Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die. Sitzung und habe zunächst einiges zu verlesen.
Der Herr Kollege Seesing legt sein Amt als Schriftführer nieder. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolgerin Frau Kollegin Brudlewsky vor. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist der Fall.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Fünfter Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl - Die Haltung der Bundesregierung zum Bau von Kernkraftwerken in den neuen Bundesländern
2. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 11 zu Petitionen - Drucksache 12/379 3. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 12 zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 18. Februar 1987 bis 19. Dezember 1990 eingegangenen Petitionen - Drucksache 12/380 4. Erste Beratung des von den Abgeordneten Ursula Männle, Renate Diemers, Rainer Eppelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Eva Pohl, Norbert Eimer ({1}), Hans A. Engelhard, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern
Gesetz zur Einführung von Mütterunterstützung für Nichterwerbstätige in den neuen Bundesländern - Drucksache 12/409 -
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll abgewichen werden, soweit es zu einigen Punkten der Tagesordnung erforderlich ist.
Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 9 abzusetzen.
Sind Sie mit diesen Änderungen der Tagesordnung einverstanden? - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 a bis 2 f auf:
Überweisung im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haushalte sowie über strukturelle Anpassungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet
({2})
- Drucksache 12/401 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß ({3})
Finanzausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrechtlicher und anderer Vorschriften
({4})
- Drucksache 12/402 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({5})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags und zur Änderung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen ({6})
- Drucksache 12/403 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({7}) Rechtsausschuß
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
d) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung zur Umwelt in städtischen Gebieten
- Drucksache 11/3900 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({8})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
e) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987
Landwirtschaftliche Entwicklungspfade
- Drucksache 11/7991 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({9})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
f) Beratung des Berichts der Enquete-Kommission „Gestaltung der technischen Entwicklung; Technikfolgen-Abschätzung und -Bewertung" gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. November 1987
Nachwachsende Rohstoffe
- Drucksache 11/7992 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wir kommen zunächst zu dem Tagesordnungspunkt 2 a bis 2 d und 2 f. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Auch dazu Einverständnis? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a und b auf:
a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. November 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik
- Drucksache 12/198 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft ({11})
- Drucksache 12/414 Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Uwe Jens
({12})
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 9. November 1990 über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
- Drucksache 12/199 Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({13})
- Drucksache 12/390 ({14})
Berichterstatter: Abgeordnete Karl Lamers Karsten D. Voigt ({15})
Ulrich Irmer
({16})
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Das Wort hat Herr Bundesminister Genscher.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Beratung des deutsch-sowjetischen Vertrages über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit, des Vertrages über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik setzen wir heute den Schlußstein im Bauwerk der vertraglichen bilateralen Beziehungen des vereinigten Deutschlands und der Sowjetunion.
Diese Verträge stützen sich auf die breite Zustimmung im Deutschen Volk.
({0})
Davon geht offensichtlich auch die große Mehrheit des deutschen Bundestages aus, was die Abwesenheit der großen Mehrheit erklären mag.
Wir Deutschen wollen das Verhältnis zur Sowjetunion in freundschaftlichem Geist mit dem Willen zur Zusammenarbeit gestalten. Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang einer neuen Phase in den deutschsowjetischen Beziehungen. Wir bekennen uns zu einem neuen Verhältnis zur Sowjetunion, einem Verhältnis der guten Nachbarschaft, der Partnerschaft und der Zusammenarbeit.
Die Beziehungen zwischen unseren Ländern gründen sich auf gegenseitiges Vertrauen. Am 22. Juni jährt sich zum 50. Mal der Tag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion. Die Erfahrungen der Geschichte zeigen, wie kostbar der Friede unter den Völkern ist und welche großen Anstrengungen die Wiederherstellung des Friedens erfordert. Das ist uns eine bleibende und große Verantwortung. In dieser VerantBundesminister Hans-Dietrich Genscher
wortung leisten wir zusammen mit der Sowjetunion mit dem deutsch-sowjetischen Vertragspaket einen wichtigen Beitrag zur Schaffung des neuen Europas des Friedens.
Wir Deutschen handeln dabei auch in unserer durch die deutsche Einheit noch größer gewordenen Verantwortung für Europa und die Welt.
Es liegt im gesamteuropäischen Interesse, daß die Beziehungen aller Völker zueinander auf qualitativ neue Vertragsgrundlagen des Vertrauens gestellt werden. Wir Deutschen wünschen uns, daß vor allem in Europa, aber nicht nur hier, derartige Verträge der guten Nachbarschaft, der Partnerschaft und der Zusammenarbeit breite Nachahmung finden. Ein umfassendes Netz bilateraler Verträge schafft eine verläßliche Grundlage für unser gemeinsames Europa, das sich im vergangenen November mit der Charta von Paris sein neues Grundgesetz gegeben hat.
({1})
Die europäische Friedensordnung, die wir anstreben, ist ohne die Sowjetunion nicht denkbar, und sie ist gegen die Sowjetunion nicht möglich. Die Sowjetunion ist ein wichtiger und unverzichtbarer Faktor der gesamteuropäischen Architektur. Dieses Gebäude ist noch nicht fertig. Aber in Paris bestand Konsens über wesentliche Elemente : konventionelle Abrüstung, Vertrauensbildung, KSZE-Institutionen - vor allem Außenministerkonferenzen - , das Konfliktverhütungszentrum und ein Sekretariat.
Wir wollen die Öffnung der Europäischen Gemeinschaft für die mittel- und osteuropäischen Staaten, wir wollen ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem, in dem diese Staaten ihren Platz und ihre Sicherheit finden.
Die NATO und die Westeuropäische Union werden wichtige Faktoren dieser gesamteuropäischen Strukturen bilden. Wir wollen die Anpassung der NATO- Strategie an die neuen Gegebenheiten.
In der neuen gesamteuropäischen Architektur hat die Sowjetunion einen wichtigen Platz. Sie muß Teil und mitgestaltende Kraft in diesem Prozeß sein. Immer engere Beziehungen der Europäischen Gemeinschaft, der NATO und der Westeuropäischen Union zu diesem großen Land werden die Stabilität in Europa verstärken.
Unsere bilateralen Verträge sollen gerade auch diese sich entwickelnde Architektur für Europa abstützen. Damit erfüllen wir die Verpflichtung aus der Vertragspräambel, nämlich einen gewichtigen Beitrag zur Überwindung der Trennung Europas zu leisten.
Der deutsch-sowjetische Vertrag trägt nicht nur zur Stabilität in Europa bei. Durch ihn soll auch ganz bewußt ein Beitrag zur Stabilität in der Sowjetunion erbracht werden. Er trägt mit dazu bei, für die Sowjetunion den notwendigen äußeren Rahmen zu schaffen, in dem sich ihre inneren Reformen vollziehen können.
Der Erfolg der Reformpolitik in der Sowjetunion, ein konsequenter Demokratisierungsprozeß und die Einführung eines marktwirtschaftlichen Systems werden das Schicksal Europas mitbestimmen. Eine demokratisch und wirtschaftlich erneuerte Sowjetunion liegt in unserem Interesse wie auch im Interesse ganz Europas. Wir alle wissen, daß das gesamte Europa in Mitleidenschaft gezogen würde, wenn der Reformprozeß in der Sowjetunion scheiterte. Wir beobachten deshalb mit Aufmerksamkeit und mit Anteilnahme die Entwicklung bei unserem großen östlichen Nachbarn.
Die gestrigen Entscheidungen, die von dem großen Verantwortungsbewußtsein der führenden Persönlichkeiten der Sowjetunion zeugen, sind bedeutsam und geben Anlaß zur Zuversicht.
Wir wissen, welche Bedeutung die Politik von Präsident Gorbatschow für die Entwicklung in Europa und in der Welt hat. Wir wollen der Sowjetunion bei ihrem Reformprozeß durch ein umfassendes Angebot zur Zusammenarbeit auf allen Gebieten helfen. Das ist das Ziel des vorliegenden Vertrages.
Sosehr Deutschland hier eine Vorreiterrolle übernommen hat, sowenig kann es diese Aufgabe allein erfüllen. Wir zählen darauf, daß sich auch andere westliche Staaten mit vergleichbaren Verträgen an dieser Zusammenarbeit und Hilfe beteiligen.
Der deutsch-sowjetische Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit ist zunächst auf 20 Jahre abgeschlossen. Er weist damit weit in das nächste Jahrhundert hinein. Der umfassende Ansatz bei der Zusammenarbeit entspricht den unverrückbaren Interessen unserer Völker. Jede gemeinsame Aufgabe, die wir gemeinsam lösen, stärkt die neu begründete Partnerschaft. Mit jedem Erfolg bestätigen Deutsche und die Bürger der Sowjetunion gemeinsam, daß die Sowjetunion ein konstitutiver Bestandteil Europas ist. die schicksalhafte Verbundenheit aller Völker Europas schließt die Völker der Sowjetunion mit ein.
Wir wissen heute nicht, wie die verfassungsmäßige Ordnung aussehen wird, die sich die Völker der Sowjetunion künftig geben werden. Sicher ist jedoch, daß die künftige Gestalt freiheitlich und demokratisch sein muß, wenn sie die Hinwendung nach Europa vollziehen soll. Der Weg dahin ist unumkehrbar geworden.
Freiheit und Demokratie wachsen im Austausch der Begegnung. Hierzu eröffnet der „große Vertrag" gute Möglichkeiten. Damit ist er auch ein Beitrag zu Freiheit und Demokratie für die Völker der Sowjetunion. Es ist unser Wunsch, daß alle Menschen und die Völker in unseren beiden Ländern von den vielen Möglichkeiten des Vertrages zu ihrem eigenen Nutzen, aber auch zum Wohl des ganzen Europa reichen Gebrauch machen mögen. Deshalb gehört die Förderung des Jugendaustausches auch zu unseren vordringlichen Zielen. Wir hoffen, daß die Begegnungsmöglichkeiten, die dieser Vertrag eröffnet, auch diejenigen erreicht, die der neuen deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit bislang noch mit Vorbehalten gegenüberstehen. Der Geist, der diesen Vertrag erfüllt, und seine Realisierung mögen sie überzeugen, daß in den deutsch-sowjetischen Beziehungen wirklich eine
neue Ära begonnen hat und daß dieser Vertrag große Chancen für die Völker in beiden Staaten eröffnet.
({2})
Diese Zusammenarbeit soll an die jahrhundertelange fruchtbare Zusammenarbeit unserer Völker anknüpfen. Das Neue an dieser Zusammenarbeit wird sein, daß sie von der breiten Mehrheit der Bürger beider Länder getragen wird und daß sie sich gegen niemanden richtet. Diese Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Sowjetunion dient dem Frieden des ganzen Europa und aller seiner Menschen.
({3})
Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Karsten Voigt.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Beginn der heutigen Aussprache kann ich volle Gemeinsamkeit mit dem Bundesaußenminister feststellen.
({0})
Ich möchte sagen, daß sich diese Zusammenarbeit genauso wie die deutschsowjetische Zusammenarbeit gegen keinen Dritten richtet, weder hier im Saal noch außerhalb des Saales.
({1})
Der von Willy Brandt und Egon Bahr vereinbarte deutsch-sowjetische Vertrag aus dem Jahre 1970 kennzeichnete den Übergang vom Kalten Krieg zur Entspannungspolitik. Das heute zur Ratifizierung vorliegende Vertragswerk kennzeichnet den Übergang von der Entspannungspolitik zum Ende des Ost-West-Konflikts.
Auch im deutsch-sowjetischen Verhältnis ist jetzt die Nachkriegszeit zu Ende. Die Siegerrechte sind erloschen. Das Zeitalter der gleichberechtigten Partnerschaft beginnt. Wir wollen diese Partnerschaft. Wir wollen eine vertrauensvolle, sich ständig vertiefende deusch-sowjetische Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit liegt im Interesse Europas insgesamt. Wir wollen sie in den Dienst einer gemeinsamen Zukunft, einer gemeinsamen europäischen Friedensordnung stellen.
So wie der deutsch-sowjetische Vertrag von 1970 Teil eines Gesamtkonzeptes einer neuen Phase der Ostpolitik war, so bedarf auch dieser Vertrag einer Ergänzung durch eine neue Qualität unserer vertraglichen Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn Polen und der CSFR. Er bedarf auch einer Ergänzung durch eine qualitativ neue Phase der KSZE-Politik. Wir erwarten, daß die künftigen deutsch-polnischen, deutsch-tschechoslowakischen und deutsch-ungarischen Verträge in der Substanz und Perspektive der Zusammenarbeit nicht hinter der deutschsowjetischen Zusammenarbeit zurückbleiben.
({2})
Die deutsch-sowjetischen Verträge müssen ein Modell, sie dürfen kein Sonderfall sein.
Was wir jetzt in Madrid vereinbart haben, nämlich eine gesamteuropäische KSZE-Parlamentarierkonferenz, die ab Juli 1992 erstmalig einmal pro Jahr tagen wird, ist ein erfreulicher Schritt. Er reicht aber nicht aus. Ich fordere weitere Schritte zur Institutionalisierung des KSZE-Prozesses; ich fordere auch eine Öffnung von bisher auf Westeuropa beschränkte Institutionen, nämlich des Europarats, für die Mitarbeit und Mitgliedschaft von osteuropäischen Staaten. Ich fordere ebenso wie der Bundesaußenminister in der Perspektive eine Offenheit der EG für die Vollmitgliedschaft unserer osteuropäischen Nachbarn. Ich begrüße sehr, daß es uns bei der Nordatlantischen Versammlung, also beim NATO-Parlament, endlich gelungen ist, durchzusetzen, daß alle osteuropäischen Staaten, einschließlich der Sowjetunion, das Angebot zu einem assoziierten Mitgliedsstatus erhalten haben. Polen und Ungarn haben dies bereits angenommen; andere werden sicherlich folgen.
Das ist übrigens eine erfreuliche Entwicklung in Richtung auf einen kooperativen Funktionswandel der NATO, den wir immer gefordert haben. Das ist gemeinsame Sicherheit; es muß aber letztendlich über gemeinsame Sicherheit hinausgehen in Richtung auf eine gesamteuropäische Friedensordnung.
Der sogenannte große Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit steht gemeinsam mit dem Vertrag über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik im fünfzigsten Jahr des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion zur Ratifizierung im Bundestag an. Diese schreckliche Vergangenheit ist gemeint, wenn in dem großen Vertrag der Wunsch bekräftigt wird, die Vergangenheit endgültig abzuschließen. Das darf jedoch nicht das Verdrängen und Vergessen des Leidens und der Schrecken des deutschen Angriffskriegs auf die Sowjetunion bedeuten.
Das deutsch-sowjetische Vertragswerk muß vielmehr ein Signal dafür sein, daß es gelungen ist, aus der Geschichte zu lernen, statt auf Konfrontation und gegenseitige Bedrohung zu setzen.
Das Verhältnis zwischen Deutschen und Russen ist im historischen Rückblick stets von besonderem Gewicht für die Gestaltung Europas insgesamt gewesen. Das wird übrigens auch in Zukunft so sein. In der Vergangenheit haben Deutsche und Russen dieses Gewicht mehrmals zum Nachteil des Selbstbestimmungsrechts anderer europäischer Völker eingesetzt. Darunter haben insbesondere Polen und auch die baltischen Staaten leiden müssen. Das darf nie mehr geschehen.
({3})
Wir versichern den anderen Völkern Europas: Dies wird nie mehr geschehen. Wir Deutschen wollen keine deutsch-sowjetische Sonderrolle; wir wollen keine Wiederauflage der Rapallo-Politik; es gibt keinen Hitler und auch keinen Stalin mehr; es wird auch niemals mehr einen Hitler-Stalin-Pakt geben.
Diese Pakte entstanden in der Zeit des übersteigerten Nationalismus in Europa. Diese Zeit liegt für uns
Karsten D. Voigt ({4})
Deutsche hinter uns. Wir bejahen heute unsere Integration in die EG und in multilaterale Sicherheitssysteme. Das vereinigte Deutschland will diese Integration nicht verzögern, sondern beschleunigen.
Heute ergibt sich aber die besondere Verpflichtung und Verantwortung, das deutschsowjetische Verhältnis so zu gestalten, daß es einer wachsenden Zusammenarbeit aller Staaten und Völker Europas dient. Sie selber, Herr Minister, haben von den Reformen innerhalb der Sowjetunion und ihrer Bedeutung für Europa gesprochen. Ich stimme dem zu; denn der Erfolg oder Mißerfolg der Reformen in der Sowjetunion wird nicht nur über die Zukunft der Völker der Sowjetunion entscheiden. Die Entwicklung in der Sowjetunion wird sich positiv oder negativ auf Europa insgesamt auswirken.
Wir wollen einen Erfolg der demokratischen Erneuerung in der Sowjetunion. Eine demokratische Sowjetunion ist auch dann keine Gefahr für Europa, wenn sie stark und mächtig ist. Es liegt deshalb in unserem Interesse, die demokratischen Reformen und die diese Reformen fördernden und fordernden Personen und Gruppen in der Sowjetunion zu unterstützen. Eine demokratische Sowjetunion wird sich Europa öffnen. Die Staaten Europas sollten eine demokratische Sowjetunion in ihren Reihen willkommen heißen.
Aber ich füge auch warnend an die in den letzten Tagen und Wochen in der Sowjetunion lauter werdenden Stimmen einer autoritären Wende hinzu: Eine autoritär regierte Sowjetunion wird von Europa isoliert sein. Autoritäre Regierungen mögen den Widerspruch im Lande zeitweilig unterdrücken können. Die Probleme eines Landes - auch die wirtschaftlichen und erst recht die Nationalitätenprobleme eines Landes - werden autoritäre Regierungen aber nicht lösen können; das wäre eine blanke Illusion. Dies war auch die richtige Erkenntnis von Präsident Gorbatschow, als er gewählt wurde. Wir werden ihn so lange unterstützen, wie er an dieser Erkenntnis festhält.
({5})
Verträge gelten nicht nur für Schönwetterperioden, sie müssen sich gerade auch in schwierigen Perioden bewähren. Wir brauchen eine nüchterne Auseinandersetzung mit den Realitäten und Bedingungen, unter denen sich diese Verträge bewähren müssen. Soll das deutsch-sowjetische Vertragswerk tatsächlich mit Leben erfüllt werden, dürfen wir nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß sich die Sowjetunion in einer krisenhaften Phase befindet. Wir dürfen der Frage nicht ausweichen, wie gerade unter diesen schwierigen Bedingungen die Entfaltung der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion verwirklicht werden kann. Denn wir wollen, daß dieses Vertragswerk mit Leben erfüllt wird und daß es nicht nur Papier bleibt. Deshalb dürfen wir auch die Krise nicht leugnen. Wir dürfen die Lage in der Sowjetunion nicht beschönigen. Aber trotz all dieser Krisen und dieser Schwierigkeiten müssen wir an unserem Willen zur Zusammenarbeit mit der Sowjetunion und mit den Völkern der Sowjetunion festhalten.
In der Sowjetunion entwickeln sich pluralistisch die unterschiedlichsten Kräfte. Wir müssen uns um Zusammenarbeit mit allen Kräften - seien sie konservativ oder progressiv, zentralistisch oder dezentralistisch - bemühen. Es kann hier nicht um eingleisige parteipolitische Sonderbeziehungen gehen. Eine so angelegte vielfältige Zusammenarbeit kann sich auch nicht allein auf die Sowjetunion insgesamt, sie muß sich auch auf die Republiken konzentrieren. Sie wird sich an alle gesellschaftlich relevanten Institutionen wenden müssen: kommunale und gewerkschaftliche Verbände, Genossenschaften und Parteien, aber auch ethnische Gruppierungen und religiöse Gruppen. Wir sollten mit diesen Gruppen partnerschaftlich und ohne Arroganz zusammenarbeiten. Die Behandlung Jelzins im Europaparlament war vom politischen Stil her ein Skandal.
({6})
- An alle Fraktionen, auch an die sozialistische Fraktion,
({7})
und auch an die Leute, die ihn in Straßburg und Paris in dieser Form, unzureichend im Stil und in der Substanz, empfangen haben. Eine solche Behandlung braucht sich kein Ministerpräsident eines Bundeslandes der Bundesrepublik Deutschland gefallen zu lassen, geschweige denn ein Präsident der Republik Rußland.
({8})
Im übrigen war dieses Verhalten gegenüber Jelzin politisch irrational. Denn gerade vorgestern hat sich wieder gezeigt, daß Gorbatschow und Jelzin - ich sage: glücklicherweise - im Interesse der Reformen in der Sowjetunion zur Zusammenarbeit fähig sind. Hoffentlich bleiben sie es.
Unsere Grenze und unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit enden erst dort, wo Kräfte in reaktionärer Weise in die Zeit des Kalten Krieges, in die Zeit des Stalinismus zurück wollen. Grenzen der Zusammenarbeit werden für uns selbstverständlich auch dort gesetzt, wo Gruppen Menschenrechte verletzen oder wo sie zu Gewalt und zur Mißachtung der Menschenrechte aufrufen.
Häufig wird die Forderung artikuliert, die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion an die bedingungslose Übernahme des westlichen Systems durch die Sowjetunion zu knüpfen. Davor ist zu warnen. Die Kulturen und Völker in der Sowjetunion haben eigene Traditionen und Voraussetzungen. Ihr gegenwärtiges Ringen um eine demokratische Umgestaltung ist nicht zuletzt darauf gerichtet, eine eigene Identität zu finden oder zu erneuern. Wir müssen diese Identität respektieren, weil Respekt vor der Vielfalt eine wichtige demokratische Tugend ist. Dieser Respekt vor den Traditionen der Völker der Sowjetunion ist angesichts der ungeheuren Entwicklungsprobleme in der Sowjetunion von zentraler Bedeutung. Wir können sie nicht von außen lösen, doch wir können von außen helfen. Aber die Voraussetzungen zur Hilfe von außen müssen im Innern geschaffen werden.
Karsten D. Voigt ({9})
Der Prozeß der Neuordnung des Verhältnisses zwischen den Republiken in der Sowjetunion ist noch voll im Fluß. Einige Republiken wollen aus der Sowjetunion ausscheiden, und ich sage voraus: Einige werden auch aus der Sowjetunion ausscheiden. Wie sich das Verhältnis zwischen den bleibenden Republiken gestaltet, ist noch offen. Die Verträge, die wir heute beraten, beziehen sich aber auf unser Verhältnis zur Sowjetunion insgesamt. Das ist auch gut so. Aber wir werden mit allen Republiken der Sowjetunion zusammenarbeiten wollen. Hier stellt sich eine besondere Aufgabe und Chance auch für die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland, die als Bundesländer mit den Republiken in der Sowjetunion naturgemäß besonders gut zusammenarbeiten können.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, für oder gegen den Austritt von einzelnen Republiken zu plädieren. Das ist allein die Sache der Völker der Sowjetunion selber. Aber an demokratischen Prozeduren, an der Entscheidungsfindung in diesem Prozeß haben wir ein großes Interesse.
Ich sage deshalb - das ist einer meiner letzten Punkte - in bezug auf die baltischen Staaten, daß sich für uns Deutsche auf Grund des Hitler-Stalin-Paktes eine besondere Verantwortung ergibt. Ich bitte deshalb alle hier im Bundestag vertretenen Parteien, sich eindeutig für das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker, einschließlich des Rechts auf ihre staatliche Unabhängigkeit, einzusetzen.
({10})
Dieses Recht muß friedlich und auf dem Verhandlungswege durchgesetzt werden.
Jetzt, am Schluß, noch zwei Punkte. Der erste Punkt bezieht sich auf die sowjetische Armee. Ich halte die Analysen von einigen Konservativen bei uns im Lande, daß die Armee in der Sowjetunion ausschließlich reaktionär ist, für falsch.
({11})
Die Armee ist in ihrer Zusammensetzung durchaus pluralistisch. Wir sollten uns deshalb auch um die Zusammenarbeit mit ihr bemühen. Die Bundeswehr sollte sich um eine Form der Zusammenarbeit bemühen, die die demokratischen Traditionen in der Armee stärkt.
({12})
Sogar die Kräfte in der sowjetischen Armee, die konservativ sind, sind deshalb nicht automatisch aggressiv. Aus diesem Grunde würde ich davor warnen, aus den konservativen Stimmen innerhalb der Sowjetunion automatisch die Gefahr einer zukünftigen militärischen Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion abzuleiten. Dies ist eine Fehleinschätzung. Es gibt keine sowjetische militärische Bedrohung für Deutschland,
({13})
und das meiner Meinung nach weitgehend unabhängig vom Einfluß der Konservativen innerhalb der Sowjetunion, den ich nicht wünsche. Aber man darf daraus nicht unmittelbar eine militärische Bedrohung ableiten.
Schließlich der zweite Punkt. Wir sprechen hier über Verträge, die wir vereinbart haben. Doch es gibt noch eine Lücke. Das sind die sowjetischen Kriegsopfer und diejenigen, die unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. Da gibt es auch Lücken im deutsch-polnischen Verhältnis. Ich glaube, es steht uns im Jahr des Jubiläums des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion gut an, Regelungen zu finden, die den sowjetischen Kriegsopfern und den sowjetischen Opfern des Nationalsozialismus gerecht werden. Hier gibt es eine Lücke. Hier gibt es noch eine Verpflichtung gegenüber den Völkern der Sowjetunion, aber ich füge hinzu: auch gegenüber unseren östlichen Nachbarn insgesamt.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Karl-Heinz Hornhues.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Wissen um die Vergangenheit, aber geprägt vom Willen, die Zukunft zu gestalten, haben am 9. November 1990, ein Jahr nach Öffnung der Mauer, Helmut Kohl und Michail Gorbatschow die hier zur Beratung anstehenden Bonner Verträge in der Absicht geschlossen, wie der Oberste Sowjet es bei der Ratifizierung der Verträge am 4. März formuliert hat - ich zitiere - , „eine Epoche dauerhaften Friedens sowie einer großangelegten Zusammenarbeit zwischen den Menschen in der Sowjetunion und in Deutschland zu eröffnen".
Das sind sicherlich große Worte. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, bei allen Problemen, die die Umgestaltung, die die Veränderung im mittleren und östlichen Europa, insbesondere in der Sowjetunion, noch mit sich bringen wird: Die Chance war noch nie so groß, aus großen Worten halbwegs auch große Taten werden zu lassen.
Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion wird den heute zur abschließenden Beratung anstehenden Verträgen einmütig zustimmen.
Ich möchte an dieser Stelle Präsident Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl danken. Die Verträge, die wir heute beraten, sind Früchte ihres vertrauensvollen Verhältnisses ebenso wie der intensiven Arbeit des Bundesaußenministers Genscher und seines Partners Schewardnadse. Ich hebe dies hervor, weil ich glaube: Manchmal ist es so, daß Männer - meinetwegen auch Frauen - tatsächlich ein wenig Geschichte machen können.
({0})
- Meine sehr geehrten Damen, ich gebe zu: Bei den vier Genannten steht eindeutig fest, daß keine Frau dabei war.
({1})
Ich kann das leider nicht ändern.
({2})
Wir erwarten von den Regierungen beider Länder - natürlich insbesondere von der eigenen, der Bundesregierung - , daß sie diese Verträge mit Leben erfüllen. Tun sie dies, dann werden wir sie unterstützen. Wir werden sie auch loben.
Der Bundesaußenminister hat für die Bundesregierung noch einmal eine Wertung der Verträge vorgenommen. Meine Kollegen haben dies für die Fraktion bereits in der ersten Beratung getan. Ich will das nicht wiederholen. Ich möchte nur feststellen, daß wir der Bewertung der Verträge durch den Bundesaußenminister zustimmen.
Ich gestatte mir, über einige Punkte zu sprechen, die meines Erachtens nicht überhört und übersehen werden sollten, auch wenn sie nicht unmittelbar im Zentrum des Gegenstands der Verträge stehen.
Wenn die hohen Ziele des Vertrags erreicht werden sollen, dann ist es jenseits aller unserer Bemühungen um staatlich-strukturelle Vernetzungen vor allem wichtig, ein dichtes Netz von persönlichen Beziehungen entstehen zu lassen. Gerade diese zivile Kooperation zwischen den Menschen der beiden Länder schafft Vertrauen.
Insoweit ist durch die große Hilfsbereitschaft unserer Bevölkerung gegenüber den Menschen in der Sowjetunion im letzten Winter bereits ein wichtiger Anfang gemacht worden. Ich danke namens meiner Fraktion all denen, die sich auf diesem Gebiet in besonderer Weise engagiert und spontan, ohne daß man sie gebeten, aufgefordert oder veranlaßt hat, ihre Beziehungen und ihre Bekanntschaften genutzt haben, um zu helfen. Herzlichen Dank dafür!
({3})
Partnerschaften zwischen Städten, Gemeinden, Vereinen, Verbänden, Schulen und Hochschulen in beiden Ländern sind entstanden. Solche Partnerschaften werden, so hoffe ich, in noch größerer Fülle entstehen. Wir danken allen für dieses Engagement und fordern alle auf, zu prüfen, was darüber hinaus getan werden kann.
Da ich gesagt habe, die Verhältnisse der Menschen untereinander bestimmen im wesentlichen auch die Zukunft dieser Verträge, komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der gerade in den letzten Tagen ein wenig Schlagzeilen gemacht hat. Noch auf einige Zeit leben in Deutschland einige Hunderttausende Sowjetbürger, sowjetische Soldaten und ihre Angehörigen. Auf allen Seiten, bei uns wie auch bei vielen Einheiten und Soldaten der Roten Armee, gibt es intensive Bemühungen, die ungewohnte Situation zu meistern, etwa durch Tage der offenen Tür und durch Begegnungen, die früher nicht denkbar waren und nicht stattgefunden haben.
Leider werden diese Bemühungen immer wieder durch einzelne Zwischenfälle überschattet, wie etwa jüngst durch die Schüsse des sowjetischen Wachsoldaten in Altengrabow. Der Verteidigungsausschuß hat gestern - so die Pressemeldung - festgestellt, daß diese Schüsse rechtswidrig und unverantwortlich waren. Wir stimmen dem zu. Wir sollten uns allerdings gemeinsam bemühen, möglichst wenig Anlässe dafür zu schaffen, daß sich ähnliches wiederholt.
({4})
Denn solche Zwischenfälle dürfen die deutsch-sowjetischen Beziehungen nicht nachhaltig belasten. Ich appelliere an alle, trotz dieser und manch anderer Zwischenfälle von unserer Seite und von jener Seite daran festzuhalten, die Phase des Verbleibens der Sowjetbürger in Deutschland dazu zu nutzen, daß diese mit freundlichen und freundschaftlichen Gefühlen und mit einer guten Erinnerung an ihre Zeit in Deutschland, vor allem an ihre letzte Zeit, in ihre Heimat zurückkehren.
({5})
In Verbindung mit den Verträgen und mit der Entwicklung in der Sowjetunion und trotz aller Schwierigkeiten, die diese Prozesse noch mit sich bringen werden, hat sich etwas eröffnet, was vor kurzem in dieser Dimension für uns fast unvorstellbar war, nämlich Chancen und Möglichkeiten eines Kulturdialogs, auswärtiger Kulturbeziehungen und einer auswärtigen Kulturpolitik, die, wenn ich mich an unsere Diskussionen über diesbezügliche Bemühungen vor zwei oder drei Jahren erinnere, fast sensationell zu nennen sind. In den Berichten der Bundesregierung zur auswärtigen Kulturpolitik hieß es in schöner Regelmäßigkeit, daß z. B. in der Welt außerhalb des deutschen Sprachraums etwa 15 Millionen Menschen Deutsch lernen, davon 10 Millionen allein in der Sowjetunion. Damit war dieses Kapitel allerdings bereits abgehakt. Die nächsten 100 Seiten beschäftigten sich mit den übrigen Millionen. Für jene 10 Millionen hatte man in dem Bericht keinen Platz, da auch keine Chance bestand, sich mit ihnen und ihrem Hunger nach Wissen und nach kulturellem Austausch zu befassen. Jetzt haben wir auf diesem Sektor Chancen ohnegleichen.
Wir haben eine radikal veränderte Situation. Der Hunger nach geistigem Austausch, vor allem in der Sowjetunion, aber auch in den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas ist riesig. Ich hoffe, daß wir den Erwartungen gerecht werden können. Der Herr Kollege Köhler wird dazu gesonderte Anmerkungen machen.
Ein besonderer Aspekt der deutsch-sowjetischen Beziehungen, auch in diesem Vertrag, ist die Lage der Deutschen in der Sowjetunion. Der sogenannte große Vertrag sichert den Sowjetdeutschen, den Sowjetbürgern deutscher Nationalität, das Recht auf die Entfaltung ihrer eigenen sprachlichen und kulturellen Identität zu. Unsere Unterstützung dieser Sowjetbürger, genau dies nun zu realisieren und in Anspruch zu nehmen, ist für uns ein wichtiges Anliegen.
Die aktuelle Diskussion in der Sowjetunion, insbesondere die Überlegung in der Russischen Föderation über eine mögliche Wiedererrichtung einer autono1480
men Wolga-Republik oder anderer autonomer Gebiete, verfolgen wir mit besonders großem Interesse.
Wir möchten im Einverständnis mit unseren sowjetischen Partnern mitwirken, daß diese Sowjetbürger deutscher Nationalität dort für sich eine Perspektive sehen, wo sie leben, und wir wollen helfen, daß sie nicht mehr und mehr nur bei uns Hoffnung suchen können.
Erwähnt wurden schon - der Kollege Kittelmann wird es aufgreifen; wir haben noch einen Vertrag vorliegen - die hochgesteckten Erwartungen, die uns in der Sowjetunion bezüglich der wirtschaftlich-technischen Zusammenarbeit begegnen. Ich habe oft die Sorge, daß diese Erwartungen so hoch sind, daß wir sie nur schwerlich werden erfüllen können.
Daher sollte unser besonderes Interesse unverändert darauf gerichtet sein, die Aufmerksamkeit unserer Partner in der EG, aber auch die Aufmerksamkeit Japans und Nordamerikas immer wieder darauf zu lenken, daß ein Fortgang der Reformen hin zur Marktwirtschaft und Festigung der Demokratie in der Sowjetunion zutiefst unser gemeinsames Interesse ist, das gemeinsame Anstrengungen notwendig macht und sinnvoll erscheinen läßt.
Die heute zur Ratifizierung anstehenden Verträge sind Teil der Vernetzung der Sowjetunion mit Europa. So könnte man es sehen, und so ist es in der ersten Debatte über diese Verträge von Kollegen formuliert worden. Dies belegen ähnliche Verträge, die die Sowjetunion mit anderen westeuropäischen Ländern geschlossen hat, ebenso wie die Charta von Paris. Die Sowjetunion hat - das liegt auf der Hand - ein deutliches Interesse daran, daß auch ihr Sicherheitsinteresse künftig in einem europäischen Zusammenhang Berücksichtigung erfährt.
Dies findet in gewisser Weise auch im Art. 3 des großen Vertrags seinen Niederschlag, wenn über die besonderen Verhältnisse zwischen uns und der Sowjetunion die Rede ist; Nichtangriff sei hier nur als Stichwort genannt. Aber auch die mittel- und osteuropäischen Länder Polen, Ungarn und die CSFR wollen nicht in einem sicherheitspolitischen Niemandsland leben. Sie suchen - das war ein Diskussionspunkt in den letzten Tagen und Wochen - Anlehnung an uns, an den westlichen Demokratien, denen sie sich zugehörig fühlen.
Die deutsche Außenpolitik muß deshalb im Verbund oder gemeinsam mit unseren Verbündeten über Wege und Lösungen nachdenken, die den Sicherheitsinteressen Mittel- und Osteuropas, der genannten Länder wie der Sowjetunion, gleichermaßen entgegenzukommen versuchen.
Dem Wunsch der mittel- und osteuropäischen Länder Polen, Ungarn und Tschechoslowakei nach Anbindung an die Atlantische Allianz oder an die Westeuropäische Union in irgendeiner Form können wir - das ist meine Überzeugung - auf Dauer nicht ein mehr oder minder phantasieloses Nein entgegenhalten. Wir können diesen Staaten, die nach neuer Sicherheit oder überhaupt nach Sicherheit in Europa suchen, die sich an uns anlehnen wollen, die Tür nicht auf Dauer versperrt halten, zumal da wir oft betont haben, was wir ihnen verdanken.
Mit Blick auf die Sowjetunion muß vor allem die KSZE für Gesamteuropa übergreifende Strukturen schaffen. Heute streben wir nicht mehr Sicherheit voreinander, sondern Sicherheit miteinander an. Der KSZE-Prozeß hat wichtige Voraussetzungen und Organe inzwischen zur Konfliktregelung geschaffen. Ich hoffe, daß weitere folgen werden und sich dies weiterentwickeln wird. Ich begrüße, daß sich die parlamentarische Begleitung der KSZE nun institutionalisiert. Ich habe das im November gefordert. Ich könnte also stolz sagen, meiner Forderung ist man nachgekommen. Aber ich glaube, das haben auch noch ein paar andere gefordert. Um der Bescheidenheit willen sei dies angemerkt.
({6})
- Ja, das stimmt. Immerhin bestätigen Sie damit, daß ich es gefordert habe.
Die Überwindung der ideologischen Gegensätze zwischen Ost und West hat den Weg für völlig neue Entwicklungen in Europa freigemacht. Deshalb müssen und können wir weitere Anstrengungen um Abrüstung und Vertrauensbildung unternehmen.
Das große Schlüsselwort dabei ist allerdings unverändert „Vertrauen". Im Vertrauen auf weitere erfolgreiche Abrüstungsschritte in Europa haben wir beim Gesamtnetz der Verträge im Zwei-plus-Vier-Vertrag einer Vorabreduzierung der Bundeswehr zugestimmt, auch im Vertrauen darauf, daß Verträge, die schon geschlossen waren oder noch geschlossen werden sollten, geschlossen werden und dann, wenn sie geschlossen sind, nach Buchstaben und Geist gehalten werden.
Daher wäre es in besonderer Weise vertrauensbildend, wenn die Sowjetunion baldmöglichst die Korrekturen einleitete, die erforderlich sind, um eine Ratifizierung des Vertrages über konventionelle Abrüstung in Europa zu ermöglichen.
({7})
Wir sind sicher, daß dies bald geschehen wird. Denn eine rationale Analyse ergibt, daß dies nicht nur in unserem Interesse liegt, sondern zutiefst auch das Interesse der Sowjetunion ist, wenn sie genau bedenkt, um was es im Gesamtzusammenhang geht.
({8})
Ich habe mit der Anmerkung begonnen, daß diese Bonner Verträge, die wir heute abschließend beraten, von großen Worten begleitet waren und wohl auch weiterhin sind. Wir wünschen uns und unseren Vertragspartnern Erfolg bei dem weiteren Weg zu mehr Freiheit, zu mehr Marktwirtschaft, zu mehr Demokratie.
({9})
Wir hoffen, daß es möglich wird, etwa den Wunsch der baltischen Völker nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zu realisieren.
({10})
Wir wollen tun, was wir können, um im Sinne dieser Verträge, die wir schließen, eine möglichst erfolgreiche Zusammenarbeit zu gewährleisten.
Der Oberste Sowjet - so hatte ich begonnen - , hat am 4. März 1991 erklärt, daß sich mit der Ratifizierung
- dies sei seine Erwartung an die Verträge - eine Epoche dauerhaften Friedens sowie einer großangelegten Zusammenarbeit zwischen den Menschen in der Sowjetunion und Deutschland eröffnen möge.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte, daß genau dieser Wunsch Wirklichkeit wird. Wir versichern den Vertragspartnern, den Menschen in der Sowjetunion, daß wir das Unsrige tun werden, damit dieser Wunsch Wirklichkeit wird.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Abgeordnete Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch Bündnis 90/ GRÜNE begrüßen prinzipiell die beiden Verträge, die uns heute zur Schlußabstimmung vorliegen. Wir anerkennen die Bereitschaft beider Staaten, die sich früher in gegenseitiger Konfrontation befanden, sich auf neue Beziehungen miteinander einzulassen, und teilen den Wunsch nach endgültigem Gewaltverzicht, nach Verständigung und Zusammenarbeit.
Die heutige Debatte könnte also Ausdruck des Wohlgefallens und der allseitigen Zufriedenheit sein
- zumal da es zwischen allen Fraktionen eine große Übereinstimmung gegeben hat - , wäre da nicht die Tatsache, daß sich in den letzten Monaten die allzu optimistische Sicht auf die Zukunft des gemeinsamen europäischen Hauses etwas getrübt hat. Das liegt zum einen daran, daß die Euphorie vieler Mitbürger
- darunter mancher Politiker - verflogen ist, die Probleme der ehemaligen DDR könnten in kürzester Zeit gelöst sein.
({0})
- Das haben viele geglaubt, auch von Ihnen.
({1})
Statt dessen neigen viele zu Ohnmacht und Resignation; andere machen sich Sorgen, daß sie die Kosten in
einem für sie nicht zumutbaren Maß tragen müssen.
In engem Zusammenhang damit steht die Feststellung, daß auch die Beendigung der europäischen Teilung wohl erheblich länger brauchen wird, als wir dies ursprünglich gehofft haben. Zwar gibt es ermutigende Signale wie die Einführung der Visafreiheit von und nach Polen und der partielle Schuldenerlaß für dieses Nachbarland. Trotzdem reicht die Hilfsbereitschaft des Westens für die kleineren Länder Ost- und Ostmitteleuropas nicht aus und wird deren Wunsch nach Zusammenarbeit immer noch sehr zögernd begegnet.
Schließlich bietet die explosive Situation in den Großstaaten des einstigen Imperiums - und das betrifft ungeachtet aller Verschiedenheit sowohl die Sowjetunion als auch Jugoslawien - den allergrößten Anlaß zur Sorge. Die alte Ost-West-Konfrontation ist abgebaut, die Konfliktherde aber bleiben bestehen und die nächste weltpolitische Krise scheint programmiert zu sein.
