.
({0})
Vieles hat sich seither gewandelt.
({1})
- Ich nervös? Da müssen Sie mich mit jemandem verwechseln.
Vieles hat sich seither gewandelt. Geblieben aber ist für uns, die wir dieses Grundgesetz den Notwendigkeiten des ganzen Deutschland anzupassen haben, dieser über den Tag und über Parteien hinausreichende Rahmen der Verantwortung.
Das Grundgesetz steht für 45 Jahre Frieden und für die Rückkehr in die internationale Völkergemeinschaft. Das Grundgesetz steht für 45 Jahre wehrhaften Rechtsstaat und stabile parlamentarische Demokratie, für inneren Frieden und soziale Sicherheit. Das Grundgesetz steht vor allem aber für die deutsche Einheit, die uns die Geschichte - nicht nur in diesem Jahrhundert - so lange versagt hat.
Lassen Sie mich Ihnen, Herr Dr. Vogel, nun auch ein Wort des Respektes sagen: und zwar zum einen für diese bewegende Rede, aber auch für die politische Lebensleistung, sicher über viele Gegensätze hinweg. Sie haben sich und anderen das Leben nicht leichtgemacht. Aber weil Sie es sich selber nicht leichtgemacht haben, haben auch die anderen das leichter hinnehmen können.
Sie haben heute zum Ausdruck gebracht, was auch einer Ihrer Gegenspieler, Franz Josef Strauß, einmal gesagt hat: Notfalls müssen die Bayern die letzten Preußen sein.
({2})
Was Sie am Schluß als Resümee dargestellt haben, hat mich erinnert an den Schlußsatz einer Betrachtung als Antwort auf eine Demokratieenquete der UNO im Jahre 1949, wo Joseph Bernhart über „Philosophische Aspekte der demokratischen Krise" schrieb und mit dem Satz schloß, der für uns alle gilt:
Es gilt, die Ordnung der Dinge zu erkennen und sich selbst in Ordnung zu bringen.
Ich danke Ihnen jedenfalls für das, was Sie getan haben, dafür, wie Sie es getan haben, und auch für die Rede heute. Alles Gute für die Zukunft!
({3})
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz ist endgültig. Unser Grundgesetz in der Fassung von 1949 war endgültig im Sinne seiner unantastbaren Wertsetzungen und elementaren Normen. Die Aufzählung der Grundrechte, die Demokratie, das Sozialstaatsgebot, der Föderalismus und das friedliche ZuBundesminister Dr. Theodor Waigel
sammenleben mit den anderen Völkern waren in ihrer Bestimmtheit für immer definiert.
Dennoch war das Grundgesetz nach dem Wortlaut des ursprünglichen Art. 146 vorläufig, weil es den Weg zur Einheit Deutschlands offenhalten sollte.
Mit der Wiedervereinigung ist dieser Vorbehalt gegenstandslos geworden. Die aus den freien Wahlen vom 18. März 1990 hervorgegangene Volkskammer der DDR hat am 23. August 1990 mit großer Mehrheit den Beschluß über den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gefaßt. Damit wurde das Grundgesetz zur endgültigen Verfassung der Deutschen.
Das Grundgesetz hat die Integration unseres Staates in die Gemeinschaft der freien Welt, in die politische Kultur von Freiheit und Demokratie ermöglicht. Das Grundgesetz mit seinen demokratischen Regeln und seinem Katalog von Grundrechten stellte damals und stellt heute eine fundamentale Wertentscheidung der Deutschen dar. Mit dem Grundgesetz zog der freie Teil der deutschen Nation die Lehren aus der Geschichte. Es war dies eine Entscheidung für die politische Freiheit und gegen den Totalitarismus, für den Rechtsstaat und gegen eine kollektivistische Wirtschaftsordnung.
Es war deshalb im Jahre 1990 konsequent, die von den Menschen gewollte Wiedervereinigung Deutschlands durch Beitritt über Art. 23 Grundgesetz und nicht durch eine neue Verfassung oder eine Totalrevision des Grundgesetzes zu vollziehen.
({4})
Den meisten Befürwortern einer Totalrevision des Grundgesetzes ging es letztlich darum, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den erneuten Versuch in Richtung einer „anderen Republik" zu unternehmen.
({5})
Meine Partei, die Christlich-Soziale Union, stellt sich mit allem Nachdruck gegen noch vorhandene Bestrebungen nach einer anderen Republik.
({6})
Für uns war im Jahre 1990 von Anfang an klar: Die Wiedervereinigung darf nicht als Vorwand für eine grundlegende Verschiebung des verfassungsrechtlichen Koordinatensystems mißbraucht werden. Dazu besteht schon deshalb kein Anlaß, weil noch keine deutsche Verfassung davor soviel Freiheit und Recht für unser Volk gebracht hat.
({7})
Angesichts dieser Ausgangslage war es naheliegend, in Art. 5 des Einigungsvertrages die Empfehlungen zu einer Überprüfung des Grundgesetzes auf einige wenige Punkte zu beschränken. Der Art. 79 des Grundgesetzes bietet genügend Ansatzpunkte für eine schrittweise und punktuelle Anpassung unserer Verfassung an neue Herausforderungen, wie sie
sich in jedem Staatswesen durch die Fortentwicklung der Verfassungswirklichkeit sowie durch Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft ergeben.
Die Vertreter der Mehrheit der großen demokratischen Parteien dieses Hauses haben sich in der Gemeinsamen Verfassungskommission und im federführenden Rechtsausschuß über eine Reihe abgewogener und zukunftsweisender Änderungen des Grundgesetzes geeinigt. Andere Punkte sind im Widerstreit der Interessen und Bewertungen bis heute offengeblieben.
Ich will die Diskussion der letzten Wochen nicht in allen Punkten wieder aufnehmen. Wichtig erscheinen mir jedoch die folgenden Überlegungen:
Die CSU wendet sich mit Nachdruck gegen eine Überfrachtung des Grundgesetzes mit illusionären Staatszielen.
In einer Mehrparteiendemokratie mit pluralistischer Gesellschaft, Marktwirtschaft und Tarifautonomie wären Staat und Politik am Ende völlig überfordert, wenn sie einen ganzen Katalog wirtschafts- und sozialpolitischer Staatsziele gewährleisten wollten, wie etwa ein Recht auf angemessene Wohnung oder ein Recht auf einen Arbeitsplatz. Das Grundgesetz ist das Fundament für das Zusammenleben unseres Volkes, nicht ein Katalog angenehmer, aber nicht immer durch den Staat erfüllbarer Wünsche.
Entsprechend dem Entwurf der Verfasssungskommission plädiere ich für eine enge Begrenzung bei der Aufnahme von Staatszielen. Umweltschutz, Gleichberechtigung und Diskriminierungsschutz für Behinderte - dabei muß es bleiben. Wichtig war aus meiner Sicht, den Umweltschutz in den Gesamtzusammenhang der verfassungsmäßigen Ordnung einzubetten. Damit erhält der Gesetzgeber den Auftrag, den Umweltschutz im Ausgleich mit anderen Verfassungsgütern und Verfassungsprinzipien jeweils nach dem Stand der Probleme und der Lösungsinstrumente sicherzustellen.
Wir haben entschieden alle Versuche zurückgewiesen, unsere repräsentative Demokratie durch plebiszitäre Elemente umzuformen oder gar auszuhöhlen.
({8})
- Es war an dieser Stelle, vor wenigen Wochen, als ich bei der Wahl des Bundespräsidenten den von uns allen und von mir hochgeschätzten Josef Felder traf. Der 93jährige, das älteste noch lebende Mitglied des damaligen Reichstags, der später Bundestagsabgeordneter war, sagte mir: Waigel, wir sollten uns über alle Parteigrenzen hinweg darüber klar sein, daß wir den Bundespräsidenten auch weiterhin durch diese Bundesversammlung wählen lassen sollten.
({9})
Herr Vogel, lassen Sie mich das doch sagen. Das muß uns doch nachdenklich machen, wenn ein Mann mit dieser Erfahrung und mit dieser geistigen Klarheit, die ihn auch heute auszeichnet, vor diesen Din20970
gen warnt und aufzeigt, wohin sie in einer Wahlkampfatmosphäre führen könnten, wenn sie durch Demagogen ausgenutzt würden. Dies ist für mich eine wichtige Lehre, auch bei anderen Dingen an den Grundzügen der repräsentativen Demokratie festzuhalten.
({10})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Vogel?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Waigel, würden Sie mir zustimmen, daß Josef Felder, der auch mir gut bekannt ist, auf die Wahl des Bundespräsidenten angesichts der Befugnisse, die er jetzt hat, abhob, daß er aber gleichzeitig durchaus für Sachentscheide durch das Volk eingetreten ist. Sie verallgemeinern, glaube ich - darum meine Frage -, etwas, was sich nur auf das Amt des Bundespräsidenten bezogen hat.
({0})
Herr Kollege Vogel, genau das habe ich eben gesagt. Nur besteht die Gefahr, die in diesem Bereich gegeben ist, auch in anderen Bereichen. Herr Kollege Vogel, was wäre denn heute das Ergebnis, wenn Volksabstimmungen für oder gegen die Todesstrafe, Volksabstimmungen für oder gegen die NATO, Volksabstimmungen für oder gegen die Wiederbewaffnung stattfänden?
({0})
Ich kann nur warnen, dies durch die plebiszitäre Demokratie entscheiden zu lassen.
({1})
Ich glaube, Herr Kollege Vogel, wir waren uns über die Grundfrage im klaren. Richtig ist, daß Felder das in dem Gespräch nur auf diese Frage bezogen hat. Ich will niemanden für etwas vereinnahmen, aber dies ist meine Folgerung, die ich hiermit zum Ausdruck gebracht habe.
({2})
Der Kollege Ullmann würde gern noch eine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Ullmann, ich habe nur 15 Minuten Redezeit. Aber bitte schön!
Herr Bundesminister, was sagen Sie denn zu dem Funktionieren unserer repräsentativen Demokratie angesichts der Zahl der Nichtwähler in unserem Lande?
(
Das ist ja unerhört!)
Genau das ist die große Gefahr, daß bei schweigenden Mehrheiten radikale Minderheiten in die Lage kommen könnten, zu unverhältnismäßigen Ergebnissen zu kommen.
({0})
Die Erfahrungen der Weimarer Republik mit plebiszitären Verfassungselementen waren nicht erfolgversprechend.
({1})
In einem kleinen Gemeinwesen wie der Schweiz mögen sich Volksentscheide bewährt haben, obwohl auch von dort andere Stimmen zu hören sind. Bezüglich der Wirksamkeit und Auswirkung von Plebisziten in einem großen demokratischen Staat habe ich meine Zweifel, zumal sich unser Land in einen Dauerwahlkampf begeben würde. Vor allem führen Volksentscheide auf Bundesebene zu einem kaum lösbaren Spannungsverhältnis mit den gesetzgeberischen Mitwirkungsrechten unserer Länderkammern und den Prinzipien des Föderalismus insgesamt.
Herr Bundesminister, der Kollege Dr. Hirsch würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Bundesminister, ich bitte um Verzeihung: Sie sagten, daß die Erfahrungen mit Volksentscheidungen in der Weimarer Republik nicht erfolgversprechend waren. Darf ich Sie fragen, was Sie an den ganzen vier Volksentscheiden auszusetzen haben, die in der Weimarer Republik zur Abstimmung gestellt wurden?
({0})
Ich glaube nicht, daß dies vergleichbar ist. Ich habe vorhin zur Frage des Reichspräsidenten Stellung genommen. Das hat eine Rolle gespielt; das war in der Weimarer Verfassung anders; das würde ich heute nicht wiederholen, Herr Kollege Hirsch.
({0})
Im übrigen - ich will hier keine Länderdiskussion führen - gäbe es eine Menge Möglichkeiten, zumindest die Direktwahl der Bürgermeister auch in den anderen Ländern Deutschlands durchzuführen, die wir in Bayern, Herr Kollege Vogel, schon lange eingeführt haben.
({1})
Demokratie lebt Tag für Tag in der Arbeit der Parteien, die für jeden offenstehen. Demokratie lebt in der freien Presse. Demokratie lebt in den Betriebsräten und Personalvertretungen, in den Gewerkschaften, in der Schüler- und Studentenselbstverwaltung und dem täglichen Kontakt der Abgeordneten mit ihren Wählern. Demokratie lebt auch vom Engagement der Menschen, vom politischen und gesellschaftlichen Ehrenamt und von der Verantwortung in diesen Funktionen.
Wir zweifeln nicht an der Mündigkeit der Wahlbürger. Aber Plebiszite sind stets der Gefahr ausgesetzt, daß bei geringer Wahlbeteiligung kurzfristige Stimmungslagen zu weitreichenden und bindenden Entscheidungen führen, die nicht immer wieder ins Gegenteil verkehrt werden können. Ich habe dazu vorher das Notwendige gesagt.
Grundlage der Bundesrepublik Deutschland bilden im historischen Kontext die Länder, die mit der Einberufung des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee im Jahre 1948 den Weg zur Bundesrepublik und damit zum Bundesstaat geschaffen haben.
Bayern gilt von seinem historischen Selbstverständnis, von seiner jahrhundertelangen Eigenstaatlichkeit her als der Hort des Föderalismus schlechthin. Seit ihrer Gründung versteht sich die Christlich-Soziale Union als Vorreiter bei der Verteidigung der föderalen Elemente unseres Verfassungsgefüges.
({2})
Aus diesem Grund hat der - jetzt komme ich zu dem Thema Bayerische Landtag mit den Stimmen der CSU am 20. Mai 1949 das Grundgesetz abgelehnt. Gleichzeitig hat er sich aber für die Zugehörigkeit Bayerns zur neuen Bundesrepublik ausgesprochen. Damit wurde schon damals deutlich, daß für Bayern und die CSU der Föderalismus zu den Grundpfeilern unseres Verständnisses vom Staatsaufbau gehört.
({3})
In den siebziger Jahren haben wir uns mit Erfolg gegen allzu zentralistische Tendenzen der damaligen Mehrheit zur Wehr gesetzt. Ich stelle heute erfreut fest, daß sich in den vergangenen Jahren die SPD in den Bundesländern, in denen sie Regierungsverantwortung trägt, den föderalen Grundsatzpositionen der CSU angenähert hat.
({4})
- Ja, das ist wahr. Herr Kollege Vogel, wenn es damals möglich gewesen wäre - was heute leider wieder nicht möglich ist -, die Art. 72 und 75 so zu ändern, daß sie nicht nur eine Bedürfnisklausel des Bundes beinhalten, wäre es damals vielleicht zur Zustimmung der CSU gekommen. Das ist heute leider nicht möglich.
({5})
Wir werden Ihren Antrag nicht deshalb ablehnen,
weil wir ihn inhaltlich nicht für richtig halten, aber es
gibt leider nicht die Zweidrittelmehrheit, die heute notwendig wäre.
({6})
- Herr Kollege Vogel, Sie wissen doch, wie schwer es ist, manchmal eigene Freunde von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen und sie dafür zu gewinnen.
({7})
Meine Damen und Herren, die europäische Integration auf der einen und die Wiedervereinigung auf der anderen Seite haben das föderale Kräftefeld verändert.
Mit der europäischen Integration sind zwangsläufig Kompentenzverlagerungen zu Lasten von Bund und Ländern verbunden. Wir haben dieser Entwicklung bereits zweifach Rechnung getragen. Zum einen haben wir im Vertrag von Maastricht den Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip fest verankert.
Eine automatische Kompetenzaushöhlung zu Lasten der Mitgliedstaaten und zugunsten der europäischen Ebene kann es danach nicht geben. Wir werden vielmehr auf der Grundlage des Vertrages europäische Begehrlichkeiten nach einer Überintegration entschieden zurückweisen. In diesem Zusammenhang muß auch die Rückübertragung von Zuständigkeiten angestrebt werden.
Zum anderen werden die Bundesländer im Rahmen des neuformulierten Art. 23 des Grundgesetzes in die europäische Verantwortung umfassend einbezogen. Die europäische Integrationspolitik ist damit nicht mehr auswärtige Politik im Sinne des Art. 32 des Grundgesetzes.
Soweit durch Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert und ergänzt wird, bedarf dies einer Zweidrittelmehrheit im Bundesrat. Damit ist ausgeschlossen, daß es ohne ausdrückliche Zustimmung der Länder zu weiteren Kompetenzverschiebungen kommen kann.
Für das föderale Miteinander im Innern ist die Abgrenzung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern entscheidend. Verfassungsrechtliche Unschärfen und Unklarheiten in diesem Bereich schaden allen Beteiligten und damit dem Föderalismus; denn Kompetenzstreitigkeiten lähmen die Handlungsfähigkeit und erschweren die Arbeit, die jeder in seinem Bereich zu leisten hat.
Ich unterstütze daher den Wunsch der Länder, vor allein durch eine Klarstellung in Art. 72 des Grundgesetzes zu einer dauerhaften und eindeutigen Abgrenzung zu kommen.
Die große Mehrheit meiner Partei, zu deren politischer Identität der Föderalismus gehört, steht fest zur Stärkung der Länderkompetenzen in den Art. 72 und 75 des Grundgesetzes.
({8})
Wenn man nach der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission und zwei Jahren öffentlicher Grundgesetzdiskussionen eine Bilanz zieht, mag manchem das Ergebnis weniger bedeutend erscheinen. Aber dieser Eindruck stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein.
Zum einen besagt die Zahl der geänderten Grundgesetzartikel nichts über das Gewicht der Anpassungen. Zum anderen ist - darauf hat auch der Kollege Kleinert zu Recht verwiesen - nicht nur das Ziel, sondern auch der Weg von entscheidender Bedeutung.
Die öffentliche Diskussion über unsere Verfassung hat die Menschen bewegt, hat Meinungen zusammengeführt, aber auch unterschiedliche Bewertungen deutlich werden lassen. Mit dieser Diskussion hat unsere Verfassung ihre Vitalität und Kraft, vor allem aber ihre Verankerung im Bewußtsein der Bürger verdeutlicht. Schon dafür hätte es sich gelohnt, die Beratungen aufzunehmen.
Das Grundgesetz von 1949 hat durch die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission eine eindrucksvolle Bestätigung gefunden. Was damals geschrieben wurde, hat heute nahezu uneingeschränkte Gültigkeit. Was sich heute bestätigt hat, entspricht auch morgen noch der Wahrheit und den Wünschen der Menschen.
Die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission war ein einmaliger Vorgang. Allerdings sind auch künftige Grundgesetzänderungen möglich und notwendig. Der nächste Deutsche Bundestag soll die Frage der Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten deshalb nochmals auf greif en.
({9})
Zu Beginn der nächsten Legislaturperiode wird die CSU Änderungen der Art. 72 und 75 beantragen.
Wir haben in ökonomischer, in sozialer und mit der jetzt zu Ende gehenden Verfassungsdiskussion auch in rechtlicher Hinsicht die Grundlagen für den gemeinsamen Weg der Deutschen in die Zukunft geebnet.
Die schrecklichen Zeiten des Krieges und die konfliktreichen Jahre der Nachkriegszeit liegen hinter uns. Im Innern ist Deutschland bei allen noch bestehenden Problemen und Aufgaben gefestigt. Das ist weit mehr, als wir vor vier, geschweige denn vor fünf oder zehn Jahren erwarten und hoffen durften.
Unsere Verfassung, das Grundgesetz des Parlamentarischen Rates, hat sich als das gemeinsame und starke Fundament für das Zusammenleben aller Deutschen erwiesen. Es bestimmt mit seinen Prinzipien der gegenseitigen Achtung, der Demokratie, der sozialen Zusammengehörigkeit und des Föderalismus den Charakter unseres Landes nach innen wie nach außen. Es ist ein freundlicher und selbstbewußter Charakter. Er paßt zu unserem Vaterland, das wir zugleich mit Achtung und Sympathie betrachten können.
George Washington, der erste amerikanische Präsident, hat in seiner Abschiedsbotschaft an seine Mitbürger den folgenden Anspruch beschrieben:
Da ihr durch Geburt oder Wahl Bürger eines gemeinsamen Landes seid, hat dieses Land ein Recht, eure Neigung für sich zu beanspruchen.
Dieses Recht kommt auch dem deutschen Vaterlande zu. Es zu erfüllen - darin sollten wir alle wetteifern.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Dr. Henning Voscherau.
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Arbeiten im Rahmen der Verfassungsdiskussion der letzten zwei Jahre waren, da sie auf Art. 5 des Einigungsvertrages beruhten, ein wesentlicher Teil des Prozesses der inneren Einigung, des Versuchs, die Vollendung der inneren Einheit zu erleichtern, zu begründen und, wenn es geht, zu beschleunigen.
Vor einigen Monaten, als in diesem Hause zum erstenmal über die Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission gesprochen wurde, breitete sich nach intensivem Streit, schwerwiegendem Ringen, manchem Hin und Her und - das sei gerade heute nicht verschwiegen - häufig mehrfachem, zeitaufwendigem Prozeß des Rückkoppelns zwischen den CDU/CSU-Mitgliedern der Gemeinsamen Verfassungskommission und der Bundestagsfraktion der CDU/CSU eine konsensuale, ich sage: weihevolle Stimmung aus. Diese erscheint mir heute weniger begründet als damals.
Ich bedauere das. Denn die Gemeinsame Verfassungskommission ist von dem Deutschen Bundestag durch einen präzisen Einsetzungsbeschluß ebenso wie von dem Bundesrat durch einen entsprechenden Beschluß nicht ohne Grund eingesetzt worden. Sinn, Arbeitsgrundlage und, wenn Sie so wollen, auch Herausforderung dieser Einsetzungsbeschlüsse bestanden doch darin, außerhalb der üblichen Gesetzgebungsarbeit des Deutschen Bundestages hie und des Bundesrates da je nach grundgesetzlichen Kompetenzen und Mitwirkungsmöglichkeiten eine Plattform zu bilden, durch die es gelingen könne, über Zweidrittelmehrheiten in der Kommission die Sichtweise der beiden an der Verfassungsgebung beteiligten Organe des Grundgesetzes im Vorwege zu harmonisieren, Konflikte möglichst gering zu halten und in dieser Wahlperiode zu der Verabschiedung einer durchgreifenden einheitsbezogenen Veränderung des Grundgesetzes zu kommen, statt am Ende im Streit ergebnislos auf der Strecke zu bleiben.
Vor diesem Hintergrund scheint es mir so zu sein - wenn ich Umfragen unter meinen Kollegen in den anderen 15 Ländern glauben kann, bin ich mit dieser Sichtweise nicht allein -, daß die Aufschnürung des Arbeitsergebnisses der Gemeinsamen Verfassungskommission durch den Deutschen Bundestag, die sich heute abzeichnet, die Verabschiedung dessen, was heute hier mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werSenatspräsident Dr. Henning Voscherau ({1})
den wird, verzögert, erschwert und vielleicht verhindert.
Ich halte das für bedauerlich. Die Arbeit der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die in der Gemeinsamen Verfassungskommission gearbeitet haben, war ebenso wie die der von seiten des Bundesrates entsandten Mitglieder engagiert. Sie hat in weltanschaulichen Grundfragen ein beharrliches Ringen zum Gegenstand gehabt. Das ist nicht nur selbstverständlich, das ist geradezu notwendig. Sie war aber doch auch von dem intensiven Bemühen gekennzeichnet, sich am Ende auf ein Ergebnis, das möglich ist, zu einigen.
({2})
Sinn dieser Verfassungsdebatte sollte sein und ist für mich auch heute noch, die Erfahrungen, die Sichtweisen und das abweichende Lebensgefühl der Deutschen aus der ehemaligen DDR, der Deutschen in den östlichen Ländern, einzubringen, um ein Ergebnis zu bewirken, das geeignet ist, als gemeinsame Verfassungsgrundlage der Vollendung der inneren Einheit zu gelten und angenommen zu werden.
Wir haben hier heute schon von zwei Mitgliedern des Deutschen Bundestages aus den östlichen Ländern eher skeptische, teils harte, ja, bittere Worte gehört. Es wird Sie nicht wundern, wenn einer, der hier von der Bundesratsbank spricht, der Auffassung ist, daß auch die grundgesetzliche Verfaßtheit des föderativen Staatsaufbaus in diesem Sinne eine wichtige Fragestellung ist - wichtig nicht lediglich für die Länder, nicht lediglich für den Bundesrat, sondern aus meiner Sicht auch wichtig für den Deutschen Bundestag.
({3})
Verkennen wir doch nicht: Der untergegangene Staat Deutsche Demokratische Republik - ein Völkerrechtssubjekt, von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt, mit ihr gemeinsam Mitglied der Vereinten Nationen - befand sich staatlich in seinen Befugnissen und Möglichkeiten, wenn auch in einem gegnerischen Block verankert und in einer anderen Gesellschaftsordnung, auf der Höhe der staatlichen Ebene der westlichen Bundesrepublik Deutschland.
Die 5 1/2 östlichen Länder heute hingegen befinden sich auf der staatlichen Ebene der Gliedstaaten des Grundgesetzes. Auch mit dieser Veränderung, einschließlich der Veränderung der Gesetzgebungskompetenzen der östlichen Landtage im Verhältnis zur freigewählten Volkskammer, verbindet sich ein Minus an Identifikationsmöglichkeiten der östlichen Deutschen mit diesem so verfaßten grundgesetzlichen Staat.
Ich hätte mir deshalb - ausdrücklich nicht aus Gründen der Interessen der Länder West, sondern ausdrücklich auch zur Beförderung des Prozesses der inneren Einheit - eine so moderate, von Augenmaß und gesamtstaatlichem Verantwortungsbewußtsein gekennzeichnete Veränderung der Art. 72, 75, 93 gewünscht wie die, auf die sich die Gemeinsame Verfassungskommission - ich wiederhole ausdrücklich: nach mehrfachen Rückkopplungsprozessen in die Bundestagsfraktionen hinein - verständigt hatte. Daß dieser aus meiner Sicht wichtige Teil des Verfassungsänderungsprozesses heute keine Zweidrittelmehrheit erhalten wird - trotz des engagierten, aber fruchtlosen Plädoyers des Bundesministers der Finanzen aus Bayern, das wir eben gehört haben -, finde ich bedauerlich.
({4})
Es wird nach menschlichem Ermessen dazu führen, daß der Bundesrat im kommenden Monat das, was hier heute beschlossen wird, entweder ablehnt oder aber den Vermittlungsausschuß anrufen wird, ausdrücklich mit dem Ziel, die föderalismusbezogenen Aspekte der Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission doch noch durchzubringen. Verstehen Sie dieses Vorgehen, das sich abzeichnet, bitte nicht als Ausdruck „verbesserungsbedürftiger" diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Kammern des deutschen Gesetzgebungsverfahrens, sondern als den Wunsch, dem Auftrag des Art. 5 des Einigungsvertrages folgend, den ganzen Beitrag zu realisieren, den die Gemeinsame Verfassungskommission für richtig, nötig und konsensual möglich hielt.
Ich bin nicht befugt, heute vorwegzunehmen, wie der Beschluß des Bundesrates dazu im Juli ausfallen wird, wiederhole aber, daß mir eine Umfrage unter meinen Kollegen den Eindruck verschafft hat, daß es allseitig nicht nur die Bereitschaft, sondern die Entschlossenheit gibt, so zu verfahren.
Herr Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jahn?
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({0}): Gern.
Herr Erster Bürgermeister, ist nach Ihrem Vortrag auch die Möglichkeit gegeben, daß der unstreitige Teil, der mit dem Föderalismus nichts zu tun hat, im Bundesrat eine Mehrheit findet, um nicht eine Alles-
oder-nichts-Politik durchzusetzen und den unstreitigen Teil passieren zu lassen?
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({0}): Herr Jahn, dies werden die Mitglieder des Bundesrates zu beraten haben. Wenn ich einen vorläufigen Eindruck wiedergeben soll - für den ich niemanden in Haftung nehmen kann -, so müßte ich per jetzt diese Frage mit Nein beantworten, möchte allerdings bedacht wissen, daß der Bundesrat darüber beraten muß und daß sich im Lichte der intensiven Kommunikation, die zwischen Mitgliedern des Deutschen Bundestages, Fraktionsführungen, Landesregierungen und Bundesratsmitgliedern erfahrungsgemäß möglich ist, noch bessere Einsichten ergeben könnten. Also lassen Sie mir nach, diese Frage heute ab20974
Senatspräsident Dr. Henning Voscherau ({1})
schließend zu beantworten. Das ist heute auch nicht meines Amtes.
({2})
Im übrigen wissen Sie, verehrter Herr Jahn, daß das Verfahren der Aufschnürung des Paketes, das hier heute seinen Lauf nimmt, nicht etwa - jedenfalls ist es mir so berichtet worden - gegen den Widerspruch der SPD-Bundestagsfraktion geschieht,
({3})
so daß meine Neigung, mich jetzt mit Herrn Dr. Vogel, der hier heute eine so eindrucksvolle Rede gehalten hat, über das Verfahren auseinanderzusetzen, schon aus diesem Grund und der persönlichen Wertschätzung wegen sehr gering ist.
({4})
Meine Damen und Herren, aus der Sicht der Bundesratsmitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission waren die beiden Jahre bedauerlicherweise durch das Gefühl überschattet, daß das Verhältnis, das Vertrauen zwischen Bundestags- und Bundesratsmitgliedern - damit meine ich nicht lediglich das der 68 Mitglieder der Verfassungskommission - verbesserungsbedürftig ist. Wir hatten immer wieder den Eindruck, als wenn Hinweise auf den guten Sinn der bündischen Ordnung des Grundgesetzes nicht bei allen Mitgliedern dieses Hauses gleich willkommen sind.
Dennoch bindet uns das bündische Prinzip doch alle gemeinsam. Und es hat seinen guten Sinn: Wenn man es in der Ausübung von Kompetenzen, Finanzierungslasten und Einnahmebestandteilen der Finanzverfassung noch etwas verbessern könnte, würde sich auch die Zurechnung politischer Verantwortung durch die Bürgerinnen und Bürger selbst gegenüber den unterschiedlichen staatlichen Ebenen unseres föderativen Staatsaufbaus verbessern.
Ich glaube, daß das dringend erforderlich ist; denn ein Teil des Unverständnisses von Bürgerinnen und Bürgern heute gegenüber dem Wirken unseres komplizierten Staatswesens beruht nach meiner Erfahrung darauf, daß sie nicht recht durchschauen und nicht begreifen wollen, wie es eigentlich angehen kann, daß so wichtige Menschen wie die Mitglieder des Bundestages, der Landesregierungen oder der Landtage so kompliziert zusammenwirken, daß es am Ende keiner gewesen ist. Das nehmen sie nicht hin. Deswegen spricht viel für eine klare, eindeutige Kompetenzzuweisung.
({5}) Nehmen Sie dies also bitte als Appell.
Zu Art. 72 füge ich nur noch einen Aspekt hinzu: Es kann nicht wirklich bestritten werden, daß die Gesetzgebungskompetenzen der Landtage in über 40 Jahren der Anwendung des Grundgesetzes in der westlichen Bundesrepublik schleichend, aber schwerwiegend gegen Null ausgehöhlt worden sind. Es kann nicht verkannt werden, daß dies in allererster
Linie an der geradezu flächendeckenden Ausübung der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat - das füge ich gerade in diesem Hause immer ausdrücklich hinzu - liegt.
({6})
Das ist nicht gut. Ein parlamentarisch verfaßtes föderatives System, dessen untere staatliche Ebene sich im Hinblick auf die Gesetzgebungstätigkeit des dortigen Parlaments in der Bedeutung für die Gesetzgebung für die Bürgerinnen und Bürger in Richtung Null entwickelt, ist für das parlamentarische System insgesamt nicht gut.
Deswegen spricht sehr viel dafür, über eine moderate Änderung des Grundgesetzes von Bundestages und Bundesrates wegen etwas an dieser Fehlentwicklung, an der schleichenden Aushöhlung der Gesetzgebungstätigkeit der Landtage, einer Fehlentwicklung, die in Wahrheit auf eine frühe Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zurückzuführen ist, zu korrigieren. Das ist der Appell, den ich Ihnen allen noch einmal in Erinnerung rufen möchte.
Ich hoffe sehr, daß es gelingen kann, das gesamte Ergebnis der Gemeinsamen Verfassungskommission doch noch auf einen guten Weg zu bringen. Gelingt das nicht, so sehe ich schwarz und glaube nicht, daß die Verabschiedung in dieser Wahlperiode noch sehr wahrscheinlich wäre. Das wäre sehr bedauerlich.
({7})
- Verehrter Herr Abgeordneter Dr. Vogel, ich hatte doch schon vorsichtshalber gegenüber Herrn Jahn meine herzliche Bitte geäußert, mich nicht dazu zu zwingen, daß wir beide uns jetzt ausgerechnet in dieser Sitzung über die Aufschnürung des Pakets auseinandersetzen; denn da werden wir nicht auf einen Nenner kommen.
({8})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen Aspekt hinzufügen: Die Landtage haben während dieser gemeinsamen Arbeit über die Präsidenten an die Gemeinsame Verfassungskommission mehrfach den Wunsch herangetragen, auch sie in den Gang der Bundesgesetzgebung einzubeziehen. Wir haben das abgewettert, weil die Funktionsfähigkeit des Zentralstaats in einer Föderation davon abhängt, daß Gesetzgebung überhaupt zustande kommen kann. Nehmen Sie doch auch diesen Hinweis als ein Indiz dafür, daß auf der staatlichen Ebene der Länder, und zwar gerade auf der parlamentarischen Seite dieser Ebene, etwas „grummelt", jedoch mit Gründen. Ich würde mich freuen, wenn das noch korrigiert werden könnte.
Herrn Bundesminister Waigels Hinweis darauf, die Art. 72 und Art. 75 würden erneut als Antrag eingebracht und demnächst oder in der nächsten Legislaturperiode beschlossen, habe ich nicht verstanden. Wenn das eine Brücke sein soll, glaube ich nicht, daß sie trägt.
Senatspräsident Dr. Henning Voscherau ({9})
Meine Damen und Herren, ich möchte gerne eine kurze Bemerkung zu dem Hinweis von Herrn Heuer machen, der in der Gemeinsamen Verfassungskommission meist sehr allein, aber - das ist zu honorieren - doch sehr aktiv und engagiert mitgearbeitet hat. Herr Heuer hat darauf hingewiesen, unter den Trümmern der DDR werde eine Art ostdeutsche Gesellschaft sichtbar. Das halte ich für keinen falschen Hinweis. In der Diskussion zwischen Ost und West, aber auch - Herr Heuer, das haben Sie nicht hinzugefügt - zwischen Ost und Ost ergibt sich die Notwendigkeit, mit dieser ostdeutschen Gesellschaft behutsam umzugehen, ihre inneren Brüche als Folge von 40 Jahren Diktatur ernst zu nehmen - das sollte auch die PDS tun, Herr Heuer - und zu versuchen, ihr nichts überzustülpen.
Ich habe mehrfach meine eigenen Prognosen aus den Jahren 1989 und 1990 zitiert, die Einheit der Köpfe und Herzen werde 40 Jahre dauern. Das ist unverändert meine Überzeugung. Auf diesem langen Wege darf man nicht frustriert sein, soll sich nicht aufgeregt verhalten, sondern muß geduldig und beharrlich wechselseitig miteinander umgehen.
Herr Heuer, Sie haben gesagt, es sei zwischen den beiden deutschen Staaten viel Schlimmes passiert. Dazu sage ich: Ja, an der Mauer!
({10})
Die Wahrheit ist auch: Es ist viel Schlimmes passiert zwischen Bürgerinnen und Bürgern der DDR und ihrem Staat.
({11})
Wenn man sich jüngste Wahlergebnisse der PDS in den östlichen Ländern anschaut, kommt man nur zu einem realistischen Ergebnis: Diese Stimmergebnisse sind nicht nur Ausfluß der Spaltung zwischen Ost und West, sondern auch der Spaltung zwischen Ost und Ost, und auch diese muß überwunden werden.
({12})
Meine Damen und Herren, in der Gemeinsamen Verfassungskommission, jedenfalls soweit sie nach eigener mehrheitlicher Überzeugung kurzgesprungen ist, gab es keine Blockade von westlichen Mitgliedern dieser Kommission gegenüber den östlichen, sondern im Gegenteil: Von Konrad Elmer und Christel Hanewinckel oder Wolfgang Ullmann bis Steffen Reitmann haben sich die östlichen Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission je nach ihrer weltanschaulich-politischen Einbindung so verhalten wie ihre westlichen Parteifreunde auch. Einen Bruch West gegen Ost, durch den östliche Wünsche in der GVK ausgebremst worden wären, hat es zu keinem Zeitpunkt, in keiner einzigen Abstimmung gegeben. Mir liegt sehr daran, schon im vorhinein mit der eventuellen Legende aufzuräumen, dort sei den östlichen von den westlichen Mitgliedern das Fell über die Ohren gezogen worden. So war es ausdrücklich nicht.
({13})
Lassen Sie mich zum Schluß eine Bemerkung zur Verbesserung der Staatsziele und Differenzierungsverbote machen, die heute offenbar über die Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission hinaus erreicht werden können. Dabei handelt es sich um den Tierschutz, etwas, was ich sehr erfreulich finde und was überfällig war, und um das Differenzierungsverbot gegenüber Behinderten.
Meine Damen und Herren, zu diesem Punkt: Zwei Jahre lang haben 68 Menschen der Gemeinsamen Verfassungskommission um diese Verankerung gerungen. Die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion haben zwei Jahre lang mehr oder minder gute Argumente - teilweise hatte man den Eindruck: unfreiwillig - vorbringen müssen, um sich dieser Verankerung zu entziehen.
({14})
Der Herr Bundeskanzler hat dann natürlich vor dem VdK erklärt, das müsse sein, und jetzt geht es plötzlich. Na schön! Darüber freue ich mich vom Ergebnis her, aber von der Art und Weise der Arbeit und des Umgangs wäre es besser gewesen, das frühzeitig zu machen.
({15})
Herr Bürgermeister, der Kollege Schmude würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Indem ich Ihnen ausdrücklich zustimme, Herr Bürgermeister, frage ich, ob Sie es sich vorstellen können, daß die Mehrheit der Länder, Ihr Land eingeschlossen, denjenigen nachträglich Unterstützung gewährt, die dieses Staatsziel verhindern wollten, indem sie es zusammen mit allem anderen ablehnen, weil die Kompetenznormen nicht ausreichend in ihrem Sinne geregelt sind.
({0})
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({1}): Verehrter Herr Schmude, diese Frage geht direkt ins Schwarze,
({2})
und sie wird von den 16 Ländern im Bundesrat je nach Kabinettsbeschlüssen in der kommenden Woche beantwortet werden.
({3})
Meine Damen und Herren, die Länder haben die Vorabentscheidung über Art. 23 mitgetragen. Trügen sie nun auch noch dies mit, bliebe die Kompetenzverteilung auf der Strecke. Rückfrage bei den Kollegen über die Parteigrenzen hinweg hat mir den Eindruck verschafft, daß per heute die Neigung, die Aufschnürung des Pakets im Bundesrat mitzutragen, sehr ge20976
Senatspräsident Dr. Henning Voscherau ({4})
ring ist. Mehr läßt sich heute beim besten Willen nicht beantworten.
Zum Schluß: Ich glaube, daß die Aufschnürung dieses Pakets die Chance, einen viele Jahre tragenden Verfassungskonsens zu bewirken, obwohl viele Wünsche offengeblieben sind, verkleinert. Ich glaube andererseits, daß es gerade in der jetzigen Zeit, nach vier Jahren der Einheit, wichtig und gut gewesen wäre, den Verfassungskonsens zu stärken. Sie alle kennen die Diskussionen um Art. 146 und die dazu hier im Hause vorliegenden Anträge. Unverändert kann man mit sehr guten Gründen der Auffassung sein, daß ein Vorlagegesetz an das deutsche Volk für die Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassung nach Art. 146 mit einfacher Mehrheit beschlossen werden könne.
Ich frage die Unionsfraktion, ob sie vor dem Hintergrund des 16. Oktober und vor dem Hintergrund ihrer Aussage, das Grundgesetz müsse erhalten werden, die Aufschnürung des Pakets und die Beschädigung des Konsenses wirklich klug findet.
({5})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort.
Ich möchte zu dem, was Herr Voscherau eben ausgeführt hat, etwas sagen.
Ich bin der festen Meinung, daß Schlimmes geschehen ist, daß in der Härte der Auseinandersetzung zwischen beiden deutschen Staaten Schlimmeres von seiten der DDR aus geschehen ist, auch Unverzeihliches geschehen ist und daß diese DDR am Schluß in einer Sackgasse war.
({0})
- Meine Damen und Herren, ich versuche ein Angebot zur Diskussion in diesem Hause zu machen, und ich glaube, daß das wichtig ist.
Ich meine, daß man aber auch sehen muß, daß es von beiden Seiten einen kalten Krieg gegeben hat.
Mein eigentliches Anliegen war aber, deutlich zu machen, daß unter den Trümmern dieses Staates eine Gesellschaft sichtbar geworden ist und daß man sich nicht immer aufregen sollte, daß die Leute weiterhin die Jugendweihe feiern oder etwas ähnliches. Man muß einfach erkennen, daß dort andere Lebensweisen herangewachsen sind, die man verschieden bewerten kann, die man aber einfach zur Kenntnis nehmen muß. Das war das eigentliche Anliegen meines Beitrages. Das ist nicht einfach ein Produkt der PDS - da wird die PDS bei weitem überschätzt -; das ist ein Produkt einer langjährigen Entwicklung. Woran mir liegt, ist, daß das verstanden wird, damit auf dieser Grundlage ein Zusammenwachsen möglich ist. Das war das eigentliche Anliegen meines Beitrages.
Danke schön.
({1})
Herr Bürgermeister Voscherau, wünschen Sie das Wort zu einer kurzen Replik? - Dann erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben eben vom Ersten Bürgermeister gehört, daß wir die Rechnung nicht ohne den Wirt machen sollten - eine interessante Paraphrase zu der Frage, wer eigentlich der Wirt ist.
({0})
Ich muß immer an den unveränderten Art. 146 in der Verfassung denken, zu dem wir leider noch keine gemeinsame Meinung gefunden haben.
Wir sollten uns nicht zu sehr loben. Die Arbeiten der Verfassungsreformkommission haben in diesem Haus und in der informierten Öffentlichkeit nur ein nachlassendes Interesse gefunden; das ist die Wahrheit. Die Gründe dafür liegen tiefer.
Es ist richtig, daß im Einigungsvertrag keine Totalrevision der Verfassung verabredet wurde, sondern ein Befassen mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes.
Aber die Erwartungen gingen weit darüber hinaus. Die Entwürfe der Runden Tische und die Verfassungsformulierungen in den neuen Bundesländern waren von den Erfahrungen in der DDR ebenso geprägt wie das Grundgesetz von den Erfahrungen der Weimarer Republik. Die Vielzahl der Entwürfe und Forderungen beflügelte nicht die Verfassungsdiskussion, sondern erzeugte im konservativen Teil des Hauses die Sorge, der Beitritt zur Bundesrepublik solle zu ihrer völligen Veränderung mißbraucht werden. Die Verfassung werde zu einem weihnachtlichen Wunschzettel, obwohl sie doch ein Gesetz bleiben müsse und obwohl immer mehr Verfassungsregeln zu immer größerer Immobilität und zu einer immer größeren Verlagerung politischer Entscheidungen auf die Gerichte führen würden.
Aber diese erschrockene Abwehrhaltung hat gleichzeitig die Tatsache verdeckt, daß auch in der alten Bundesrepublik eine ständige tiefgreifende Veränderung der Verfassung und Verfassungswirklichkeit stattgefunden hat, von der Gleichberechtigung bis zur Wehr- und Notstandsverfassung, bis hin zu den sozialen Staatszielen in der Sozialcharta der Vereinten Nationen, von der völligen Umformulierung des Asylrechts bis zur ebenso umfangreichen wie verunglückten Europaklausel.
Das Grundgesetz von 1949 ist nicht mehr unsere Verfassung von 1994. Es hat deswegen eine Diskussion darüber gegeben, welche Veränderungen nach 40jähriger Gültigkeit der Verfassung notwendig seien. Die Bemerkung, das Grundgesetz sei gut, so gut, daß man es einfach nicht mehr verbessern könne, ist deswegen so unhistorisch, weil wir sie in wesentlichen Punkten ständig verändert haben
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und weil gerade darin ihre Stärke liegt - in ihrer Differenzierung zwischen unabänderlichen Ewigkeitssätzen und der Möglichkeit, neue Ideen zu berücksichtigen, ohne das System zerbrechen zu müssen.
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Nicht die ängstliche Abwehr jeder Neuerung, sondern die Bewahrung der Reformfähigkeit ist der stärkste Garant unserer Verfassung.
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Für Liberale gibt es dabei zwei elementare Probleme. Erstens stimmen die Grundrechte in ihrem traditionellen Kanon nicht mehr mit den Problemen unserer Gesellschaft überein - auch nicht die Präambel -, solange wir uns nicht dazu entscheiden können, die Wiederherstellung der inneren Einheit Deutschlands als ein elementares Gebot zu formulieren.