Ungeachtet der begrüßenswerten Verträge dürfen wir uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Sowjetunion die konservativen Kräfte aus dem Parteiapparat und dem militärisch-industriellen Komplex wieder stärker geworden sind und zum Teil ganz offen eine Restauration der Verhältnisse anstreben, daß Gorbatschow, der einstige Vorkämpfer für Glasnost und Perestroika, hilflos zwischen den verschiedenen Positionen manövriert, das Westimperium selbst um den Preis militärischer Gewalt zusammenzuhalten versucht hat und immer mehr an Vertrauen verloren hat, daß die neuen demokratischen Kräfte zwar vorhanden sind, ihre Schwäche aber unverkennbar ist, daß der gegenwärtig drohende Ausnahmezustand nur mit einem Krisenprogramm abwendbar ist, das zugleich kontraproduktiv allen Erfordernissen der Wirtschaftsreform entgegensteht.
Was also, könnte man fragen, nützen die beiderseits gutgemeinten Verträge, wenn angesichts der fundamentalen Krise in der Sowjetunion unklar ist, wer denn überhaupt der dortige Partner ist, wenn es darum geht, die Verträge mit Leben zu erfüllen?
Die Verträge stützen sich auf zwei Prinzipien: zum einen auf den Gewaltverzicht und die Achtung der territorialen Integrität, zum anderen auf die Achtung der Menschenrechte, die in den Dokumenten der UNO und der KSZE niedergelegt sind. Beides ist grundsätzlich unterstützenswert.
Ratlosigkeit aber befällt uns, wenn sich, wie es in der Sowjetunion geschieht, die beiden Prinzipien widersprechen, wenn dort um der Menschenrechte willen die territoriale Integrität in Frage gestellt und die Lösung aus dem Staatsverband angestrebt wird. Das geschieht inzwischen nicht mehr nur im Baltikum, sondern in den meisten Sowjetrepubliken.
Die Frage ist also: Wie soll sich der Westen verhalten? Wie soll im besonderen die Bundesrepublik dazu beitragen, daß es nicht bei Erklärungen der Absicht zur Zusammenarbeit bleibt? Vielleicht können gerade ehemalige DDR-Bürger, die in Opposition zum System standen, einige sinnvolle Anmerkungen dazu machen. Wenngleich wir uns seinerzeit in einer weniger dramatischen Situation als der befanden, in der heute die Sowjetbürger sind, bleibt festzustellen, daß westliche Politik bislang immer nur unzureichend oder zu spät auf veränderte Verhältnisse im Osten eingegangen ist, daß insbesondere die noch schwachen demokratischen Kräfte kaum unterstützt wurden, daß alle vormaligen Bundesregierungen Kontakte zur DDR-Opposition vermieden, andererseits aber auf Grund der scheinbar stabilen Realpolitik der SED deren Position tatsächlich zu stabilisieren halfen.
Manchmal habe ich immer noch das Gefühl, daß Honecker seinerzeit in der alten Bundesrepublik aufmerksamer zugehört wurde, als seinen Widersachern heutzutage zugehört wird und daß dieser bedauerli1482
che Irrtum gegenwärtig von der alten und neuen Bundesregierung verdrängt wird; denn anderenfalls hätte sie größere Anstrengungen unternehmen müssen, um Honecker aus der Sowjetunion zurückzuholen. Auch das muß erwähnt werden, wenn wir heute über die neuen Verträge reden.
({2})
Solche Berührungsprobleme hatte der Westen nicht nur mit der DDR-Opposition; es gab sie in ähnlicher Weise mit den unvergleichlich stärkeren demokratischen Bewegungen in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten. Als Beispiel sei die polnische Solidarnosc genannt.
Aus heutiger Sicht muß als ein Ergebnis der westlichen Politik bzw. deren Mangels an Sensibilität angesehen werden, daß die von Gierek und Nachfolgern um der Stabilisierung ihrer Herrschaft willen aufgenommenen Kredite die Lage der Polen keineswegs erleichterte, sondern sie im Gegenteil nur komplizierter machte und daß heute gerade diejenigen, die das Regime bekämpften, die Folgen zu tragen haben. Überdies haben westliche Berührungsängste mit dazu beigetragen, daß diejenigen, die jetzt die Verantwortung in den mittel- und osteuropäischen Ländern tragen, auf diese Aufgabe so wenig vorbereitet sind.
Akzeptierte der Westen eine sich aus den früheren Fehlern ableitende Mitverantwortung für diverse schwer lösbare Probleme und mancherlei Hilflosigkeit im Osten, so ergäbe sich daraus immerhin die Chance, ähnliche Fehler nicht ein weiteres Mal zu machen. Angesichts der bürgerkriegsnahen Zustände in der Sowjetunion können wir uns solche Fehler nicht mehr leisten.
Unseres Erachtens sind das Auseinanderbrechen der zentralistisch geführten UdSSR und ihre Umwandlung in eine Föderation gleichberechtigter Republiken oder eine noch losere Verbindung miteinander kooperierender unabhängiger Staaten nicht aufzuhalten. Zu tief sind die Wunden, die der Stalinismus geschlagen hat, und zu tief geht die wirtschaftliche Krise, als daß sich der Wunsch nach Autonomie revidieren ließe. Jedes Zaudern des Westens wird die Krise nur vertiefen und den Weg zu einer gleichberechtigten wirtschaftlichen Zusammenarbeit schwerer gangbar machen.
Verträge mit der Regierung der UdSSR dürfen uns nicht daran hindern, die Regierungen und Parlamente der einzelnen Republiken als unsere Partner ernst zu nehmen, was nicht ausschließt, Kritik an Menschenrechtsverletzungen durch Regierungen einzelner Republiken genauso zu üben wie dann, wenn sie durch die Zentrale zu verantworten sind.
({3})
Der Priorität von Demokratie und Menschenrechten muß in jedem Fall Rechnung getragen werden. Dabei bleibt das Prinzip des Gewaltverzichts von zentraler Bedeutung.
Langfristig kann der Ausbau der KSZE-Institutionen zur Lösung der Konflikte beitragen. An ihm sollte sich die Bundesrepublik sehr intensiv beteiligen.
Vorerst aber müssen wir mit den bestehenden Möglichkeiten auskommen. Da bietet nicht eine bedingungslose Unterstützung der Zentrale die größere Chance, sondern die Partnerschaft mit den Einzelrepubliken, die sich ja im übrigen in den letzten Monaten als untereinander kooperationsfähig erwiesen haben.
Um die Verträge in der Praxis konsequent umzusetzen, reicht es aber nicht, die jeweiligen Regierungen als Partner anzunehmen; dazu gehören auch die verschiedenen demokratischen Bewegungen, die sich inzwischen in den Sowjetrepubliken formiert haben. Wenngleich sie mitunter noch schwach sind und noch nicht über ausreichende Konzepte zur Krisenbewältigung verfügen, hätte ihre Unterstützung durch den Westen eine Signalwirkung im Sinne der Vermeidung von Gewalt beim Übergang in ein neues System.
Momentan gibt es von mehreren Seiten Forderungen nach einem Runden Tisch für die Sowjetunion. Die Runden Tische z. B. in Polen und in der ehemaligen DDR sind ein wichtiges Instrument zur Beseitigung der alten Herrschaftsverhältnisse gewesen. Eine ähnliche Konstellation könnte auch in der Sowjetunion zur Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses entstehen; sie sollte unser aller Unterstützung haben.
Schließlich gehört es zur inhaltlichen Gestaltung der Verträge, die Kommunen zu unterstützen, direkte Kontakte aufzunehmen und beispielsweise Städtepartnerschaften und ähnliches anzuregen.
In die Aktivitäten der Kommunen könnten die noch in der ehemaligen DDR stationierten Soldaten der sowjetischen Streitkräfte einbezogen werden. Die vielfältigen Formen der Zusammenarbeit von nichtstaatlichen Organisationen und Initiativen sollten ebenfalls gefördert werden. Ansätze dazu gibt es bereits. Ich nenne als Beispiel den eingetragenen Verein „Kinder von Tschernobyl" . Es gibt ihn in Berlin, und es gibt sein Pendant in Minsk.
Abschließend erwähne ich noch ein Problem, über das wir bereits in der ersten Beratung gesprochen haben, nämlich die Entschädigungsleistungen für die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen. Sie bzw. ihre Nachkommen leben in allen Sowjetrepubliken. Es ist allerhöchste Zeit, angemessene Regelungen zu finden, wie es mit anderen Ländern bereits geschehen ist.
Je geringer die Bürde der Altlasten ist, desto größer wird die Chance für eine erfolgreiche Umsetzung der neuen Verträge.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im November 1990 habe ich nach sehr konstruktiven Verhandlungen den Wirtschafts- und Wissenschaftsvertrag mit Ministerpräsident Sitarjan paraphiert.
Ich möchte nach der außenpolitischen Runde etwas zur ökonomischen und wissenschaftlichen Seite der
Beziehungen unserer beiden Länder sagen. Gerade aus sowjetischer Sicht ist dieser 20jährige, langfristige Vertrag von herausragender Bedeutung für die derzeitig sehr schwierigen ökonomischen und damit auch sozialen Reformbemühungen der Sowjetunion.
Die Erwartungen unserer sowjetischen Partner an die deutsche Politik und an die deutsche Wirtschaft in bezug auf unsere Hilfsmöglichkeiten empfindet man persönlich oft als fast erdrückend. Sie bieten aus meiner Sicht für uns Deutsche aber auch die einzigartige historische Chance, an die guten, wertvollen und fruchtbaren Zeiten im Verhältnis zwischen unseren Völkern anzuknüpfen.
({0})
Dieser große Vertrag ist langfristig - auf 20 Jahre - angelegt. Er bringt die besondere Bedeutung des nun vereinigten Deutschlands als d e s Wirtschaftspartners der Sowjetunion zum Ausdruck. Die ehemalige DDR war schon im RGW-System der wichtigste Partner; die alte Bundesrepublik war im EG-System der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner. Das nunmehr vereinigte Deutschland ist für die Sowjetunion mit ganz großem Abstand d e r ökonomische und wissenschaftliche Partner. Mit großem Abstand folgt Polen. Dies erklärt die Bedeutung des Vertrags.
({1})
Der Vertrag ist aber auch kurzfristig von allergrößter Bedeutung für die derzeitige soziale Lage in den neuen Bundesländern. Ganz entscheidend ist, daß wir Politiker, aber auch die deutsche Wirtschaft in den traditionellen Lieferbeziehungen zwischen den ostdeutschen Lieferanten und den sowjetischen Abnehmern keinen Fadenriß zulassen.
({2})
Man kann im Interesse der Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern der Regierung nur weiteres Standvermögen bei den Bemühungen wünschen, die Zusagen von Ministerpräsident Pawlow nun auch durchzusetzen. Die erst heute wieder bekanntgewordenen großen Zahlungsverzögerungen im deutschsowjetischen Wirtschafts- und Zahlungsverkehr sind kein gutes Omen.
({3})
Ich halte sie aber für überwindbar; denn die riesigen Energie- und Rohstoffvorräte bieten große Chancen für die Sowjetunion, diese Devisenzahlungen leisten zu können.
Vergessen wir nicht - dabei knüpfe ich an die Ausführungen Herrn Außenminister Genschers an -: Auch das vereinigte Deutschland allein wäre bei den gigantischen ökonomischen Reformprozessen in der Sowjetunion überfordert. Mehr denn je kommt es auf internationale, auf multilaterale Reformhilfen an. Neben der Europäischen Gemeinschaft müssen daher, wie vereinbart, die Teilnehmer des Weltwirtschaftsgipfels, insbesondere die USA und vor allem Japan, ihrer weltpolitischen, aber auch ihrer weltökonomischen Verantwortung gerecht werden.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit ist aus der Sicht der Freien Demokraten jedenfalls mehr denn je Friedenspolitik. „Manager statt Generäle" wird die Devise der Zukunft sein. Es erfüllt mich persönlich mit Stolz, an diesem Vertrag mitgewirkt zu haben.
Die Freien Demokraten bitten um Ihre Zustimmung.
({4})
Als nächster hat der Abgeordnete Dr. Hans Modrow das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach Auffassung der PDS/Linke Liste eröffnen die heute zur Ratifizierung vorliegenden Verträge den Weg zur Herstellung und zum Ausbau guter Nachbarschaft, kooperativer Partnerschaft und allseitiger Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR. Sie enthalten zugleich Elemente wie das Verbot jeden Krieges, das Gebot der Friedensgestaltung, die Unverletzlichkeit der Grenzen aller Staaten in Europa heute und in Zukunft sowie die Verpflichtung zum Nichtangriff, aus denen zugleich wesentliche Impulse für ein friedliches Europa, für ein System gemeinsamer Sicherheit erwachsen können.
Mit dem Anspruch auf Frieden und europäische Sicherheit wächst die Bedeutung dieser Verträge noch erheblich. Die PDS/Linke Liste erteilt deshalb den Gesetzesvorlagen ihre volle Zustimmung und sieht sich hier in Übereinstimmung mit der Regierung.
In einer Zeit, da Vertrauen in der internationalen Politik und mehr noch im Verhältnis zur Sowjetunion ein besonders wertvolles Gut ist, können sie dieses Vertrauen stärken und zur internationalen Stabilität beitragen. Unabdingbar dafür ist, daß der bei den Verträgen gesetzte Rahmen zielstrebig ausgefüllt und mit Leben angereichert wird.
Die deutsch-sowjetischen Beziehungen hatten schon immer einen historischen Charakter. Heute gilt das mehr denn je, und zwar ungeachtet dessen, wie sich die innere Entwicklung in der Sowjetunion auch gestalten mag. Die Sowjetunion ist und bleibt eine Weltmacht, die auf die Geschicke Europas und damit Deutschlands maßgeblich Einfluß hat. Jeder falsche Schritt muß zu neuen Problemen führen und Zuspitzungen hervorrufen.
Wenn eine Lehre aus der Geschichte zu ziehen ist, so wohl diese: Noch niemandem und zu keiner Zeit hat es genutzt, mit der vermeintlichen Schwäche Rußlands oder der Sowjetunion zu spekulieren. Geschah es dennoch, wurde letztendlich ein hoher Preis an Menschenleben wie auch an materiellen Verlusten gezahlt.
Immer wird von der Brückenfunktion des vereinten Deutschlands zwischen Ost und West gesprochen. Dies wird mit Recht hervorgehoben; das findet unsere Unterstützung. Tragfähige Pfeiler für diese Brücke, um im Bild zu bleiben, sollten sein: Versöhnung und Vertrauen zwischen unseren Völkern, wirtschaftliche Partnerschaft, wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, kulturelle Beziehungen und menschliche
Nähe, die freundschaftliche Beziehungen gestalten läßt.
Die PDS/Linke Liste spricht sich dafür aus, dabei weder Anstrengungen noch Mühe zu scheuen, und bietet zugleich ihre aktive Mitarbeit an, dies um so mehr, als in den neuen Bundesländern im Verlauf von 40 Jahren ein dichtes Netz vielfältiger kooperativer Beziehungen auf allen Gebieten zur UdSSR entstanden ist. Die ehemalige DDR war mit Abstand größter Außenhandelspartner der UdSSR. Hier gilt es, weitere unzählige persönliche Verbindungen in gemeinsam gewachsener Landes- und Spezialkenntnis zu nutzen und sie nicht in den Zerreißwolf der Abwicklung zu stecken, sondern sie im wahrsten Sinne des Wortes gewinnbringend einzusetzen.
Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, getragen von Milliardenkrediten, bedeutet für die ostdeutsche Industrie Aufträge; nur sie können Arbeitsplätze sichern. Es macht keinen Sinn, viele Milliarden in die neuen Bundesländer zu pumpen, sie aber gleichzeitig des Großteils ihres äußeren Absatzmarktes und ihrer Märkte im Osten zu berauben. Hier liegt doch eine echte Chance zur Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung im Osten wie im Westen Deutschlands und eine einmalige Möglichkeit, die Beziehung zur Sowjetunion zum gegenseitigen Vorteil neu zu gestalten.
Ein tragfähiger Pfeiler für die Brücke zwischen Ost und West entsteht, wenn die Verantwortung beider Staaten für Frieden und Abrüstung, für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit gemeinsam wahrgenommen wird. In dieser Hinsicht sollte keine Möglichkeit ungenutzt bleiben, um gemeinsam mit der Sowjetunion dazu beizutragen, daß eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung einschließlich stabiler Sicherheitsstrukturen entsteht. Die Bundesrepublik sollte ihren Einfluß vor allem dahin gehend verstärken, daß sich westeuropäische Organisationen und Gremien verstärkt der partnerschaftlichen Zusammenarbeit gegenüber der Sowjetunion wie auch den anderen osteuropäischen Ländern öffnen und daß vor allem durch den KSZE-Prozeß gesamteuropäische Institutionen befördert werden, wie das auch in den Bestrebungen, die Kollege Karsten Voigt hier darstellte, zum Ausdruck kommt.
Die Gestaltung des schicksalhaften Verhältnisses zwischen unseren beiden Staaten ist nicht nur Sache der Bundesregierung. Eine besondere Verantwortung dafür trägt auch das Parlament. Der deutschen Seite kommt dabei entgegen, daß die gegenwärtige sowjetische Führung in besonderem Maße eine gute Beziehung zur Bundesrepublik auf allen Ebenen und nach allen Seiten entfaltet, sich sehr daran interessiert zeigt. Es verdient aber höchste Aufmerksamkeit seitens des Bundestages, daß nicht nur wir mit Recht auf Probleme in der Sowjetunion und dabei auch auf die Gestaltung unserer Beziehungen zur UdSSR verweisen. Auch die sowjetische Seite weist auf sie beunruhigende Momente in den Beziehungen zu uns hin.
Das gilt erstens für das Problem der Endgültigkeit der Grenzen. Wenn ein neues Kapitel enger und wirkungsvoller Freundschaft und Kooperation zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion aufgeschlagen werden soll, dann ist die strikte
Einhaltung von Art. 2 des Partnerschaftsvertrages in all seinen Aspekten von besonderer Bedeutung. Es ist deshalb dringend notwendig, Art. 116 des Grundgesetzes in Übereinstimmung mit Art. 1 des Vertrages vom 12. September 1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland zu bringen. Die Außengrenzen des vereinigten Deutschlands sind die Grenzen der ehemaligen Bundesrepublik und der ehemaligen DDR. Sie sind endgültig. Das vereinigte Deutschland hat keinerlei Gebietsansprüche gegen andere Staaten und wird solche auch in Zukunft nicht erheben. Wer das nicht eindeutig klarstellt, der wird zur Aussöhnung nicht beitragen und sie unmöglich machen.
Zum zweiten gilt das für das Verhältnis zu den noch bis 1994 in der ehemaligen DDR stationierten sowjetischen Einheiten. Die rechtlichen Fragen sind geklärt. Die Praxis aber zeigt, daß deshalb Zwischenfälle nicht ausgeschlossen sind. Diese Frage wird, so subtil sie ist, ohne angeheizte Emotionen immer im Auge zu behalten sein. Geboten ist ein verantwortungsbewußtes Umgehen mit dieser Frage, vernünftige Klärungen in jedem einzelnen Fall herbeizuführen, auch wenn dabei bestimmte Überreaktionen eine Rolle spielen mögen. Im Verhältnis zu diesen Fragen liegt auch ein Prüfstein für unsere Bereitschaft, diese Beziehung wirklich auf eine humane und freundschaftliche Grundlage zu stellen.
Ein Drittes will ich sagen. Denn hierzu hat sich ein Sprecher des sowjetischen Außenministeriums unlängst geäußert. Es gilt, alle Versuche, ehemalige DDR-Bürger wegen ihrer politischen Überzeugung zu diskriminieren und ausgrenzen zu wollen, zurückzuweisen. Nach vielfältig erlebten Unterstellungen, gepaart mit völliger Ignoranz gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge, weiß ich, wovon ich spreche. Ich trage auf einer bestimmten Ebene Mitverantwortung für vierzig Jahre DDR und habe als ehemaliger Ministerpräsident dieses Staates in einer Regierung der großen Koalition und der nationalen Verantwortung gewirkt. Die Arbeit dieser Regierung ist ebenfalls Teil der Geschichte der DDR. Sie war bereits Teil eines neuen Verhältnisses zur Sowjetunion.
Bei der Ausgrenzung Andersdenkender und beim faktischen Berufsverbot, die zum Teil gesetzeswidrige Formen annehmen, geht es um viele hunderttausend Menschen. Man hat zwar als Eckpfeiler der Politik Demokratie, Pluralismus und Schutz der Rechte und der Würde der menschlichen Persönlichkeit verkündet, durch undifferenzierten Umgang mit der Vergangenheit und eingeschränkte Toleranz ist der innere Frieden aber nicht zu gewinnen.
Ein letztes Wort. In wenigen Wochen jährt sich zum 50. Mal der Tag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion. Ich selber habe vier Monate in diesem unsäglichen Volkssturm gedient und kenne das Schicksal des Endes des Krieges aus persönlichem Erleben. Ich weiß, wie notwendig es ist, Aussöhnung zu schaffen. Mit diesen Verträgen besteht die Chance, nicht nur die Kriegs- und Nachkriegszeit wirklich abzuschließen, sondern den Grundstein für ein völlig neues Verhältnis zwischen unseren Staaten, für die Aussöhnung der Völker zu legen. In diesem Sinne ist
die PDS/Linke Liste bereit, das Ihre zu tun, damit diese Verträge durch eine ehrliche, vertrauensvolle und gute Nachbarschaft gestaltende Arbeit der Politik der Freundschaft und der Zusammenarbeit nützlich sind.
({0})
Das Wort hat der Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Herr Beckmann.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Modrow, ich denke, es ist schon ziemlich dreist von Ihnen, wenn Sie in bezug auf die Bundesrepublik Deutschland von eingeschränkter Toleranz sprechen.
({0})
Vierzig Jahre lang werden hier Pluralismus und Demokratie praktiziert. Sie haben an einem genau entgegengesetzten System mitgewirkt. Diese Vorhaltung brauchen wir uns hier nicht machen zu lassen.
({1})
- Herr Kollege Voigt, auch das muß gesagt werden: Wir sind hier ein Forum, in dem die Meinungen offen ausgetragen werden. Ich denke schon, daß wir hier alle so offen miteinander umgehen, daß wir das, was uns als Parlamentarier bewegt, auch offen aussprechen können, ohne daß es von verschiedenen Seiten in Sachzwänge oder Überlegungen eingezwängt wird, die vielleicht nicht so sehr von der Einsicht bestimmt sind.
({2})
Lassen Sie mich bitte noch zum Thema kommen: Vor der Vereinigung, meine Damen und Herren -
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Professor Heuer?
Frau Präsidentin, ich möchte eigentlich gerne erst meinen Sachbeitrag begonnen haben, bevor eine Frage zum Thema kommt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß er dazu kommt.
({0})
- Herr Kollege Voigt, ich verstehe ja, daß Sie Ihren Kollegen von der PDS unterstützen.
({1})
- Deswegen möchte ich auch gerne, Frau Präsidentin, dem Herrn Abgeordneten zu seiner Frage die Gelegenheit geben. Bitte schön.
Bitte, Herr Heuer, Sie können jetzt fragen.
({0})
Sie sagten eben, daß alle die Befindlichkeit vortragen dürften, in der sie seien. Beziehen Sie das auch auf Abgeordnete der PDS? ({0})
Herr Voigt, wie Sie immer wieder bereitwillig die PDS unterstützen, ist schon bezeichnend.
({0})
Das Wort hat der Staatssekretär Beckmann zu seiner Antwort.
Herr Kollege, selbstverständlich kann hier von diesen Rostra herab jeder das sagen, was er für richtig hält und was er denkt. Das ist doch selbstverständlich. Und davon kann man auch Gebrauch machen. Aber niemand darf sich wundern, wenn er für das, was er gesagt hat, auch in Anspruch genommen und kritisiert wird.
({0}) Das ist doch selbstverständlich.
({1})
- Wenn Sie nicht so viel dazwischenredeten, wäre ich schon längst beim Sachbeitrag.
An Sie wird eine weitere Frage gerichtet, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken gestatten.
Frau Präsidentin, ich möchte jetzt zum Thema kommen.
Vor der Vereinigung waren die Bundesrepublik Deutschland der bedeutendste Welthandelspartner der Sowjetunion, die ehemalige DDR der wichtigste Partner der Sowjetunion im RGW-Bereich. Nun verbietet sich aber angesichts der veränderten Voraussetzungen eine schlichte Addition dieser beiden Potentiale, vor allen Dingen wegen des Übergangs vom Transferrubelsystem auf konvertible Währungen vom
1. Januar dieses Jahres ab und wegen der zugleich besonders schwierig gewordenen inneren Wirtschaftslage der Sowjetunion.
Die Bundesregierung und die sowjetische Regierung haben ein gemeinsames Interesse daran, die guten bilateralen Beziehungen weiterzuentwickeln und zu vertiefen. Deswegen haben sie auch den deutschsowjetischen Wirtschaftsvertrag abgeschlossen, an dessen Zustandekommen unser Kollege Dr. Helmut Haussmann in seiner Zeit als Wirtschaftsminister einen wichtigen Anteil gehabt hat.
({0})
- Dieser Beifall erfolgt zu Recht und kam aus tiefem Herzen.
({1})
In den fünf Monaten seit der Unterschrift im November 1990 haben wir bereits intensiv an der Ausfüllung des Vertrages durch konkrete Schritte gearbeitet. Ich möchte Ihnen hier einige Beispiele nennen:
Im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht das akuteste Problem, die Vermeidung des Fadenrisses in den traditionellen Lieferbeziehungen zwischen ostdeutschen Lieferanten und sowjetischen Abnehmern. In Art. 1 des Ihnen hier heute vorliegenden Vertrages haben sich beide Seiten dazu bekannt, die Übergangsprobleme, die sich durch die im gesamten RGW- Raum zum 1. Januar dieses Jahres vereinbarte Umstellung vom früheren Staatshandels- und devisenlosen Verrechnungssystem auf marktwirtschaftliche Grundlagen ergeben, im Sinne der Kontinuität und auch der Weiterentwicklulng der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen durch geeignete Maßnahmen zu unterstützen.
Die Bundesregierung hat deshalb auch zur Verwirklichung des im Einigungsvertrag zugesagten Vertrauensschutzes bereits im Dezember 1990 beschlossen, für Exporte von Produkten aus den neuen Bundesländern in die UdSSR besonders günstige Konditionen bei der Hermes-Absicherung zu gewähren. Auf dieser Basis haben seither zahlreiche ostdeutsche Unternehmen Verträge ausgehandelt, denen sowjetische Prioritätslisten mit Einkaufswünschen - von Eisenbahnwaggons über Schiffe, Maschinen bis hin zu Ersatzteilen, Chemiehalbfabrikaten und auch Kinderwagen - im Gesamtwert von mehr als neun Milliarden DM zugrunde liegen.
({2})
Ein Haupthindernis für die endgültige Unterschrift auf sowjetischer Seite war meist das Fehlen einer Garantie der sowjetischen Außenwirtschaftsbank bei Hermes-Geschäften. Bundeswirtschaftsminister Möllemann hat bei seinen Gesprächen Mitte Februar in Moskau vom sowjetischen Ministerpräsidenten Pawlow die Zusage erhalten, daß diese Hindernisse kurzfristig beseitigt werden.
Wir haben uns in mehreren zusätzlichen Gesprächen um eine Lösung dieses und weiterer auf administrativer Ebene in der Sowjetunion auftretender Probleme bemüht. Nach neuesten Informationen, die ich gestern von sowjetischer Seite erhalten habe, sind jetzt Verträge unter Dach und Fach, die fast einem Drittel des angekündigten Neun-Milliarden-DM-Volumens entsprechen.
Meine Damen und Herren, wir kümmern uns auch weiterhin intensiv darum, daß unverzüglich weitere Verträge zu den günstigen Hermes-Konditionen abgeschlossen werden. Das liegt, so denke ich, im gemeinsamen Interesse. Dabei ist unser Interesse die Weiterbeschäftigung der Betriebe in den neuen Bundesländern. Auf sowjetischer Seite liegt das Interesse natürlich im Bezug von Gütern, die dort unverzichtbar zur Aufrechterhaltung der Produktion und zur Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern benötigt werden.
Zu diesem Zweck haben wir auch das Instrumentarium der Handelsförderung weiterentwickelt. Lassen Sie mich einige Punkte nennen: Wir haben die Beratungsstellen unserer Botschaften in Moskau, in Leningrad, Kiew und Minsk personell verstärkt. Wir fördern finanziell die Einrichtung eines Delegiertenbüros der deutschen Wirtschaft in der Sowjetunion und eines besonderen Kontaktbüros der Wirtschaft zur Vermittlung von Geschäftspartnern in Berlin. Schließlich unterstützen wir ostdeutsche Unternehmen auf deren Wunsch, indem sie bei ihren Verhandlungen in der UdSSR von erfahrenen Experten der ehemaligen DDR-Administration begleitet werden.
Als weiteres Beispiel für die bereits begonnene Verwirklichung der Vertragsbestimmungen möchte ich die in Art. 1 Nr. 3 angesprochenen Beratungen über die Fortführung der speziellen Kooperationsprojekte nennen, insbesondere bei der Erschließung der Erdgaslagerstätten in Jamburg und des Eisenerzprojektes Kriwoi Rog. Zu beiden Projekten haben Arbeitsgruppen getagt und Fortschritte erzielt, die in Kürze den Regierungen vorgelegt werden.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, liebe Kollegen! Insgesamt ist festzustellen, daß dieser Vertrag mit Leben gefüllt wird. Wesentlich ist dabei die aktive Mithilfe der deutschen Wirtschaft. Zahlreiche Vorschläge, vor allem zu den im Vertrag genannten Schwerpunkten der künftigen langfristigen Zusammenarbeit, liegen auf dem Tisch. Ich bin davon überzeugt, daß wir damit eine gute Grundlage haben, auf der wir auch einen Beitrag zur Überwindung der aktuellen schwierigen Wirtschaftsprobleme in der Sowjetunion leisten können.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Gernot Erler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben schon bei der ersten Lesung dieser beiden Verträge, die von sowjetischer Seite Bolschie Dogowory, große Verträge, genannt werden, den engen Zusammenhang mit dem gesamten Vertragswerk, also auch mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die deutsche Einheit ermöglichte, und mit den beiden Übergangsverträgen über den Abzug der Streitkräfte und der Finanzierung
dieses Vorganges festgestellt. Heute wissen wir vielleicht noch deutlicher als vor wenigen Wochen, daß es im letzten Jahr eine besondere Glückssituation gewesen ist, daß uns dieses Entgegenkommen von sowjetischer Seite den deutschen Einigungsprozeß ermöglicht hat. Die Weltläufte danach waren so, daß man vielleicht sagen kann: Es war eine einmalige Chance, die dort wahrgenommen werden konnte. Das bedeutet aber, daß heute eine Situation entsteht, wo wir uns sozusagen in einer Glücksnische einkuscheln können
({0})
- ja, Sie haben richtig gehört - , während wir unseren Nachbarn in der Tat ächzen und stöhnen hören.
Meine Damen und Herren, seit dieser ersten Beratung, seit den letzten sechs Wochen, die vergangen sind, hat sich die Situation in der Sowjetunion dramatisch verschlechtert. Wir haben gehört, daß sich allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres das Haushaltsdefizit Moskaus um 31 Milliarden Rubel erhöht hat, wir haben gehört, daß die Industrieproduktion um 5 bis 6 % gesunken ist gegenüber den Plänen, für die Industrie um 10 %, in der Landwirtschaft sogar um 13 % zurückbleibt. Eine gefährliche Situation entsteht im Zusammenhang zwischen Republiken und Zentrale. Die Republiken liefern nicht mehr ihre Mittel ab. Von 23,4 Milliarden Rubel, die eigentlich zu erwarten gewesen wären, haben die Republiken erst 7 Milliarden Rubel abgeliefert. Wir wissen, wie unpopulär im Augenblick die notwendigen sowjetischen Reformgesetze, insbesondere die Preisreform, ist und daß sie von beiden Seiten - von dem progressiven Teil als zu wenig weitreichend, von dem konservativen Teil als sozial unverträglich - kritisiert werden. Dazu kommen die umfangreichen Streiks, die in den Kernbereichen der sowjetischen Wirtschaft die Arbeit lahmlegen. All das sind außerordentlich alarmierende Entwicklungen. Es ist vielleicht ein kleiner Trost, daß in dem Bereich der Nationalitätenpolitik und der damit zusammenhängenden Auseinandersetzungen zwar eine Verschärfung in der Republik Georgien stattgefunden hat, aber doch sehr zu begrüßen ist, daß jetzt erstmalig tatsächliche Verhandlungen zwischen Moskau und den Vertretern der drei baltischen Republiken stattfinden,
({1})
daß hier eine Abkehr von dem bisherigen Kurs mit Auswüchsen bis hin zur Gewaltanwendung zu verzeichnen ist. Wir haben diese Entwicklung energisch und vor allem praktisch zu unterstützen.
In diesem Zusammenhang möchte ich meiner Freude Ausdruck geben, daß auf Einladung unserer Fraktion gerade der stellvertretende Bevollmächtigte der Republik Lettland in Moskau bei uns zu Gast ist und auf der Ehrentribüne Platz genommen hat. Herr Ejzans, herzlich willkommen!
({2})
Es gibt als positive Hoffnung das Ergebnis von vorgestern abend, das vielleicht diesen mörderischen Zweikampf, diesen mörderischen Machtkampf der
Führungspersonen bei unserem Nachbarn beendet oder hier wenigstens eine Atempause schafft, in den Vereinbarungen, die Gorbatschow und Jelzin jetzt getroffen haben.
Aber es bleibt trotzdem klar: Die Krise unseres Nachbarn ist noch nicht überwunden. Wir müssen uns jeden Tag fragen: Haben wir angesichts dieser beiden großen Verträge leidenschaftlich genug etwas für deren Verwirklichung getan, nämlich bei dieser Zusammenarbeit im Bereich der Wirtschaft, im Bereich der Technik, im Bereich des Umweltschutzes und des Verkehrs und der Ausbildung, wie dies in diesen Verträgen zugesagt wurde, damit nicht die recht bekommen, die sagen: „Das, Herr Präsident, was Sie in dem Zwei-plus-Vier-Vertrag weitreichend zur Veränderung Europas gemacht haben, war ein zu hoher Preis? Da haben Sie zu viel preisgegeben." Damit die recht bekommen, die sagen: Mit diesen Verträgen fängt wirklich eine neue Ara an. - Ob das praktisch wirklich so läuft, wird vor allem an dem Management dieser Übergangsphase zu messen sein, also gerade auch bei der Frage des Abzugs der sowjetischen Truppen und der sogenannten überleitenden Maßnahmen.
Ich möchte hier sagen, daß da durchaus Dinge im Gange sind, die wir kritisch hinterfragen müssen und wo vielleicht auch Handlungsbedarf ist. Vielleicht war es ein Fehler, daß wir uns auf einen komplizierten Abrechnungsmechanismus eingelassen haben, der jetzt die sowjetische Seite hoffen läßt, daß die Aufaddierung ihrer Investitionen in den ostdeutschen Ländern, die sie auf dem ihnen zur Verfügung gestellten Territorium gemacht haben - sie kommen dabei übrigens zu der astronomischen Summe von 10,5 Milliarden DM - , mit den gegenzurechnenden Umweltschäden und sonstigen Abnutzungserscheinungen vielleicht noch zu einem Plus führt, mit dem die Lücke geschlossen werden kann, die immer noch zwischen dem tatsächlichen Wohnungsbedarf der abziehenden Sowjetsoldaten besteht und dem, was an Wohnungen durch dieses 7,8 Milliarden-Programm erstellt werden soll. Die Lücke besteht immer noch in dem Unterschied zwischen den 36 000 Wohnungen, die gebaut werden sollen, und den 55 000 Wohnungen, die gebraucht werden.
Es war vielleicht ein Fehler, dieses komplizierte, zum Feilschen verleitende Abrechnungsverfahren einzusetzen; denn es hat negative Folgen. Wir hören jetzt von Einzelfällen, daß sowjetische Offiziere, vielleicht im falsch verstandenen Interesse ihres Vaterlandes, anfangen, umweltbelastende Restbestände und Altlasten zu verbuddeln und zu verstecken - sie verstecken sie möglicherweise sogar außerhalb ihrer Kasernen -, um zu einer besseren Bilanz zu kommen. Wir sollten uns überlegen, ob wir nicht gemeinsam einen Weg finden, etwas anderes zu prämieren, nämlich die möglichst lückenlose Aufdeckung aller dieser Altlasten
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und dabei trotzdem zu einem Weg zu kommen, den Bedarf an zusätzlichen Wohnungen noch zu klären.
Es ist auch fraglich, ob ausreicht, was wir bisher an Anstregungen unternehmen, um diesen Prozeß administrativ zu begleiten. Bei einem Besuch in dieser
Woche in Potsdam hörte ich, daß dort lediglich drei Mitarbeiter der Bundesvermögensverwaltung dafür zuständig sind, die Übergabe eines riesigen Territoriums zu regeln. Es handelt sich um ein Territorium, wo in Neuruppin bisher 10 000 Leute in Kasernen und Wohnungen gelebt haben, in Potsdam 5 000, in Kramnitz 5 000 und in dem Olympischen Dorf noch einmal 10 000. Alle diese Liegenschaften müssen drei westdeutsche Beamte, die keine Erfahrung mit Verhandlungen mit sowjetischen Gesprächspartnern haben, regulieren. Sie müssen die Bestände und auch die vorhandenen Altlasten bewerten. Das ist ein unvorstellbares Vorhaben, und das bedeutet natürlich Verzögerungen.
Wir müssen uns also jeden Tag fragen, ob wirklich praktisch genug getan wird, um diese Verträge tatsächlich mit Leben zu erfüllen. Dabei kann man manchmal schon mit ganz kleinen Beispielen etwas wirklich Positives tun. Beispielsweise ist es vielleicht für uns nicht so wichtig, aber für die Psychologie unseres Nachbarn sehr bedeutsam, wenn wir uns auch künftig in den ostdeutschen Ländern um die sowjetischen Kriegsgräber kümmern und nicht zulassen, daß Denkmäler, sofern sie sich nicht auf Leistungen des Stalinismus beziehen, beschädigt oder entehrt werden, die von der sowjetischen Seite angelegt und errichtet worden sind. Das ist vielleicht eine Kleinigkeit.
Ein anderer Punkt ist vielleicht noch aktueller: Wir stehen am Vorabend des fünften Jahrestages der Katastrophe von Tschernobyl. Wir wissen, daß die Sowjetunion auf Grund ihrer wirtschaftlichen Situation nicht in der Lage ist, wirklich die Probleme zu lösen und eine Entsorgung der Altlasten der Spätfolgen dort vorzunehmen. Noch immer spricht man nur von 32 Toten. Wir wissen aber, daß es 578 000 Strahlengeschädigte gibt, daß 300 000 ständig medizinisch behandelt werden müssen, daß 188 000 Menschen schon umgesiedelt worden sind und daß der Umsiedlungsprozeß noch andauert. Trotzdem reichen die Mittel nicht, um dort definitiv etwas zu tun. Es kommen also immer noch Menschen - auch Kinder - in die Exposition von einer zu starken Strahlung.
Ich glaube, es ist ein positives Signal gewesen, daß gestern - damit möchte ich abschließen - der Auswärtige Ausschuß einstimmig einen Antrag der SPD-Fraktion befürwortet hat, ein Programm der medizinischen Hilfe vor Ort, der Lieferung von unbelasteter Kindernahrung und der organisatorischen Betreuung einer größeren Anzahl von Aufenthalten von Kindern zur medizinischen Versorgung bei uns aufzulegen.
Wir müssen dafür sorgen, daß die Politik, daß die Wirtschaft und daß wir Abgeordnete nicht hinter dem großen Engagement der Bürger in diesem Lande zurückbleiben, die z. B. Tschernobyl-Kinder aufnehmen und die in der sogenannten Rußland-Hilfe ihre Bereitschaft zu einer neuen Phase gezeigt haben. Wir müssen dafür sorgen, daß wir hinter den praktischen Erfolgen unserer Bürger nicht zurückbleiben. Dann werden wir den großen Verträgen gerecht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als nächster hat das Wort der Abgeordnete Peter Kittelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist erfreulich festzustellen, daß in den wesentlichen Fragen dieses Vertragswerkes in diesem Hause zwischen der Koalition und der Opposition weitgehende Übereinstimmung besteht; von Nuancen abgesehen.
Die jüngste Vergangenheit war eine Zeit der historischen Zäsuren: der Reformprozeß in der Sowjetunion, die Entstehung junger Demokratien in Mittel-und Osteuropa und - für uns Deutsche besonders sinnbildlich - der Fall der Mauer. Nach diesen historischen Zäsuren beginnen jetzt die Klein- und die Fleißarbeit, die Umsetzung der Vereinbarungen, das Einlösen von Versprechen, mühsame Übergangsprozesse der Reformbestrebungen. In diesem Rahmen gilt es, das Gesetz zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken - ich hoffe, das „Sozialistisch" kann man sich bald sparen - zu bewerten. Der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik wird besonders im europäischen Kontext eine herausragende Rolle zukommen, vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaft. Dieses, meine Damen und Herren, nur mittelfristig aus unmittelbar wirtschaftlichen Interessen, denn langfristig bedeutet grenzüberschreitende Zusammenarbeit eine friedenssichernde Maßnahme für Europa.
Wechselseitige Abhängigkeiten und Verpflichtungen dokumentieren und fördern die friedliche Zusammenarbeit. Genau dieses meint der Begriff „Partnerschaftsvertrag". Nur so können wir unserer neuen Verantwortung in Europa gerecht werden, West und Ost verstärkt aneinander zu binden.
Ziel der umfassenden Zusammenarbeit eines friedlichen und erweiterten Europas muß zweierlei sein, nämlich erstens, die eingeleiteten Reformprozesse in der Sowjetunion zu unterstützen, und zweitens, die fünf neuen Länder vor dem totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu bewahren. Gerade hier wird dieser Vertrag neue positive Auswirkungen haben.
Wenn wir die Sowjetunion unterstützen wollen in dem Bemühen um Reformen, die sich auf demokratische Strukturen, die Einhaltung von Menschenrechten und die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit beziehen, müssen wir ihnen im Prozeß des Übergangs zur Marktwirtschaft zur Seite stehen. Dabei wird es nicht auszuschließen sein, daß so manche Mark, die wir der Sowjetunion jetzt geben, gegebenenfalls auch auf Sand gesetzt wird. Dieses Risiko aber müssen wir eingehen, wenn wir dem Reformprozeß in der Sowjetunion in seiner entscheidenden Phase eine Chance geben wollen - eine Chance, um zum Erfolg zu gelangen. Dieses - das müssen wir sehr offen sehen - ist ein ganz enger Spalt.