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Zweitens verlangt die politische Übermacht von Parteien und Organisationen als Gegengewicht Elemente der direkten Demokratie. Ohne einen Bürgerstaat wird es auf Dauer auch keine verantwortungsbereiten Bürger geben.
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Garantie der kommunalen Selbstverwaltung, Umweltschutz als Staatsziel, natürlich und ganz selbstverständlich der Tierschutz als ein Teil des gewandelten Selbstverständnisses des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur, die Anerkennung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, die Achtung der Identität von Minderheiten und damit die Absage an eine aggressive Assimilationspolitik, elementare Grundlage des europäischen Friedensprozesses - das sollte für alle, auch und gerade für den christdemokratischen Teil des Hauses, eine Selbstverständlichkeit sein.
({6})
Ich bedauere, daß es nicht gelingen wird, auch den Schutz der Privatheit ausdrücklich in der Verfassung zu verankern, weil die moderne Datenverarbeitung - mehr als alles andere - die Herrschaft der Bürokratie über den Einzelmenschen verändert.
Natürlich sollte sich der Verfassungsgesetzgeber nicht der Aufgabe entziehen, den Ausländern das Wahlrecht und Staatsbürgerrechte zu geben, Ausländern, die er selbst zum Bestandteil des Staatsvolkes - rechtlich und wirtschaftlich - gemacht hat.
({7})
Und vor allem: Der Bürger selbst muß als Staatsbürger aus der Versenkung hervorgeholt werden, in die ihn die Verfassungsväter verbannt haben. Der Vorschlag der Bürgerinitiative ist ein vorsichtiger, zurückhaltender Versuch, der Bürgergesellschaft einen Schritt näherzukommen; er würde die Autorität des Gesetzgebers nicht schwächen, sondern ihn dem
Volk näherbringen. Der Bürger sollte auch im Bund die Möglichkeit bekommen, Gesetzentwürfe oder von ihm zu bestimmende politische Themen zur parlamentarischen Behandlung zu stellen. Es gibt kein Argument, das dem Bürger dieses Staates zu verweigern.
({8})
Wir möchten an Sie appellieren, das Grundgesetz nicht im Jahre 1949 liegenzulassen, sondern es mitzunehmen in unsere Zeit und es wieder zu der Verfassung zu machen, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern in der wir tatsächlich leben.
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Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Innern, Manfred Kanther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Debatte ist weit fortgeschritten. Ich will mich auf drei Aspekte beschränken, um nicht zu wiederholen, was ausgeführt ist.
Erstens. Das Grundgesetz ist die taugliche, wertvolle Grundlage der Bundesrepublik Deutschland ({0}) in vierzig Jahren gewesen. Es wurde die taugliche Grundlage der Wiedervereinigung und die Grundlage für das Zusammenwachsen der Menschen in unserem Land, für die Neubildung unseres Staates nach 1989 - in dreifacher Hinsicht sehr tauglich und sehr bewährt.
Art. 5 des Einigungsvertrages, der ja die Basis für die heutige Debatte und für die zweieinhalbjährige Arbeit gebildet hat, hat nicht etwa Handlungsbedarf in vielen Punkten hervorgebracht, die auf die deutsche Wiedervereinigung zurückzuführen wären, sondern das, was wir heute im Bereich von Grundrechten, Staatszielen und Wertorientierungen bereden, sind die Probleme der früheren Republik oder auch der jetzt geeinten,
({1})
es sind ganz und gar allgemeine und nicht einigungsbedingte. Das zeigt im Bereich der Wertorientierungen, welch geeignetes Gerüst das Grundgesetz ist und bleibt.
Die zweite Bemerkung. Der Prüfauftrag des Art. 5, Herr Bürgermeister Voscherau, umfaßte ausdrücklich auch die Überlegungen zur föderativen Grundordnung des Staates.
Da hätte man schon meinen können, mit dem Beitritt der fünf neuen Länder könnten sich vielfältige neue Probleme ergeben. Die Prüfung ergibt auch hier - auch Ihr Beitrag -, daß wir nicht über die neuen Probleme nach der Wiedervereinigung verhandeln - heute, ein wenig später oder in der nächsten Legislaturperiode -, sondern über die Probleme des föderativen Staates, wie sie gewachsen sind. Wir wissen, daß dieser Staat nicht ohne Fehler war - nicht vor der Wiedervereinigung und nicht danach.
Bitte glauben Sie mir - auch auf Grund meiner persönlichen Vita mit über 20 Jahren Landespolitik auf dem Buckel -: Die Probleme kulminieren nicht in Art. 72 und Art. 75 des Grundgesetzes. Wir sollten den Blick erweitern, wenn wir darangehen, die föderative Grundordnung zu überprüfen. Ich halte sie nicht für einen Zustand; ich halte sie für einen Prozeß - in vielfältiger Hinsicht.
Es gibt Strukturprobleme: dort, wo sich auf Grund der Zahl der beteiligten politischen und administrativen Ebenen Bürokratie entwickelt hat; es gibt sie dort, wo Kompetenzüberschneidungen vorhanden sind; es gibt sie im Bereich der Finanzverfassung. Es ist erstaunlich - das ist meine Meinung -, wie akkurat auch die Kommission die Probleme der Finanzverfassung ausgespart hat.
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- Ich weiß es doch, Herr Vogel. Ich habe mich in meinem vorigen Leben als Landesfinanzminister um diese Sache sehr bemüht.
Ich bleibe bei diesem Thema. Die Mischfinanzierung gehört auf den Prüfstand. An der Stelle wird die Frage nach Bürokratisierung und unnötiger Überschneidung von Mitwirkungskompetenzen gestellt. Niemand kann mir weismachen, daß es, wenn man ein Röntgengerät an der Universität Gießen oder Hamburg kauft, dazu einen Bund-Länder-Abstimmungsvorgang geben muß. Dänemark, Luxemburg oder Norwegen regeln ihren Wohnungsbau in eigener Kompetenz, ohne irgend jemanden zu fragen. Aber Bayern und Nordrhein-Westfalen können das nicht.
Das sind die interessanten Fragestellungen, wenn wir die Länderkompetenz, eine ursprüngliche, eigenständige Länderkompetenz stärken wollen. Suchen wir uns also bitte nicht die eher schadlosen allgemeineren Bereiche aus, in denen es nur um die Grundsätze geht, sondern suchen wir uns möglichst die ganz konkreten Bereiche aus!
Wir werden miteinander erleben, wie sehr Art. 23 - vor kurzem neu geschaffen - nun in der Staatspraxis standhält. Unsere Nachbarn in Europa haben es mit den deutschen föderativen Strukturen nicht immer ganz leicht. Wir werden sie ebenso daran gewöhnen müssen, die Strukturen so auszufüllen, daß unsere Stimme nicht dissonant wirkt.
Auch in den Fragen der inneren Sicherheit müssen wir unentwegt die Strukturen an der notwendigen Effizienz veränderter Zeiten messen. Wenn das Verbrechen immer internationaler wird, seine Managementfähigkeit und die Nutzung von Technik zunehmen, grenzüberschreitendes, vernetztes Handeln zunimmt, dann können zentrale Kompetenzen an Bedeutung gewinnen. Hier sind sehr verschiedene organisatorische Möglichkeiten denkbar, um das Problem zu lösen.
Jede Fortentwicklung des Bund-Länder-Verhältnisses muß zwei Prinzipien genügen: sowohl der Verpflichtung auf den föderalen Staatsaufbau nach dem Grundgesetz und der Notwendigkeit wesentlicher
Kompetenzen bei den Ländern, vor allem wesentlicher gesetzgeberischer Kompetenzen und nicht lediglich administrativer, als auch den Problemlösungen im Wandel der Zeiten gerecht zu werden. Das kann ein Spannungsverhältnis, manchmal auch ein solches der Eitelkeiten sein.
Ein dritter Punkt: Es ist gut, finde ich, daß die Bürger nicht im unklaren darüber bleiben, wie wir unterschiedliche Fragestellungen beantworten.
Es werden ja längst nicht alle Anträge hier eine verfassungsändernde Mehrheit gewinnen. Ich sage für meine politischen Freunde und mich zu zwei Punkten sehr deutlich meine Meinung: Einmal ist für mich der Schutz von Ehe und Familie eine solch grundlegende Wertentscheidung der Verfassung, daß sie nicht auf die gleiche verfassungsmäßige Ebene mit anderen - wenn auch gesellschaftlich akzeptierten - Lebensgemeinschaften gestellt werden soll.
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Zweitens. Was den Minderheitenschutz betrifft, bin ich ganz sicher, daß das Grundgesetz, das alle Staatsgewalt auf die Menschenwürde verpflichtet und seinen wesentlichen Sinn in der Sicherung der Freiheitsrechte der Menschen sieht, auch den Angehörigen hier lebender Minderheiten alle Möglichkeiten zur Entfaltung gewährleistet, ohne daß es neuer Vorschriften in der Verfassung über den Minderheitenschutz bedarf.
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Eine allgemeine Minderheitenklausel würde gerade im Hinblick auf die angebotene Integration der bei uns auf Dauer lebenden Ausländer eher zu Gruppenegoismus und Separatismus führen und sicher ihr Ziel gesellschaftlicher Integration und eines Mehr an menschlicher Wärme im Umgang miteinander verfehlen. Deutschland soll nach meiner Überzeugung weder ein Einwanderungsland werden noch vom Prinzip der multikulturellen Gesellschaft geprägt sein.
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Es soll ein gastfreundliches, weltoffenes Land sein, in dem die deutsche Gesellschaft für viele Ausländer offen ist, in Zukunft wie -- zu unserem Stolze - seit Jahrzehnten.
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So gibt es Gemeinsames und Unterschiedliches in dieser Debatte. Wichtig ist mir, daß ein breiter Konsens in der Politik und im Volk darüber fortbesteht, daß die Menschen in Deutschland im Genuß der freiesten und demokratischsten Verfassung leben, die wir je in unserer Geschichte erleben durften.
Es gibt nicht nur Gelegenheit, die Verfassung immer wieder veränderten Realitäten anzupassen - übrigens auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die in diesem Zusammenhang in ihrer mobilisierenden Kraft gar nicht hoch genug geschätzt werden kann -, sondern es gibt auch viel Anlaß, auch diesen heutigen, die Verfassung im ganzen als hohes Gut zu bewahren und ihre Beständigkeit zu rühmen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat die Kollegin Christel Hanewinckel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir leben im Jahre 5 nach dem Mauerfall, im Jahre 4 der staatlichen Einheit Deutschlands. Heute haben wir uns hier versammelt, um über das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und über Veränderungen im Grundgesetz zu debattieren und zu beschließen. Wir erfüllen damit einen Auftrag des Grundgesetzes.
Ohne die Arbeit und das Wirken von Gruppen - Friedensgruppen, Frauengruppen, ökologischen Arbeitsgruppen, Initiativen und Bewegungen in der Kirche und außerhalb der Kirche, dem konziliaren Prozeß in den letzten zehn Jahren der DDR - hätte es diese Debatte heute nicht gegeben.
({0})
Als eine, die aus den neuen Bundesländern kommt, hatte ich hohe Erwartungen an eine Verfassungsdebatte: daß wir, damit meine ich nicht nur Politikerinnen und Politiker von Bundestag und Bundesrat, damit meine ich Männer und Frauen - alte und junge, neugierige und skeptische, konservative und progressive - aus den alten und den neuen Ländern, das bewährte, gute, aber auch 45 Jahre alte und für das geteilte Deutschland geschriebene Grundgesetz ins Gerede bringen zwischen uns, daß wir unsere geteilten Erfahrungen aus 40 Jahren zueinandertragen, daß wir debattieren und streiten, zuhören, uns gemeinsam auf die guten Traditionen des Grundgesetzes vereinbaren, die aber nur dann wirksam und lebendig bleiben, wenn sie mit Leben erfüllt werden.
({1})
Wenn Traditionen fortgeschrieben werden, dann haben sie etwas mit dem wirklichen Leben zu tun.
Wir wollen uns auf Werte vereinbaren, die die Basis für das geeinte Deutschland darstellen sollen.
Dieser Prozeß war so, in dieser Form, nicht möglich. Zum einen haben Mitglieder von Bundestag und Bundesrat die Debatte stellvertretend geführt. Ein Verfassungsrat wäre der Situation, der Sache und den Werten des Grundgesetzes und dem, was wir in Ost und West brauchen, angemessener gewesen.
({2})
Die Verfassungskommission hat zum großen Teil in Hinterzimmern verhandeln müssen statt auf dem Forum, auf dem Markt, wo die Debatte hingehört hätte.
({3})
Aber die Frauen, die Behinderten, die Tierschützer, die Umweltschützer, die über hunderttausend Menschen, die sich mit Eingaben und Petitionen an die Kommission gewandt haben, haben sich dazwischengedrängt, und das ist gut so.
({4})
Manche von den wenigen Ergebnissen sind dadurch so befördert worden, daß sie heute die entsprechende Mehrheit bekommen werden.
An dieser Stelle möchte ich all denen danken, die sich eingemischt haben und die sich den Mut zur Parteinahme nicht haben nehmen lassen. Ich hoffe und gehe davon aus, daß sie weiterhin den Mut zur Parteinahme und zur Einmischung behalten werden.
({5})
Die Einführung der unmittelbaren Bürgerbeteiligung, nämlich in dem Grundgesetz die Volksinitiative, das Volksbegehren und den Volksentscheid auch auf Bundesebene festzuschreiben, wäre die entsprechende Reaktion darauf und unserem Grundgesetz und den Werten, die wir miteinander vertreten wollen, angemessen gewesen.
({6})
Zum anderen war die Haltung der Unionsvertreter in der Kommission bei einer Reihe von Punkten unangemessen in der Art und Weise, wie wir aus dem Osten Deutschlands und die Themen, mit denen wir unsere Erfahrung einbringen wollten, behandelt worden sind, indem die Themen teilweise geringschätzig abgetan oder oft gar nicht von Ihnen behandelt wurden. - Das ist kein Widerspruch zu dem, was der Kollege Voscherau gesagt hat. Es geht um die Inhalte und nicht um die Art und Weise, wie wir miteinander in der Verfassungskommission gearbeitet haben. - Peinlich ist das Ganze deshalb, weil Sie, meine Herren von der Union, zum großen Teil nicht bereit waren, sich argumentativ mit unseren Erfahrungen auseinanderzusetzen. Ich finde es peinlich, wenn Herr Waigel hier feststellt, daß die, die anderes gewollt haben, eine andere Republik hätten haben wollen. Das ist einfach unfair und unrichtig.
({7})
Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, vier neue Staatsziele in die Verfassung mit aufzunehmen, nämlich die Staatsziele Arbeit, Wohnen, soziale Sicherheit und Bildung, wurde von Ihnen derart abgetan, als hätte Arbeit nichts mit menschlicher Identität zu tun und als wäre Arbeit nicht ein Konstitutivum menschlichen Lebens,
({8})
als wäre ein Dach über dem Kopf haben zu wollen ein
unseriöser Anspruch, als hätte soziale Sicherheit
nichts mit dem Sozialstaatsgebot, der Sozialstaatlichkeit und der Sozialen Marktwirtschaft zu tun, als wären Bildung und Kultur eine übertriebene Forderung einzelner.
({9})
Natürlich weiß ich und wissen alle anderen, die das mit mir fordern, daß sich der Staat nicht um die Wohnung eines jeden einzelnen kümmern kann. Das erwartet auch niemand von ihm; das soll er nicht. Aber der Staat kann und muß für Rahmenbedingungen sorgen, daß der Arbeitsmarkt und die Arbeitsteilung anders gestaltet werden können. Er muß Rahmenbedingungen setzen, die dazu führen, daß Wohnraum in genügender Anzahl und zu bezahlbaren Mieten vorhanden ist, vor allem auch für Familien.
({10})
Er kann das Staatswesen so gestalten, daß das Sozialstaatsprinzip eingehalten wird, und er kann Bildung und Kultur so schützen und fördern, daß jeder und jede gleiche Chancen haben.
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Ich frage: Wie vereinbaren Sie eigentlich Art. 1 mit der Tatsache, daß es ungefähr 300 000 obdachlose Kinder und Jugendliche gibt? Wie vereinbaren Sie es mit den Art. 3 und 6, daß es immer mehr Kinder und Jugendliche gibt, die in Armut leben und auf soziale Sicherungssysteme angewiesen sind?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, stimmen Sie mit mir darin überein, daß die Akzeptanz unseres Grundgesetzes und auch der hohe Grad der Anteilnahme, die die Bevölkerung in den vergangenen 40 Jahren zu diesem Grundgesetz entwickelt hat, auch etwas damit zu tun haben, daß in unserem Grundgesetz eben nicht Erwartungen und Hoffnungen geweckt werden, die in der Verfassungswirklichkeit dann nicht umgesetzt werden können?
Ich frage Sie: Was nützt uns ein Grundrecht auf Wohnung, ein Grundrecht auf Arbeit, wenn es effektiv in der Verfassungswirklichkeit - wer immer die nächste Bundesregierung bilden wird; ich habe da gewisse Hoffnungen und Erwartungen - Leute geben wird, die nicht gemäß dieser Staatszielbestimmung behandelt werden können? Teilen Sie meine Auffassung, oder wie wollen Sie sie widerlegen?
Ich teile Ihre Auffassung nicht, weil ich davon ausgehe, daß in der Verfassung Vereinbarungen festgeschrieben sind, wie wir unser Gemeinwesen, unser Staatswesen gestalten wollen, auf das sich alle verlassen und berufen können. Das heißt, wenn wir neue soziale Ziele, Staatsziele festschreiben, sagt das etwas darüber aus, daß die Verfassungswirklichkeit der Verfassung noch nicht
angemessen umgesetzt worden ist. Ich denke, es ist eine Aufforderung, die Wirklichkeit in der Tat den guten Forderungen und den guten Zielen des Grundgesetzes anzupassen.
({0})
Meine Damen und Herren, 1968 gab es in der DDR eine neue Verfassung. Eine Debatte war in der Bevölkerung nicht nur nicht erwünscht, sondern wir sollten vorher eine Selbstverpflichtung abgeben, bei der Volksabstimmung über diese neue Verfassung mit Ja zu stimmen. Meine Weigerung hat mich damals meinen Arbeitsplatz gekostet, aber nicht die Hoffnung und den Willen, mich einzumischen und Demokratie in Zukunft mitzugestalten. Der konziliare Prozeß für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, der maßgeblich weltweit durch die Initiative von Christinnen und Christen aus der DDR mitgestaltet worden ist, war eine Plattform der direkten Bürgerbeteiligung. Wir waren uns sicher - und das sind wir uns heute noch -, daß es sich lohnt, sich für Verantwortung und Demokratie einzusetzen. Für Deutschland hat es sich gelohnt.
({1})
Wir haben die staatliche Einheit, aber den Weg zur inneren Einheit haben wir noch vor uns.
Doch das geeinte Deutschland hat auch Verantwortung für sich, in Europa und in der einen Welt. Deshalb wollen wir als SPD-Bundestagsfraktion in der Präambel eine Erweiterung, die heißt: als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Solidarität in der einen Welt zu dienen. - Damit unterstreichen wir die Verantwortung, die wir haben und zu übernehmen bereit sind. Verantwortung für die eine Welt heißt auch, deutlich zu machen, daß der Wohlstand in Deutschland nicht nur ein Produkt des Fleißes, der Phantasie und des Engagements der Deutschen ist. Unser Lebensstandard ist auch eine Frage der Nutznießung Deutschlands am ungerechten Welthandel, des Verdienens an Rüstungsexporten, der Ausbeutung der Zweiten und Dritten Welt, des ungezügelten Verbrauchs von Rohstoffen und des unbedachten Umgangs mit Tier und Natur.
({2})
Das heißt, die drängenden Fragen des konziliaren Prozesses, die Werte, die in unserem Grundgesetz festgeschrieben sind, sind nicht nur bisher nicht umgesetzt, sondern sind oft sträflich hintangestellt worden. Sie müssen deshalb wieder auf die politische Tagesordnung kommen.
Nach vielen - oft peinlichen - Diskussionen werden wir wohl heute auch über den Satz abstimmen: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Daß das möglich wurde, zeigt, daß Parteinahme und Einmischen, also direkte Demokratie, Notwendiges möglich machen, und damit z. B. ein Wiederholen des Flensburger Urteils durch eine verChristel Hanewinckel
änderte Verfassung keine Verfassungswirklichkeit werden wird.
({3})
Benachteiligungen gibt es noch viele, teilweise gedeckt durch falsche Interpretation unseres Grundgesetzes, z. B. die Benachteiligung von Menschen wegen ihrer sexuellen Identität; die Benachteiligung derer, die in einer anderen Lebensgemeinschaft als in einer Ehe verantwortlich mit Kindern zusammenleben; die Benachteiligung unehelicher Kinder, die durch die Rechtsprechung und durch die Realität - hier ist die Verfassungswirklichkeit der Formulierung in Art. 6 voraus - nicht mehr gedeckt ist, und die Benachteiligung von Familien. Auch hier war mit der Koalition nicht zu reden. Sie sagen immer: An Art. 6 wollen wir nicht rütteln. Was heißt das denn eigentlich in Verfassungssprache? Das heißt, Sie drücken sich davor, Sie haben Angst, oder Sie sind nicht bereit, sich auf die Verfassungswirklichkeit an dieser Stelle einzulassen.
({4})
Sie entziehen sich der Verantwortung und setzen auf Stagnation statt auf die lebendige, wertvolle Tradition.
Das alles heißt für mich: Die Verfassungsdebatte ist nicht abgeschlossen. Wir haben die ersten Schritte getan, weitere müssen folgen, wenn wir Verfassungsänderungen nicht nur zugunsten von sogenannten Leistungsstarken, sondern für das Gemeinwesen und für die Stärkung des geeinten Deutschlands wollen. Dahin muß unser Weg weiterhin gehen.
Vielen Dank.
({5})
Herr Kollege Hans-Joachim Otto, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion stellt den Antrag, in Art. 6 eine Ergänzung aufzunehmen, wonach auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften von der staatlichen Ordnung zu achten seien. Ich muß mich aus Zeitgründen darauf beschränken, diesen Antrag hier kurz zu begründen.
Nüchterne Tatsache ist es, daß sich die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften in den vergangenen 20 Jahren verzehnfacht hat. Laut Statistischem Jahrbuch gab es 1972 in der Bundesrepublik lediglich 137 000 solcher Lebensgemeinschaften, im Jahre 1991 immerhin bereits 1 393 000, rund 1,4 Mio.
Angesichts dieser Zahlen wird wohl niemand bestreiten können, daß bei sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern ein Bedürfnis nach einem Zusammenleben ohne Trauschein besteht. Die Erscheinungsformen und auch die Motive hierfür sind genauso mannigfaltig wie die Akzeptanz, die die übrigen Mitbürger solchen Lebensgemeinschaften entgegenbringen.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich jetzt insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen wenden, die aus ihrer christlichen Überzeugung heraus eine Achtensklausel für nichteheliche Lebensgemeinschaften ablehnen. Es geht uns Liberalen, Herr Bundesminister Kanther, keineswegs darum, Ehe und Familie im traditionellen Sinne zu schwächen oder gar zu beseitigen. Wir wissen um die zentrale Bedeutung, die Ehe und Familie für das Lebensglück sehr vieler Menschen und insbesondere für das Wohlergehen von Kindern und älteren Menschen haben. Die meisten von uns sind selbst verheiratet. Das bedeutet aber, meine Damen und Herren, keineswegs, daß man andere Lebensgemeinschaften nicht auch achten und das nicht auch in die Verfassung hineinschreiben sollte. Hier geht es um die Freiheitlichkeit und Toleranz unserer Gesellschaft. Wir dürfen eigene Überzeugungen nicht zur verbindlichen Richtschnur für alle übrigen Mitmenschen machen.
({0})
Es geht uns aber auch um die Förderung gesellschaftspolitischer Ziele, denen wir uns alle gemeinsam verpflichtet fühlen. Der spezifische Schutz auch der kinderlosen Ehe wird nämlich damit begründet, daß das dauerhafte Zusammenleben Fürsorge und wechselseitige Verantwortung der Partner und damit gesellschaftliche Stabilität schafft. Diese segensreiche Wirkung kann sicher nicht vom Vorhandensein eines Trauscheins abhängig gemacht werden;
({1})
sie tritt auch bei nichtehelichen Lebensgemeinschaften ein. Das ist der Grund, weshalb die Verfassung sehr gut daran tut, sie zu achten.
({2})
Dennoch gibt es in der Verfassungswirklichkeit noch immer eine Reihe konkreter rechtlicher und faktischer Benachteiligungen für nichteheliche Lebensgemeinschaften. Ich erwähne hier nur beispielhaft das Erbrecht, das Steuerrecht und das Sozialrecht. Besonders beklagenswert, finde ich, sind Fälle, in denen nichtehelichen Partnern verwehrt wurde, ihren lebensgefährlich erkrankten Partner im Krankenhaus zu besuchen. Wir halten das nicht nur für einen Ausfluß von spießbürgerlicher Gesinnung, sondern für schlicht unmenschlich.
({3})
Meine Damen und Herren, gegen unseren Antrag wenden manche ein: Wer die Vorteile einer Ehe wünsche, der solle gefälligst heiraten. - Hiergegen spricht bereits die Tatsache, daß unsere Rechtsordnung homosexuellen Paaren diesen Weg versperrt.
Es gibt aber auch heterosexuelle Paare, die eine Heirat aus durchaus überzeugenden oder zumindest akzeptablen Gründen ablehnen. Ein demokratischer
Hans-Joachim Otto ({4})
Rechtsstaat sollte über solche privaten Motive nicht richten.
Meine Damen und Herren, auch in Zukunft wird es rechtliche Unterschiede zwischen Ehe und Familie einerseits und nichtehelichen Lebensgemeinschaften andererseits geben. Dies folgt zwangsläufig aus der höheren Verbindlichkeit und dem größeren Pflichtenkreis von Ehe und Familie. Eine verfassungsrechtliche Gleichstellung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe, wie sie beispielsweise von der SPD-Fraktion beantragt wird, verbietet sich meines Erachtens aber auch deshalb, weil es zahlreiche nichteheliche Paare gibt, die eine schützende, fürsorgende Hand des Staates ausdrücklich ablehnen.
Zum Schluß: Die F.D.P.-Fraktion beschreitet einen, wie ich finde, vernünftigen Mittelweg: keine Gleichstellung von Ehe und Nichtehe, wohl aber eine verfassungsrechtliche Achtung der auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaften. Wir wollen, daß hiermit ein Bekenntnis zur gesellschaftlichen Pluralität und zur gesellschaftlichen Toleranz abgelegt wird. Das dauerhafte Zusammenleben und Füreinander-Einstehen von Partnern ist allemal besser als das unfreiwillige Alleinleben. Mit unserem Antrag verfolgen wir somit gleichermaßen gesellschaftspolitische Ziele wie liberale Grundvorstellungen.
Meine Damen und Herren, ich darf Sie um Unterstützung und Zustimmung für diesen sinnvollen Grundgesetzergänzungsantrag bitten.
Vielen Dank.
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Ich erteile dem bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber das Wort.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nach zweijähriger Diskussion in der Verfassungskommission der Ministerpräsidenten und nach zusätzlichen zwei Jahren Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag möchte ich zum Punkt Föderalismus mein Bedauern darüber aussprechen, daß die Position der Gemeinsamen Verfassungskommission hinsichtlich der Art. 72, 74, 75 und 93 heute wohl nicht die notwendige Mehrheit finden wird.
Wenn man die Entwicklung der letzten Tage und Wochen und den bisherigen Verlauf der heutigen Debatte realistisch wertet, dann muß man leider sagen: Dies hätte ein großer Tag auch für den Föderalismus werden können. Denn mehrere von den Kompromissen, zu denen sich Bund und Länder sowie die Parteien in dem langen, zähen Ringen in der Verfassungskommission durchgerungen hatten, werden nun kurz vor Ende der Debatte in Frage gestellt.
Herr Kollege Kanther, ich habe sehr wohl vernommen, was Sie hier zum Föderalismus gesagt haben und daß Sie im Prinzip materiell viel weiter gehen wollen. Nur, ich muß natürlich auch deutlich machen,
daß ich schon verwundert war, daß nach insgesamt vierjähriger Diskussion und nach zweijähriger Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission am Ende plötzlich die Bundesregierung im Grundsatz jeden der Artikel, die abgestimmt waren, in Frage gestellt hat und daß eben das, was in den langen Verhandlungen behandelt worden ist, plötzlich anscheinend überhaupt nicht mehr gegolten hat. Deswegen ist das natürlich auch ein Maßstab für unser weiteres Handeln.
Der Einigungsvertrag hat keine Generalrevision des Grundgesetzes gefordert, und zwar aus gutem Grund. Über vier Jahrzehnte haben wir das Grundgesetz zu Recht als eine vorbildliche Verfassung angesehen. Als 1989 das 40jährige Bestehen des Grundgesetzes gefeiert wurde, bestand darüber breiteste Übereinstimmung.
Die Bayerische Staatsregierung hat deshalb von Anfang an das Ziel verfolgt, das Bewährte zu bewahren und die Verfassung nur dort zu ändern, wo es unabdingbar ist. Wir fühlen uns durch die Entwicklung der letzten Jahre in dieser Auffassung bestätigt. Kein einziges Problem, das sich nach der Wiedervereinigung ergeben hat, wäre mit einer grundlegend anderen Verfassung besser gelöst worden, und in keinem Fall stand unser bisheriges Grundgesetz einer zukunftsgerichteten Lösung im Wege. Unumgänglich ist es allerdings - hier appelliere ich noch einmal an Sie; wir werden uns in diesem Hause sicherlich noch mehrfach darüber unterhalten müssen -, längst fällige Reformen am System des Föderalismus durchzuführen.
Wenn ich mich dafür in besonderer Weise engagiere, dann stehe ich in der Tradition aller bayerischen Ministerpräsidenten seit 1945. Für Wilhelm Hoegner war der freiheitliche deutsche Rechtsstaat nach den Katastrophen von 1933 und 1945 nur als föderalistische Ordnung denkbar.
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Aus derselben Überzeugung heraus fürchtete der unvergessene Ministerpräsident Hans Ehard, die Länder würden nach dem Grundgesetz ihre Funktion als lebenstragende Teile des Bundes nicht erfüllen können, das Grundgesetz werde den Zustand einer chronischen Gefährdung des staatsrechtlichen Eigenlebens der Länder heraufbeschwören, so seine Regierungserklärung im Mai des Jahres 1949 im bayerischen Landtag. In einer Rundfunkansprache, ebenfalls im Mai 1945, formulierte er:
Gerade wenn in Bonn das Pendel mehr nach der zentralistischen Seite zum Ausschlagen kommt, ist es notwendig, daß Bayern seine führende Position als föderalistischer Gegenspieler im kommenden Bundestag und Bundesrat intakt hält.
Hanns Seidel, Alfons Goppel, Franz Josef Strauß und Max Streibl handelten im selben Sinne.
In der Zwischenzeit haben wir ja außerordentliche Verbündete. Sogar der Kollege Rau
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Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({3})
hat das nun deutlich gemacht, indem er gesagt hat: „Ich betrachte die Bayern als geborene Föderalisten, ich betrachte mich heute als gekorener Föderalist. " -Insofern hat sich durch die wachsende Anzahl der Ministerpräsidenten, die aus den Reihen der SPD kommen, Erhebliches verändert.
Seit den 40er Jahren wird unablässig um die sinnvolle Ausgestaltung und zeitgerechte Weiterentwicklung des Föderalismus gerungen. Es ist mehr als verständlich, daß der Zentralstaat in einer föderalistisch geprägten Ordnung immer wieder versucht, Zuständigkeiten an sich zu ziehen, während die Gliedstaaten dem entgegenwirken - ein natürliches Spannungsgefüge.
Wie die Gewichte zwischen Bund und Ländern sachgerecht verteilt werden, wurde in den letzten 45 Jahren immer wieder problematisiert. Mein Vorvorgänger Franz Josef Strauß hat einmal darauf hingewiesen, daß von den 14 Grundgesetzänderungen bis zum Jahre 1965 allein zehn die Verteilung der Kompetenzen von Bund und Ländern und die Finanzordnung zwischen ihnen betrafen. Auch die Finanzreform von 1969 sollte nicht nur finanztechnische Probleme lösen, sondern die föderative Ordnung auf eine neue, zeitgerechte Grundlage stellen.
Schon 1973 hat der Bundestag eine Enquete-Kommission eingesetzt, die zu prüfen hatte, ob und inwieweit es notwendig sei, das Grundgesetz an neue Erfordernisse anzupassen. Parallel dazu, auch personell mit der Enquete-Kommission verzahnt, arbeitete eine Kommission des Bundesrates. Ein Schwerpunkt - das war in den 70er Jahren auch in diesem Hause unbestreitbar - der Beratungen war die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern.
Man war sich einig - im Bundesrat wie im Bundestag -: Es war eine unzulässige Gewichtsverlagerung von den Ländern zum Bund eingetreten. Um die Länder als politische Machtzentren mit eigenverantwortlicher Entscheidungskompetenz zu erhalten, sollten die Befugnisse gemäß Art. 74 nach dem Votum der Enquete-Kommission erheblich eingeschränkt werden, und zwar weit stärker, als dies in dem Ihnen jetzt vorliegenden Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission vorgesehen ist. Auch die Möglichkeit, in Streitfällen das Bundesverfassungsgericht anzurufen, war schon damals vorgesehen.
Aus der friedlichen Revolution in der früheren DDR hat auch der Föderalismus zusätzliche Kraft geschöpft. Neben den schwarz-rot-goldenen Fahnen waren bei den Montagsdemonstrationen sehr bald auch die alten Landesfarben Thüringens, Sachsens, Sachsen-Anhalts, Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns zu sehen. Mich hat angesichts der bewußten Zerstörung traditioneller Bindungen durch das SED-Regime damals tief beeindruckt, wie sich die landsmannschaftliche Verbundenheit wieder sehr schnell Bahn gebrochen hat.
Ob im Osten oder im Westen unseres Vaterlandes: Wer mit offenen Augen durch die Welt geht und mit wachem Sinne wahrnimmt, was die Menschen bewegt, der wird feststellen, wie wichtig, gerade in der
modernen Massendemokratie und wegen der starken Mobilität der Menschen, die Verwurzelung in einem überschaubaren Raum ist. Die Menschen wollen ein Zuhause, eine Heimat, mit deren Geschichte und Kultur sie sich identifizieren können.
So war es kein zufälliges zeitliches Zusammentreffen, daß im Einigungsvertrag die Stärkung des Föderalismus als Auftrag herausgestellt wurde. Diese Aufgabe entsprach und entspricht der historischen Logik.
Soweit das Verhältnis zwischen Bund und Ländern in unmittelbarem Zusammenhang mit der europäischen Einigung betroffen war, ist das Notwendige durch die Einfügung des neuen Art. 23 geschehen. Damit wurde der Föderalismus nach außen gestärkt. Die Grundgesetzänderungen, die den Föderalismus nach innen fortentwickeln sollen, stehen heute zur Debatte.
Ich stehe nicht an, Herr Kollege Vogel, Ihnen meine hohe Anerkennung auszusprechen, nicht nur bezüglich der gesamten Verfassungsdiskussion, sondern in besonderem Maße auch hinsichtlich der Diskussion um den Art. 23. Ich stehe nicht an zu sagen: Als ein Mann, der sowohl die Länderseite, die kommunale Seite und in jahrzehntelangen Erfahrungen auch die Bundesseite mehrfach repräsentiert hat, haben Sie in dieser Debatte eigentlich das entscheidende Wort gesagt. Ohne Ihr engagiertes Eintreten wäre mit Sicherheit der Art. 23, so wie er formuliert worden ist, nicht Grundgesetz geworden und damit auch keine vernünftige Stärkung des Föderalismus erfolgt, wobei ich durchaus darauf hinweise: Ich halte die Entscheidung des Bundesrates für keine gute Entscheidung - um das einmal deutlich zu sagen; das war im übrigen keine politische Entscheidung -, bei der Zustimmung zum Beitritt Österreichs von der Zweidrittelmehrheit auszugehen.
({4})
Man kann auch rechtliche Vorschriften im Grunde genommen überdehnen. Aber ich sage: Das ist keine politische Entscheidung gewesen. Ich habe das auch heute bei den Kollegen in der Ministerpräsidentenkonferenz so erfahren.
Leider ist nun trotz der Einigung, die in der Gemeinsamen Verfassungskommission erzielt worden ist, erneut der Streit über zwei wichtige Punkte ausgebrochen: über die Einschränkung der Bedürfnisklausel in Art 72 Abs. 2, einschließlich ihrer Justitiabilität, die in Art. 93 verankert werden soll, und über die Einschränkung der Rahmenkompetenz des Bundes zum Hochschulwesen in Art. 75 Nr. 1 a.
Gerade beim Art. 72 handelt es sich um ein fundamentales Anliegen der Länder. In seiner jetzigen Fassung bietet Art. 72 dem Bund die Gelegenheit, nahezu alle Lebensbereiche zentral zu regeln. Damit muß im Interesse der Eigenverantwortlichkeit der Länder meines Erachtens Schluß gemacht werden.
Ein gerüttelt Maß an dieser Entwicklung trägt für mich - ich darf das sagen - auch die sehr weite Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes, das im Grunde genommen die Einschränkungen, die im Art. 72 heute schon stehen, im Prinzip überhaupt nicht zur
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({5})
Grundlage seiner Entscheidungen machen will, weil es letzten Endes das Ermessen des Gesetzgebers bei Art. 72 außerordentlich hoch ansetzt. Das hat auch die gesamte Diskussion ausgelöst.
Zu allen Zeiten sind die Länderregierungen parteiübergreifend für ihre Rechte eingetreten. Das ist ein allgemeiner Konsens in Deutschland. Gott sei Dank gibt es den. Weder haben SPD-geführte Regierungen die Bundesregierungen unter Willy Brandt und Helmut Schmidt geschont, noch sind unionsgeführte Länderregierungen vor CDU-Kanzlern in die Knie gegangen. Auch als nach der Wiedervereinigung die Diskussion über notwendige Grundgesetzänderungen begann, bildete sich unter den Regierungschefs der Länder ein breiter Konsens über alle Parteigrenzen hinweg.
Ich danke neben dem Kollegen Scholz insbesondere auch dem Kollegen Dr. Voscherau dafür, daß er als damaliger Präsident des Bundesrates und dann als Mitvorsitzender der Gemeinsamen Verfassungskommission stets ein machtvolles und überzeugendes Bekenntnis zu den Grundsätzen des Föderalismus und der Subsidiarität abgelegt hat. Ich danke der CSU-Landesgruppe, aber auch nochmals in besonderer Weise dem Abgeordneten Vogel für seine Initiative, die Forderungen der Länder zu den Art. 72, 75 und 93 aufzugreifen. Im Interesse des Föderalismus wünsche ich mir nur, daß dieser Vorstoß im Bundestag Erfolg hätte.
Wir müssen der Erosion des Föderalismus Einhalt gebieten. Der Bund hat über die Einfallstore der konkurrierenden Gesetzgebung und der Mischfinanzierung zunehmend Kompetenzen an sich gezogen. Es droht ein Vollzugsföderalismus, der die Eigenstaatlichkeit der Länder aushöhlt. Dieser Weg ist falsch. Deshalb müssen wir die Stärke besitzen, hier umzukehren und Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Hätten wir - was sich historisch so nicht entwickelt hat - weniger Länder, dafür aber mit einer inneren und größeren finanziellen Stärke gehabt - um das deutlich auf den Punkt zu bringen -, dann würden sicherlich auch manche Dinge zwischen Bund und Ländern leichter laufen, als sie es jetzt tun.
Im Hinblick auf die Einschränkung der Rahmenkompetenz des Bundes zum Hochschulwesen sind die Länder dem Bund bereits weit entgegengekommen. Wir haben die ursprüngliche Forderung, diese Rahmenkompetenz vollständig zu streichen, aufgegeben. Harmonisierungen auf Bundesebene, auf europäischer und internationaler Ebene sind somit möglich. Die Länder müssen in den Stand versetzt werden, die innere Struktur ihrer Hochschulen den jeweiligen örtlichen und historischen Gegebenheiten anzupassen und damit den Wettbewerb zu stärken. Warum läßt man in diesem Bereich den Wettbewerb nicht zu, den man sonst in vielen Bereichen so anmahnt, meine sehr verehrten Damen und Herren?
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Ich könnte, wenn ich von der Kompetenz her die Möglichkeit hätte und manche bürokratischen Formulierungen nicht vorgegeben worden wären oder vorgegeben werden würden, nicht nur das Hochschulrahmengesetz, das in einer ganz spezifischen Zeit geschaffen worden ist und ohne die 68er Entwicklung so gar nicht vorstellbar gewesen wäre - das aber ist auch Geschichte -, sondern auch die Universitäten in München, Nürnberg - Erlangen oder Würzburg von der inneren Struktur her wesentlich effizienter gestalten. Das muß ich deutlich sagen. Der Angst, die einige haben, daß es dann unterschiedliche innere Strukturen gibt, muß man entgegenhalten: Dafür gibt es auch die Kulturkompetenz der Länder. Der Bund kann nicht letzten Endes das Wählerverhalten in den Ländern korrigieren, weil es ihm nicht paßt, wenn dort irgendwelche Entwicklungen stattfinden.
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Das Markenzeichen eines lebendigen Föderalismus ist nicht die formale Gleichheit, sondern die aus sachgerechter Vielfalt entspringende Stärke.
Meine Damen und Herren, wenn der Bundestag heute für diese berechtigten Forderungen der Länder kein Verständnis aufbringt, dann wird Bayern alle Möglichkeiten wahrnehmen, über die Behandlung im Bundesrat das Ziel, das ursprünglich Bund und Länder gemeinsam angestrebt haben, doch noch zu erreichen. Bayern wird die Änderung des Grundgesetzes dann insgesamt ablehnen; denn in Art. 5 des Einigungsvertrages wird ausdrücklich die Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa als vorrangiger Auftrag an die gesetzgebenden Organe herausgestellt. Dieser Auftrag wäre ohne die Änderung der Art. 72 und Art. 75 nicht erfüllt.
Mich erfüllt mit großer Freude, Ihnen mitteilen zu können und zu dürfen, daß wir uns in der gerade laufenden Runde der Ministerpräsidenten darüber unterhalten und den einstimmigen Beschluß gefaßt haben, daß alle Länder das Paket wieder zusammenschnüren werden und daß alle Länder diesem Paket nur dann ihre Zustimmung erteilen, wenn auch die Vorschläge zu Art. 72, Art. 74, Art. 75 und Art. 93 erfolgen.
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Wir haben uns diese Diskussion nicht leichtgemacht. Natürlich wird uns entgegengehalten: Können Sie es denn verantworten, daß notwendige, unstreitige Bestimmungen wie die Staatszielbestimmung Umweltschutz, die Änderung des Art. 3 oder Änderungen mit Blick auf die Finanzsituation in den Kommunen - ich will das jetzt im einzelnen gar nicht beschreiben - unrealisiert bleiben? Ich meine: ja. Es besteht jetzt eine einmalige Chance, Entwicklungen, die in den letzten Jahren falsch gelaufen sind und über deren Falschheit wir uns alle im Konsens befunden haben - vor zwei Jahren sind überall außerordentlich gute Erklärungen zugunsten des Föderalismus und einer Änderung zumindest von Art. 72, Art. 73 und Art. 74 erfolgt -, aufzuhalten.
Ich habe mich vor zwei, drei Jahren darüber gewundert, von wem und wie oft plötzlich auch die notwendigen Änderungen zugunsten des Föderalismus angemahnt worden sind, weil der Föderalismus und
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({9})
auch der Regionalismus in Europa, in Deutschland sowieso, eine außerordentliche Renaissance erfahren haben. Stand Bayern im Jahre 1949 bei der Ablehnung des Grundgesetzes wegen der föderalen Struktur im Grunde genommen irgendwo
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außerhalb des allgemeinen Konsenses, so ist es doch heute so, daß wir als Lordsiegelbewahrer des Föderalismus enorme Kombattanten gefunden haben. Ich habe heute ernsthaft zu tun, sozusagen noch an der Spitze des Föderalismus zu marschieren.
Auf der anderen Seite höre ich die Kollegen Eichel, Voscherau, Schröder oder auch den Kollegen Rau.
Das sind Aussagen, die ich mir vor 20 Jahren so gar nicht habe vorstellen können und die ich heute mit großer Zufriedenheit und Genuß höre. Ich freue mich, daß alle Ministerpräsidenten die Verantwortung übernehmen und sagen: „Wir wollen das Paket zusammenschnüren, und wir sind nur bereit, allem zuzustimmen, wenn man auch der einvernehmlich getroffenen Entscheidung zu Art. 72, 75 und 93 zustimmt. " Das ist doch eine außerordentlich positive Entwicklung im Hinblick auf den Föderalismus, wie er sich in den Ländern abspielt.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß das alles doch noch seinen Niederschlag finden wird. Sie könnten sich - wenn ich das einmal sagen darf - einiges an Zeit ersparen; denn wir werden uns natürlich hier wiederum treffen, wann auch immer, vielleicht noch in dieser Legislaturperiode oder in der nächsten Legislaturperiode. Ich bedaure das auch, aber ich sage auch hier: Alles, was in der Verfassungskommission vereinbart worden ist, ist materiell beschlossen und wird auch von niemandem mehr in Frage gestellt.