Für uns bedeutet die Hilfe, die wir erteilen, sowohl eine Herausforderung als auch Mitverantwortung. Herausforderung heißt, nicht nur kluge Ratschläge zu erteilen - davon hat die Sowjetunion in den letzten Monaten genug bekommen - , sondern tatkräftig den eingeschlagenen Weg in Richtung einer Marktwirtschaft zu unterstützen, und Mitverantwortung, weil
wir im Interesse der zukünftigen Entwicklung in der Sowjetunion und in Europa auch zu unseren eigenen Worten stehen müssen. Der Bundeswirtschaftsminister hat mit der Zusicherung einer Hermes-Bürgschaft für die angekündigten 9-Milliarden-Aufträge der Sowjetunion in den fünf neuen Bundesländern ein ermutigendes Zeichen gesetzt.
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Ferner müssen wir zukünftig sowjetische Exporte aus den neuen Bundesländern absichern. Die Sowjetunion hat Interesse angemeldet, die fünf neuen Bundesländer wegen ihres vorhandenen Potentials an Fachleuten als Brückenkopf der Ost-West-Handelsbeziehungen zu nutzen. Auch dies ist ein ermutigendes Zeichen.
Doch die massiven Schwierigkeiten können und dürfen von uns nicht ignoriert werden. Wir müssen uns vor Augen halten, daß die Sowjetunion weit mehr Länder umfaßt als nur diejenigen, die durch ihre Emanzipationsbestrebungen im Moment im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehen.
Die Sowjetunion ist ein riesiges Reich. Ich habe früher einmal gelernt: ein Sechstel der Erde. Die momentanen Schwierigkeiten sind in bestimmten Bereichen der Sowjetunion noch sehr viel größer als bei den Republiken, die augenblicklich im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen. Das heißt: Das Bemühen um Dezentralisierung ist, Herr Voigt, eines der schwierigsten Probleme, die die Sowjetunion vor sich hat. Wir sollten zurückhaltend sein, uns immer als kluge Ratgeber herauszustellen.
Dennoch: Die Wirtschaftsreform muß sich über den Abbau der zentralen Bürokratie zugunsten von mehr dezentraler Verantwortung vollziehen. Daß dies in der Sowjetunion leichter gesagt als getan ist, hatte ich bereits angedeutet.
Daß die alten Bundesländer im Handel mit der Sowjetunion nach den beiden Wachstumsjahren 1990 wieder einen Rückschlag erlitten haben, ist noch auf die ersten einleitenden Ansätze der Außenwirtschaftsdezentralisierung zurückzuführen. Nicht geklärte Zuständigkeitsbereiche und eine verschlechterte Zahlungsbilanz, die bei deutschen Lieferanten zu entsprechenden Zahlungsrückgängen geführt haben, sind die Folge.
Wir wissen: Die Sowjetunion ist immer noch ein riesiges Staatshandelsland. Ganze 90 % des ausländischen Warenverkehrs fallen in den Geschäftsbereich des Ministeriums für Außenwirtschaftsbeziehungen oder in denjenigen für Außenhandelsorganisation der Branchen- und Fachministerien. Das Profil einer sowjetischen Konzeption, wie denn nun die Handelsbeziehungen mit Unternehmen der neuen Bundesländer aufrechterhalten werden können, bleibt immer noch außerordentlich verschwommen. Die einseitige Konzentration des sowjetischen Exports auf Güter aus dem Rohstoff- und Energiebereich schwächt das sowjetische Exportgüterangebot. Das sind Probleme, die seit langem bekannt sind. Nur hat sich dort seit langem fast nichts geändert.
Damit bleibt das sowjetische Handelsvolumen immer noch primär von Deviseneinnahmen abhängig; es
vermag nicht, andere wettbewerbsfähige Exportgüter anzubieten. Dies wirkt sich insbesondere im Handel mit der ehemaligen DDR aus, die vor allem Energieträger, Metalle und mineralische Rohstoffe importierte.
Deutsche Investoren klagen zunehmend über sowjetische Zahlungsverzögerungen, die den Markt durch Unwägbarkeiten im wirtschaftlichen Reformprozeß und durch akute Devisenknappheit beeinträchtigen. Die Schwierigkeiten, auf die ich kurz hinweise, sind freilich vielfältig miteinander verwoben und bedingen einander.
Was ist dem entgegenzusetzen? - Es steht außer Frage, daß die Bundesrepublik ihren Beitrag zur Lösung der Probleme leisten muß und leisten wird. Ebenso kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß nur eine internationale Wirtschaftsspritze die lang anhaltenden Symptome einer kommunistischen Kommandowirtschaft beheben kann.
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Es kommt also im internationalen Konzert auf das Zusammenspiel aller Kräfte an.
Eine kritische Bemerkung: Wenn aus dem Kreis des Internationalen Währungsfonds in Washington - allerdings vereinzelt - verlautete, daß der IWF eine Finanzhilfe ablehne, ist dies nur als eine Ungeheuerlichkeit zu bezeichnen. Begründet wird diese absurde Haltung damit, daß der wirtschaftliche Zusammenbruch in der Sowjetunion schon begonnen habe und daß man kein Geld in ein zusammenbrechendes Regime stecken könne, weil sich angeblich unkalkulierbare Auswirkungen ergeben könnten. Gerade solche Positionen werden der internationalen Verantwortung dieser Organisation nicht gerecht.
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Wenn wir hier im Interesse aller nicht zusammen aktiv werden, ergeben sich dann erst diese angeblich un-kalkulierbaren Auswirkungen.
Diese würden allerdings von fatalster Wirkung sein. Nach den historischen Umwälzungen können wir nun, da wir zu unserem Wort stehen müssen, nicht einfach aus Bequemlichkeit holprige Strecken meiden und den Rückwärtsgang einlegen. Herr Außenminister, das Treffen der G 7 am kommenden Wochenende in Washington wird eine Möglichkeit sein, das auf der Tagesordnung stehende Thema Sowjetunion von uns aus positiv zu behandeln.
Wenn wir in einem Weltreich, in dem Korruption und Dirigismus seit Jahrzehnten gewaltet haben, Reformprozesse anlaufen sehen, müssen wir uns von unrealistischen Erwartungshaltungen freimachen. Es ist unmöglich, daß hier in kürzester Zeit ein demokratischer Staat mit sozialen und marktwirtschaftlichen Strukturen entstehen kann, wie er bei uns erfolgreich ist. Wir müssen die Nerven bewahren, Ruhe bewahren und der Sowjetunion Zeit geben.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Annahme des Pawlowschen Krisenprogramms zu sehen. Voreilige Bewertungen unsererseits sind unangemessen. Wenn man gerade die Tageszeitungen der letzten Tage verfolgt - „Gorbatschow kurz vor dem Sturz" und heute
wieder „Gorbatschow hat sich durchgesetzt" und vieles andere - , zeigt sich, daß unsere Medien in dieser Frage mehr fachmännische Lupen haben sollten, als dauernd Aufgeregtheit zu verbreiten.
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All dies darf allerdings nicht zu der fatalistischen Beobachtungshaltung „Es wird sich schon alles von selbst erledigen" führen. Wir müssen darauf drängen, die Reformen zielstrebig anzugehen und umzusetzen, und die Sowjetunion in dieser Frage auch unter einen Druck setzen.
Der Vertrag, der hier zur Debatte steht, ist ein Dokument der umfassenden Neugestaltung der deutschsowjetischen Beziehungen nach der deutschen Einigung. Das Gesetz beinhaltet darüber hinaus Regelungen in der Übergangsphase nach der deutschen Einigung, die so gestaltet werden sollen, daß tiefe Einbrüche vermeidbar sind.
Dem freien Marktzutritt der Sowjetunion in das Gebiet der neuen Länder ist von der Europäischen Gemeinschaft entsprochen worden. Zu den Übergangsregelungen der EG für die traditionellen Warenschienen aus der UdSSR in die neuen Bundesländer kommt eine Reihe von wichtigen Einzelmaßnahmen hinzu: die Zusage einer kontinuierlichen Belieferung mit Ersatzteilen, die Umstellung der vertraglichen Beziehungen auf Vereinbarungen zwischen Unternehmen in eigener Verantwortung und der Fortentwicklung auf der Grundlage marktwirtschaftlicher Bedingungen, der Wegfall der Transferrubelverrechnung zugunsten einer Zahlung in konvertibler Währung.
Mit dem vorliegenden Gesetz wird damit ein hilfreicher Beitrag geleistet, der die Grundlage zu einer Neugestaltung der bisherigen Beziehungen zur Sowjetunion und einer erfolgreichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit schafft - und dies nicht zuletzt durch die wichtigen Maßnahmen zur Strukturverbesserung der Wirtschaft in den neuen Bundesländern. Die Leistungssteigerung der Wirtschaft wird damit ermöglicht. Die Wirtschaft und ihre privaten Investoren sollten daher dieses Gesetz als nachhaltigen Appell verstehen, sich stärker in der Sowjetunion zu engagieren. Die Sowjetunion ist ihrerseits an Kooperationen mit westlichen Partnern, am Zugang zu Kapital und Know-how im Dienstleistungsbereich und im technischen Sektor interessiert. Sie sucht den Zugang zu westlichen Märkten.
Vor dem Hintergrund einer wirtschaftspolitischen Neuorientierung der Sowjetunion kommt der industriellen Kooperation mit ihren westlichen Partnern eine hervorragende Rolle zu. Diese bilateralen Liefergeschäfte werden zum wichtigsten Geschäftstypus der kommenden Zeit zählen. Deshalb sind die Verträge nur der Rahmen. Ausgefüllt werden muß dieser Rahmen von unserer Privatwirtschaft. Die deutsche Wirtschaft, die sich nach dem anfänglichen Run bisher sehr zurückhaltend zeigt, muß hier aktiver werden.
Wenn die deutsche Seite ihr Möglichstes tut, um Schwierigkeiten und Hindernisse aus dem Weg zu räumen, so wird auch die Sowjetunion gefordert, ihrerseits das Notwendige beizutragen. Die Ratifizierung des 1989 abgeschlossenen Investitionsförderungsvertrages durch das sowjetische Parlament steht leider immer noch aus. Dies hat zur Folge, daß deutsche Investitionen in der UdSSR nicht abgesichert sind. Wir fordern die Sowjetunion auf, hier schnell Abhilfe zu schaffen.
Das Gesetz zum Vertrag über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit der Bundesrepublik und der Sowjetunion ist im Kontext einer Annäherung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der UdSSR zu verstehen. Das geeinte Deutschland vermag hier - gerade im ökonomischen Sektor - ein Stück seines europäischen Auftrages umzusetzen. Unsere europäischen Freunde und Partner und auch wir selbst sollten das Gesetz als Ansporn und Verpflichtung unserer Verantwortung im vereinten Europa begreifen. Die CDU/CSU wird jede Unterstützung geben, diese neue Partnerschaft erfolgreich zu gestalten.
Schönen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Markus Meckel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Verträge, die wir heute hier vor uns haben, gehören in ein ganzes Vertragswerk zur Neugestaltung der Verhältnisse in Europa, das mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag beginnt, die deutsch-sowjetischen Verträge umfaßt, von denen zwei hier vorliegen, zu dem aber auch der polnische Grenz- und Grundlagenvertrag gehört, zu dem wir gestern hörten, daß die Verhandlungen zum Grundlagenvertrag abgeschlossen sind, und es ist auch der Vertrag mit der CSFR zu nennen, an dem noch gearbeitet wird. Ich frage, ob auch mit Ungarn ein solcher Vertrag geplant ist. Ich hielte dies für wichtig.
In der Präambel des Vertrages über gute Nachbarschaft ist von dem Wunsch die Rede, mit der Vergangenheit endgültig abzuschließen. Diese Geschichte und Vergangenheit sind aber aus unserem Gedächtnis noch nicht fort, auch nicht aus dem der Menschen und Völker der Sowjetunion. Sie sind nicht einfach wegzuwischen. Sie bedürfen der Bearbeitung, und das heißt intensiver Kontakte und großer Offenheit. Nicht durch Vergessen, nur durch Offenlegen und das Sich-Stellen der vielfältigen Schuld aller Seiten, der Bereitschaft zur Vergebung und Übernahme der historischen Verantwortung kann Vergangenheit angemessen bearbeitet und damit endgültig überwunden werden.
Dies betrifft auch die Anerkennung der Deutschen, im Zweiten Weltkrieg einen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geführt zu haben. In diesem Jahr kann zum erstenmal das vereinte Deutschland am 22. Juni des Überfalls auf die Sowjetunion gedenken, der sich zum fünfzigstenmal jährt.
Gleichzeitig gehören aber zur zu bearbeitenden Geschichte auch die Leiden der sowjetischen Zivilbevölkerung und der Deutschen sowie ihre Vertreibung, die Gräber von Katyn und die Zwangseinverleibung der baltischen Staaten in die Sowjetunion. Dazu gehört auch die imperiale Beherrschung der Völker inMarkus Meckel
nerhalb der Sowjetunion in Osteuropa und auch in der DDR. Nur wenn wir bereit sind, unsere Vergangenheit anzuerkennen, ohne sie gegeneinander aufzurechnen, wenn wir, wo nötig, politische Konsequenzen daraus ziehen, wird es uns gelingen, Vergangenheit wirklich bewältigte Geschichte werden zu lassen.
Aber genau dafür bietet der Vertrag eine wichtige Grundlage, da er keine Distanz oder Abgrenzung betreibt, sondern den Willen zur Zusammenarbeit auf allen Ebenen bekundet. Ja, man muß sagen: Schon der Vertrag selbst ist Ausdruck dieses Weges. Ohne die Sowjetunion wäre dies alles nicht möglich gewesen und säßen wir heute hier nicht zusammen. Dies betrifft schon die Voraussetzungen für die Erfolge des Herbstes 1989.
Der Sowjetunion ging es um die Zugehörigkeit zu Europa und um wirtschaftliche Hilfe in der Erkenntnis und getragen von dem Willen, ein neues, wie es in der Präambel heißt, durch gemeinsame Werte geeintes Europa aufzubauen. Diese Werte aber sind Menschenrechte , parlamentarische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, wie es in der Charta von Paris heißt.
Dabei darf der deutsch-sowjetische Vertrag über gute Nachbarschaft den Polen kein Anlaß zur Sorge sein. Die Formulierung des Vertrages läßt uns Mißverständnisse nicht ausschließen. Wir sollten deutlich sagen, daß Deutschland nie wieder direkter Nachbar der Sowjetunion werden wird. Dies sollte man auch in der Überschrift deutlich vermerken, wenngleich es durch den Inhalt und durch die Unterstreichung bekannt und klar ist, daß die sowjetischen Verträge in ein Gesamtwerk mit den polnischen Verträgen als Vertragswerk in Europa und für Deutschland gehören.
Das letzte Jahr war international von der Euphorie des Neubeginns für ein ungeteiltes und freies Europa geprägt. Heute sehen wir deutlicher, was sich für den genau Hinsehenden schon längst abzeichnete: Der Grund zur Freude über den Zusammenbruch des repressiven und entmündigenden Systems in Osteuropa bestand zu Recht. Es wäre absurd, sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurückzusehnen. Doch leichter ist es nicht geworden. Die Situation ist vielschichtiger, die Probleme treten immer offener zutage. Es sind nicht mehr die klaren Grundmuster des ideologischen Ost-West-Konfliktes, die Europa prägen.
Die Gestaltung Europas ist eine Aufgabe, deren Umrisse noch ohne klare Konturen sind. Dabei muß es sowohl das Interesse der Sowjetunion als auch unser Interesse sein, die Sowjetunion und ihre Republiken in Europa einzubinden und die Charta von Paris mit Leben zu füllen. Dabei werden der KSZE-Prozeß und seine Institutionen, die zu entwickeln sind, eine wichtige Rolle zu übernehmen haben. Das wird viel Kraft und Geduld fordern und wohl auch nicht ohne Rückschläge abgehen.
Die Schwierigkeiten und Konflikte in der Sowjetunion beherrschen heute täglich die Nachrichten, und wir sind wohl noch lange nicht am Ende. Die ökonomischen Probleme in diesem Riesenland sind angesprochen worden. Die Produktion sinkt. Hunger ist kein Fremdwort. Die Frage, wer den Mut, die politische Kraft, die richtigen Konzeptionen und die nötige Durchsetzungskraft hat, die ökonomisch notwendigen Roßkuren für die Menschen durchzusetzen, ist offen.
Wir sollten auch im Auge behalten, daß ca. 15 % der sowjetischen Bevölkerung nach eigenen Angaben unter der Armutsgrenze leben, und zwar vor allem in den südlichen Republiken. Eine Radikalisierung der politischen Lage durch soziale Unruhen ist nicht auszuschließen. Es besteht die Gefahr, daß nicht derjenige, der die besseren Konzepte hat, den entsprechenden Zulauf hat, sondern derjenige, der aus Naivität oder wider besseres Wissen oder aus Machtbesessenheit große Versprechungen macht, um die Probleme anschließend nur anwachsen zu lassen. Wir haben in Ostdeutschland auch dies erlebt.
Eine Demokratie zu errichten, demokratische Institutionen aufzubauen und darin zu leben, ist schwer und braucht Zeit. Auch darin haben wir Erfahrung, obwohl wir in Ostdeutschland noch Glück hatten und haben, trotz alldem, was auch daran ein Problem ist. Wir haben Demokratie erkämpft, aber wir haben nicht selbständig längere Zeit hindurch diese in ihren Strukturen erst gestalten und suchen müssen und können. Die Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, nach Jahrzehnten einer entmündigenden Herrschaft und einer zentralistischen Kommandowirtschaft zugleich demokratische Verhältnisse zu entwickeln und den schwierigen Umbau zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft zu gestalten, kann sich vermutlich auch heute kaum einer hier im Westen wirklich vorstellen.
Wir machen diese Erfahrungen im Osten Deutschlands unter ungleich besseren Bedingungen als die Menschen in der Sowjetunion - mit den entsprechenden Folgen an Zusammenbrüchen, die wir nicht nur auf Grund der Politik der letzten 40 Jahre, sondern auch auf Grund der Politik der letzten eineinhalb Jahre erleben.
Woher die Menschen nehmen in solchen Ländern - auch bei uns ist das eine Frage -, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, ohne daß sie die nötigen Kompetenzen haben entwickeln können? Es ist deshalb kein Wunder, daß der alte Apparat noch so mächtig ist. Woher sollen die Leute denn kommen? In Osteuropa und in der Sowjetunion ist es eben nicht möglich, Tausende von Beamten zu schicken, die das machen können und die das oft auch nicht einfach machen könnten, weil es ebenso der Kenntnis der Situation vor Ort bedarf.
Da soziale Spannungen wachsen, der politische und ideologische Druck auf die Menschen entfällt und die nationale Identität der nichtrussischen Völker über Jahrzehnte hinweg unterdrückt und verdrängt wurde, ist es kein Wunder, daß die nationale Frage jetzt stark aufbricht. In unterschiedlicher Radikalität fordern einige Republiken ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion, die baltischen Staaten, die dafür noch den spezifischen historischen Hintergrund haben, der auch mit uns zusammenhängt, die Georgier und die Moldauer, um nur einige zu nennen.
Nach meiner Einschätzung wird sich dieser Weg in die Unabhängigkeit bei einigen Republiken nicht auf1492
halten lassen, wie auch immer man dies bewerten will. Nationalistische Kräfte sind, wie wir wissen, nicht immer auch demokratische. Genau darum aber wird es gehen müssen. Die Unabhängigkeit muß auf dem Verhandlungswege und wegen der Explosivität der politischen Situation wohl auch schnell erreicht werden, wo sie angestrebt wird.
Ich kann nicht fortfahren, die Situation weiter zu beschreiben. Vieles ist schon gesagt worden.
Deutlich ist: Die Verträge, die in die Zukunft weisen, sind für uns eine große Verpflichtung, dem schwierigen Prozeß hin zu Europa und hin zu Demokratie und Rechtsstaat auf der Grundlage einer modernen Wirtschaft nicht tatenlos zuzusehen. An uns als Deutsche sind ungeheuer große Erwartungen gerichtet. Es wird unseren ganzen Einsatz brauchen, damit die Verpflichtungen, die jetzt auf dem Papier stehen, auch eingelöst werden.
Angesichts der schwierigen Entwicklung in der Sowjetunion brauchen wir in Deutschland eine klare Orientierungslinie für die Politik mit der Sowjetunion. Diese ist in den Verträgen selbst klar beschrieben. Hilfe und Zusammenarbeit sind eingebettet in den Weg zur Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit. Die Einhaltung der politischen Grundrechte und der gewaltfreie Umgang des Zentrums mit den Republiken sollten Maßstab für alle Zusammenarbeit sein.
Ich möchte ein paar Punkte nennen, die mir für unsere Politik wichtig zu sein scheinen: Erstens. Keiner von uns weiß, wie die Sowjetunion morgen in ihrer staatlichen Gestalt aussehen wird. Klar scheint aber, daß die Republiken an Bedeutung gewinnen, auch wenn sie innerhalb der Sowjetunion bleiben. Der Streit um die Kompetenzen ist in vollem Gange. Wir haben darüber im einzelnen nicht zu befinden; doch sollte Hilfe und Zusammenarbeit in jedem Fall so gestaltet werden, daß die Republiken angemessen berücksichtigt werden, und zwar nicht nur durch Zuteilung aus der Zentrale, sondern auch als unmittelbare Partner.
Zweitens. Der Aufwand für Zusammenarbeit und Hilfe wird in den nächsten Jahren durchaus auch in unserem eigenen Interesse vervielfacht werden müssen. Dabei geht es nicht allein um pauschale finanzielle Zuwendungen, so wichtig sie auch sind. Alle Kontakte, die dem Aufbau und der Stärkung der zivilen Gesellschaft dienen, sollten intensiv durch staatliche Mittel hier bei uns gefördert werden.
Gegenseitige Besuche der Bürger, von Studenten und Wissenschaftlern, sowie Projekte der Zusammenarbeit zum Kennenlernen der gegenseitigen Kultur und Sprache brauchen intensive Unterstützung.
Dazu gehört die Arbeit der politischen Stiftungen und der Gewerkschaften. Deren Arbeit sollte für diese Bereiche - ich meine jetzt ganz Osteuropa - intensiviert und deshalb ihr Haushalt für diese Arbeit in den nächsten Jahren gezielt aufgestockt werden.
Ich habe bis heute nicht verstanden, weshalb es so schwer ist, in Moskau ein Kulturzentrum einzurichten. Ein solches sollte künftig nicht nur in Moskau, sondern auch in Städten anderer Republiken vorhanden sein.
Man kann und sollte mit zahlreichen Kontakten Kenntnisse nutzbar machen, die viele Deutsche in den östlichen Ländern gerade in den Bereichen Technik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur haben.
Drittens. Die Förderung der demokratischen Kräfte, die entsprechend den Verträgen der Charta von Paris den Anschluß an Europa suchen, sollte für uns eine wichtige Aufgabe sein. Hier soll sich politischer Pluralismus auch in den Kontakten bewähren. Die verschiedenen demokratischen Bewegungen und sich herausbildenden Parteien brauchen unsere Unterstützung und Partnerschaft. Dazu sind alle in diesem Parlament anwesenden demokratischen Parteien aufgerufen.
Viertens. Noch sind mehr als 300 000 Sowjetbürger in Deutschland; die meisten sind Soldaten, nicht alle. Ich freue mich, daß nach einer entsprechenden Anregung in unserem Haushalt ein Titel aufgenommen wurde, in dem Mittel für die kulturellen Beziehungen und die Sprachausbildung dieser Menschen bereitgestellt werden. Ich hätte mir mehr gewünscht, doch es ist ein Anfang.
Hierin liegt eine Aufgabe, die nicht nur technisch abgewickelt werden kann. In dieser Zeit müssen alle Möglichkeiten für die Begegnung und das Kennenlernen unserer Kultur und Sprache, der demokratischen Institutionen und des marktwirtschaftlichen Managements gerade mit denen, die noch für einige Jahre hier sind, genutzt werden. Das ist für uns eine Chance im Hinblick auf das Verhältnis zur Sowjetunion.
Ich kenne die Schwierigkeiten von sowjetischer Seite, Soldaten für solche Ausbildung und Qualifizierung bereit- und freizustellen. Ich hoffe noch auf einen Lernprozeß auf sowjetischer Seite. Doch sind auch Tausende von Frauen und entsprechend viel ziviles Personal da, das dazu fähig ist. Wir sollten die Kommunen, die manches versuchen und hilflos sind, weil kein Geld vorhanden ist, nicht allein lassen sowie gezielt und in großem Maßstab solche Projekte fördern und selbst anschieben. Es ist eine Investition für Europa.
Fünftens. Das Wohnungsbauprojekt für die Sowjetunion ist angelaufen; im Mai beginnen die Arbeiten. Mir geht es hier um die Auftragsvergabe. Wir haben schon im letzten Jahr erlebt, wie durch das verspätete Anschieben des Osthandels bei uns und in den osteuropäischen Ländern viel zu Bruch gegangen ist. Ich denke, in den Programmen muß jetzt versucht werden, an dem Wohnungsbau nicht nur westdeutsche Firmen, sondern auch ostdeutsche, aber auch sowjetische und polnische Firmen zu beteiligen.
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In der Frage der Übergabe der Liegenschaften und des Geländes möchte ich eine Kritik anbringen, die für die Kommunen und für den konkreten Ablauf von großer Bedeutung ist. Die Deutschen haben nach dem Vertrag erst einen Monat vorher Zugang zu den Kasernen. Die Kommunen und auch die Bundeswehr sind ausgeschlossen, um rechtzeitig die notwendige Zusammenarbeit zu leisten. Ich denke, hier muß sich dringend etwas ändern, damit schon im Vorfeld durch
Zusammenarbeit aller Beteiligten und unter Beteiligung der Kommunen Zusammenarbeit und besonders Altlastenbehebung ermöglicht werden können.
Außerdem ist es so, daß nach Übertragung an das Bundesverwaltungsvermögen die Kasernen einfach ohne irgendeine Betreuung dastehen und dann durch Deutsche oft ausgeräubert oder gar zerstört werden.
Es ist noch manches zu sagen, insbesondere auf die Frage der Unterstützung der Konversion. Dies ist, denke ich, ein zentraler Punkt; denn wir wissen, daß die Sowjetunion nicht nur selbst eine große Rüstung hat, sondern auch einer der größten Exporteure von Waffen ist. Damit ist gleichzeitig klar, daß dies fast der einzige Wirtschaftszweig ist, der noch läuft.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Entschuldigen Sie. Ich führe den Satz noch zu Ende.
Für uns sollte die Konversionsfrage im Mittelpunkt unserer wirtschaftlichen Hilfe stehen. Das hat einmal für die Sowjetunion selbst eine Bedeutung, aber auch eine internationale Bedeutung für den Friedenswillen, wenn wir bedenken, was Rüstungsexporte international bewirken. Dafür ist es notwendig, bei uns entsprechende Strukturen zu schaffen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal mein Unverständnis äußern, daß das Amt für Konversion, das wir in der DDR aufgebaut hatten und das hier durchaus sinnvolle Nachfolgeeinrichtungen hätte auslösen können, abgeschafft und abgewickelt werden soll.
Ich bitte, zum Schluß zu kommen!
Ich wünsche diesem Vertrag und unserer Nachbarschaft mit Polen und der Sowjetunion eine gute Zukunft.
Ich danke.
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Bei aller Toleranz: Zweieinhalb Minuten Überschreitung sind bei der Bemessung der Redezeiten unfair gegenüber den anderen Kollegen.
Das Wort hat der Kollege Köhler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen zum Schluß - mit Blick auf die kulturellen Aspekte der uns vorliegenden Vertragswerke - noch einiges in Erinnerung rufe. In der Tat enthalten die Verträge, vor allem der Partnerschaftsvertrag, weitreichende Vereinbarungen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik.
In der Frage der kulturellen Zusammenarbeit schließe ich mich der Bewertung meines Freundes Hornhues an, daß hier Worte und Inhalte im Vertrag verankert sind, die wir getrost als epochemachend bewerten können, wenn es uns gelingt, sie entsprechend auszufüllen.
Hier ist von einer jahrhundertelangen gegenseitigen Bereicherung der Kulturen, der Völker und von einem unverwechselbaren Beitrag zum gemeinsamen kulturellen Erbe Europas die Rede. In der Tat: Dieser Austausch beginnt vor etwas mehr als 1 000 Jahren mit dem Ereignis, das wir vor kurzem gefeiert haben, nämlich dem tausendjährigen Jubiläum der Annahme der Taufe durch die Kiewer Rus, ein Ereignis, das auf Grund der intensiven Kontakte der evangelischen Kirche Deutschlands und der russisch-orthodoxen Kirche bei uns großen Widerhall gefunden hat.
Ich erwähne es, weil über die Zeiten hinweg dabei zwei Dinge von Bedeutung sind: Die Kiewer Rus wandten sich dem Westen zu und nahmen die Taufe in dem Gefühl einer wachsenden tödlichen Bedrohung aus der Tiefe des riesigen Raumes ostwärts von ihnen an. Die Geschichte endete mit einer tiefen Enttäuschung: Sie fühlen sich bis heute vom Westen im Stich gelassen. Wenn wir hier vor dem Bewußtsein jahrhunderte alter wechselseitiger Bereicherung stehen, sollten wir uns auch eingestehen, daß die Geschichte dieses Austausches nicht nur eine Geschichte des Glücks gewesen ist. Es liegt an uns, dazu beizutragen, daß wir diese Verträge in einer Weise auffüllen, daß sie zu den positiven Ereignissen in diesem langen Strom der Zeit gehören.
Normalerweise erinnert man sich vor dem Hintergrund des Kulturaustausches zwischen Rußland und dem Westen natürlich an die große Blütezeit des 19. Jahrhunderts. Ich bevorzuge es, in diesem Augenblick darauf hinzuweisen, was in den letzten Jahrzehnten an Austausch gewesen ist, oft unter großer Repression, unter Verfolgung der Beteiligten auf mühsam und nur mit größtem Mut wahrzunehmenden Schleichwegen. Ich erwähne Namen wie Heinrich Böll auf unserer Seite, Lew Kopelew und Alexander Solschenizyn auf der anderen Seite.
Wenn wir dahin kommen, daß dieser Austausch gerade in dieser Zeit auf beiden Seiten eines Tages als ein Ruhmesblatt des Kulturaustausches zwischen Ost und West begriffen wird, dann befinden wir uns auf einer gleichartigen Basis von Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde; dann hätten wir in der Tat einen großen Schritt vorwärts getan.
Die Gesamterwartung unserer Partner in der Sowjetunion ist sehr einfach zu definieren. Sie wünschen von uns, daß jetzt, am Anfang der Erfüllung dieser Verträge, zumindest das, was die alte Bundesrepublik Deutschland in der auswärtigen Kulturpolitik gegenüber der Sowjetunion einmal geleistet hat, und das, was die alte DDR geleistet hat, fortgesetzt werden sollten.
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Dies, meine Damen und Herren, dürfen wir nicht nur in dieser Stunde bedenken. Es ist wesentlich wichtiger, daß wir es bedenken, wenn wir Haushaltspläne aufstellen und beschließen; denn das ist die konkrete Arbeit.
Trotzdem können wir schon jetzt sagen, daß die fünf Abkommen, die im Juni 1989 zur Errichtung von Kulturinstituten, zur Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft, zur Erweiterung
Dr. Volkmar Köhler ({1})
der Zusammenarbeit im Bereich der Wissenschaft und Hochschulen, über den Jugendaustausch und über den Schüler- und Lehreraustausch im Rahmen von Schulpartnerschaften abgeschlossen worden sind, bisher nach besten Kräften implementiert worden sind. Die Zahlen, die uns vorliegen, sprechen von allein 72 Gastspielen im Bereich des Kulturaustausches in der Zeit von 1990 bis 1992. Das Goethe-Institut in Moskau hat seine Arbeit 1990 begonnen. Das sowjetische Kulturinstitut in Stuttgart wird dies in Kürze zusätzlich zu dem bestehenden sowjetischen Kulturinstitut in Berlin tun. Weitere Institute sollen folgen.
Bei der Zusammenarbeit im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften ist das Abkommen mit rund 1 200 Informations- und Schulungsaufenthalten von Sowjetbürgern in der Bundesrepublik voll umgesetzt worden. Das wissenschaftliche Sonderprogramm Sowjetunion hat DAAD- Jahresstipendien, 240 an der Zahl, kurzfristige Studienaufenthalte, 450 an der Zahl, Forschungsstipendien durch die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und neue Hochschulpartnerschaften aufgelegt.
Der Studenten- und Wissenschaftleraustausch mit der früheren DDR mit je etwa 3 000 Stipendiaten wurde aufrechterhalten. Im Jahre 1990 haben 2 000 Jugendliche aus Deutschland und der Sowjetunion und 60 Jugendgruppen an Austauschprogrammen teilgenommen. 500 sowjetische Jugendliche waren zu mehrwöchigen Aufenthalten in deutsche Familien gekommen, und die Zahl der Deutschlektoren - in der Vergangenheit aus der Sicht der alten Bundesrepublik gering - ist durch die Übernahme von Lektorenstellen der früheren DDR auf insgesamt 18 erhöht worden. Die deutsche Auslandsschule in Moskau arbeitet heute unter besseren Verhältnissen. So ließe sich noch manches andere erwähnen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts meinen Dank und meinen Respekt für diese Leistung aussprechen und beziehe die Mittlerorganisationen in diese Würdigung ein. Manches bürokratische Hindernis, das wir vor allem auf der sowjetischen Seite erleben, wird hoffentlich noch überwunden werden. Ich glaube, es ist auch gut, wenn sich dieser Bundestag durch seinen heute zu konstituierenden Unterausschuß „Auswärtige Kulturpolitik" aktiv in diesen Austausch und die Besprechung der Möglichkeiten einschaltet.
Lassen Sie mich darauf hinweisen, daß uns im fünften Absatz des Art. 15 des Partnerschaftsvertrages eine besondere Möglichkeit und eine Aufgabe zugemessen wird, die wir uns schon lange gewünscht haben, die zugleich aber auch eine große Verantwortung bedeutet, nämlich die Sorge um die nationale, sprachliche und kulturelle Identität der deutschen Minderheit in der Sowjetunion. Es erfordert große Anstrengungen von uns, wenn wir das erreichen wollen, was wir wünschen, nämlich daß die Menschen deutscher Herkunft dort, wo sie seit Jahrhunderten zu Hause sind, in einer Weise leben können, daß sie sich für die Zukunft sicher versorgt und als Träger eines gedeihlichen Miteinanders der Länder fühlen können. Dies ist noch ein weiter Weg, aber wir wollen tun,
was wir irgend können, um auf diesem Gebiet zu helfen.
({2})
So sehen wir auch den Besprechungen mit dem sowjetischen Kultusminister Gubenko, die, wenn ich mich nicht irre, im Juni fortgesetzt werden, mit großem Interesse entgegen. Bei seinem letzten Besuch hat uns Minister Gubenko in den Gesprächen, die wir hatten, ungefragt daran erinnert, daß es seit 800 Jahren privilegierte Kulturbeziehungen zwischen Deutschland und den baltischen Republiken gegeben hat. Er sagte, dies sei etwas, was uns ebenfalls zu interessieren habe und was uns vor Aufgaben stelle. Wir sollten ausloten, welche Möglichkeiten bestehen. Wir kennen diese Beziehungen, und wir sind gewillt, sie aktiv weiter auszugestalten.
({3})
Herr Präsident, schließlich erinnere ich noch an eine wichtige Regelung im Art. 16 des Vertrages, wo es um verschollene und unrechtmäßig verbrachte Kunstschätze geht, die den Eigentümern oder Rechtsnachfolgern zurückgegeben werden sollen. Dieser Passus hat durch die Meldungen, die in den letzten Tagen sowohl in der Presse der Sowjetunion wie in deutschen Zeitungen aufgetaucht sind, eine erhebliche und spannende Aktualität bekommen. Wir alle hoffen, daß es hier in absehbarer Zeit zu befriedigenden Regelungen kommt. Wir sollten uns dabei den Dingen behutsam nähern. Hier geht es nicht nur um deutsches Eigentum, das in die Sowjetunion verbracht sein mag, sondern hier stoßen wir auch auf die Spuren des nationalsozialistischen Kunstraubs. Manches Unrecht ist hier noch wiedergutzumachen, auch im Interesse unseres Ansehens.
({4})
Ich kann die Bestimmungen des Vertrages, die ich erwähnt habe, nur äußerst positiv bewerten. Aber ich muß darauf hinweisen, daß der Wortlaut dieser Verträge, sosehr wir uns schon auf dem richtigen Wege befinden, nur das eine bedeutet: Es wird an uns sein, den Wortlaut dieser Verträge umzusetzen und ihn mit so intensivem Leben wie nur irgend möglich zu erfüllen. Dazu, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, werden wir uns in diesem Hohen Hause noch manches Mal zu entschließen haben, und wir werden uns dafür einsetzen müssen. Ich hoffe, daß wir das gemeinsam tun werden.
({5})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, habe ich bekanntzugeben, daß der Abgeordnete Lowack mitgeteilt hat, daß er sich an der Abstimmung nicht beteiligen werde. Der Abgeordnete Koschyk hat eine Erklärung gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben * ).
*) Anlage 2
Vizepräsident Hans Klein
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik. Das sind die Drucksachen 12/198 und 12/414. Der Ausschuß für Wirtschaft empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
({0})
Jetzt kommen wir zu dem Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit auf den Drucksachen 12/199 und 12/390 ({1}). Dazu folgt ein kurzes erläuterndes Wort des Kollegen Voigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß der Auswärtige Ausschuß auf Drucksache 12/390 ({0}) eine neue Beschlußempfehlung vorgelegt hat. Darin heißt es:
Der Ausschuß stimmte der Auffassung zu, daß die Regelung des Art. 18 Abs. 1 nur solche Denkmäler erfaßt, die den sowjetischen Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind. Denkmäler, bei denen dies nicht der Fall ist und die etwa der Verherrlichung des Stalinismus dienen, genießen nicht den Schutz dieser Regelung.
Diese Fassung ist möglicherweise für spätere Verfahren auf dem Gebiet der ehemaligen DDR von Bedeutung.
Vielen Dank.
({1})
Mit dieser Ergänzung empfiehlt der Auswärtige Ausschuß, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
({0}) Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Egon Susset, Richard Bayha, Peter Bleser, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Johann Paintner, Günther Bredehorn, Ulrich Heinrich, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die strukturelle Anpassung der Landwirtschaft an die soziale und ökologische Marktwirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik - Landwirtschaftsanpassungsgesetz - und anderer Gesetze
- Drucksache 12/161 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
- Drucksache 12/404 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Gerald Thalheim Dr. Hedda Meseke
({2})
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Besteht Einverständnis? - Ich sehe keine gegenteiligen Meinungsäußerungen. Dann ist dies so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete von Stetten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben ja inzwischen Übung, kurzfristig kurzlebige Gesetze vorzulegen und zu verabschieden. Kurzfristigkeit erhöht die Gefahr der Unvollständigkeit; Kurzlebigkeit hat den Vorteil, daß rechtlich bedenkliche Gesetze sich selbst wieder aufheben.
Dies alles rechtfertigt sich nur aus der Notwendigkeit, die vierzigjährige sozialistische Mißwirtschaft möglichst schnell, möglichst gesetzeskonform und möglichst menschlich zu beseitigen. Dazu dient auch das vorliegende Landwirtschaftsanpassungsänderungsgesetz, wie ich es nennen möchte, das im einzelnen noch von der Frau Kollegin Dr. Meseke erläutert wird. Es löst sich im Grunde genommen wie das Altgesetz vom 29. Juni 1990 mit Ablauf des 31. Dezember 1991 selbst auf, nachdem die bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgelösten Produktionsgenossenschaften kraft Gesetzes aufgelöst sind und abgewickelt werden.
Auf die Bedenken bezüglich der erweiterten Haftung der Vorstandsmitglieder mit der Beweislastumkehr wird noch verwiesen werden.
Die Probleme der Vermögensauseinandersetzung gemäß §§ 44 ff. sind erkannt. Eine Regelung wie die vorgelegte ist notwendig.
Dennoch oder gerade deswegen hat der Rechtsausschuß vorgeschlagen, die Rechtsstreitigkeiten aus diesem Gesetz ausschließlich dem zuständigen Landwirtschaftsgericht zuzuweisen und eine Instanz, nämlich die Beschwerdeinstanz beim Oberlandesgericht, wegfallen zu lassen.
Ein sicher sehr sinnvolles obligatorisches Schiedsgerichtsverfahren wurde aus verfassungsrechtlichen Bedenken nicht aufgenommen, obwohl ein solches Verfahren nochmals zur Beschleunigung beigetragen hätte.
Es verblieb daher bei einem Hinweis auf § 66 a mit dem Schiedsverfahren und, wie ich hinzufügen darf, der wärmsten Empfehlung, dieses Verfahren anzuwenden.
Den Bedenken des Justizministeriums, der bisher schon bestehenden Möglichkeit der Umwandlung einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in eine Genossenschaft weitere Möglichkeiten hinzu1496
zufügen, standen die Wünsche der Praxis aus den neuen Bundesländern entgegen. So wurden nun die Möglichkeiten geschaffen, eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft zusätzlich in eine Personengesellschaft des bürgerlichen Rechts oder eine Personengesellschaft des Handelsrechts - Offene Handelsgesellschaft und Kommanditgesellschaft - oder in eine Kapitalgesellschaft - Gesellschaft mit beschränkter Haftung oder Aktiengesellschaft - umzuwandeln. Ich darf in diesem Zusammenhang anmerken, daß wir damit eine Fülle von Möglichkeiten geschaffen haben und daß wir von daher eine weitergehende Gesellschaft, die landwirtschaftliche Gruppengesellschaft, nicht benötigen.