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- Herr Kollege Vogel, ich schaue immer hin. Sie wissen doch, daß wir uns immer bemühen, in den föderalistischen Dingen einen Konsens zu erzielen. Sie wissen auch, daß jedenfalls die CSU-Landesgruppe Ihrem Vorschlag nicht negativ gegenübersteht und ihn nicht ablehnen wird.
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- Gut, das ist eine andere Frage. Zu der möchte ich hier keine Wertung abgeben.
Vielleicht hat es doch noch einen Sinn: Sie könnten ökonomisch handeln, wenn Sie sich heute letzten Endes doch dazu durchringen, dies mitzutragen, wie es einvernehmlich in der Verfassungskommission formuliert worden ist. Dann wären alle Probleme gelöst. Wie Sie es vorschlagen, wird es nicht laufen.
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Das heißt, es kommt in den Vermittlungsausschuß, und der Vermittlungsausschuß wird sich entweder zu einer Einigung durchringen oder nicht. Ich nehme an, ja. Dann kommt es doch noch einmal in den Bundestag. Dann stehen wir in ein oder zwei Jahren vor derselben Situation. Ökonomisch wäre es, jetzt gleich zuzustimmen.
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In diesem Sinne möchte ich gerade im Interesse Bayerns, aber auch aller Länder eine Lanze für den Föderalismus brechen. Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie zu! Dann tun Sie ein gutes Werk und ersparen sich Arbeit und eine erneute Debatte im Bundestag.
Danke schön.
({15})
Ich erteile der Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.
({0})
- Hier gibt es keine anderen Wortmeldungen als die, die der Präsident erteilt. Von den Tribünen aus gibt es weder Beifalls- noch Mißfallenskundgebungen. Ich bitte, sich an diese Ordnung zu halten.
Frau Bundesministerin, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Neben Ihrer Lanze für den Föderalismus hat mich, Herr Ministerpräsident Stoiber, auch Ihr damit abgelegtes Bekenntnis zum Minderheitenschutz sehr gefreut; denn Sie haben sich für die Empfehlung der Verfassungskommission gerade eben deutlich ausgesprochen.
({0})
Der Einigungsvertrag hat uns mit seinem Auftrag zur Überprüfung unseres Grundgesetzes im Zusammenhang mit der deutschen Einheit u. a. auch die Chance für eine nationale Debatte über den geistigen Standort Deutschlands, über die Grundorientierung unserer Republik gegeben. Ich hätte mir gewünscht, daß es uns gelungen wäre, neben der sachlichen, natürlich auch kontroversen Aussprache in der Verfassungskommission eine breitere Diskussion über unsere Verfassung über die damit befaßten Gremien hinaus in die Bevölkerung zu bringen. Dies wäre auch wichtig in einer Zeit, in der die Frage und Suche nach Werten und auch der Ruf nach mehr nationalistischen Bekenntnissen lauter wird.
Die Reformdebatte kann und sollte auch heute zur Stärkung und Entwicklung einer verfassungspatriotischen Gesinnung verwendet werden. Sie sollte zur Förderung eines Verfassungspatriotismus verwendet werden, der sieh an unserer lebendigen Verfassung als der sinn- und einheitsstiftenden Spitze unserer nationalen Wert- und Normenhierarchie entzündet, eines Verfassungspatriotismus, der es gut ertragen kann, als Kopfgeburt benannt zu werden, wenn damit zum Ausdruck kommen sollte, daß er vernünftig ist,
daß er der transzendenten Bezüge, die so mancher im Begriff der Nation unbedingt enthalten sehen möchte, nicht bedürftig ist.
({1})
In diesem Punkt möchte ich die Äußerung von Herrn Kollegen Vogel ausdrücklich unterstützen.
({2})
Wir sollten einem nationalen Verfassungspatriotismus das Wort reden, der überhaupt nicht frei von überkommenen Werten und Geschichte ist, sondern durchaus Bezug zum Paulskirchen-Parlament besitzt und der sich auch als Reflex auf Weimar, als Konsequenz des Nazi-Terrors und jetzt auch als eine Konsequenz des SED-Regimes geschichtlich eingebunden und insofern zu erinnern weiß.
Die Grundwerte unserer Verfassung müssen wir mehr vermitteln; Menschenwürde, Toleranz, soziale Verpflichtung, Verantwortung des einzelnen für sich und andere, die Freiheit des einzelnen als unverzichtbare Voraussetzung für unsere demokratische, pluralistische Gesellschaft zeichnen unser Grundgesetz aus. Wir brauchen keine neuen, verordneten Werte, sondern müssen uns für die vorhandenen, in unserer Verfassung verankerten Werte mehr einsetzen.
({3})
Was am Ende des Weges hin zu einer im Innern vereinigten Bürgergesellschaft übrigbleibt, sind nun einige Änderungsvorschläge, bei denen sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß das Grundgesetz reformbedürftig ist und auf neue Anforderungen und Entwicklungen auch neue Antworten geben muß. Daß es nicht mehr geworden sind, liegt in der für diese Zurückhaltung bemühten Begründung, das Grundgesetz habe sich in den vergangenen 40 Jahren bewährt - das, meine Damen und Herren, trifft ja auch wirklich zu - und deshalb bedürfe es auch nur einer Korrektur in wenigen Bereichen. Ich wünsche mir, daß diese Zurückhaltung auch dann gelten mag, wenn es um die Diskussion über die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten, z. B. beim Recht auf Eigentum oder auf Privatsphäre, geht.
({4})
Bei den aus meiner Sicht notwendigen Grundgesetzänderungen geht es um die Verwirklichung von Grundrechten und um neue, für die Zukunft wesentliche Wertentscheidungen, die als Staatsziele in der Verfassung verankert werden sollen. Wo im Grundrechtsbereich Defizite sichtbar geworden sind, muß auch - aber natürlich nicht nur - mit den Mitteln des Verfassungsrechts Abhilfe gesucht werden.
Wer sich für ein Benachteiligungsverbot zugunsten von Behinderten einsetzt - und ich tue dies -, muß der besonderen staatlichen Verantwortung gegenüber behinderten Menschen auch dadurch gerecht werden, daß er beispielsweise die Vollzugsdefizite der einfachen Gesetzgebung zu bereinigen versucht,
die in der Praxis einem effektiven Behindertenschutz manchmal im Wege stehen.
({5})
Neue Staatsziele müssen jedermann verdeutlichen, daß das Grundgesetz Wertentscheidungen nicht für aus der Vergangenheit bekannte Probleme enthält, sondern die notwendigen Maßstäbe auch für Fragestellungen festlegt, die erst in neuerer Zeit aufgetreten oder jedenfalls in das allgemeine Bewußtsein gedrungen sind.
Auch dies kann aber nicht bedeuten, es allein bei dem Signal einer Staatszielbestimmung zu belassen. Wer sich für eine Ergänzung von Art. 3 Abs. 2 einsetzt - das tut die breite Mehrheit in diesem Haus -, wird sich letztlich daran messen lassen müssen, mit welchem Erfolg und Einsatz er sich außerdem für die Beseitigung bestehender tatsächlicher Nachteile für Frauen einsetzt.
Aus diesem Grund kann es auch nicht sein Bewenden damit haben, das von den Liberalen seit vielen Jahren geforderte Staatsziel des Umweltschutzes im Grundgesetz zu verankern. Dies ist ein richtiger und wichtiger Schritt, an dem seit über zehn Jahren gearbeitet wird. Jetzt wird jedermann die Bedeutung der natürlichen Lebensgrundlagen für unser Zusammenleben vor Augen geführt.
Aber darüber hinaus kommt es auch darauf an, den Schutz unserer Umwelt durch weitere nationale und internationale Maßnahmen tatsächlich und effektiv sicherzustellen.
({6})
Wichtig ist mir aber auch das Thema Minderheitenschutz. In den letzten Monaten und Jahren haben wir deutlich und schmerzhaft erleben müssen, wie wichtig ein Schutz für Minderheiten in Deutschland ist, den wir auch für uns Deutsche im Ausland verlangen und in Anspruch nehmen. Mit der Achtensformulierung wollen wir deutlich machen, daß es keinen Assimilationsdruck für in Deutschland lebende ausländische Minderheiten geben soll.
({7})
Wir leben in einer von der Vielfalt von Kulturen getragenen Gesellschaft, und das bekommt uns sehr gut. Dann können wir doch auch die Achtensklausel als Konsens in unserer Verfassung als unser Anliegen zum Ausdruck bringen.
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Ein anderes und genauso aktuelles Beispiel dafür, daß unser Grundgesetz neue Entwicklungen aufnehmen muß, ist die noch von dem damaligen Außenminister, Herrn Genscher, geforderte Ergänzung der Präambel um das Staatsziel der Vollendung der inneren Einheit Deutschlands. Auch ich trete für eine solche Ergänzung ein. Ich mußte als Justizministerin, der durch die Wiedervereinigung wichtige gesetzgeberiBundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
sche Aufgaben bei der Bewältigung eigentums- und vermögensrechtlicher Fragen zugefallen waren, erfahren, wie schwierig es ist und wie lange es tatsächlich dauert, bis in diesem Bereich in Umsetzung der mittlerweile auf den Weg gebrachten Regelungen gesicherte Lebensverhältnisse für alle Bürger in den neuen Ländern eingekehrt sein werden. Wer eine solche Ergänzung mit dem Hinweis auf die begrenzte zeitliche Dauer dieser staatlichen Aufgabe ablehnt, verkennt, daß das Zusammenwachsen und das gegenseitige Verständnis Zeit brauchen werden. In dieser Legislaturperiode haben wir in fast allen Bereichen die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen. Aber die Vollendung der inneren Einheit können wir nicht durch Gesetze verordnen; sie fordert uns alle noch viele Jahre. Machen wir diese besondere Herausforderung und die politische Bedeutung der Vollendung der inneren Einheit für die Bürgerinnen und Bürger in Ost und West durch Ergänzung unserer Präambel deutlich!
({9})
Nicht länger vorbeigehen kann unsere Verfassung auch an der sozialen Wirklichkeit, daß die Ehe nicht mehr die einzige gesellschaftlich akzeptierte Form des Zusammenlebens ist. Herr Kollege Otto hat dies eben schon ausführlich und sehr zutreffend begründet. Denn: Wer sich dieser Ergänzung verweigert, der übersieht, daß auch andere auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften sehr wohl wichtige soziale Funktionen erfüllen. Sie werden in unserer Gesellschaft zunehmend toleriert, aber durch unser Recht und durch die Praxis heute immer noch teilweise nicht unerheblich benachteiligt. Es geht nicht darum, die Bedeutung der Ehe und Familie und ihren besonderen Schutz, wie er in Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes steht, in Frage zu stellen. Es geht nur um die verfassungsrechtliche Achtung anderer Lebensgemeinschaften und damit letztendlich um einen Appell an den einfachen Gesetzgeber und an die, die im Geiste unserer Verfassung leben, Nachteile in den nächsten Jahren abzubauen.
({10})
Ich glaube, gerade dieser Punkt machte deutlich, daß man hier sehr wohl unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich bin froh, daß ein Antrag zu einer solchen Ergänzung des Grundgesetzes eben noch vorgelegt worden ist, der im Lauf der Debatte dann vielleicht noch mehr Befürworter als bisher findet.
Meine Damen und Herren, das ursprüngliche Paket, das vorgelegt worden ist, ist weitgehend aufgeschnürt worden. Öffnen wir das Grundgesetz für neue Entwicklungen, behutsam, aber konsequent! Staat und Verfassung müssen Alltag und soziale Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, und die sehen heute eben anders aus als noch vor vierzig Jahren.
Die heutige Debatte beendet die parlamentarische Beratung. Ich fordere unsere Bürgerinnen und Bürger auf, die Diskussion über die Werte in unserer Verfassung weiterzuführen. Vermitteln wir sie mehr als bisher unserer Jugend und unseren Kindern; denn diese sind unsere Zukunft.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Herr Kollege Dr. Franz Möller.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bayerische Ministerpräsident hat in seinem fulminanten Plädoyer für mehr bundesstaatliche Ordnung eben auch die Bedeutung des Art. 23 des Grundgesetzes hervorgehoben. Es ist in der Tat so, daß schon im Dezember 1992 ein wichtiger Eckpunkt unserer Verfassungsreform in Kraft getreten ist, nämlich der Europa-Artikel. Die Bedeutung von Art. 23 des Grundgesetzes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er hat Maastricht und damit die Europäische Union politisch und juristisch erst möglich gemacht.
Die Länder hätten sich ohne die ihnen damit eingeräumten weitgehenden Mitwirkungsrechte nicht in der Lage gesehen, dem Vertragswerk ihre Zustimmung zu geben. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre ohne Art. 23 auf der Grundlage des alten Art. 24 sicherlich nicht so eindeutig positiv ausgefallen, wie es ausgefallen ist. Somit hat Art. 23 seine erste ganz große Bewährungsprobe bereits bestanden.
Die Beteiligung des Bundesrates, die wir damals konkret festgelegt haben, hat aber auch ihre Grenzen. Es ist völlig verfehlt, daß der Bundesrat für sich das Recht reklamiert, dem Gesetz zum Vertrag über den Beitritt der vier neuen Mitgliedstaaten zur Europäischen Union mit einer Zweidrittelmehrheit zuzustimmen, wie es der Bundesrat beschlossen hat.
Der Bundesrat kann sich dabei in keiner Weise auf Art. 23 berufen. Das Erfordernis der Zweidrittelmehrheit gilt nur für die Übertragung von Hoheitsrechten und auch nur für solche, die materiell eine Änderung des Grundgesetzes darstellen. Die Rechtsauffassung des Bundesrates ist deswegen verfassungsrechtlich nicht nachvollziehbar und politisch nicht hinzunehmen. Ich freue mich, daß der bayerische Ministerpräsident, Dr. Stoiber, soeben erklärt hat, daß auch nach seiner Auffassung die Entscheidung des Bundesrates über die Zweidrittelmehrheit nicht glücklich sei.
Meine Damen und Herren, einen zweiten Punkt will ich ausklammern, aber mein Interesse daran bekunden. Ich freue mich, daß wir in Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes eine Klarstellung, eine Festigung der kommunalen Selbstverwaltung beschlossen haben. Mein Kollege Dr. Reinartz wird darauf näher eingehen.
Abschließend möchte ich noch einige Bemerkungen zu Geist und grundsätzlicher Ausrichtung des Grundgesetzes machen. Ich sage es bewußt hier im Berliner Reichstag: Auch durch das durch unsere Be20988
schlösse geänderte Grundgesetz bleibt das bewährte Bonner Grundgesetz natürlich in seiner Kraft bestehen. Trotz der gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen der vergangenen Jahre, trotz kritischer Überprüfung zahlreicher Vorschriften des Grundgesetzes sage ich: Die anfangs häufig gestellte Frage „Brauchen wir eine neue Verfassung?" ist eindeutig zu verneinen. Das Grundgesetz bleibt, was es war: eine Verfassungsurkunde klassisch-liberalen Typs mit bundesstaatlicher Prägung.
Wir haben mit guten Gründen der Versuchung weitgehend widerstanden, das Grundgesetz mit Weltbeglückungsprogrammen in Form von Staatszielen und nicht erfüllbaren sozialen Grundrechten zu überfrachten. Ich hätte mir in diesem Punkt - das sage ich offen - eher noch mehr Zurückhaltung gewünscht. Denn der in Deutschland gewachsene Verfassungskonsens, die Tatsache, daß unser Grundgesetz von den Deutschen in West und in Ost gleichermaßen akzeptiert wird, beruht nicht zuletzt auf seiner juristischen Redlichkeit. Es verspricht nämlich nichts, was der Staat nicht einlösen und der Bürger nicht einklagen kann.
Mit seiner Ausrichtung auf die Würde des Menschen, seine Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz sowie mit der Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte knüpft das Bonner Grundgesetz an die Kontinuität europäischer Kultur, ihre Prägung durch Antike, Christentum und Aufklärung an. Die im Bonner Grundgesetz angelegte föderale Staatsstruktur erweist sich nicht nur als eine Garantie kultureller Vielfalt, sie verstärkt zugleich die Möglichkeiten demokratischer Teilhabe und begrenzt den Machtanspruch des Zentralstaates.
Der Wille zur Verfassungskontinuität beruht nicht zuletzt darauf, daß das Bonner Grundgesetz eine glückliche Verbindung eingegangen ist mit den Grundentscheidungen deutscher Politik, die ich heute bewußt mit dem Begriff der Bonner Republik umschreiben möchte, die nämlich die Verknüpfung von nationaler Einheit und europäischer Einigung, die Einbindung Deutschlands in die Wertegemeinschaft der freien Völker, die Gesellschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft und die Freiheit der Person mit dem Anspruch des einzelnen auf soziale Gerechtigkeit verbindet.
Wenn wir heute mit dem Abschluß dieser Diskussion um die wiedervereinigungsbedingten Änderungen des Grundgesetzes zugleich unseren Willen zur Kontinuität des Bonner Grundgesetzes bekräftigen, so verbinde ich damit die Hoffnung, aber auch die Zuversicht, daß dies hier in Berlin auch als Zeichen des Willens zur politischen Kontinuität im Sinne der Grundentscheidungen der Bonner Republik verstanden wird.
Ich danke Ihnen, daß Sie mir bei meiner letzten Rede zugehört haben.
({0})
Ich erteile der Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink das Wort.
Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Ich werde jetzt zu den Art. 72 und 75 Abs. 1 sprechen, für deren Änderung sich Ministerpräsident Stoiber so vehement eingesetzt hat.
Die F.D.P. begrüßt, daß die gemeinsame Empfehlung der Verfassungskommission, diese beiden Artikel zu ändern, heute nicht beschlossen werden wird. Ihnen, Herr Ministerpräsident - er ist leider nicht da -, werde ich in meinem Beitrag also entschieden widersprechen.
Bei einer Änderung von Art. 72 ergäbe sich national wie international eine ernsthafte Gefahr für den anerkannt hohen Standard der dualen Berufsausbildung. Durch den Wegfall einheitlicher Qualifikations- und Prüfungsstandards würde der gut funktionierende Übergang vom Ausbildungs- in das Beschäftigungssystem gestört.
Auch im Hinblick auf den Europäischen Binnenmarkt sind für die Auszubildenden in anerkannten Ausbildungsberufen die aus bundeseinheitlichen Ausbildungs- und Prüfungsbedingungen resultierende Freizügigkeit und Mobilität sowie die bundesweite Anerkennung und Verwertbarkeit von Berufsabschlüssen außerordentlich bedeutsam.
({0})
Die bewährte und mit dem Berufsbildungsgesetz und der Handwerksordnung erreichte Bundeseinheitlichkeit in der beruflichen Bildung, um die wir so lange gekämpft haben, würde nachhaltig beeinträchtigt.
Wir sind also anderer Ansicht als Sie, Herr Stoiber, und wir stützen uns da auf die mehrheitliche Meinung der Wirtschaftsorganisationen und Wirtschaftsverbände.
({1})
Eine Änderung von Art. 72 würde eine regionale Zersplitterung in bis zu 16 Länderregelungen beinhalten sowie ein nicht mehr durchschaubares Regelungsdickicht. Das Rad der Geschichte würde gerade in dem Moment zurückgedreht, wo mit Blick auf Europa bundeseinheitliche Standards mehr denn je gefragt sind.
({2})
Ein politischer Ermessensspielraum bestünde dann auch nicht mehr, da nämlich das Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Regelung künftig der uneingeschränkten Überprüfbarkeit durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen würde. Langwierige Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern wären also vorprogrammiert.
({3})
Zu Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 a: Der Bund würde durch die Einschränkung der Hochschulrahmenkompetenz die Zuständigkeit für die Bereiche Struktur und Aufgaben der Hochschulen, Hochschulzugang, Lehre, Forschung, Mitgliedschaft und Mitwirkung in der Hochschulselbstverwaltung, Organisation und Verwaltung
der Hochschulen und staatliche Anerkennung von Hochschuleinrichtungen verlieren. Bei einer Änderung von Art. 75 Abs. 1 würden sich die Rahmenkompetenzen des Bundes nur noch auf die Zulassung zum Studium, die Studiengänge, die Prüfungen, die Hochschulgrade und das wissenschaftliche und künstlerische Personal erstrecken.
Meine Damen, meine Herren, verehrter Herr Ministerpräsident, das Hochschulrahmengesetz hat in der Vergangenheit die schlimmsten Auswüchse und Versuche, die Universitäten zu einem Spielball der organisierten Gruppeninteressen zu machen, verhindert, um den größten Vorzug des deutschen Hochschulsystems, nämlich eine relativ homogene Hochschullandschaft mit attraktiven Hochschulstandorten in allen Bundesländern, zu sichern. Der von uns allen geforderte Wettbewerb, Herr Ministerpräsident, muß anders zustande kommen als durch die Verteilung innerstaatlicher Gesetzgebungskompetenzen.
Lassen Sie mich die Konsequenzen, die eine Verfassungsänderung gebracht hätte, an einem Beispiel verdeutlichen: Eine effektive und sachgerechte Vertretung deutscher Interessen in den Bereichen Forschung und Lehre wäre innerhalb der Europäischen Union erheblich gefährdet. Die Zuständigkeit für die Festlegung der inhaltlichen Positionen sowie die Verhandlungsführung in den Gremien der Europäischen Union wäre dann nach Art. 23 Abs. 6 des Grundgesetzes von der innerstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen abhängig. Mit anderen Worten: Permanente Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern wären an der Tagesordnung.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Eine Einschränkung von Art. '75 des Grundgesetzes hätte fatale Auswirkungen auf die Bildungspolitik. Die deutsche Hochschullandschaft würde sich auseinanderentwikkeln wie jetzt schon die Schullandschaft, die Anerkennung der Hochschulabschlüsse wäre gefährdet, die Interessenvertretung Deutschlands in der EU wäre beeinträchtigt, der Bundesgesetzgeber würde sich aus einem für den Industriestandort Deutschland wichtigen Bereich zurückziehen, und der Bundesgesetzgeber würde im Hinblick auf neue Entwicklungen und Schwierigkeiten einen Verlust an Handlungsfähigkeit erleiden. Dies ist übrigens auch der mehrheitliche Standpunkt der Wirtschafts- und Wissenschaftsorganisationen in Deutschland.
Der Bund wäre also - das ist ganz wichtig - bei einer Änderung der Verfassung nicht mehr in der Lage, die Umsetzung der dringend notwendigen Hochschulreformen, die auch in diesem Hause konsensfähig sind, durch Regelungen im Hochschulrahmengesetz voranzutreiben.
Diese Regelungen beabsichtigen: die bundesweite Einführung von Lehrevaluation und Lehrberichterstattung der Hochschulen auch unter Beteiligung der Studierenden, die Einführung einer leistungsorientierten Hochschulfinanzierung zur Erhöhung der Effizienz der eingesetzten Haushaltsmittel, die Verbesserung der Verantwortungs- und Managementstrukturen der Hochschulen durch eine erhebliche Stärkung der Entscheidungsbefugnisse der Rektoren und Dekane und die Verlagerung bisher staatlicher Zuständigkeiten z. B. für Personal, Haushalt, Hochschulbau auf die Hochschulen selbst.
Fazit: Eine Einschränkung der Rahmengesetzgebungskompetenzen des Bundes bei den Art. 72 und 75, also in den Bereichen Bildung, Ausbildung, Forschung und Wissenschaft, wäre eine erhebliche Gefahr für die Rechtseinheit und Rechtsklarheit im Bildungs- und Ausbildungswesen und für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Ich hoffe auf die Einsicht der Mehrheit des Bundestages und auch des Bundesrates.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile dem thüringischen Ministerpräsidenten, Dr. Bernhard Vogel, das Wort.
({0})
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({1}): Das ist wahr! - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich nach Herrn Kollegen Voscherau und nach Herrn Kollegen Stoiber als Ministerpräsident eines jungen Landes und als ein Ministerpräsident, der der CDU angehört, hier ebenfalls das Wort nehme, dann tue ich das, um die Geschlossenheit aller Ministerpräsidenten in der hier anstehenden Frage zu unterstreichen und Sie herzlich zu bitten, noch einmal zu überlegen, ob Sie den richtigen Weg gehen.
({2})
Verehrte Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie irren leider, wenn Sie meinen, daß Sie heute zum letztenmal dieses Thema im Deutschen Bundestag behandeln. Das wird ganz sicher nicht der Fall sein.
Dagegen irrt der Bundestagsabgeordnete Möller nicht, wenn er Kritik an der Vorstellung übt, der Bundesrat müsse den Beitritt Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Ich teile die Auffassung, daß diese Mehrheit notwendig sei, ausdrücklich nicht.
Meine Damen und Herren, als die Menschen in der DDR im Herbst 1989 auf die Straße gingen, da wollten sie Freiheit, da wollten sie Einheit, und da wollten sie die Ordnung der Bundesrepublik Deutschland: Sie wollten das Grundgesetz auch für ihren Teil unseres Vaterlandes.
({3})
Sie wollten das Grundgesetz, daß die Väter und Mütter des Parlamentarischen Rates unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der NS-Zeit und auf Grund meist sehr persönlicher Erfahrungen mit der Weimarer Republik und mit der Weimarer Verfassung und unter dem Eindruck von Not und Leid formuliert hat20990
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({4})
ten. Es ist und bleibt die beste Verfassung, die in Deutschland je Gültigkeit hatte.
({5})
Meine Damen und Herren, es war klar, daß es Änderungen des Grundgesetzes geben mußte. Das war auch Inhalt des Art. 5 des Einigungsvertrages, in dem eine Stärkung des Föderalismus ausdrücklich angemahnt worden ist. Es war berechtigt, daneben zu überprüfen, ob nicht 45 Jahre nach 1949 Ergänzungen notwendig sein würden, beispielsweise zum Umweltschutz und zur Gleichberechtigung der Frau. Diesen Änderungen haben wir zugestimmt; aber eine neue Verfassung wollen wir nicht.
Die Ergebnisse der Gemeinsamen Verfassungskommission können wir mittragen. Der Bundesrat hat im Dezember einstimmig beschlossen, den Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zu folgen, zu denen auch die Wiederherstellung eines angemessenen Verhältnisses zwischen Bund und Ländern, die diese Bundesrepublik bilden, gehört. Über Jahrzehnte haben zahlreiche Grundgesetzänderungen dazu geführt, daß sich die Gewichte verschoben haben: Die Kompetenz des Bundes nahm zu, die Kompetenz der Länder und vor allem der Länderparlamente - darum geht es - nahm ab.
Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, das Gleichgewicht wieder ins Lot zu bringen.
({6})
Dabei geht es um Art. 72, Art. 75 und in Verbindung damit um Art. 93.
({7})
- Vielen Dank für den willkommenen Beifall.
Die Verfassungskommission wollte eine Neuordnung der Kompetenzen von Bund und Ländern, und sie wollte zurück zu den Intentionen der Väter unserer Verfassung. Dabei sind die Bedürfnisklausel in Art. 72 Abs. 2 und die Möglichkeit der Rahmengesetzgebung des Bundes nach Art. 75 Dreh- und Angelpunkt.
Meine Damen und Herren, der Verlust originärer Gesetzgebungskompetenz der Länder muß ausgeglichen werden. Aus diesem Grund ist es erforderlich, daß die Bedürfnisklausel neu und klar gefaßt wird. Nach dieser Empfehlung hat der Bund selbstverständlich nach wie vor das Gesetzgebungsrecht, solange und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse dies erfordert und die Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse liegt.
Die hiergegen erhobenen verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Bedenken können aus der Sicht der Länder nicht geteilt werden. Weder die Handlungsfähigkeit des Gesamtstaats noch die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland werden durch die Änderung der Bedürfnisklausel gefährdet.
({8})
Auch die Änderungen zu Art. 75 des Grundgesetzes haben doch lediglich das Ziel, eine schärfere Konturierung der Rahmenkompetenz und nicht etwa deren Abschaffung zu ermöglichen.
Die Änderungen im Hochschulbereich führen dazu, daß unter den Ländern ein stärkerer Wettbewerb stattfinden kann. Der Zustand der deutschen Hochschulen ist doch nicht so, daß man sie alle so lassen muß. Verehrte Frau Abgeordnete Funke-Schmitt-Rink, es wäre doch gut, wenn es zu mehr Wettbewerb käme, damit wir wieder besser werden,
({9})
und nicht zu noch mehr Einheitlichkeit, damit wir noch schlechter werden.
({10})
Meine Damen und Herren, wir, die Mitglieder des Bundesrates, möchten die Verfassungsdebatte gern in dieser Legislaturperiode abschließen, weil es so im Einigungsvertrag vereinbart ist und weil es so der Wunsch der Verfassungskommission war und weil es so auch der Wunsch aller Länder ist. Die Voraussetzung, damit das gelingt, ist aber, daß Bundestag und Bundesrat aufeinander zugehen und einen Kompromiß suchen.
Wir werden natürlich über das Ergebnis Ihrer heutigen Beratungen im Bundesrat zu sprechen haben, allerdings nicht schon in der nächsten Woche - ein solcher Termindruck wäre der Materie, die Sie und wir heute behandeln, auch nicht angemessen -, aber zu gegebener Zeit, ich denke, Anfang September.
({11})
Wenn Sie - was ich sehr bedauern würde - nicht zu dem Ergebnis der Verfassungskommission zurückkehren, dann werden wir geschlossen, gemeinsam den Vermittlungsausschuß anrufen, um dort in dieser Legislaturperiode des Bundestages -
Herr Ministerpräsident,
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}): Ich bin sofort zu Ende.
Es geht nur um eine Frage, die die Kollegin Funke-Schmitt-Rink gerne stellen würde.
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({0}): Die darf sie stellen. Wenn der Satz zu Ende ist, unterbreche ich.
Wir wollen also, wenn zum Ergebnis der Verfassungskommission nicht zurückgekehrt wird, den Vermittlungsausschuß anrufen, um dort noch im September dieses Jahres nach Möglichkeiten zu einem Kompromiß zu suchen.
Entschuldigung, aber jetzt ist der Gedanke fertig.
Herr Ministerpräsident, stimmen Sie nicht mit mir darin überein, daß es förderlich wäre, wenn gerade der von uns allen geforderte Wettbewerb - für den ja gerade die F.D.P. steht -({0})
nicht durch die Verteilung innerstaatlicher Gesetzeskompetenzen forciert würde, sondern besser durch mehr länderspezifische Regelungen, indem nämlich den Hochschulen mehr Autonomie gegeben wird und indem Regelungen, die gerade die Hochschulautonomie betreffen, verändert werden? Das kann schon jetzt in jedem Land geschehen.
Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ({1}): Verehrte Frau Kollegin, auch für mehr Autonomie für die Hochschulen bin ich zu haben; aber vor allem bin ich dafür, daß wir begreifen, daß ein Land mit jetzt 80 Millionen Einwohnern und mit nahezu 100 Universitäten keinen Grund mehr hat, von Rostock bis Konstanz alles in gleicher Weise zu regeln. Es ist an der Zeit, das zu lockern und einen Wettbewerb um die besten Hochschulen herzustellen. Denn bisher haben wir nur Gleichmacherei auf niedrigstem Niveau.
({2})
Wir können das nachher gern noch fortsetzen.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn es nicht gelingt, in dieser Periode des Bundestages eine gemeinsame Zustimmung zu dem gesamten Paket zu erreichen, dann müßte die Frage nach dem Oktober neu behandelt werden, und zwar im Bundestag und im Bundesrat.
({4})
Ich sehe ja ein, daß es notfalls keine andere Lösung gibt, aber ich vermag nicht einzusehen, warum man die Anstrengungen, die dann unternommen werden müßten, nicht auch jetzt bis Ende September dieses Jahres unternehmen kann.
({5})
Deswegen bitte ich noch einmal, zu prüfen, ob man nicht zu dem, was wir alle gemeinsam tragen können, zurückkehren kann und ob man es dann, wenn es die Etikette heute nicht erlaubt, nicht wenigstens noch im September dieses Jahres tun kann, damit wir diese Legislaturperiode, die erste nach der Einigung, auch mit der Erfüllung dieses Auftrages des Einigungsvertrages abschließen können.
Herzlichen Dank.
({6})
Herr Kollege Dr. Ilja Seifert, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute sind neben uns, den Abgeordneten, Hunderte von Menschen mit Behinderungen in diesem Hause. Der Reichstag und seine Umgebung sind von Menschen mit Behinderungen regelrecht bevölkert. Ich finde das sehr gut; denn wir, die Menschen mit Behinderungen, wollen heute unseren Erfolg feiern, daß das Benachteiligungsverbot ins Grundgesetz aufgenommen werden soll.
Vor kurzem, heute mittag, haben wir auf der Straße vor dem Reichstag eine Pressekonferenz abgehalten, weil wir auch auf der Straße diesen Sieg erfochten haben. Heute wollen wir diesen Teilerfolg feiern. Ich kann Sie, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, nur auffordern, hinzugehen. Unten im Restaurant sitzen die Menschen und verfolgen unsere Beratung über Monitor.
Ich kann Sie auch nur auffordern, anschließend ins Haus der Kulturen der Welt zu gehen. Dort wollen wir feiern.
Aber morgen, morgen werden wir wieder kämpfen, und zwar werden wir um ein bindendes Nachteilsausgleichsgebot kämpfen. Wir werden um abgesenkte Bordsteine kämpfen, um zugängliche Gebäude, auch um Besuchertribünen, von denen Menschen mit Behinderungen nicht vertrieben werden müssen. - Für uns sind angeblich keine Plätze da. - Wir werden um Banknoten kämpfen, die in Braille-Schrift zu lesen sind, und um Aufzüge, die ansagen, in welcher Etage sie anhalten.
Wir werden um Arbeitsplätze für uns und für alle anderen kämpfen und um geeignete Wohnungen, auch um Möglichkeiten für betreutes Wohnen, die es bisher nicht gibt.
Wir werden um bezahlbare Schreibtelefone kämpfen, und wir werden um unsere Bürger- und Menschenrechte kämpfen, z. B. darum, daß viel mehr Menschen mit Behinderungen in den Parlamenten sind. Wenn beispielsweise hier in diesem Hohen Hause Menschen mit Behinderungen in etwa der gleichen Anzahl vertreten wären, wie sie in der Bevölkerung vorhanden sind, müßten hier mindestens 70 Menschen mit Behinderungen sein. Ich denke, wir haben noch viel zu tun.
Sie, meine Damen und Herren, können uns, den Betroffenen, der Behindertenbewegung dabei behilflich sein, nicht umgekehrt. Deshalb noch einmal zum Abschluß: Laßt uns heute feiern! Morgen werden wir mit frischem Mut erneut ans Werk gehen. Mit uns, den Menschen mit Behinderungen, können Sie in jedem Falle rechnen. Sie werden uns nie wieder los.
({0})
Das Wort hat der Kollege Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich begrüße die Aufnahme dieses von Herrn Seifert eben
angesprochenen Passus in das Grundgesetz. Abgesehen davon sehe ich sehr wenig Gründe zum Feiern bei diesem Anlaß.
({0})
Wir sollten uns einmal in Erinnerung rufen, wodurch die heutige Debatte, kurz vor dem Ende der ersten Wahlperiode des ersten gesamtdeutschen Parlaments seit der Wiedervereinigung, möglich geworden ist. Sie ist möglich geworden, weil 1989 im Osten Menschen die Straßen mit dem Ziel eroberten, endlich die jahrzehntelange Diktatur abzuschütteln. Sie haben dabei zunächst weniger an den Wohlstand oder an die Übernahme des westlichen Wirtschafts- und Rechtssystems gedacht als an die Durchsetzung elementarer Bürgerrechte und an die Schaffung demokratischer Verhältnisse.
Als am 7. Dezember 1989 der Runde Tisch erstmals mit dem Ziel zusammentrat, die Durchführung freier, demokratischer und geheimer Wahlen vorzubereiten, lautete der erste Satz seines allerersten Beschlusses:
Die Teilnehmer des Runden Tisches stimmen überein, sofort mit der Erarbeitung des Entwurfs einer neuen Verfassung zu beginnen.
Heute, meine Damen und Herren, beklagen wir die im Osten weitverbreitete Larmoyanz und Nostalgie, die niedrige Wahlbeteiligung und die hohe Stimmenzahl für die Rechtsnachfolger jener Partei, die Bürgerrechte und demokratische Verhältnisse in Ostdeutschland jahrzehntelang verhindert hat. Eine der Ursachen für diese Situation, z. B. in Sachsen-Anhalt, ist die Ignoranz einer großen Zahl von Politikern in den alten Bundesländern gegenüber dem Wunsch der Ostdeutschen, die demokratische Ordnung der neuen Bundesrepublik mitzubestimmen, aktiv mitzugestalten. Frau Hanewinckel hat vorhin dafür Beispiele genannt.
Es geht doch nicht nur um die sozialen Probleme, um die Kosten der Einheit oder um die Irrtümer über die Zeitdauer des erhofften Aufschwungs. Es geht in erheblichem Maße auch um eine Verweigerungshaltung, um die intellektuelle Besitzstandswahrung.
Das Schicksal der Verfassung des Runden Tisches ist bekannt. Der Entwurf gelangte nicht einmal in die Ausschüsse der frei gewählten Volkskammer, gewünscht war der Beitritt ohne Wenn und Aber. Nach Meinung der falschen Berater hätte das angebliche Ausufern einer Demokratie- und Verfassungsdebatte diesen nur verzögert.
Bis heute hören wir hunderte Male, bis zum Überdruß, das Grundgesetz habe sich bewährt, es sei die beste aller Verfassungen, eine Reform sei unnötig. Dabei hat nie jemand die große Leistung des Parlamentarischen Rates von 1949 bestritten. Das Grundgesetz hat zur demokratischen und föderalen Entwicklung in der Bundesrepublik entscheidend beigetragen und ihr zugleich ausreichend Spielraum gegeben. Die Erfahrungen der Menschen in der zweiten deutschen Diktatur und auch ihre Erfahrungen mit deren Überwindung sind bisher jedoch nicht oder unzureichend Bestandteil des Grundgesetzes geworden. Dies aber war der Auftrag des Parlamentarischen Rates, den er mit der Formulierung des Art. 146 gegeben hat.
Die Gemeinsame Verfassungskommission, von der Abwehrhaltung großer Teile der CDU/CSU-Fraktion gar nicht erst zu reden, hat diesen Auftrag nicht erledigt, ganz im Gegenteil. Sie hat wichtige Vorschläge nicht zur Kenntnis genommen. Den Verfassungsentwurf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder hat sie nicht einmal geprüft. Dabei hat gerade dieser Entwurf, der aus einer gesamtdeutschen Initiative zum 17. Juni 1990 entstand, versucht, die Überlegungen des Runden Tisches wie auch die vieler westdeutscher Verfassungsinitiativen zu berücksichtigen, ohne die Intentionen und die grundsätzliche Struktur des Grundgesetzes zu beschädigen. Die Verfassungsdebatte wurde in Bonn so geführt, als wäre sie ein lästiges Beiwerk, auf Grund des Einigungsvertrags nun einmal formal notwendig geworden.
Die genannten Entwürfe wurden ebenso mit einer Handbewegung abgetan wie die 800 000 Zuschriften aus der Bevölkerung. Der Vorschlag, einen Verfassungsrat zu bilden, wurde ebenso mißachtet wie die vielen Ideen für die Förderung von direkter Demokratie, von Volksinitiativen, von Volksbegehren, von Volksentscheiden. Das Volk bleibt auf der anderen Seite des Bildschirms. Es wird sich weiter enthalten oder falsch wählen, verdrossen sein und auch uns verdrossen machen.
In der Verfassungsdebatte dominierte leider die kleinkarierte, besserwisserische, vorurteilsbehaftete Verhinderungsstrategie der politischen Mehrheit. Das dürftige Resultat sehen wir heute vor uns: die Herabstufung eines großen Angebots des gesamtgesellschaftlichen Dialogs auf die Ebene einiger unverzichtbarer Anpassungsregelungen. Eine große Chance wurde vertan, die vielleicht nicht wiederkehren wird. Dabei hätte es keine bessere Möglichkeit zur Abwehr von Demagogie und nostalgischer Verklärung sowie für die Konsolidierung der inneren Einheit Deutschlands gegeben als den großzügigen und offenen Dialog über in gutem Sinne konservative und liberale, sozialdemokratische und bürgerbewegt-ökologische Wertvorstellungen auf der Grundlage des jüngst neu formulierten antitotalitären Grundkonsenses.
Wenn wir diese Fleißarbeit heute hinter uns gebracht haben, wird sie schnell vergessen sein. Aber unvergessen und weiter auf der Tagesordnung wird der Art. 146 bleiben, und zwar so lange, bis vom deutschen Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschlossen worden ist.
({1})
Ich erteile der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und HerBundesministerin Dr. Angela Merkel
ren! In der Tat hat uns die deutsche Einheit heute diese Diskussion über Ergänzungen und Neuformulierungen im Grundgesetz gebracht. Herr Poppe, sie ist aus meiner Sicht und auch in dem Zusammenhang, über den ich sprechen möchte, nicht formal geführt worden; denn ich kann sagen, daß gerade Frauen aus Ostdeutschland, aus der früheren DDR, und aus der alten Bundesrepublik sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen in das wiedervereinte Deutschland eingebracht haben.
Ich habe in den letzten vier Jahren an vielen Stellen erfahren müssen, daß sich die Biographien der Frauen in Ost und West sehr viel stärker voneinander unterscheiden, als dies bei Männern in Ost und West der Fall ist. Dennoch kann man sagen, daß die Frauen in der jetzigen Bundesrepublik Deutschland, egal, woher sie kommen, eines eint: Ihre Leistungen, die sie für diese Gesellschaft erbringen, werden nicht in ausreichendem Maße anerkannt. Dazu zählen für mich sowohl die Erwerbstätigkeit als auch die Arbeit in der Familie, als auch die ehrenamtliche Tätigkeit. Diese einheitliche Tatsache hat uns dazu gebracht, sehr eindeutig auch im Zusammenhang mit der deutschen Einheit die Diskussion über die Gleichberechtigungspolitik zu führen. Einen ersten Niederschlag hatte diese Diskussion bereits in Art. 31 des Einigungsvertrags gefunden. Als Ausdruck dieser Diskussion stimmen wir heute über die Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes ab, wonach es heißen soll: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. "
({0})
Meine Damen und Herren, damit ist zum ersten Mal ganz deutlich gesagt worden: Jawohl, es gibt diese Nachteile, und es ist unsere Aufgabe, aktiv am Abbau dieser Nachteile zu arbeiten. Dieser Beschluß ist in der Verfassungskommission einstimmig gefaßt worden, und ich erwarte von diesem Hohen Hause, daß der Vorschlag auch heute einstimmig angenommen wird.
({1})
Diese Grundgesetzänderung ist das Ergebnis langer und oftmals kontroverser Diskussion. Ich will hier ganz ehrlich sagen: Gerade auch in meiner Partei haben wir darum gerungen, eine tragfähige Formulierung zu finden. Ich möchte mich bei all denen ganz herzlich bedanken, die sich nach vielen Diskussionen für die Sache der Frauen und für die Beschreibung der Aufgabe, diese Nachteile aufzuheben, eingesetzt haben.
Lassen Sie mich an dieser Stelle stellvertretend neben den vielen Frauen, die das gemacht haben, zwei Männererwähnen: Friedrich-Adolf Jahn und Rupert Scholz, die uns ganz wesentlich geholfen haben, diese Formulierung konsensfähig zu machen. Das war nicht selbstverständlich. Deshalb erwähne ich es hier.
({2})
Für die Frauen in der Bundesrepublik Deutschland ist dies aus meiner Sicht eine historische Stunde; eine Stunde wie die Verankerung der staatsbürgerlichen
Gleichstellung 1919 in der Weimarer Verfassung und wie die Ausweitung der Gleichberechtigung auf alle Rechtsgebiete im Grundgesetz 1949. Diese Schritte sind den Frauen nie geschenkt worden. Sie mußten kämpfen, und wir haben uns auch diesmal einsetzen müssen.
Seit 1843 gehörte die Forderung nach dem Frauenwahlrecht zu den wichtigsten Zielen der Frauenbewegung. Kämpfen mußten die Frauen auch 1949. Damals war es so - das war in der Bundesrepublik Deutschland schon immer so, wir haben es auch diesmal erlebt -, daß sich die Bevölkerung natürlich eingesetzt hat. Hunderttausende von Frauen haben 1949 massiv die Aufnahme des Art. 3 gefordert. Auch diesmal waren es Frauenverbände, Frauenbewegungen, Fraueninitiativen und Kirchen über alle Parteigrenzen hinweg, Frau Wieczoreck-Zeul, die bewirkt haben, daß der Art. 3 ergänzt wird. Man kann nicht sagen: Das Volk sitzt außen vor, und wir machen hier ferne Politik. Es war sehr wohl ein Miteinander.
({3})
Eines wissen wir auch: Obwohl in Art. 3 - ähnlich erging es ja Art. 7 der früheren DDR-Verfassung - die Gleichberechtigung der Frauen beschworen wird, ist sie dennoch noch niemals Realität geworden. Das heißt, wir müssen über den Ergänzungsvorschlag hinaus die Frauenpolitik in die Tat umsetzen. Im Kampf um die Formulierung, den wir auch zwischen den Parteien und zwischen den verschiedenen Richtungen hatten, hat sich eines ausgedrückt: Es gibt sehr wohl verschiedene Meinungen darüber, wie die Gleichberechtigung von Frauen in unserer Gesellschaft realisiert werden kann. Auch das muß man zur Kenntnis nehmen. Frauen haben verschiedene Wege, Vorstellungen und Ziele.
Für mich ist ganz wichtig: Gleichberechtigung ist die gleichberechtigte Teilhabe an den Ressourcen dieser Gesellschaft, an den Reichtümern, an den Möglichkeiten und natürlich auch an den Pflichten. Sie ist nicht Gleichmacherei, und sie heißt nicht, daß die Wege und Biographien von Männern und Frauen die gleichen werden müssen.
Nachholbedarf in allen Fragen der Gleichberechtigung bedeutet auch, daß wir in den nächsten Monaten und Jahren handeln müssen. Die Gerichte haben uns in ihren Entscheidungen, so z. B. das Bundesverfassungsgericht zum Nachtarbeitsverbot, immer wieder klare Richtlinien gegeben.
Ich möchte hervorheben, daß wir als Bundesregierung in dieser Legislaturperiode durch unser Gleichberechtigungsge setz einen wichtigen konkreten Schritt getan haben, um neben einer Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes tatkräftig voranzukommen.
Lassen Sie mich mit zwei Sätzen von Helene Weber schließen:
Wir stehen nicht mehr in der ersten Periode des Kampfes um ein Recht für die Frau, nicht mehr am Anfang der Formulierungen. Wir stehen jetzt vielmehr in einer zweiten Periode, und das ist die, die Erfüllung verlangt.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Konrad Elmer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Einvernehmen einer großen Mehrheit dieses Hauses haben wir, „auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend", einen überfraktionellen Antrag eingebracht. Es handelt sich um einen Änderungsantrag zu unserem ursprünglichen Antrag zu einem neuen Art. 2a, der lautete: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen."
Daß wir unseren eigenen Antrag noch einmal verändern wollen, zeigt, daß wir die vielfältigen Diskussionen unter uns und in der Öffentlichkeit ernst genommen haben und daraus Konsequenzen ziehen möchten.
Die Begriffe Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn sollen nun nicht mehr im Grundrechtsteil, sondern in der Präambel verankert werden. Auch wenn ein Ort in der Nähe des Artikels der individuellen Freiheitsrechte vieles für sich hat, so ist der angemessenere Ort für eine Verständigung über die grundlegenden Voraussetzungen des Zusammenlebens wohl doch die Präambel.
Seit vier Jahren leben Ostdeutsche und Westdeutsche zusammen. Ich habe seitdem viel hinzugelernt und Neues entdeckt, so in Köln eine Schrift an der Wand, die lautet:
Einzeln und frei wie ein Baum und brüderlich wie ein Wald ist unsere Sehnsucht.
Einzeln und frei, ein Stück mehr Individualität - danach haben wir Ostdeutschen uns lange gesehnt. Wir haben nun die Chance, das Bewußtsein eigener Würde stärker als früher zu entwickeln.
Aber die Menschen in Ost und West sollen sich ja nicht nur immer weiter individualisieren, sie sollen doch zusammenfinden und sich also auch an den zweiten Teil der Schrift in Köln an der Wand erinnern. Nur brüderlich, geschwisterlich wie ein Wald können wir auf Dauer bestehen und füreinander, insbesondere für die Schwächeren in Ost u n d West, einstehen.
Unter diesem Aspekt die Verfassung bedenkend, ergab sich folgendes Problem: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben, aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Diktatur verständlich, die Würde des Menschen vor allem durch individuelle Freiheitsrechte abgesichert. Einzeln und frei wie ein Baum sollte sich jeder Mensch entfalten können.
Unser Grundgesetz - so könnte man sagen - ist eine große Freiheitsstatue auf europäischem Boden. Das hat vielfältige Entwicklungen möglich gemacht. Aber - so fragen wir heute - ist im Blick auf die Probleme der inneren, der bewußtseinsmäßigen Einheit, insbesondere aber im Blick auf so entsetzliche Ereignisse wie die in Rostock, Magdeburg und Mölln, nicht auch noch etwas anderes vonnöten, nämlich eine Verantwortlichkeitsstatue, eine Art Leuchtturm gleich in
der Präambel, ein Ort, der Mut macht, Freiheit als die vielen Möglichkeiten zu begreifen, Verantwortung für den Nächsten und für das Gemeinsame zu übernehmen und so dem Leben Sinn zu geben?
Schon jetzt finden sich immer mehr Menschen, die ihre Selbstverwirklichung nicht zuerst in stärkerem Konsum, sondern im Engagement für die Bewältigung der Überlebensprobleme suchen. Und muß die Mitmenschlichkeit nicht schon deswegen in unsere Verfassung, weil unsere Gesellschaft, weil die Demokratie nichts dringender braucht als Menschen, die anderen helfen, ihre eigene Würde zu entdecken?
({0})
Es reicht nicht, dies lediglich der grundgesetzlich garantierten Unantastbarkeit der Würde zu überlassen. Ist das Fehlen eigenen Würdebewußtseins, die sinnlose Atomisierung des Lebens, die orientierungslose Freiheit als Beliebigkeit nicht die eigentliche Quelle der Gewalt, die uns so erschüttert?
Insofern ist für viele unser Anliegen eben auch eine Gewissensfrage. Wer sich seiner eigenen Würde bewußt ist, für den wird es selbstverständlich sein, für die Würde anderer einzutreten. Wer sich selber in seiner eigenen Entwicklung gefühlsbewußt wahrnimmt, wird auch anderen einfühlsam begegnen, wird mit ihnen leiden, ihre Unsicherheit fühlen und ihre Selbstachtung wieder zum Wachsen bringen wollen, damit auch sie wieder anderen mit Achtung begegnen können.
Bewußt wollen wir auf die emotionale Komponente des Begriffs Mitmenschlichkeit nicht verzichten. Wir wollen diesen Impuls für eine ganzheitliche Betrachtungsweise des Menschen, der aus Kopf und Herz, Verstand und Gefühl besteht. Wenn beides auseinanderfällt, ist nicht mehr auszuschließen, daß Menschen unbeteiligt zusehen, wie andere durch die Straßen gejagt werden. Es sind dies Erscheinungen einer rationalistisch geprägten Kultur, in der Empathie, das wechselseitige Einfühlungsvermögen, verkümmert. Wir brauchen nicht nur kluge, wir brauchen besonnene, beherzte Menschen, soll unsere Gesellschaft eine humane bleiben.
Mit Freiheitsrechten vor staatlicher Willkür allein ist eben kein Staat zu machen und schon gar nicht ein humaner. Ohne freisinnige Freiheit zur Entfaltung von Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn könnte der liberale Staat nicht einen Tag lang existieren.
({1})
Deshalb trifft der Vorwurf ins Leere, es gehe uns nur um einen der vielen moralischen Appelle. Nein, es geht um sehr viel mehr. Es geht hier um Sein oder Nichtsein unserer Gesellschaft überhaupt und einer demokratischen im besonderen.
„Auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend", das ist das ethische Fundament, die Beschreibung dessen, worauf ein Gemeinwesen baut, worauf, um existieren zu können, es schlicht vertrauen muß. Nur insofern, als solchem Sein dann auch ein
Sollen folgt, ist es in zweiter Hinsicht auch eine Verfassungserwartung, ein ethischer Impuls. Wem Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in seinem Handeln fremdgeblieben ist, dem wird durch unseren Text eine Art Vertrauensvorschuß zugesprochen, verbunden mit der Erwartung, daß auch er noch einen Zugang dazu findet.
Beide Begriffe sind so grundlegende Haltungen, daß sie nicht mit dem, was man sonst die Tugenden nennt, auf eine Stufe gestellt werden können. Sie liegen ihnen weit voraus. Sie sind im Sein, in der Natur des Menschen selber tief verwurzelt. Wo sich Bürgerinnen und Bürger auf diese Grundlage besinnen, werden sie von sich aus das ethisch richtige Handeln in Freiheit finden. Dies bedeutet das Ende von Sinnvorgaben durch weltanschauliche Gesinnungen und den Anfang echter Lebenshilfe als Besinnungshilfe auf Wesentliches, auf aktive, je eigene Sinnfindung.
Eine Diskussion über vielerlei Werte wirkt nicht selten wie keinerlei Wertediskussion. Aber ein Konsens, eine Zweidrittelmehrheit heute für die Aufnahme dieser beiden wesentlichen Grundlagen unserer Demokratie in die Verfassung könnte echte Orientierung schaffen.
({2})
Lassen Sie uns, „auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend", tätig sein! Helfen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß am Ende des heutigen Tages beide Begriffe Teil unserer Verfassung werden! Ich appelliere an Ihr Gewissen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Dr. Wolfgang Hermann Freiherr von Stetten.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will jetzt wieder etwas zur Realität zurückkehren.
Die Verfassungskommission sollte prüfen, ob die eine oder andere Bestimmung des Grundgesetzes zu verbessern, zu ändern oder gar aufzuheben war. In vielen Plenarsitzungen und Hunderten von Gruppengesprächen der Berichterstatter wurden diese Fragen gründlich untersucht, wurden Vorschläge eingehend geprüft und beraten. Vom Grundsatz her hat die überwiegende Mehrheit der Mitglieder der Verfassungskommission festgestellt, daß sich unser Grundgesetz in 45 Jahren bewährt hat und keiner grundlegenden Änderung bedarf - mit Ausnahme derjenigen, die eine neue Verfassung, damit aber wohl auch eine andere Republik wollten.
Für die einen ist, wie die heutige Diskussion zeigt, das Ergebnis zu mager, für die anderen bereits zu weitreichend. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Die unterschiedlichen Meinungen sind auch auf die
unterschiedlichen Interpretationen des derzeitigen Grundgesetzes zurückzuführen.
Als Berichterstatter zum Thema „Stärkung des Föderalismus" war ich mit den anderen Berichterstattern aus dem Bund, aber auch den Ländern Bayern, Hessen und Hamburg, ein wenig stolz darauf, daß wir quasi als einzige einen kompletten, abgerundeten Vorschlag für die Fragen der Gesetzgebungskompetenzen der Art. 72 ff. vorlegen konnten, der sicher - das war damals so gewollt - die Rechte der Länder nicht unbedeutend gestärkt hätte. Das war beabsichtigt und sozusagen der Preis für die Zustimmung der Länder zu dem neuen Art. 23, dem Europaartikel, und der Preis dafür, den Weg für Maastricht freizumachen.
Die Diskussion begann dann von den Hochschulwissenschaftlern, die glaubten, die Anforderungen im Hochschulbereich mit der Änderung von Art. 75 Abs. 1 a auseinanderfallen zu sehen. Es kamen die Sorgen der Wirtschaft hinzu, deren Vertreter meinten, die Ausbildungsmöglichkeiten würden dann anders gehandhabt. So entstand die Hauptdiskussion über Art. 72 Abs. 2, über die Befugnis, wer wann die Artikel zur konkurrierenden Gesetzgebung regeln durfte.
({0})
Ich habe, nachdem im April noch einige Nachbesserungen und Klarstellungen vorgenommen wurden, geglaubt, dies sei ein guter Kompromiß, habe aber auch Verständnis für die Haltung der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion, die sich in diesem sehr sensiblen Bereich der Gesetzgebungskompetenzen nicht auf Experimente einlassen wollte.
Sie wollte nicht, daß aus einem gefestigten Bundesstaat ein Staatenbund wird.
Herr Stoiber hat es heute sehr klar ausgedrückt, Herr Voscherau etwas weniger klar: Die Länder machen so nicht mit. Es wird also einen Kompromiß geben müssen. Vielleicht würde es genügen, wenn die Länder den Art. 75 Nr. 1 a ließen und der Bund die anderen Artikel schluckte. Ich weiß es nicht.
Aber, meine Damen und Herren von der SPD, es ist schon erstaunlich, wie Sie sich zu den Hütern des Föderalismus aufschwingen. Denken Sie daran: 1949 wurde der Föderalismus überhaupt nur gegen den erbitterten Widerstand der SPD etabliert. Insbesondere Bayern und Baden-Württemberg, damals noch nicht als Süd-West-Staat, waren diejenigen, die den Föderalismus durchsetzten. Deswegen sollte man nicht so tun, als wenn das heute nicht von der CDU oder den Ländern käme.
({1})
- Das ist schön. Ich freue mich. Auch wir sind wahrscheinlich lernfähig. Dann werden wir vielleicht alle zusammen ein Ergebnis bekommen.
Ich will deswegen nicht auf weitere Kompromißmöglichkeiten eingehen; aber lassen Sie mich eines sagen: Wie jeder hier im Hause hätte auch ich ganz gerne das eine oder andere im Grundgesetz geändert gehabt. So hätte ich gerne die Wehrgerechtigkeit durch eine Art Dienstgerechtigkeit ersetzt, damit
nicht die, die morgens gemustert und für untauglich befunden werden, nachmittags wie die Weltmeister Tennis spielen können und nicht dienen müssen. Das ist etwas, was irgendwann einmal kommen muß.
({2})
Ich hätte auch gerne gehabt - nachdem die Diskussionen über unsere Diäten wieder aufgeflammt sind -, daß im Grundgesetz irgendeine verfassungskonforme Größe steht, damit nicht die jährlichen dämlichen Diätendiskussionen aufkommen. Lassen Sie mich scherzhafterweise sagen - leider sind nicht mehr viele Journalisten da -: Am liebsten hätte ich mich den Tarifen der IG Medien angehängt, denn dann hätten wir nicht die dauernden Vorwürfe der Journalisten über die Erhöhung, denn dann würden wir einmal auf den Tisch legen, was sie verdienen und wie viel sie mehr bekommen. Das wäre eine ganz gute Sache gewesen.
({3})
All denen, die für das eine oder andere Staatsziel, für eine Erweiterung oder Änderung der Präambel, für die Aufnahme der Mitmenschlichkeit - so Herr Elmer - engagiert kämpfen, darf ich sagen: Selbst wenn es nicht so kommt, wie Sie es wünschen - diese unsere Verfassung ist mit und ohne solche Änderungen die freiheitlichste, die demokratischste der gesamten westlichen Hemisphäre. Nirgends auf der Welt sind die Grundrechte wie die Würde des Menschen, die Freiheit, die Gleichheit so ausgeprägt wie bei uns. Dies soll ein Trost sein für all diejenigen, die nachher bei den Marathonabstimmungen nicht zum Erfolg kommen. Unsere Verfassung ist trotzdem nach wie vor gut.
Danke schön.
({4})
Ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Ulrike Mascher das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die große Zahl der Eingaben zum Gleichberechtigungsartikel, dem Art. 3, und zum Art. 6, dem Schutz von Ehe und Familie, hat deutlich gemacht, daß sich Frauen viel von dieser Verfassungsdebatte erhofft haben, weil sie wissen, daß der Satz, den wir der Sozialdemokratin Elisabeth Seibert im Grundgesetz verdanken: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt", kein abstrakter Programmsatz war, sondern höchst praktische Auswirkungen im rechtlichen Bereich gebracht hat. Sie haben aber auch erfahren, daß die gesellschaftliche Realität dem hohen Anspruch des Gleichberechtigungsgebotes nicht gerecht wird.
Frauen werden häufig schlechter bezahlt, sie haben geringere berufliche Möglichkeiten, Frauen sind im Alter noch immer von Armut betroffen, und besonders schmerzhaft sind diese Erfahrungen für die Frauen in den neuen Bundesländern. Fast zwei Drittel der Arbeitslosen sind weiblich. Ihre Chancen, wieder einen Arbeitsplatz zu finden, sind nicht gut.
Frauen wollen ihren gerechten Anteil bei der Verteilung von Macht und Einfluß in unserem Staat. Deshalb haben sie sich über alle weltanschaulichen Grenzen hinweg zu gemeinsamen Initiativen zusammengefunden, um ihre Vorstellungen von einer Verfassung durchzusetzen.
Die „Frauen in bester Verfassung", die Frauen aus dem Verfassungskongreß der Paulskirche, die Frauen vom Runden Tisch, die Frauen, die sich auf Frauenchiemsee zusammengefunden haben, die Gewerkschafterinnen und die Frauen aus den kirchlichen Frauenorganisationen - für sie alle standen drei Forderungen im Zentrum: Erstens die Ergänzung des Art. 3 um den konkreten Handlungsauftrag, die Benachteiligung von Frauen abzubauen, und die klare Festlegung, daß solch ein Nachteilsausgleich zulässig ist.
Es war eine mühsame Arbeit in vielen Berichterstatterrunden. Wir haben jetzt eine von großer Mehrheit getragene Formulierung gefunden: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Dieser Satz hat leider nicht die sprachliche Kraft der Formulierung von Elisabeth Selbert. Man spürt noch die Mühen der Konsensfindung und die Befürchtungen konservativer Männer, daß ein Mehr bei der Durchsetzung von Gleichberechtigung von Frauen eine Gefährdung traditioneller Männerbastionen bedeuten könnte ({0})
wobei ich konservative Männer nicht parteipolitisch betrachtet wissen will; auch liberale Männer hatten diese Sorgen.
Dafür, daß wir trotzdem die notwendige Zweidrittelmehrheit geschafft haben, bedanke ich mich besonders bei Jutta Limbach, bei Lore Maria PeschelGutzeit, bei Heidi Alm-Merk, bei Gisela Böhrk, bei Christel Hanewinckel, Edith Niehuis, Konstanze Wegner und allen anderen Frauen, die uns dabei unterstützt haben.
({1})
Ich bedanke mich auch bei den Männern, die dieser zentralen Forderung von Frauen aktiv zur Durchsetzung verholfen haben.
({2})
Die zweite wichtige Forderung der Frauen war die Anerkennung von Kindererziehung und der Pflege von Hilfsbedürftigen nicht nur in Sonntagsreden, sondern durch staatliche Förderung und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf, Familie und der Teilnahme am öffentlichen Leben.
Leider hat es zu diesem Punkt trotz des Engagements kirchlicher Frauenverbände gerade zu dieser Forderung und trotz der Unterstützung durch den
Deutschen Frauenrat keine ernsthafte Bemühung um eine Verständigung von seiten der christlichen Parteien gegeben. Der immer wiederkehrende Refrain war: Das alles realisieren wir durch einfachgesetzliche Regelungen.
Aber auch hier ist das, was Burkhard Hirsch heute morgen zu dem Verhältnis von Grundgesetz und einfachgesetzlicher Regelung gesagt hat, richtig. Was die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie angeht, so zeigt sich noch ein erheblicher einfachgesetzlicher Regelungsbedarf in der Alltagsrealität.
Die Realität unserer Gesellschaft aber hat es in der Debatte der Verfassungskommission überhaupt schwer gehabt. So ist doch z. B. Realität, daß die Ehe nicht mehr die einzige Form ist, in der Menschen auf Dauer zusammenleben. Eine steigende Zahl von Menschen lebt in anderen Formen zusammen: vor der Ehe, nach einer Ehe, in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, in neuen Formen des Zusammenlebens im Alter. Das alles ist weit entfernt von einer „wilden Ehe" oder der „Zusammenrudelung", die ein Sachverständiger bei der Anhörung drohend beschworen hat.
Wir wollen die Ehe nicht abwerten, aber den Menschen, die in einer gemeinsam verantworteten Lebensgemeinschaft zusammenleben, Anerkennung und Schutz unserer Verfassung nicht versagen. Es geht dabei eben nicht nur um die Anerkennung, so sehr ich es begrüße, daß die F.D.P. immerhin Schritte zur Annäherung an die gesellschaftliche Realität tun will. Wir wollen auch den Schutz der Lebensgemeinschaften. Wer immer den Zerfall der Familien, die Single-Gesellschaft, beklagt, der sollte in der Verfassung deutlich machen, daß wir neue Formen des Zusammenlebens achten und schützen wollen und diesen Schutz in der Verfassung nicht länger versagen wollen.
({3})
Zum dritten haben viele Frauen gefordert, daß Frauen in einer Verfassung ausdrücklich angesprochen werden - nicht nur in einer geschlechtsneutralen Sprache, sondern in einer, die beiden Geschlechtern gerecht wird. Wir sind damit gescheitert. Auch hier aber hat uns die Realität bereits überholt: Es gibt die Bundestagspräsidentin. Es wird die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes geben. Es gibt eine Ministerpräsidentin; es wird hoffentlich bald eine weitere in Bayern geben. Es gibt die Ministerinnen. Ich denke, es ist der Mehrheit der Gemeinsamen Verfassungskommission noch einmal gelungen, diese Realität auszublenden. Auf der Tagesordnung aber bleibt, daß wir eine Muttersprache für unser Vaterland brauchen.
({4})
Ich möchte mich zum Schluß bei Hans-Jochen Vogel ganz ausdrücklich bedanken,
({5})
bei dem Politiker, der die Quote in seiner Partei durchgesetzt hat und ohne dessen Ermutigung und Unterstützung wir Frauen nicht soviel erreicht hätten, wie wir in der Verfassungsdebatte trotz aller Enttäuschungen erreicht haben.
Danke.
({6})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Christoph Schnittler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als die Deutschen in der ehemaligen DDR das unerwartete Geschenk der Wiedervereinigung bejubelten, wollten wohl die meisten von ihnen für das neue einige Deutschland auch eine neue Verfassung. Der Einigungsvertrag sah weniger vor, Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes. Das ist wohl auch das politisch Machbare, und das ist wohl auch das Vernünftige. Ich jedenfalls bin sehr dankbar dafür, daß wir uns heute an diesem historischen Ort dieser Aufgabe unterziehen können.
Herr Elmer hat schon den Vorschlag begründet, Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn im Grundgesetz zu verankern.
({0})
Ich werbe dafür. Ich werbe nicht dafür, weil ich mir davon Wunder verspreche; auch nicht, weil ich meine, daß Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn etwa ausgestorben wären. Nein. Aber ich sehe auch, daß sie nicht mehr selbstverständlich sind, daß sie in gefährlicher Weise durch Individualismus und durch Gruppeninteressen ausgehöhlt werden.
Der Rechtsstaat kann diese Tugenden nicht ersetzen, im Gegenteil: er beruht auf ihnen. Meine Damen und Herren, wir können auch nicht das tägliche Leben in allen seinen Verästelungen rechtlich regeln: nicht das Zusammenleben in den Familien, nicht das Band zwischen den Generationen und, ich glaube, auch nicht das Zusammenleben von Rauchern und Nichtrauchern.
Meine Damen und Herren, es gibt ein Buch, das von uns allen Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn einfordert, das ist die Bibel. Aber sie ist längst nicht mehr für alle Menschen verbindlich. Warum also, so frage ich Sie, sollen wir nicht Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in unserem Grundgesetz verankern? Ich meine, eine bessere Stelle dafür gibt es nicht. Es genießt höchstes Ansehen, es ist Richtschnur für staatliche und richterliche Entscheidungen, und es wird in jeder Schulklasse im Unterricht behandelt.
Natürlich war Widerspruch zu erwarten, hierfür einen neuen Artikel 2 a einzuführen. Verfassungsrichter Dieter Grimm spricht von einem „kostenlosen Zugeständnis an östliche Wünsche". Abgesehen davon, daß von den 418 Unterzeichnern notwendigerweise
die meisten westdeutsche Kolleginnen und Kollegen waren und das sicher in eigener Entscheidung individuell getan haben, fasse ich das als eine Auszeichnung für die ostdeutschen Abgeordneten auf. Im übrigen hat auch in meiner Fraktion etwa die Hälfte aller Mitglieder zugestimmt. Ich bedanke mich ausdrücklich bei ihnen dafür.
Natürlich kann man über den geeigneten Platz streiten, wo ein Appell an Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in unser Grundgesetz aufgenommen werden soll. Wir haben es mit einer Verfassungserwartung zu tun. Sicher ist da die Präambel ein geeigneter Ort. Wir meinen, daß wir mit diesem Änderungsantrag die Bedenken der juristisch geschulten Skeptiker ausräumen können und dennoch unser Grundgesetz mit einem neuen und wesentlichen Inhalt anreichern können.
Ich bitte um Ihre Zustimmung.
({1})
Nicht weniger am Herzen liegt mir eine zweite Ergänzung der Präambel. Herr Genscher und die F.D.P.-Fraktion schlagen Ihnen vor, die innere Einheit Deutschlands dort als eine politische Zielfunktion zu verankern. Wir halten das für dringend erforderlich. Meine Damen und Herren, wir Liberalen wollen doch damit überhaupt nicht die Fortschritte bei dem inneren Einigungsprozeß kleinreden, die wir gemeinsam in den neuen Ländern erreicht haben. Aber ich meine: Realpolitik bedarf einer nüchternen Analyse, und Illusionen sind ihr Todfeind. Deshalb sagen wir auch, daß sich viele von uns in dem möglichen Tempo des Einigungsprozesses getäuscht haben.
Meine Damen und Herren, in den neuen Ländern haben wir immer eine Faustregel diskutiert. Sie lautete: Für ein Land, das eine Anzahl von Jahren von einem kommunistischen Regime regiert wurde, bedarf es noch einmal der Hälfte dieser Jahre, um die Folgen dieses Regimes zu überwinden. Mir scheint, diese Regel hat sich bewahrheitet.
Ich meine damit bei weitem nicht nur den Nachholbedarf im materiellen Bereich; ich meine vor allem die ungleich größeren Schwierigkeiten bei der Erreichung einer geistigen Einheit in unserem Lande.
Meine Damen und Herren, dieser großen Aufgabe müssen wir uns alle stellen. Sie wird die wichtigste politische Aufgabe in den nächsten Jahren in Deutschland sein.
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Deswegen bitte ich sehr herzlich: Lassen Sie uns diese Feststellung bekräftigen, indem wir diese Aufgabe in der Präambel unseres Grundgesetzes verankern.
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Wann sie dort wieder gestrichen werden kann - das wird ein neuer Freudentag sein -, ich glaube, die
Entscheidung darüber können wir unseren Kindern überlassen.
Danke schön.
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Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Heiner Geißler.
Ich möchte Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, daß Sie sich möglichst bemühen, die vorgesehenen fünf Minuten auch einzuhalten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie werden verstehen, daß ich mich auch persönlich freue, daß die Bestimmung „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" nunmehr nach dem Votum aller Fraktionen in das Grundgesetz aufgenommen werden soll. Ich weiß, es gibt systematische und verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine solche Bestimmung, weil sich möglicherweise auch andere Gruppen darauf berufen können. Aber die Behinderten, die in der NS-Zeit Opfer grausamer Verfolgung waren, sind eben auch heute in besonderer, wenn auch anderer Weise diskriminiert und Vorurteilen und Stigmatisierungen ausgesetzt. Art. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot hat daran leider nicht viel ändern können.
1972, als ich Sozialminister in Rheinland-Pfalz war, wurde die Landesbauordnung mit der Zielsetzung verändert, daß alle öffentlichen Einrichtungen behindertengerecht gebaut werden sollten. Aber dort wie anderswo können bis heute z. B. Rollstuhlfahrer oft keinen ungehinderten Zugang zu Landratsämtern oder zu Hörsälen finden. Daß ein deutsches Gericht Schadensersatzansprüche für Urlauber anerkennt, weil beim Mittagessen Behinderte am Nachbartisch saßen, ist menschlich und gesellschaftspolitisch ein Skandal, aber auch das Ergebnis eines falschen Rechtsbewußtseins.
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Dasselbe gilt für die Tatsache, daß Behinderte und Schwerbeschädigte als erste Opfer von Entlassungen werden und daß sie, wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, entgegen den gesetzlichen Vorschriften der Pflichtquote schwerer als andere einen Arbeitsplatz finden.
Wir beklagen mit Recht die Zunahme rechtsradikaler Gewalttätigkeiten auch gegen Behinderte. Das sind besonders heimtückische Verbrechen. Aber wer willkürlich, obwohl er es anders könnte, als Arbeitgeber, ob öffentlicher oder privater Arbeitgeber, Behinderte nicht einstellt, begeht zwar kein Verbrechen, aber er verstößt in eklatanter Weise gegen den Geist der Verfassung.
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Diese Verfassungsbestimmung wird, so hoffe ich, den notwendigen Bewußtseinswandel verstärken,
der auch darin bestehen muß, daß wir die Integration von Behinderten nicht falsch verstehen dürfen, nicht als Anpassungsnotwendigkeit der Behinderten an unsere Gesellschaft mißverstehen dürfen. Behinderte können sich in der Regel nicht anpassen. Aber wir, die Gesunden, die Leistungsfähigen, können uns an die Interessen, an die Forderungen und an die Notwendigkeiten der Behinderten anpassen und die Lebensbedingungen so formen und gestalten, daß Behinderte gleichberechtigt in dieser Gesellschaft leben können.
Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung noch zu dem Minderheitenschutz machen. Mit dem Verfassungsartikel für die Behinderten wird das Individuum geschützt und nicht ein Kollektiv. Insofern unterscheidet sich das Benachteiligungsverbot vom Minderheitenschutz. Ich lehne den Vorschlag für den Minderheitenschutz deswegen persönlich ab, weil der Begriff der „ethnischen Minderheit" einen anderen Begriff, nämlich den der völkischen Gruppe, in die Verfassung hineinbringt. Das sind Gedanken, die unserer Verfassung fremd sind. Das Individuum wird geschützt, unabhängig von seiner Religion, Kultur, Sprache und Herkunft, aber in den Grenzen eben der Verfassung.
Sie wissen, daß ich mich immer für ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit, in diesem Staat eingesetzt habe. Dazu gibt es keine vernünftige humane Alternative. Aber alle, die hier leben, müssen ungeachtet ihrer kulturellen und ethnischen Zugehörigkeit die immanenten Schranken unserer Verfassung achten. Was soll in diesem Zusammenhang der Begriff der „Identität"? Das ist ein sehr schwieriger Begriff. Die Diskriminierung von Frauen, die Beschneidung von Mädchen bleiben Verstöße gegen Art. 3 und Art. 2 des Grundgesetzes, auch wenn sie unter der Überschrift der religiösen Identität vorgenommen werden. Eine solche Identität kann der Staat nicht achten.
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Ich sehe mich aus den genannten zwei Gründen nicht in der Lage, der Verfassungsänderung für den Minderheitenschutz die Zustimmung zu geben.
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Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Regina Kolbe.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Heute soll in namentlicher Abstimmung das Grundgesetz in Art. 3 um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" ergänzt werden. An dieser Stelle möchte ich allen Behindertenverbänden ganz herzlich für ihr Engagement danken. Es ist ein bemerkenswerter und wohl auch einmaliger Vorgang, daß sich nahezu alle Behindertenverbände bei dieser Forderung einig waren. Meine Bitte an dieser Stelle ist, diese Erfahrung
nicht so schnell wieder zu vergessen und künftig verstärkt zusammenzuarbeiten.
Die SPD hat diese Forderung der Verbände immer unterstützt. Dabei waren die gesellschaftliche Realität und die tatsächliche Situation der Menschen mit Behinderung ausschlaggebend. Die in den letzten zwei Jahren geführte Diskussion hat mich persönlich, aber auch viele behinderte Menschen sowie ihre Angehörigen betroffen gemacht. Verfassungsästhetik, aber auch mögliche Folgen der Verankerung des Benachteiligungsverbots, weil dann auch andere in gewisser Weise benachteiligte Gruppen wie „Linkshänder, Brillenträger, Kleinwüchsige und Glatzköpfige" entsprechende Forderungen stellen können, waren Argumente für die Ablehnung durch die CDU/CSU und die F.D.P. Ich begrüße es, daß die Kolleginnen und Kollegen ihre Meinung geändert haben. Ich denke, daß dafür nicht allein die Situation der Betroffenen maßgeblich war, sondern auch andere Überlegungen eine Rolle spielten. Auf Grund persönlicher Erfahrungen glaubt ein Kollege dieses Hauses eine Bewertung der Situation von Menschen mit Behinderung vornehmen zu können. Seine persönlichen Erfahrungen entsprechen aber leider nicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Daß Menschen mit Behinderungen tagtäglich Diskriminierungen erfahren, möchte ich an zwei Beispielen darlegen. Eine besondere Form der Diskriminierung ist z. B., wenn ich Menschen, die mobilitäts-
oder sensorisch beeinträchtigt sind, durch Treppen und ähnliches den Zugang zum Wahllokal nicht ermögliche. Damit werden Menschen mit Behinderung in ihrem Wahlrecht, einem Grundrecht, eingeschränkt. Oder ein anderes Beispiel: die kostenlose Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln. Was nutzt es dem Rollstuhlfahrer denn, wenn er diese Verkehrsmittel kostenlos nutzen darf, in den Bus auf Grund vorhandener Barrieren aber nicht einsteigen kann? Auf der einen Seite das Angebot, auf der anderen Seite wird billigend in Kauf genommen, daß dieses Angebot nicht genutzt werden kann. Diskriminierung ist nicht nur ein Tun, Diskriminierung ist auch eine Unterlassung.
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Körperliche Schädigungen werden erst dann zur Behinderung, wenn der Betroffene eine Benachteiligung auf Grund seiner Schädigung in der Gesellschaft erfährt. Minderwertigkeitsgefühle entstehen erst durch Erfahrung in der Gesellschaft und nicht durch die Behinderung an sich.
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Meine Damen und Herren, das Benachteiligungsverbot im Grundgesetz zu verankern ist nur ein erster Schritt. Es ist an der Zeit, daß sich die Politik konzeptionell von der Wohlfahrtsorientierung löst und die Rechte der Menschen mit Behinderung endlich als ein Bürgerrecht versteht. Eine gleiche gesellschaftliche Teilhabe und das Recht auf Selbstbestimmung
müssen verwirklicht werden. Das Benachteiligungsverbot wird die materiellen Rechte der Menschen mit Behinderung stärken. Künftig kann Behinderung nicht mehr als Anknüpfungspunkt für eine ungleiche rechtliche Behandlung herangezogen werden.
Auch der Satz „Frauen und Männer sind gleichberechtigt" wurde bei den Beratungen zum Grundgesetz als unnötig erachtet. Er hat trotzdem Wirkung gezeigt. Dies erwarten auch Menschen mit Behinderung durch die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes ins Grundgesetz. Es ist zutiefst meine Überzeugung, daß die Verfassung einer Gemeinschaft auch Orientierung über das Zusammenleben bieten und aufzeigen muß.
In tiefer Sorge habe ich heute zur Kenntnis genommen, daß der Bundesrat den Vermittlungsausschuß anrufen wird. Ich vertraue aber darauf, daß im Vermittlungsausschuß ein vernünftiger Kompromiß gefunden wird und daß die Verankerung des Benachteiligungsverbotes im Grundgesetz Wirklichkeit wird.
Danke.
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Frau Dr. Gisela Babel, ich erteile jetzt Ihnen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verfassung setzt nicht nur den Rechtsrahmen und ordnet die Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat, die Verfassung gibt auch Impulse für künftige gesellschaftliche Entwicklungen. Ich spreche zu Art. 3 und der Formulierung: Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Für viele Bürgerinnen und Bürger ist die Rechtsentwicklung zu dieser Verfassungsnorm blasse und staubige Vergangenheit. Aus dem Bewußtsein ist geschwunden, daß es einmal eine Zeit gab, in der Ehefrauen ohne Zustimmung ihres Mannes keinen Beruf ergreifen konnten, in der der Ehemann gegen den Willen seiner Frau ein bestehendes Arbeitsverhältnis kündigen konnte. Nicht im letzten, im 19. Jahrhundert, nein, noch bis 1958 war das bei uns so. Frauen durften bis 1918 auch nicht wählen. Ihre Vermögensverhältnisse in der Ehe waren so ausgestaltet, daß sie auf Gedeih und Verderb wirtschaftlich auf ihren Mann angewiesen und von ihm abhängig waren.
Es ist ein langer Weg gewesen. Eine wichtige Station war die Verankerung der lapidaren Feststellung im Grundgesetz, daß Männer und Frauen gleichberechtigt sind. Erst aus diesem Satz entwickelten die Rechtsprechung und die oft nachhinkende Gesetzgebung die notwendigen Rechtsnormen. Die rechtliche Gleichberechtigung ist also nicht mehr so sehr das Problem, das die Frauen heute bedrückt, wenn es um die Entwicklung ihrer Lebenschancen geht. Es sind die tatsächlichen Verhältnisse, die nicht befriedigend
sind. An den heutigen Einkommensverhältnissen der Frauen, an der Höhe ihrer Renten, an der Anzahl der Geringverdiener, an dem Anteil der Teilzeitbeschäftigten und an dem Anteil der Sozialhilfeempfänger läßt sich das ebenso klar ablesen wie an der Zahl der Alleinerziehenden.
Frauen sind heute erfreulicherweise gut ausgebildet; aber ihre Berufstätigkeit steht unter Druck, wenn sie eine Familie haben. Ihre Chancen auf Beförderung und auf Erwerb einer auskömmlichen Alterssicherung sind geringer. Der wachsende Anteil alleinerziehender Mütter zeigt, daß Familienpflichten von ihnen immer öfter allein getragen werden.
Die Verpflichtung des Staates, die Gleichberechtigung tatsächlich durchzusetzen, ist ein Fanfarenruf an alle Entscheidungsträger. Er ist unüberhörbar an Frauen wie an Männer gerichtet. Frauen sollen sich mit Nachteilen nicht abfinden. Männer sollen sich dieser Nachteile bewußt werden. Beide sollen sich um Abhilfe kümmern.
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Ich begrüße diesen Weckruf und kenne schon heute viele Handlungsfelder, in denen der Forderung in Zukunft Nachdruck verliehen werden kann. Ich will eines nennen, weil es vielleicht den wenigsten bewußt ist. Kinderbetreuung außerhalb der Familien ist um so eher zu verantworten, je älter und selbständiger das Kind ist. 60 bis 70 % junger Männer und Frauen vertreten die Meinung, daß es richtig und wünschenswert ist, daß ein kleines Kind bis zu drei Jahren in der Familie betreut wird, meist von der Mutter. Dieselben 60 bis 70 % meinen aber, daß es richtig ist, ab dem 6. Lebensjahr den Kindern eine längere Schulbetreuung zu geben und beiden Eltern ein ungestörtes Berufsleben zu ermöglichen.
In eklatanter Weise widerspricht die Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland diesen Wünschen, die der Berufstätigkeit der Frau größere Möglichkeiten einräumen könnte. Ganztagsschulen sind bei uns noch rare Gewächse.
Meine Damen und Herren, die Anforderungen des Art. 3 sollten die Männer nicht erschrecken. Auch sie profitieren von der Gleichberechtigung. Ich will auch anerkennen, daß es viele Männer gibt in allen Schichten und in allen Parteien,
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die sich sehr aktiv für die Gleichberechtigung eingesetzt haben.
Genauso will ich an die Adresse der Frauen sagen: Sie sollten nicht nur von Nachteilen reden, die sie in unserer Gesellschaft haben, sondern vielleicht auch einmal von der großen Bereicherung, die sie durch die Nähe mit ihren Kindern erfahren. Und sie sollten erkennen, daß in dem Maße, in dem der Staat und die Gesellschaft ihnen die Türen öffnet, sie auch beherzt eintreten und ihr Interesse und ihre Verantwortung wahrnehmen sollten.
Erst ein Viertel der Mitglieder der Parteien sind Frauen. Die tatsächliche Gleichberechtigung, sichtbar in einem ausgewogenen Verhältnis von Männern und Frauen in deutschen Parlamenten, wird erst dann erreichbar sein, wenn sie auch zahlenmäßig Power darstellen. Aber ich gebe zu: Bis dahin müssen in der Tat noch Hindernisse beseitigt werden, die heute vor allem ihrer Teilhabe noch im Wege stehen.
Wir sind mit dieser neuen Verfassungsnorm - das sage ich auch für die F.D.P. - als Fanfarenruf für Gleichberechtigung einen Schritt vorangekommen. Ich bin dankbar dafür. Aber es steht uns noch viel Arbeit bevor.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine stärkere Verankerung von Frauenrechten in einer neuen Verfassung oder bei der Überarbeitung des Grundgesetzes - Initiativen wie „Frauen für eine neue Verfassung" und „Frauen in bester Verfassung", die Humanistische Union, die Arbeitsgruppe „Verfassung des zentralen Runden Tisches der DDR" oder das „Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder" haben sie seit langem gefordert.
Zuschriften mit Forderungen nach besseren grundgesetzlichen Garantien für eine tatsächliche Partizipation von Frauen an allen gesellschaftlichen Bereichen erreichten die Gemeinsame Verfassungskommission waschkörbeweise und konnten einfach nicht ignoriert werden.
Denn 44 Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes sind Frauen noch immer strukturell benachteiligt: Sie sind überproportional von Arbeitslosigkeit, Armut und Unterbezahlung, ja sogar Nichtbezahlung geleisteter Arbeit betroffen. Sie fehlen in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen und werden wegen ihrer Gebärfähigkeit diskriminiert.
Dem insbesondere durch die Regierungskoalition forcierten frauenpolitischen Rollback hierzulande eine deutliche Alternative entgegenzusetzen war Ziel des Verfassungsentwurfs der PDS/Linke Liste, den deshalb Frauenrechte wie ein lila Faden durchziehen.
Grundintention unseres Gesetzentwurfs ist die Anerkennung der Subjektrolle des Individuums. Konsequenterweise gehen wir deshalb davon aus, daß die Erfahrungen, Wertvorstellungen und Lebensentwürfe von Frauen endlich Bestandteil einer Verfassung sein müssen, die den Anspruch erhebt, für alle Bürgerinnen zu gelten.
Wir wollten bewußt grundlegende feministische Positionen zur Überwindung der patriarchalen und kapitalistischen Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft in einer solchen Verfassung fixieren.
Dies beginnt bereits damit, daß in unserem Entwurf Frauen endlich sprachlich sichtbar gemacht werden,
indem wir weibliche und männliche Personenbezeichnungen durchgängig verwenden.
Erwähnen will ich weiterhin, daß wir den Schutz von Frauen vor männlicher Gewalt als Staatszielbestimmung fordern;
daß unser Verfassungsentwurf die verfassungsrechtliche Fixierung des Selbstbestimmungsrechts der Frau über Austragung oder Abbruch einer Schwangerschaft enthält, die wir bereits in der Debatte um den § 218 eingebracht haben;
daß unser Entwurf eine rechtliche Gleichstellung aller Formen des Zusammen- oder Alleinlebens beinhaltet und staatliche Förderung nur Menschen erhalten sollen, die Kinder aufziehen, ältere Menschen oder Kranke pflegen;
daß Gleichheit für uns auch bedeutet, daß niemand wegen seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf und daß Menschen, die in anderen Staaten eine solche Diskriminierung erfahren, Asyl erhalten;
daß die gesellschaftliche Arbeit so umverteilt und neu bewertet werden soll, daß neue Erwerbsarbeitsplätze geschaffen werden, indem die bisher überwiegend von Frauen geleistete unentgeltliche Familien- und Erziehungsarbeit endlich existenzsichernd bezahlt wird;
daß die politische Partizipation von Frauen mittels Durchsetzung des Prinzips der Gleichstellung innerhalb der Parteien und der chancengleichen Aufnahme in Wahlvorschlagslisten verbessert werden soll - unser Entwurf schreibt zudem zwingend vor, daß Frauen in Bundesregierung, Verfassungsgericht und obersten Gerichten zu mindestens 50 % vertreten sein müssen -;
daß wir schließlich eine Frauenkammer vorschlagen, die ähnlich dem Bundesrat weitgehende Kompetenzen im Gesetzgebungsprozeß haben und der Benachteiligung von Frauen entgegenwirken soll.
Der zentrale Punkt unserer Gesetzesvorlage ist die neue Definition des Begriffs Gleichheit. Neben der erforderlichen gleichen Stellung von Frauen und Männern im Recht betrachten wir es als unabdingbar, eine Staatszielbestimmung aufzunehmen, die den Staat bindend verpflichtet, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen herzustellen und zu sichern. Maßnahmen wie Frauenförderpläne und Quote sind dafür gebotene Hilfsmittel.
Wir gehen noch einen Schritt weiter: Korrespondierend mit unserer Forderung, alle Menschen als Gleichwertige in ihrer Verschiedenartigkeit anzuerkennen, stellt unser Verfassungsentwurf unmißverständlich klar, daß Gleichberechtigung und Gleichstellung für Frauen ohne gleichzeitige Anpassung an männlich geprägte Normen, Werte und Lebensvorstellungen möglich sein muß.