Gemäß § 23 a ist sichergestellt, daß keine Kleinsthandelsgesellschaften entstehen und es insofern bei der bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft bleibt. Die Mehrheiten für den Umwandlungsbeschluß entsprechen den im Gesetz vorgesehenen Quoren des § 7 Abs. 2 und 3, wobei die für die jeweils gewählte Gesellschaft notwendigen Formvorschriften eingehalten werden müssen.
Die neue Gesellschaft ist in das dafür zuständige Register - mit Ausnahme der Personengesellschaften - einzutragen. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, daß quasi die Austragung aus dem LPG-Register erfolgt, damit gewährleistet ist, daß die bisherige LPG mit dem Umwandlungsbeschluß in der neuen Gesellschaftsform weiterlebt und Gläubiger durch Veröffentlichung und Einsichtsrechte geschützt sind.
Eine Besonderheit gegenüber den geltenden Umwandlungsgesetzen besteht darin, daß der Umwandlungsbeschluß gemäß § 26 Abs. 6 ein Abfindungsangebot für bisherige Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft enthalten muß, weil nicht nur widersprechende Mitglieder der LPG, sondern alle Mitglieder gemäß § 36 Abs. 2 binnen zwei Monaten nach Eintragung der neuen Gesellschaft das Angebot auf Barabfindung annehmen können.
Um Verzögerungen durch Anfechtung der Bewertung zu vermeiden, ist festgelegt,. daß wegen der Bemessung der Höhe der Anteile bzw. des Barabfindungsangebots keine Anfechtung des Umwandlungsbeschlusses erfolgen kann, sondern lediglich die Möglichkeit besteht, eine gerichtliche Neufestsetzung zu beantragen. Das Gericht hat dann den Ausgleich einer angemessenen Barabfindung zu bestimmen. Insofern ist diese Anfechtung nur in Form von Geld oder Anteilsausgleich möglich. Folgerichtig gilt die Zulassung des Formwechsels auch für die kooperativen Einrichtungen von mehreren LPG, die als juristische Personen bestehen, unter entsprechender Anwendung der Umwandlungsvorschriften.
Meine Damen und Herren, der Aufwand für dieses Gesetz für die kurze Zeit ist nur durch das offensichtliche Bedürfnis der Praxis unter der Maxime der Beschleunigung zu vertreten. Mit diesem Gesetz sind aber den Menschen die Aufhebung und Umwandlung der sozialistischen Landwirtschaftsstruktur mit ihren Mammutbetrieben leichter und sicher auch gerechter möglich. Deswegen sollte dieses Gesetz verabschiedet werden.
Danke schön.
({0})
Ich erteile dem Minister für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten des Landes Brandenburg, Edwin Zimmermann, das Wort.
Minister Edwin Zimmermann ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist verständlich, daß Regierungen der neuen Länder als Betroffene an einer Gesetzgebung besonders aufmerksam teilnehmen, mit der ein Gesetz erstmals novelliert wird, das ausschließlich für die Landwirtschaft des Beitrittsgebiets geschaffen wurde.
Das betrifft besonders Brandenburg. In unserem Land, das nicht von ungefähr als „Streusandbüchse des Reiches" bekannt ist, hat sich die Landwirtschaft nach dem mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eingetretenen Preisbruch bereits drastisch verändert. Jede weitere Maßnahme, die das landwirtschaftliche Vermögen betrifft, wird daher - wie in einem Brennglas - die sozialökonomischen Bedingungen für den Umbau zur Sozialen Marktwirtschaft beeinflussen.
Nach den Bauernprotesten, die der erste Entwurf der Novelle zum Landwirtschaftsanpassungsgesetz auslöste, ist es schon ein Fortschritt, heute nicht nur einen neuen, sondern auch einen anderen Entwurf vorzufinden, einen Entwurf, der sich erheblich von jenem unterscheidet, den die Regierungsparteien im März vorlegten, und das ist gut so.
Aber dennoch bleiben ganz erhebliche Bedenken. Der Entwurf wird nach wie vor in wesentlichen Punkten den tatsächlichen Bedingungen der Brandenburger Landwirtschaft nicht gerecht und erschwert damit den erforderlichen Umstrukturierungsprozeß. Das dürfte für das Beitrittsgebiet insgesamt nicht anders sein.
Ich möchte vor diesem Hohen Hause lediglich zwei besonders problematische Regelungsbereiche ansprechen: die Abfindungsregelung des § 44 und die Haftungsregelung des § 3 a.
Die sogenannte Abfindung - § 44 - geht ohne Neubewertung der Kredite der LPG weitgehend ins Leere, bzw. sie löst eine Begehrlichkeit der Inventareinbringer auf die meist viel zu knappen Barmittel aus und läßt die Genossenschaften erst recht mit Volldampf gegen die Mauer laufen. Daran ändert auch die gute Absicht nichts, mit einer Barabfindung die notwendige Wiedereinrichtung bäuerlicher Landwirtschaftsbetriebe besser unterstützen zu können.
Die Realität ist eine andere. Durch die Folgen der Währungs- und Wirtschaftsunion wurden die Werte der Gebäude, der Anlagen, des toten und des lebenden Inventars in einer Weise entwertet, daß die Bilanzposten im Aktiv heute in einem krassen Mißverhältnis zu den Krediten stehen, über die sie finanziert wurden und die bekanntlich nur im Verhältnis 2: 1 abgewertet wurden. Den Banken wurden auf diese Weise also große Mengen an Vermögen der LPG quasi staatlich zugesprochen, zu Lasten des Eigenkapitals der Genossenschaften.
Als Folge davon gibt es in Brandenburg zur Zeit nur noch wenige LPG, die ein Eigenkapital haben, das die
Minister Edwin Zimmermann ({1})
schrittweise Umsetzung des Verteilungsmodus gemäß § 44 überhaupt noch zuläßt.
Noch ein Weiteres. Zur Zeit erhalten die Bauern, die wieder einen eigenen Betrieb einrichten wollen, zumindest den ehemaligen Inventarbeitrag zurück. In vielen LPG wird der Inventarbeitrag auch an alle ehemaligen Bauern erstattet, im Sinne einer vorberechtigten Forderung. Wir setzen uns nach wie vor dafür ein, daß diese Praxis auch im Konkursfall gilt. Wenn in diesen Fällen aber das Eigenkapital per Gesetz Ausgangsgröße für die Rückerstattung wird, werden die Personen, die über die Neufassung des § 44 begünstigt werden sollen, zu potentiell Geschädigten. Nach Schätzungen von Bankfachleuten besteht dieses Risiko bei etwa drei Viertel der LPG.
Mir ist unverständlich, daß hierzu die Vertreter der Regierungsparteien so schnell ihren Standpunkt änderten. Noch im Februar-Entwurf stand - ich zitiere aus der Begründung, Seite 28 - : Nachdem die LPG- Mitglieder durch den Staat zum Eintritt in die LPG gezwungen wurden, erscheint eine faktische persönliche Haftung der LPG-Mitglieder - mit ihrem Inventarbeitrag - unbillig.
Mit dem Entwurf, den Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten der Regierungsfraktionen, heute beschließen wollen, haften Inventareinbringer bei einer Überschuldung ihrer LPG mit dem Gegenwert ihres vor 20 bis 30 Jahren häufig zwangsweise eingebrachten Vermögens. Das ist doch absurd.
({2})
Die LPG oder ihre Folgebetriebe sind allein nicht in der Lage, dieses Mißverhältnis zwischen Schulden und Vermögenswerten auszugleichen. Brandenburg regt deshalb im Verein mit anderen neuen Bundesländern seit längerem eine Wertberichtigung der Kredite an.
({3})
Die letzte Agrarministerkonferenz in Hameln am 8. März 1991 hat auf meinen Vorschlag einen entsprechenden Beschluß - ohne Gegenstimmen oder Stimmenthaltung - gefaßt:
Die Agrarminister fordern, das Problem der Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen in den neuen Bundesländern einer schnellen Lösung zuzuführen. Dabei ist von einer an den tatsächlichen Verhältnissen orientierten Bewertung auszugehen, und deshalb sind entsprechende Wertberichtigungen vorzunehmen.
({4})
Diese Forderung muß aus betriebswirtschaftlicher Sicht vor der Aufteilung des LPG-Vermögens erfüllt werden.
Meine zweite Bemerkung betrifft die Haftung der Vorstandsmitglieder. Gegenüber der ersten Fassung im Februar wurden die Haftungsgründe klar an die Gepflogenheiten im Genossenschaftsbereich angepaßt. Inakzeptabel ist meines Erachtens aber nach wie vor, daß die Vorstandsmitglieder im Streitfall die Beweislast trifft. Bei einer Verjährungsfrist von drei Jahren würde dies zu einer untragbaren Belastung für einen Personenkreis führen, der die Vorstandstätigkeit in aller Regel ehrenamtlich durchgeführt hat und seine Risikoabsicherung nicht aus einem Jahresgehalt in sechsstelliger Höhe bezieht wie der Geschäftsführer einer Genossenschaft in Westdeutschland, sondern mit 8 DM pro Stunde oder weniger zufrieden sein muß.
Ich erwarte daher, daß viele Vorstandsmitglieder ihre Ämter niederlegen werden. Wenn aber der Kapitän und seine Steuerleute das angeschlagene Schiff LPG vorzeitig verlassen, riskieren wir, daß das Schiff sinkt, bevor sich die Besatzung in die Boote retten kann.
({5})
Wollen wir das?
Meine Damen und Herren, die Mitglieder des Ernährungsausschusses der Volkskammer hatten das Landwirtschaftsanpassungsgesetz dem Parlament der DDR einstimmig zur Annahme empfohlen.
({6})
Es wurde mit wenigen Gegenstimmen angenommen.
({7})
- Ich werde darauf nachher antworten.
Einige ehemalige Abgeordnete der ehemaligen Volkskammer sitzen ja nun auch in diesem Hohen Haus.
({8})
Erste Gespräche mit einigen von ihnen erwecken den Anschein, daß die Absicht einer strukturellen Anpassung der Genossenschaften aus dem vergangenen Jahr zunehmend - und das höre ich ja auch - von einem - westlichen - Geist der Liquidation dieser - östlichen - Landwirtschaft bestimmt wird.
({9})
Wenngleich die ökonomische Logik eines derartigen Ansatzes in Teilbereichen nicht von der Hand zu weisen ist, sollte sie sehr sorgfältig mit den Grundsätzen einer zeitgemäßen politischen Kultur und den Demütigungen der Betroffenen abgewogen werden, die eine derartige verkappte Liquidation auf gesetzlichem Wege nach sich ziehen würde.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
({0})
Ich meine, die Einwendungen, die wir gerade gehört haben, insbesondere zum § 3 a, wo es um die Haftungsfrage geht, sind nicht gerechtfertigt. Ich meine, wenn wir hier niedergeschrieben haben, daß derjenige mit seinem Vermögen in Haftung treten muß, der die Pflichten vorsätzlich oder fahrlässig verletzt, ist das mit unserem Rechtsverständnis durchaus in Einklang zu setzen und kommt nicht in Konflikt mit dem, was hier eben berichtet worden ist.
Darüber hinaus sehen wir uns jetzt gezwungen, laufend - Schritt für Schritt arbeiten wir auch daran - die Auswirkungen des Unrechtsstaates DDR aufzuarbeiten.
({1})
Im Bereich des Eigentums und des Grundbesitzes sind diese Auswirkungen ganz besonders einschneidend und gravierend und für unser rechtsstaatliches Denken und Handeln nicht nachvollziehbar. Kommunistische Ideologien, gepaart mit einer allgemeinen Verunsicherungsstrategie, haben letztendlich zu einem kaum zu entwirrenden Knäuel besonders im Bereich der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften geführt. Von dieser Ausgangslage müssen wir jetzt einfach ausgehen und können nicht so tun, als wären in der ehemaligen DDR immer andere Verhältnisse gewesen, die wir jetzt mit einem Strich beseitigen könnten. Da wurde zwangsenteignet,
({2})
aufgesiedelt, dann wieder zwangskollektiviert. Das Land mußte kostenlos, d. h. ohne Pachtanspruch, abgegeben werden, und zusätzlich mußten noch sogenannte Inventarbeiträge als Geld- oder Sachleistungen erbracht werden.
({3})
- Das kennen Sie. Aber die Leute draußen, auch in den alten Bundesländern, kennen das nicht. Das muß hier, wenn wir ein Gesetz abschließend beraten, auch einmal gesagt werden, Herr Kollege.
({4})
Wir tun immer so, als ob das alles schon Allgemeingut sei. Das ist es eben leider Gottes nicht. Sonst brauchten wir so etwas nicht zu machen.
Die Trennung zwischen der Pflanzen- und der Tierproduktion war nicht nur betriebswirtschaftlicher Unsinn, sondern hatte, da in der Regel die Ansprüche der Inventargeber zwischen den beiden selbständig geführten LPGen Pflanze und Tier nicht verrechnet wurden, zur Folge, daß wir kein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren gefunden haben - jetzt kommen Sie, meine verehrten Kollegen von der SPD - , das eine justitiable Entflechtung gewährleistet hätte.
({5})
Das ist der entscheidende Punkt. Wir mußten uns doch damit auseinandersetzen, wo die Verflechtungen zwischen den Produktionsgenossenschaften Pflanze und Tier stattgefunden haben.
({6})
Mit der jetzigen Regelung konnte allenfalls ein Kompromißweg gefunden werden. Um diesen von mir eben geschilderten Knäuel zu entwirren und wieder rechtsstaatliche Verhältnisse zu schaffen, hat die Volkskammer am 29. Juni 1990 ein Landwirtschaftsanpassungsgesetz verabschiedet. Die darin getroffenen Regelungen waren jedoch zu ungenau und dem sensiblen Bereich einer Vermögensauseinandersetzung nicht angemessen.
Wir wollen dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung novellieren. Bei den Beratungen haben wir uns von folgenden Gesichtspunkten leiten lassen: Wir waren uns innerhalb der Koalition von Beginn an einig, daß dieses kein Wiedergutmachungsgesetz und erst recht kein Entschädigungsgesetz sein kann; es geht nur um eine Auseinandersetzung der Vermögen. Das ist der Grundansatz für dieses Gesetz. Die Umwandlung der LPGen in private Wiedereinrichter, eingetragene Genossenschaften, Personengesellschaften oder Kapitalgesellschaften muß dazu führen, daß wettbewerbsfähige landwirtschaftliche Betriebe entstehen können. Es wäre geradezu unverantwortlich, wenn wir - aus welchen Gründen auch immer - eine Zerschlagung der vorhandenen Strukturen in Kleinbetriebe vornehmen würden.
Gleichzeitig haben wir großen Wert darauf gelegt, daß persönliche Entscheidungen der Landeigentümer nun frei getroffen werden können und daß derjenige, der z. B. seinen Vier-Hektar-Betrieb bewirtschaften will, das in Zukunft tun kann, daß aber derjenige, der mit seinem Land anderes vorhat, ebenfalls in die Lage versetzt wird, frei darüber zu verfügen.
Des weiteren muß die Zuordnung des Eigenkapitals gerecht erfolgen, und bei einer Herausnahme des Eigenkapitals, d. h. beim Ausscheiden eines Mitglieds aus der Genossenschaft, darf die Existenzfähigkeit des Betriebes nicht über Gebühr belastet werden.
Jetzt komme ich zu dem, was der Herr Kollege von der SPD gesagt hat, der die Entschuldungsfrage angesprochen hat. Die Entschuldung ist nicht Inhalt dieses Gesetzes; die Entschuldung läuft auf einer anderen Schiene und kann in diesem Gesetz nicht geregelt werden,
({7})
so richtig und so wichtig diese Fragen sind; dies wird auch von uns mitgetragen.
Wir haben gerade vorgestern bei der Treuhand in Berlin erfahren, wie schwer die Entschuldungsfrage zu lösen ist. Wir müssen bei der Entschuldung noch über die 1,4 Milliarden DM hinausgehen, hier haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Die Vermögensauseinandersetzung eröffnet allerdings nur einen sehr schmalen Pfad zwischen den Interessen des Betriebes und den berechtigten Interessen der Mitglieder mit Inventaranspruch, der gegangen werden kann. Ich meine, mit dieser Novelle
sollte es auch gelingen, ungerechtfertigte LPG-Konkurse zu verhindern; denn an dem damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen kann niemand ein Interesse haben, sozialpolitisch nicht, aber auch agrarpolitisch nicht, weil damit Verluste bäuerlichen Vermögens, und zwar nicht nur in den neuen Bundesländern, verbunden wären. Der Druck auf die Boden- und Anlagenmärkte hätte angesichts des hohen Verschuldungsgrades unserer Landwirtschaft auch im Westen höchst negative Auswirkungen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch auf einige wesentliche Einzelheiten eingehen. Da ist natürlich der § 44 anzusprechen, in dem die Vermögensauseinandersetzung im einzelnen geregelt wird. Hier war es mir im Sinne einer Erhaltung der Betriebe besonders wichtig, daß die Pachtkosten nicht so hoch angesetzt werden. Der ursprünglich vorgesehene Preis von 2,50 DM pro Bodenpunkt und Hektar hätte nach meiner Auffassung auf 1,50 DM gesenkt werden sollen. Wir haben uns dann auf 2 DM geeinigt; das ist noch vertretbar. Besonders befriedigt bin ich darüber, daß es uns gelungen ist, die Wertschöpfung durch Arbeit bei ausscheidenden Mitgliedern in der Weise zu berücksichtigen, daß bei der Berechnung nur ein Betrag in Höhe von 70 % des Eigenkapitals zugrunde gelegt wird.
Sie sehen, mit diesen Maßnahmen haben wir versucht, so gut es irgend möglich war, sowohl den Belangen der Eigentümer als auch natürlich den Belangen in bezug auf die Existenzfähigkeit der Betriebe Rechnung zu tragen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oostergetelo?
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Heinrich, ich hatte während Ihres Vortrages das Gefühl, als wollten Sie den Eindruck erwecken, Sie hätten die Verbesserungen gegen uns erreicht. Sind Sie nicht bereit, zuzugeben, daß wir die Anhörung durchgesetzt und die Verbesserungen des alten Entwurfs, die in der Ausschußfassung enthalten sind - was auch Sie anerkennen - , wesentlich auf unserer Initiative beruhen?
Herr Kollege Oostergetelo, ich darf hier berichten, daß Ihre Anträge, die im Ausschuß gestellt worden sind, vom Ausschuß mehrheitlich nicht angenommen worden sind, sondern abgelehnt worden sind und daß wir die Veränderungen der ursprünglichen Vorlage in den Koalitionsfraktionen vorgenommen haben.
({0})
- Da war er nicht da.
Die Anhörung war notwendig und richtig, Herr Kollege Oostergetelo, und ich komme darauf in meinen weiteren Ausführungen noch zu sprechen.
Herr Kollege Heinrich, der Kollege Oostergetelo hätte eine weitere Frage. Sind Sie auch dazu noch bereit?
Ja.
Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, daß die Koalitionsfraktionen so gut gearbeitet haben, daß sie innerhalb eines Monats einen neuen Entwurf vorgelegt haben, und zwar aus eigener Initiative?
Herr Kollege Oostergetelo, Sie wissen genau wie ich, wie schwierig die Materie ist, und Sie wissen, unter welchem Zeitdruck wir stehen. Sie wissen, daß dieses Gesetz zwecklos ist, wenn wir es nach dem 31. Dezember 1991 vorlegen; denn bis dahin sollen die LPG ohnehin aufgelöst werden.
({0})
Deshalb war es nur möglich, hier schnell zu arbeiten, indem wir dieses Verfahren, auch angewandt haben, Herr Kollege.
({1})
Lassen Sie mich auf die Sorgen hinsichtlich der Liquidität der Betriebe zurückkommen. Sie sollte nicht über Gebühr belastet werden. Ich möchte dabei den § 64 a ansprechen, in dem der Bereich „Wald" abgehandelt wird. Auch hier haben wir auf Grund der Anhörung und von vielen Einzelgesprächen mit Betroffenen, abweichend vom ursprünglichen Text, noch Belastungen von LPGen und Waldbesitzern abgewendet. Sie sehen, wir haben uns hier in den Beratungen Mühe gegeben, auch in vielen, vielen Tagen und Bereisungen, auch ich als ein Schwabe, ein Süddeutscher, der sich in die Materie eingearbeitet hat. Mir ist es ein Anliegen, daß die Betriebsstrukturen drüben auch in Zukunft wettbewerbsfähig sein können und im europäischen Wettbewerb bestehen können.
Die ursprüngliche Regelung, die in Abs. 3 vorsah, daß eingetretene Wertveränderungen in den Waldbeständen zwischen den Grundstückseigentümern in Geld ausgeglichen werden sollten, war nicht haltbar. Wir haben deshalb den dritten Absatz ganz gestrichen und in der Begründung zum Gesetz darauf hingewiesen, daß bei Ansprüchen insbesondere auf Aufforstungsmaßnahmen von benachteiligten Waldeigentümern gegen die Treuhand als Rechtsnachfolger der staatlichen Forstwirtschaftsbetriebe jeder Einzelfall zu prüfen sei. Hier wurde eine einseitige Aufkündigung zwischen den Forstwirtschaftsbetrieben und den LPGen vorgenommen. Da muß natürlich auch dafür gesorgt werden, daß der Rechtsnachfolger, nämlich die Treuhand, entsprechend mit zur Rechenschaft bzw. in den notwendigen Einzelfällen zum finanziellen Ausgleich herangezogen werden kann.
Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz wird die Grundlage geschaffen, daß Wiedereinrichter von bäuerlichen Betrieben eine Chance bekommen. Deshalb haben wir ihnen in verschiedenen Punkten einen Vorteil gegenüber den ausscheidenden Mitgliedern eingeräumt. Ich meine, dies ist gerechtfertigt und von uns auch politisch ganz bewußt so gewollt. Ich hoffe nur, daß möglichst viele Bauern den Sprung ins kalte Wasser wagen. Denn ob sich Personengesellschaften, eingetragene Genossenschaften, Kapitalgesellschaften im europäischen Wettbewerb werden behaupten
können, kann uns heute noch niemand sagen. Das wird erst die Zeit lehren.
Deshalb, meine ich, haben wir gut und richtig gehandelt, die Entscheidungsmöglichkeit möglichst breit anzulegen und all diese Gesellschaftsformen zugelassen, die unter Umständen in der Lage sind, die großen Probleme im landwirtschaftlichen Bereich in den fünf neuen Bundesländern zu bewältigen.
({2})
Herr Kollege Meckel, die Redezeit von Herrn Heinrich ist im Augenblick abgelaufen.
({0})
Ich hätte aber gern noch die Frage beantwortet.
Das glaube ich. Ulrich Heinrich ({0}) : Ich bedanke mich.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Heinrich, Sie haben völlig recht: Unkenntnis über die tatsächlichen Verhältnisse stand offenbar Pate beim ersten Entwurf - Drucksache 12/161 - vom 26. Februar. Dieser ursprüngliche Entwurf wurde ja auch von den Einbringern aus den Koalitionsparteien selbst zweimal erheblich verändert,
({0})
und zwar als Ergebnis vieler - auch unserer - Proteste. - Ich freue mich, daß Sie so lebhaft darauf reagieren.
({1})
- Den nutze ich auch, ich freue mich ebenso, daß Sie ihn auch nutzen.
Ich selbst hatte in einer Presseerklärung am Tag der ersten Lesung den damaligen Entwurf als juristischen Todesstoß für die Genossenschaften charakterisiert, weil vor allem die vorgesehenen Regelungen zur Aufteilung des Eigenkapitals der LPG und zur Fälligkeit daraus abgeleiteter Ansprüche darauf gerichtet waren, einem massenhaften Abfluß von Kapital aus der Landwirtschaft Tür und Tor zu öffnen.
({2})
Dadurch würde angesichts der sowieso schon katastrophalen Liquiditätslage meines Erachtens die letzte Chance für eine noch einigermaßen vernünftige Umstrukturierung der ostdeutschen Landwirtschaft verspielt.
Verspielt wurde durch die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung, durch nicht stimmende Rahmenbedingungen schon viel zu viel. Die Leidtragenden sind einzig und allein die Bauern.
({3})
Daß das alles andere als PDS-Propaganda war und ist, das belegte eindeutig die im Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten erfolgte Expertenanhörung, in der sich die Experten bei aller Unterschiedlichkeit im Detail darüber einig waren, daß nur über die Sicherung eines produktiven Kapitalstocks im Prozeß der Umstrukturierung überhaupt Nachfolgeunternehmen der LPG - einschließlich der Familienbetriebe - entstehen und bestehen können.
Trotz einer Reihe anerkennenswerter Verbesserungen im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird er insgesamt nicht den tatsächlichen Erfordernissen gerecht. Ich möchte hier lediglich auf zwei Fragen eingehen, was Ihnen, meine Damen und Herren, verdeutlichen soll und hoffentlich wird, daß man diesem Entwurf sowohl aus politisch-wirtschaftlichen als auch aus rechtlichen Erwägungen die Zustimmung verweigern muß.
Zur ersten Frage: In § 44 ist jetzt vorgesehen, daß für die Berechnung des Abfindungsanspruchs ausscheidender Mitglieder ein Betrag in Höhe von 70 % des Eigenkapitals zugrunde zu legen ist. Noch zu Beginn der letzten Ausschußsitzung am 17. April bezog sich das sowohl auf Ansprüche für eingebrachten Boden und eingebrachtes Inventar wie auch auf die Ansprüche aus dem Faktor Arbeit. Jetzt sollen die Faktoren Boden und Kapital, sofern Vermögen vorhanden ist, ungekürzt bedient werden. Allein der Faktor Arbeit, der sowieso schon eine Restgröße für den Fall ist, daß etwas übrigbleibt, soll gekürzt werden. Damit wird dem Sinn der ursprünglichen Regelung, unverteilbare Rücklagen im Interesse des Nachfolgeunternehmens der LPG zu bilden, kaum noch entsprochen; denn es wird nicht viel übrig bleiben.
Zur zweiten Frage - dazu hat bereits Minister Zimmermann in seinem Diskussionsbeitrag gesprochen - : Es geht darum, daß Inventarbeiträge im Gesetzentwurf wie Eigenkapital der LPG behandelt werden. Daran ändert auch nichts, daß nach § 44 Abs. 1 die Rückgewährung der Inventarbeiträge an erster Stelle steht. Konsequent wäre gewesen, eindeutig die Inventarbeiträge als Forderungsrechte der Mitglieder von den Anteilen der Mitglieder am gemeinsam erwirtschafteten Eigenkapital der LPG zu unterscheiden. Meines Erachtens ist die jetzige Konstruktion rechtlich unhaltbar; denn sie führt gemäß § 51 a dazu, daß beispielsweise vor zehn Jahren aus der LPG ausgeschiedene Mitglieder mit ihren Inventarbeiträgen für Schulden haften müssen, die in der LPG erst nach ihrem Austritt entstanden sind.
({4})
Ich meine, darauf würde sich keiner der hier Anwesenden, wäre er Betroffener, einlassen. Ich hatte dieses Problem ja im Ausschuß angesprochen, aber ich habe leider kein ausreichendes Gehör gefunden.
Im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf möchte ich anschließend noch einmal auf die NotwenDr. Fritz Schumann
digkeit hinweisen, die Rahmenbedingungen endlich den tatsächlichen Erfordernissen der Umstrukturierung anzupassen. So darf es als eine Konsequenz aus dem Karlsruher Urteil zur Bodenreform keine Hindernisse mehr geben, das Grundstücksübertragungsgesetz anzuwenden. Das erfordert den Auftrag an die Treuhand, unverzüglich die begrenzte Verpachtung ehemals volkseigener Grundstücke bis September 1991 durch langfristige Pachtverträge bzw. im Verkauf abzulösen. Ohne das ist kein Nachfolgeunternehmen der jetzigen LPGen in der Lage, einen vernünftigen Entwicklungsplan zu erstellen, um Partner z. B. auf dem Kreditmarkt zu finden.
Ich bedanke mich.
({5})
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Dr. Hedda Meseke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über das Gesetz zur Änderung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes entscheiden, dann müssen wir uns - das zeigt auch die bisherige Debatte - bewußt sein, daß wir uns sowohl rechtlich als auch faktisch auf einem sehr schwierigen Terrain bewegen. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben diesen Gesetzentwurf eingebracht, um damit nach nicht ganz einem Dreivierteljahr ein Gesetz der frei gewählten Volkskammer zu ändern. Aber der Grund für diese ungewöhnliche Initiative ist: In den fünf neuen Bundesländern hat sich gezeigt, daß die Praxis dort mit dem bestehenden Recht zum größten Teil nicht zurechtkommt.
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Das ist bisher von keinem Redner, auch nicht vom brandenburgischen Landwirtschaftsminister, widerlegt worden.
Die Situation in den LPGen, die noch nicht aufgelöst, umgewandelt oder geteilt sind, wird allgemein als äußerst unbefriedigend angesehen. Grund für die Initiative ist aber auch, daß es zahlreiche Einzelbeschwerden von Grundeigentümern gibt, die sich benachteiligt fühlen. Außerdem gibt es viele Klagen von Wiedereinrichtern landwirtschaftlicher Betriebe, die sich beim Aufbau ihrer Existenz von den LPGen behindert sehen. Hinzu kommt, daß das geltende Landwirtschaftsanpassungsgesetz in § 69 bestimmt, daß alle LPGen, die keine Rechtsänderung erfahren, zum 31. Dezember 1991 in Genossenschaften im Aufbau umgewandelt werden. Das heißt normalerweise Auflösung. Es ist daher der allgemeine Wunsch der betroffenen Kreise aus den neuen Bundesländern, daß der Bundestag das Landwirtschaftsanpassungsgesetz so schnell wie irgend möglich ändert.
Die Beratungen des Agrarausschusses - das darf ich aus persönlicher Erfahrung sagen - waren trotz des Zeitdrucks außerordentlich intensiv. Es war ein großes Bemühen der Kollegen aus den neuen Bundesländern, die aktuellen Probleme deutlich zu machen, aber auch die Hintergründe aus der Entstehungsgeschichte zu erklären. Es war auch ein großes Bemühen der Kollegen aus den alten Bundesländern da, diese
Probleme der für uns so fremden Landwirtschaftsform zu begreifen.
Im Laufe der Beratungen und auch heute ist mir klar und klarer geworden, wieviel persönliche Betroffenheit, wieviel Leid, Angst, Einschränkungen und Drohungen die Betroffenen in den vielen Jahren haben erleiden müssen. Bei der Kollektivierung der Landwirtschaft handelte es sich nun einmal nicht nur um einen staatlich verordneten Umstrukturierungsprozeß aus im übrigen falschen agrarpolitischen Erwägungen, sondern hier ist ähnlich wie in der Sowjetunion in den 20er Jahren bewußt und zielgerichtet eine für den Aufbau des Sozialismus gefährliche Bevölkerungsschicht beseitigt worden.
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Bei vielen Äußerungen aus den neuen und alten Bundesländern zu den hier anstehenden rechtlichen und agrarpolitischen Problemen schwingt diese Erfahrung mit. Wir müssen uns bewußt sein, wie tief diese alten Wunden in den Menschen sitzen. Das begangene Unrecht dieses Unrechtsstaates wirkt in diesen Menschen fort.
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Das betrifft nicht nur Menschen in der Landwirtschaft in den fünf neuen Bundesländern, das betrifft auch viele Menschen in den alten Bundesländern. Jeder, der die deutsche Landwirtschaft, ihre Menschen, ihre innere Befindlichkeit und ihre feste Bindung an den Eigentumsbegriff kennt, der wird dies verstehen; denn auch in zahlreichen Familien, die heute in den alten Bundesländern leben, wirkt das eigene Schicksal und das ihrer Eltern nach. Viele sind der Kollektivierung nur durch die Flucht entgangen. Ich glaube, es ist wichtig, sich dieser Hintergründe bewußt zu sein.
Alle Diskussionen - auch die heutige - haben gezeigt, daß dieses Änderungsgesetz zum Landwirtschaftsanpassungsgesetz nicht überfrachtet werden darf. Ein solches Gesetz kann nicht 40 Jahre Unrecht zurückdrehen. Es kann und darf keine grundsätzlichen Entscheidungen über Enteignungsfragen treffen. Es kann auch keine Entschuldungsmaßnahmen per Gesetz vorschreiben, die im übrigen von der Bundesregierung zum Teil schon eingeleitet worden sind. Ich glaube, daß die Grenzen, die mit diesem Entwurf gesetzt sind, richtig gezogen sind.
Im übrigen muß darauf hingewiesen werden, daß durch das Gesetz vom 15. März 1990, mit dem die Unteilbarkeit der Fonds aufgehoben wurde, und durch das alte Landwirtschaftsanpassungsgesetz Fakten geschaffen wurden, die vom Gesetzgeber nicht generell negiert werden können. Daraus folgt z. B., daß Entscheidungen über alle Rechtsänderungen bei den LPGen weiter ihren Mitgliedern obliegen.
Allerdings wurden hier auf vielseitigen Wunsch aus den neuen Bundesländern - darauf ist nicht eingegangen worden - die Entscheidungsstrukturen verändert. Dabei spielte die aus vielen Eingaben ersichtliche Forderung nach einer Stärkung der Minderheitsrechte der Eigentümer eine große Rolle. Dieser Minderheitenschutz gilt nun für alle wichtigen Entscheidungen.
Lassen Sie mich nun noch auf einige wesentliche Änderungsvorschläge eingehen. Der § 3 a wird immer wieder kritisiert. Es wird auch heute hier behauptet, gerade die Umkehrung der Beweislast würde zu einer Demotivierung führen. Aber wer außer den Vorstandsmitgliedern, die selber Einsicht haben, kann den Beweis überhaupt führen? Können wir es denn verantworten, daß eine solche einfache Regelung, daß man für Vorsatz und Fahrlässigkeit haftet, bei den schwierigen Umstrukturierungsmaßnahmen, die vor uns stehen, nicht beachtet wird? Ich sehe nicht, daß es hier zu einer Demotivierung kommt; aber ich sehe, daß es zu einer vorsichtigen Umgestaltung kommen muß, um weitere Schäden zu vermeiden.
Auch heute hat sich gezeigt, daß einer der am intensivsten diskutierten Änderungsvorschläge § 44 ist, der die Rechte der ausscheidenden Mitglieder gegenüber der LPG regelt. Das ist nur verständlich, denn der alte § 44 war gründlich mißglückt.
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Die Stellungnahmen aus den neuen Bundesländern und auch die heutigen haben den Eindruck verstärkt, daß nur in den Fällen, in denen ein gutes und einvernehmliches Verhältnis zwischen der LPG-Leitung und den ausscheidenden Mitgliedern vorlag, vernünftige Lösungen vorgenommen worden sind.
§ 44 Abs. 1 sieht nun eine Rangskala der Ansprüche der ausscheidenden Mitglieder vor. Der Anspruch auf Rückzahlung der Inventarbeiträge und aller gleichstehenden Leistungen geht den anderen Ansprüchen vor. Der Anspruch auf Zahlung einer Abgeltung geht wiederum einem Entgelt für die Tätigkeit in der LPG vor. Ich meine, es ist wichtig, daß man weiß, wie diese Berechnungsmodalitäten entstanden sind. Die Berechnungen von 2. und 3. begründen sich aus Modellrechnungen.
Nun zur Kritik, daß diese Ansprüche alle gemeinsam und der Reihenfolge nach nur gegen das Eigenkapital der LPG gerichtet sein können. Wenn das Eigenkapital der LPGen für die Erfüllung dieser Ansprüche heute nicht ausreicht, dann liegt das nicht an der Tatsache, daß man diese Ansprüche gegen das Eigenkapital richtet, sondern daran, daß die LPGen, entweder weil sie das als Wirtschaftsform nicht können oder weil ihre Leiter es nicht wollen oder unfähig sind, schlecht gewirtschaftet haben.
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Das ist aber nicht der ganze Grund. Es gibt noch einen anderen wichtigen Grund, warum vorgeschlagen wird, hier nicht vom Eigenkapital wegzugehen. Nur so kann ich nämlich sicherstellen, daß die Ansprüche nach 1., wenn das Eigenkapital nicht ausreicht, nicht im Windhundverfahren zuerst erfüllt werden, und vermeiden daß dann keine Masse mehr für die Verteilung da ist. Nur so kann ich einen Zwang zur Repartierung, zumindest unter den Einbringern von Inventarbeiträgen, herbeiführen. Ich meine, gerade das ist im Sinne eines gerechten Ausgleiches unter den verschiedenen Inventareinbringern notwendig.
Ich habe es schon einmal gesagt: Man kann mit einem Gesetz nicht einfach Entschuldungsregelungen treffen. Das muß ich hier wiederholen.
Mit der Präzisierung der Ansprüche der ausscheidenden Mitglieder war aber auch die Notwendigkeit verbunden, bei Mitgliedern einer sogenannten LPG Tier zu regeln, gegen welche LPG sich die Ansprüche aus 1. und 2. richten. Hier hat man sich entschlossen vorzuschlagen, diese Ansprüche an die LPG zu richten, bei der die Mitgliedschaftsrechte bestehen. Das bedeutet aber nicht, daß die unglückselige agrarpolitische Entscheidung der früheren DDR, Tier und Pflanze zu trennen, etwa gutgeheißen würde. Dies bedeutet nur, daß für die Rückwirkung keine Möglichkeit gesehen wird. Das bedeutet aber nicht, daß die Politik der Bundesregierung, künftig diese künstliche und agrarpolitisch schlechte und sogar ökologisch bedenkliche Trennung zu beseitigen, richtig ist.
Sie dürfen bei Ihren Diskussionen, bei denen es immer ein bißchen durcheinandergeht - die einen wollen die LPGen erhalten, die anderen wollen den Leuten möglichst viel geben; dann ist es in den Diskussionen manchmal kreuzweise - , nicht vergessen, daß dieses Problem auch im Gesetzentwurf gesehen worden ist. Denn der § 44 neu ist eng verbunden mit der Regelung der Fälligkeit des Anspruchs nach § 49. Diese Regelung hat das Ziel, einen Interessenausgleich zwischen den ausscheidenden Mitgliedern und denjenigen, die in der LPG bzw. ihrer Rechtsnachfolgerin verbleiben wollen, zu schaffen, und sie soll verhindern, daß hier ein Schub in die Liquiditation gemacht wird. Genau deswegen ist auch der § 51 a inhaltlich auf § 44 ausgerichtet worden.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle ganz offen: Ich hätte mich sehr schwergetan, hier eine Rückwirkung auf den 15. März 1990 für schon ausgeschiedene Mitglieder mitzumachen und vorzuschlagen, wenn nicht die Berichte aus den fünf neuen Bundesländern gewesen wären, in welch unzureichender Form und in welch schlechter Form Abwicklungen bisher schon stattgefunden haben. Auch das ist heute nicht widerlegt worden. Weil es diese Berichte gibt, finde ich diese Regelung richtig.
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Lassen Sie mich noch ein ganz kurzes Wort zu § 64 a sagen. Die Eigentümer von Privatwald wurden im Laufe der Kollektivierung der Landwirtschaft überwiegend gezwungen, diesen auch in die LPG einzubringen. Die LPG erhielt die Nutzungsrechte und den Wald, nicht aber den Grund und Boden. Dieser wurde später an die - vereinfachend gesagt - staatliche Forstverwaltung weitergegeben, und diese Verträge werden heute wieder aufgelöst. Jetzt haben wir den Rechtszustand, daß der nackte Boden den Eigentümern gehört und die Bäume - vereinfachend gesagt - noch bei der LPG sind. Das würde es sogar möglich machen, daß Gläubiger der LPGen auf die Bäume zugreifen und entgegen unseren forstpolitischen Zielsetzungen und entgegen jeder ökologischen Vernunft ihre Ansprüche gegen die LPGen geltend machen. Das kann nicht Sinn der Sache sein.
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Meine Damen und Herren, das war nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus den Problemen, die mit diesem Gesetz verbunden sind und die in dieser schnellen und intensiven Form beraten worden sind. Ich kann aus Ihren bisherigen Debattenbeiträgen eigentlich nicht entnehmen, was Sie hindern könnte, diesem Gesetzentwurf in seiner überarbeiteten Form zuzustimmen.
Ich möchte aber eines noch sagen: Jeder, der glaubt, daß mit der Zurverfügungstellung von neuen Rechtsformen Probleme gelöst würden, der täuscht sich. Die Probleme müssen die Menschen lösen, die mit diesen Rechtsformen arbeiten.
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Dazu wünsche ich allen Betroffenen in den fünf neuen Bundesländern viel Erfolg. Die Bundesregierung hat schon gute Rahmenbedingungen geschaffen, und sie wird dies auch weiter tun.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gerald Thalheim.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Menschen in der ehemaligen DDR hatten sich vom Landwirtschaftsanpassungsgesetz der Volkskammer eine klare Handlungsanweisung zur Umstrukturierung der Landwirtschaftsbetriebe und deren administrative Umsetzung erwartet, sowie sie es in der Vergangenheit gewohnt waren. Gleichzeitig hoffte man auf eine moralische und materielle Wiedergutmachung für die Zwangskollektivierung des Jahres 1960. Das konnte das Gesetz nicht leisten, und auch die Novelle wird diese Erwartungen nicht erfüllen können. Ohne die offensichtlichen Mängel des alten Gesetzes leugnen zu wollen, möchte ich trotzdem feststellen, daß die Kritik überzogen war.
({0})
Die unbefriedigende Umstrukturierung ist auch eine Folge mangelhafter Umsetzung vor Ort.
Im § 3 ist die Zielsetzung des Gesetzes mit der Schaffung einer vielfältigen strukturierten Landwirtschaft und der Schaffung von Voraussetzungen für die Wiederherstellung leistungs- und wettbewerbsfähiger Landwirtschaftsbetriebe definiert. Statt im Geiste des alten Gesetzes auf dieses Ziel hinzuarbeiten, haben zu viele Leitungen der LPGen geglaubt, es geht weiter wie bisher.
({1})
Vor allem die wenigen Wiedereinrichter von Familienbetrieben wurden in den meisten Fällen behindert. Auch wurde die Vermögensherausgabe bewußt verzögert. Während viele Vorsitzende bei wirtschaftlichen Entscheidungen sehr großzügig mit dem Geld umgingen, wurde bei der Vermögensherausgabe äußerst restriktiv vorgegangen.
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Der letzte Rest Vertrauen wurde so verspielt.
Die unklaren Äußerungen der Unionspolitiker zur Agrarpolitik in den neuen Ländern taten ein Übriges,
die Menschen zu verunsichern. Ich nenne die Auszahlungspraxis für die Anpassungshilfen im vergangenen Jahr durch das Ministerium und die Entscheidung über die Förderung umstrukturierter Betriebe als juristischer Personen. Die Konzeptionslosigkeit der Regierung wird besonders am Beispiel der Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes deutlich.
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- Ja, ja.
Bis zur letzten Ausschußsitzung wurden neue Lösungsvorschläge unterbreitet und wieder zurückgezogen. Seit dem 3. Oktober, Kollege Heinrich, wäre Zeit gewesen - ich möchte ergänzen: sogar seit dem 18. März - , hier daran zu arbeiten, schlüssige Konzepte zu entwickeln, die der Landwirtschaft und den ländlichen Räumen in den neuen Ländern dienen.
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Die von uns beantragte Anhörung hat hier wichtige Anregungen gebracht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Heinrich?
Ja, bitte.
Herr Kollege Dr. Thalheim, stimmen Sie mir zu, daß dieses Gesetz ein Initiativgesetz der Koalitionsfraktionen ist und wir deshalb nicht vom 3. Oktober ausgehen können? Dazwischen haben, wie Sie wissen, eine Wahl, eine entsprechende Regierungsbildung
({0})
und die Konstituierung gelegen. Ich verstehe also diesen Vorwurf nicht.
Wenn man die politische Entwicklung der letzten vierzig Jahre verfolgt
- ich habe das sehr aufmerksam getan - , mußte man, zumindest als Bürger der ehemaligen DDR, entsprechend den Sonntagsreden den Eindruck haben, daß nichts anderes gemacht wird, als systematisch auf die Einheit hinzuarbeiten. Als sie dann da war
- siehe da! -, gab es für kaum ein Problem, das zu lösen war, ein schlüssiges Konzept. Genügt das als Antwort?
({0})
- Aber Sie hatten das seit vierzig Jahren erwartet, Herr von Stetten.
Bei aller Kritik an der Arbeit der Regierungsparteien: Für die Probleme aus dem stalinistischen Erbe ist die Regierung nicht verantwortlich zu machen.
({1})
Die führenden Agrarpolitiker der SED und ihre Gesinnungsfreunde in den Blockparteien, von denen einige
auch den Weg in dieses Hohe Haus gefunden haben,
waren stets stolz darauf, daß sie in vierzig Jahren mehr verändert haben als in den Jahrhunderten zuvor.
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Ich kann da nur sagen: Wie wahr!
Es wurden historisch gewachsene Strukturen zerstört, die sich nicht ohne weiteres wiederherstellen lassen. So ungünstig die Ausgangssituation auch sein mag, die Aufgabenstellung lautet, die Landwirtschaft der ehemaligen DDR in wirtschaftlich lebensfähige Betriebe umzustrukturieren, die den ökologischen und wirtschaftlichen Erfordernissen der EG genügen. Wir wollen mitwirken, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb haben wir von Anfang an die Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes befürwortet, ohne die alten Zielstellungen des § 3 aus dem Auge zu verlieren. Deshalb hat die SPD-Fraktion eigene Anträge zur Novelle eingereicht, die alle mit Mehrheit der Koalitionsparteien abgelehnt wurden.
({3})
- Die Zukunft wird zeigen, ob das eine gute Entscheidung war.
Ein entscheidendes Ziel unseres Antrages zur Neufassung des § 44 war die erfolgreiche Umstrukturierung der LPG, ohne die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu ignorieren. Wir wollen mögliche Konkurse verhindern und die sozialen Funktionen des ländlichen Raumes erhalten. Wir haben deshalb problemorientierte Regelungen vorgeschlagen, die ebenfalls eine persönliche Zuordnung des Eigenkapitals zu den Anspruchsberechtigten vorsahen.
Im Gegensatz zur vorliegenden Novelle sollten vorrangig jedoch nur Inventarbeiträge ausgezahlt werden. Bei der Rückübereignung der darüber hinausgehenden Ansprüche sollten Wiedereinrichter bezüglich einer sofortigen Rückgewährung ihrer Anteile bevorzugt werden,
({4})
wobei eine Sachleistung angestrebt wurde. Abhängig von der wirtschaftlichen Lage sollte über die Gewährung der übrigen Ansprüche ein Beschluß unter gleichberechtigter Mitwirkung der Boden- und Inventareinbringer in den Betrieben gefaßt werden.
Außerdem war geplant, bei der Aufteilung des Vermögenszuwachses auch den Faktor Arbeit zu berücksichtigen. Nach der vorliegenden Regelung rückt die Zuordnung von Ansprüchen für Arbeit an die letzte Stelle. Das verletzt nach unserer Meinung die soziale Symmetrie. Die Folge ist, daß viele Mitglieder ohne eine Mark Abfindung in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Gerade die über 50jährigen, die in den landwirtschaftlichen Betrieben ein Leben lang gearbeitet haben und dafür Sorge getragen haben, daß heute überhaupt noch etwas zum Verteilen ansteht, wird das hart treffen.
({5})
Wenn diese Beschäftigten keine Abfindung aus dem
Betriebsvermögen erhalten sollen, fordern wir eine
ähnliche soziale Regelung wie bei Entlassungen aus Betrieben, die der Treuhand unterstehen.
({6})
Die Neuregelung der §§ 44, 49 und 54 berücksichtigt nur ungenügend, daß die meisten Betriebe über kein Geldvermögen verfügen. Im Gegenteil, die Finanzierung der Frühjahrsbestellung mußte zum Teil über Kredite erfolgen.
Zur Begleichung der Ansprüche aus dem § 44 müßten die Genossenschaften Anlagevermögen und Umlaufmittel veräußern. Trotz zeitlicher Staffelung der Ansprüche befürchten wir vermehrte Konkurse. Schon jetzt gibt es zahlreiche Auflösungen von LPGs ohne Rechtsnachfolger. Das könnte zur Regel werden. Dies hätte verstärkte Verluste von noch vorhandenem Anlagevermögen und damit von bäuerlichem Eigentum zur Folge,
({7})
das in der Folge für Neugründungen von Betrieben und damit für eine erfolgreiche Umstrukturierung der Landwirtschaft fehlen würde.
Die jetzt vorgelegte Novelle wird gern mit dem Etikett „klar" versehen. Wir sehen das anders. Die genannten Paragraphen legen für Berechnungen der Ansprüche, abhängig vom Kündigungstermin, unterschiedliche Bilanzen zugrunde. Außerdem werden für die Ansprüche unterschiedliche Rückgewährungsmodalitäten fixiert. Solange Wiedereinrichter bezüglich der zeitlichen Rückgewährung bessergestellt werden, stimmen wir dem zu.
Die Grundlage für die Vermögensauseinandersetzung soll die nächste nach dem Austritt zu erstellende Bilanz sein. Das wird die Unsicherheiten erhöhen und zu viel Streit führen. Wie ich noch vor der Debatte erfahren habe, ist das einer der Punkte, die die CDU-Regierung des Landes Sachsen-Anhalt veranlaßt haben, für den Fall, daß das so bestätigt wird, den Vermittlungsausschuß anzurufen.
({8})
- So ist es.
Im Zusammenhang mit der Novellierung haben wir einen Antrag zur Umbewertung der Schulden gestellt, weil ohne eine Entschuldung bzw. Neubewertung der Schulden eine befriedigende Umstrukturierung der meisten Betriebe unmöglich ist. Ohne eine befriedigende Regelung dieses Problems läuft auch die Novellierung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes in den meisten Fällen ins Leere. Deshalb stellen wir hiermit noch einmal den Antrag auf komplexe Klärung der Entschuldungsfrage oder auf Neubewertung der Schulden für die landwirtschaftlichen Betriebe.
Ich muß hier der Meinung widersprechen, daß es insoweit keine Zusammenhänge gibt. Die Auszahlungen sollen gegen das Eigenkapital erfolgen. Das Eigenkapital wird aber auch durch alte Kredite geschmälert. Man muß insoweit einen sachlich-logiDr. Gerald Thalheim
schen Zusammenhang zugeben. Mit unserem Antrag verfolgen wir kein anderes Ziel, als die Bundesregierung zu bitten, ein Konzept vorzulegen, das über die Regelungen hinausgeht, die im Einigungsvertrag bestanden.
Das Gesetz begründet in einem unvertretbaren Umfang Auszahlungsansprüche an das Eigenkapital. Damit werden in vielen Fällen ungedeckte Schecks auf ein in dieser Form nicht vorhandenes Genossenschaftsvermögen ausgestellt.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Wenn es nicht zu Lasten meiner Zeit geht.
Die Zeit wird Ihnen abgezogen.
({0})
Herr Kollege, würden Sie mir darin zustimmen, daß zwar durchaus Zusammenhänge zwischen der Verschuldung und den Eigenkapitalauszahlungsmöglichkeiten bestehen können, daß diese aber in diesem Gesetz nicht geregelt werden? Denn wir diskutieren jetzt über das Landwirtschaftsanpassungsgesetz.
Herr Kollege Heinrich, da der sachliche Zusammenhang besteht, dürfte es doch gerechtfertigt sein, einen Antrag einzureichen und ihn hier zur Beschlußfassung zu stellen. Wir haben nicht verlangt, daß er sich in dem Gesetz wiederfindet.
({0})
Die Auszahlung zu Lasten des Eigenkapitals wurde auch von den Koalitionsparteien als Problem erkannt. Deshalb wurden sehr lange Zahlungsfristen eingeräumt und bei Überzahlung bzw. bei dem Faktor Arbeit sogar eine Rückerstattung festgelegt.
Wir sind der Meinung, das kompliziert das Gesetz, und die Mängel bleiben bestehen, es ändert sich nichts an der Substanz.
Zusammenfassend sei gesagt: Obwohl Verbesserungen erreicht wurden - letztendlich auch auf Grund unserer Anhörung - sind wir der Meinung, daß das Gesetz in der vorliegenden Form die Funktionsfähigkeit der ländlichen Räume gefährdet. Die Chancengleichheit ist nicht gewährleistet, und das Gesetz ist auch sozial unausgewogen. Das sind letztendlich die Gründe dafür, daß wir das Gesetz ablehnen werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rudolf Krause.
Hochverehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Von Hunderttausenden Menschen
auf dem Lande wird die Verabschiedung des neuen Anpassungsgesetzes dringend erwartet. Dabei haben unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Erwartungen und Hoffnungen. Welche Gruppen sind dies, und wie hat das Gesetz diese Erwartungen in Rechtsform gebracht?
Das alte Landwirtschafts-Anpassungsgesetz war sehr gut für die Gutwilligen. Es gibt zahlreiche Betriebe, die in guter Auslegung des alten § 44 gerecht - oder was man nach Billigkeit dafür hielt - verfahren sind. In dem Kreis, in dem ich über ein halbes Jahr der dafür zuständige Dezernent war, sind bereits jetzt über 20 % in Familienbetriebe reprivatisiert.
({0})
Viele Menschen wollen und etwa 200 000 Menschen können in der Landwirtschaft der fünf neuen Länder dauerhaft im Vollerwerb arbeiten, wenn sie einen Lebensstandard wie in den alten Ländern haben wollen.
Das heißt aber, daß diese Gruppen, die weiterhin arbeiten will - zum größten Teil Nichteigentümer, aber auch Eigentümer -, erwartet, daß das lebende und tote Kapital weiterhin mit dem Boden verbunden bleibt. Dazu ist eine sorgfältige Geschäftsführung nötig. - Im übrigen haben nach Beratungen im Ausschuß die Kollegen der SPD dem zugestimmt. - Außerdem haben wir angemessene Fristen hineingenommen, daß derjenige, der nicht wiedereinrichtet, erst in Jahresraten bis zu fünf Jahren an sein Kapital herankommt. Es ist also in erster Linie die Aufgabe gewesen, an die Menschen zu denken, die sich weiterhin davon ernähren wollen.
({1})
In weiten Gegenden, sicher auch in Brandenburg, finden sich kaum Wiedereinrichter. Es haben sich bei uns - auch in meinem Wahlkreis in zwei Kreisen - kriminelle Enteignungsabsichten bei der Umwandlung in eingetragene Genossenschaften gezeigt. Man hat 100 000 DM eingezahlt und glaubte, die 5 Millionen DM Bilanzvermögen der LPG wären damit wie im Lotto gewonnen.
Hier sind die §§ 28 bis 36 zuständig, die den Umfang und Zahlungsfristen der Anteile am Eigenkapital bei der Umwandlung in neue Rechtsformen, Aktiengesellschaften, eingetragene Genossenschaften, regeln. Wäre dies schon im alten Gesetz gewesen, so wäre gerade in den Grenzgebieten wesentlich weniger an westdeutsche Großpächter verpachtet worden, und es hätte auch wesentlich weniger Zwangsvollstreckungen gegeben.
Die Beschlüsse der Mehrheit der Grundstückseigentümer sind in allen wichtigen Fragen durchgesetzt. Da sind wir uns doch mit der SPD völlig einig gewesen und teilweise auch mit bauernstämmigen Vertretern anderer politischer Gruppierungen.
({2})
Es ist nötig, daß die Mitglieder über ihr Eigentum selber entscheiden, aber nicht so, daß irgendwelche Erben in Zittau oder vom Bodensee sagen können:
Dr. Rudolf Krause ({3})
Her mit dem Geld! Das bleibt eine lange Zeit fest, außer für Wiedereinrichter.
Lieferrechte für Milch und Zuckerrüben sind in Abänderung von den hier historisch gewachsenen so geregelt worden, daß es erst einmal beim Boden bleiben muß, und zwar so lange, bis sich konsolidierte Betriebe eingerichtet haben.
Weiterhin haben wir auch - das stimmt - die Sache mit den Hofeigentümern, deren Gebäude heruntergewirtschaftet wurden, zweimal geändert. Es war ja so, um das noch einmal kurz zu streifen: Dieser Entwurf, der eingebracht wurde, war der Schnelligkeit geschuldet. Viele von uns sind der Meinung - wahrscheinlich die meisten - : Wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, dann hätten wir damals diesen Entwurf so nicht eingebracht. Es ist aber so - das kann ich aus den einzelnen Protokollen belegen, wir haben ja bis halb eins gesessen, wir sind Tage eher gekommen -, daß nicht die SPD oder vielleicht dieser und jener uns die Hand geführt hat, sondern die Bürger, die Landbevölkerung in den neuen Ländern haben uns die Hand geführt, und in vielen Punkten haben sie dasselbe gesagt, wie wir es auch geschrieben haben.
({4})
- Darf ich bitte zu Ende reden? Dann können Sie eine Frage stellen.
({5})
Nun zu den Erben verstorbener Mitglieder. Es stimmt, daß Sachsen-Anhalt - damit will ich sagen, daß der Ministerpräsident, der Landwirtschaftsminister und der Staatssekretär im Prinzip aus meinem Wahlkreis kommen - dieselbe Auffassung hatte, die ich seit Juni praktiziert habe.
Aber wir mußten uns in zwei Punkten revidieren. Erstens. Hätten wir im Konkursfall Ansprüche auf Grund von Inventarbeiträgen zu berechtigten Forderungen gemacht - so wie es bis 1975 festgesetzt war - wäre das eine Abwertung von 1: 2 gewesen. Warum ist das heute nicht gesagt worden?
Zweitens. Ansprüche an das kommunistische Unrecht müssen nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch darüber hinaus durch ein Entschädigungsgesetz geregelt werden; nicht daß der eine Nachbar für den anderen bezahlt, was die Kommunisten verschuldet haben. In diesen beiden Punkten haben wir uns revidiert,
({6})
und ich werde auch sehen, daß ich dann in Sachsen-Anhalt die entsprechende Aufklärung herbeiführen kann. Das gilt aber für die Erben verstorbener Mitglieder.
Eine Gruppe wird natürlich nicht zufrieden sein. Es gibt eine kleine Gruppe kommunistischer Leitungskader, die sich bis über 100 000 DM ausgezahlt haben, und die sich als erstes im verschuldeten Betrieb einen Wagen westdeutschen Fabrikats für 40 000 DM gekauft haben. Das ist eine Minderheit unter den Betriebsleitern der noch bestehenden LPG. Ich zitiere wörtlich, damit es nicht entstellt werden kann:
Wer als Interessenvertreter dieser kriminellen kommunistischen Mafia die Sorgfaltspflicht und Haftung im neugefaßten § 3 a ablehnt, beleidigt die Mehrheit der anständigen, ehrlichen und engagierten Betriebsleiter.
({7}) Zum Entschließungsantrag der SPD.
Herr Kollege Dr. Krause - Dr. Rudolf Krause ({0}) ({1}): Eine Minute!
({2})
In der Sache sind wir uns einig, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt - es ist ja hier im Prinzip schon zurückgezogen worden - gehört es nicht zum Gesetz; es würde zu einer Verschleuderung des Vermögens führen können.
Wir sind uns alle darüber einig, daß die Regierung, auch in bezug auf die Entschuldung der Landwirtschaft und der anderen Gebiete der ehemaligen Wirtschaft der DDR, einbringen wird, was einzubringen ist. In diesem Jahr braucht keiner wegen Altschulden seinen Betrieb dichtzumachen.
Jetzt stehe ich für Fragen zur Verfügung.
({3})
Herr Kollege Oostergetelo, bitte sehr.
Herr Kollege, ich freue mich darüber, daß jetzt auch ein Praktiker aus den neuen Bundesländern spricht. Wir haben das auch bei uns für richtig gehalten.
Aber ich frage Sie: Wäre es nicht besser gewesen - damit wir das ganze Wissen und die Schwierigkeiten der neuen Länder hier wirklich mit einbringen können - , daß dieser Gesetzentwurf als Regierungsgesetzentwurf eingebracht worden wäre, damit auch im Bundesrat der Agrarausschuß beteiligt worden wäre? Jetzt haben wir etwas beschlossen, wollen aber erst im nachhinein deren Meinung wissen. Haben Sie nicht dazu beitragen können, daß es so hätte geschehen können? Dies wäre ja auch in Ihrem Sinne gewesen, um so das breite Wissen der neuen Länder einzubringen.
Ich danke Ihnen für diese schöne Frage.
Selbstverständlich haben wir in mehreren Phasen im Landwirtschaftsausschuß des Landes Sachsen-Anhalt, da übrigens in Übereinstimmung mit der SPD, und in Vorbereitung auf Konferenzen der Landwirtschaftsminister der neuen Länder - Sie werden das bestätigen, denn es sind ja einige gewesen - nicht nur Einfluß genommen, sondern es hat umgekehrt auch ein Einfluß auf uns stattgefunden. Eine Studentin wird jetzt wissenschaftlich darüber arbeiten, wie die Gesetzgebung in den acht Wochen gelaufen ist. Es ist in der Tat, was Sachsen-Anhalt betrifft, so gelaufen.
Herr Dr. Krause, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Oostergetelo?
Wenn sie gestellt wird, dann kann ich sie beantworten. So nicht.
({0})
Herr Kollege, können Sie mir dann sagen, warum das Land Sachsen-Anhalt jetzt Einspruch einlegt und mit dem Vermittlungsausschuß droht?
({0})
Ja, das kann ich Ihnen sagen. Das war der Wissensstand, den ich selber vor acht Wochen hatte und auch in Magdeburg vertreten habe.
({0})
Fahren Sie fort, Herr Abgeordneter!
Die letzten Sekunden meiner Redezeit möchte ich dazu nutzen, folgendes zu erklären: Die SPD-Fraktion und der Vertreter der anderen Fraktion haben in fast allen Punkten dem Gesetzentwurf zugestimmt. Es gab nur ganz wenige Punkte, bei denen ein Dissens bestand. Im Ausschuß ist dieser Entwurf ohne Gegenstimmen bei einigen Enthaltungen verabschiedet worden. Wenn wir zum Teil sehr gute Lösungen, in anderen Punkten nur ausgewogene Kompromisse gefunden haben, dann bitte ich das Hohe Haus und den Bundesrat im Interesse unserer Landbevölkerung um Zustimmung. - Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP auf Drucksachen 12/161 und 12/404.
Ich rufe auf die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/412. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Jetzt hat der Kollege Susset das Wort zu einer Erklärung zur Abstimmung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Namens der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP möchte ich erklären, daß wir den Entschließungsantrag, der von der Fraktion der SPD vorgelegt wurde, an die zuständigen Ausschüsse überweisen wollten, die SPD-Fraktion ihrerseits aber darauf beharrte, darüber heute hier abzustimmen. Dem konnten wir nicht zustimmen.
Wer heute ein Gesetz ablehnt, das am 31. Dezember dieses Jahres ausläuft, und hier dann noch am Tag der Abstimmung über den Gesetzentwurf mit einem Entschließungsantrag kommt, der will, glaube ich, von vornherein nach außen hin klarmachen: Uns wäre es eigentlich am liebsten, wenn alles so bliebe, wie es war.
({0})
Wir wollen dem Bundesrat jetzt die Chance geben, zu diesem Gesetzentwurf Stellung zu nehmen. Wir haben diesen Gesetzentwurf als Koalitionsfraktionen eingebracht und zügig beraten, damit das Gesetz überhaupt noch wirksam werden kann. Was nützt uns ein Gesetz, das erst im November dieses Jahres in Kraft tritt, wenn es bereits am 31. Dezember ausläuft?
Meine Damen und Herren, wir wollen, daß die Umstrukturierung der Landwirtschaft in geordneten Bahnen verläuft.
({1})
Ich bin fest davon überzeugt, daß die Minister der fünf neuen Länder, wenn sie sich im Bundesrat mit diesem Thema befassen, das Gesetz akzeptieren, in dem der gute Wille und vor allen Dingen auch die Sacharbeit unserer Kolleginnen und Kollegen aus den fünf neuen Bundesländern Niederschlag gefunden haben.
({2})
Deshalb bitte ich um Verständnis dafür, daß wir den Entschließungsantrag ablehnen mußten.
Ich danke schön.
({3})
Dann erteile ich dem Kollegen Oostergetelo das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Susset, ich muß die Angriffe, die Sie hier tätigen, zurückweisen. Es ist, wenn Sie den Zusammenhang zum gerade verabschiedeten Gesetz herstellen, festzustellen:
Erstens. Wir haben keinerlei Zeitverzögerung eingebaut.
({0})
Zweitens. Wir haben gegen Ihren Willen eine Anhörung durchgeführt, um die Kompliziertheit des Gesetzes deutlich zu machen und Verbesserungen zu ermöglichen.
({1})
Sie haben die schnelle Einberufung der Anhörung als empörend empfunden. Wir haben sie durchgesetzt. Ich stelle das hier fest.
Drittens. Sie haben bisher den Bundesrat nicht beteiligt; das tut uns leid. Die Verzögerung, die uns jetzt ins Haus steht und die wir nicht wollen, wird wahrscheinlich durch das Land Sachsen-Anhalt hervorgerufen. Mir liegt die Ankündigung eines Einspruchs und der Anrufung des Vermittlungsausschusses vor.
({2})
Da müssen Sie sich an die eigene Parteinase fassen.
Zum Entschließungsantrag: Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht langweilen. Aber ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, daß Sie zu dem Entschließungsantrag nein sagen.
({3})
In dem Entschließungsantrag wird die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich ein Gesamtkonzept für die Entschuldung der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vorzulegen. Nur darum geht es. Die Beratung dessen, was die Bundesregierung vorlegen wird, muß in den Ausschüssen stattfinden.
Herr Kollege Oostergetelo, ich darf folgenden Hinweis geben. Der Kollege Susset hatte das Wort für eine Erklärung zur Abstimmung über den Entschließungsantrag erhalten.
({0})
Wenn Sie noch eine Erklärung zur Abstimmung abzugeben haben, dann können Sie das in diesem Rahmen tun. Aber die Debatte über den bereits beschlossenen Antrag ist beendet.
({1})
Herr Präsident, ich nehme das zur Kenntnis. Ich hatte mich aber vor der Abstimmung zu einer Kurzintervention zum Entschließungsantrag gemeldet, um deutlich zu machen, daß es uns hier um eine Forderung an die Bundesregierung geht, die ja alle Beteiligten gestellt haben.
Mir tut es leid, daß in Wirklichkeit Sie selber eine Verzögerungstaktik anwenden. Die Entschuldungsfrage muß gelöst werden. Ich fordere Sie daher auf, diesem Entschließungsantrag wenigstens vom Geist her zu folgen und hier mitzumachen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier, Dr. Rose Götte, Joachim Poß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für einen verfassungsmäßigen und gerechten Familienlastenausgleich
- Drucksache 12/320 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend
Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Das bedeutet, daß die Mittagspause heute sehr kurz wird. - Ich sehe aber keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Frank-Michael Habermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD will Familien mit Kindern endlich zu ihrem Recht verhelfen. In dem von uns eingebrachten Antrag fordern wir deshalb die Bundesregierung auf, alle Familien bei der rückwirkenden Korrektur des verfassungswidrigen Familienlastenausgleichs zu berücksichtigen, egal ob sie Rechtsmittel eingelegt haben oder nicht.
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Außerdem setzen wir uns dafür ein, daß unverzüglich ein verfassungsgemäßer und gerechter Familienlastenausgleich verwirklicht wird.
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Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, vor der Bundestagswahl haben Sie landauf, landab in Aussicht gestellt, allen Familien mit Kindern eine Rückzahlung des verfassungswidrig zuviel abverlangten Steuerbetrages zu gewähren. Nach der Wahl soll dies nicht mehr gelten. Jetzt sollen nur noch diejenigen eine Rückzahlung erhalten, die rechtzeitig - meist durch ihre Steuerberater - Einspruch beim Finanzamt eingelegt oder aus anderen Gründen noch offene Steuerbescheide aus den Jahren 1983 bis 1985 haben.
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Wer wird durch diese von der Bundesregierung vorgesehene Regelung begünstigt?
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Es sind die Prozeßfreudigen, deren Einsprüche beim Finanzamt liegen oder beim Finanzgericht anhängig sind. Es sind die Unternehmer, die sich noch in der Betriebsprüfung befinden. Es sind auch - und das halte ich für besonders verwerflich - insbesondere alle Steuerfahndungs- und Steuerhinterziehungsfälle, in denen die Betroffenen in den Genuß einer nachträglichen Steuerentlastung kommen.
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Diejenigen Familien, die auf die Rechtmäßigkeit der Besteuerung vertraut und keinen Einspruch eingelegt haben, werden dagegen völlig leer ausgehen.
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Dies ist für mich ein schwerer Verstoß gegen alle Grundsätze der Gerechtigkeit. Wir Sozialdemokraten werden nicht hinnehmen, daß gerade Familien, die auf die Leistungen des Staates ganz besonders angewiesen sind und auf die Verfassungsmäßigkeit vertraut haben, hier benachteiligt werden.
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Die Gerechtigkeit, aber auch die Glaubwürdigkeit der Politik gebieten es, daß alle Familien berücksichtigt werden, auch diejenigen, die keinen Einspruch eingelegt haben.
Bundesfinanzminister Waigel, meine Damen und Herren, hat großen Anteil daran, daß die politische Glaubwürdigkeit der Bundesregierung auch in dieser Frage auf der Strecke geblieben ist. Vor der Bundestagswahl hat Herr Waigel von dieser Stelle aus erklärt - ich zitiere - : „Es wäre in der Tat wohl nur schwer verständlich und schwer begreiflich zu machen, daß diejenigen, die keinen Einspruch eingelegt haben, schlechter behandelt werden als diejenigen, die Einspruch eingelegt haben."
Nach der Wahl fragte der Bundesfinanzminister hier im Bundestag scheinheilig: War das ein Versprechen?
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Sehr geehrter Herr Waigel - auch wenn Sie nicht anwesend sind - , was soll es denn sonst gewesen sein?
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Bei solch dreisten Täuschungsmanövern ist die Empörung bei Millionen von Familien mit Kindern natürlich verständlich.
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Wir wissen aber seit einigen Wochen, vor allem seit dem vergangenen Sonntag, daß es ein Mittel gegen Wählertäuschung gibt, nämlich die Quittung mit dem Stimmzettel.
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Die Bürger sind nicht mehr gewillt, ohne die Folgen zu bedenken, hinzunehmen, daß Politiker nach der Wahl etwas anderes als das tun, was sie vor der Wahl versprochen haben.
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Schlimm ist aber, welche politische Moral sich dahinter offenbart. Noch schlimmer ist der Glaubwürdigkeitsverlust der Politik insgesamt.
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Durch die jetzt von der Bundesregierung nachgeschobene Begründung - Rechtssicherheit und Rechtsfrieden sollen Vorrang vor einer größtmöglichen Gerechtigkeit im Einzelfall erhalten - wird die breite Masse der Familien verhöhnt. Das Gegenteil ist der Fall. Für die Steuermoral in unserem Land hat dieses Vorgehen der Bundesregierung erheblich negative Auswirkungen. Wir werden es in Zukunft mit jeder Menge von Einsprüchen zu tun haben, die die Familien bei ihren Finanzämtern vorsorglich einlegen, auch gegen das Kindergeld, weil sie recht haben und sich darauf verlassen können, daß das Bundesverfassungsgericht diese Entscheidungen wieder korrigiert.
In der Anhörung des Finanzausschusses des Deutschen Bundestags zum Entwurf des Steueränderungsgesetzes wurde deshalb das Vorgehen der Bundesregierung von einigen Verbänden kritisiert: von den Familienverbänden, der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, dem Deutschen Steuerberaterverband und dem Deutschen Anwaltverein. Alle forderten einhellig: Geben Sie allen Familien rückwirkend diese Leistungen, und sondern Sie nicht einige aus.
Angesichts der vollmundigen Versprechungen, die die Regierung vor der Wahl auch den Familienverbänden gegeben hat, macht sich zu recht bei diesen Enttäuschung breit. Verbittert stellt der Präsident des Familienbunds der Deutschen Katholiken, Ihr Fraktionskollege, Dr. Karl Fell, fest: „Familien erwarten keine Minimallösungen, sondern einen Familienlastenausgleich, der sowohl ihrer Lebenssituation als auch ihrer Leistung für die Gesellschaft entspricht."
Diese Verbitterung ist nur allzu verständlich. Einerseits gibt es Steuergeschenke an Unternehmen und an besondere Spitzenverdiener; andererseits bleibt für die normale Familie kaum etwas übrig.
Die Auflage des Bundesverfassungsgerichts wird mit minimalem Aufwand erfüllt. Dies zeigen auch die weiteren Beschlüsse der Regierungskoalition zum Familienlastenausgleich. Für die Familien mit Kindern geschieht im Jahre 1991 nichts, obwohl der jetzige Familienlastenausgleich verfassungswidrig ist. Erst 1992 soll das Kindergeld um 20 DM für das erste Kind angehoben werden.
Der ungerecht hohe Vorteil für Spitzenverdiener beim Steuersplitting könnte - das ist unsere Forderung - gekappt werden, um so allen Familien Geld zu geben und sie an einem gerechten Familienlastenausgleich partizipieren zu lassen. Was aber tun Sie? Sie stocken die Kinderfreibeträge weiter auf. Mit wachsendem Einkommen führt das gerade bei Spitzenverdienern zu weiteren Entlastungen. Das ist ein Skandal. So sollen Spitzenverdiener zukünftig 178 DM im Monat und Geringverdiener nur 64 DM im Monat für ihre Kinder erhalten. Dabei sind doch gerade Familien mit geringen Einkommen auf die besondere Hilfe des Staates angewiesen.
Besonders ungerecht sind die Kinderfreibeträge auch für die Familien in den neuen Bundesländern. Selbst in der Koalitionsvereinbarung wurde mit aller Deutlichkeit festgestellt, daß Kinderfreibeträge den dort lebenden Familien nur wenig nützen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Wir haben ein Konzept vorgelegt, das aufzeigt, wie ein gerechter, einfacher, verfassungsgemäßer und kinderfreundlicher Lastenausgleich geschaffen werden kann. Wir wollen mindestens 200 DM für jedes Kind. Wir sind bereit, das Kindergeld - je nach finanziellen Möglichkeiten und nach der verfassungsrechtlich notwendigen Erhöhung - auch auf 250 DM pro Kind zu erhöhen. Kinderreichen Familien soll ein zusätzlicher Betrag zufließen.
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie im Namen der Familien mit Kindern auf: Lassen Sie endlich Gerechtigkeit walten bei der Korrektur der verfassungswidrigen Besteuerung, und verwirklichen Sie endlich einen verfassungsgemäßen und gerechten Familienlastenausgleich!
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Mit unserem Antrag haben wir unsere Vorschläge auf den Tisch gelegt. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesen Vorschlägen zu.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Kurt Faltlhauser das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Verfassungsgericht hat uns in einer Reihe von Urteilen Maßgaben zum Familienlastenausgleich und zur steuerlichen Belastung der Familie auf den Tisch gelegt. Das ist die Arbeit, die wir vor uns haben. Der Inhalt und der Tenor des wichtigsten Verfassungsgerichtsurteils, des Urteils vom 29. Mai des letzten Jahres, sind jedoch ein vernichtendes Urteil über jene Politik, die die sozialliberale Koalition zu verantworten hat: Die Daten von Anfang der 80er Jahre, die die Verfassungsrichter zu beurteilen hatten, sind das Ergebnis einer Familienpolitik, die in höchstem Maß familienfeindlich war:
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Abschaffung des Kinderfreibetrages; völlig unzureichender Ausgleich über das Kindergeld; insgesamt Nichtberücksichtigung des Existenzminimums von Kindern. Die Zahlen der Jahre 1983 bis 1985, die beurteilt wurden, waren Ergebnis Ihrer Politik: ein Trümmerhaufen,
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mit dem wir uns heute, mehr als zehn Jahre später, leider beschäftigen müssen. Sozialdemokratische Altlast, eine miserable Altlast, auch hier!
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In einem haushaltspolitischen Punkt war das Verfassungsgericht völlig eindeutig - es ließe sich vom Systematischen her ja vieles über dieses Verfassungsgerichtsurteil sagen; in der Anhörung wurde da manche Kritik geübt - : Das Gericht hat deutlich gemacht, daß bei der rückwirkenden Korrektur der wegen der verfassungswidrigen Kinderfreibetragsregelung zuviel abverlangten Steuern lediglich die nicht rechtskräftigen Fälle zu berücksichtigen sind; so steht es wortwörtlich in diesem Urteil. Genau dem folgt die Koalition nun in ihrem Steueränderungsgesetz.
Für mich ist es ein Dokument der haushalts- und finanzpolitischen Traumdeuterei und Verantwortungslosigkeit, wenn die SPD - der Kollege, der vor mir gesprochen hat, hat es gerade vorgetragen - in ihrem Antrag fordert, daß alle Familien in den Jahren 1983 bis 1985 zu berücksichtigen sind.
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Da werden schnell mal 15 Milliarden DM in das große schwarze Loch geschüttet, das durch Ihre politischen Versäumnisse in der Vergangenheit gegraben wurde.
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- Quatsch? Vielleicht sind es sogar 17 Milliarden, wenn man genau nachrechnet.
Wir sind der Auffassung: Eine derartige finanzielle Einbuße kann sich ein Staat, der gegenwärtig in extremer Weise haushaltspolitisch gefordert ist, nicht erlauben.
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Mehr noch: Ich hielte es für eine verantwortungslose Politik, 15 Milliarden DM, die wir dringend z. B. für den Aufbau der neuen Bundesländer brauchen, für die Herstellung strahlend sauberer Gerechtigkeit in der Vergangenheit in den alten Bundesländern zu bezahlen.
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Politik heißt abwägen. Dieser Abwägungsprozeß zwischen rückwärtsgerichteter Wiedergutmachung und zukunftsorientierter Gestaltung scheint mir, scheint uns eindeutig zu sein.
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Wir müssen das Geld für zukünftige Aufgaben, auch für die Aufgabe eines gerechten Familienlastenausgleichs, verwenden, nicht für Vergangenes.
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In einem sind wir aber mit der Opposition sicherlich einig: Die Frage des Familienlastenausgleichs ist nicht punktuell zu beurteilen, sondern ist eine Frage komplexer Abwägung. Kinderfreibetrag, Kindergeld, Ehegattensplitting, kinderbezogene Steuervorteile wie z. B. das Baukindergeld, Sozialleistungen für Familie und Kinder wie z. B. Erziehungsgeld oder BAföG, all das muß in einem Kontext gesehen werden. Hier gibt es manchmal Widersprüche, und da beißt sich manches. Wenn man den Kinderfreibetrag heraufsetzt, kann es beispielsweise plötzlich Probleme mit dem Baukindergeld geben.
Wir müssen die Instrumentarien insgesamt sehen. Ich meine, daß wir für die zukünftige Arbeit unsere Grundpositionen deutlich beschreiben sollten. Grundposition Nummer 1: Wir bleiben beim dualen
System von Kindergeld und Kinderfreibetrag, und wir bleiben - das ist Grundposition 2 - beim Ehegattensplitting. Zeitlich vorrangig haben wir natürlich unsere Hausaufgaben zu machen. Wir müssen dafür sorgen, daß das Existenzminimum für Kinder und Familien vom Fiskus tatsächlich unberührt bleibt. Ich könnte mir vorstellen, daß mit einem Kinderfreibetrag von etwas über 4 000 DM plus umgerechnetem Kindergeld den entsprechenden Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genügt werden kann. Ich nehme an, daß das ausreichen wird.
Lassen Sie mich noch einen Punkt aus Ihrem Antrag herausgreifen. Da heißt es:
Die Kinderfreibeträge führen dazu, daß die steuerliche Entlastung mit steigendem Einkommen wächst. Während ein Spitzenverdiener aus dem Kinderfreibetrag für sein Kind eine Entlastung in Höhe von monatlich 134 DM bekommt, erhält ein Geringverdiener lediglich 48 DM.
Lassen Sie mich demgegenüber ein Zitat aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 bringen. Dort heißt es:
Eine Durchbrechung der horizontalen Steuergerechtigkeit kann nicht mit dem Gedanken der vertikalen Steuergerechtigkeit legitimiert werden.
Ich meine, diese Bemerkung des Bundesverfassungsgerichts ist eine schallende Ohrfeige für Ihre ständig wiederholten Vergleiche und Rechnungen bei der vertikalen Gerechtigkeit.
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Genau diese Passage Ihres Antrages meinte das Verfassungsgericht mit dieser Bemerkung!
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- Ich lese die Urteile sehr genau. Ich habe gerade ein Zitat vorgetragen. Ich würde Ihnen empfehlen, diese Passage des Urteils intensiver zu lesen. Dann würden Sie keine solchen Anträge stellen.
Herr Kollege Faltlhauser, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Herr Präsident, ich folge Ihnen besonders gerne und sofort. - Ich möchte mit dem Hinweis abschließen: Wir werden den familienpolitischen Weg, den wir mit der Steuerreform begonnen haben - schrittweise Heraufsetzung der Kinderfreibeträge im dualen System - , weiter verfolgen, und zwar in seriöser und haushaltsmäßig verkraftbarer Weise.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Barbara Höll.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Abgeordnete! Die Forderung nach einem verfassungsmäßigen und gerechten Familienlastenausgleich ist in mehrfacher Hinsicht zu unterstützen. So möchte auch ich das unredliche Abrücken der Bundesregierung von ihrem Wahlversprechen, die zwischen 1983 und 1985 verfassungswidrig einbehaltenen Steuern ohne Einschränkungen zurückzuzahlen, ausdrücklich mißbilligen, und dies insbesondere, weil mit der laut Koalitionsvereinbarung geregelten Praxis vorrangig einkommensstarke Schichten begünstigt werden und die Mehrheit der lohnabhängigen Familien leer ausgeht.
Es ist auch mein Anliegen, gegenüber der jetzigen dualen Zuwendung ein einheitliches und deutlich erhöhtes Kindergeld zu realisieren. Ausgangspunkt sollte hier die Kinderkonvention der UNO sein, die die Vertragsstaaten verpflichtet, die Rechte von Kindern, eben auch die materiellen, in größtmöglichem Maß ihrer verfügbaren Mittel zu realisieren.
Das von der Bundesregierung bevorzugte duale System des Familienlastenausgleichs, das neben Kindergeld das Existenzminimum von Kindern vorrangig durch Erhöhung der Kinderfreibeträge gewährleisten soll, bedeutet nichts anderes als die Festschreibung bestehender Ungleichheit; denn die Kinderfreibeträge bewirken in keiner Weise eine gleiche steuerliche Entlastung von Eltern, sondern sind in ihrer Wirkung von der Einkommenshöhe abhängig. Die steuerliche Entlastung wächst mit steigenden Einkommen, und parallel dazu wächst die Ungleichheit in den staatlichen Leistungen zur Förderung des Lebens mit Kindern.
Als gewählte Abgeordnete sollten wir unsere Pflicht darin sehen, dafür Sorge zu tragen, daß die in Art. 3 des Grundgesetzes garantierte Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, insbesondere die von Kindern, in unserem Land nicht unter die Räder gerät. Die von der SPD beantragten Maßnahmen zielen auf die Verbesserung der Familiensituation und werden deshalb von der PDS/Linke Liste befürwortet.
Dennoch bleiben eine Reihe Probleme ungelöst, vor denen wir nicht die Augen verschließen dürfen:
Erstens gehen im Gegensatz zu regierungsoffiziellen Berechnungen die Familienverbände von einem Bedarfssatz für den Lebensunterhalt von 900 DM pro Kind je Monat aus. Sie legen dabei das Zivilisationsniveau der Bundesrepublik zugrunde und schließen über die Kosten zur Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse auch die Kosten für Persönlichkeitsentfaltung, Bildungsförderung, den Genuß von jugendgemäßer Kunst und Kultur, für sinnvolle Freizeit und Erholung ein. Ein solches realistisches Herangehen macht deutlich, daß selbst mit 250 DM pro Kind je Monat dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes nicht Genüge zu tun ist. In Anbetracht dessen, daß mit dem Familienlastenausgleich über die materiellen Voraussetzungen für die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen entschieden wird, muß das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes der alleinige Maßstab sein.
Zweitens ist die mit dem dualen System politisch vorprogrammierte Ungerechtigkeit für eine Vielzahl von Kindern und Eltern in den ostdeutschen BundesDr. Barbara Höll
ländern besonders gravierend. Die Kinderfreibeträge können auf Grund der nach wie vor mehrheitlich niedrigen Einkommen kaum ausgeschöpft werden. Für 1991 ist der Subventionsausgleich weggefallen, und das schlägt sich als finanzielles Defizit nieder. Unter diesen Bedingungen kann die von der Regierung generös als Übergangsregelung deklarierte Anhebung des Kindergeldes ausschließlich für Einzelkinder um 15 DM pro Monat nur als Hohn empfunden werden.