Gleichberechtigung bedeutet für uns, Frauen als eigenständige gesellschaftliche Subjekte mit einer von Männern differenzierten Sozialisation, mit einer eigenen Identität, Würde, Geschichte und Kultur zu
begreifen. Frauen sollen nicht länger Fremde im Recht, sondern eigenständige Rechtssubjekte sein.
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Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der zu Ende gehenden Legislatur war die Gleichstellung deutscher und nichtdeutscher Bürgerinnen und Bürger eines der wichtigsten politischen Anliegen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Leider waren diese vier Jahre mehr durch einen radikalen Rechtsabbau als durch die Erweiterung der Bürgerrechte für Ausländerinnen und Ausländer gekennzeichnet. Überfällige Reformvorhaben, für die es vermutlich schon längst eine stille Mehrheit in diesem Hause gibt, wurden durch die Koalition immer wieder abgeblockt: Die erleichterte Einbürgerung bei Respektierung der doppelten Staatsangehörigkeit, die Novellierung des Ausländergesetzes und ein Einwanderungsgesetz gehören dazu.
Ob in Hoyerswerda, Rostock oder Magdeburg, ob in Mölln, Lübeck oder Solingen - rechtsextremistische Gewalttaten finden dort statt, wo ein Klima der Intoleranz, der nationalen Überheblichkeit und der sozialen Defekte sie begünstigt.
Es hat keinen Sinn, nach jedem Anschlag Betroffenheit zu zeigen, wenn wir nicht bereit sind, politische und verfassungsrechtliche Konsequenzen zu ziehen.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein Staat, dessen Rechtsordnung zwischen Mensch und Bürger unterscheidet und der seine Staatsbürger mit weitreichenden Privilegien ausstattet, diskriminiert zwangsläufig die anderen Bürgerinnen und Bürger und grenzt sie aus. Das fördert die Bereitschaft derer, die diese Trennung mit Gewalt erzwingen wollen.
Die faktische Abschaffung des Asylrechts durch eine Mehrheit aus CDU und CSU sowie Teilen von SPD und F.D.P. hat der Demokratie in Deutschland sehr geschadet. Die Agitationskampagne, die der Änderung des Art. 16 Abs. 2 unseres Grundgesetzes vorausging, hat Deutschland tiefgreifender verändert, als viele das wahrhaben wollen.
Gerade anläßlich dieser Verfassungsdebatte muß daran erinnert werden, daß das schreckliche Verbrechen von Solingen unmittelbar nach der Änderung des Asylrechts verübt worden ist. Wer den Zusammenhang leugnet, ist blind oder verantwortungslos.
Inzwischen wissen wir, daß vieles, vor dem wir vor der Änderung des Asylrechts gewarnt haben, trüber Verfassungsalltag in Deutschland geworden ist. Der auch im neuen Art. 16 a postulierte Grundsatz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." ist auf Grund der vorgenommenen Einschränkungen nicht mehr voll wirksam. Das Prinzip der sicheren Drittstaaten, die irrationale Priorität der Reisewege und die oftmals bereits an der Grenze ohne nähere Prüfung vorgenommene Zurückweisung machen das Asylrecht weitgehend unwirksam. Der Rückgang der Asylbewerberzahlen darf niemanden mit Befriedigung erfüllen, denn er erfolgt auch auf Kosten von Menschen, die in Not und Gefahr sind.
Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat zahlreiche Vorschläge in den Deutschen Bundestag eingebracht, die ein besseres Zusammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen ermöglichen sollten. Darunter war ein Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 116 des Grundgesetzes, durch den allen Ausländern, die länger als fünf Jahre hier leben, ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung und volle Bürgerrechte zuerkannt werden sollten. Damit hätte hier ein wirkungsvoller Beitrag zur Integration und gegen Ausländerfeindlichkeit geleistet werden können.
Es ist eine Schande, daß Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland leben und am Wiederaufbau aktiv mitgewirkt haben, nicht einmal wählen dürfen. Selbst die in Deutschland geborenen Kinder werden als Ausländer behandelt, die keine Bürgerrechte haben. Rechtsradikale Verbrecher hingegen sind dank ihres sogenannten deutschen Blutes privilegiert.
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Es ist wahrlich kein Ruhmesblatt der Gemeinsamen Verfassungskommission, daß nun zwar der Tierschutz in das Grundgesetz aufgenommen werden soll, sich für die überfällige Reform des Staatsbürgerrechts und die Gleichstellung der in Deutschland lebenden Ausländer aber keine Mehrheit findet.
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Für sechseinhalb Millionen ausländische Bürgerinnen und Bürger ist dieser Tag heute ein bitterer Tag.
Ich werde der Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz deshalb nicht zustimmen. Ich müßte mich schämen, würde dem Tierschutz ein höherer Verfassungsrang zugestanden als den in Deutschland lebenden und geborenen Ausländern.
Wir müssen endlich die überkommene Trennung von Bürgerrechten und Menschenrechten überwinden, meine Damen und Herren.
Ich will auch in dieser Debatte noch einmal an das Wort von Martin Luther King erinnern, der sagte:
Wenn Amerika eine Demokratie erster Klasse sein soll, dann darf es in ihr keine Bürgerinnen und Bürger dritter Klasse geben.
Daran gemessen ist Deutschland eine drittklassige Demokratie. Eine Verfassung der Deutschen, in der die Gleichheit aller kein selbstverständliches Gebot ist, zeugt von der schlechten Verfassung, in der unser Land ist.
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Meine Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Frau Kollegin Erika Steinbach.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sich den Katalog der Änderungswünsche zu unserem Grundgesetz anschaut, gerät man schon ins Staunen. Nicht kreative, schöpferische Kraft für eine gute, demokratische Zukunft ist bestimmend, sondern teilweise ist geradezu naive oder auch bewußte Geschichtsvergeßlichkeit unverkennbar.
Aber, meine Damen und Herren, unser Grundgesetz ist kein Wunschzettel an den Weihnachtsmann, sondern Fundament unseres demokratischen Staatswesens. Die Frage, ob die ethnischen, ob die kulturellen und sprachlichen Minderheitengruppen als jeweilige Einzelgruppe unter den besonderen Schutz der Verfassung zu stellen sind, hat allerdings eine andere Qualität und auch weiterreichende Folgen als viele der übrigen Wünsche. Der Wille nach einer anderen Gesellschaft steht dahinter.
Dabei geht es nicht um die Minderheiten mit deutscher Staatsangehörigkeit wie z. B. die Sorben oder Friesen, deren Rechte ohnehin in den jeweiligen Länderverfassungen verankert sind, sondern es geht insbesondere um Minderheitengruppen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit.
Wir stehen in dieser Frage vor einer Grundsatzentscheidung mit weitreichenden Folgen für das Zusammenleben der Menschen hier in Deutschland.
Wir in der CDU/CSU sind der festen Überzeugung, daß für die Zukunft unseres Landes und für ein friedliches Zusammenleben von Deutschen mit zugezogenen Menschen in allererster Linie Integration erforderlich ist. Integrationshemmend aber wirken sich sowohl eine generelle Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit als auch der hier beantragte Minderheitenschutz für ethnische, kulturelle und sprachliche Minderheiten nichtdeutscher Staatsangehörigkeit aus.
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Dabei ist ja bei uns im Lande niemand daran gehindert, sich als Mensch, als Person frei zu entfalten. Unser Grundgesetz schützt von Anfang an den einzelnen Menschen und seine Rechte, unabhängig von seiner Rasse, seiner Sprache und seiner Kultur. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, und die Würde des Menschen ist unantastbar, postuliert unser Grundgesetz. In internationalen Vereinbarungen hat sich Deutschland darüber hinaus schon lange selbst verpflichtet, mit Minderheitengruppen pfleglich und sorgsam umzugehen.
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Wenn ethnische, kulturelle und sprachliche Minderheiten einen verfassungsrechtlichen Schutzraum genießen, über die Rechte der Deutschen selbst hinausgehend, so wird das zu unkalkulierbaren Emotionen führen; darüber müssen Sie sich im klaren sein.
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Wir sind zu der festen Überzeugung gelangt, daß eine solche gesellschaftspolitische Veränderung unserer Verfassung nicht unserem Lande, nicht den Menschen in unserem Lande und nicht dem friedlichen Miteinander der Menschen in Deutschland dient.
Wir werden das ablehnen.
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Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Hermann Bachmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit über zehn Jahren kämpfen wir Sozialdemokraten darum, den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Deshalb ist der Tag, an dem wir dieses Ziel endlich erreichen, für uns und auch für mich, der ich seit nunmehr drei Legislaturperioden Berichterstatter bin, von besonderer Bedeutung. Der hartnäckige Widerstand, den wir erfahren mußten, war für uns immer der deutlichste Beleg dafür, daß eine mit Verfassungsrang ausgestattete Verpflichtung zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen ihre Wirkung nicht verfehlen würde. Von diesem Staatsziel wird - dessen sind wir sicher - zumindest mittelfristig eine erhebliche Dynamik zugunsten unserer geschundenen Umwelt ausgehen.
Daß am Ende der Verfassungsberatungen die informationelle Selbstbestimmung und der verfassungsrechtlich gewährleistete Informationszugang im Grundgesetz stehen würden, hielten wir für geradezu selbstverständlich angesichts der schlimmen Erfahrungen, die wir Deutschen in diesem Jahrhundert gemacht haben, und der technischen Möglichkeiten, die heute bestehen, Daten zu sammeln und zu horten. Handelt es sich doch um ein Grundelement, ohne das eine moderne freiheitliche Verfassung heute schwerlich auskommen kann. Die anfänglich zügigen Beratungen im Kreise der Berichterstatterinnen und Berichterstatter der Gemeinsamen Verfassungskommission haben diesen Optimismus durchaus gerechtfertigt. Schien es doch nur darum zu gehen, mit welchen Formulierungen und wie weitgehend diese Grundrechte Eingang in die Verfassung finden würden.
Gegen die plötzliche Kehrtwende von CDU und CSU im Herbst 1992 haben auch alle Appelle der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder nichts gefruchtet. Als Konsequenz ihrer Bestandsaufnahme zehn Jahre nach dem Volkszählungsurteil haben die Datenschutzbeauftragten auf ihrer diesjährigen Frühjahrskonferenz wegen der detailliert auf gelisteten gravierenden Defizite eine ausdrückliche Verankerung des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung im Grundgesetz gefordert. Die Gefahren durch immer umfassendere Zugriffe und immer modernere Informationstechnologien nehmen zu.
Diskutiert wird heute aber immer weniger über Datenschutz, sondern immer mehr über weitere Zugriffs21004
Hermann Bachmeier
rechte des Staates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern und vor allem solche der Strafverfolgungsbehörden, die ohnehin in den zurückliegenden Jahren üppig mit Eingriffsermächtigungen ausgestattet worden sind. Das gilt nun auch auf Grund des Verbrechensbekämpfungsgesetzes für den Bundesnachrichtendienst. Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr übersehen können, wer was wann und wo und bei welcher Gelegenheit über sie gespeichert hat, werden durch immer größere Datenbestände eingeschüchtert und verängstigt und sind deshalb auf Dauer schlechte Garanten einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung. Wir brauchen, meine Damen und Herren, einen transparenten Staat, aber keine transparenten Bürger.
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Deshalb brauchen wir neben dem Recht auf Datenschutz auch ein verfassungsrechtlich abgesichertes Recht auf Informationszugang. Die Bürgerinnen und Bürger können ihre demokratischen Entscheidungsrechte nur dann wirksam wahrnehmen, wenn ihnen die notwendigen Informationen zur Verfügung stehen. Nur informierte Bürger können mündige Bürger sein.
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Noch immer aber hat, meine Damen und Herren, bei uns die aus obrigkeitsstaatlichen Zeiten herrührende Amtsverschwiegenheit Vorrang vor der Transparenz des Staates. Geheimniskrämerei und Abschottung sind aber ein gefährlicher Nährboden, nicht nur für Mißtrauen und Ängste, sondern auch eine der Hauptursachen für die schwindende Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen. Eine weitgehende Transparenz des Staates und seiner Institutionen ist deshalb nicht nur eine zwingende Voraussetzung für bürgerschaftliches Engagement, z. B. beim Umweltschutz, aber auch in vielen anderen Bereichen, sondern auch der beste Schutz vor Verfilzungen und allen Versuchen, staatliche Institutionen zu korrumpieren. Nur dann, wenn wir das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf Informationszugang in der Verfassung unmittelbar verankern, sind diese in einer offenen Demokratie selbstverständlichen Rechte hinreichend wind- und wetterfest und dem beliebigen Zugriff des Gesetzgebers endlich wirksam entzogen.
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Gerade auch von der F.D.P. hätten wir erwartet, daß sie diesen Anträgen nicht nur zustimmt, sondern innerhalb der Koalitionsparteien für eine breite Mehrheit Sorge trägt.
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Darauf warten wir noch immer. Herzlichen Dank.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Ulrich Irmer.
Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
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Die Gemeinsame Verfassungskommission hatte sich mit Zweidrittelmehrheit darauf geeinigt, in die Verfassung den schlichten Satz hineinzuschreiben: „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten" . - Zu unserem großen Bedauern ist das aus dem Konsens wieder herausgefallen, weil unsere Kollegen von der CDU/ CSU nicht mehr bereit waren, dieses mitzutragen. Wir haben daraufhin diese Passage im Rechtsausschuß erneut eingebracht, und erfreulicherweise hat sie dort wiederum eine Mehrheit gefunden.
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Meine Damen und Herren, ich bin mir dessen bewußt, daß diese Achtensklausel im Grundgesetz keine großen inhaltlichen Veränderungen bringen wird. Insofern kann ich auch all diejenigen trösten, die damit alle möglichen Befürchtungen verknüpfen. Wir waren uns aber darüber einig, daß die Verfassung eines Landes nicht nur Bestimmungen enthalten muß, die unmittelbare, konkrete Rechtswirkungen entfalten, sondern daß es auch Symbolwerte gibt, die man in einer Verfassung zum Ausdruck bringen und formulieren darf, um damit für das Klima und für die Wertvorstellungen, die wir alle gemeinsam haben, Zeichen zu setzen.
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Die Aufnahme dieser Formulierung in das Grundgesetz würde in doppelter Weise Zeichen setzen, einmal nach innen, zum anderen nach außen.
Als Zeichen nach innen würde die Achtung von Minderheiten, die ausdrücklich in die Verfassung hineingeschrieben wird, zum Ausdruck bringen, daß wir für friedliches Zusammenleben aller Menschen in unserem Land und für Toleranz eintreten.
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Dieses ausdrücklich zu formulieren stünde wirklich dem Parlament eines Landes, glaube ich, nicht schlecht an, in dem Flüchtlinge sich erneut vor rechtsradikalem Mob auf deutschen Straßen auf der Flucht befinden, die bei uns Zuflucht suchten, und es stünde einem Lande gut an, in dem nach wie vor bedauerlicherweise Ausländerunterkünfte brennen. Meine Damen und Herren. setzen wir dieses Zeichen nach innen, indem wir sagen: Wir achten die Minderheiten.
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Insofern, liebe Kollegen von der SPD, ist Ihr Antrag nicht geeignet. Denken Sie noch einmal darüber nach. Sie wollen nämlich nur die Achtung vor den Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit ausUlrich Irmer
drücken. Das ist sowieso selbstverständlich, weil diese auch alle Bürgerrechte genießen. Aber besteht nicht die Gefahr, wenn Sie das so formulieren, daß jemand auf die Idee kommen könnte, im Umkehrschluß zu sagen: „Die Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit werden ausdrücklich geachtet. Daraus folgt dann, daß die Minderheiten nichtdeutscher Staatsangehörigkeit sich einer geringeren Achtung erfreuen."? Vor dieser Entwicklung warne ich, und ich bitte Sie herzlich, darüber noch einmal nachzudenken.
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Meine Damen und Herren, ich sprach von dem Zeichen nach außen. Wenn wir dieses in unsere Verfassung hineinschreiben, dann hat das hohe außenpolitische Relevanz. Es ist von Herrn Duve durch einen Zwischenruf mit Recht darauf hingewiesen worden, daß wir genau das, was wir jetzt ablehnen, im deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag aufgenommen haben. Die Polen haben sich verpflichtet, genau das zu tun, was jetzt von seiten der CDU/CSU leider Gottes abgelehnt wird. Wir haben das nicht nur von den Polen verlangt - z. B. gegenüber der deutschsprachigen Minderheit polnischer Staatsangehöriger in Oberschlesien -; wir verlangen auch von den Rumänen und von den Slowaken, daß sie gegenüber ihren ungarischen Minderheiten in ihren Verfassungen und durch internationale Verträge völlig klarstellen, daß diese Minderheiten geachtet werden.
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Zum zweiten, meine Damen und Herren: In der Europäischen Union sind wir alle Minderheiten. Wir wissen, daß in Dänemark die Volksabstimmung über Maastricht so knapp ausging, weil die Dänen, und zwar die in Dänemark, befürchtet haben, daß ihre kulturelle Identität beschädigt werden könnte.
Wir als das volkreichste Land in Europa, in der Europäischen Union, sollten hier das Zeichen nach außen setzen, daß wir alle achten, daß auch in der größeren Europäischen Union niemand Angst um seine Identität haben muß.
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Wenn wir das nach außen deutlich machen, dann sind auch die Chancen größer, daß die Finnen und Norweger, die auch diese Angst umtreibt, ein positives Votum zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union abgeben werden.
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Es wundert mich schon, daß die Menschen, die der Aufnahme der Minderheitenachtung in das Grundgesetz ablehnend gegenüberstehen, dieselben sind, die von Angst vor Überfremdung reden. Was ist überhaupt Angst vor Überfremdung? Als ob die paar Ausländer, die bei uns sind, wirklich in der Lage wären, die kulturelle Identität der Deutschen nachhaltig zu beeinträchtigen.
Wer hat denn hier Angst? Wer hat denn hier so wenig Zutrauen in seine eigene Kultur, daß er glaubt, Angst vor Überfremdung haben zu müssen? So stark sind wir als Deutsche in unserer kulturellen Identität doch, daß wir damit nun wirklich ganz leicht fertig werden können.
Meine Damen und Herren, ich glaube an die Stärke der eigenen Kultur und bin gerade deshalb dafür, daß wir die Achtung von Minderheiten aussprechen.
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Meine Damen und Herren, Toleranz zeigt sich im Handeln. Deshalb stimmen Sie bitte unserem Antrag zu!
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Frau Kollegin Dr. Barbara Höll, Sie sind jetzt die nächste Rednerin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegenwärtig beschäftigt nichts so sehr die Gemüter der Menschen in diesem Lande wie die ungelösten und sich verschärfenden sozialen Fragen. Für die Bürgerinnen und Bürger im Osten hat der Gewinn wichtiger persönlicher Freiheiten in den letzten fünf Jahren gleichzeitig den Abbau existentieller sozialer Grundrechte wie des Rechtes auf Arbeit und Wohnen bedeutet.
In den alten Bundesländern haben derartige soziale Grundrechte nie existiert, obwohl die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 einen von ihnen so bezeichneten „demokratischen Sozialstaat" deklariert hatten, der allerdings im Laufe von 44 Jahren zum „Sozialstaat" degenerierte und nicht viel mehr als einen Anspruch des einzelnen auf die öffentliche Hand bedeutet.
Zur Zeit erleben wir einen weitgehenden Rückzug des Staates aus seiner sozialen Verantwortung und damit eine permanente Verletzung grundgesetzlich fixierter Pflichten. Die Würde des Menschen wird auf diese Art und Weise für Tausende im Lande täglich gebrochen.
Der Verfassungsentwurf der PDS/Linke Liste geht davon aus, daß das Defizit an sozialen Grundrechten behoben werden kann und muß, und beinhaltet deshalb ein Recht auf unentgeltliche Bildung und berufliche Ausbildung mit Mitwirkungsrechten der Schüler und Schülerinnen und Selbstverwaltungsrechten der Schulen, das Recht auf Arbeit zu gerechten, menschenwürdigen Bedingungen und die Verpflichtung des Staates, durch den Ausbau der Arbeitsbereiche Umwelt, Erziehung und Pflege eine Politik der Vollbeschäftigung und Arbeitsförderung einzuleiten.
Dabei geht es nicht um den illusionserzeugenden Versuch, die Verfassung durch einen Katalog unerfüllbarer Wünsche zu überfordern.
Aber das Grundgesetz steht mitnichten auf der Höhe der Zeit und der volkswirtschaftlichen Möglichkeiten dieses Landes. Es unterbietet auch die völker21006
rechtlichen Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Beitritt zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte eingegangen ist, denn dieser von den Vereinten Nationen ausgearbeitete Vertrag enthält u. a. das Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit und auf Wohnung.
Gewiß wäre es eine Verheißung, daß jeder Mann und jede Frau jeden gewünschten Arbeitsplatz erhält und behält. Das ist eine weder faktisch noch rechtlich einlösbare Verpflichtung. Indem der Antrag jedoch das Recht auf Arbeit teilweise als verbindliches Staatsziel und teilweise als ein justitiables Grundrecht normiert, findet er einen Kompromißweg aus der Zwangslage, Marktwirtschaft mit einem der fundamentalen Menschenrechte vereinbar zu machen.
Wir schlagen ferner das Recht auf eine vorleistungsunabhängige soziale Grundsicherung für alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Alter und Geschlecht vor. Es soll eine von Dritten unabhängige Existenz ermöglichen, auch wenn die Teilnahme am Erwerbsleben nicht oder nur eingeschränkt möglich ist.
Das Recht auf eine angemessene Wohnung für alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen, einkommensgerechte Mieten und einen gesetzlichen Kündigungsschutz formulieren wir ebenfalls. Die unerträgliche Schande der Obdachlosigkeit in einem reichen Industriestaat muß endlich beseitigt werden.
Das Recht auf gesundheitliche Fürsorge für jeden Menschen genauso wie das Recht auf Freizeit und einen bezahlten Erholungsurlaub für alle sind unserer Meinung nach Grundrechte, die Verfassungsrang haben.
Es ist kennzeichnend, daß der Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission keine sozialen Grundrechte enthält, obwohl auch dort eine Mehrheit die Position bezogen hat, daß das vorhandene Defizit an sozialen Grundrechten ursächlich mit fehlenden sozialen Staatszielbestimmungen zusammenhängt.
Wer trotz dieser Erkenntnis keine Änderung einleitet, nimmt die Verschärfung sozialer Gegensätze billigend in Kauf. Die PDS/Linke Liste, den Diskriminierten, sozial Benachteiligten und um mehr Gerechtigkeit Bemühten in dieser Gesellschaft verpflichtet, wird sich auch außerhalb der heutigen Debatte dafür einsetzen, daß die von der UNO deklarierten Menschenrechte auch in der Bundesrepublik durchgesetzt werden.
Ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren! Ich erteile jetzt der Frau Kollegin Maria Michalk das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr viel ist heute schon über die Frage Minderheiten- und Volksgruppenschutz gesprochen worden. Erlauben Sie mir, daß ich Ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf Art. 20 b lenke.
Die heute zur Abstimmung anstehende Formulierung „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten" ist nicht das, was ich als Angehörige der Volksgruppe der Sorben in meiner parlamentarischen Arbeit für den notwendigen Schutz und die Förderung der traditionell in Deutschland ansässigen Minderheiten und Volksgruppen erreichen wollte. Alle, die diese auf der Basis des SPD-Antrages gefundene Formulierung bejubeln, muß ich fragen: Glauben Sie wirklich, daß dieser Antrag so die Erwartungen der Dänen, Friesen und Sorben erfaßt, oder geben Sie nicht vielmehr zu, daß dies das Ergebnis raffinierten politischen Taktierens ist, um durch die Hintertür die Fragen der Einbürgerungspolitik und der doppelten Staatsangehörigkeit auf die Tagesordnung zu setzen.
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- Regen Sie sich nicht auf, ich komme noch darauf!
Ich fühle mich als Angehörige der Sorben bei so einer taktiererischen Politik nicht sehr verstanden und bedaure zutiefst, daß die Alternativvorschläge, die auch meiner Fraktion auf dem Tisch lagen, heute hier nicht mehr zu finden sind, weil sie nicht die erforderliche Mehrheit fanden. Leider war ja auch meine Fraktion nicht davon zu überzeugen, daß die Formulierung, die ich gern hätte, nämlich
Der Staat schützt und fördert die traditionell in geschlossenen Siedlungsgebieten in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen nationalen Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit . . .
genau dem entspricht, was die Vertreter des sorbischen Volkes nach dem Fall der Mauer, unter dem Eindruck der erlangten Freiheit, nach breitem Diskussionsprozeß im August 1990 im Memorandum des sorbischen Volkes festgehalten haben. Erlauben Sie mir, daß ich daraus kurz zitiere:
Das sorbische Volk wendet sich an die deutsche Öffentlichkeit, insbesondere an die Politiker im Osten und im Westen Deutschlands, mit der Bitte, sich dafür einzusetzen, daß im Grundgesetz des einheitlichen Deutschland die Lebensinteressen der Volksgruppen in gebührender Weise berücksichtigt werden.
Das widerspiegelt die Erwartungshaltung, über die wir heute zu entscheiden haben.
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Immer noch wissen viele nicht, daß das sorbische Volk seit 1400 Jahren in der Lausitz lebt und seit etwa 1000 Jahren innerhalb deutscher Staatlichkeit. Diese Tatsache kann man doch nicht verwischen, indem man die Interessen dieses Volkes mit den Interessen von Gruppen gleichsetzt, die seit 10, 20, 50 Jahren in Deutschland leben.
Ich will auch noch hinzufügen: Der Hinweis auf die Kulturhoheit der Länder ist mir nicht ausreichend.
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Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 238. Sitzung. Benin, Donnerstag, den 30. Juni 1994 21007
Minderheitenpolitik ist für mich mehr als nur Kulturpolitik. Das konnte ich am eigenen Leibe erfahren.
Will man der nicht aufzuhaltenden Assimilation begegnen, braucht ein Volk wie das der Sorben, der Friesen und der Dänen einen besonderen Schutz und eine besondere Förderung. Ich habe heute in den Gesprächen am Rande dieser Debatte noch einmal die Gewißheit erlangt, daß es auch in Zukunft diesen Schutz und diese Förderung, sprich Unterstützung, geben wird und daß das Thema mit der heutigen Debatte bei weitem noch nicht beendet ist.
Populistische Formulierungen, wie man sie z. B. in dem Antrag der PDS finden kann, werten das Thema eigentlich nur ab, vielleicht sogar in juristischer Form. Oder stellen Sie von der PDS sich wirklich vor, daß das, was Sie alles schützen und fördern wollen, bezahlbar ist?
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Schön wäre es, wenn Sie dann ihr SED-Vermögen dafür zur Verfügung stellen würden!
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Nein, mein Signal hier zielt darauf, zu erkennen, daß die Aufnahme eines Artikels in der Form der von uns vorgeschlagenen Formulierung für die traditionell in Deutschland lebenden Volksgruppen und Minderheiten auch ein Signal an die Gefühle der betroffenen Menschen gewesen wäre. Es hat bei aller Hochschätzung der Regelungen in den Ländern etwas mit Geborgenheit im vereinten Deutschland zu tun. Deshalb beruft man sich ja auch auf die Verfassungstradition. Ich bedaure sehr, was daraus heute entstanden ist.
Helfen Sie bitte auch nach dem heutigen Tag mit, diesem Anliegen Rechnung zu tragen.
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Ich möchte es in meiner sorbischen Sprache bekräftigen: Ja was jara prošu.
Herzlichen Dank.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt unser Kollege Werner Schuster.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab, Frau Kollegin Michalk - würden Sie freundlicherweise zuhören -: Ich muß meine eigene Rede abändern und Sie freundlich darauf hinweisen, daß die SPD in einem Antrag, über den nachher namentlich abgestimmt wird, fordert:
Der Staat schützt und fördert Volksgruppen und nationale Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit.
Sie brauchen dem nur zuzustimmen!
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Nach dem unübertroffenen Redebeitrag meines sehr geschätzten Kollegen Hans-Jochen Vogel
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möchte ich noch einmal versuchen, bei Ihnen, meine Damen und Herren, für die Idee der globalen Verantwortung Deutschlands und ihrer Verankerung in der Verfassung zu werben. Wie Sie wissen, beantragt die SPD, in der Präambel die Worte „dem Frieden der Welt zu dienen" durch die Formulierung zu ersetzen: „dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Solidarität in der einen Welt zu dienen".
Stellen Sie sich vor, zwischen meinen Händen befände sich eine Erdkugel, symbolisch ein Globus, wie wir ihn aus der Schule kennen. Wir, die Europäer, die Amerikaner und die Japaner, leben hier oben im Norden mit etwa einer Milliarde Menschen. Hier unten im Süden leben vier Fünftel aller Menschen, vier bis fünf Milliarden. Wir im privilegierten Norden verbrauchen trotz nur 20%igen Bevölkerungsanteils 80 % aller Ressourcen, 80 % aller Energien und sind verantwortlich für 75 % aller Emissionen.
Spätestens seit der berühmten Konferenz von Rio wissen auch diejenigen unter Ihnen, die nicht Umwelt- und Entwicklungspolitiker sind, daß es nur eine Frage der Zeit ist, wann dieses Konsumverhalten des Nordens zum Kollaps unseres Erdballs führt.
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Wir, nicht unsere schwarzen Freunde im Süden, bedrohen das Überleben der Menschheit.
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Diese Fakten liegen seit langem, durch zahlreiche internationale Kommissionen belegt, für jedermann offen auf dem Tisch. Strittig ist nur, wann der Kollaps passiert, ob im Jahre 2050, 2100 oder vielleicht 2200.
Aber wir, die Bevorzugten im Norden, waren bei dieser Zerstörung unseres Globus schon sehr erfolgreich. Sie erinnern sich: Wir haben es - Hand in Hand mit den Eliten des Südens - z. B. geschafft, in nur 40 Jahren 50 % des Urwaldes zu schlachten, dessen Entstehung mehrere Millionen Jahre gedauert hat. Meinen Sie nicht auch, daß wir eine Verantwortung für nachfolgende Generationen, für unsere eigenen Kinder und Enkelkinder haben?
In dem gerade erschienenen „Bericht über die menschliche Entwicklung" des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, kurz: UNDP 1994, liest sich dieser Zusammenhang u. a. wie folgt - ich darf zitieren -:
Trotz aller technologischen Durchbrüche leben wir immer noch in einer Welt, in der ein Fünftel der Bevölkerung der Entwicklungsländer Tag für Tag hungert, in der ein Viertel nicht einmal seine elementaren Bedürfnisse wie sauberes Trinkwasser decken kann und ein Drittel in einem Zustand äußerster Armut lebt - derartig an den Rand menschlicher Existenz gedrängt, daß die Worte fehlen, um den Zustand dieser
- immerhin 1,5 Milliarden -Menschen zu beschreiben.
Wir leben auch in einer Welt beunruhigender Gegensätze: Während so viele hungern, werden andererseits viele Nahrungsmittel verschwendet. Während so viele Kinder sich ihrer Kindheit nicht erfreuen können, gibt es andererseits so viele unnötige Waffen. Trotz des zu begrüßenden Rückgangs entsprechen die globalen Militärausgaben immer noch dem zusammengerechneten jährlichen Einkommen einer Hälfte der Menschheit. Die reichste Milliarde Menschen
- das sind wir im Norden verfügt über ein 60 mal so hohes Einkommen wie die ärmste Milliarde.
Vor diesem Hintergrund müssen wir nach einem neuen Konzept für die menschliche Sicherheit in den kommenden Jahrzehnten suchen,
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welches sich eben nicht mit den herkömmlichen Kategorien von Krieg und Frieden zufriedengeben darf, sondern den globalen Überlebensfragen Rechnung trägt. Nachhaltige menschliche Entwicklung - das verlangt dieser UNDP-Bericht - muß nach einer neuen Rolle für die Vereinten Nationen suchen, damit diese darangehen können, nicht nur die Agenda für den Frieden, sondern auch eine Agenda für die Entwicklung zu verwirklichen.
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Damit sind die Aufgaben auch deutscher Politik nachdrücklich benannt. Ich empfehle Ihnen allen diesen Bericht als anregende Lektüre für die Sommerpause.
Aus diesen Gründen hat die SPD im Laufe dieser Periode eine Reihe von Anträgen eingebracht mit dem Ziel, die Entwicklungsverträglichkeit als Querschnittsaufgabe staatlichen Handelns zu begreifen. Wir haben im Ausschuß und im Plenum darum des öfteren hart, aber meist konstruktiv gestritten. Am Ende dieser Periode bietet sich heute die einmalige Chance, über alle parteipolitischen Grenzen hinweg international ein Signal zu setzen, daß wir, die gewählten Volksvertreter im Deutschen Bundestag, uns der Verantwortung für die eine Welt bewußt sind und dies auch in der Verfassung verankern wollen.
Dieser Schritt sollte Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, doch nicht schwerfallen. Gönnen Sie sich doch einmal die wenigen Minuten, in Ihren eigenen Wahlprogrammen nachzulesen!
({6}) Sie werden sich wundern.
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Wenn wir uns in den Zielen also offenkundig einig sind, frage ich: Sollte sich dieses notwendige Umdenken nicht auch in der jetzt zu verabschiedenden Verfassung wiederfinden? Die Sicherung des Überlebens durch eine auf Dauer tragfähige Entwicklung und die Schaffung gleicher Lebenschancen weltweit, im Norden und im Süden, das muß ein besonderes Anliegen des Staates und von Ländern und Kommunen gleichermaßen sein.
Die Verabschiedung dieser Verfassung bietet die unwiederbringliche Chance, zu dokumentieren, daß wir in der Lage und willens sind, über den Tellerrand Deutschlands hinauszublicken und die globale Verantwortung Deutschlands auch in der Präambel zu manifestieren.
Ich bitte Sie daher herzlich - eigentlich um unserer selbst willen - um Zustimmung zu dem vorgeschlagenen Präambeleinschub.
Danke.
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Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Heinz Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schon in früheren Wahlperioden hat es den Wunsch gegeben, dem Bund Gesetzgebungskompetenzen etwa in den Bereichen Fortpflanzungsmedizin, Gentechnologie und Organtransplantation zu übertragen. Es ist gut, daß heute hierüber befunden werden kann.
Bevor ich mich mit diesen Problemen beschäftige, möchte ich meiner Genugtuung Ausdruck verleihen, daß die Fragen der Staatshaftung durch die Übertragung auf die Bundeskompetenz eine Lösung gefunden haben, wie meine Freunde und ich sie uns schon lange gewünscht haben.
Meine Damen und Herren, die Fortschritte in Medizin und Technik bringen zunehmend neue schwierige Fragestellungen hervor. Schlaglichtartig deutlich wurde dies im Fall der Erlanger Schwangerschaft. Die Weiterbehandlung einer Toten, um ungeborenes Leben zu erhalten und bis zur Geburt zu fördern, hat besonders deutlich die Probleme der Feststellung des Todeszeitpunktes, der Verletzung des Rechts der Frau auf menschenwürdiges Sterben, des Lebensrechts des Kindes, der Forschungsfreiheit und der Experimente am Menschen ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt.
Ähnlich schwerwiegende Fragen stellen sich auch zum Lebensbeginn. Die ethischen Probleme der InHeinrich Seesing
vitro-Fertilisation und des Embryonentransfers wurden über Jahre nach innerärztlichen Richtlinien behandelt, bis das Embryonenschutzgesetz in Kraft trat, das einige Probleme durch Anwendung des Strafrechts löste. International gibt es keinen Konsens zu diesen Fragen.
Ein weiteres Problem am Lebensbeginn ist darin zu sehen, daß durch die immer weiter verbesserten Methoden der pränatalen Diagnostik die Schere zwischen Diagnose und Therapie immer größer wird. Immer mehr Krankheiten lassen sich mit Hilfe gendiagnostischer Verfahren erkennen. Diese Verfahren werden immer einfacher und aussagekräftiger. Es reichen wenige Körperzellen für einen Test. Jede kleine Hautzelle, jede Haarwurzel und jeder Tropfen Blut wird damit zum Träger von Informationen über die gesundheitlichen Anlagen eines Menschen.
Die Ergebnisse der Humangenetik und der Gentechnologie werden die Medizin wesentlich beeinflussen. Mit dem Fortschritt entsteht allerdings auch allzuleicht der Eindruck, es könnten alle Gesundheitsschädigungen mit Hilfe medizinischer Möglichkeiten wieder rückgängig gemacht werden. Es besteht die Gefahr, daß die Gesundheit zur Pflicht gemacht und als Leistung gefordert wird.
Aber weder der Ausbau der Organtransplantation noch eine zukünftige Genchirurgie werden ewiges Leben garantieren können. In ihnen liegt neben allem medizinischen Fortschritt die Gefahr der Betrachtung des Menschen als reparaturfähige Maschine.
Ich befürchte, daß auch nach Ausschöpfung von Rationalisierungsreserven im Gesundheitswesen in Zukunft über die Rationierung von Ressourcen zu entscheiden ist. Ressourcen sind nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch andere Güter z. B. Zeit, menschliche Zuwendung, vorhandene Geräte oder erhältliche Spenderorgane. Das Problem der Verteilungsgerechtigkeit stellt sich und damit eine ethische Fragestellung, die nicht nur mit Gesetzgebungskompetenz zu beantworten ist. Ich sehe die Notwendigkeit, daß sich der Deutsche Bundestag eine Einrichtung schafft, die ihm eine Entscheidung über die vielen ethischen Fragen möglich macht.
Für viele ist auch die Frage des Tierschutzes eine solche ethische Frage. Sie wünschen deshalb eine Aufnahme des Tierschutzes in den Katalog der Staatszielbestimmungen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion warnt vor einer ausdrücklichen eigenen Formulierung eines solchen Staatszieles. Wir sind der Auffassung, daß die Gefahr besteht, daß andere durch die Verfassung geschützte Bereiche, z. B. die Entfaltung von Forschung und Lehre oder sogar der Schutz des menschlichen Lebens, getroffen werden könnten. Zudem haben wir ein Tierschutzgesetz, in dessen § 1 es wie folgt heißt:
Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen.
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Da wir der Auffassung sind, daß das Staatsziel Umweltschutz wenigstens zum Teil auch den Schutz der
Tiere einschließt, empfehlen wir, daß diese Interpretation in noch zu besprechender Form vom Parlament festgelegt wird.
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Wegen der weiterführenden ethischen Fragen verweise ich auf das von mir schon Gesagte. Ich glaube, der nächste Bundestag hat da eine Aufgabe, die gelöst werden muß.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Konstanze Wegner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir einige Worte zu einem Thema, das ursprünglich auf der Tagesordnung der Gemeinsamen Verfassungskommission stand, das dann aber immer wieder aufgeschoben wurde und zuletzt überhaupt nicht mehr behandelt worden ist.
Ich meine die Reform der Finanzverfassung. Ich möchte als ursprünglich vorgesehene Berichterstatterin der SPD-Bundestagsfraktion zu diesem Thema einige Worte sagen, weil ich überzeugt bin, daß die Verfassungskommission mit dieser Nichtbehandlung eine Chance vertan hat. Dies zuzugeben gehört auch in eine ehrliche Bilanz der Arbeit dieser Kommission.
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Wäre es nicht angebracht gewesen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ehe wir über veränderte Gesetzgebungskompetenzen, über Frauenrechte, über Tierschutz und über neue Staatsziele diskutieren, einmal die Frage nach den finanziellen Grundlagen solcher Regelungen zu stellen? Natürlich hätte die Gemeinsame Verfassungskommission keine neue Finanzverfassung entwerfen können. Damit wäre sie völlig überfordert gewesen; das wäre auch von der Sache her gar nicht notwendig. In einer solchen Grundsatzdebatte hätte man aber doch einige Pflöcke einschlagen können, um die Richtung zu weisen, in die mögliche Reformen gehen könnten. Das schiene mir sinnvoll gerade und auch im Hinblick auf die deutsche Einheit.
Ich bin überzeugt, daß sich jetzt die Aufgabenzuweisung und die entsprechende Finanzausstattung der Gebietskörperschaften, d. h. von Bund, Ländern und Gemeinden, nicht mehr im Gleichgewicht befinden.
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Ich möchte Ihnen dafür ein Beispiel aus der Kommunalpolitik nennen, das Ihnen allen vertraut ist. Zu Recht klagen die Kommunen über die Last der Sozialhilfe, die in den letzten Jahren explosionsartig in unserer Gesellschaft angestiegen ist, zum einen durch die Fort- und Weiterentwicklung der Armut, zum anderen aber, weil die Sozialhilfe zunehmend mit wesensfremden Aufgaben belastet worden ist, für die sie
gar nicht geschaffen war, nämlich mit den Kosten für Bürgerkriegsflüchtlinge, mit den Kosten für Langzeitarbeitslose und bislang auch mit den Kosten für die Pflege.
Auch die Art und Weise, wie die Regelung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz, den wir in der Sache natürlich alle unterstützen, durchgeführt worden ist, ist höchst problematisch. Es kann nicht richtig sein, daß eine Ebene, in diesem Fall der Bund, für eine andere Ebene eine höchst kostenträchtige Reform beschließt, ohne daß zuvor über die Aufteilung der Kosten Klarheit besteht bzw. eine Beteiligung der beschließenden Ebene gesichert ist.
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Weshalb ist es nicht zu einer Thematisierung der Finanzverfassungsreform gekommen? Die Antwort ist einfach: Die Bundesregierung und auch die Länder, allerdings aus ganz unterschiedlichen Beweggründen, wollten das nicht. Der Bund hat kein Interesse an einer Reform der Finanzverfassung, weil er fürchten muß, dabei finanziell noch weiter gerupft zu werden. Die Länder - ({3})
Ich muß mich korrigieren: Der Bund hat versucht, ein Thema in die Verfassungskommission einzubringen. Das war der Vorschlag, die Länder mögen sich an den Kosten für die Europäische Gemeinschaft beteiligen. Wir als Berichterstatter aber waren uns einig, daß dies ein Randthema ist und daß man dies nicht isoliert diskutieren kann, sondern nur im Zusammenhang.
Die Länder ihrerseits haben die Reform der Finanzverfassung nicht thematisiert, weil sie sich einfach nicht auf eine gemeinsame Marschroute gegenüber dem Bund einigen konnten. Die Unterschiede liegen da nämlich keineswegs darin, ob ein Land rot oder schwarz regiert wird, sondern ausschließlich darin, ob es sich um ein finanzstarkes oder ein finanzschwaches Land handelt.
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Sie haben ganz unterschiedliche Anforderungen gegenüber dem Zentralstaat.
Die Tatsache, daß die Gemeinsame Verfassungskommission nicht in der Lage gewesen ist, sich mit den zugegebenermaßen prosaischen Fragen der Finanzverfassung zu beschäftigen, können wohlwollende Betrachter als eine besondere Ausprägung des deutschen Idealismus interpretieren.
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Mir scheint aber eher, daß sich die unmittelbar Beteiligten schlicht vor einem schwierigen Problem gedrückt haben.
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Eine Chance zur Reform, eine Chance zum Handeln in einem ganz wichtigen staatlichen Bereich wurde damit vertan. Das ist schade, meine Damen und Herren, denn die Probleme bleiben uns erhalten und werden uns mit Sicherheit weiter beschäftigen.
Ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren, jetzt hat unsere Kollegin Susanne RahardtVahldieck das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Verlaufe der Debatte habe ich einige mehr oder minder leidenschaftliche Appelle mit den verschiedensten Formulierungsvarianten gehört, die nichteheliche Lebensgemeinschaft in Art. 6 des Grundgesetzes aufzunehmen. Ich will noch einmal ganz klarstellen, daß die Nichtaufnahme solcher Lebensgemeinschaften ins Grundgesetz unter gar keinen Umständen eine Diskriminierung derselben bedeuten kann
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und nicht bedeuten soll. Ich selbst - ich glaube, ich kann das ganz offen sagen - habe jahrelang in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gelebt,
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die damals nicht im Grundgesetz abgesichert war und es in Zukunft wohl auch nicht sein wird. Ich habe mich nicht diskriminiert gefühlt. Ich gehe davon aus, daß sehr viele derjenigen, die in nichtehelichen Lebensgemeinschaften leben, dies ganz genauso sehen. Denn Art. 2 unseres Grundgesetzes ermöglicht jedem Menschen, so zu leben, wie er das will: allein, zu zweit, verheiratet, unverheiratet, mit Kindern, ohne Kinder, zu dritt, zu viert, in einer Gemeinschaft auf Dauer angelegt oder nicht auf Dauer angelegt, in Wohngemeinschaften, wie auch immer er das möchte. Wir sind ein freies Land, jeder kann seinen Weg so wählen.
Der besondere Schutz, den das Grundgesetz Ehe und Familie gewährt, bedeutet ja nicht, daß andere Formen des Zusammenlebens nicht geachtet, akzeptiert, toleriert würden; sie werden nur nicht besonders geschützt.