Drittens ist es meiner Ansicht nach erforderlich, den Familienlastenausgleich für die Menschen überschaubar, bürgerfreundlich und entbürokratisiert zu gestalten. Es ist für mich untragbar, daß Kindern infolge von Informationsmangel und Unkenntnis bürokratischer Verfahrenswege bei den Erziehenden die Leistungen der Kindergeldkassen entgehen. Der Bezug von Kindergeld sollte als Rechtsanspruch ohne bürokratische Antragsverfahren realisiert werden, z. B. durch die vorgeschlagene Finanzamtslösung. Als Sofortmaßnahme beantrage ich für die neuen Bundesländer eine Erweiterung des Zeitraums um drei Monate für die Anträge auf rückwirkende Zahlung von Kindergeld. Mangel an Information, ein für die Menschen ungewohnt bürokratisches Verfahren und zur Zeit noch längerfristige Bearbeitungswege führen ab 1. Mai 1991 zu beträchtlichen Einschränkungen des rückwirkenden Anspruchs auf Kindergeld.
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Viertens muß der von der Regierung angekündigte Zeitrahmen für die Reform des Familienlastenausgleichs als Problem gekennzeichnet werden. Angesichts der realen Unzulänglichkeit und Ungerechtigkeit des bestehenden Familienlastenausgleichs ist ein Hinausschieben seiner Reformierung bis zum Ende der 12. Legislaturperiode nicht zu vertreten. Für Familien und Alleinerziehende käme sie angesichts des realen Bedarfs für den Lebensunterhalt von Kindern zu spät. Allein der Regierungskoalition könnte sie zur Wahlhilfe werden. Jedoch einen Mißbrauch von Menschen mit Kindern als Jongliermasse für den nächsten Wahlkampf sollte sich dieses Hohe Haus verbieten.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Gerhard Schüßler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Antrag der SPD-Fraktion reiht sich ein in die Vielzahl ihrer Forderungen, die ungedeckte Kosten zur Folge haben.
Meine Damen und Herren, ich gehöre zu jenen Abgeordneten, die diesem Hause erst wenige Monate angehören. Das hat sicherlich den Vorteil, daß man schnell ganz unbefangen viele Ungereimtheiten entdeckt. Man findet sie ohne irgendwelche großen Anstrengungen im Verhalten der SPD. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, zeigen insbesondere in der Finanzpolitik außerordentlich wenig Seriosität,
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von Gesamtverantwortlichkeit einmal ganz zu schweigen. Im Finanzausschuß fordern Sie für Investitionen in den neuen Bundesländern eine Erhöhung der Investitionszulage um 25 % und erweiterte Auslaufregelungen, was Mehrkosten in Höhe von 15 Milliarden DM verursachen würde. Sie fordern die sofortige Erhöhung des Grundfreibetrages auf 8 000 DM. Das hätte weitere Kosten in mehrstelliger Milliardenhöhe zur Folge. Ich könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen.
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Ihr Forderungskatalog läßt sich ohne Mühe auf 100 Milliarden DM zusätzlicher Ausgaben aufaddieren. Sie wissen ganz genau, daß das unrealistisch ist. Darum wiederhole ich: Ihre Finanzpolitik ist unseriös.
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Nun zu Ihrem Antrag: In den Koalitionsverhandlungen ist entschieden worden, keinen allgemein rückwirkenden Ausgleich unter Einbeziehung der bereits bestandskräftigen Steuerbescheide und Kindergeldbescheide zu gewähren. Eine Korrektur der angefochtenen Bescheide erfordert einen finanziellen Aufwand von 100 Millionen DM. Eine allgemeine rückwirkende Berücksichtigung sämtlicher betroffener Familien würde die öffentlichen Haushalte dagegen mit rund 16 Milliarden DM belasten.
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Ohne Steuererhöhungen an einer anderen Stelle wäre diese Summe wohl nicht zu finanzieren. Offen ist auch die Frage der Beschränkung auf die Jahre von 1983 bis 1985. Eine weitere Rückführung würde den Kostenrahmen uferlos ausweiten. Es bleibt also die Beschränkung auf die nicht rechtskräftigen Fälle.
Das Bundesverfassungsgericht hat - das wurde schon gesagt - in seinen Beschlüssen ausdrücklich ausgeführt, daß der Gesetzgeber nur verpflichtet ist, in den nicht bestandskräftigen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben. Der Problematik, die sich hieraus für das Rechtsempfinden der betroffenen Menschen ergibt, sind wir uns durchaus bewußt. Wir halten es daher für sinnvoller, alle Kräfte darauf zu konzentrieren, den Kinderlastenausgleich in Zukunft zu verbessern; da sind wir ja massiv dabei.
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Dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts könnte auch eine einheitliche Kindergeldregelung gerecht werden. Allerdings wertet die FDP die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts auch als eine Bestätigung des dualen Systems des Kinderlastenausgleichs. Bei
der Besteuerung muß der geminderten finanziellen Leistungskraft von Eltern mit Kindern durch einen Kinderfreibetrag Rechnung getragen werden. Reicht der Kinderfreibetrag für ein steuerfreies Existenzminimum nicht aus, ist ein Kindergeld zu zahlen, das einen ausreichenden sozialen Ausgleich gewährleistet.
Ihre Behauptung, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, der Kinderfreibetrag sei ungerecht, ist auch durch das Bundesverfassungsgericht eindeutig widerlegt worden.
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Ungerecht ist Ihre Forderung, die Kinderfreibeträge abzuschaffen und für jedes Kind ein Kindergeld von 200 DM zu zahlen.
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Wir wollen Steuergerechtigkeit. Sie kann nur durch den Abzug eines an den tatsächlichen Kosten für Kinder orientierten Kinderfreibetrages bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens geschaffen werden.
Die Finanzamtslösung, die Sie vorschlagen, ist eine alte Forderung der FDP. Sie ist aber insbesondere an der Haltung der Länder gescheitert. Werben Sie also erst einmal bei den von Ihnen gestellten Landesregierungen, bevor Sie hier im Bundestag solche Anträge stellen.
Erneut beantragen Sie eine Kappung des Ehegattensplittings; das gehört zu Ihrem Programm „Fortschritt 90", besser gesagt, wie es auch Graf Lambsdorff richtigerweise tut: „Rückschritt 90". Auch dieser Vorschlag der SPD ist durch und durch unsolide. Das zeigt sich, wenn man untersucht, welche Ehepaare von dieser Maßnahme betroffen würden.
Für uns bleibt es dabei, daß die Einführung des Ehegattensplittings eine gesellschaftspolitische Grundsatzentscheidung war. Sie basiert darauf, daß die Ehe nicht nur eine Lebens-, sondern auch eine Wirtschaftsgemeinschaft ist und daß die Ehegatten die Aufgaben des Gelderwerbs, der Haushaltsführung und der Kindererziehung in eigener Entscheidung ohne nachteilige steuerliche Folgen unter sich aufteilen können. Eine Kappung des Ehegattensplittings bedeutet im Klartext nichts anderes als eine Progressionsverschärfung. Sie wollen für diesen Personenkreis die fühlbare und durchgehende Progressionsmilderung, also das Glanzstück der Steuerreform, rückgängig machen.
Meine Damen und Herren, das wird die FDP nicht mitmachen. Wir bleiben auf dem eingeschlagenen Weg, wie er in den Koalitionsvereinbarungen zu finden ist.
Danke schön.
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Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD hat mit ihrem Antrag wirklich nichts Neues aufgetischt, allenfalls Aufgewärmtes. Das beweist wenig Kreativität und wenig an Ideenreichtum.
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So ist auch die Forderung der SPD, nun eine Nachbesserung für die bereits bestandskräftigen Fälle der Jahre 1983 bis 1985 mit Sicht auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorzunehmen, inzwischen ein alter Hut. Ich verweise hierzu auf die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage „Existenzminimum und Steuerrecht" . Ich darf hier nochmal zitieren:
Das Bundesverfassungsgericht hat in den Gründen seiner beiden Entscheidungen selbst ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber nur verpflichtet ist, in den nicht bestandskräftigen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben.
Das ist die rechtliche Ausgangslage, von der wir alle auszugehen haben. Gleichwohl hat die Bundesregierung, insbesondere auf Betreiben von Finanzminister Theo Waigel, sehr ernst geprüft, ob es nicht doch eine andere, vielleicht auch besser verständliche Lösung geben könnte. Nur mußten wir bei sorgfältiger Prüfung leider erkennen, daß das nicht möglich ist. Dafür noch einmal die Gründe:
Erstens. Eine Ausnahme von § 79 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, wonach die nicht mehr anfechtbaren Steuerfestsetzungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Norm beruhen, grundsätzlich nicht mehr zu berichtigen sind, hat es bisher noch nie gegeben.
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Die InvestitionshilfeAbgabe, die da so häufig beansprucht wird, hat hiermit überhaupt nichts zu tun, denn sie war von vornherein rückzahlbar gestaltet. Wenn man das nun, abweichend von der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, angehen würde, dann würde man für alle Fälle eine Vielzahl von Berufungen schaffen, und das wäre dem Rechtsfrieden in unserem Lande auch in anderen Bereichen in höchstem Maße abträglich.
Zweitens. Eine Wiederaufrollung aller Steuerfestsetzungen würde allein - das klang hier schon an - zwischen 15 und 17 Milliarden DM nur für die Jahre 1983 bis 1985 kosten.
Drittens. Bei einer solchen so weit in die Vergangenheit zurückgreifenden Maßnahme wären darüber hinaus auch Prüfungen erforderlich, was für die Jahre vor 1983 gelten soll, die Sie ganz allein zu verantworten hatten, als es die 432 DM Kindergeld noch nicht gab. Das wäre ein weiteres großes finanzielles Risiko.
Viertens. Eine Wiederaufnahme aller rechtsbeständigen Steuerfestsetzungen würde überdies nur den Familien in den alten Bundesländern helfen und ent1514
gegenkommen. Deswegen, Herr Habermann, kann ich Ihren Hinweis auf die neuen Bundesländer und die Bürger dort überhaupt nicht verstehen, denn ihnen gegenüber wäre eine solche Reparatur ein großes Unrecht.
Fünftens. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind aber auch Praktikabilitätsüberlegungen. Bei der Wiederaufrollung müßten etwa 11 Millionen Fälle rückabgewickelt werden. Wir haben dafür überhaupt keine Unterlagen, wir kennen die Aufenthaltsorte der Berechtigten nicht. Inzwischen sind Ehescheidungen vorgekommen, Aufenthaltsorte irgendwo im Ausland, so daß das rein verwaltungspraktisch überhaupt nicht möglich wäre.
Kein Politiker, der Verantwortung hat, kommt an diesen durchschlagenden sachlichen Argumenten vorbei. Wenn Sie aus durchsichtigen parteipolitischen Gründen immer wieder eine andere Lösung anpreisen, dann müssen Sie sich auch einmal vorhalten, daß sich Ihre Partei im Bundesrat anders verhält. Im Bundesrat haben die SPD-regierten Länder unsere Meinung durch Beschluß bestätigt und als richtig anerkannt,
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und zwar auch aus der Verantwortung bezüglich der finanziellen Wirkungen.
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Wenn das so ist, wird man allmählich auch einmal Zweifel an der Ernsthaftigkeit Ihrer Anträge anmelden dürfen.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Unbeweglichkeit der SPD ist ihr starres Festhalten an der reinen Kindergeldlösung. Dieses Thema hat in der Vergangenheit in diesem Hause schon oft die Runde gemacht. Es ist schon befremdlich, daß die SPD immer noch die reine Kindergeldlösung als den Pfad der Gerechtigkeit propagiert und den Kinderfreibetrag sozusagen als eine staatliche Vorzugsaktie für Reiche anprangert.
Bis heute hat die SPD die Botschaft des Bundesverfassungsgerichts offenbar wirklich nicht verstanden, oder sie will sie nicht verstehen. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich in den erwähnten Beschlüssen eindeutig bestätigt, daß die Berücksichtigung der notwendigen Aufwendungen für den Kindesunterhalt durch Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage unabhängig von der Höhe des Einkommens dem Gebot der Steuergerechtigkeit entspricht, daß die Eltern mit der durch den Kinderfreibetrag eintretenden Steuerermäßigung eben keine staatliche Leistung erhalten und daß es in keiner Weise zu beanstanden ist, wenn sich der Kinderfreibetrag entsprechend dem progressiv gestalteten Einkommensteuertarif ebenfalls progressiv auswirkt.
Das versteht sich doch auch von selbst: Reiche wie Arme müssen ihrem Kind ein neues Kleidchen kaufen. Das kostet für den, der nicht steuerpflichtig ist, brutto wie netto, und für den Steuerpflichtigen mit einer hohen Steuerprogression kostet es aus versteuertem Einkommen möglicherwiese das Doppelte.
Unser höchstes Gericht hat mit diesen Grundaussagen in nicht zu überbietender Deutlichkeit die Kritik, der Kinderfreibetrag sei ungerecht, weil seine steuerermäßigende Wirkung mit steigendem Einkommen wächst, zurückgewiesen. Die Bundesregierung braucht dieser höchstrichterlichen Zurechtweisung - Kurt Faltlhauser hat das soeben zu Recht als schallende Ohrfeige bezeichnet - wirklich nichts hinzuzufügen.
Diese Bundesregierung hat bei der Familienlastenausgleichsregelung immer am bewährten dualen System von Kinderfreibetrag und Kindergeld festgehalten. Das wird sie auch in Zukunft tun, natürlich mit weiteren Verbesserungen und Veränderungen. Das Verfassungsgericht hat diese unsere Position ausdrücklich bestätigt.
Der SPD-Antrag sieht ferner vor, die von der SPD vorgeschlagene Kindergeldlösung durch eine Kappung des Ehegattensplitting zu finanzieren. Die Bundesregierung hat auch zu diesem Ansinnen wiederholt Stellung genommen. Ich weise nochmals auf zwei entscheidende Gesichtspunkte hin:
Erstens. Das Ehegattensplitting knüpft an die Lebensverhältnisse der intakten Durchschnittsehe als Erwerbs-, Verbrauchs- und Versorgungsgemeinschaft an und ist Ausdruck der Gleichwertigkeit von Mann und Frau, ohne Rücksicht auf ihre Tätigkeit in Haus und Familie und im Arbeitsleben.
Zweitens. Ein Teil der Ehegatten, insbesondere Gewerbetreibende und Freiberufler, könnte die Steuererhöhung durch vertragliche Aufteilung des Einkommens und Wahl der getrennten Veranlagung zumindest teilweise vermeiden. Die Kappung richtete sich deshalb in erster Linie gegen verheiratete Arbeitnehmer, die keine Einkunftsquellen übertragen können.
Bereits diese Gründe mögen ausreichen, um Ihnen deutlich zu machen, warum die Bundesregierung eine Kappung des Ehegattensplitting für ungerechtfertigt hält und ihr deshalb auch nicht nähertreten wird.
Alles in allem entpuppt sich also der Antrag der SPD als das schwache Aufflackern eines dahinlodernden parteipolitischen Strohfeuers.
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Er stellt in keiner Hinsicht eine akzeptable Alternative zu dem bewährten, gerechten und zukunftsorientierten Konzept der Bundesregierung dar. Dies um so weniger, als ihm auch jedwede solide Refinanzierung und finanzielle Absicherung fehlen. 200 DM Kindergeld bedeuteten eine Deckungslücke von 5,4 Milliarden DM, bei 250 DM Kindergeld wären wir schon bei einer Deckungslücke von 15,7 Milliarden DM.
Für die Bundesregierung muß ich deshalb empfehlen, den Antrag abzulehnen.
Ich danke Ihnen sehr.
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Frau Abgeordnete Dr. Rose Götte, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schade, daß der Kollege Faltlhauser das „Lokal" schon wieder verlassen, kurz nachdem er seine Rede gehalten hat. Ich hätte ihm gern noch einige Fragen gestellt. Ich hätte ihm auch gern auf das geantwortet, was er gesagt hat. Ich hätte ihn z. B. gern gefragt, ob er es für in Ordnung hält, daß die CDU im gerade zu Ende gegangenen Landtagswahlkampf in Rheinland-Pfalz in allen Zeitungen in halbseitigen Anzeigen verkündet hat, die SPD sei gegen steuerliche Kinderfreibeträge - was ja richtig ist - , die - und jetzt kommt es - doch die einkommensschwachen Familien besonders begünstigten. Ich hätte gerne gewußt, was die CDU zu solchen Anzeigen sagt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der SPD-Antrag für einen verfassungsmäßigen und gerechten Familienlastenausgleich ist kein Antrag, der mal eben so just for fun in die Debatte geworfen wird. Ich bin stolz darauf, Herr Grünewald, daß wir bei der Stange bleiben, dieses Thema immer und immer wieder verfolgen und auch so lange nicht von ihm abgehen werden, bis wir es durchgesetzt haben.
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Dieser Antrag ist das Ergebnis einer langen und intensiven Diskussion auf allen Ebenen der Sozialdemokratischen Partei. In ihrer Partei kennen Sie das vielleicht nicht so; bei uns ist dies aber üblich. Auch wenn die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP diesen Antrag mit ihrer Mehrheit jetzt verhindern, so wird er doch das Kernstück sozialdemokratischer Familienpolitik bleiben und Leitlinie unseres politischen Handelns sein. Mehrheiten können sich bekanntlich ändern, wie wir am vergangenen Sonntag gesehen haben.
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Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich zugebe, daß natürlich auch in einer Opposition um Prioritäten und um die Verteilung der Mittel gerungen wird. Ich bin glücklich darüber, daß die Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker meiner Fraktion in Renate Schmidt und in Ingrid Matthäus-Maier zwei beharrliche und engagierte Mitstreiterinnen haben, so daß dieser Antrag mehrheitsfähig wurde und damit für mich persönlich ein Hauptziel meiner politischen Arbeit in der Fraktion erreicht wurde.
Weil dies vermutlich meine letzte Rede im Bundestag sein wird, möchte ich gern die Chance nutzen, einen kurzen Rückblick auf die Geschichte der Familienpolitik im Deutschen Bundestag zu machen. Vielleicht gelingt es mir diesmal - ich habe es ja schon mehrfach versucht - , wenigstens einige Vorurteile - wie sie uns auch soeben wieder vom Kollegen Faltlhauser vorgetragen worden sind - , die sowohl in den Köpfen der Konservativen als auch in den Köpfen von Sozialdemokraten bestehen, behutsam aufzulösen.
Grundsätzlich kann man - wenn man die Geschichte des Familienlastenausgleichs betrachtet - sagen: Die jeweilige Opposition hat von der jeweiligen Regierung stets gefordert, mehr für die Familie zu tun. Zunächst, unter Adenauer, gab es nur ein Kindergeld für Familien ab drei Kindern in Höhe von 25 DM, das im wesentlichen von Arbeitgeberbeiträgen finanziert wurde. Die SPD - damals in der Opposition - forderte natürlich lautstark Verbesserungen, die sich dann auch nach und nach einstellten.
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- Beides. - Als die SPD dann selbst regierte, gab es weitere Verbesserungen im Familienlastenausgleich. Aber nun war es die CDU-Opposition, die beklagte, mit ihrem „mangelhaften Familienlastenausgleich" setze die Bundesregierung „unaufhörlich eine der Ursachen für den Geburtenrückgang und den schlechten Lebensstandard vieler Familien". Das sagte der damalige familienpolitische Sprecher der CDU/CSU, Rollmann, im Jahre 1975. Das finde ich ganz in Ordnung. Es ist Aufgabe einer Opposition, mehr für die Familie zu fordern.
Die SPD-Regierung schaffte dann die bis dahin bestehende einkommensabhängige Regelung beim Kindergeld ab und erhöhte gleichzeitig das Kindergeld deutlich. Zudem wurde erstmals auch für das erste Kind, das bis dahin immer ausgespart war, ein monatliches Kindergeld von 50 DM von uns eingeführt. Bei dieser Summe für das erste Kind ist es bis heute leider geblieben.
Im Jahre 1979 führte die SPD dann erstmals ein Mutterschaftsurlaubsgeld von immerhin 750 DM monatlich als Lohnersatzleistung ein, um damit allen Müttern die Möglichkeit zu geben, ihr Kind selbst zu stillen und sich dem Kind in den ersten Monaten voll zu widmen.
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- Für Erwerbstätige. Das war ein erster großer Schritt, Herr Link. Ich meine, wir sollten stolz darauf sein, daß es damals gelungen ist. Die Summe von 750 DM war ja damals auch nicht gerade ein Pappenstiel.
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- Nun hören Sie doch einmal zu! Wir haben das gemacht, um allen Müttern die Möglichkeit zu geben, ihr Kind selbst zu stillen. Die nichterwerbstätigen hatten sowieso diese Möglichkeit. Diejenigen, die erwerbstätig waren, hatten diese Möglichkeit nicht. Zunächst war es also das Ziel, allen Müttern die Möglichkeit zu geben, nach dem Schwangerschaftsurlaub noch ein weiteres halbes Jahr zu Hause zu bleiben. Sie mußten sich finanziell keine Sorgen machen, weil sie 750 DM Lohnersatz bekamen.
Dazu kam das Schüler-BAföG, das eine sehr teure soziale Leistung war. Es ließ den Anteil der Mädchen und der Kinder aus einkommensschwachen Familien in der Oberstufe und den berufsbildenden Schulen sprunghaft ansteigen.
Wie war es denn möglich, daß die SPD trotz dieser wirklich beachtlichen Leistungen in den 70er Jahren dennoch in dem Ruf stand, nicht besonders familienfreundlich zu sein? Wie war es möglich, daß sich sogar eingefleischte Sozialdemokraten einreden ließen, die
SPD habe sich in der Familienpolitik etwas zuschulden kommen lassen? War da nicht so etwas - Sie haben es gerade als Zwischenruf gebracht - wie eine Kürzung des Kindergeldes? Gibt es da nicht den Standard-Zwischenruf „Sie haben doch damals unter Helmut Schmidt ...", den die CDU in jeder familienpolitischen Debatte bringt? - Dem möchte ich ganz gerne nachgehen. Was war denn da eigentlich?
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- Herr Link, es wäre schon wichtig, daß Sie jetzt sine ira et studio einfach zuhören und diese Fakten zur Kenntnis nehmen.
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Wie war das denn unter Helmut Schmidt? - Ich meine, wir sollten jetzt endlich einmal einen Schlußstrich ziehen und mit der Geschichtsklitterung aufhören. Das geht aber nur, wenn Sie mir zuhören.
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- Herr Link!
Unter Helmut Schmidt wurde neben der Einführung des Mutterschaftsurlaubsgeldes und des Schüler- und Studenten-BAföGs, das ich schon erwähnt haben, das Kindergeld zunächst immer weiter ausgebaut und erreichte 1981 eine Rekordmarke, nämlich 50 DM für das erste Kind, 120 DM für das zweite Kind, 240 DM für das dritte, vierte und jedes weitere Kind.
Damit betrugen die familienpolitischen Leistungen 1981, also im Jahr vor der „Wende", 28 Milliarden DM, was einem Anteil von 12,45 % des gesamten Bundeshaushalts entsprach, dem höchsten Anteil, den der Familienlastenausgleich in der Geschichte der Bundesrepublik jemals - bis heute - erreicht hat.
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Das war damals vor allem unserem Koalitionspartner FDP und auch den eigenen Haushältern - das sage ich der Wahrheit zuliebe - zu viel. Nach längerem Hin und Her wurde dann 1982 - jetzt kommt die Streichung, auf der Sie immer herumhacken - das Kindergeld beim zweiten und dritten Kind um jeweils 20 DM gekürzt. Wir haben also eine Erhöhung, die wir vorher vorgenommen hatten, zurückgenommen. Damit blieben nach wie vor 50 DM für das erste Kind, 100 DM für das zweite Kind, 220 DM für das dritte Kind und 240 DM für das vierte Kind und jedes weitere.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Dr. Götte, könnte es sein, daß das hohe Maß an Leistungen, das Sie soeben sehr richtig skizziert haben, einen Beitrag dazu geleistet hat, daß es in der damaligen finanz- und haushaltspolitischen Situation zu diesen unerträglichen Defiziten im Staatshaushalt gekommen ist?
Ich leugne nicht, daß es zu Defiziten im Staatshaushalt gekommen ist. Wenn ich die aber mit den heutigen Defiziten vergleiche, war das damals ein Klacks.
({0})
- Herr Link, die CDU erhob damals, nach der Wende, ein Geschrei, das so laut war, daß dabei völlig überhört wurde, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dann selbst beschlossen haben, als Sie 1982 die Regierung übernahmen: Sie haben nämlich die Entscheidung der Vorgänger - 20 DM Abzug beim zweiten Kind - , die Sie so heftig kritisiert haben, keineswegs rückgängig gemacht, sondern Sie haben so richtig losgelegt:
({1})
Streichung des Schüler-BAföG, Kürzung - ({2})
- Aber Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, daß wir jetzt über Familienlastenausgleich reden. Sie haben wegen dieser 20 DM, die wir zurückgenommen haben, nachdem wir es vorher erhöht hatten, ein unglaubliches Geschrei angefangen und überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, was Sie unmittelbar nach der „Wende" gestrichen haben. Mir kommt es darauf an, diese Geschichtslüge von der Wende in der Familienpolitik endlich einmal mit dem zu konfrontieren, was tatsächlich war.
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Sie haben das Schüler-BAföG radikal abgeschafft, Sie haben das Mutterschaftsgeld gekürzt, und Sie haben so viele weitere Kürzungen vorgenommen, daß die Ausgaben für die Familien bis zum Jahre 1985 - jetzt hören Sie mal zu! - auf 21 Milliarden DM geschrumpft waren und somit nur noch 8,2 % des Bundeshaushalts ausmachten. Diese Zahlen sind für Sie als Familienpolitiker wichtig; denn ich weiß ja, daß Sie gern mehr für die Familien tun würden. Diese Zahlen müssen Sie Ihren eigenen Kollegen in der Fraktion um die Ohren hauen, damit die endlich aufhören, zu glauben, sie seien besonders spendabel gewesen.
({4})
Ich habe vorhin daran erinnert: Es waren 1981 12,4 % Anteil am Bundeshaushalt. Dieser Anteil wurde bis heute nicht erreicht. 1990 betrug der Anteil trotz einer nominalen Steigerung nur 11,8 % der Gesamtausgaben. Ich wäre sehr glücklich, wenn meine Arbeit im Deutschen Bundestag wenigstens den Sinn gehabt hätte, die falschen Vorstellungen von der angeblich so familienfreundlichen Wende nach 1982 endlich zu korrigieren.
Daß sich dieses Vorurteil trotz der Datenlage im Finanzministerium überhaupt so lange halten konnte, hat andere Gründe, die im ideologischen Bereich zu suchen sind.
({5})
Als nämlich die SPD in den 70er Jahren für mehr Kindergartenplätze, für Ganztagsschulen, für Tagesmüttermodelle und Kinderhorte kämpfte, wurde ihr das nicht als familienfreundliche, sondern familienfeindliche Politik ausgelegt. Mütterliche Berufstätigkeit wurde damals allenfalls als notwendiges Übel akzeptiert. Im Bürgerlichen Gesetzbuch hieß es noch bis zum 30. Juni 1977: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist. " Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welche Kämpfe die SPD gegen CDU und CSU in den 70er Jahren durchzustehen hatte, bis schließlich am 1. Juli 1977 feststand: „Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung im gegenseitigen Einvernehmen ... Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Beide haben auf die Belange der Familie die gebotene Rücksicht zu nehmen."
Damit war der Kampf um die Rolle der Mütter und Väter aber noch längst nicht ausgestanden. Auf der berühmten CDA-Tagung 1981 „Die sanfte Macht der Familie " wurde versucht, das Rad der Geschichte noch einmal zurückzudrehen und den Müttern einzureden, sie seien unter keinen Umständen ersetzbar, nicht vom Vater und erst recht nicht von einer Kinderpflegerin oder Erzieherin.
Frau Kollegin, entschuldigen Sie bitte, Ihre Redezeit ist schon satt überschritten. Nun ist das vermutlich Ihre letzte Rede als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aber ich gehe davon aus, daß wir Sie möglicherweise in anderer Eigenschaft gelegentlich an einem Rednerpult sehen.
Ich habe nur noch eine halbe Seite.
Ich würde mich freuen, wenn Sie zum Schluß kämen.
Es ist nur noch eine halbe Seite. Vielen Dank, Herr Präsident.
({0})
Damals wurde gesagt: Wer außerhäusliche Erziehung oder Wechsel der Bezugspersonen zulasse, füge seinem Kind schwere und bleibende Schäden zu. Ich möchte Ihrer Kollegin Renate Hellwig ein Lob aussprechen, die damals auf dieser Konferenz tapfer, aber sehr einsam widersprochen hat.
Weil die SPD schon 1970 die Meinung vertrat, die die CDU erst 1985 in ihren Leitsätzen des Essener Parteitags beschloß, wurden wir jahrelang als familienfeindliche Meute beschimpft. Daß diese Gräben heute weitgehend überwunden sind, hängt ganz sicher auch
damit zusammen, daß der Anteil der Frauen im Parlament deutlich gestiegen ist und, so hoffe ich, auch weiter steigen wird.
Ich wünsche allen Frauen und Familienpolitikern, den weiblichen und den männlichen, und auch Ihnen, Frau Minister Rönsch, viel Erfolg.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Renate Diemers.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wer von uns wäre nicht für einen verfassungsmäßigen und gerechten Familienlastenausgleich? Das ist die Zielsetzung der Bundesregierung, das ist die Zielsetzung der CDU/CSU im Bereich der Familienpolitik. Die Familienpolitik war und ist der zentrale Punkt unseres politischen Handelns. Ja, sie ist das Herzstück unserer Politik. Deshalb haben wir die Leistungen innerhalb des Familienlastenausgleichs seit 1983 nachweislich und kontinuierlich erhöht bzw. die Kürzungen, die von der SPD-geführten Bundesregierung im Bereich des Kindergeldes 1980 bis 1982 vorgenommen wurden, rückgängig gemacht.
({0})
Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in der Familienpolitik in der Tat neue Maßstäbe gesetzt und Perspektiven eröffnet sowie Bewährtes weiter ausgebaut.
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Die Bilanz der von uns verwirklichten familienpolitischen Leistungen kann sich sehen lassen. Ich nenne beispielsweise die Einführung und Ausweitung des Erziehungsurlaubs zunächst auf zwölf, dann auf 18 und jetzt auf 24 Monate, des Erziehungsgeldes und die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Ich denke, das ist eine wahrlich hervorragende Errungenschaft für uns Frauen.
Wir werden uns dafür einsetzen, daß der Erziehungsurlaub bei voller Beschäftigungsgarantie auf drei Jahre erhöht wird.
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Dies ist sowohl ein Beitrag innerhalb des Familienlastenausgleichs wie auch ein wesentlicher Schritt zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Mütter und Väter.
Zu den Leistungen innerhalb des Familienlastenausgleichs, die sich bewährt haben und jetzt ausgebaut werden müssen, gehört das duale System, d. h.: durch Steuerfreibeträge und Kindergeld Steuergerechtigkeit für Mütter und Väter sowie gleichzeitig ein familiengerechtes Einkommen. Selbstverständlich muß in diesem Zusammenhang dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes Rechnung getragen werden. Aber es ist natürlich sehr leicht, die Forderung zu erheben, die sich aus den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichtes ergebenden Steuervorteile an alle betroffenen Eltern - unabhängig davon, ob die Steuerbe1518
scheide bestandskräftig sind oder nicht - nachträglich auszuzahlen. Finanzielle Forderungen zu erheben ist immer leicht, wenn man sie nicht einlösen muß, meine Damen und Herren von der SPD.
({3})
Redlich wäre es schon, wenn in Zusammenhang mit den Forderungen auch die Kosten genannt würden. Ich nenne noch einmal den Betrag: Es sind ca. 15 Milliarden DM. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind in der Tat der Überzeugung: Dieses Geld muß für zukunftsbezogene familienpolitische Leistungen eingesetzt werden,
({4})
und zwar in gleicher Weise für alle Familien in den alten und in den neuen Bundesländern.
Ihre Forderung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das duale System zugunsten eines einheitlichen Kindergeldes aufzugeben, ist wirklich alter Wein in neuen Schläuchen. Ich erinnere daran: Sie haben in der Zeit von 1975 bis 1982 erstens die Kinderfreibeträge ganz abgeschafft und nicht - entgegen Ihren Versprechungen - über das Kindergeld zurückgeführt und zweitens das Kindergeld entgegen Ihrer Zusage nicht dynamisch erhöht. Drittens. Sie haben den Eltern das Kindergeld gekürzt und für arbeitslose Jugendliche von 18 bis 21 Jahren sogar ganz gestrichen.
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Diese Maßnahmen haben wir nach Regierungsübernahme schnellstens wieder rückgängig gemacht.
Des weiteren erinnere ich daran, daß von der SPD auch in der vergangenen Legislaturperiode die Aufgabe des dualen Systems gefordert wurde. Sie haben das ja erwähnt. Warum soll das damalige Konzept, das versagt hat, heute richtiger und glaubwürdiger sein?
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, möchten ein einheitliches Kindergeld. Aber ich betone nachdrücklich: Der Familienlastenausgleich darf nicht dazu herhalten, unterschiedliche Ausgangssituationen der einzelnen Familien zu egalisieren.
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Nicht Uniformiertheit für alle Eltern, sondern Berücksichtigung der jeweiligen wirtschaftlichen Situation muß die Ausgangslage für den Familienlastenausgleich sein.
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Nicht das Herbeireden von Neidkomplexen, sondern finanzielle Leistungen für einkommensschwache und kinderreiche Familien müssen das Ziel sein.
Genauso wichtig ist es aber, Eltern mit höherem Einkommen ebenfalls den Steuerfreibetrag zukommen zu lassen und sie nicht wie Kinderlose zu besteuern. Anders ausgedrückt: Der Wegfall der Kinderfreibeträge würde bedeuten, daß die Eltern mehr Steuern zu zahlen hätten, ihnen aber nur ein vergleichsweise
kleiner Betrag in Form von Kindergeld zurückerstattet würde.
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Familienlastenausgleich, wie ich ihn verstehe und wie wir von der CDU/CSU ihn verstehen, hat die Aufgabe, zwischen Kinderlosen und Familien mit Kindern einen tatsächlichen Ausgleich zu schaffen.
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Die Einkommensschere zwischen Ehepaaren mit Kindern und kinderlosen Ehepaaren darf nicht zu weit auseinandergehen.
({10})
Ich verstehe unter Familienlastenausgleich jedoch nicht eine vorrangige Umverteilung zwischen Familien mit unterschiedlichem Einkommen. Der Familienlastenausgleich muß nach unseren Vorstellungen schrittweise weiterentwickelt werden. Dazu gehören die Erhöhung des Kindergelds, die Erhöhung des Kinderfreibetrags auf das Existenzminimum bzw. die Erhöhung des Kindergeldzuschlags. In den Fällen, in denen der steuerliche Freibetrag nicht voll ausgeschöpft werden kann, hat das Kindergeld bzw. der Kindergeldzuschlag also eine Ausgleichsfunktion.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist schon reichlich überschritten.
Einen Moment! - Wir werden unser Ziel durchsetzen, daß einkommensschwache und kinderreiche Familien eine besondere Förderung erhalten. Sie begründen Ihren Antrag, das duale System abzuschaffen, unter anderem damit,
Frau Kollegin, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
- ich komme sofort zum Schluß - daß bei Einführung eines einheitlichen Kindergeldes dem Staat wieder jedes Kind gleich viel wert wäre. Auf die damit verbundene Unterstellung will ich jetzt nicht eingehen. Ich stelle fest:
Frau Diemers, bitte stellen Sie nichts mehr fest. Die Redezeit ist wirklich weit überschritten.
Für mich hat jedes Kind seinen unverwechselbaren eigenständigen Wert.
Entschuldigung, daß ich bei meiner ersten Rede die Zeit überschritten habe.
Danke schön.
({0})
Heute wurde bei fast allen Reden die Redezeit überschritten. Nur, es gehört zu den Regeln des Hauses, daß man, wenn der Präsident mahnend darauf hinweist, daß die Redezeit bereits überschritten ist, mit einem Satz oder maximal
Vizepräsident Hans Klein
zwei Sätzen schließt und nicht versucht, den Rest des Manuskripts durchzupeitschen.
Ich erteile der Bundesministerin Hannelore Rönsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Dr. Götte, zunächst danke ich ganz herzlich für die guten Wünsche, die Sie soeben meinem Ministerium und vielleicht auch mir persönlich mitgegeben haben. Ich übermittle Ihnen schon im voraus die herzlichsten Glückwünsche für ein offensichtlich zu übernehmendes Amt. Ich verhehle an dieser Stelle nicht, daß ich mich sehr gefreut hätte, Sie weiter in Ihrer alten Funktion als Arbeitsgruppensprecherin zu sehen.
({0})
Da Hessen unmittelbar an Rheinland-Pfalz grenzt und ich mir vorstellen kann, daß Sie in ein Arbeitsgebiet gehen, in dem sich unsere Arbeitsbereiche ein wenig ähnlich sind, werden wir mit Sicherheit auch in Zukunft ab und an die Klingen kreuzen können.
Ich habe volles Verständnis dafür, Frau Dr. Götte, daß man bei seiner vorerst letzten Rede im Bundestag Bilanz zieht. Aber eine Bilanz besteht bei mir aus Soll und Haben. Sie haben vorhin einen Betrag von 28 Milliarden DM an familienpolitischen Leistungen genannt, die während der Zeit der SPD-Regierung für die Familien gewährt worden sein sollen. Wir haben selbst bei eifrigstem Nachforschen einen Betrag in dieser Höhe nicht ermitteln können. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns wissen ließen - es muß nicht heute sein -, was Sie in diesen Betrag alles hineingerechnet haben.
Ich will Ihnen, Frau Dr. Götte, ganz bewußt den Betrag von 31,6 Milliarden DM für dieses Haushaltsjahr nennen, der sich aus dem Kindergeld und aus den Kinderfreibeträgen zusammensetzt. Dabei sind all die anderen familienpolitischen Maßnahmen noch an keiner Stelle eingerechnet.
Frau Bundesministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Aber selbstverständlich!
Bitte.
Wie erklären Sie sich denn, daß ich die Zahlen, die ich vorhin vorgetragen habe, von Ihrer Vorgängerin über das Ministerium bekommen habe und daß Sie diese Zahlen nicht haben?
Ich war auf diese Zahlen nicht vorbereitet. Ich habe mir heute nicht die Regierungsarbeit der SPD aus den vergangenen Jahrzehnten angeschaut.
({0})
Nur, die ganz augenfälligen Defizite sind uns hier gegenwärtig.
Ich komme noch einmal auf eine Bilanz zurück: Zu einer Bilanz gehört auch das, was man sich vorgenommen hat und nicht erreichen konnte.
({1})
Ich vermisse in dieser Bilanz das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub. Ich vermisse auch - damit wende ich mich zugleich an den Kollegen Habermann - die Redlichkeit. Sie haben von der Glaubwürdigkeit gesprochen, Kollege Habermann. Ich habe bei Ihrer Rede auch einen Hinweis darauf vermißt, daß der Familienlastenausgleich während Ihrer Regierungszeit abgeschafft worden ist und die Freibeträge erst 1983 - deshalb haben wir jetzt das Urteil - wieder eingeführt wurden.
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- Frau Dr. Götte, ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir deutlich machen würden, wie Sie auf die Berechnung von 28 Milliarden gekommen sind, ob die Kinderfreibeträge und das Kindergeld gemeinsam berücksichtigt sind.
({3})
- Das ist natürlich eine ganz andere Summe. - Ich muß Ihnen dazu sagen: Ich freue mich darauf, Ihnen in einem persönlichen Schreiben, vielleicht verbunden mit meinem Glückwunsch, die gesamte Dimension der familienpolitischen Leistungen darzustellen, weil das für Ihre Arbeit ein Orientierungspunkt sein kann.
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Die wirtschaftliche Förderung der Familie durch den Staat hat für mich zwei Gesichtspunkte: Die Eltern, die Kinder zu unterhalten haben, dürfen nicht ebenso hoch wie kinderlose Ehepaare besteuert werden. Da die Löhne und Gehälter in unserer Gesellschaft Familienarbeit weitgehend unberücksichtigt lassen, muß sich der Staat an den Kosten für den Unterhalt der Kinder beteiligen.
Diesen beiden Gesichtspunkten trägt das duale System - das sich bei uns bewährt hat - des Familienlastenausgleichs aus Kinderfreibeträgen und aus Kindergeld Rechnung. Ich kann Ihnen sagen: Ich werde weiterhin an diesem dualen System festhalten.
Die Kinderfreibeträge schaffen im Steuerrecht die gerechte Anerkennung der in der Familie erbrachten Leistung. Kinderfreibeträge belassen das Geld in den Familien, also dort, wo es für die Kinder ausgegeben wird. Freibeträge sorgen dafür, daß Eltern den Unterhalt ihrer Kinder aus dem selber erarbeiteten Einkommen sichern können. Das stärkt die Eigenverantwortung der Familien. So wollen wir es belassen. Deshalb kann ich der Abschaffung von Kinderfreibeträgen nicht zustimmen; denn ich will Gerechtigkeit für die Familien mit Kindern.
Anders als die Kinderfreibeträge bedeutet das Kindergeld eine echte staatliche Leistung. Erst dann fängt die Leistung für die Familien an, wenn die Freibeträge nicht mehr besteuert sind. Kindergeld schafft also zusätzliches Einkommen für die Familien.
Wenn gefordert wird, Kinderfreibeträge durch das Kindergeld zu ersetzen, bedeutet das eigentlich nur, daß der Staat den Eltern mit der einen Hand das aus der Tasche zieht, was er mit der anderen Hand zurückgeben will. Es könnte dann der Eindruck entstehen, als würden die Kinder vom Staat und nicht von den Eltern unterhalten.
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- Nein, wir wollen, daß die Eltern selber ihre Kinder unterhalten und daß nicht der Eindruck entsteht, der Staat finanziere das.
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Wir haben jetzt einen Kinderfreibetrag von 3 024 DM. Er wirkt sich - das ist steuersystematisch korrekt - bei unterschiedlich hohem Einkommen unterschiedlich stark aus. Aber dieser Effekt wird oft übertrieben dargestellt, wie wir es heute morgen wieder gemerkt haben.
Wir werden die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts, daß das Existenzminimum von Kindern von der Besteuerung frei bleiben muß, noch in diesem Jahr gesetzgeberisch umsetzen. Wir beziffern das sozialrechtliche Existenzminimum auf der Basis der Sozialhilfesätze von 1990/91 jetzt mit jährlich 6 324 DM, also mit monatlich 527 DM. Mit der ab 1. Juli 1991 zu erwartenden Erhöhung der Sozialhilfesätze wird sich natürlich auch der Betrag des Existenzminimums erhöhen.
Wir haben das Kindergeld für das erste Kind von jetzt 50 auf 70 DM zum 1. Januar 1992 angehoben. Aber schon 1991 belaufen sich die Leistungen auf 31,6 Milliarden DM, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe.
Das Finanzvolumen des dualen Familienlastenausgleichs erhöht sich gegenüber 1990 auch durch das Hinzukommen der Familien in den neuen Bundesländern um über ein Drittel. Das Kindergeldvolumen für sich genommen steigt von 1990 auf 1991 um rund die Hälfte.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Bitte.
Frau Ministerin, ich bestreite nicht, daß der Betrag 1990 höher war als 1981. Aber wir müssen ja den Anteil der familienpolitischen Leistungen im Gesamthaushalt betrachten, um zu sehen, ob sich da wirklich etwas getan hat. Meine Frage ist: Bestreiten Sie, daß der Anteil 1990 11,8 Prozent betrug, während er sich 1981 auf 12,4 Prozent belief?
Frau Dr. Götte, da ich schon verschiedentlich Zahlenspielereien erlebt habe, werde ich jetzt weder etwas bestätigen noch etwas verneinen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir die Tabelle, die Sie haben, gäben. Ich bin gern bereit, Ihnen in dem angekündigten Brief die Zahlen genau zu bestätigen oder zu verneinen. Ich habe Zahlenspielereien und Wortspielereien soeben in Ihrer Rede bemerkt, und zwar als Sie von den stillenden Müttern gesprochen haben. Man kann natürlich durch Definition vorgaukeln, zu dieser Gruppe gehörten auch Mütter, die nicht erwerbstätig waren.
({0})
Dazu sage ich: Darauf lasse ich mich nicht ein.
Lassen Sie mich bitte in der mir noch verbleibenden wirklich sehr kurzen Redezeit auf einige für uns auch für die Zukunft wichtige Punkte hinweisen.
Ich will noch einmal deutlich machen, daß wir 1991 10 Millionen Familien mit über 17 Millionen Kindern gefördert haben, und zwar in ganz Deutschland.
Im nächsten Jahr wird der duale Familienlastenausgleich eine Größenordnung von rund 40 Milliarden DM haben. Dies umfaßt auch das wiedervereinigte Deutschland.
Dies vermittelt Ihnen einmal einen kurzen Eindruck vom Gewicht und von der Dynamik der Entwicklung des Familienlastenausgleichs.
Er trägt zur Angleichung der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland wesentlilch bei. An dieser Stelle will ich noch einmal an die Familien im anderen Teil Deutschlands appellieren und ihnen deutlich machen, daß sie ihren Rechtsanspruch auf Kindergeld nicht verfallen lassen sollen. Wir haben in einer Werbekampagne in den fünf neuen Bundesländern bereits darauf hingewiesen. Aber es gibt immer noch einen ganz erheblichen Anteil von Eltern, die ihren Kindergeldanspruch nicht wahrgenommen haben. Ich erwarte, daß die Eltern jetzt zu den Arbeitsämtern bzw. zu den zuständigen Behörden gehen und dort die Kindergeldanträge abholen.
Wir sind mit dem Familienlastenausgleich und auch mit dem dualen System bisher gut gefahren. Die Familien waren die Gewinner. Wir werden dieses duale System beibehalten. Im Laufe dieser Legislaturperiode werden wir eine Weiterentwicklung des Systems des dualen Familienlastenausgleichs vorlegen, die auch die Forderungen nach Vereinfachung - das wurde vorhin auch von Ihnen erwähnt - für die Familien berücksichtigen soll, ohne daß die unterschiedlichen Ausgangslagen und Bedürfnisse der Familien unberücksichtigt bleiben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache.
Der Ältenstenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/320 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich unterbreche die Sitzung für eine sehr kurze Pause. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Fragestunde fortgesetzt.
({0})
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich rufe auf:
1. Fragestunde
- Drucksache 12/396 Als erstes behandeln wir den Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke anwesend.
Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Dr. Burkhard Hirsch auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß der nordrhein-westfälische Justizminister Krumsiek im Rechtsausschuß des nordrhein-westfälischen Landtages unter Berufung auf eine dienstliche Erklärung des zuständigen Staatsanwaltes erklärt hat, die Staatsanwaltschaft habe lediglich die Entnahme einer Blutprobe bei der Frau angeordnet, die am 19. Januar 1991 bei Gronau in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und vom BGS schließlich wegen des Verdachts einer Straftat nach § 218 StGB in das St. Antonius Hospital in Gronau gebracht wurde, wo sie körperlich untersucht wurde?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter Dr. Hirsch! Die Erklärung des nordrhein-westfälischen Justizministers Krumsiek im Rechtsausschuß des Nordrhein-Westfälischen Landtages ist der Bundesregierung nicht bekannt. Der Bundesregierung liegt jedoch in Ablichtung das Plenarprotokoll des Landtages Nordrhein-Westfalen vom 13. März 1991 vor. Ausweislich dieses Protokolls hat der nordrhein-westfälische Justizminister Dr. Krumsiek auf eine mündliche Anfrage u. a. erklärt:
Nachdem sich die Beamten mit dem Staatsanwalt, den sie an diesem Sonnabend zu Hause fernmündlich erreichten, in Verbindung gesetzt hatten, willigte dieser in die Entnahme einer Blutprobe ein, um eine Veränderung des Hormonspiegels nach einem etwaigen Schwagerschaftsabbruch feststellen zu können.
Auf eine Zusatzfrage hat der nordrhein-westfälische Justizminister Dr. Krumsiek u. a. weiter erklärt:
Der Staatsanwalt hat schriftlich Stellung genommen und erklärt, er habe nur in eine Blutentnahme eingewilligt. Er könne sich deswegen noch so genau an diesen Fall erinnern, weil das der einzige Fall sei, bei dem telefonisch wegen eines Schwangerschaftsabbruchs bei ihm nachgefragt worden sei.
Herr Kollege Hirsch, eine Zusatzfrage!
Herr Präsident, darf ich mir die Anregung erlauben, daß die Fragen 1 und 2, die denselben Sachverhalt betreffen, gemeinsam beantwortet werden? Dann wird das mit den Zusatzfragen vielleicht etwas angenehmer.
Ich rufe dann auch die Frage 2 des Kollegen Dr. Burkhard Hirsch auf:
Liegt der Bundesregierung die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Münster über eine Zwangsuntersuchung der betreffenden Frau vor, und ist nach Auffassung der Bundesregierung
der Innenausschuß des Deutschen Bundestages oder der Rechtsausschuß des Landtages Nordrhein-Westfalen falsch unterrichtet worden?
Ich beantworte dann die Frage 2:
Eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft Münster über eine Zwangsuntersuchung der betreffenden Frau liegt der Bundesregierung nicht vor. Der noch vor der Ausschußsitzung den Mitgliedern des Innenausschusses zugeleitete und in der Sitzung am 12. März 1991 vom Bundesminister des Innern in Bezug genommene schriftliche Bericht vom 8. März 1991 enthält eine Unrichtigkeit, soweit darin zum Ausdruck gebracht wird, die staatsanwaltschaftliche Anordnung habe sich über die Blutprobe hinaus auch auf eine gynäkologische Untersuchung erstreckt, sofern sich durch die Blutuntersuchung der Verdacht eines Schwangerschaftsabbruchs nicht hinreichend absichern läßt.
Der Grund für diese Unrichtigkeit liegt darin, daß der genannte Bericht wegen seiner Eilbedürftigkeit - er sollte noch vor der Ausschußsitzung den Mitgliedern des Ausschusses zugeleitet werden - auf mündliche Befragung der beteiligten Beamten durch das zuständige Grenzschutzamt Kleve und auf Telefongesprächen von Mitarbeitern des zuständigen Fachreferates des Bundesministers des Innern mit diesem sowie mit dem zuständigen Staatsanwalt aufgebaut wurde. Im Vordergrund dieser Recherchen stand dabei im Hinblick auf die Presseberichte am 2. März 1991 die Frage, ob und wie viele Fälle sich in der zurückliegenden Zeit ereignet haben, nicht jedoch der Fall, der sich am 19. Januar 1991 in Gronau ereignet und lediglich den Anlaß für die genannten Presseberichte dargestellt hat.
Zum Zeitpunkt der Berichterstattung des Bundesministers des Innern vor dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages am 12. März 1991 war der Bundesregierung nicht bekannt, daß die gynäkologische Untersuchung über das hinausgegangen ist, was nach den Erklärungen der beteiligten Beamten und des Staatsanwaltes von letzterem angeordnet worden war.
Die erste Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Hirsch.
Herr Staatssekretär, es geht ja, damit das hier klar ist, um den Fall, daß eine Frau an der Grenze gynäkologisch zwangsuntersucht wurde, weil der Verdacht bestand, daß sie in Holland eine Schwangerschaft unterbrochen habe. Wenn nun der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen erklärt, daß der Staatsanwalt nur eine Blutentnahme angeordnet habe, und wenn der Innenminister, gestützt auf Aussagen von BGS-Soldaten, im Innenausschuß dieses Hauses erklärt, es habe eine staatsanwaltschaftliche Entscheidung über die gynäkologische Zwangsuntersuchung vorgelegen, dann muß doch einer lügen, oder?
Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, ich habe ausführlich dargelegt, daß
die Auskunft des Bundesinnenministers im Innenausschuß auf einem Irrtum beruhte. Insoweit habe ich hier eine Berichtigung vorgenommen.
Die zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ich will selbstverständlich in gar keiner Weise den Bundesinnenminister einer Unkorrektheit beschuldigen. Es wäre aber doch interessant zu erfahren, auf welcher Rechtsgrundlage denn die Zwangsuntersuchung der Frau vorgenommen worden ist. Denn es ist doch wohl zwischen uns unstreitig, daß das geschehen ist.
Die Rechtsgrundlage dürfte in § 81 a Abs. 2 StPO zu finden sein.
Die dritte Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wenn der Staatsanwalt aber eine gynäkologische Untersuchung gar nicht angeordnet hatte, wie sich jetzt herausstellt, sondern nur eine Blutentnahme, wenn jedoch trotzdem eine gynäkologische Zwangsuntersuchung stattgefunden hat, dann kann doch die Rechtsgrundlage nicht § 81 a StPO sein, dann handelt es sich höchstens um eine Körperverletzung, die der Arzt begangen hat.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Die Rechtsgrundlage ändert sich ja dadurch nicht. Denn auch für die Blutuntersuchung ergibt sich die Rechtsgrundlage aus § 81 a Abs. 2 StPO in Verbindung mit § 218 StGB.
Die vierte Zusatzfrage, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, ich versuche es noch einmal. § 81 a der Strafprozeßordnung setzt ja eine richterliche Entscheidung voraus. Nur in Eilfällen kann der Staatsanwalt selber entscheiden. Der Arzt kann nicht von sich aus entscheiden, sondern er kann nur das tun, was entschieden worden ist. Wenn nun aber der Staatsanwalt, wie Sie sagen und wie ich auch glaube, eine solche Entscheidung gar nicht getroffen hat, dann möchte ich fragen, wer denn nun von Rechts wegen die Zwangsuntersuchung angeordnet hat oder ob diese Zwangsuntersuchung ohne Rechtsgrundlage erfolgt ist.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Zunächst einmal ist dies, wie Sie wissen, eine Landesangelegenheit. Sie können mich allenfalls sozusagen nach den abstrakten Rechtsnormen befragen, ob hier also eine Rechtsgrundlage gegeben sein konnte. Ich habe dargelegt, daß für eine gynäkologische Untersuchung nach § 81 a keine Rechtsgrundlage vorhanden war.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Würfel.
Herr Staatssekretär Funke, würden Sie mir erlauben, zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch beizutragen, daß ich hier wiedergebe, was uns im Ausschuß für Jugend und Frauen vom zuständigen Staatssekretär auf diese Fragestellung hin geantwortet wurde?
Bitte, ja, wenn Sie es darlegen wollen.
Nach den Aussagen des Staatssekretärs hat es sich folgendermaßen abgespielt: Der Zollbeamte hat auf einem Formblatt, das zur Feststellung von Drogen im Körper vorgesehen ist, angekreuzt, daß eine Blutuntersuchung zum Zwecke der Feststellung eines Schwangerschaftsabbruches stattzufinden habe. Das ist an sich schon, wie Sie mir zustimmen werden, eine höchst absurde Idee.
Dieses Formblatt soll dann dem zuständigen Arzt nicht insofern zur Kenntnis gekommen sein, als dieser begriffen hat, daß er eine Blutuntersuchung vorzunehmen habe. Er ging vielmehr davon aus, daß er mit den ihm gebotenen gynäkologischen Mitteln feststellen sollte, ob ein Schwangerschaftsabbruch stattgefunden habe.
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Verzeihung, Frau Kollegin. Ich bin ja sehr großzügig und will auch, daß in der Fragestunde Tatbestände aufgeklärt werden.
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Nur: Es geht in der Tat nicht, daß Sie die Frage stellen „Sind Sie bereit, einen Vortrag von mir anzuhören?"
Das geht nicht. Sie können wirklich nur eine Frage stellen, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie von mir gesagt bekommen haben, was uns der zuständige Staatssekretär im Ausschuß erläutert hat, können Sie mir sicher zustimmen, daß beide Tatbestände so absurd sind, daß das Vorhandensein dieses Geschehnisses nur dazu führen kann, die Strafbewehrung bei § 218 abzuschaffen.
Bitte.
Frau Kollegin Würfel, der Tatbestand wird zur Zeit durch ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren überprüft. Das heißt, es wird geprüft, ob hier jemand die Rechtsgrundlagen beispielsweise für Untersuchungen verlassen hat. Das war ja die Frage von Herrn Kollegen Dr. Hirsch.
Dieses ist Gegenstand eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens. Die Frage, ob § 218 zu novellieren ist, wird durch den Deutschen Bundestag zu entscheiden sein.
Zusatzfrage des Abgeordneten Dr. Schily.
Es tut mir leid, Herr Präsident, aber ich muß noch einmal darauf hinweisen: Der mit dem Doktortitel ist mein Bruder. Diesen Hinweis muß ich häufiger geben. Ich bin leider kein Doktor. Ich will mich nicht der unbefugten Titelführung schuldig machen.
Das gab Ihnen jetzt Gelgenheit zu einer Bescheidenheitsdarstellung!
Herr Staatssekretär, angesichts der Widersprüche, die auf Grund der Fragen des Kollegen Dr. Hirsch hervorgetreten sind: Halten Sie es für geboten, daß Sie vielleicht durch entsprechende Anweisungen gegenüber dem Bundesgrenzschutz dafür sorgen, daß sich Vorkommnisse dieser Art in Zukunft nicht mehr wiederholen werden?
Herr Abgeordneter Schily, das ist keine Frage, die an den Justizminister zu stellen ist, sondern an meinen Kollegen aus dem Bundesministerium des Innern. Ich schlage vor, daß die an den Bundesjustizminister gerichteten Fragen vom Innenministerium beantwortet werden.
Wenn Sie die Beantwortung an Ihren Kollegen übergeben wollen - ich habe nichts dagegen.
Entschuldigung, wir können Zusatzfragen in diesem Geschäftsbereich zu diesem Fragenkomplex stellen. Wir wollen jetzt wirklich nicht sozusagen eine Stammtischdiskussion, bei der wir mit wechselnden Themen die Dinge behandeln.
Die Frage war an den Bundesminister der Justiz gerichtet.
({0})
Für ihn antwortet der Parlamentarische Staatssekretär. Die Zusatzfragen beziehen sich auf die schriftlich vorliegende Frage.
Aber auch auf das, was hier gesagt worden ist, Herr Präsident. Mit allem Respekt: Ich habe nicht den Eindruck, daß es sich hier um eine Stammtischrunde gehandelt hat, sondern wir erörtern hier sehr ernste Fragen.
Wenn der Herr Staatssekretär meint, er kann die Frage nicht beantworten, sondern sie muß vom Vertreter eines anderen Ressorts beantwortet werden - die Frage bietet sich aus dem, was hier erörtert worden ist, doch an -, dann sehe ich das nicht als durch die Geschäftsordnung gehindert an. Ich sage das mit allem Respekt.
Herr Schily, Sie irren.
Herr Abgeordneter Schily, ich kann die Frage nicht beantworten. Wir werden dazu schriftlich Stellung nehmen.
Nächste Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Funke-Schmitt-Rink.
Herr Staatssekretär, gegen wen richtet sich denn das von Ihnen erwähnte eingeleitete Verfahren: gegen den Arzt oder gegen den BGS-Beamten?
Frau Abgeordnete Funke-Schmitt-Rink, ich glaube, daß - dies ist ja eine Landesangelegenheit - die Ermittlungen unter Umständen gegen drei Personen zu führen sind. Es muß ja auch der Sachverhalt aufgeklärt werden. Das kann sich nicht nur auf den BGS-Beamten erstrecken, sondern es müßte sich auch auf den Arzt erstrecken, aber wahrscheinlich auch auf den Staatsanwalt.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Leutheusser-Schnarrenberger.
Herr Staatssekretär, da der Sachverhalt in meinen Augen sehr komplex ist und es sich auch um eine sehr wichtige Angelegenheit handelt, die umfassend aufgeklärt und bewertet werden muß, habe ich die Frage: Sind Sie bereit, den Sachverhalt auch in anderen Ausschüssen auf Fragen hin noch einmal darzulegen und dann auch ein Gespräch über die Bewertung des Sachverhalts mit den daraus folgenden Auswirkungen zu führen?
Frau Abgeordnete, ich beantworte Ihre Frage mit Ja.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Dr. Meyer.
Herr Staatssekretär, da es sich - entgegen Ihrer mehrfachen Behauptung - bei den hier interessierenden Vorfällen nicht um eine reine Landesangelegenheit, sondern um eine Zwangsmaßnahme handelt, an der Bundesbedienstete beteiligt waren, und für die betroffenen Frauen vor allem von Interesse ist, ob sich das wiederholt oder nicht, frage ich Sie: Stimmen Sie der Auffassung zu, daß rechtswidrige Anordnungen eines Staatsanwalts nicht zu befolgen sind, und halten Sie es für rechtsstaatlich geboten, für Fälle dieser Art noch einmal ausdrücklich darauf hinzuweisen?
Herr Abgeordneter, ich glaube, Sie haben mich mißverstanden, was die landesrechtlichen Kompetenzen angeht. Ich habe mich hinsichtlich der landesrechtlichen Fragen auf die Justizverwaltung bezogen. Soweit die Landesjustizverwaltungen ermitteln, handelt es sich um landesrechtliche Angelegenheiten.
Im übrigen ist § 81 a StPO Rechtsgrundlage. Soweit Bundesgrenzschutzbeamte hier betroffen sind, ist in der Tat ein Hinweis notwendig, in welchem Umfang sie strafprozessual als Hilfsorgane tätig werden müssen. Das ergibt sich ebenfalls aus § 81 a Abs. 2 StPO. Nur in Eilfällen wird ja der BGS bzw. die Polizei als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft tätig.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Vizepräsident Hans Klein
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Frauen und Jugend auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze erschienen.
Ich rufe Frage 3 des Abgeordneten Dietmar Schütz auf :
Ist der Bundesregierung bekannt und wie bewertet sie es, daß es den zahlreichen Initiativen, die sich um Ferienaufenthalte für Kinder aus Tschernobyl und Umgebung bemühen, erhebliche Probleme bereitet, eine sachgerechte versicherungsrechtliche Absicherung ({0}) für den Transport, den Aufenthalt und die ärztliche Versorgung zu erreichen?
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege Schütz, nach den der Bundesregierung vorliegenden Informationen hat es bisher immer dann keine Probleme mit der Unfall-, Kranken- und Haftpflichtversicherung für Aufenthalte von Gruppen aus Tschernobyl und Umgebung in Deutschland gegeben, wenn die Versicherungen über entsprechende Spezialversicherer abgeschlossen wurden. Auskünfte zu solchen Spezialversicherern können z. B. der Bund der Katholischen Jugend - etwa über das Jugendhaus Düsseldorf - oder die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland in Stuttgart geben.
({0})
Dann rufe ich auch Frage 4 des Abgeordneten Dietmar Schütz auf:
Wäre die Bundesregierung gegebenenfalls bereit, die auftretenden versicherungsrechtlichen Risiken für den Transport, den Aufenthalt und die ärztliche Versorgung etwa durch den Abschluß eines Pauschalvertrages mit einem Versicherungsunternehmen zu übernehmen?
Ich beantworte Ihre zweite Frage wie folgt: Herr Kollege, der Abschluß eines Pauschalvertrages durch die Bundesregierung erscheint bei der soeben dargestellten Sachlage und aus wettbewerbsrechtlichen Gründen nicht angezeigt.
Sofern vom Parlament Mittel zur Förderung von Ferienerholungsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche aus Tschernobyl in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung gestellt werden, wie ja gegenwärtig im Haushaltsausschuß überlegt wird, besteht auch die Möglichkeit, daß die - von der Höhe allerdings sehr geringen - Versicherungskosten auch mit in die Förderung einbezogen werden.
Erste Zusatzfrage, Herr Kollege Schütz.
Herr Staatssekretär, der Umweltausschuß hat die Bundesregierung gestern in einem einstimmigen Votum aufgefordert, ein ärztliches Untersuchungsprogramm vorzulegen. Der Auswärtige Ausschuß hat - ebenfalls in Form eines einstimmigen Votums - ähnliches unterstützt. Ich weiß zwar nicht, ob Ihnen das inzwischen bekanntgeworden ist, aber ich möchte Sie dennoch fragen, wie die Bundesregierung dem gegenübersteht.
Dieser Vorgang ist mir noch nicht bekannt, aber ich werde Ihnen dazu gern eine schriftliche Antwort zukommen lassen.
Bei der Ihrer Frage zugrunde liegenden Problematik geht es ja darum, daß die Kinder, wenn sie in die Bundesrepublik kommen, unfall-, haftpflicht- und krankenversichert werden sollen. Das ist über Spezialversicherer problemlos möglich; es ist im vergangenen Jahr auch so geschehen. Wenn regionale Initiativen das tun, können sie diese Kinder versichern. Alle Krankheitsfälle, die dann entstehen, werden davon abgedeckt. Das von Ihnen jetzt angesprochene generelle Untersuchungsprogramm wird durch eine solche Versicherung natürlich nicht abgedeckt.
Weitere Zusatzfrage.
Die Koordinierung der Hersendung der Kinder aus Tschernobyl liegt, wie ich informiert bin, immer vor Ort, in Belorußland. Ist die Bundesregierung darüber informiert, was im Augenblick an russischen Gruppen hierherkommt, und gibt es für diese Sachen eine Koordinierung in Ihrem Ministerium?
Derzeit sind wir dabei, festzustellen, welche privaten Initiativen bereits gestartet sind, auch auf Grund der Erfahrungen des Vorjahres. Wir gehen davon aus, daß, wenn der Haushaltsausschuß, wie im Moment überlegt wird, Mittel für solche Maßnahmen zur Verfügung stellt, ein solcher Überblick rasch zu erstellen ist und die Maßnahmen in diesem Jahr zügig und in dem vom Haushaltsausschuß festgelegten Umfang durchgeführt werden können.
Weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, haben Sie einen Überblick über die Transportmöglichkeiten, die bisher wahrgenommen worden sind?
Mir liegt kein Überblick über die Transportmöglichkeiten vor. Wir sehen aber vor, daß die Mittel, wenn sie vom Haushaltsausschuß bereitgestellt werden, sofern erforderlich, auch dafür verwendet werden, die Transporte in die Bundesrepublik und zurück in die Heimat mitzufinanzieren.
Zusatzfrage des Kollegen Meyer.
Herr Staatssekretär, sind Sie der Auffassung, daß rechtliche, insbesondere versicherungsrechtliche Probleme auch dann nicht bestehen oder ausräumbar sind, wenn als Transportmittel für Kinder aus Rußland zu Erholungs/Ferienaufenthalten Bundeswehrmaschinen benutzt werden, und wenn Sie dieser Auffassung sind, wüßte ich gern, warum ich seit fünf Wochen auf eine Antwort zu einem solchen Wunsch Ulmer Gastgeber an das Bundesverteidigungsministerium warte.
Herr Kollege, mir ist von diesem Wunsch nichts bekannt. Aber ich werde dieser Frage gerne nachgehen.
({0})
Werden zu dieser Thematik weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall. Dann bedanke ich mich, Herr Staatssekretär.
Die Fragen 5 und 6 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwortung ist Herr Bundesminister Rudolf Seiters erschienen.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Norbert Gansel auf:
Trifft es zu, daß der damalige DDR-Unterhändler Dr. Schalck-Golodkowski am 15. November 1989 im Bundeskanzleramt in Gegenwart von Bundesminister Seiters mit dem damaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz telefoniert hat, und was war der Inhalt dieses Gespräches?
Herr Präsident, wenn die Fragesteller einverstanden wären, würde ich gern die Fragen 7, 8 und 9 im Gesamtzusammenhang beantworten.
Darf ich dieses Einverständnis einholen?
Das ist ungewöhnlich, aber wir sind für ungewöhnliche Fragen und Antworten.
Es ist an sich nicht so ungewöhnlich.
Es sind zwei verschiedene Fragesteller.
Bei zwei Fragestellern, gut, einverstanden. - Herr Schily, sind Sie auch einverstanden?
Dann rufe ich noch die Frage 8 des Abgeordneten Norbert Gansel und die Frage 9 des Abgeordneten Otto Schily auf:
Wie hat Bundeskanzler Kohl von der beabsichtigten Öffnung des Brandenburger Tores erfahren, und welchen Inhalt hatten die Gespräche, die darüber mit der damaligen Führung der DDR stattgefunden haben?
Haben Mitglieder der Bundesregierung, insbesondere Bundeskanzler Kohl und Kanzleramtsminister Seiters, Ende des Jahres 1989 darauf hingewirkt, daß das Brandenburger Tor in Berlin mit fünfwöchiger Verspätung geöffnet wurde ({0})?
({1})
Herr Präsident! Die Fragen beziehen sich auf einen Artikel in der „Zeit" vom 18. April 1991 über Aufzeichnungen von Dr. Alexander Schalck-Golodkowski, die auch bereits
vom „Stern" in der Ausgabe vom 13. Dezember 1990 erwähnt worden sind.
Die Aufzeichnungen, die mir nicht vorliegen, nehmen offensichtlich auf Verhandlungen im Bundeskanzleramt im November 1989 Bezug, die von Dr. Schalck-Golodkowski und mir geleitet wurden und in denen es um die Abschaffung des Begrüßungsgeldes, die Einrichtung eines Devisenfonds, die Aufhebung des Visumzwanges und die Abschaffung des Zwangsumtausches ging.
Ich erinnere mich an folgenden Sachverhalt:
Auf Grund von Gerüchten und Agenturmeldungen über angebliche Pläne zur Öffnung des Brandenburger Tores habe ich gegenüber dem Verhandlungsführer der DDR die Frage gestellt, was er davon wisse, und ihm erklärt, angesichts der Bedeutung und des Symbolgehalts einer Öffnung des Brandenburger Tores gehe die Bundesregierung davon aus und erwarte, daß sie von einem solchen Vorhaben rechtzeitig in Kenntnis gesetzt werde. Dr. Schalck-Golodkowski konnte Pläne über eine bevorstehende Öffnung des Brandenburger Tores nicht bestätigen, auch nicht nach einem Telefonat mit dem damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Egon Krenz, das von meinem Dienstzimmer aus und in meiner Anwesenheit geführt wurde. Mit anderen Worten: Es gab keine aktuellen Termine für eine Öffnung des Brandenburger Tores, so daß von einer Verschiebung eines Termins nicht die Rede sein kann. Ich habe über diesen Sachverhalt den Bundeskanzler informiert.
Ich war dann am 5. Dezember 1989 in Ost-Berlin und habe mit Ministerpräsident Modrow die Vereinbarung über die Einrichtung eines Devisenfonds, die Aufhebung des Visumzwanges und die Abschaffung des Zwangsumtausches getroffen. Gleichzeitig wurde Einvernehmen erzielt über den Besuch des Bundeskanzlers am 19. Dezember 1989 in Dresden. Auch die Öffnung des Brandenburger Tores sollte bei diesem Treffen des Bundeskanzlers mit Ministerpräsident Modrow Gesprächsgegenstand sein. Sie wurde bei diesem Termin für den 22. Dezember vereinbart. - Das ist der Sachverhalt, wie ich ihn aus meiner Erinnerung schildern kann.
Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Herr Kollege Seiters, befindet sich diese Aufzeichnung von Herrn Schalck-Golodkowski im Zugriffsbereich der Bundesregierung, und warum haben Sie die Berichte der „Zeit" und des „Stern" nicht zum Anlaß genommen, in diese Aufzeichnungen Einblick zu nehmen?
Ich habe diese Aufzeichnung nicht. Es wird wahrscheinlich noch viele Aufzeichnungen von Herrn Schalck-Golodkowski und auch von anderen Verhandlungspartnern geben. Ich habe keine Veranlassung gesehen, mich von mir aus um diese Aufzeichnungen zu bemühen.
({0})
- Das kann ich nicht sagen. Mir ist davon nichts bekannt.
Weitere Zusatzfrage, Kollege Gansel.
Herr Kollege Seiters, war es üblich, selbst in einer nicht üblichen Situation, daß Herr Schalck-Golodkowski von Ihrem Arbeitszimmer, in Ihrer Gegenwart, mit Herrn Krenz telefonierte?
Herr Bundesminister.
Es war eine Situation, wo wir über wichtige Fragen miteinander verhandelt haben. Es waren im übrigen gute und erfolgreiche Verhandlungen. Wenn Sie noch einmal das Presseecho nachlesen nach dem 5. Dezember, nach meiner Vereinbarung mit Ministerpräsident Modrow, wo es insbesondere in Berlin hieß, der schönste Tag seit Jahrzehnten für viele, die nunmehr die Chance hatten, die Grenze auch von dieser Seite aus zu passieren, so werden Sie sich daran erinnern - und die Zustimmung ihrer Fraktion zu diesen Ergebnissen hat auch vorgelegen - , daß dieses ein wichtiges Ergebnis war.
Wenn in einer solchen Situation, wo es auch um Milliarden ging, zwei Partner versuchen, zu einem guten Ergebnis zu gelangen, und es in die Verhandlungen hinein eine Agenturmeldung gibt, daß die eine Seite die Öffnung des Brandenburger Tores beabsichtige, dann halte ich es für eine Selbstverständlichkeit, daß man den anderen fragt: Hören wir davon gar nichts? Wie ist die Situation? Wissen Sie davon? Herr Schalck-Golodkowski war mit mir, nachdem er erklärt hatte, daß er davon nichts wisse, völlig einer Meinung, daß so etwas im Grunde ausgetauscht werden müsse. Es gab im übrigen auch das Einverständnis mit Ministerpräsident Modrow zu einem späteren Zeitpunkt. Die Veranstaltung am 22. Dezember, auf der dann der Bundeskanzler, der Ministerpräsident der DDR, der Oberbürgermeister von Ost-Berlin und der Regierende Bürgermeister von West-Berlin gesprochen haben, war der angemessene Rahmen.
Ich schildere den Hintergrund deshalb, weil mir schon daran gelegen war, diese Frage aufzuklären. Als Herr Schalck-Golodkowski von sich aus das Angebot machte, das könne er sofort klären, haben wir von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Das Telefonat ist zustande gekommen. Der Sachverhalt ist so, wie ich ihn geschildert habe.
Dritte Zusatzfrage, Herr Kollege Gansel.
Herr Kollege Seiters, da Sie Ihre Antwort mir gegenüber in einem fragenden Ton gegeben haben, so nach dem Motto: Na, Herr Kollege Gansel, ist das nicht ganz selbstverständlich so? möchte ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen können, daß ich mir hätte vorstellen können, wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre, Herr Schalck-Golodkowski zu sagen: Herzlichen Glückwunsch zu dieser Entscheidung, das Brandenburger Tor zu öffnen. Und nun lassen Sie uns beide rasch Herrn Krenz anrufen, damit er uns das noch einmal bestätigt.
Ja, ich bin sicher, daß Sie so gehandelt hätten, Herr Kollege Gansel. Aber ich habe anders gehandelt.
({0})
Sind bei diesem Gespräch, das in seinem Ablauf, selbst zu dem Zeitpunkt, doch etwas ungewöhnlich ist, auch andere Themen behandelt worden - oder haben Sie andere Themen behandeln lassen - als die Öffnung des Brandenburger Tores? Haben Sie Herrn Schalck-Golodkowski vor oder während dieses Telefongesprächs gebeten, doch auf Herrn Krenz einzuwirken, daß das Brandenburger Tor möglichst sofort geöffnet wird?
Erstens ging es bei diesem Telefonat um eine reine Rückfrage, nämlich um die Rückfrage, ob etwas dran sei an diesen Plänen oder ob es Termine dieser Art gebe.
Zum zweiten habe ich volles Verständnis dafür, Herr Kollege Gansel - es waren interessante Gespräche, die wir geführt haben - , daß Sie im nachhinein im einzelnen an dem Ablauf teilhaben möchten. Das gilt im übrigen sicherlich auch für die vielen interessanten Aufzeichnungen, die in der „Zeit" wiedergegeben sind. Sie hätten auch gerne dabei sein können; denn wir haben nichts zu verbergen.
Eines aber sage ich Ihnen auch - ich glaube nicht, daß jemand anders in meiner Position hier jetzt anders argumentieren würde - : Ich bin nicht bereit, Aufzeichnungen von Herrn Schalck-Golodkowski über Vier-Augen-Gespräche oder andere Gespräche und Verhandlungen in einzelnen, etwa noch mit Blick auf einen detaillierten Gesprächsablauf, zu kommentieren, zu dementieren oder zu bestätigen. Da könnten Sie mir hier zehn, 20 Behauptungen oder Einzeldarstellungen vorhalten und mich bitten, dazu Stellung zu nehmen, das möchte ich aus prinzipiellen Gründen nicht tun.
Zusatzfrage, Herr Kollege Schily.
Ich habe zunächst eine Zusatzfrage zu den Fragen des Kollegen Gansel.
Sie haben insgesamt zwei Zusatzfragen.
Nein, ich habe zunächst eine Zusatzfrage zu den Fragen des Kollegen Gansel.
Er hat zwei Zusatzfragen zu meinen Fragen und zwei zu seiner eigenen, und ich habe noch eine zu seiner.
({0})
Das ist korrekt.
Herr Minister Seiters, Sie haben auf die Frage des Kollegen Gansel erklärt, daß Sie sich um die Aufzeichnung des Herrn Schalck-Golodkowski nicht bemüht haben. Ich gehe auf Grund Ihrer Äußerungen davon aus, daß Sie den Artikel in der „Zeit" sehr wohl gelesen haben.
Das ist wahr.
Ich möchte dann doch die Frage stellen: Hat Sie die Lektüre des Artikels in der „Zeit" nicht veranlaßt, auch der besseren Vorbereitung auf die heutige Fragestunde wegen, mindestens den Versuch zu unternehmen, den authentischen Text einmal auf den Schreibtisch zu bekommen?
Herr Kollege Schily, ich kann Ihre Frage ganz eindeutig beantworten: Ich habe auch nicht den leistesten Versuch unternommen, diese Aufzeichnungen zu bekommen. Was ich getan habe, ist folgendes: Ich habe noch einmal in die Presseerklärung, die Ministerpräsident Modrow und ich nach dem 5. Dezember abgegeben haben, und in eine Aufzeichnung über den Besuch des Bundeskanzlers in Dresden hineingeschaut, wo vom Thema Brandenburger Tor die Rede ist. Mehr Unterlagen heranzuziehen, schien mir auch nicht notwendig zu sein.
Ist das die zweite Zusatzfrage zur Frage des Kollegen Gansel oder eine Zusatzfrage zu Ihrer eigenen Frage?
Das ist die zweite Zusatzfrage zu den Fragen des Kollegen Gansel.
Herr Minister Seiters, soll ich die Antworten, die Sie heute auf die Fragen des Kollegen Gansel gegeben haben, so verstehen, daß Sie bei Herrn Schalck-Golodkowski darauf hinwirken wollten, daß eine Öffnung des Brandenburger Tores hinsichtlich der Terminierung und Ausgestaltung nur im beiderseitigen Einvernehmen vonstatten gehen soll?
Zunächst ging es um die Aufklärung, also um die Beantwortung der Frage: Gibt es entsprechende Pläne? Zum zweiten ging es nur um die Übermittlung meiner Auffassung, daß die Bundesregierung erwarte, daß sie rechtzeitig von einem solchen Termin in Kenntnis gesetzt wird. Ich finde das auch absolut legitim und geradezu selbstverständlich, wenn man sich überlegt, was das Brandenburger Tor für die Deutschen bedeutet, wenn man sich überlegt, daß wir in diesen Verhandlungen waren, an deren Ergebnis - ({0})
- Herr Kollege Gansel, mir fällt manches dazu ein, wenn ich mir vorstelle, wie ein Bundeskanzler der SPD oder der Chef des Bundeskanzleramtes, gestellt von der SPD, in einer solchen Situation reagiert hätte. Ich bin ziemlich sicher, daß jeder andere in meiner Position dieses ganz Selbstverständliche zum Ausdruck gebracht hätte. Es konnte wohl nicht gut sein, daß man sich mitten in Verhandlungen dieser Art befindet und daß dann nicht mal ein Hinweis auf ein solches Ereignis gegeben wird, das die Menschen in Deutschland zutiefst berührt hat. Darüber sind wir uns wohl einig.
Kollege Schily.
Jetzt kommt meine erste Zusatzfrage zu meiner eigenen Frage.
Herr Minister Seiters, kann es nach Ihrer Erinnerung so sein, daß der Herr Schalck-Golodkowski aus Ihren Äußerungen den Eindruck gewinnen mußte, daß die Bundesregierung eine spontane, kurzfristige Öffnung des Brandenburger Tores nicht für wünschenswert hielt, sondern, eben um der gemeinsamen Ausgestaltung der entsprechenden Feier willen, lieber eine Verzögerung von fünf Wochen in Kauf nehmen wollte?
Herr Kollege Schily, Sie nähern sich jetzt schon Ihrer eigentlichen Fragestellung. Das ist mir klar. Ich antworte noch einmal so, wie ich das bereits hier getan habe.
Zu Schlußfolgerungen irgendwelcher Art fühlte ich mich auch gar nicht veranlaßt, denn es gab bisher noch gar keine Antwort auf die Frage: Gibt es überhaupt solche Pläne? Es gab nach meiner Erinnerung, nachdem, was mir mitgeteilt worden ist, solche Pläne gar nicht. Schlußfolgerungen anderer Art stellten sich ohnehin nicht.
Wir waren schon an einer schnellen Öffnung des Brandenburger Tores interessiert.
({0})
- Natürlich, wir waren ganz selbstverständlich daran interessiert, daß wir über diese Öffnung des Brandenburger Tores informiert wurden. Das ist selbstverständlich.
Eine zweite Zusatzfrage, Kollege Schily.
Herr Minister Seiters, würden Sie mir zustimmen, daß es ein unglücklicher Eindruck wäre, wenn nachträglich herauskommen würde, daß die Bundesregierung dafür gesorgt hat, um die gemeinsame Feier zu veranstalten, daß sich die Öffnung des Brandenburger Tores zu Lasten der Berliner Bevölkerung um fünf Wochen verzögert hatte, und würden Sie mir auch zustimmen, daß es dann vielleicht angemessen wäre, daß Sie wenigstens für eine Richtigstellung gegenüber Herrn Schalck-Golodkowski und den entsprechenden Presseorganen, die diese Meldung verbreitet haben, sorgen würden und daß es dann vielleicht auch sinnvoll wäre, sich mal mit dem authentischen Text zu beschäftigen?
Das sind drei Fragen, Herr Schily, die Sie jetzt stellen.
Herr Kollege Schily, ich habe schon gesagt, daß Sie sich allmählich Ihrer eigentlichen Frage nähern und dem Eindruck, den Sie ganz offensichtlich erwecken wollen.
Ich kann nur sagen: In Ihrer Fragestellung sind Unterstellungen enthalten, und ich habe mir fest vorgenommen, mich von Ihnen hier nicht provozieren zu lassen, und deswegen beziehe ich mich ausdrücklich noch einmal auf die Antwort, die ich gegeben habe. Ich sage das ganz ruhig, Herr Kollege Schily.
({0})
- Herr Kollege Schily, Sie sind verantwortlich für die Fragen, die Sie stellen, und ich bin verantwortlich für die Antworten, die ich gebe.
({1})
Eine Zusatzfrage des Kollegen Gansel.
Herr Kollege Seiters, da ich weit davon entfernt bin, jede Aufzeichnung des Herrn Schalck-Golodkowski im Gegensatz zu Auskünften von Mitgliedern der Bundesregierung für bare Münze zu nehmen, es aber doch für uns interessant ist, eine Einschätzung der Bundesregierung aus dem vertrauten Umgang mit Herrn Schalck-Golodkowski zu erhalten, welches Motiv Herr Schalck-Golodkowski dafür zu einer Zeit hätte haben können, als er schon auf dem Absprung war, eine nach Ihrer Darstellung objektiv falsche und den Bundeskanzler eigentlich beleidigende Aufzeichnung anzufertigen, frage ich: Haben Sie aus Ihrer Kenntnis eine Erklärung für die Motivation von Herrn Schalck-Golodkowski?