Nun frage ich mich: Wie soll man denn sonst damit umgehen? Es gibt doch die verschiedensten Varianten. Im Laufe der Verfassungsdiskussion ist an uns auch herangetragen worden, Alleinstehende hätten mit besonders großen Schwierigkeiten zu kämpfen und müßten deswegen in die Verfassung besonders aufgenommen werden. Nun schützen wir in Art. 6 Ehe und Familie besonders, dann schützen wir auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften oder achten sie besonders. Was ist denn übrigens mit den Lebensgemeinschaften, die nicht auf Dauer angelegt sind? Die soll es ja auch geben. Wenn man die nicht aufnimmt, heißt das, die würden diskriminiert? Dann kommen mit einem gewissen Recht die Alleinstehenden und sagen: Wir wollen alleine leben. Wenn wir die auch noch aufnehmen, dann haben wir den ganzen Katalog aller Formen des Zusammenlebens ins Grundgesetz aufgenommen. Was bedeutet dann,
bitte schön, noch der besondere Schutz von Ehe und Familie?
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Der besondere Schutz von Ehe und Familie liegt nicht darin begründet, daß irgend jemand auf dem Umweg ins gemeinsame Bett das Standesamt berührt, sondern darin, daß rechtliche Verpflichtungen zwischen den Partnern, den Ehepartnern, ausgesprochen werden, auch nachgehende rechtliche Verpflichtungen,
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und rechtliche Pflichten zwischen Eltern und Kindern bestehen. Diese rechtlichen Pflichten werden vom Gesetz- und Verfassungsgeber auferlegt. Zum Ausgleich dafür ist es doch nur angemessen, daß eine derart enge verpflichtende Bindung auch einen besonderen Schutz genießt. Das sagt überhaupt nichts darüber aus, daß Leute, die anders zusammenleben wollen, ohne diese Pflichten nicht geachtet würden. Aber diesen besonderen Schutz verdienen sie unserer Auffassung nach nicht.
Deswegen: Nichts gegen alle anderen Formen des Zusammenlebens. Was heißt im übrigen „auf Dauer angelegt" oder „nicht auf Dauer angelegt"? Ich meine, das sind innere Tatsachen, über die man auch einmal nachdenken könnte. - Zu zweit, zu dritt, mit Kind und ohne Kinder - das kann jeder selbst entscheiden, niemand wird diskriminiert, jeder wird geachtet.
Der einfache Gesetzgeber dürfte da übrigens auch noch etwas tun, das sage ich auch mal dazu. Es gibt durchaus noch rechtliche Schwierigkeiten für Lebensgemeinschaften, die abgebaut werden können.
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Das ist aber Aufgabe des Gesetzgebers, nicht des Verfassungsgebers. Wir können als Verfassungsgeber nicht jedes Problem, das der Gesetzgeber lösen müßte, durch Verfassungsvorgaben bereits jetzt lösen. Das, meine ich, ist ein Ansatz, den wir nicht verfolgen dürfen.
All die Probleme, die in diesen Lebensgemeinschaften auftauchen können, können durch den einfachen Gesetzgeber geregelt werden und müssen es auch. In der Verfassung haben diese Fragen nichts zu suchen. Das heißt: Keine Aufnahme der Lebensgemeinschaften in die Verfassung! Der besondere Schutz von Ehe und Familie bleibt aus wohlerwogenen Gründen und ohne jede Diskriminierungsabsicht bestehen. - Soweit zu Art. 6.
Jetzt mit von Sozialdemokraten geklauter Zeit noch etwas zur Mitmenschlichkeit; das ist ein Antrag, den ich auch unterschrieben habe.
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Gerade in meiner Fraktion gibt es, wie ich leider weiß,
Widerstände gegen die geplante Lösung, die ich nicht
verstehen kann, denn für mich sind Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn urkonservative, urchristliche Anliegen. Daß gerade meine Fraktion solche Bedenken hat, kann ich nicht ganz begreifen.
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Ein Argument ist, daß wir Verfassungslyrik nicht brauchen würden. Das ist völlig richtig, Verfassungslyrik brauchen wir nicht. Ich bin im übrigen auch keine Verfassungslyrikerin, wie die meisten unter Ihnen wissen dürften.
Dann heißt es aber, das sei eine neue Grundrechtsschranke, die sehr verdächtig sei und deswegen nicht aufgenommen werden dürfte. Was denn nun? Entweder ist es Lyrik, oder es ist eine neue Schranke. Es kann unmöglich beides zugleich sein. Es kann nur eines von beidem sein.
Im übrigen ist es meines Erachtens weder das eine noch das andere. Herr Grimm - der Aufsatz ist schon häufiger zitiert worden - hat ausdrücklich gesagt, diese Grundgedanken einer Verfassungserwartung gehörten in die Präambel. Dort haben die Antragsteller sie jetzt auch angesiedelt, und dafür bitte ich um Ihre Unterstützung. Alle Verfassungserwartungen und alle Verfassungsvoraussetzungen - wie diese - sind in der Präambel zu formulieren, und es scheint mir sehr, sehr wichtig, daß diese beiden Worte im Grundgesetz auftauchen. Wir alle klagen über Vereinsamung, über Gewalttätigkeit, über Individualisierung, über die Atomisierung der Gesellschaft - alles Erscheinungen, über die wir zu Recht klagen.
Wenn wir auf der anderen Seite eine Verfassung haben, in der immer nur die Worte Freiheit und Gleichheit ausdrücklich auftauchen, aber Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn immer nur herausgelesen werden müssen - ich meine, wenn wir diese beiden Worte dort betonen, wo sie hingehören, nämlich in der Präambel, tun wir wenigstens einen Schritt in die richtige Richtung. Daß das alles dann nicht sofort unter den Menschen ausbricht, wissen auch wir. Aber es muß in diesem Grundgesetz auch einmal gesagt werden, daß dieses Land nicht nur aus Freien und Gleichen besteht, sondern auch aus Menschen, die sich umeinander und um die Gemeinschaft kümmern.
Danke schön.
({7})
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unsere Kollegin Edith Niehuis.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich zu Wort gemeldet, um mein Bedauern darüber zum Ausdruck zu bringen, daß die Mehrheit dieses Parlaments so desinteressiert gewesen ist, den Art. 6 im Sinne der Kinder zu verändern.
({0})
Dieses Desinteresse geht in vielerlei Hinsicht zu Lasten der Kinder in der Gesellschaft, aber damit auch zu Lasten einer wünschenswerten Entwicklung in unserer Gesellschaft.
Sie wissen, daß Art. 6 des Grundgesetzes die Kinder nur als Objekte erwähnt, als Objekte, die von den Eltern erzogen werden, nicht aber als Subjekte, die mit zunehmendem Alter auch Anspruch auf selbständiges und verantwortliches Handeln haben.
Mittlerweile ist vollkommen unbestritten, daß Kinder Träger von Grundrechten sind und daß die elterliche Erziehungsbefugnis - ich zitiere das Bundesverfassungsgericht - „ein Recht im Interesse des Kindes" ist. Die UN-Kinderrechtskonvention, die wir von deutscher Seite ratifiziert haben, denkt ebenfalls in diesem Sinne vom Kinde her.
Um so unverständlicher finde ich, daß es nicht möglich war, CDU/CSU und F.D.P. zu bewegen, endlich unser Grundgesetz so zu verändern, daß wir der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der UN-Kinderrechtskonvention entsprechen.
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Nun lehnen Sie so manche Verfassungsänderung mit dem Hinweis ab, man könne dies auch einfachgesetzlich regeln. So richtig dieses Argument in einzelnen Fällen sein mag, hinsichtlich des Art. 6 und der Kinderrechte trifft es nicht zu. Wenn grundsätzliche Fragen des Gemeinwesens - in diesem Fall des Zusammenlebens von Erwachsenen und Kindern - angesprochen werden, dann, denke ich, ist das eine Aufgabe der Verfassung. Wohin sollte es denn sonst gehören?
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Aber andererseits frage ich mich, wenn Sie so sehr an die einfachgesetzlichen Regelungen glauben, warum tun Sie sich als Regierung dann eigentlich so schwer, dies dann auch einfachgesetzlich zu regeln?
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Bis heute haben Sie es nicht geschafft, das längst überfällige Kindschaftsrecht zu verändern. Sie haben es wohl geschafft - was wichtig ist -, das Erbschaftsrecht von ehelichen und unehelichen Kindern zu regeln. Aber ich frage mich dann: Warum machen Sie dann eine Änderung des Grundgesetzes nicht mit, wo wir den Art. 6 genau so formulieren, daß wir nie mehr eine Unterscheidung zwischen ehelich und unehelich machen müssen?
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Halbherzig und mißlungen ist die von Ihnen vorgelegte einfachgesetzliche Konkretisierung des Mißhandlungsverbots in der Kindererziehung. Es wäre besser gewesen, Sie wären unserem Vorschlag gefolgt, in den Art. 6 GG den Satz aufzunehmen: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen."
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Es ist doch ein Widerspruch, daß im Laufe der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik die Anwendung von Gewalt in der außerfamiliären Erziehung von Kindern verboten wurde - Erzieherinnen und Lehrer können dafür sogar disziplinarrechtlich, strafrechtlich verfolgt werden -, Gewalt in den Familien allerdings weiterhin zulässig sein soll. Sie soll nach dem Willen der CDU/CSU und F.D.P. dort zulässig bleiben, wo sie auf Grund der starken emotionalen Bindung der Menschen, nämlich in der Familie, am ehesten entbehrlich wäre, aber auch entbehrlich sein muß. Wer gewaltfreie Erziehung nicht als Norm für unsere Gesellschaft festschreiben will, duldet damit indirekt zugleich Gewalt in der Erziehung - und das in ganz unterschiedlichen Ausprägungen - und bestätigt damit leider das bei Eltern viel zu weit verbreitete Urteil, daß z. B. körperliche Strafe als erlaubtes pädagogisches Mittel angesehen werden kann.
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Sie bestätigen damit im Grundsatz das, was abgeschafft wurde, nämlich das alte Züchtigungsrecht der Eltern, und negieren damit das moderne Sorgerecht der Eltern. Das finde ich schade.
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Dieses einseitige Verständnis des Elternrechts, dem das Recht des Kindes nicht energisch genug entgegengesetzt wird, kann fatale Folgen für Kinder in unserer Gesellschaft haben, insbesondere für die 400 000 Kinder jährlich, die so brutal geschlagen werden, daß sie körperliche Folgeschäden haben werden, aber auch für alle anderen Kinder, die andere Gewalterfahrungen in der Familie machen müssen.
Die von der Bundesregierung eingesetzte Gewaltkommission, deren Arbeit viel beachtet, von der Bundesregierung allerdings ignoriert wurde, forderte 1990 in ihrem Gutachten, daß Gewalt in der Familie in klarer Weise rechtlich mißbilligt werden sollte, was im übrigen auch die UN-Kinderrechtskonvention verlangt. Wer dieser Forderung um der Kinder willen nicht entsprechen will, der sollte es eigentlich aus Verantwortung gegenüber unserem Gemeinwesen tun.
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Viele reden von der Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft. Das heißt doch so viel, daß die Gesellschaft in der Familie im kleinen erfahren und erlernt wird. Aber was sollen Kinder Ihrer Meinung nach an Grunderfahrungen in dieser Keimzelle der Gesellschaft lernen? Ist es denn wirklich wünschenswert, wenn Kinder lernen: Es ist das Recht des Stärkeren, in dem Fall der Eltern, seine/ihre Interessen notfalls mit Gewalt durchsetzen zu dürfen? - Das ist natürlich nicht wünschenswert.
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Wenn man zudem eine Erkenntnis der Erziehungswissenschaft hinzufügt, die besagt, daß überwiegend strafendes Erwachsenenverhalten eher Disziplinlosigkeit, Aggression und Gewalt hervorbringt, aber nicht selbstdisziplinierte Kinder, dann scheint mir die Frage, welcher Erziehungsstil gesellschaftspolitisch wünschenswert wäre, beantwortet. Genausowenig wie in einer Demokratie Gewalt zur Durchsetzung von Interessen legitim ist, ist Gewalt in einem demokratisch verantwortungsbewußten Elternverhalten legitim.
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Darum wäre die Ergänzung des Art. 6 des Grundgesetzes sehr viel mehr als nur eine Stärkung der Kinderrechte. Sie wäre ein wichtiger, qualitativer Fortschritt für unser Gemeinwesen gewesen. Es würde mich freuen, wenn Sie heute trotz anderer Absicht dennoch zustimmen könnten.
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Meine Damen und Herren, nach Frau Dr. Niehuis hat jetzt unser Kollege Dr. Bertold Reinartz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe soeben mit größter Verwunderung dem Beitrag unserer Kollegin Dr. Höll von der PDS/Linke Liste gelauscht, die ein Seminar über Staatsmonopolkapitalismus gehalten hat - oder besser: halten wollte - und dabei zu bemerkenswerten Äußerungen gekommen ist, die mich veranlassen, von meinem vorgesehenen Beitrag abzuweichen und nicht über die Selbstverwaltungsgarantie und finanzielle Eigenverantwortung der Kommunen zu sprechen, sondern über die von ihr angesprochenen Staatsziele, die die PDS so sehr wünscht.
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Ich habe dabei gelernt, daß die PDS unsere Bundesrepublik als einen unter dem Grundgesetz degenerierten Sozialstaat ansieht.
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„Degeneriert zu einem Sozialstaat" ? - Diejenigen, die Sozialleistungen in unserem Staat beziehen, werden von Ihnen zu Almosenempfängern gestempelt.
({2}) Das ist geradezu abenteuerlich.
Sie haben soeben gesagt - ich will das wiederholen -, Sie wollten das Defizit an sozialen Rechten beheben. Ich zitiere einmal den Gesetzentwurf, den Sie uns heute zur Abstimmung vorlegen, zu einer neuen Verfassung. In Art. 46 heißt es:
Der Staat ist verpflichtet, mittels eigener Wirtschaftstätigkeit und Regulierung der privaten
Wirtschaft die Erreichung von Vollbeschäftigung,
ökologischer Verträglichkeit der Produktion, Währungsstabilität ... zu fördern.
Meine Damen und Herren, das ist nichts anderes, als die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik zu einem Volk von Almosenempfängern zu machen. Sie wollen Individualität und Eigenverantwortung vernichten sowie den Staat zum Regulativ für alles machen. Sie wollen Staatsfunktionäre, die den Wirtschaftsprozeß bestimmen.
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Wir sollen nach dem Bild des Staates, das Ihnen vorschwebt, zu Menschen werden, die auf die zu hören haben, die, ohne daß sie die Kenntnisse dafür besitzen und ohne daß sie die Verantwortung dafür zugetragen bekommen, über uns bestimmen und sozusagen das Almosen zum Leistungsentgelt machen wollen. Wir setzen einen anderen Staat dagegen.
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Nur unter diesem Gesichtspunkt ist zu verstehen, daß Staatsziele wie das Recht auf Arbeit und Wohnung oder, wie Sie es soeben formuliert haben, auf gesundheitliche Fürsorge bei Ihnen zum Programm in der Verfassung erhoben werden. Dies geschieht deshalb, weil bei Ihnen der Staat alles reguliert, weil bei Ihnen nicht die freie Verantwortung des Menschen im Mittelpunkt steht, Leistung zu erbringen und dafür ein leistungsbezogenes Entgelt zu erhalten, sondern weil Sie mit Staatszielen den Staat und die Menschen bevormunden wollen.
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Ich möchte all denen, die Ihre Ausführungen hier hören, empfehlen, genau zuzuhören und aufzumerken, daß Sie einen anderen Staat haben wollen. Sie wollen diesen Staat verändern. Sie wollen keinen demokratischen, sozialen Rechtsstaat,
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sondern Sie wollen einen Staat haben, der alles bestimmt, in alle Lebensbereiche hineinregiert und der die Verfassung der DDR als richtig angesehen hat. Deswegen kommen Sie zu denselben Staatszielen, wie sie auch in der DDR-Verfassung galten.
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- Sie können soviel dazwischenreden, wie Sie wollen, dadurch wird es nicht richtiger.
Meine Damen und Herren, nach diesem Entwurf kann ich überhaupt erst begreifen, was Sie mit Staatszielen wollen. Sie wollen mit den von Ihnen formulierten Staatszielen die Menschen verführen. Ich kann nur diejenigen warnen, die mit Ihnen zusammenarbeiten wollen oder sich von Ihnen tolerieren lassen wollen.
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Diese politischen Gruppierungen sind gefährdet. Sie wollen den DDR-Staat in die Bundesrepublik transponieren, und dagegen wollen wir uns wehren.
Ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Freimut Duve das Wort.
Herr Präsident! Ich habe mich nach den Ausführungen der beiden Kolleginnen Michalk und Steinbach zu einer Kurzintervention gemeldet.
Wir werden ab Montag in Wien die zweite Parlamentarierkonferenz der KSZE haben. Das zentrale Thema der Staaten der KSZE in den neunziger Jahren wird die Frage der kulturellen und ethnischen Minderheiten in der Zukunft sein.
Wir Deutschen haben ein großartiges Beispiel durch den deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag gegeben, in dem zum erstenmal Minderheitenschutzrechte im Rahmen der KSZE in einer angemessenen Form niedergelegt sind, nämlich in jener Form, die besagt: Zuerst kommt die Zivilgesellschaft, zuerst kommt der individuelle Anspruch des einzelnen auf Staatsbürgerrechte, und dann kommt die Gruppenzugehörigkeit, und sie muß geachtet werden und gefördert werden können. - Das haben wir mit Polen und mit Ungarn gemeinsam erarbeitet und vertraglich vereinbart.
Ich appelliere noch einmal eindringlich an die Mitglieder der Unionsfraktion, in diesem Punkt die Zustimmung zu einer notwendigen Erweiterung unserer grundgesetzlichen Verfassung zu geben. Es ist wichtig, daß ein Staat wie Deutschland, der eine solche Rolle im Rahmen der KSZE spielt und von dem sehr viel erwartet wird, in dieser Frage eine neue, der modernen Zeit entsprechende Position einnimmt. Es wäre gut, wenn Sie - oder jedenfalls einige von Ihnen - heute den Gruppen und Fraktionen, die sich dazu entschlossen haben, zustimmen könnten.
Danke schön.
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Nur für das Protokoll: Das war keine Kurzintervention, sondern ein Redebeitrag.
Meine Damen und Herren, nun hat unser Kollege Horst Eylmann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da mir als Vorsitzenden des Ausschusses, der die heutigen Vorlagen vorbereitet und beraten hat, nur eine Redezeit von fünf Minuten zur Verfügung steht, will ich mich auf zwei Punkte beschränken, die mir persönlich besonders wichtig sind.
Ich nenne zunächst das Staatsziel Umweltschutz. Wir haben bereits immer das Sozialstaatsprinzip in unserer Verfassung gehabt. Es hat sich nicht als justitiabel in dem Sinne erwiesen, daß sich darauf individuelle Ansprüche stützen lassen. Aber es hat doch diese Republik geprägt. Der Gesetzgeber, an den sich Staatszielbestimmungen richten, hat es in zahllose Gesetzesbestimmungen umgesetzt, die zu einem der bestentwickelten Sozialsysteme auf der Welt geführt haben.
Daß die Mütter und Väter der Verfassung die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht zu einem Staatsziel gemacht haben, sollten wir ihnen nicht vorwerfen. Sie hatten andere Sorgen: Deutschland war zerstört; es mußte wieder aufgebaut werden. Sie konnten sich auch nicht vorstellen, daß die Umwelt durch den Menschen so gefährdet werden könnte. Heute wissen wir es besser.
Deshalb weist das Grundgesetz hier eine Lücke auf, die geschlossen werden muß, wenn man es denn als richtig ansieht, daß eine Verfassung besonders wichtige, elementare Ziele staatlichen Handelns nennen soll. Sicherlich wird durch die Aufnahme des neuen Art. 20 a nicht eine ganz neue, bislang nicht beachtete Staatsaufgabe begründet. Ein wirksamer Schutz der Umwelt ist in den letzten Jahren zunehmend zur Richtschnur staatlichen Handelns geworden. Es geht vielmehr darum, die normierte Verfassung in Übereinstimmung mit der Rechts- und Verfassungswirklichkeit unserer Zeit zu bringen. Aber auch dies hat seinen Wert. Denn wenn das Goethe-Wort von der „geprägten Form, die lebend sich entwickelt" auch auf Verfassungen anwendbar ist, dann gehört eine solche Anpassung zu der organischen Vorentwicklung, die das Leben erzwingt.
Es war ein langer, mühsamer Weg. Ich weiß davon ein Lied zu singen; denn ich war acht Jahre lang Berichterstatter dieses Themas. Die Formulierung des neuen Art. 20 a hat ihre Schwächen; davon war schon die Rede. Wir sollten darüber hinwegsehen. Der materielle Inhalt zählt, und der ist gut.
Dann ein persönliches Wort - ich kann hier nicht für die Fraktion sprechen - zu dem von mir unterstützten Vorschlag, in die Präambel aufzunehmen, daß das durch seine Repräsentanten handelnde deutsche Volk bei der Verfassungsgebung auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertraut.
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Dieser Satz begründet kein Staatsziel. Er stellt keine Begrenzung der Grundrechte dar. Er ist so wenig justitiabel wie der Satz: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen..." Er drückt aber für die Menschen draußen eine einfache Wahrheit aus, daß nämlich für ein gedeihliches Zusammenleben in einem Gemeinwesen Grundvoraussetzung ist, daß alle Menschen guten Willens bereit sind, im Mitmenschen den Nächsten zu sehen und Gemeinsinn zu üben. Konservative Werte sind es, meine Damen und Herren, die hier angemahnt werden.
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Es gibt zwei Einwendungen, die ich für beachtlich halte: Erstens. Die Präambel sollte in ihrer schlichten Würde unverändert bleiben. Zweitens. Die Verfassung sollte von rechtlich nicht relevanten Sätzen freigehalten werden.
Für mich haben aber zwei andere Überlegungen Vorrang: Nicht nur bei uns, sondern in den meisten westlichen Staaten wird zunehmend die kritische Frage gestellt, was denn nun diese Demokratien zusammenhält, in denen individuelle Selbstverwirklichung und Gruppenegoismen überhandgenommen haben.
Und weiter: Die Menschen in den neuen Ländern, jahrzehntelang durch materielle Beschränkungen und politischen Druck gezwungen, zusammenzuhalten, sich gegenseitig zu stützen, haben verständlicherweise Schwierigkeiten, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, in der die mitmenschliche Solidarität allzuhäufig zu kurz kommt und das Sankt-Florians-Prinzip Vorrang vor dem Gemeinwohl hat. In dieser Situation, meine Damen und Herren, in der Präambel auszudrücken, daß wir den Menschen draußen elementare Bürgertugenden zutrauen, die unerläßlich für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens sind, und sie gerade durch dieses Vertrauen nicht rechtlich, aber moralisch in die Pflicht zu nehmen, erscheint mir so wichtig, daß ich Bedenken verfassungsästhetischer Art zurückstelle, wofür ich meine Fraktion um Verständnis bitte.
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Meine Damen und Herren, eine Verfassung entfaltet ihren Wert auch durch die integrative Wirkung auf die Menschen in unserem Lande. Dieser integrativen Wirkung nützt es nicht, wenn fortlaufend die Erneuerung der Verfassung gefordert wird. Anpassungen an neue Herausforderungen und Gefährdungen: ja - die beiden Beispiele, die ich genannt habe, gehören dazu -, Veränderungen in der Grundstruktur: nein. Und die Einführung des Volksentscheids wäre eine solche Strukturveränderung. Bewahren wir die Verfassung als ein wesentliches Stück Gemeinsamkeit! Wir brauchen es.
Danke sehr.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Papier, auch Verfassungspapier, ist geduldig. Dennoch: Die heutige umfangreiche Verfassungsdebatte, die erste und einzige des ersten freigewählten gesamtdeutschen Parlaments nach der Jahrhundert-, nein, Jahrtausendkatastrophe des deutschen Faschismus, muß hohe Erwartungen wecken. Diese Erwartungen werden heute enttäuscht - trotz des sehr fundierten und den richtigen historischen Bezug herstellenden Beitrags des Kollegen Hans-Jochen Vogel.
Wer ihn gehört hat und wer die vorliegenden Anträge der Opposition liest, kann doch wahrhaftig nicht auf die Idee kommen, hier wolle jemand eine andere Republik. Diese Behauptung baut doch nur einen Vorwand auf, um die Schaffung dringend notwendiger sozialer, ökologischer und auch individueller und kollektiver emanzipatorischer Rechte zu verhindern.
Wer sieht und spürt, wie die Mehrheit hier im Hause überfällige Reformen abblockt, der braucht sich über die wachsende Politik- und Staatsverdrossenheit in diesem Lande nicht zu wundern. Letztes Beispiel ist Sachsen-Anhalt mit knapp über 50 % Wahlbeteiligung, die wiederum jede PDS-Stimme doppelt zu Buche schlagen läßt.
Der Reformunwillen in der noch - noch! - größten Partei dieses Landes und in dieser Koalition der Reformverweigerer ist Ausdruck einer Art Staatssklerose. Sie läßt dieses Gemeinwesen verkalken und unbeweglich, unverständlich werden. Wer so offen wie diese Koalition der Reformverweigerer seine Reformunwilligkeit, seine Gleichgültigkeit gegenüber dringenden Problemen der Bürger demonstriert, der treibt diese Menschen noch weiter weg von ihrem Staatswesen. An die Stelle eines nüchternen, interessegeleiteten Verhältnisses der Bürger zu ihrem Staat ein abstruses, transzendentales Nationalverständnis als Surrogat setzen zu wollen, ist womöglich so etwas wie gefährlicher Unfug, zumal in diesem Lande.
Wer die politische Denk- und Handlungsfigur der Nation in diesem Land mit seiner unsäglich blutigen, brutalen und aggressiven nationalen Tradition wiederzubeleben versucht, spielt mit dem Feuer, wie nicht nur die Pogrome und Morde in Hoyerswerda, Mölln, Solingen, Magdeburg und anderswo zeigen.
Vergessen wir nicht: Die Nation Deutschland - wer sich darauf beruft, hat dem Rechnung zu tragen - hat zwei Genozide und zahllose sonstige politische Verbrechen zu verantworten. Schon das muß jedes Spiel mit der Identifikationsfigur Nation verbieten. Dieses Volk mit dieser Vergangenheit kann sich Nationalismus, kann sich diese Wiederbelebung nationaler Vorstellungen einfach nicht erlauben.
Eine große Chance zu nachhaltigen Reformen ist mit dieser Debatte vertan worden, eine gefährliche Entwicklung - das ist es, was ich soeben angesprochen habe - womöglich bestärkt worden. Eine weitere Chance, fürchte ich, wird so schnell nicht wiederkommen.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, nun hat unser Kollege Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Verfassungsdebatte, die wir heute führen, ist praktisch der Ersatz dafür, daß dem Souverän eine gemeinsame Entscheidung über die Verfassung vorenthalten wurde. Es ist sicher
richtig, daß hier eine große Möglichkeit nicht genutzt wurde, um mit dem Souverän in den Wahlkreisen über die Verfassung und die strittigen Fragen zu debattieren und dann das Ergebnis hier in die Debatte einzubringen. Es ist übrigens das gleiche Verfahren, das Sie bei dem Vertrag zu Maastricht gewählt haben, in dem die rechtliche Position unserer Staatsbürger entscheidend geändert wurde, ohne daß das jemals Gegenstand einer Debatte im Deutschen Bundestag oder eines Wahlkampfs gewesen wäre; auch hier wurde der Souverän ausgespart.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Hinweis auf Weimar zieht nicht. Wer sich mit der Geschichte befaßt, weiß, daß auch ein Adolf Hitler nicht durch Wahlen an die Macht gekommen ist, sondern durch die Ranküne, das Ränkespiel von Politikern. Auch das sollte man sich erst einmal genau vor Augen führen, bevor man sagt: Dem Volk sollte es nicht überlassen bleiben, eine eigene Verfassung zu beschließen.
Ich lehne auch die Art ab, wie mit Blockbildung und mit der Entscheidung über Blöcke Teile einer notwendigen Diskussion abgewürgt werden. Ohnehin: Die großen Fragen, vor denen wir heute stehen, werden durch diese Verfassungsänderung nicht tangiert: Das ist die Entwicklung von Prinzipien in der Politik zu einer gewissen Prinzipienlosigkeit; das ist die Entwicklung von Verantwortungsbewußtsein in der Politik zu zunehmender Verantwortungslosigkeit und - oft - zu Spielwiesenmentalität und Postenschacherei; das ist die Entwicklung von innerer Stabilität zu Haltlosigkeit, Geistesarmut und Anpassung - leider auch in diesem Parlament -, zu zur Staatskunst hochstilisiertem Schweigen - leider zu oft; das ist die Entwicklung von Sparsamkeit zu Verschleuderung von Steuergeldern; auch dieses Parlament bewilligt sich über 100 Millionen DM pro Jahr allein für seine Fraktionsmitarbeiter; das ist die Entwicklung vom Rechtsstaat zu Rechtsverwirrung und Rechtsverirrung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wir brauchen, ist eine andere Entwicklung, ist eine Entwicklung weg von einem Staat, der wie eine Krake alle Lebensbereiche erfaßt, weg von Gesetzeschaos, Steuerchaos, Abgabenchaos. Notwendig ist es, den Weg zu einem Rechtsstaat der Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit zurückzufinden, einem Staat, in dem die Freiheit nicht durch einen immer weiter zunehmenden Bürokratismus eingeschränkt wird, in dem sich Eigeninitiative entwickeln kann und in dem nicht die Bevormundung - auch durch den Gesetzgeber - viele Lebensbereiche lähmt, in dem es mehr Sicherheit statt Verunsicherung der Bürger und auch mehr Gemeinsinn, Gemeinschaftsgefühl gibt, das eine starke Motivation auslöst.
Die freien Bürger in diesem Land werden sich gegen schädliche Entwicklungen selbst wehren müssen:
Denn freie Bürger braucht das Land, nicht nur geschröpfte Knechte. Die Freiheit ist das stärkste Band der bürgerlichen Rechte.
Deshalb gilt jetzt für alle Wahlen: Wer nicht begreift, wird es bezahlen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach den interfraktionellen Vereinbarungen sind wir - wenn Sie mir zustimmen, daß wir noch die Rede des Kollegen Dr. Norbert Lammert zu Protokoll nehmen*) - damit am Ende dieser zweiten Runde und können mit der Schlußrunde beginnen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist diese eine Rede zu Protokoll genommen.
Wir kommen nun zur vereinbarten Schlußrunde. Wir brauchen ab jetzt noch etwa eine Stunde bis zu den ersten Abstimmungen.
Zunächst hat unser Kollege Norbert Geis das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1989 waren wir, die großen Parteien, uns alle einig, daß das Grundgesetz die freiheitlichste Verfassung ist, die wir je in unserer Geschichte hatten. Es gab keine Zweifel. Es gab zwar immer Systemveränderer, aber je lauter die geschrien haben, desto mehr kam das Volk zu der Überzeugung, daß wir das beste Grundgesetz haben, das je unser Zusammenleben bestimmt hat.
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In der Phase der Wiedervereinigung haben die Menschen durch die Revolution im Osten unseres Vaterlandes genau diese Grundordnung gesucht, nach der ihre Landsleute im Westen 40 Jahre lang in Frieden und Freiheit und bei wachsendem Wohlstand gelebt haben. Deshalb kam es zum Beitritt nach Art. 23 und zur Ausdehnung unseres Grundgesetzes auf die vormalige DDR. Das war die Ausgangslage.
Nun kam eine Diskussion auf. Jetzt kam plötzlich die Forderung nach einer neuen Verfassung. Die PDS und vor allem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verlangten einen Verfassungsrat, wohl ähnlich dem Parlamentarischen Rat. Aber auch die SPD verlangte einen Verfassungsrat und wollte unser Grundgesetz zur neuen Verfassung des gesamten Deutschlands weiterentwickeln.
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Die einzige politische Kraft, die sich vehement und mit Erfolg einer solchen neuen Verfassung widersetzt hat, war die Unionsfraktion. Wir haben an dem festgehalten, was wir 1989 gemeinsam festgestellt haben, daß dies nämlich die freiheitlichste Verfassung ist, die wir je hatten, und daß wir es dieser Verfassung zu verdanken haben, 40 Jahre lang in Frieden und Freiheit gelebt zu haben.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, es kam nicht zu diesem Verfassungsrat, sondern zur Verfassungskommission. Aber kaum war die Verfassungs-
*) Anlage 2
kommission eingerichtet, da kamen schon Anträge und Anfragen, die natürlich auf eine Gesamtrevision der Verfassung hinzielten. Auch dies haben wir abgewehrt, auch dies ist allein Verdienst der Unionsparteien. Das möchte ich heute herausstreichen.
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Weil wir der Meinung waren, daß unsere Verfassung, mit der wir 40 Jahre lang gute Erfahrungen gemacht haben auch für das gesamte Deutschland Bestand haben soll, haben wir Staatsziele - die Sie in einem Umfang gefordert haben, daß wir sie niemals hätten billigen können - abgelehnt. Staatsziele, meine sehr verehrten Damen und Herren, bringen Ungewißheit in ein Gesetz. Aber zum Gesetz und vor allen Dingen zum Grundgesetz gehört, daß es berechenbar sein muß. Unsere Verfassung muß berechenbar sein. Es muß klar aus ihr hervorgehen, welche Rechte und welche Pflichten die Bürger haben. Dies ist ein Lebensprinzip des Rechtsstaates. Wenn wir es verletzen - und durch allzu viele Staatsziele würde es verletzt werden -, dann verändern wir unsere Verfassung, dann führen wir unser Volk ins Ungewisse.
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Denn wir dürfen nie übersehen - daran besteht auch kein Zweifel - : Ein Staatsziel ist nur ein Ziel. Es sagt nicht, welche Rechte und welche Pflichten der Bürger hat. Verwaltungsjuristen und vor allem Richter könnten geneigt sein, sich aus solchen Zielen das herauszusuchen, was sie im konkreten Einzelfall gerade für nützlich erachten.
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Und genau das wollen wir nicht! Wir wollen, daß unsere Bürger wissen, wohin die Reise geht, welche Rechte und welche Pflichten sie haben. Wir wollen die Berechenbarkeit unseres Grundgesetzes.
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Das war auch Anliegen des Verfassungsrates, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({7})
Georg August Zinn und Carlo Schmid haben sich damals in einer langen Debatte im Parlamentarischen Rat eindeutig für ein klar berechenbares Grundgesetz ausgesprochen und die Forderungen - wie Carlo Schmid es nannte - nach Direktiven, nach großen Programmsätzen abgelehnt. Sie wollten ein klares Grundgesetz. Es wäre gut, wenn sich die SPD heute an ihre Vorväter erinnern würde.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist natürlich Aufgabe des Staates, für innere Sicherheit zu sorgen. Aber deswegen kann das doch nicht in einem Staatsziel mit Verfassungsrang erhoben werden.
Es ist natürlich Aufgabe des Staates, für Arbeit zu sorgen. Mit Recht heißt es in „Laborem exercens", daß es Aufgabe des Staates ist, dafür Sorge zu tragen, daß die Menschen Arbeit und Brot haben. Aber deswegen muß dieses Ziel doch nicht in die Verfassung aufgenommen werden.
Natürlich ist es auch Aufgabe des Staates, für Wohnraum und für Bildung zu sorgen. Aber das ist Staatszweck. Wir haben den Staat ja deswegen, daß er solche Zwecke erfüllt. Zum Zweck des Staates gehört, Freiheit, Sicherheit und Frieden zu gewährleisten. In diesem Zweck sind all diese Staatsziele, wie ich meine, enthalten. Wir brauchen keine weiteren.
Das gilt auch für den Tierschutz. Der Tierschutz ist gewiß ein wichtiges Anliegen.
({9})
Wir haben großen Respekt vor den Organisationen in unserem Land, die sehr viel dazu beigetragen haben, daß der Tierschutz einen so hohen Stellenwert hat. Aber deswegen muß noch keine Aufnahme in die Verfassung erfolgen. Wir haben schon einen guten Tierschutz, und wir wollen ihn natürlich weiterentwickeln. Dazu brauchen wir aber nicht den Verfassungsrang.
({10})
Das gilt auch für das Vorhaben des Herrn Elmer. Natürlich sind wir genauso wie er von der Sorge erfaßt, daß es in unserem Lande weniger Gemeinsinn gibt. Natürlich sind wir für mehr Mitmenschlichkeit oder - nehmen wir lieber das alte erprobte Wort, das jetzt schon 2000 Jahre lang Geltung hat - für mehr Nächstenliebe.
({11})
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollen nicht, daß Gemeinsinn von Verfassungs wegen vorgeschrieben wird. Wir wollen nicht, daß Nächstenliebe von Staats wegen, vorgeschrieben wird. Wir wollen, daß die Menschen sich freiwillig dazu entscheiden. Das ist unser Anliegen,
({12})
und deswegen sind wir gegen die Aufnahme einer solchen Formulierung in das Grundgesetz. Das heißt doch nicht, daß wir das Anliegen nicht achten. Es darf uns doch deswegen niemand vorwerfen, wir hätten nichts für christliches Gedankengut übrig - nein, dafür kämpfen wir -, aber in dem gesellschaftlichen Raum, in dem staatsfreien Raum. Wir sind der Meinung, daß der Staat mit moralischen Appellen nichts zu tun haben darf und daß der Staat es unterlassen muß, Tugendgebote aufzustellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die kommunistischen Staaten haben ihren Bürgerinnen und Bürgern Tugendgebote vorgeschrieben, und sie haben von ihnen verlangt, daß sie bestimmte sozialistische Gebote einhalten. Die Menschen haben darauf mit Revolution geantwortet. Die Französische Revolution hat den Begriff ,,fraternité" eingeführt. Aber wir wissen doch, daß in dieser Zeit gerade im Namen der Brüderlichkeit viel Blut geflossen ist.
Wir wollen nicht, daß den Menschen von Staats wegen ein bestimmtes moralisches Verhalten vorgeschrieben wird. Wir wollen aber, daß sie Gemeinsinn und Mitmenschlichkeit üben und daß diese Einstel21018
lungen in unserem Land vorherrschen, aber nicht von Staats wegen.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD und andere Gruppierungen fordern - ich nehme keine Fragen an; ich möchte meinen Vortrag zu Ende bringen - plebiszitäre Elemente in die Verfassung aufzunehmen. Dies ist sicherlich eine sehr populäre Forderung und es ist sehr unpopulär, dies zurückzuweisen. Wir haben aber viel zu gewichtige Gründe, als daß wir dieser Forderung nachgeben könnten. Es gibt viele Gründe; sie sind heute hier schon zum Teil genannt worden. Ich möchte noch einmal zwei Gründe herausstellen.
Zum einen würde durch plebiszitäre Entscheidungen der Föderalismus beschädigt werden. Gerade die SPD, die sich heute, wie ich meine, in großartiger Weise für den Föderalismus eingesetzt hat, sollte dies doch beherzigen. Durch solche Volksentscheide würde der Föderalismus beschädigt werden.
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Es nützt auch überhaupt gar nichts, wenn Sie sagen, daß dann dafür Sorge getragen werden müßte, daß in jedem einzelnen Land eine Mehrheit für den beantragten Volksentscheid gefunden werden müsse, damit der Föderalismus nicht beschädigt wird. Ich sage: Das nützt überhaupt nichts. Denn dann würde ja nicht mehr der Volkswille entscheiden, sondern das Veto, und wenn es noch so klein ist, eines kleinen oder auch das eines großen Landes. So würde gegen den Volkswillen entschieden werden. Der Föderalismus würde ganz schnell vorgeführt werden. Wir würden ihn beschädigen; wir würden nicht die Integration leisten, die eigentlich durch solche plebiszitären Elemente geleistet werden sollte. Deswegen lehnen wir es ab.
Wir lehnen es auch aus einem zweiten Grunde ab. Wir sind der Meinung, daß wir in der Demokratie eines 80-Millionen-Volkes mehr Transparenz der Verantwortung brauchen. Die Mächtigen, die Entscheidungen treffen, müssen an ihren Entscheidungen festgemacht werden können. Sie müssen dafür hinstehen. Sie müssen dafür die Verantwortung übernehmen und müssen notfalls durch den Wahlzettel zur Verantwortung gezogen werden. Das ist aber bei einem Volksentscheid nicht mehr möglich, weil man das Volk für eine falsche Entscheidung nicht verantwortlich machen kann.
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Weil wir die Transparenz der Verantwortung in einer so großen Demokratie, wie wir sie haben, brauchen, damit sie funktionieren kann, lehnen wir die Aufnahme der plebiszitären Elemente in die Verfassung ab, auch wenn es unpopulär ist. Wir bitten dafür um Verständnis.
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Ein letzter Gedanke. In der letzten Sitzung des Rechtsausschusses hat die F.D.P. zusammen mit der SPD schnell noch eine Ergänzung von Art. 6 Grundgesetz beschlossen, derzufolge nichteheliche Lebensgemeinschaften geachtet werden sollen.
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Wenn wir solche Lebensgemeinschaften in den Verfassungsrang heben und ihnen damit einen besonderen Schutz der Verfassung zukommen lassen, zerstören wir auf Dauer gesehen den besonderen Schutz von Ehe und Familie, und das wollen wir nicht.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Unionsfraktion - das darf festgestellt werden; und nicht ohne Stolz stelle ich das fest - hat sich gerade in dieser Verfassungsdebatte, die wir jetzt zwei Jahre geführt haben, als eine verläßliche, als eine zielbewußte, konsequente und glaubwürdige politische Gruppierung erwiesen. Wir wollen dies auch nach dem 16. Oktober so halten, und Deutschland kann gar nicht darauf verzichten.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Konrad Elmer.
Lieber Kollege Geis! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte nur darauf hinweisen, daß ich vorhin in meinem Einbringungsvortrag ganz deutlich gemacht habe, daß es sich gerade nicht um einen Moralappell, um etwas, was der Staat vorschreibt, handelt, sondern eine Erinnerung, ein Hinweis auf das, worauf jeder Staat bauen muß und vertrauen muß. Deswegen haben wir den Antrag doch auch geändert und dazugelernt. Wir wollen nicht hineinschreiben: „Jeder ist zur Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen", sondern: „auf Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aller vertrauend" . Dieser Vorschlag von Herrn Eylmann soll in die Präambel. Das ist kein Moralappell, sondern viel grundlegender. Dies zur Klarstellung, damit Sie nicht aus falschen Gründen ablehnen.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Schmude.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte und am Ende der mehr als zweijährigen Arbeit an der Reform des Grundgesetzes gibt es leider gewichtige Gründe, Kritik und Enttäuschung an Verlauf und Ergebnis dieser Arbeit auszudrücken. Daneben aber - und ich sage: erst recht - gibt es Anlaß zur Dankbarkeit und Befriedigung über ernsthafte und interessante Beratungsabschnitte und über zukunftsweisende Ergebnisse, derentwegen sich alle Mühe und aller Arger gelohnt haben.
({0})
Mit der Würdigung einer beeindruckenden Überraschung will ich beginnen. Den von unserem Kollegen Konrad Elmer befürworteten Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn als Bestandteil unserer Verfassung haben anfangs viele, auch ich, mit Distanz und Befremden betrachtet. Wenn es Konrad Elmer gelungen ist, die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für sein Anliegen zu gewinnen, was in über 400 unterstützenden Unterschriften zum Ausdruck kommt, so zeigt das den Rang des Vorhabens, und Herr Eylmann hat uns das heute freundlicherweise noch einmal unterstrichen.
({1})
In der Tat: Das Grundgesetz stärkt die einzelnen und auch gesellschaftlichen Gruppierungen in ihren Rechten und Chancen. Zur Rücksichtnahme auf andere und zum Eintreten für andere im Gebrauch dieser Möglichkeiten ruft es, abgesehen von den rechtlichen Schranken, nicht auf. Es geht, Herr Geis, nicht darum, hier etwas vorzuschreiben, sondern an diese Grundlage unseres friedlichen, gemeinsamen und gedeihlichen Zusammenlebens zu erinnern.
({2})
Ich sage: Es ist kein Zufall, daß einer unserer östlichen Kollegen diese Lücke in den ausdrücklichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes erkannt und als unerträglich empfunden hat. Mag auch die in der DDR früher verbreitete zwischenmenschliche Verbundenheit enger begrenzt gewesen sein, als es mancher verklärende Blick wahrnimmt, und mag sie überhaupt ihre Existenz den besonderen Nachteilen des damaligen politischen Systems zu verdanken haben: Es hat sie gegeben. Sie hat ihren großen Wert gehabt, der vielen Beteiligten in seiner Tragweite erst nachträglich oder schon bei einer früheren Übersiedlung in den Westen klargeworden ist. Dort nämlich gab und gibt es solche Verbundenheit sehr viel weniger.
Deshalb bitte ich Sie, noch einmal zu überlegen, ob wir nicht doch dem Anliegen von Konrad Elmer und vielen anderen Kolleginnen und Kollegen heute folgen sollten.
({3})
Sehr geehrte Damen und Herren, viele berechtigte Erwartungen werden am Ende dieses Schritts der Verfassungsreform nicht erfüllt. Daß der Fortschritt eine Schnecke ist, mußten die am Beratungsprozeß Beteiligten mit zuweilen quälender Deutlichkeit erfahren. Wenn sich diese Schnecke dann noch durch das Dickicht einer politischen Grundhaltung hindurchzuarbeiten hat, die von Zufriedenheit mit dem Bestehenden und der Mentalität des „Weiter so" geprägt ist, sind zusätzliche Schwierigkeiten und Verzögerungen programmiert.
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Man braucht wahrlich mit uns Sozialdemokraten nicht darüber zu streiten, daß eine totale Revision des Grundgesetzes überhaupt nicht in Frage kommt.
Diese Verfassung hat sich bewährt. Sie ist von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen und mit Leben erfüllt worden. Das ist von Anfang an auch unsere Meinung gewesen.
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Aber der Ablauf von über 40 Jahren und in dieser Zeit gewonnene Erfahrungen haben einen Bedarf an Regelungen gezeigt, die 1949 noch gar nicht gesehen und bedacht werden konnten. So halten wir es für selbstverständlich, daß aus dem Sozialstaatsgebot aus heutiger Sicht und nach langjähriger Praxis die Aufgabe folgt, für soziale Sicherheit, Wohnraum und Beschäftigungsmöglichkeiten zu sorgen.
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Dies ist einer der Anwendungsfälle des Grundsatzes, den uns Herr Eylmann hier vorgeführt hat, nämlich daß die geschriebene Verfassung mit der Verfassungswirklichkeit in Einklang gebracht werden soll. Die Menschen sollen in der Verfassung lesen können, was da gilt,
({7})
statt erst Verfassungsgerichtsurteile und dicke Kommentare zu brauchen, um das festzustellen.
Es war schon enttäuschend zu erleben, mit welcher Härte und Uneinsichtigkeit die Koalitionsfraktionen die Aufnahme dieser Staatsziele abgelehnt haben. Sollen die ebenso selbstverständlichen wie grundsätzlichen Ausprägungen der Fürsorgepflicht des Staates für die Bürger bloße Auslegungsergebnisse bleiben? Oder will man sich für die Zukunft vorbehalten, unter den erreichten Stand der sozialen Sicherheit, die von allgemeiner Übereinstimmung getragen wird, drastisch herunterzugehen? Das können wir doch alle nicht wollen.
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Auf die gleiche Ablehnung sind wir bei dem Bemühen gestoßen, in der Präambel des Grundgesetzes auf die Verpflichtung zum Dienst an Gerechtigkeit und Solidarität in der einen Welt hinzuweisen. Die damit angesprochene internationale Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland war 1949 praktisch nicht vorstellbar. Heute steht sie vor aller Augen.
Die Bundesregierung selbst wird nicht müde, mit fast gleichen Worten auf diese Verantwortung hinzuweisen, aber nur im Zusammenhang mit den von ihr angestrebten militärischen Einsätzen, Warum nur da?
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Warum nicht in der Gesamtheit politischen und gesellschaftlichen Handelns, da doch offensichtlich ist, daß dieses vielfältige Auswirkungen auf andere, zumal auf arme und schwache Länder in der Welt hat?
Ob wir es nun aufschreiben oder nicht: Wir können der Verantwortung für die Folgen unseres Tuns und Unterlassens nicht entgehen. Es ist mehr als bedauerlich, daß die Koalition die deutliche Erinne21020
rung daran in der Präambel des Grundgesetzes verhindern will.
({10})
Diese und zahlreiche andere Mißerfolge von Reformbemühungen sind durch geringe Anteilnahme der Öffentlichkeit und eine mitunter grob unzulängliche Berichterstattung über die Arbeiten der Gemeinsamen Verfassungskommission begünstigt worden; aber ich sage auf der anderen Seite den Berichterstattern ausdrücklich Dank, die Öffentlichkeit hergestellt und so mit dafür gesorgt haben, daß Wichtiges nicht ungesehen unterdrückt werden konnte.
({11})
Die Korrektur mancher anfänglichen Ablehnungen haben wir nur mit Hilfe aufmerksamer Journalisten und Anteil nehmender Bürgerinnen und Bürger erreicht.
Und damit bin ich bei den positiven Ergebnissen. Ja, es war sehr schwer, über die bloße rechtliche Feststellung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern hinaus entsprechende Verpflichtungen des Staates in den Art. 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. Hier wie beim Umweltschutz und bis zuletzt noch beim Verbot der Diskriminierung von Behinderten haben vor allem die Unionspolitiker anhaltenden und fast zermürbenden Widerstand geleistet. Sie haben ihn - erfreulicherweise - inzwischen aufgegeben. Und so sind wir jedenfalls in diesen drei Punkten zu Ergebnissen gelangt, die wegweisende Bedeutung haben und entsprechend wirken werden. Weichen sind dabei gestellt worden, die auf neue menschen-
und lebensfreundliche Wege führen werden.
Mögen diese Fortschritte, etwa bei der gewundenen Staatszielbestimmung für den Umweltschutz, auch auf den ersten Blick gering erscheinen - sie sind kleine, aber strategische Schritte, die dabei helfen werden, unsere Gesellschaft zu menschlicherem und verantwortlicherem Umgang mit ihren Chancen und Möglichkeiten zu bringen.
({12})
Allein diese drei Punkte - Umweltschutz, Gleichberechtigung und Schutz der Behinderten - haben aus meiner Sicht die ganze Arbeit gelohnt und für allen Ärger entschädigt. Sie haben uns zudem das befriedigende Erlebnis gebracht, daß wir in Bundestag und Bundesrat bei allen Meinungsverschiedenheiten - etwa mit den eben von mir kritisierten Koalitionsfraktionen - bei lebensnotwendigen und lebensfördernden Grundentscheidungen zur Gemeinsamkeit der Demokraten sehr wohl fähig sind.
Was wir nicht erreicht haben, obwohl es sehr wünschenwert gewesen wäre, das mögen sich andere zu anderen Zeiten mit vielleicht besseren Erfolgschancen vornehmen. Heute, am Ende dieses Reformschritts für unser Grundgesetz und übrigens auch am Ende meiner eigenen 25jährigen Arbeit im Bundestag, ist für mich die Freude darüber vorherrschend, daß wir auf dem Weg zu einer gerechteren und lebensfreundlicheren Gesellschaft in Deutschland wieder ein Stück vorwärtskommen.
({13})
Sehr geehrte Damen und Herren, der Verlauf der heutigen Debatte gibt leider Anlaß zu einer Nachbemerkung. Ich sprach davon, daß wir ein Stück vorwärtskommen, und muß hinzufügen: wenn wir denn vorwärtskommen! Denn die Gefahr des Mißlingens ist uns von den Vertretern der Länder sehr deutlich vor Augen geführt worden.
Einige Länderchefs haben uns, bevor die Bundesratsbank wieder besenrein geleert wurde,
({14})
die Ablehnung des Bundesrates für alle unsere heutigen Beschlüsse angedroht und das zum Teil mit der Bemerkung verbunden, da könne man dann ja später weitersehen. Ich warne vor dieser Vorstellung!
({15})
Wenn wir die Entscheidungen, die jetzt getroffen werden müssen, in die nächste Wahlperiode verschieben, werden sich alle Schwierigkeiten wiederholen, und niemand weiß, ob sich die Ergebnisse, die wir jetzt wenigstens erzielt haben, wiederholen werden.
Die Verantwortung dafür muß ich aber leider auch klar benennen. Sie liegt zunächst bei der Fraktion der CDU/CSU,
({16})
die nach klarer Verabredung der Kompetenzregelungen der Art. 72 und 75 des Grundgesetzes vor etwa zwei Wochen von dieser Verabredung abgerückt ist.
({17})
Sie haben noch die Chance, das zu korrigieren. Sie haben heute die Chance, das zu korrigieren; denn das, was Ihnen die SPD auf einem Änderungsvorschlag vorschlägt, ist nichts anderes als das, was wir gemeinsam in der Verfassungskommission verabredet, was Sie mitgetragen haben, was Sie mit in den Bundestag eingebracht haben und wozu Sie bis vor zwei Wochen gestanden haben.
({18})
Sie brauchen heute nur zuzustimmen, und die Gefahr ist gebannt.
({19})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Schäuble? - Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Kollege Schmude, haben Sie Verständnis für die Kolleginnen
und Kollegen, die sagen: „Auch wenn wir für viele dieser Grundgesetzänderungen, für die wir hoffentlich eine Mehrheit bekommen, sind, so möchten wir dennoch bei anderen Fragen an unserer Überzeugung festhalten
({0})
- die bei Art. 72 nicht die meine ist, es nie gewesen ist -, aber wir möchten nicht mit nur dem Argument „ wenn ihr dem nicht zustimmt, dann wird alles scheitern! " in unserer freien Verantwortung für jede einzelne Grundgesetzänderung in einer Weise eingeschränkt werden,
({1})
die mit dem Selbstverständnis eines seinem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten schwer vereinbar ist"?
({2})
Lieber Herr Kollege Schäuble, ich könnte dieses Verständnis haben, wenn diese Einwendungen zu einer Zeit gekommen wären, als diese Regelungen - unter Beteiligung Ihrer Fraktion und aller anderen Fraktionen, unter Beteiligung des Ministerpräsidenten Stoiber, der heute gesprochen hat, und vieler anderer Ländervertreter - in mühsamen Verhandlungen als Kompromiß erarbeitet worden sind.
({0})
Wenn zu dieser Zeit gesagt worden wäre, Sie wollten das nicht mittragen, dann hätte ich Verständnis. Wenn dieses Argument aber erst jetzt kommt, muß ich fast fragen: Haben Sie es denn nicht so gehalten wie Herr Vogel, der unsere Fraktion über jeden Schritt verständigt hat und sich das Ergebnis hat bestätigen lassen, so daß wir nicht im Traum daran denken würden, irgend etwas davon zurückzunehmen?
({1})
Herr Kollege Schmude, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Schäuble? - Bitte, Herr Kollege Schäuble.
Herr Kollege Schmude, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion in den regelmäßigen Unterrichtungen und Beratungen - durch unsere Vertreter in der Gemeinsamen Verfassungskommission und durch die Vorsitzenden der Fraktion in dieser Legislaturperiode, Alfred Dregger und mich - zu jedem Zeitpunkt zugesagt worden ist, daß über jede einzelne Frage gesondert abgestimmt werde und daß es bei der Zustimmung zu einzelnen Verfassungsänderungen eben nicht die Verpflichtung des sogenannten Paketzuschlages geben werde, bei der man das Ganze nur insgesamt annehmen oder ablehnen kann, sondern daß man in jedem einzelnen Punkt
eine Entscheidung in seiner Verantwortung werde treffen können?
({0})
Diese Darstellung will ich gar nicht bestreiten, Herr Schäuble. Aber ich möchte doch meine Überraschung darüber zum Ausdruck bringen, daß Sie bei dem geschilderten Kompromiß gleichwohl mit den Ländern eine Verabredung getroffen haben, sehr wohl wissend, daß dies für die Länder eine ganz wichtige - sie meinten sogar, unverzichtbare - Zusage ist. Es hätte doch auch Ihrer Fraktion bewußt sein müssen, daß man sich anschließend nicht die Rosinen aus dem Kuchen heraussuchen kann.
({0})
Aber ich will nicht alle Bemerkungen Ihrer Verantwortung widmen, sondern auch auf die Länder und deren Verantwortung zu sprechen kommen, in der Hoffnung, daß das irgend jemand - und seien es die anwesenden Kollegen und Kolleginnen, die in führenden Parteigremien stehen - den Ministerpräsidenten mitteilt.
Verständlich ist das Bemühen der Länder, die zugesagten Kompetenzerweiterungen auch zu bekommen. Nicht verständlich ist die Verknüpfung dieser Kompetenzfrage mit wichtigen Sachentscheidungen, die wir gemeinsam erarbeitet haben und die als solche außerhalb jeden Streits sind.
({1})
Herr Voscherau hat uns heute morgen so schön gesagt, man müsse zu einem Zusammenwirken von Bund und Ländern kommen, bei dem man sich hinterher nicht vergeblich fragen muß, wer nun für was aufzukommen habe.
Ich denke, wenn die Länder dazu beitragen, daß unser heutiges Beratungsergebnis zunichte gemacht wird, dann wird man sich nicht lange fragen müssen. Dann werden die Frauen, für die die Ergänzung des Art. 3 ausbleibt, die Ministerpräsidenten zu fragen haben,
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was denn diese unstreitige Verbesserung mit den Kompetenznormen zu tun hat.
({3})
Und dann werden natürlich auch die Behinderten, die heute feiern, die Ministerpräsidenten fragen, ob sie vergeblich gefeiert haben, ob sie an der Nase herumgeführt worden sind
({4})
und was das mit den Kompetenzen zu tun hat
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Und die gleiche Frage werden wir alle gemeinsam zum Umweltschutz stellen. Deshalb appelliere ich an Sie, an uns alle: Geben wir uns Mühe, daß die Ergebnisse dieser mühseligen Arbeit von über zwei Jahren und die Ergebnisse unserer heutigen ganztägigen Beratung nicht zur Farce gemacht werden! Geben wir uns Mühe, daß die Fortschritte und Verbesserungen, die wir jetzt gemeinsam erzielt haben, auch festgehalten werden, statt daß man sie uns zerschlägt!
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Nun hat der Kollege Burkhard Zurheide das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man am Ende der heutigen Debatte ein Fazit ziehen will, so stehen für uns Freie Demokraten zwei Erkenntnisse am Anfang:
Erstens. Wir säßen nicht hier, wenn nicht die Bürgerinnen und Bürger in der früheren DDR ihr Schicksal in die eigene Hand genommen, eine Diktatur beseitigt und uns so die Chance zu einer Verfassungsdebatte gegeben hätten.
({0})
Zweitens. Das Grundgesetz von 1949 war zweifellos ein großer Wurf. Die heute oft zitierten Mütter und Väter des Grundgesetzes haben vor 45 Jahren eine Verfassung entworfen, die trotz der immer kürzer werdenden Halbwertzeiten politischer Ideen und Vorstellungen noch heute als mutig, als offen, als liberal, als modern und als in die Zukunft gerichtet bezeichnet werden kann.
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Es gelang seinerzeit, eine Verfassung ohne Verfallsdatum zu entwickeln. Es gelang aber nicht nur, die innere und äußere Verfassung eines wirklich freiheitlichen Gemeinwesens zu beschreiben; vielmehr wurden die Grundprinzipien einer offenen, vom Recht beherrschten, humanen und sozialen staatlichen, aber auch gesellschaftlichen Ordnung festgeschrieben.
Unser Grundgesetz ist also nicht der Minimalkonsens, auf den sich alle politischen Kräfte verständigen können - nein, das Grundgesetz ist der gesellschaftliche Konsens schlechthin. Eine Verfassung entzieht sich daher der Abänderbarkeit aus tagespolitischer Beliebigkeit.
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Unser Grundgesetz ist aber als offene Verfassung angelegt, und offene Verfassung bedeutet, daß sich der Inhalt einer Verfassungsnorm ändern kann, selbst wenn der Text der gleiche bleibt, aber daß es auch von Verfassungs wegen notwendig sein kann, Änderungen vorzunehmen.
Wir Liberale sind besonders sensibilisiert, wenn Verfassungsfragen diskutiert werden. Eine unserer Wurzeln war zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Kampf für Verfassungen. Die ersten frühen Verfassungen begrenzten die Macht der dann nicht mehr absoluten Herrscher. Sie gaben den Bürgern Abwehrrechte gegen staatliche Gewalt. Die zweite Phase in der Entstehungsgeschichte moderner Verfassungen war abgeschlossen, als die Demokratien durch Verfassungen abgesichert wurden. Und mit dem Grundgesetz von 1949 wurde die dritte Phase der Verfassungsentwicklung in Deutschland abgeschlossen. Das Grundgesetz erhielt nicht nur subjektive Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und ein ausbalanciertes Verhältnis demokratischer Machtausübung; hinzu kamen objektive und soziale Gestaltungsrechte.
Dieser Entwicklung fühlen sich die Freien Demokraten verpflichtet. Auf die gelegentlich gehörte Ansicht, es komme heute nicht mehr so sehr auf die Ausgestaltung der subjektiven Abwehrrechte der Bürger an, erwidern wir Freie Demokraten: Auch in einer modernen demokratischen Ordnung besteht die latente Gefahr des Machtmißbrauchs durch staatliche Gewalt. Die Realisierung dieser Gefahr vermindert sich, je klarer die Grundrechte des Bürgers ausgestaltet sind.
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Da die Verfassung eines Staates aber nicht nur die bloße Auflistung von Grundrechten und Grundpflichten ist, sondern in ganz besonderer Weise Aufschluß über die innere Verfaßtheit, über die staatliche Ordnung gibt, war die Wiederherstellung der äußeren Einheit Deutschlands der richtige Anlaß, sich die Frage zu stellen, ob unser Grundgesetz die innere Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands zutreffend wiedergab. Die Verfassung ist nichts Statisches, sie ist etwas höchst Dynamisches.
Die F.D.P. hat sich dieser Aufgabe mit dem ihr eigenen Selbstverständnis als Rechtsstaats- und Verfassungspartei gestellt. Wir sind sehr zufrieden mit dem, was der Rechtsausschuß dem Plenum des Bundestages heute an Empfehlungen vorlegt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich nochmals den Mitgliedern der Verfassungskommission für ihre Arbeit herzlich danken. Dort wurden nämlich die grundlegenden Vorarbeiten für die heutige Debatte geleistet.
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Meine Damen und Herren, das Grundgesetz von 1949 enthielt den Auftrag, die äußere Einheit Deutschlands herzustellen. Dieser Auftrag wurde am 3. Oktober 1990 erfüllt. Es ist daher historisch und politisch folgerichtig, den ausgeführten Auftrag zur Wiederherstellung der äußeren Einheit nunmehr durch einen in der Präambel festgeschriebenen Auftrag zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands zu ersetzen.
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Dieser Prozeß ist nämlich noch längst nicht abgeschlossen. Er wird noch eine ganze Weile andauern.
Es ist daher wichtig, daß die politisch Verantwortlichen, aber auch die Bürger von Verfassungs wegen an diesen Auftrag erinnert werden, damit das Ziel nicht aus den Augen gerät. Unsere ostdeutschen Mitbürger sollen wissen, daß am 3. Oktober 1990 die staatliche Einheit Deutschlands wiederhergestellt wurde. Sie haben aber auch einen Anspruch darauf, daß wir den Prozeß des sozialen, des ökonomischen und des menschlichen Zusammenwachsens erst als begonnen betrachten.
Da wir Freie Demokraten von der Kraft des Rechtes überzeugt sind, appelliere ich an dieser Stelle nochmals an die Mitglieder des Hauses, diesem F.D.P.-Antrag auf Änderung der Präambel doch noch zuzustimmen.
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Meine Damen und Herren, es ist für uns alle selbstverständlich, daß der Staat die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten achtet. Natürlich kann man darüber streiten, ob eine solche Achtensklausel ausdrücklich in das Grundgesetz eingefügt werden sollte, weil sich ein solches Recht vielleicht bereits aus einem anderen Grundrecht ergibt. Eine Verfassung aber gibt, wie ich vorhin ausgeführt habe, auch Aufschluß über den inneren Zustand einer Gesellschaft. Das schreckliche Aufflammen von Gewalttätigkeiten gegen Minderheiten, die in Deutschland leben, muß nach unserer festen Überzeugung eine Antwort in der Verfassung selber finden.
Die Aufnahme des Minderheitenschutzes ist für uns Freie Demokraten daher von großer Wichtigkeit.
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Wir waren sehr erfreut darüber, daß die Verfassungskommission einem solchen Antrag mit Zweidrittelmehrheit zugestimmt hat, und hoffen, daß dieser Antrag heute in der dritten Lesung doch noch eine Zweidrittelmehrheit bekommen wird.
Das Grundgesetz von 1949 stellte der damaligen gesellschaftlichen Realität entsprechend vor allem Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Nach 45 Jahren der Geltung des Grundgesetzes tritt aber heute eine gesellschaftliche Entwicklung zutage, die von der der Jahre 1948 und 1949 erheblich abweicht. Man mag dies begrüßen oder bedauern; man mag dies für sich selber ablehnen oder auch danach leben. Tatsache ist, daß die Zahl der auf Dauer angelegten nichtehelichen Lebensgemeinschaften in den letzten Jahrzehnten stetig angestiegen ist. Dieser Entwicklung muß nach unserer Auffassung auch der Verfassungsgesetzgeber Rechnung tragen.
Nach Auffassung der F.D.P. soll und muß es natürlich bei dem Schutz von Ehe und Familie bleiben. Nichteheliche Lebensgemeinschaften, die auf Dauer - ich betone nochmals: auf Dauer - angelegt sind, haben aber zumindest einen Anspruch darauf, daß sie von Verfassungs wegen geachtet werden, d. h. daß der Staat alles unterläßt, was diskriminierend wirken könnte.
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Herr Kollege Geis, die nichteheliche Lebensgemeinschaft soll nicht zur Pflicht gemacht werden. Das haben wir mit unserem Antrag in keiner Weise vor.
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- Ja, auf diese Feststellung legen wir wirklich Wert.
Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden und dabei vom Staat nicht behindert werden. Eine ähnliche Einsicht hatte bekanntermaßen schon Friedrich der Große.
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Warum schreiben wir eine solche freiheitliche Urerkenntnis dann nicht auch in unsere Verfassung?
Schließlich: Der Forderung, den Tierschutz ausdrücklich ins Grundgesetz aufzunehmen, kann nicht entgegengehalten werden, ein solcher Schutz ergebe sich bereits jetzt aus dem Grundgesetz. Mit dieser Verfassungsvorschrift beschreiten wir Neuland. Unsere F.D.P.-Formulierung nimmt auch insoweit Bewußtseinsänderungen in der Gesellschaft auf. Tiere werden heute zu Recht als Mitgeschöpfe und nicht als bloße Sachen, die man nach Belieben behandeln kann, betrachtet. Daß sie vor vermeidbaren Leiden zu schützen sind, sollte daher nicht nur im Tierschutzgesetz stehen, sondern auch in unserem vornehmsten Gesetz, dem Grundgesetz, Ausdruck finden.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hofft noch immer, daß die von uns formulierten und im Rechtsausschuß mehrheitlich angenommenen Anträge zur Achtung auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften, zur Achtung der Identität ethnischer, kultureller, sprachlicher Minderheiten, zum Tierschutz und zur Änderung der Präambel hier angenommen werden.
Daß wir heute diesem Grundgesetz eine Staatszielbestimmung Umweltschutz hinzufügen werden, erfüllt uns Liberale mit ganz besonderer Genugtuung.
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Dies ist nämlich eine der ältesten liberalen Forderungen im Zusammenhang mit Diskussionen zur Verfassungsreform. Der schonende Umgang mit unserer Umwelt nutzt nicht nur den jetzt Lebenden; auch künftige Generationen haben einen Anspruch auf Umweltbedingungen, die ihr Leben erst lebenswert machen.
({12})
Es wird uns auch gelingen - da wird es eine Zweidrittelmehrheit geben -, den Staat zu verpflichten, daß er darauf hinwirkt, die nach wie vor unstreitig bestehenden Benachteiligungen von Frauen abzuschaffen, sie zu minimieren. Auch dies ist ein ganz erheblicher Fortschritt, den wir Liberale begrüßen.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verfassungen dürfen aber keine falschen Hoffnungen wecken. Man darf - ich glaube, auch dies ist ein Ergebnis der heu21024
tigen Debatte - Verfassungen nicht überfrachten und Dinge hineinschreiben, die besser und wirksamer durch ein einfaches Gesetz gelöst werden können.
Der Staat soll zur Schaffung und zur Erhaltung von Arbeitsplätzen beitragen und einen hohen Beschäftigungsstand anstreben. Das ist richtig; das steht im Stabilitätsgesetz. Er hat auch die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, so daß angemessener Wohnraum geschaffen werden kann. Auch dies steht im Gesetz. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sollte dies, ja, darf dies eigentlich in eine Verfassung, in unser Grundgesetz aufgenommen werden? Nach meiner Auffassung gibt es nur eine Antwort: eindeutig nein. Stünde dies nämlich im Grundgesetz, würde die Erwartung geweckt, der Staat allein werde schon alles richten. Daß dies in einem freiheitlichen System nicht funktionieren kann, ist klar. Aber es funktioniert eben auch nicht einmal dann, wenn die Gesetze der Marktwirtschaft partiell außer Kraft gesetzt werden, wie der Zusammenbruch und die mangelnde Effizienz sämtlicher planwirtschaftlicher Systeme auf dieser Welt bewiesen haben.
({14})
Unser liberaler Gesellschaftsentwurf geht davon aus, daß der einzelne in den Stand versetzt werden muß, sich zunächst selber helfen zu können, und ihm staatliche Hilfe dann - aber dann auch wirklich - zuteil wird, wenn er aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage ist.
({15})
Die Soziale Marktwirtschaft, die die F.D.P. will, ist daher der beste Garant für den größtmöglichen Wohlstand aller. Marktwirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie ist das am besten geeignete Mittel, Wohlstand für möglichst viele zu schaffen.
({16})
Allen Versuchen, dieses grundgesetzlich festgeschriebene Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft zu verwässern, erteilen wir Liberale jedenfalls eine ganz deutliche Absage.
({17})
Meine Damen und Herren, wir Liberale haben von Beginn der Verfassungsberatungen an keine Angst vor einer Überprüfung des Grundgesetzes an der neuen Wirklichkeit gehabt, da wir von der Qualität und Güte dieser Verfassung überzeugt waren. Es hat sich herausgestellt, daß das Grundgesetz modernen Anforderungen gewachsen war. Gleichwohl sollte es nach unserer Auffassung an einer Reihe von Stellen, die wir heute diskutiert haben, ergänzt, auf den neuesten Stand gebracht und der gesellschaftlichen Realität angepaßt werden. Dies, meine Damen und Herren, muß man dann aber auch tun, wenn man Verfassungen als eine dynamische und nicht statische Veranstaltung versteht.
Meine Damen und Herren, die F.D.P. will eine freiheitliche, eine wehrhafte, eine selbstbewußte, eine offene, soziale, dem Recht verpflichtete, emanzipatorische, liberale, aufklärerische demokratische Ordnung, die durch unser Grundgesetz zum Ausdruck kommen soll.
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Ich werbe daher nochmals eindringlich um Unterstützung für die Anträge, die die F.D.P. in die Beratungen zur Änderung der Verfassung eingebracht hat. Minderheitenschutz, Achtung nichtehelicher Lebensgemeinschaften, Tierschutz und die Änderung der Präambel sollten Teil des von mir eingangs beschriebenen Grundkonsenses werden.
Herzlichen Dank.
({19})
Als nächster hat Dr. Gregor Gysi das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß Ihnen zunächst die Nachricht überbringen, daß unsere Abgeordnetengruppe einer Vielzahl der Anträge, über die heute zu entscheiden sein wird, zustimmen wird. Ich weiß nicht, ob Ihnen das recht ist, aber wir sind dann hier in einer ganz großen Volksfront, die in letzter Zeit so stark verteufelt wurde.
({0})
Die Dinge, die wir verändern, werden sicherlich vorteilhaft sein. Ich sage dennoch: Es sind auch viele Chancen vertan worden.
Das Hauptproblem ist und bleibt nun einmal, daß der Art. 146 des Grundgesetzes vorgesehen hat, daß für den Fall der Vereinigung eine neue Verfassung durch das Volk angenommen wird. Diese Chance ist versäumt worden, ebenso weitere Modernisierungen, die dringend notwendig gewesen wären.
({1})
Nun will ich mich, auch wegen der Kürze der Zeit, auf wenige Punkte beschränken, um auch Mißverständnisse auszuräumen. Sie wissen, daß wir u. a. eine ostdeutsche Kammer gefordert haben. Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, daß eine solche Kammer, die die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer wählen könnten, der Spaltung dienen würde. Ich möchte, daß das ein für allemal aus dem Weg geräumt wird: Eine Kammer, die der besonderen Situation von Menschen Rechnung trägt und diesbezüglich Initiativ- und Einspruchsrechte hat, würde genau zum Abbau von Benachteiligungen dieser Menschen beitragen, bis man von einer wirklichen Gleichberechtigung sprechen kann. Dann wäre sie auch überflüssig. Es ist auch vorgesehen, daß sie zu diesem Zeitpunkt abgeschafft wird. Das heißt, sie würde die innere Einheit forcieren und eben nicht zu einer weiteren Spaltung führen, wie das umgekehrt der Fall ist, wenn man - wie es der Generalsekretär der CDU in
einem Fernsehgespräch mit mir getan hat - darauf hinweist, daß das sowieso nur ein Fünftel der Wählerinnen und Wähler wäre und es deshalb nicht so darauf ankäme. Darin kommt nämlich die Haltung gegenüber den neuen Bundesländern zum Ausdruck. Genau das sollte mit einer solchen Kammer korrigiert werden. Die Stellung und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der neuen Länder sollten gestärkt werden. Ich denke, das wäre ganz wichtig gewesen.
Wir sind natürlich auch betrübt darüber, daß soziale Rechte nicht einmal als Staatsziele aufgenommen werden.
({2})
Die Argumentation meines Vorredners kann ich überhaupt nicht akzeptieren. Denn wissen Sie, worum es eigentlich ginge? Es ginge darum, daß die Tätigkeit und die Entscheidungen des Parlaments und der Regierung auch verfassungsrechtlich an Hand dieser Staatsziele geprüft werden könnten. Eine arbeitsmarktfeindliche Politik wäre dann nicht nur schlecht, sie wäre auch verfassungswidrig. Es wäre schon wichtig, daß man dies eindeutig festschreibt und feststellt.
({3})
Es würden damit keine Illusionen hinsichtlich irgendwelcher Individualrechte geweckt werden, die gar nicht als Staatsziele formuliert werden können.
Das dritte, das ich besonders bedauerlich finde, ist, daß wir offensichtlich nicht einmal die Zulässigkeit von Volksentscheiden und Volksinitiativen geregelt bekommen. Ich weise darauf hin, daß man sich über die Ausgestaltung - wann es zulässig ist, wie es durchgeführt werden muß, wie die Bedingungen auszusehen haben - durch ein Bundesgesetz noch verständigen könnte. Heute wäre es erst einmal darum gegangen, festzustellen, daß Volksentscheide und Volksinitiativen möglich sind, daß sie sozusagen in die Verfassung verankert werden und daß man dann gesetzlich regelt, wie sie im einzelnen durchzuführen sind. Aber Sie versagen der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ein solches Recht, stützen sich aber immer auf das Volk. Sie wollen sich von den Menschen wählen lassen und bestreiten, daß die Menschen in der Lage wären, Sachfragen zu entscheiden.
({4})
Alles andere, was an Argumentationen kommt, sind meines Erachtens Ausreden und wenig überzeugend. Weder wird der Föderalismus damit angegriffen, noch hat es etwas mit Verantwortlichkeit zu tun. Denn wir stehen auch heute vor der Situation, daß Bürgerinnen und Bürger nicht für die Art und Weise, wie sie wählen, zur Verantwortung gezogen werden können, obwohl das viele gerne tun würden.
({5})
Damit müßten wir uns dann auch bei Sachfragen abfinden. Was glauben Sie denn, was z. B. mit dem § 218 geschehen wäre, wenn wir über ihn durch eine Volksentscheidung hätten entscheiden lassen? Er wäre längst im Orkus der Geschichte verschwunden, wo er auch hingehört.
({6})
Ich will einen vierten Punkt erwähnen: daß es nämlich leider auch nicht gelungen ist, ein republikanisches Staatsbürgerschaftsrecht zu regeln, das davon ausgeht, daß Menschen das Recht auf Einbürgerung haben, wenn sie fünf Jahre oder länger ihren ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben.
Das wäre ganz wichtig gewesen, um gerade im Kampf gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit durch diesen Bundestag ein gegenteiliges Signal zu setzen und die Stellung derjenigen Ausländerinnen und Ausländer, die die Staatsbürgerschaft - auch als doppelte Staatsbürgerschaft - erwerben wollen, wesentlich zu stärken.
({7})
Wenn man sich schon darauf nicht verständigt, dann wäre etwas anderes ganz wichtig gewesen: daß wir nämlich nicht nur auf kommunaler Ebene, wie es die SPD einführen möchte - obwohl wir dem natürlich zustimmen werden, weil es immerhin der erste Schritt ist -, sondern eigentlich auf allen Ebenen ein Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer einführen, die fünf Jahre oder länger ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland haben. Ich möchte, daß die Menschen dort, wo sie leben, wirken, arbeiten, auch das Recht haben, politisch Verantwortung in Form von aktivem und passivem Wahlrecht wahrzunehmen. Ich möchte nicht, daß das nach irgendeiner Blutsverwandtschaft geht. Ich sehe auch nicht ein, daß ein Deutscher, der in Argentinien lebt, drei Monate vor der Wahl hierher kommt, hier die Regierung wählt und dann wieder abreist. Nein, er soll die argentinische Regierung wählen, dort, wo er lebt und wirkt. Das ist sein legitimes Recht.
({8})
Alle Gesetze, die wir hier beschließen, wirken sich auf diejenigen aus, die hier leben, und Sie schließen Millionen von Menschen vom Wahlrecht aus. Ich finde, es sagt eine Menge über das Verständnis von Demokratie aus, ob sich das Wahlrecht nämlich an den Menschen richtet oder ob es über die Staatsbürgerschaft, die auch noch an die Blutsverwandtschaft gebunden ist, geregelt ist. Lassen Sie uns hier doch einen Schritt nach vorne gehen! Ich sage Ihnen, die Wirkung wird doppelt positiv sein: Sie trauen sich keine ausländerfeindlichen Äußerungen mehr, und im Ansehen der Bürgerinnen und Bürger würden die ausländischen Nachbarinnen und Nachbarn und Kolleginnen und Kollegen aufsteigen, weil ein Mensch, der mehr Rechte hat, auch gleich mehr Ansehen genießt. Wir hätten im Kampf gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit einen ganz wichtigen Schritt nach vorne getan. Bitte überdenken Sie noch einmal, ob Sie diesen Anträgen nicht doch zustimmen wollen.
({9})
Nun hat der Kollege Werner Schulz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Konkursverfahren zur Verfassungsreform läuft. Die Beschlußempfehlung ist ein Dokument des Scheiterns und der Unfähigkeit der Regierungskoalition, die grundlegenden Herausforderungen der deutschen Einheit zu begreifen. Gescheitert ist neben der Integration der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer auch eine Reform der alten Bundesrepublik. Es wird so getan, als ginge es nur um die Einbindung des Ostens, während im Westen alles in Ordnung sei. Doch Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit - nicht nur der scheidende Bundespräsident hat uns darauf hingewiesen - klaffen in unserem vereinten Land weit auseinander. Eine Verfassungsreform wäre die Möglichkeit gewesen, die Erfahrungen unserer Bürgerbewegung mit den im Westen erarbeiteten Reformansätzen zu verbinden.
({0})
Doch die Verfassungsdebatte, die politische Bestandsaufnahme und ernsthafte Behandlung drängender Probleme, wurde von Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, nie ernsthaft gewollt. Sie haben uns das Grundgesetz wie ein Fertiggericht vorgesetzt, Herr Geis. Sie haben die Verfassungsfrage wie eine aufgedrängte, wie eine lästige Diskussion im Zuge der deutschen Einheit aufgenommen. Auch die Aufmerksamkeit in der heutigen Debatte belegt das in erschreckender Weise. Ich sage es ungern, und ich weiß, Sie hören es auch nicht gern, aber die Atmosphäre heute hier in Berlin - wir sind extra nach Berlin gefahren, um nicht den Zinober von Bonn aufzuführen - belegt: Wir tun so, als ob wir die Achte Novelle zum Abwassereinleitungsgesetz behandeln und nicht das abschließende Ergebnis der Verfassungskommission. Auch das spricht Bände.
({1})
- Das „Pfui" können Sie sich ans eigene Revers stekken. - Dabei hätte ein gleichberechtigter und durchdachter Weg zu einer gemeinsamen Verfassung allemal mehr über unsere demokratische Reife gesagt als alle Sonntagsreden, die der Kanzler und die Seinen zur deutschen Einheit halten. Diese neue Republik hat ihre politische Reifeprüfung noch nicht bestanden. Die DDR-Bevölkerung hatte große Erwartungen an den Rechtsstaat. Die Hoffnung hieß Gleichberechtigung; die Erfahrung vernichtet sie im Kern. Nicht die Arroganz des Westens war das Schlimme, sondern die kritiklose Übertragung westlicher Erfahrungswerte und Verhaltensmuster. Offenbar gab es vor der Glasnost/Perestroika aus dem Osten große Ängste. Allmählich verstehe auch ich diese Furcht.
Es ist die Furcht, alte Gewißheiten zu verlieren, die Furcht vor Veränderung. Doch eine andere Republik ist nicht a priori und nicht schon an sich etwas Schlechteres. Wir haben eine andere Republik. Nur, eine konservative Mehrheit im Bundestag verweigert ihr die politische Konstituierung.
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Das ist und bleibt eine historische Fehlleistung und politisches Versagen. Es reicht nicht aus, bloß die staatliche Einheit herzustellen, den verfassungsmäßigen Rahmen nicht zu erweitern und die Erfahrungen aus dem totalitären System Ost, wichtige Staatsziele, Grundwerte und Minderheitsrechte, die aus heutiger Sicht anstehen, nicht aufzunehmen.
Ist es denn eine Zumutung, auch dem Westen Veränderungen abzuverlangen? Hätte nicht eine neue Verfassung, die das Grundgesetz im Fall der Einheit schließlich vorschreibt, die Einheit fördern und einen Bund deutscher Länder - die innere Einheit in Vielfalt - zum Verfassungsziel setzen können?
Es bleibt nach wie vor die unerfüllte Verpflichtung des Art. 146, die demokratische Aufgabe, der demokratische Traum, daß sich das deutsche Volk eine Verfassung gibt. Diese Aufgabe - da können wir hier reden, was wir wollen -, diese einmalige historische Chance haben wir nicht erfüllt.
({3})
Nun hat der Kollege Professor Rupert Scholz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind in diesem Hohen Haus mit dieser Debatte am Ende dessen, was uns der Einigungsvertrag aufgegeben hat: unser Grundgesetz - ich füge hinzu: unser bewährtes Grundgesetz - auf Reformbedürftigkeiten zu überprüfen.
({0})
Diese Debatte endet mit streitigen Abstimmungen. Das liegt in der Natur der Sache. Diese streitigen Diskussionen haben wir bereits in der Verfassungskommission geführt. Auch dies liegt in der Natur der Sache. Aber Verfassungspolitik ist mit Recht auf Zweidrittelmehrheiten angewiesen. Das heißt, es bedarf eines besonders repräsentativen Konsenses. Deshalb denke ich, niemand sollte es falsch interpretieren, wenn die eine oder andere Entscheidung anders ausgeht, als er sich selbst gewünscht hat.
Ich mache für meine Person keinen Hehl daraus, daß ich ein mögliches Scheitern der Vorschriften zum Föderalismus bedaure. Aber ich möchte dennoch das aufnehmen, was Kollege Schmude hier vorhin gesagt hat. Ich appelliere an die Kollegen im Bundesrat - selbst wenn sie nicht hier sind -, daß sie keine Politik sozusagen der verbrannten Verfassungserde oder des Alles-oder-Nichts fahren.
({1})
Sie haben in der Verfassungskommission mit uns gemeinsam viele wichtige Vorschläge, über die wir heute hier abstimmen werden, mit erarbeitet. Wir haben auch dort gestritten, wir haben Kompromisse gefunden, und wir haben wichtige Entscheidungen vorDr. Rupert Scholz
bereitet. Diese Entscheidungen sollten nicht daran scheitern, daß es in einem Punkt Dissens gibt.
Meine Damen und Herren, der Prüfungsauftrag aus Art. 5 des Einigungsvertrages lautete: Überprüfung des Grundgesetzes auf seine Reformbedürftigkeit. Natürlich hat sich daraus eine Debatte entwickelt, die in vieler Beziehung an die Grundlagen unseres Grundgesetzes rührt. Eine ganze Reihe von Anträgen, die heute zur Abstimmung anstehen, greifen verkappt eben doch an die Grundlage unserer Verfassung.
Dieses Grundgesetz ist mit Recht ein Glücksfall der deutschen Geschichte genannt worden.
({2})
Warum? Weil dieses Grundgesetz eine Gratwanderung bestanden hat wie keine andere Verfassung in der deutschen Geschichte zuvor und weshalb wir - teilweise von viel älteren Demokratien und Rechtstaaten, als wir selbst es sind - um eben diese Verfassung beneidet werden, eine Gratwanderung, die auf der einen Seite Stringenz in den normativen Grundentscheidungen und den Grundwerten Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit heißt und die auf der anderen Seite das nötige Maß an Offenheit in die Zeit und in die Verfassungswirklichkeit hinein und gegenüber der jeweils demokratisch legitimierten Politikgestaltung bedeutet.
Das ist ganz entscheidend in der Bestimmung enthalten, die für mich in diesem Grundgesetz fast die weiseste ist: das Sozialstaatsprinzip, das soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit fordert und damit offen für Politikgestaltung und für die sich in der Zeit immer wieder verändernden sozialen Probleme, Gestaltungsprobleme und Ordnungsaufgaben ist.
Deshalb ist es falsch, wenn man glaubt - wie es die Sozialdemokraten fordern -, daß dieses Sozialstaatsprinzip - wie Sie gerne scheinbar unauffällig formulieren - durch bestimmte, ganz konkrete sozialpolitische Forderungen „konkretisiert" oder „präzisiert" werden müßte.
Meine Damen und Herren, diese sozialpolitischen Forderungen, die Sie aufstellen, sind zeitbedingt. Natürlich ist Arbeitslosigkeit ein Problem, natürlich ist Wohnungsnot ein Problem; das ist völlig unbestreitbar.
Aber eine Verfassung kann überfordert werden, wenn man ihr die Offenheit nimmt oder wenn man sogar so weit geht, daß eine Verfassungsnorm zum Alibi für vielleicht nicht hinlänglich erfolgreiche Politik wird. Jedermann weiß: Ein Recht auf Arbeit, ein Recht auf Vollbeschäftigung schafft keinen einzigen Arbeitsplatz mehr.
({3}) Das gleiche gilt für ein Recht auf Wohnung.
Diese Verfassung hat eine Soziale Marktwirtschaft ermöglicht. Soziale Marktwirtschaft ist ein ausgewogenes System von Freiheit, Eigenverantwortung, Privatautonomie bis hin zur Tarifautonomie einerseits und auf der anderen Seite Sozialität, staatliche Lenkung, aber nur so weit, wie Freiheit, Selbstverantwortung nicht ihrerseits gestaltungs- und leistungsfähig sind.
({4})
Dieses ausgewogene Miteinander ist eine entscheidende Leistung dieses Grundgesetzes. Deshalb wehren wir uns gegen jede Überfrachtung und gleichzeitig implizite Aushöhlung dieser freiheitlich-sozialen Grundsubstanz unserer Verfassung.
({5})
Dieses Grundgesetz ist sparsam. Wer es z. B. neben die Weimarer Verfassung legt, wer es neben Landesverfassungen legt, der wird sagen: Da steht so wenig „Schönes" drin. In der Tat: In der normativen Stringenz liegt auch Kargheit und Zurückhaltung. Aber das ist wieder Weisheit, das ist politische Weisheit.
Man kann eine Verfassung nicht zu einem Katechismus alles Guten und Schönen machen. Eine Verfassung ist kein Bilderbuch, eine Verfassung ist kein Wunschkatalog. Eine Verfassung ist ein abstrakter, wertgebundener Ordnungsrahmen für eine freiheitlich-soziale Gesellschafts- und Staatsordnung insgesamt.
({6})
Deshalb ist eine Verfassung auch kein Ethikkatalog für innergesellschaftliches Verhalten oder Nichtverhalten.
Wer eine Verfassung mit solchen Regelungen befrachtet, überfrachtet, der setzt sie und bringt sie in Gefahr, in die Gefahr nämlich, daß sie sich entweder im Utopischen oder im allzu Zeitgebundenen oder letztendlich im rein Kosmetischen verliert.
Was ist die weitere Konsequenz? Die weitere Konsequenz ist, daß Verfassungsbewußtsein verlorengeht. Verfassungsbewußtsein heißt: das Vertrauen des Bürgers auf seine Verfassung. Eine Verfassung darf nichts versprechen, was nicht einlösbar ist.
({7})
Eine Verfassung ist kein Politikersatz, sondern Politikermächtigung und Verpflichtung für den demokratischen Gesetzgeber, das zu leisten, was erforderlich ist. Politik kann niemals durch Verfassungsnormen ersetzt werden.
Wenn sich Politik in scheinbarem politisch-programmatischem Verfassungsvollzug verliert, dann entmündigt sich ein demokratischer Gesetzgeber, und zugleich verflüchtigt sich Verfassungssubstanz in schlichte leere Hülle. Die weitere Konsequenz ist erneut, daß Verfassungsbewußtsein verlorengeht, daß Vertrauen auf eine Verfassung nicht mehr gerechtfertigt ist.
Aus diesem Grunde haben wir uns in entscheidender Weise dagegen gewandt, dieses Grundgesetz mit „Gutem", mit „Schönem", mit Ethischem, mit Lyrischem, mit Kosmetischem oder mit nicht erfüllbaren
Staatszielbestimmungen zu befrachten. Und daran halten wir fest.
Wir haben uns auch dagegen gewandt, daß Plebiszite in das Grundgesetz aufgenommen werden. Die Debatte will ich nicht neu aufnehmen. Gestatten Sie mir nur zwei Bemerkungen, zu denen mich vor allem die denkwürdige Äußerung des Herrn Gysi eben veranlaßt.
Das muß man sich ja fast auf der Zunge zergehen lassen. Er sagt - wenn ich Sie richtig zitiere, Herr Gysi -, wenn wir die Volksabstimmung gehabt hätten, wäre das Problem des § 218 StGB längst gelöst. Was Sie damit sagen, ist natürlich die Konsequenz einer Volksabstimmung, die offenkundig nicht mehr an die Verfassung gebunden ist.
({8})
Wenn das Plebiszit das Instrument für die Freizeichnung von der Verfassung ist, dann gute Nacht! Das mag Ihr politisches Verständnis sein, aber es ist nicht unseres.
({9})
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, als letztes noch einen Aspekt anzusprechen, den ich mit der Bitte überschreiben möchte, keine Legenden zu bilden. In der Diskussion um diese Verfassungsreform, die wir in diesem Hohen Haus heute abschließen, ist immer wieder das Argument gebracht worden, es gehe darum, in dieses Grundgesetz, das über die Einheit zur gesamtdeutschen endgültigen und legitimen Verfassung geworden ist, Traditionen, Empfindungen aus jener großartigen friedlichen Revolution im ehemals anderen Teil Deutschlands aufzunehmen, und dazu gehöre vor allem auch das Plebiszit.
Meine Damen und Herren, „ Wir sind e i n Volk! " ist einer der wunderbarsten Sätze der ganzen deutschen Geschichte. Aber dieser Satz hat sich mit Recht gegen ein totalitäres System gerichtet.
({10})
Dieser Satz läßt sich nicht übertragen. Er läßt sich nicht übertragen, wenn man ihn nicht diskreditieren will-({11})
- im Rahmen einer repräsentativen, einer stabilen Demokratie, wie unsere sie ist. Ich halte es für eine Diskreditierung dieser wunderbaren friedlichen Revolution, daß hier solche Gleichstellungen vorgenommen werden.
Gestatten Sie mir auch noch folgenden Satz. Als ein Altbundesrepublikaner, als einer, der das Glück hatte, westlich der Elbe aufgewachsen zu sein - wenn ich das einmal sagen darf -, möchte ich feststellen: Ich halte die Entscheidung der ersten frei gewählten Volkskammer, nicht nur der Bundesrepublik, sondern auch dem Grundgesetz beizutreten, die hier bei Ihnen gefallen ist, für ein großes Geschenk.
Ich halte das für ein Geschenk für uns ehemals Westdeutsche.
Jedermann weiß: Wenn in der Frage der Einheit die Volkskammer gesagt hätte, wir wählen die andere Option des Grundgesetzes, nämlich Wiedervereinigung über eine neue, gesamtdeutsche Verfassung, hätte sich die Mehrheit der Deutschen, aber eben nur die andere Seite, nämlich die alte Bundesrepublik, dem nicht verweigern können. Das scheint mir ganz selbstverständlich zu sein.
Aber sie haben sich für dieses Grundgesetz entschieden. Sie haben sich für dieses Grundgesetz entschieden, weil sie wußten, was es ihnen bringt: Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit.
({12})
Deshalb meine ich, daß gerade in dieser Frage in diesem Haus, hier im Reichstag, ein Wort des Dankes angebracht ist. Ich bin überzeugt, das Grundgesetz hat die Überprüfung seiner selbst bestanden.
Wir werden es heute an einigen Punkten reformieren, und das ist gut so. Wir werden wichtige Entscheidungen treffen; aber insgesamt geht dieses Grundgesetz bestätigt, gestärkt aus dieser Verfassungsdiskussion hervor. Dieses Grundgesetz ist die richtige, die beste Verfassung auch für unsere Zukunft.
Vielen Dank.
({13})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Deshalb schließe ich die Aussprache.
Es liegen eine ganze Reihe von schriftlichen Erklärungen zur Abstimmung entsprechend § 31 unserer Geschäftsordnung vor. *)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes auf Drucksache 12/6633 in der Ausschußfassung auf Drucksache 12/8165 Nr. 1.
Dazu liegen sechs Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Wir stimmen zuerst über diese sechs Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste ab. Wer stimmt für die Änderungsanträge auf Drucksache 12/8176? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit sind die Anträge auf Drucksache 12/8176 mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Änderungsanträge auf Drucksache 12/8177? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Änderungsanträge sind mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Änderungsanträge auf Drucksache 12/8178? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Anträge sind mit großer Mehrheit abgelehnt.
*) Die Erklärungen werden im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Nun kommen wir zur Drucksache 12/8179. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Änderungsanträge sind abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Drucksache 12/8180? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Änderungsanträge sind abgelehnt.
Nun kommen wir noch zur Drucksache 12/8181. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Änderungsanträge sind mit großer Mehrheit abgelehnt.
Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich weise darauf hin, daß zur Annahme des Gesetzentwurfs nach Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes die Stimmen von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich sind.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Für diese Abstimmung benötigen Sie die gewohnten Abstimmungskarten.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen, und eröffne die Abstimmung.
Darf ich fragen, ob es noch jemanden gibt, der seine Stimme bzw. seine Karte abzugeben wünscht. - Dies scheint nicht der Fall zu sein. Damit schließe ich diese Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses wird die Sitzung unterbrochen.
({0})
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder.
Ich möchte das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekanntgeben. Es wurden 629 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 622 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein drei, enthalten haben sich vier. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.
({0})
Wir kommen nun zu den weiteren Abstimmungen, und zwar zu den vier Gesetzentwürfen, die der Rechtsausschuß aus dem interfraktionellen Gesetzentwurf und dem Gesetzentwurf der SPD abgetrennt hat.
({1})
Die endgültigen Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen werden mit den Namenslisten im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
- Darf ich um etwas Aufmerksamkeit bitten; das Abstimmungsverfahren ist nicht ganz einfach, und wir alle sollten wissen, worüber wir abstimmen.
Es handelt sich dabei um die folgenden Gesetzentwürfe: Nr. 8 der Beschlußempfehlung - dabei geht es um das Thema Tierschutz -, Nr. 4 der Beschlußempfehlung - dabei geht es um die Achtung der Identität von ethnischen, sprachlichen und kulturellen Minderheiten -, Nr. 3 der Beschlußempfehlung - dabei handelt es sich um Gesetzgebungskompetenz und Gesetzgebungsverfahren - sowie Nr. 6 der Beschlußempfehlung - dabei handelt es sich um die Präambel.
Zu den genannten vier Gesetzentwürfen liegt jeweils ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über die wir zusammengefaßt abstimmen können.
Es ist namentliche Abstimmung verlangt, die mit dem Ihnen gerade ausgeteilten - oder, wie ich hoffe, in Austeilung befindlichen - blauen Stimmzettel durchgeführt wird. Sie finden dort zu jedem Änderungsantrag die Drucksachennummer, den betroffenen Grundgesetzartikel und ein kennzeichnendes Stichwort. Sie müssen auf dem Stimmzettel unbedingt Ihren Namen, gegebenenfalls den Namenszusatz und selbstverständlich auch noch die Fraktion gut leserlich in Druckbuchstaben eintragen. Stimmzettel, bei denen der Name unlesbar ist, sind ungültig.
Ich wiederhole: Sie brauchen jetzt den blauen Stimmzettel. Ich bitte, soweit es noch nicht geschehen ist, diese blauen Stimmzettel auszuteilen.
Sie können bei jedem Änderungsantrag ein Kreuz bei Ja, Nein oder Enthaltung anbringen. Wenn Sie bei einem Änderungsantrag mehr als ein Kreuz oder überhaupt kein Kreuz eintragen, ist die Stimme für diesen Antrag, aber nicht für die weiteren, ungültig.
Ich bitte dann die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen, und bitte, darauf zu achten, daß alle Urnen mit jeweils zwei Schriftführerinnen und Schriftführern unterschiedlicher Fraktionen besetzt sind.
Ist jeder im Besitz eines solchen blauen Stimmzettels? Ich stelle fest, daß das der Fall ist, und eröffne die Abstimmung.
Darf ich fragen, ob jeder seinen Stimmzettel abgeben konnte. Wünscht noch jemand, seinen blauen Stimmzettel abzugeben? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses ist die Sitzung unterbrochen.
({2})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Ich gebe nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 12/8172 - dabei handelt es sich um das Thema Tierschutz - bekannt. Es wurden 629 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt: 221, mit Nein haben gestimmt: 380. Es haben sich 26 Kolleginnen und Kollegen enthalten. Ungültig waren 2 Stimmen, und zwar deshalb, weil der Name nicht auf dem Zettel steht. Es war nämlich eine namentliche Abstimmung. Die Stimmzettel sind nur gültig, wenn ein Name darauf steht. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 12/8173. Dabei handelt es sich um das Thema Schutz und Förderung nationaler Minderheiten. Es wurden 629 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 240 gestimmt, mit Nein 369. 18 Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Ungültig waren wiederum 2 Stimmzettel. Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt.
Wir kommen nun zu dem von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnis der Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 12/8174. Dabei handelt es sich um Gesetzgebungskompetenzen und -verfahren. Auch hier wurden 629 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 230 gestimmt, mit Nein 348. Enthalten haben sich 48. Ungültig waren 3 Stimmzettel.
Wir kommen nun zu dem von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 12/8175 zum Thema Gerechtigkeit und Solidarität in der einen Welt. Abgegeben wurden 629 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt: 246. 373 Kolleginnen und Kollegen haben mit Nein gestimmt, 8 haben sich enthalten. Ungültig waren 2 Stimmen. Der Änderungsantrag ist damit ebenfalls abgelehnt.
Damit sind diese vier Änderungsanträge abgelehnt. Über die Gesetzentwürfe selbst, zu denen diese Änderungsanträge vorgelegt waren, stimmen wir später ab.
Wir stimmen nun zunächst über den aus dem interfraktionellen Gesetzentwurf abgetrennten Entwurf zu Änderungen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, Art. 74 und 125 a des Grundgesetzes, ab. Das ist Nr. 2 der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 12/8165. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Die endgültigen Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen werden mit den Namenslisten im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
Wir kommen deshalb sofort zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich weise darauf hin, daß auch hier zur Annahme wieder eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Die Abstimmung erfolgt in dem üblichen Verfahren mit Abstimmungskarten. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Abstimmung. Darf ich fragen, ob noch jemand seine Stimmkarte einzuwerfen wünscht. - Aber bitte ein bißchen schneller, Frau Wieczorek-Zeul.
Wünscht noch jemand seine Stimme abzugeben? - Dies scheint nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Die Sitzung ist bis zum Vorliegen des Ergebnisses unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich möchte das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf auf der Drucksache 12/8165 Nr. 2 bekanntgeben: Es wurden 633 Stimmen abgeben. Mit Ja haben 630 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein einer oder eine, und zwei haben sich enthalten. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/8197. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit bei vielen Stimmenthaltungen und einigen Gegenstimmen angenommen.
Wir kommen jetzt zu dem aus dem interfraktionellen Gesetzentwurf abgetrennten Entwurf auf der Drucksache 12/8165 Nr. 3. Dabei handelt es sich um die Rahmengesetzgebung des Bundes und Gesetzgebungsverfahren.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/ Linke Liste auf Drucksache 12/8205 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Änderungsantrag mit sehr großer Mehrheit abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung, wenn ich das richtig gesehen habe, einstimmig angenommen.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Auch hier ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Die Abstimmung erfolgt mit Abstimmungskarten. Ich bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen wiederum, ihre Plätze einzunehmen, und eröffne die Abstimmung. Darf ich fragen, ob alle Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit hatten, in dieser Abstimmung ihre Stimme abzugeben. Gibt es noch jemanden, der seine Stimme abzugeben wünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder und gebe das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/8165 Nr. 3 bekannt. Es wurden 630 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 624 Kollegen und Kolleginnen gestimmt, mit Nein 2; enthalten haben sich 4. Damit ist der Gesetzentwurf mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 12/6323, und zwar in der Fassung der Nr. 5 der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, Wolfgang Lüder, Gerhart Baum und Cornelia Schmalz-Jacobsen vor.
Der Änderungsantrag auf Drucksache 12/8200 ({0}) - Volksinitiative - ist wortgleich mit Art. 1 Nr. 14 des soeben aufgerufenen Gesetzentwurfs der SPD. Wir können deshalb über den Änderungsantrag und den SPD-Entwurf zu diesem Thema gemeinsam abstimmen.
Wer dem SPD-Entwurf insoweit zustimmt, stimmt damit auch dem Antrag der Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, Wolfgang Lüder, Gerhart Baum und Cornelia Schmalz-Jacobsen zu; wer den SPD-Entwurf insoweit ablehnt, lehnt damit auch diesen Antrag ab.
Der zweite Änderungsantrag auf Drucksache 12/ 8199 ({1}) bezieht sich auf das kommunale Wahlrecht für Ausländer. Diese Materie ist - allerdings in einer anderen Konzeption - in Nr. 12 der Abstimmungsliste zum SPD-Gesetzentwurf enthalten.
Hierzu liegt mir eine Wortmeldung der SPD-Fraktion zur Geschäftsordnung vor. Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Jochen Vogel.
Die endgültigen Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen werden mit den Namenslisten im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Geschäftsordnungslage ist in bezug auf diesen Antrag etwas kompliziert. Um das Verfahren aber zu beschleunigen, erkläre ich für meine Fraktion Einverständnis damit, daß jetzt darüber abgestimmt wird, und bitte - das darf ich vielleicht in dieser Weise tun - meine Fraktion, dem zuzustimmen.
({0})
Meine Damen und Herren, es würde noch viel umständlicher, wenn wir eine Unterbrechung der Sitzung beantragen würden. Der guten Ordnung halber sollte auch über den Antrag der F.D.P.-Kollegen namentlich abgestimmt werden. Das wären dann mehr als 34 Abgeordnete, die das wünschen.
({1})
Ich rufe nun den Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, Wolfgang Lüder, Gerhart Baum und Cornelia Schmalz-Jacobsen auf der Drucksache 12/8199 ({0}) zum Kommunalwahlrecht auf.
Dazu ist namentliche Abstimmung verlangt. Wir stimmen wieder mit Stimmkarten ab.
Ich eröffne die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, die Plätze wieder einzunehmen. Darf ich fragen, ob noch ein Mitglied des Hauses seine Stimmkarte einzuwerfen wünscht. Hatten alle Gelegenheit, abzustimmen? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Ich unterbreche die Sitzung wiederum bis zum Vorliegen des Ergebnisses.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich möchte das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu dem Gesetzentwurf auf Drucksache 12/8199 ({0}) bekanntgeben. Es wurden 630 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 275 Kollegen und Kolleginnen gestimmt, mit Nein haben 353 gestimmt, enthalten haben sich 2. Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der SPD. Die Fraktion der SPD verlangt zu allen Einzelvorschriften namentliche Abstimmung. All diese Einzelvorschriften sind auf dem Ihnen bereits ausgeteilten gelben Stimmzettel aufgeführt. Darf ich fragen, ob jeder und jede, die abzustimmen wünschen, im Besitz eines solchen gelben Stimmzettels sind. - Ich darf bitten, die Stimmzettel noch nicht einzuwerfen, damit Sie noch all das mitbekommen, was ich zu sagen habe.
Wenn Sie für alle Einzelvorschriften ein einheitliches Votum abgeben wollen, erleichtern Sie es den
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Schriftführerinnen und Schriftführern - das bedeutet, daß wir weniger lange hier sitzen müssen -, wenn Sie in der Kopfzeile entsprechend angeben, ob Sie für alle Einzelvorschriften mit Ja oder mit Nein stimmen oder sich enthalten wollen. Wenn Sie zu den Einzelabstimmungen verschieden abstimmen wollen, dürfen Sie diese Kopfzeile nicht beschriften, weil dann Ihr Stimmzettel ungültig wäre. Sie müssen dann für jede Einzelabstimmung einzeln Ihr Kreuz machen.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß der Stimmzettel ungültig ist, wenn Sie Ihren Namen darauf nicht eintragen. Es handelt sich hierbei zwar um ein verkürztes Verfahren, aber um eine namentliche Abstimmung.
Ist das alles klar? - Ich bitte, mit der Abstimmung zu beginnen, und bitte, die Schriftführer und Schriftführerinnen ihre Plätze einzunehmen. Darf ich fragen, ob jeder oder jede die Gelegenheit hatte, ihren gelben Stimmzettel abzugeben. - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen.
Ich unterbreche die Sitzung bis zur Bekanntgabe des Ergebnisses.
({1})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Die Schriftführer haben bei der Auszählung zwischenzeitlich festgestellt, daß mehr als 351 Abgeordnete pauschal alle Einzelbestimmungen abgelehnt haben. Keine der Einzelabstimmungen hat also bisher die einfache Mehrheit gefunden. Damit ist der Gesetzentwurf unter Nr. 5 der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 12/8165 insgesamt abgelehnt. Somit entfällt die dritte Beratung.
Sind Sie damit einverstanden, daß ich das genaue Abstimmungsergebnis jetzt nicht bekanntgebe, sondern Sie es dem Stenographischen Bericht entnehmen?*)
({0})
Dazu erhebt sich kein Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die vier übrigen Gesetzentwürfe auf Drucksache 12/8165 Nm. 4, 6, 7 und 8, die vom Rechtsausschuß aus dem interfraktionellen und aus dem SPD-Gesetzentwurf abgetrennt worden sind. Es handelt sich dabei um Anträge zu den Themen Achtung ethnischer Minderheiten - Art. 20 b -, Vollendung der inneren Einheit
- Präambel -, Achtung anderer auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften - Art. 6 - und Tierschutz
- Art. 20a Abs. 2.
Über die Änderungsanträge, die die SPD zu diesen Themen vorgelegt hatte, haben wir bereits nament-
*) Die endgültigen Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen werden mit den Namenslisten im zweiten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
lich abgestimmt. Sie wurden abgelehnt. Das genaue Ergebnis wird dann dem Stenographischen Bericht zu entnehmen sein.
Zu zwei der vier Gesetzentwürfe, und zwar zu den Nrn. 4 und 6 der Beschlußempfehlung, liegen Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor. Die Änderungsanträge betreffen die nationalen Minderheiten und die Lebensgemeinschaften. Wir stimmen zuerst über diese Änderungsanträge ab.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/8182? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Antrag auf Drucksache 12/8182 mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für die Änderungsanträge auf Drucksache 12/8183? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit sind auch diese Änderungsanträge mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wir stimmen jetzt über die vier Gesetzentwürfe in der Ausschußfassung ab. Es ist wiederum namentliche Abstimmung verlangt, die jetzt mit den grauen Stimmzetteln durchgeführt wird.
Zunächst bitte ich, die grauen Stimmzettel auszuteilen. Denjenigen, die dafür zuständig sind, wird die Arbeit erleichtert, wenn Sie an Ihrem Platz sitzenbleiben. -Da ich jetzt davon ausgehen kann, daß jeder einen grauen Stimmzettel hat, kann ich die Abstimmung eröffnen. Das Verfahren ist bekannt. Es müssen wiederum der Name und die Fraktion eingetragen werden. Ich bitte, die Stimmzettel abzugeben. Darf ich fragen, ob noch irgend jemand seinen grauen Stimmzettel nicht abgeben konnte. - Das ist ja wunderbar. Dann darf ich die Abstimmung schließen.
Ich bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen, und unterbreche die Sitzung.
({1})
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung nur ganz kurz - das Ergebnis liegt noch nicht vor -, um Sie über den Geschäftsgang zu informieren.
Es zeichnet sich ab, daß von den eingebrachten Anträgen einige die einfache Mehrheit haben. Aber wir wissen noch nicht, ob dies bei allen der Fall ist. Ich bitte, die orangefarbenen Stimmzettel, die wir deshalb für die namentliche Abstimmung brauchen, noch nicht auszufüllen, weil ich noch nicht weiß, welche von den vier Anträgen eine einfache Mehrheit gefunden haben. Sie müssen diejenigen, die keine einfache Mehrheit gefunden haben, streichen. Daher bitte ich inständig darum, die Abstimmungszettel noch nicht auszufüllen und maximal Ihren Namen und Ihre Fraktion darauf einzutragen.
Damit ist die gerade eröffnete Sitzung schon wieder unterbrochen.
({0})
Ich eröffne die unterbrochene Sitzung und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/8165 I Nr. 4, Achtung ethnischer Minderheiten, bekannt. Es wurden 635 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben gestimmt: 315. Mit Nein haben gestimmt: 308. Enthalten haben sich acht Kolleginnen und Kollegen, und ungültig waren vier Stimmen. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Wir müssen also die Nr. 1 auf dem orangefarbenen Zettel beibehalten und darüber noch namentlich abstimmen.
Dann gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis zu Nr. 6, Ergänzung der Präambel im Hinblick auf die Vollendung der inneren Einheit, bekannt. Hier haben 633 Kollegen ihre Stimme abgegeben. Mit Ja haben 311 gestimmt, mit Nein haben 310 gestimmt, 8 haben sich enthalten, und 4 Stimmen waren ungültig. Damit bleibt auch diese Nr. 2 auf dem orangefarbenen Zettel bestehen.
Nun gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der Abstimmung zu Nr. 7, der Achtung anderer auf Dauer angelegter Lebensgemeinschaften, bekannt. Hier wurden ebenfalls 633 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 285 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 325, enthalten haben sich 18, ungültig waren 5 Stimmen. Damit ist dieser Gesetzentwurf abgelehnt. Die Nr. 3 auf dem orangefarbenen Zettel ist bitte zu streichen und darüber nicht neu abzustimmen.
Nun gebe ich noch das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis zu Nr. 8 bekannt. Dabei handelt es sich um das Thema Tierschutz. Hier haben wieder 633 Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme abgegeben. Mit Ja haben 300, mit Nein 315 gestimmt, 14 haben sich enthalten, ungültig waren 4 Stimmen. Damit ist auch dieser Gesetzentwurf abgelehnt. Es muß also die Nr. 4 auf dem orangefarbenen Zettel gestrichen werden.
Wir haben jetzt also in
dritter Beratung
noch über die laufende Nr. 1 auf dem Stimmzettel, zum Art. 20 b, und über die laufende Nr. 2, zur Präambel, abzustimmen.
Haben alle den orangefarbenen Stimmzettel? Oder hat ihn jemand noch nicht? - Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich Sie, wieder den Namen und die Fraktion einzutragen und mit der Abstimmung zu beginnen. Darf ich fragen, ob alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimme abgegeben haben? - Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.
Die endgültigen Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen werden mit den Namenslisten im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/8165 I. Nr. 4 zum Thema „Achtung ethnischer Minderheiten" bekannt. Es wurden 630 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 323 Kollegen und Kolleginnen gestimmt, mit Nein 299, 8 haben sich enthalten, 1 Stimme war ungültig. Damit hat der Gesetzentwurf die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht gefunden und ist somit abgelehnt.
Ich gebe nun das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/8165 I. Nr. 6 bekannt. Dabei handelt es sich um einen Gesetzentwurf zur Vollendung der inneren Einheit. Es wurden 630 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 319 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein 308, enthalten haben sich 2, ungültig war 1 Stimme. Damit hat auch dieser Gesetzentwurf die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht gefunden und ist somit abgelehnt.
Es ist nun ein Entschließungsantrag von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung vorgelegt worden. Nachdem er Ihnen gerade erst ausgeteilt worden ist, werde ich über diesen Entschließungsantrag am Schluß abstimmen lassen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6570. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8165 unter Nr. 9, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6570 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Gesetzentwurf mit sehr großer Mehrheit in zweiter Beratung abgelehnt worden. Eine dritte Beratung entfällt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6686. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8165 unter Nr. 10, diesen Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6686 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt die weitere Beratung.
Wir kommen nun zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Durchführung eines Verfassungsreferendums. Das finden Sie auf der Drucksache 12/8165 Nr. 11. Der Ausschuß empfiehlt,
Vizepräsidentin Renate Schmidt
den Antrag auf Drucksache 12/6716 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6105. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8165 unter Nr. 12, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6105 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Eine dritte Beratung entfällt damit.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/5695. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8165 unter Nr. 13, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt, und die weitere Beratung entfällt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der Drucksache 12/3826. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8165 unter Nr. 14, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der Drucksache 12/3826 abstimmen und bitte diejenigen, die ihm zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Die weitere Beratung entfällt.
Wir kommen nun zum Gesetzentwurf des Bundesrates auf der Drucksache 12/7109. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/8165 unter Nr. 15, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung einstimmung angenommen.
Nun kommen wir zum Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission auf der Drucksache 12/6000. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/ 8165 unter Nr. 16, den Bericht zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist auch diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen.
Nun kommen wir zum Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr. Konrad Elmer, Susanne Rahardt-Vahldieck, Dr. Christoph Schnittler und weiterer Abgeordneter zu „Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn" auf der Drucksache 12/6708. Dazu hat der Rechtsausschuß keine Empfehlung abgegeben. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf jetzt in zweiter Beratung zu behandeln. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann werden wir so verfahren.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf „Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn" in zweiter Beratung. Dazu liegt ein Änderungsantrag der gerade genannten Kolleginnen und Kollegen vor, über den wir zuerst abstimmen. Dabei handelt es sich darum, daß der Inhalt des Art. 2 a GG in die Präambel aufgenommen werden soll. Es geht also noch nicht um den Inhalt, sondern nur darum, wo das Ganze stehen soll.
Wer stimmt für diesen Änderungsanstrag? - Oh, das wird schwierig. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Weil uns ein Hammelsprung wesentlich mehr Zeit kostet, empfehle ich, in meiner Zuständigkeit, daß wir auch in zweiter Beratung namentlich abstimmen. Ich bin beim besten Willen nicht in der Lage, hier zu entscheiden, was die Mehrheit war.
Gibt es anderweitige Vorschläge? Herr Kollege Rüttgers.
Frau Präsidentin! Es ist leider nicht so, daß es nur um die Frage geht, wo dieser Punkt im Grundgesetz normiert werden soll, sondern es gibt einen inhaltlichen Unterschied zwischen dem Änderungsantrag und dem eigentlichen Gesetzentwurf.
Wenn wir den Hammelsprung nicht machen, schlage ich, wenn die Kolleginnen und Kollegen einverstanden sind, vor, daß wir diese Abstimmung - das können wir gegebenenfalls auch namentlich machen - wiederholen. Wir müssen schon wissen, ob der Antrag eine Mehrheit bekommen hat oder nicht.
Das hatte ich ja gerade vorgeschlagen.
Nein. Entschuldigen Sie bitte, Frau Präsidentin, Sie müssen einmal freundlicherweise zuhören.
Ich habe vorgeschlagen, die Abstimmung über den Änderungsantrag zu wiederholen, und zwar namentlich,
({0})
und nicht bereits in die zweite Beratung des Gesetzentwurfes einzutreten; denn dafür müßten wir zuerst wissen, ob dieser Änderungsantrag angenommen worden ist oder nicht, damit wir den Text kennen.
Herr Kollege Struck.
Frau Präsidentin! Ich kann dem Vorschlag des Kollegen Rüttgers nicht folgen. Wir sind in der zweiten Beratung, Herr Kollege Rüttgers. Es geht um einen Änderungsantrag. Deshalb beantrage ich, daß wir eine namentliche Abstimmung über den gerade eben vorgelegten Antrag durchführen, und zwar jetzt sofort.
Nur damit wir uns über die Geschäftslage klar sind: Es ist vollkommen richtig, wir sind in der zweiten Beratung.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Herr Kollege Rüttgers, alles, was wir drei vorschlagen, ist vollkommen identisch. Wir wollen jetzt über den Änderungsantrag abstimmen. Das habe ich von Anfang an gesagt. Es war vollkommen identisch. Alles klar.
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Wir stimmen jetzt noch nicht über den Inhalt ab, sondern über den Änderungsantrag zu diesem Gesetzesantrag. Ich bitte jetzt in die namentliche Abstimmung einzutreten. Gibt es noch jemanden, der seine Stimmkarte abzugeben wünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer und Schriftführerinnen, mit der Auszählung zu beginnen. Ich habe die Sitzung nicht unterbrochen. Vielleicht könnten wir in der Zwischenzeit über den Entschließungsantrag abstimmen. Was halten Sie davon?
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Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen. Es geht dann nämlich für uns alle schneller, und die meisten von uns möchten heute abend noch etwas anderes tun.
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Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/8211 zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf den Drucksachen 12/6683 und 12/8165. Es handelt sich dabei um den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes. Ich brauche Ihnen die betroffenen Artikel nicht noch einmal zu nennen, der Entschließungsantrag ist ja verteilt worden.
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- Dann darf ich bitten, noch weitere Exemplare dieses Entschließungsantrages auszuteilen. Kann ich nun davon ausgehen, daß alle Kolleginnen und Kollegen diesen Entschließungsantrag kennen? - Nein, immer noch nicht.
Um jetzt nicht weiter warten zu müssen, bis der Entschließungsantrag auch dem letzten Kollegen und der letzten Kollegin vorliegt, werde ich diesen Antrag verlesen:
In der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages und in der Sitzung des Bundestages vom 30.06.1994 ist die Frage streitig geblieben, ob der Tierschutz in selbständiger Form in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte oder ob es einer solchen geDie endgültigen Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen werden mit den Namenslisten im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
sonderten Gewährleistung in der Verfassung nicht bedarf.
Bei diesem Streit ging es jedoch weniger um das grundsätzliche Schutzbedürfnis der Tiere als solches. Es ging mehr um die Frage, ob nicht schon die einfach-gesetzlichen Grundlagen der deutschen Tierschutzgesetzgebung, die in der Welt als vorbildlich gelten, ausreichend sind und ob nicht die Vielfalt von zu schützenden Tieren und Tierhaltungen einerseits sowie die hohe Komplexität der vielfältigen Schutzgüterabwägungen andererseits, in die sich auch jeder Tierschutz eingebunden sieht, eine gesonderte Verfassungsgewährleistung nicht ausschließen. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch in der grundsätzlichen Anerkennung der Schutzbedürftigkeit auch der Tiere als Teil der Schöpfung, deren grundlegende Achtung und Bewahrung allen Menschen aufgegeben ist.
Mit der heute vom Bundestag verabschiedeten Aufnahme der Staatszielbestimmung Umweltschutz in das Grundgesetz ist ein grundlegender Schritt zur auch verfassungsrechtlichen Verfestigung der Verantwortung von Staat und Gesellschaft für die Achtung und Bewahrung der „natürlichen Lebensgrundlagen" vollzogen worden. Zu den „natürlichen Lebensgrundlagen" gehören nicht nur Pflanzenwelt, Luft, Boden und Wasser, sondern hierzu gehört die gesamte Schöpfung, also auch das Tier und alles organische Leben auf dieser Erde. In diesem Sinne bekräftigen wir, daß die Staatszielbestimmung Umweltschutz auch den Tierschutz prinzipiell mit umfaßt. Auch der Schutz der Tiere ist im Rahmen des Schutzes der „natürlichen Lebensgrundlagen" Staat und Gesellschaft im Rahmen ihrer jetzt auch verfassungsrechtlich bekräftigten ökologischen Grundverantwortung mit aufgegeben.
So, jetzt kennt es jeder.
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Nun gibt es zur Begründung des Abstimmungsverhaltens eine Wortmeldung des Kollegen Jürgen Schmude und eine Wortmeldung des Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz. - Bitte, der Kollege Dr. Jürgen Schmude hat das Wort. - Ich habe diese Wortmeldung zuerst bekommen.
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- Herr Kollege Schmude, einen kleinen Moment. - Mir ist gesagt worden, es wäre eine Erklärung zum Abstimmungsverhalten, oder war die Meldung vom Kollegen Scholz eine Begründung des Antrags? - Zum Abstimmungsverhalten.
Also, Kollege Schmude.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich würde mich freuen, einem Text zustimmen zu können, der die eben er21036
folgte Ablehnung der Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung wieder aufhebt und ausgleicht. Der hier vorliegende Entschließungsantrag leistet das nicht. Er führt in die Irre.
({0})
Das wird in den letzten Sätzen besonders deutlich.
Dort, wo es um Tiere geht, die in der Verantwortung des Menschen leben, die von Menschen wirtschaftlich genutzt werden, lassen sie sich unter die natürlichen Lebensgrundlagen und ihren Schutz nicht subsumieren. Somit läuft das auf ein Täuschungsmanöver hinaus.
({1})
Wer den Tierschutz will und ihn weiter verfolgt, kann das nur ablehnen.
({2})
Nun hat der Kollege Professor Dr. Rupert Scholz das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stimme für diesen Antrag
({0})
- Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie lachen.
Ich gehe direkt erst einmal kurz auf das ein, Herr Schmude, was Sie eben gesagt haben. Sie haben von einer Täuschung gesprochen.
({1})
Ganz das Gegenteil gilt. Sie haben eben nichts anderes gesagt, als daß das, was aufgenommen worden ist, streitig ist, schon in der Verfassungskommission streitig gewesen ist: ob der Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen auch die Tiere umfaßt, und zwar die Tiere in ihrer Gesamtheit.
Wir stellen mit dieser Resolution klar - wir handeln hier als Verfassungsgesetzgeber, und an diese Interpretation sind künftig Gerichte genauso wie Exekutiven gebunden -, daß die Tiere in ihrer Gesamtheit, auch die Tiere, die von Menschen gehalten werden, unter den Schutzbereich der natürlichen Lebensgrundlagen fallen.
({2})
- Wenn Sie mich bitte ausreden lassen wollen: Wir stellen auf der anderen Seite aber auch klar, daß den Tierschutz - und das war für einen Großteil dieses Hauses entscheidend -, nicht in Gestalt einer selbständigen Schutzgewährleistung ins Grundgesetz aufzunehmen ein derartig komplexer Gewährleistungs- und Abwägungsgegenstand ist, daß es richtig ist, ihn im Rahmen des allgemeinen Umweltschutzes zu schützen.
({3})
Das ist der Sinn dieser Resolution, und deshalb stimme ich dafür.
({4})
Zu einer weiteren Erklärung zur Abstimmung der Kollege Manfred Richter.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war dafür und bin nach wie vor der Meinung, daß es besser gewesen wäre, Art. 20 a zu ändern. Dies haben wir beantragt; ich habe in der zweiten Lesung dafür gestimmt. Ich muß zur Kenntnis nehmen, daß dieses berechtigte Anliegen, das gut begründet war, in diesem Hause keine Mehrheit gefunden hat; ich bedaure das sehr.
Nun geht es aber darum, daß von dieser Entscheidung keine falschen Signale ausgehen.
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Es muß deutlich werden, daß das Anliegen des Tierschutzes Unterstützung findet. Das muß dieses Haus klarstellen. Dem dient dieser Antrag.
({1})
Zu einer weiteren Erklärung der Kollege Dr. Burkhard Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Eine Reihe von Kollegen und ich werden diesem Entschließungsantrag nicht zustimmen.
({0})
Die Gründe dafür hat Herr Schmude eben in hervorragender Weise dargestellt.
Wir sind für die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung. Ich erinnere daran, daß die Formel, die wir beantragt hatten, nur noch auf den Kern reduziert war: Tiere werden im Rahmen der Gesetze vor unnötigen Leiden geschützt. Es gibt keinen Grund, einen solchen Satz nicht in die Verfassung aufzunehmen. Wer sich weigert, das zu tun, soll dies offen tun und nicht versuchen, diesen Tatbestand mit einer Entschließung zu verkleistern.
({1})
Wir lehnen diesen Entschließungsantrag ab, weil wir unverändert dafür kämpfen werden, den Tierschutz in die Verfassung aufzunehmen.
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Mir liegt eine weitere Wortmeldung vor vom Kollegen Otto Schily. Ich gehe davon aus, daß es sich um eine Erklärung zur Abstimmung handelt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich stimme den Ausführungen der Kollegen Schmude und Hirsch zu und werde in diesem Sinne abstimmen.
Ich bin aber doch einigermaßen verwundert, daß der Kronjurist der CDU/CSU-Fraktion erklärt hat, daß eine Entschließung mit einfacher Mehrheit die Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts bindet.
({0})
Das ist allerdings ein Lapsus, den Sie sich heute hier nicht hätten leisten sollen, Herr Scholz.
({1})
Eine weitere Erklärung: vom Kollegen Jan Oostergetelo.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe, auch wenn ich diesen Schlagabtausch sehe, davon aus, daß Tierschutz eigentlich eine Sache ist, über die wir nicht leichtfertig reden dürfen; das sind Geschöpfe. Damit es nicht nach Täuschung aussieht und nicht die eine oder andere Seite hier hingestellt wird, als sei sie gegen Tierschutz, möchte ich darum bitten, diesen Antrag zurückzuziehen. Er trägt mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei.
({0})
Die nächste Wortmeldung vom Kollegen Dr. Jürgen Meyer. - Sie ist zurückgezogen.
Dann liegt mir noch eine Meldung vom Kollegen Gerster vor.
Frau Präsidentin! Es ist selbstverständliche Praxis der deutschen Gerichtsbarkeit, vom Bundesverfassungsgericht bis zum Amtsgericht, daß die Motive für ein Gesetz, d. h. die Beratungen z. B. in den Ausschüssen der gesetzgebenden Körperschaften des Bundes oder Landes, zur Interpretation - ({0})
Darf ich um Ruhe bitten.
Übrigens, Kollege Gerster, wenn ich es richtig sehe, sprechen Sie zur Abstimmung. Sie wollen also dem Entschließungsantrag zustimmen.
Ja. Frau Präsidentin, lassen Sie mich das bitte ausführen. Es spricht für Ihre Nervosität, meine Damen und Herren von der SPD, daß Sie noch nicht einmal Argumenten zuhören können.
Es gehört zur Praxis der Gerichtsbarkeit - ich sage es noch einmal, daß die Motive - das sind die Beratungsunterlagen der gesetzgebenden Körperschaften - zur Interpretation von Rechtsvorschriften herangezogen werden.
({0})
Wenn der Deutsche Bundestag mit Mehrheit hier deutlich macht, daß beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen selbstverständlich auch Tiere gemeint sind, dann ist dies eine Klarstellung dessen, was der Deutsche Bundestag unter dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen meint. Insofern ist ein derartiger Beschluß die Klarstellung einer Verfassungsbestimmung, die nicht nur zulässig ist - ({1})
Darf ich darum bitten, daß der Kollege Gerster in Ruhe ausreden kann.
({0})
- Wie das im einzelnen bewertet wird, ist Ihre Sache, aber der Kollege Gerster hat das Recht, hier in Ruhe zu reden. - Kollege Gerster, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Er ist eine Klarstellung, die nicht nur zulässig ist, sondern die Rechtsklarheit schafft. Deswegen werde ich dieser Entschließung zustimmen und empfehle Ihnen dasselbe.
({0})
Ich darf übrigens sagen, daß wir nicht in einer Debatte sind. Die Erklärung des Kollegen Meyer ist die letzte.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Gerster treffen für den Bereich zu, den er benannt hat, nämlich die Gesetzesauslegungen durch Amtsgerichte. Hier geht es aber um die Auslegung der Verfassung.
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, insbesondere der CDU/CSU-Fraktion, haben keine Zweidrittelmehrheit, und Sie können nicht das, was dieses Parlament mit Zweidrittelmehrheit
beschlossen hat, mit einfacher Mehrheit verfälschen. Darum geht Ihr Entschließungsantrag ins Leere.
({0})
Weitere Wortmeldungen, Erklärungen und ähnliches liegen mir nicht mehr vor.
Dann können wir zur Abstimmung über diesen Entschließungsantrag auf Drucksache 12/8211 kommen. Ich bitte diejenigen, die dem Entschließungsantrag zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen?
({0})
- Ich würde es gerne noch mal sehen, weil ich alles vermeiden möchte, um noch eine zusätzliche Abstimmung zu machen. Darf ich noch einmal darum bitten, daß diejenigen die Hand heben, die diesem Entschließungsantrag zustimmen wollen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Das erste war die Mehrheit.
({1})
Wir machen jetzt in der ursprünglichen Reihenfolge weiter.
Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Abstimmungsergebnis liegt vor; ich darf es hiermit bekanntgeben. Es geht um den Änderungsantrag der Kollegen Konrad Elmer u. a. Hierzu wurden 629 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 337 gestimmt, mit Nein haben 269 gestimmt, enthalten haben sich 23 Kollegen und Kolleginnen. Damit ist dieser Änderungsantrag angenommen.
Wir kommen damit zur zweiten Beratung dieses Gesetzentwurfs, jetzt in der soeben beschlossenen geänderten Form.
Ich darf diejenigen, die dieser geänderten Form in zweiter Beratung zustimmen wollen, bitten, ihre Hand zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Das erste war die Mehrheit.
Wir kommen nun zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich weise darauf hin, daß zur Annahme des Gesetzentwurfs eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Wir stimmen namentlich ab: mit Stimmkarten. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Die Abstimmung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir sind noch nicht am Ende unserer Tagesordnung angekommen, sondern wir haben noch eine ganze Reihe von AbDie endgültigen Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen werden mit den Namenslisten im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
stimmungen über die Ergebnisse des Vermittlungsausschusses und ähnliches durchzuführen. Ich bitte also darum, diesen Saal nicht postwendend zu verlassen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Ich habe auf meinem Sprechzettel zwar stehen, daß ich die Sitzung unterbrechen soll, ich mache das aber nicht.
({2})
Ich weise außerdem darauf hin, daß auch zu diesem Punkt noch eine ganze Reihe von Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben worden sind *).
Bis wir das Abstimmungsergebnis bekanntgeben können, rufe ich den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Gesetz über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen und über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage ({4})
- Drucksachen 12/4887, 12/5108, 12/5190,
12/7588, 12/7593, 12/7875, 12/7832 -Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heribert Blens
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/ 7832? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 11 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({5}) zu dem Fünften Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksachen 12/6480, 12/7554, 12/7572,
12/7874, 12/8015, 12/7996 -Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Paul Hoffacker
*) Die Erklärungen werden im ersten Nachtrag zu diesem Plenarprotokoll abgedruckt.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Dies ist auch nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat zu diesem Punkt dasselbe wie zum vorigen beschlossen, nämlich daß gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/ 7996? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist diese Beschlußempfehlung mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({6}) zu dem Gesetz zur Änderung sachenrechtlicher Bestimmungen ({7})
- Drucksachen 12/5992, 12/7425, 12/7668, 12/8204 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Jürgen Rüttgers
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Auch hier nicht. Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall.
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat auch hier wieder entsprechend seiner Geschäftsordnung beschlossen, gemeinsam abzustimmen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Auch diese Beschlußempfehlung ist mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 s auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der finanziellen Voraussetzungen für die Neugliederung der Länder Berlin und Brandenburg
- Drucksache 12/7818 -({8})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 12/8212 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Nils Diederich ({10}) Hansgeorg Hauser ({11}) Hermann Rind
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({12}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/8213 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng ({13}) Helmut Wieczorek ({14})
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme?
- Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Zu diesem Tagesordnungspunkt hat Frau Kollegin Dr. Barbara Höll eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben').
Zur Abwechslung unterbreche ich die Sitzung dann wieder, weil wir jetzt auf das Abstimmungsergebnis warten müssen. Es gibt keine weiteren Abstimmungen mehr.
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Ich darf die unterbrochene Sitzung wieder eröffnen und das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf auf Drucksache 12/6708 mit der in der zweiten Beratung angenommenen Änderung bekanntgeben. Es wurden 628 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben 345 Kollegen und Kolleginnen und mit Nein 261 gestimmt. Enthalten haben sich 22. Damit hat der Gesetzentwurf die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht gefunden.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angekommen. Ich danke allen, insbesondere den Schriftführerinnen und Schriftführern sowie den Saaldienern, daß sie uns unterstützt haben. Ich darf mich bei Ihnen als Vizepräsidentin in der Sitzungsleitung verabschieden. Es ist nach menschlichem Ermessen die letzte Sitzung, die ich hier geleitet habe. Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Unterstützung und wünsche Ihnen einen guten Nachhauseweg.
({0})
- Danke.
Ich berufe den Deutschen Bundestag zur Gemeinsamen Sitzung mit dem Bundesrat anläßlich der Vereidigung des Herrn Bundespräsidenten nach Art. 56 des Grundgesetzes auf morgen, Freitag, den 1. Juli 1994, 9.30 Uhr ein. Die Sitzung findet ebenfalls hier im Reichstagsgebäude statt.
Die Sitzung ist geschlossen.