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß ich nicht die Absicht habe, Aufzeichnungen zu kommentieren. Erst recht habe ich nicht die Absicht, Motivforschung dieser Art zu betreiben.
Weitere Zusatzfragen zu diesem Thema liegen nicht vor. Dann bedanke ich mich bei dem Herrn Bundesminister.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Zur Beantwortung ist Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring erschienen.
Ich rufe die Fragen 10 und 11 auf, die wegen der Abwesenheit des Fragestellers wie in der Geschäftsordnung vorgesehen behandelt werden.
({0})
Ich rufe auf die Frage 12 des Abgeordneten Harries:
Treffen Mitteilungen der FAZ vom 17. April 1991 zu, wonach sich deutsche Kunstschätze seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in unbekannt großer Zahl in sowjetischen Archiven und Magazinen befinden sollen, und wenn ja, welche Versuche werden seitens der Bundesregierung unternommen, mit der Sowjetunion zu verhandeln und dieses Kulturgut nach Deutschland zurückzuführen?
Frau Staatsministerin, ich bitte Sie um Beantwortung.
Herr Präsident! Herr Kollege! Die Bundesregierung verfügt bisher über keine offizielle Bestätigung von sowjetischer Seite, daß sich die in der Mitteilung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 17. April 1991 genannten zahlreichen deutschen Kultur- und Kunstschätze in Sondermagazinen der Sowjetunion befinden. Die Bundesregierung ist wegen dieser Angelegenheit mit der sowjetischen Regierung in Kontakt. Vorläufiges Übersichtsmaterial zu den bekannten deutschen Restitutionsobjekten ist der sowjetischen Seite bereits übergeben worden.
Die Bundesregierung wird nach Inkrafttreten des deutsch-sowjetischen Partnerschaftsvertrages in Abstimmung mit den Ländern und den betroffenen Einrichtungen alsbald Gespräche mit der sowjetischen Seite wegen der Durchführung des Art. 16 Abs. 2 dieses Vertrages führen.
Der Kollege Harries stellt eine Zusatzfrage.
Frau Staatsministerin, sind Sie auf Grund der Berichterstattung in der „FAZ" tätig geworden, oder hatte das Auswärtige Amt bereits vorher Anlaß anzunehmen, daß wertvolle Kunstschätze Deutschlands seit Jahrzehnten in der Sowjetunion lagern?
Wir sind nicht erst auf Grund der Meldungen tätig geworden, sondern im Zusammenhang mit den Verhandlungen zu diesem Vertrag ist auch dies Gegenstand der Beratungen gewesen.
Herr Harries hat keine Zusatzfrage mehr. Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Erler.
Frau Staatsministerin, können Sie bestätigen, daß es auch Kunstschätze aus den verschiedenen Republiken der Sowjetunion gibt, die sich noch heute, über 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in deutschen Beständen befinden? Wird die Rückgabe dieser Objekte auch Gegenstand der Verhandlungen mit der Sowjetunion sein?
Herr Kollege Erler, Art. 16 Abs. 2 dieses Vertrages verpflichtet beide Seiten zur Rückgabe von Kulturgütern. Teil dieser Verhandlungen wird es selbstverständlich sein, auch die sowjetischen Gegenforderungen zu ermitteln. Bis jetzt liegen uns keine konkreten Gegenforderungen vor.
Herr Kollege Dr. Mahlo.
Frau Staatsministerin, gibt es eine grundsätzliche Bestätigung von sowjetischer Seite dazu, ob sich das Schliemann-Gold, also der sogenannte Schatz des Priamos, und das Gold des Eberswalder Fundes oder das Gold der Völkerwanderungszeit aus dem Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte, also diese äußerst wertvollen Sammlungsteile, die nach Berichten von Berliner Seite von einem Museumsdirektor seinerzeit russischen Museumsdirektoren übergeben worden sind, oder andere gleichgewichtige Schätze in sowjetischer Verfügungsgewalt befinden?
Herr Kollege, beide Seiten haben Vertraulichkeit vereinbart. Ich bitte Sie, Verständnis dafür zu haben, wenn ich die Vertraulichkeit hier nicht einseitig breche.
Ich kann Ihnen aber sagen, daß in der Übersicht, die wir der sowjetischen Seite übergeben haben, so beStaatsministerin Ursula Seiler-Albring
kannte Fälle wie die Bestände der Kunsthalle Bremen, der Hamburger Barockmusikbücherei, der Lübecker Stadtbibliothek, der Landesbibliothek Sachsen und auch des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin, inklusive des Schatzes des Priamos, enthalten sind.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Frau Staatsministerin, dann bedanke ich mich herzlich bei Ihnen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern auf. Zur Beantwortung ist der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner erschienen.
Ich rufe die Frage 13 des Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo auf:
Sind Pressemitteilungen ({0}) zutreffend, daß die bedeutende Bibliothek des alten Reichstags den Reichstagsbrand von 1933 überlebt hat und noch 1947 in Berlin vorhanden war?
Ich frage prophylaktisch, ob möglicherweise der Wunsch nach gemeinsamer Beantwortung der Fragen 13 und 14 besteht. - Herr Staatssekretär, wollen Sie beide Fragen gemeinsam beantworten? - Dann rufe ich die Frage 14 auf:
Wenn ja, ist die Bundesregierung bereit, dem Deutschen Bundestag als dem Nachfolger des Deutschen Reichstags bei der Wiederinbesitznahme der Bibliothek behilflich zu sein, und welche Schritte wird sie dazu gegebenenfalls unternehmen?
Herr Präsident! Herr Kollege Mahlo! Zu Frage 13: Der Bundesregierung liegen keine hinreichenden Erkenntnisse über den Verbleib der Bibliothek des alten Reichstags vor. Der größte Teil der alten Reichstagsbibliothek soll in der Endphase des Zweiten Weltkriegs vernichtet worden sein. Die Existenz von Restbeständen der Bibliothek kann z. Z. nicht ermittelt werden.
Zu Frage 14: Die Bundesregierung ist gerne bereit, eventuellen Hinweisen, die zu anderen Erkenntnissen führen sollten, nachzugehen und dem Deutschen Bundestag bei der Wiederinbesitznahme der Bibliothek gegebenenfalls behilflich zu sein.
Die erste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, würden Sie die Behauptung in der „FAZ", die ich in meiner Frage zitiert habe, als einen ausreichenden Hinweis dieser Art ansehen, oder ist Ihnen dieser Hinweis noch zu allgemein, um dem von sich aus nachzugehen?
Dieser Hinweis ist unserer Auffassung nach nicht hinreichend. Er ist zu allgemein.
Keine weiteren Fragen.
Von anderen Kollegen Fragen dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 15 des Kollegen Jürgen Augustinowitz auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, Jugendgruppenreisen bzw. Schulklassenfahrten in die Hauptstadt Berlin bzw. in die neuen Bundesländer finanziell zu fördern, um das Kennenlernen zwischen jungen Deutschen aus beiden Teilen des Landes zu fördern im Sinne eines Beitrages zum Zusammenwachsen in Deutschland?
Herr Abgeordneter, die Antwort: Die Förderung innerdeutscher Informations- und Begegnungsfahrten von Schülern, Jugendlichen und Studenten nach Berlin, an die Grenze zur ehemaligen DDR und in die ehemalige DDR ist Ende 1990 ausgelaufen. Informations- und Begegnungsfahrten von Schülern, Jugendlichen und Studenten können künftig nur noch nach den haushaltsmäßigen Möglichkeiten des Bundesjugendplanes finanziell unterstützt werden.
Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, glauben Sie nicht, daß die Bundesregierung, wenn sie keinen speziellen Fonds für die Förderung dieser Jugendfahrten einrichtet, eine wichtige Chance ungenutzt läßt, die innere Einheit mitzugestalten, wie es auch der Bundeskanzler formuliert hat?
Herr Abgeordneter, ich habe nicht gesagt, daß die Bundesregierung nichts tut. In dem Etat, der früher zur Verfügung stand, finden sich aber keine Mittel mehr. Außerhalb des Zuständigkeitsbereiches des Bundesministers des Innern kann ich Sie aber darauf verweisen, daß es ein eigenes Programm mit dem Titel „Sommer der Begegnung 1991" beim Bundesministerium für Frauen und Jugend gibt. Mit ihm werden 208 Träger der Jugendarbeit angesprochen. Das Programm hat das Ziel, möglichst vielen jungen Menschen aus den neuen und den alten Bundesländern Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Dotierung steht noch nicht ganz fest. Für diesen Zweck sind aber etwa 15 bis 20 Millionen DM vorgesehen.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung hält es also nicht für notwendig, trotz der veränderten deutschlandpolitischen Lage gerade jetzt, da es darum geht, dem Zusammenwachsen insbesondere junger Menschen innerhalb des gemeinsamen Staates zu dienen, einen besonderen Fonds zu schaffen?
Ich glaube, ich habe Ihnen gerade dargelegt, daß besondere Anstrengungen unternommen werden, zwar nicht im Bereich des Bundesministers des Innern, aber in einem anderen Haus. Ich könnte noch darauf verweisen, daß auch der Bundesjugendplan kräftig aufgestockt worden ist, nämlich um 48 Millionen DM, nur für die Unterstützung von Aktivitäten in den neuen Bundesländern. Es gibt darüber hinaus einen Sonderplan „Berlin", der mit Bundesmitteln dotiert ist und mit dessen Hilfe der Landesjugendplan in Berlin besser dotiert werden soll. Wenn Sie diese Maßnahme gewichten, kann man Ihrer Feststellung nicht zustimmen.
Gibt es weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen.
Vizepräsident Hans Klein
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald ist zur Beantwortung erschienen. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, es ist um schriftliche Beantwortung der Fragen 16 bis 20 gebeten worden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Antworten auf die Fragen 18 und 19 des Abgeordneten Claus Jäger werden später erteilt und abgedruckt.
Ich rufe jetzt die Frage 21 des Abgeordneten Hans Wallow auf:
Kann die Bundesregierung Angaben des schuldenpolitischen Netzwerkes „Eurodad" bestätigen, dem zufolge bundesdeutsche Banken im vergangenen Jahr Steuerersparnisse in Höhe von 14 Mrd. DM gehabt haben, indem sie die Steuerschuld mindernde Wertberichtigungen auf Forderungen an verschuldete Drittweltländer ({0}) in ihren Büchern getätigt haben, oder welche abweichenden Summen sind der Bundesregierung gegebenenfalls bekannt?
Herr Präsident! Herr Kollege Wallow, die Bundesregierung kann zu den steuerlichen Auswirkungen der Wertberichtigungen deutscher Banken auf ihre Forderungen an Schuldner in der Dritten Welt keine Angaben machen.
Die steuerlichen Auswirkungen hängen vom Ausmaß der vorgenommenen Wertberichtigungen ab. Zwar sind die Banken nach dem KWG verpflichtet, diese Wertberichtigungen über die Deutsche Bundesbank dem Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen mitzuteilen. Die Zahlen sind jedoch ausschließlich den mit der Bankenaufsicht befaßten Stellen vorbehalten und unterliegen, wiederum nach dem KWG, der Geheimhaltungspflicht.
Im übrigen weise ich auf folgendes hin: Tatsächliche Steuerausfälle entstehen durch die Wertberichtigungen für Länderrisiken nur dann, wenn die Forderungen endgültig ausfallen. Andernfalls bewirken die Wertberichtigungen faktisch nur eine Steuerstundung. Erfüllt der ausländische Schuldner wider Erwarten die wertberichtigte Forderung, erzielt das Kreditinsitut einen außerordentlichen Ertrag, der seinen steuerpflichtigen Gewinn erhöht.
Eine Wertberichtigung kann gebildet werden, wenn ein konkretes Ausfallrisiko besteht. Sie setzt nicht voraus, daß die Forderung tatsächlich ausgefallen ist.
Herr Kollege Wallow, eine Zusatzfrage.
Sieht die Bundesregierung in dem Vorschlag des britischen Premierministers, der Pariser Club solle die gesamten öffentlichen und öffentlich verbürgten Kredite auf einmal umschulden und Umschuldungserleichterungen ferner auf zwei Drittel der ausstehenden Summe verdoppeln, einen fortschrittlichen Beitrag, um der Schuldenkrise in der Dritten Welt Herr zu werden?
Die Bundesregierung vertritt seit eh und je die Auffassung, daß globaler Schuldenerlaß wie auch Restitution nur im Einzelfall verhandelt werden können.
Keine weiteren Zusatzfragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft. Ich stelle fest, daß bei allen Fragen dieses Geschäftsbereichs um schriftliche Beantwortung gebeten wurde. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Georg Gallus zur Verfügung.
Ich rufe Frage 26 des Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, daß seit der durch die Republik Namibia am 10. Juli 1990 festgelegten 200 Meilen-Zone vor ihrer Küste über 50 spanische Fischerboote illegal in dieser Zone 45 000 Tonnen mit einem Wert von ca. 120 Mio. DM gefischt haben, und in welcher Weise hat sie bei der Europäischen Kommission wegen dieser flagranten Verletzung des Völkerrechts durch ein Mitglied der EG interveniert?
Herr Präsident! Herr Kollege Toetemeyer, der Bundesregierung ist bekannt, daß spanische Fischereischiffe illegal in der Fischereizone Namibias gefischt haben. Wegen der sich daraus ergebenden Belastung der Beziehung der Gemeinschaft zu Namibia hat die Bundesregierung gegenüber der EG-Kommission ihre Sorge zum Ausdruck gebracht.
Herr Toetemeyer, wollen Sie zu dieser Antwort eine Zusatzfrage stellen?
Ist der Bundesregierung der Brief von Mitgliedern des Europäischen Parlaments, und zwar aller Fraktionen, vom 15. April dieses Jahres bekannt, in dem sie dem Präsidenten der Europäischen Kommission mitteilen, daß sie das Gefühl haben - ich zitiere - , „daß die Europäische Kommission diese illegale Fischerei in namibischen Gewässern bis heute gedeckt hat", und wie beurteilt die Bundesregierung diese Feststellung unserer Kollegen aus dem Europäischen Parlament?
Herr Kollege, mir ist dieser Brief direkt nicht bekannt. Aber wenn sich die Abgeordneten an die Kommission gewandt haben, so ist das auf dieser Ebene zu klären. Hier ist die Bundesregierung nicht direkt betroffen. Wir bedauern auf jeden Fall die Vorkommnisse und haben dementsprechend die Kommission wissen lassen, daß wir das nicht hinnehmen.
Weitere Zusatzfrage.
Welche konkrete Maßnahme hat denn die Bundesregierung vorgeschlagen, um dieser anhaltenden Verletzung des Völkerrechts zu begegnen?
Herr Kollege, es ist üblich, daß wir, wenn wir etwas beanstanden, der Kommission gegenüber unsere Sorge zum Ausdruck bringen. Es ist Aufgabe der Kommission, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen und durchzuführen.
Werden zu dieser Frage aus dem Kreis der anderen Kollegen Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich Frage 27 auf, ebenfalls vom Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Haltung der Kommission, nach der Aufbringung von fünf spanischen Schiffen durch die namibische Küstenwache und der am 10. April 1991 durch das zuständige Gericht Namibias erfolgten Verurteilung der betroffenen spanischen Kapitäne, die begonnenen Verhandlungen für ein Fischereiabkommen zwischen der EG und Namibia unter Hinweis auf diesen Gerichtsbeschluß abzubrechen, und hält sie es für besonders sinnvoll, ausgerechnet jetzt als offiziellen Vertreter der EG in Namibia einen Spanier zu benennen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um Beantwortung.
Herr Präsident! Herr Kollege Toetemeyer, die Bundesregierung hält es für nicht angemessen, die begonnenen Verhandlungen der Europäischen Gemeinschaft mit Namibia abzubrechen. Die deutsche Delegation hat sich im Fischerei-Rat am 18. April dieses Jahres dafür eingesetzt, die Fischereiverhandlungen mit Namibia möglichst bald fortzusetzen. Dabei zeigt es sich, daß auch die EG-Kommission daran interessiert ist, die Beziehungen zu Namibia zu entspannen.
Sowohl die Gemeinschaft als auch Spanien als besonders betroffener Mitgliedstaat haben sich von der illegalen Fischerei vor Namibia distanziert. Es ist Sache der EG-Kommission, den Vertreter der Gemeinschaft für Fischereiverhandlungen mit einem Drittland zu benennen.
Herr Kollege Toetemeyer, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, kann ich davon ausgehen, daß die Antworten, die Sie für die Bundesregierung erteilt haben, mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt worden sind?
Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, daß alle Antworten, die wir hier geben, mit den sonst noch betroffenen Ressorts abgesprochen werden.
Wie beurteilt die Bundesregierung die Haltung des in der Europäischen Kommission zuständigen Kommissars für diese Fragen, der ein Spanier ist?
Herr Kollege, ich habe ja die Antwort bereits gegeben, daß wir keinen Einfluß darauf nehmen können, wen die Kommission mit der Wahrnehmung der entsprechenden Aufgaben beauftragt. Wenn es nun ein Spanier ist, so gehen wir davon aus, daß er seine Aufgabe im Rahmen der Kommission wahrnimmt und von seiner persönlichen Verbindung zu Spanien, weil er Spanier ist, trennen kann.
Weitere Zusatzfragen dazu? - Das ist nicht der Fall.
Die Fragen 28 und 29 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Dann rufe ich auf die Frage 30 der Abgeordneten Ulrike Mehl:
Warum will die Bundesregierung in der Düngemittel-Anwendungsverordnung zulassen, daß Stickstoffgehalte im Boden auf der Basis von Schätzwerten und Kalkulationsverfahren sowie der Übernahme von regional erfaßten Faustzahlen ({0}) ermittelt werden, obwohl diese Methoden eine bekannte hohe Fehlerwahrscheinlichkeit aufweisen, und sind Bodenuntersuchungen nicht grundsätzlich zu fordern bzw. Schätzungen nur in Ausnahmefällen zu gestatten?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Frau Kollegin Mehl! Bei dem Entwurf einer Düngemittel-Anwendungsverordnung - Stand: 26. 3. 1991 - handelt es sich um einen Referentenentwurf, der als Basis für die Diskussion mit den Ländern und für eine Anhörung der betroffenen Wirtschaftskreise dient. Dieser Entwurf ist noch nicht mit den zu beteiligenden anderen Ressorts abgestimmt und auch nicht für die Zuleitung an den Bundesrat vorgesehen. Zunächst müssen die Anregungen aus den Besprechungen mit den Ländern und der Wirtschaft in der vergangenen und in dieser Woche geprüft und - soweit sie übernommen werden - ausformuliert werden. Eine Detaildiskussion in diesem Stadium läuft deshalb Gefahr, sich an Einzelheiten zu orientieren, die in einem späteren Entwurfstadium möglicherweise eine andere Lösung finden. Außerdem ist vorgesehen, diese Verordnung, bevor sie überhaupt in den Bundesrat geht und erlassen wird, auch noch dem Ernährungsausschuß vorzulegen.
Unabhängig davon hält die Bundesregierung die Bodenuntersuchung derzeit für eine mögliche, aber nicht überall durchführbare Form der Feststellung des Stickstoffangebotes im Boden. Eine solche Untersuchung ist besonders in kleinflächig strukturierten Gebieten nicht mit vertretbarem finanziellen und zeitlichen Aufwand zum richtigen Zeitpunkt durchführbar. Die amtliche Beratung der Länder greift daher in der Regel auch auf Untersuchungen von Vergleichsflächen zurück. Im übrigen können die wissenschaftlich erarbeiteten Kalkulations- oder Schätzverfahren durchaus gleichwertige Ergebnisse liefern, wie von der Bundesregierung geförderte Arbeiten gezeigt haben.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.
Auch in einem Referentenentwurf sollten wesentliche Dinge enthalten sein. Deshalb die Frage: Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß in dem Verordnungsentwurf keine Anreize zur Reduzierung des Düngemitteleinsatzes vorgesehen sind, was in Anbetracht des hohen Düngemittelniveaus, das wir heute noch haben, und in Anbetracht der Überproduktion von Agrarprodukten wohl notwendig wäre?
Frau Kollegin, Ihre nächste Frage bezieht sich zum großen Teil auf das, was Sie jetzt als Zusatzfrage haben. Es ist nicht Aufgabe dieser Verordnung, nun im Detail Düngewerte festzulegen. Das ist dann letzten Endes Auf1532
gabe der Länder auch im Zusammenhang mit Wasserschutzgebieten, Naturschutzgebieten und anderen.
Darf ich eine zweite Zusatzfrage stellen?
Bitte sehr!
Ich hatte nicht nach Düngewerten gefragt, sondern ich hatte danach gefragt, warum keine Anreize für den Betroffenen geschaffen wurden, weniger zu düngen. Es geht jetzt gar nicht um die Werte - da gibt es ja mehrere Instrumentarien -, sondern es geht darum, daß Anreize dafür geschaffen werden. Das fehlt in der Verordnung.
Frau Kollegin, die Düngemittelverordnung als Ganzes wird dazu führen, daß sich die Landwirtschaft daran zu orientieren hat, und zwangsläufig die Landwirte auch auf den Weg bringen, daß sie sich in diesem Rahmen zu bewegen haben. Damit ist das auch eine gewisse Reduzierung der Düngung.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer ersten Antwort, es handle sich bisher nur um einen Referentenentwurf Ihres Hauses, entnehmen, daß Sie im Zuge der weiteren Beratungen noch die ökologischen Aspekte mit einbeziehen werden, und würden Sie mir recht geben, daß man an den Beratungen neben dem Ernährungsausschuß des Bundestages vielleicht auch den Umweltausschuß beteiligen sollte?
Ich habe nichts dagegen, Herr Kollege, daß die Verordnung auch dem Umweltausschuß vorgelegt wird. Wir sind sehr bemüht, alle Aspekte auch von Verbänden im ökologischen Bereich hier mit einzubeziehen. Wir haben z. B. die Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau zur Anhörung eingeladen. Ein Vertreter dieser Arbeitsgemeinschaft ist aber nicht erschienen, und es ist keine schriftliche Erklärung abgegeben worden. Das bedauern wir sehr.
Zusatzfrage des Kollegen Bredehorn.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, oder kann sie dazu Auskunft geben, ob es in anderen EG-Staaten im Gemeinsamen Markt eine Düngemittelgesetzgebung und eine solche Düngemittelverordnung gibt, die verhältnismäßig detailliert und weitgehend Vorschriften und Anregungen für den Landwirt enthält?
Was diese Entwicklung anbetrifft, sind wir in der Europäischen Gemeinschaft absolute Spitze. Genauso wie bei dem Verbot von Pflanzenschutzmitteln haben wir Atrazin verboten.
({0})
- Entschuldigung, Herr Kollege. Das Stichwort habe ich mir extra aufbewahrt. Ich habe ja gewußt, daß Sie springen.
Wir haben es verboten, obwohl die Wissenschaftler, die uns vor zehn Jahren gesagt haben, in der Trinkwasserrichtlinie dürfe nur 0,1 Mikrogramm Atrazin festgelegt werden, in der Zwischenzeit, soweit es Amerikaner sind, auf 15 Milligramm - das ist das Hundertfünfzigfache - und die Weltgesundheitsorganisation auf 2 Milligramm - das ist das Zwanzigfache - gekommen sind. Wir gehen weiter, als uns alle Wissenschaftler der Welt heute vorschreiben.
({1})
- Emotionen sollte man nicht übertreiben.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Stockhausen.
Herr Staatssekretär, würden Sie den Kollegen von der SPD sagen, daß wir schon seit Jahren Programme anbieten, bei denen extensiv fast ohne Dünger gearbeitet wird, und daß wir dies in der Bundesrepublik am meisten in Anspruch nehmen, während in den Partnerstaaten und auch Konkurrenzstaaten der EG die größten Mengen angewendet werden? Würden Sie den Kollegen vielleicht auch sagen, daß wir durch die Verordnung eine höhere Belastung pro Hektar mit Pflanzenschutzmitteln haben, die zwischen 60 und 100 DM pro Hektar liegt?
Die Antwort ist relativ einfach. Ich kann das, was der werte Herr Kollege mir vorträgt und was ich hier bestätigen soll, alles mit Ja beantworten. Letzten Endes müssen das alles die Bauern in Mark und Pfennig zahlen, was wir ihnen aufbürden.
({0})
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Caspers.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie Presseberichte, z. B. im „Handelsblatt" vom 22. April, wo die Wasserwirtschaft konkrete Vorwürfe erhebt, daß Ihre neue Düngemittelanwendungsverordnung die Nitratbelastung nicht verhindert, sondern erhöhen wird?
Diese Damen und Herren sind zu Anhörungen eingeladen gewesen. Wir werden ihre Argumente - nicht die, die sie in der Öffentlichkeit zum besten geben, sondern die sachlichen Argumente - konkret in unsere weiteren Überlegungen zur Veränderung der Verordnung einbeziehen. Alles, was von dieser Seite her gerechtfertigt ist, wird auch in der Verordnung seinen Niederschlag finden.
({0})
Keine weiteren Zusatzfragen zu dieser Frage.
Ich rufe die Frage 31 der Kollegin Ulrike Mehl auf:
Warum werden in der Düngemittel-Anwendungsverordnung bei der Festlegung des Düngebedarfs landwirtschaftliche Ertrags- und Qualitätsaspekte explizit genannt, während Umweltschutzaspekte wie etwa schon vorhandenen Nitratbelastungen des Grundwassers keine Berücksichtigung finden, und müssen Standorteigenschaften nicht dahin gehend konkretisiert und quantifiziert werden, eindeutige Orientierungswerte für die Landwirte zu schaffen, die die Interessen von Landwirtschaft und Umweltschutz gleichermaßen vertreten?
Frau Kollegin, in § 1 a Abs. 2 des Düngemittelgesetzes werden Ertragsfähigkeit und Qualitätsanforderungen als Kriterien des Nährstoffbedarfs der Pflanzen ausdrücklich genannt. Etwa schon vorhandene Nitratbelastungen des Grundwassers resultieren aus den im Boden verfügbaren Nährstoffen, die von den Pflanzen nicht verwertet werden können. Das Kriterium der im Boden verfügbaren Nährstoffe wird in der Verordnung deutlich angesprochen. Eine Konkretisierung von Standorteigenschaften durch eindeutige Orientierungswerte ist wegen der unterschiedlichen regionalen Bedingungen durch flächendeckende, bundeseinheitliche Werte fachlich nicht möglich.
Gute fachliche Praxis zeichnet sich u. a. dadurch aus, daß sie die jeweiligen Standortbedingungen mit berücksichtigt. Dabei kann die auf regionale Versuchsergebnisse gestützte Beratung wichtige Hilfe geben. Die Möglichkeit, in Wasserschutzgebieten oder - nach der Novellierung des Naturschutzgesetzes - in dort bezeichneten Gebieten bei Ausgleichsleistungen für die Landwirtschaft andere Werte festzusetzen, bleibt unberührt.
Frau Kollegin, eine Zusatzfrage.
Über die gute fachliche Praxis wäre eine Menge zu sagen. Ich verkneife es mir aber; es ist mir auch nicht gestattet.
Wie ernst kann man die Erklärung der Bundesregierung zu einer umweltgerechten Landwirtschaft nehmen, wenn in dem Entwurf für eine DüngemittelAnwendungsverordnung das primäre Ziel, nämlich Leitlinien für eine umweltverträgliche Düngepraxis zu geben, lediglich in der Begründung genannt wird?
Frau Kollegin, wenn man bundesweit eine bestimmte Menge vorgeben würde, läge man völlig falsch. Nehmen Sie z. B. einen Sandboden in den neuen Bundesländern, etwa in der heiligen römischen Streusandbüchse nördlich von Berlin, wo es 20er Böden gibt, bei denen 100 kg Stickstoff pro Hektar höchstwahrscheinlich schon viel zuviel sind, weil alles durch den Boden durchrasselt, vor allen Dingen wenn man die Menge auf einmal gibt. Dann nehmen Sie einen gut gepufferten Boden, meinetwegen an der Westküste Schleswig-Holsteins oder in der Regensburger Börde oder in der Magdeburger Börde, bei dem bei 250 kg Stickstoff pro Hektar im Hinblick auf das Grundwasser überhaupt nichts passiert.
Wir müssen diese Dinge den Ländern überlassen. Das kann man von Bonn aus nicht einheitlich regeln.
Die zweite Zusatzfrage.
Warum wurden die betroffene Wasserwirtschaft sowie anerkannte Umweltverbände nicht zu dem kürzlich durchgeführten Erörterungstermin ins Landwirtschaftsministerium eingeladen - meines Wissens war das so - und deren umfangreiches Fachwissen nicht mit herangezogen? Ist beabsichtigt, dies nachzuholen?
Frau Kollegin, eigentlich habe ich das schon beantwortet. Aber Sie hatten es aufgeschrieben und waren sehr vorschnell.
Der Bundesverband Gas- und Wasserwirtschaft war eingeladen und ist anwesend gewesen.
({0})
- Entschuldigung, das habe ich schon beantwortet. Ich habe Ihnen gesagt, daß wir die Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau - ({1})
- Entschuldigung, wir können nicht alle Verbände einladen. Aber wir haben diejenigen - ({2})
Frau Kollegin, keinen Dialog bitte!
Wir haben im Landwirtschaftsministerium diejenigen angehört, die von sich behaupten, die Dinge in erster Linie ökologisch zu betrachten. Das ist die Arbeitsgemeinschaft Ökologischer Landbau. In dieser Arbeitsgemeinschaft hat sich eine ganze Reihe von Verbänden zusammengeschlossen. Die haben wir eingeladen, weil die direkt betroffen sind. Die düngen nämlich. Auf die kommt es letzten Endes an.
Wir hatten sie eingeladen, sie sind aber nicht erschienen und haben auch keine schriftliche Stellungnahme abgegeben. Sie können noch nachträglich etwas schicken; das kann ich hier öffentlich sagen. Wenn sie nachträglich noch etwas schicken, werden wir das in unsere Überlegungen einbeziehen.
({0})
Wenn Sie gestatten, Herr Präsident, lese ich die Liste der Verbände vor, die wir eingeladen haben. Es waren annähernd 30 Verbände. Die meisten sind auch gekommen.
Danke sehr.
Zu einer weiteren Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Bredehorn.
Herr Staatssekretär, Sie haben vorhin erklärt, daß der Ernährungsausschuß und sicherlich auch der Umweltausschuß noch beteiligt würden. Halten Sie es nicht für richtig, daß man bei einer Anhörung zu einer Anwendungsverordnung diejenigen einlädt, die anwenden, die damit zu tun haben sowie deren Verbände? Halten Sie es für richtig, daß man einen Umweltverband nicht unbedingt zu einer Anwendungsverordnung hören muß?
Genau das habe ich gesagt. Wir haben diejenigen eingeladen, die betroffen sind. Wenn wir all diejenigen einladen wollten, die aus Sachkenntnis oder Unkenntnis etwas dazu sagen wollen, dann müßten wir wahrscheinlich nicht nur Verbände, sondern auch viele einzelne Personen aus der Bevölkerung einladen, die für die Dinge Verständnis haben. Die müßten wir alle einladen. Dann würden wir mit den Anhörungen höchstwahrscheinlich nicht mehr fertig.
Danke sehr. - Weitere Zusatzfragen werden nicht gestellt.
Ich rufe die Frage 32 des Abgeordneten Bredehorn auf:
Wie hoch war die Anzahl importierter Kälber aus Drittländern im Jahr 1990 und bis zum 31. März 1991?
Ich frage vorsorglich, Herr Kollege Bredehorn, ob Sie die Fragen 32 und 33 zusammen beantwortet haben wollen.
({0})
Bitte sehr, Herr Parlamentarischer Staatssekretär!
Herr Präsident! Herr Kollege Bredehorn! Die Anzahl importierter Kälber in die Bundesrepublik Deutschland aus Drittländern betrug im Jahre 1990 - Gebietsstand vor dem 3. Oktober 1990 - 207 806 Stück, davon 6 689 Schlachtkälber und 201 101 Nutzkälber, und im Jahr 1991 - Gebietsstand ab dem 3. Oktober 1990 -5 897 Stück, davon 317 Schlachtkälber und 5 568 Nutzkälber. Ergebnisse für die Monate Februar und März 1991 liegen beim Statistischen Bundesamt noch nicht vor.
Sollte sich die Frage auf die Kälbereinfuhren der EG beziehen, so ist darauf hinzuweisen, daß bisher nur Angaben für den Zeitraum Januar bis September 1990 vorliegen und sich diese nur auf Kälber insgesamt beziehen.
Danach hat die EG vom 1. Januar 1990 bis 30. September 1990 insgesamt 689 791 Kälber aus Drittländern eingeführt. Der vergleichbare Vorjahreszeitraum hat eine Kälbereinfuhr von 421 837 Stück erbracht.
Die Europäische Gemeinschaft hat soeben, am Abend des 24. April 1991, angekündigt, ab sofort keine weiteren Einfuhrlizenzen für den Import von Kälbern und lebenden Rindern aus Osteuropa zu erteilen, da die Lieferquote von 425 000 lebenden Rindern, die den osteuropäischen Ländern für 1991 gewährt worden war, bereits ausgeschöpft ist.
Zusatzfrage.
Können Sie noch nähere Angaben machen, aus welchen Ländern - ich nenne als Beispiele Polen und die Tschechoslowakei - diese Kälberimporte kommen?
Herr Kollege, der Großteil der Kälber kommt aus Polen. Wenn Sie es genau wissen wollen - danach war nicht gefragt -, bin ich gerne bereit, Ihnen das schriftlich mitzuteilen.
Gibt es aus dem Kreis der Kollegen noch Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich die Frage 33 ebenfalls des Kollegen Bredehorn auf:
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um den auch durch die hohen Kälberimporte aus Drittländern bedingten weiteren Zusammenbruch der Schlachtrinderpreise zu verhindern?
Herr Präsident! Herr Kollege Bredehorn! Auf Vorschlag der EG-Kommission hat der Agrarrat für das Jahr 1991 eine geschätzte Bilanz von 198 000 Stück männliche Jungrinder - die gleiche Menge wie 1990 - beschlossen, die abschöpfungsbegünstigt in diesem Jahr eingeführt werden können. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß hiervon über 190 000 Stück für Italien und Griechenland bestimmt sind und es sich um traditionelle Einfuhren in diese Länder handelt.
In diesem Zusammenhang hat die Kommission die Erklärung abgegeben, daß sie im Jahr 1991 die Gesamteinfuhren an Kälbern und männlichen Jungrindern im Rahmen der Bilanz auf insgesamt 425 000 Stück begrenzen wird - wie ich schon gesagt habe. Dies bedeutet eine Halbierung gegenüber den Einfuhren des Vorjahres. Die EG-Kälbereinfuhren unter Erhebung der normalen Drittlandsabschöpfung - z. Z. 292,37 DM pro 100 kg - können demnach im Jahr 1991 nur noch insgesamt 227 000 Stück betragen.
Wie schon erklärt, ist die Ausgabe von Einfuhrlizenzen von der EG ab sofort bzw. seit gestern abend gestoppt.
Zusatzfrage.
Der Grund meiner Frage war, daß trotz der hohen Schlachtzahlen infolge der 20%igen Rückführung der Kuhzahlen und dadurch Schlachtrinderzahlen hier doch Hunderttausende von Kälbern eingeführt und irgendwann dem Schlachthof zugeführt werden.
Darauf basiert meine Frage: Wieviel Rindfleisch lagert im Augenblick in den Kühlhäusern Europas, und können Sie Angaben darüber machen, wieviel der Steuerzahler letztendlich für Ankauf, Kühlung und Finanzierungskosten bezahlen muß?
In den Kühlhäusern Europas lagern zur Zeit 700 000 t Rindfleisch. Um diese Menge zu exportieren, müssen wir einen Unterschiedsbetrag von ungefähr 4 Milliarden DM ausgeben. Das heißt mit anderen Worten: Das, was wir erlösen, wenn wir Rindfleisch an Drittländer, an Rußland oder andere Länder verkaufen, deckt gerade noch die Transportkosten und die Lagerkosten.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wäre es angesichts der immensen Kosten und vernünftiger Marktabläufe in diesem Bereich nicht sinnvoller, wenn die EG diese Kälber direkt ankaufen würde, um sie einer anderen sofortigen Verwertung zuzuführen?
Herr Kollege, ich glaube, daß es ein wichtiger Schritt der EG war, den Import von Kälbern in die EG aus den Ostblockstaaten um die Hälfte zu reduzieren. Ob dieser Schritt ausreicht, mit den Problemen des Rindfleisches in der Gemeinschaft fertig zu werden, das werden wir sehen. Leider haben wir im letzten Jahr einen Rückgang im Rindfleischverbrauch von 1 kg pro Kopf der Bevölkerung gehabt.
({0})
- Ja, Rindfleisch ist gesund. - Das sind bei 43 Millionen Menschen 43 000 t.
Auf der anderen Seite haben die Unruhen im Vorderen Orient zu einem Rückgang des Exports in Höhe von 100 000 t geführt, und die Produktion ist um 3 bis 4 % gestiegen. Wir sind also keineswegs aus dem Schneider. Aber die Entscheidung der Kommission, weniger Kälber einzuführen, war richtig. Wir müssen jetzt sehen, wie die Dinge weiter einer Lösung zugeführt werden.
Eine weitere Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Antje-Marie Steen.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Erkenntnisse, ob diese Kälber nach den gleichen Kriterien in Aufzucht, Haltung, Unterbringung und Stallung wie hier in der Bundesrepublik gehalten werden?
Es ist so: Diese Kälber kommen aus Ostblockstaaten. Die meisten werden relativ jung gekauft. Die meisten sind erst zwei bis drei Wochen alt. Es kommt dann auf die Rufstallungen an, die wir in Europa haben. Diese Tiere werden nicht nur in Deutschland aufgestallt, sondern auch in anderen europäischen Ländern.
Hier ist die Situation so, daß wir als Bundesregierung sehr bemüht sind, eine Richtlinie oder eine Verordnung zur Haltung von Kälbern von der EG zu bekommen. Wir hätten schon national eine Richtlinie oder eine Verordnung erlassen, aber die EG hindert uns daran, eine Richtlinie oder eine Verordnung national zu erlassen, weil sie der Auffassung ist, daß sie demnächst selber eine Verordnung erlassen wird, die wir dann übernehmen müssen.
Wir sind jedoch jederzeit bereit, hier in der Bundesrepublik Deutschland eine Haltungsverordnung für Kälber - wenn man uns das von der EG vorgäbe - zu erlassen.
({0})
Sie hatten nur die Möglichkeit zu einer Frage, Frau Kollegin Steen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Schily.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, daß das Ganze vielleicht weniger ein Problem des Imports von Kälbern ist, sondern vielmehr der Ochsen, die die völlig verfehlte europäische Agrarpolitik zu verantworten haben?
({0})
Herr Kollege, sich in bezug auf die Beurteilung derer, die die Agrarpolitik zu verantworten haben, in den Bereich der Zoologie zu begeben, halte ich für überzogen.
({0})
Herr Kollege Schily, die Adressierung war ausreichend anonym, und das Wortspiel bringt Lacher in den eigenen Reihen. Ich weiß jedoch nicht, ob es die richtige Wortwahl für ein Parlament ist.
Gibt es zu der letzten Frage weitere Zusatzfragen? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich bedanke mich, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Zur Beantwortung der Fragen ist der Parlamentarische Staatssekretär Horst Seehofer erschienen.
Ich rufe die Frage 34 des Abgeordneten Hans-Joachim Otto auf:
Wie erklärt sich die Bundesregierung die Tatsache, daß sich nach einem Bericht der Bundesanstalt für Arbeit die Summe der im Jahre 1990 wegen unrechtmäßigen Bezuges von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Kindergeld bundesweit verhängten Geldbußen und Verwarnungsgelder auf lediglich 11,2 Mio. DM beläuft, obwohl im gleichen Zeitraum die Zahl der entsprechenden Verfahren auf rund 274 000 gestiegen und dabei ein Schaden von 164 Mio. DM aufgedeckt worden ist?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Otto, die Zahl der bei der Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1990 eingeleiteten Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen unberechtigten Bezugs von Leistungen und die Größenordnung der verhängten Verwarnungs- und Bußgelder entspricht in etwa dem Vorjahr.
1989 hatten wir rund 245 000 Fälle, in denen Verwarnungs- und Bußgelder in Höhe von 11,6 Millionen DM verhängt wurden. 1990 hatten wir rund 274 000 Fälle mit einer Summe von 11,2 Millionen DM. Die Zahl der mit einem Verwarnungs- oder Bußgeld abgeschlossenen Verfahren ist mit rund 90 000 Verfahren 1990 und 1989 fast gleichgeblieben.
Mit einem Verwarnungs- oder Bußgeld wird die individuelle Schuld eines betroffenen Leistungsempfängers geahndet. Daneben wird die zu Unrecht erbrachte Sozialleistung zurückgefordert.
Ob und in welcher Höhe ein Verwarnungs- oder Bußgeld verhängt wird, richtet sich nicht nach dem angerichteten Schaden, sondern nach dem persönlichen Verschulden des Leistungsempfängers und allen sonstigen Tatumständen.
Parl. Staatssekretär Horst Seehof er
Bei betrügerischem Verhalten liegt eine Straftat vor, und das Verfahren wird an die Staatsanwaltschaft abgegeben.
Im Jahre 1990 waren das 20 034 Verfahren und damit 840 Verfahren mehr als 1989.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß in den Bußgeldverfahren oft sehr geringes Verschulden geahndet wird, so z. B. im Kindergeldbereich, wenn der Berechtigte den Abbruch der Ausbildung seines nicht mehr im Haushalt lebenden Kindes verspätet meldet, obwohl er bei entsprechender Sorgfalt rechtzeitig hätte Kenntnis haben müssen, oder der Arbeitslose seine Arbeitsaufnahme zwar verspätet anzeigt, die Verspätung aber nur zu einer geringfügigen Überzahlung geführt hat.
Zusatzfrage, Herr Kollege Otto.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen eben von 20 000 Strafverfahren wegen dieser Deliktsgruppe. Können Sie uns auch etwas über das Ergebnis dieser Strafverfahren, also darüber mitteilen, welche Strafen ausgeworfen wurden? Haben Sie darüber Erkenntnisse?
Nein.
Keinerlei Erkenntnisse?
Ich kann Sie aber im Detail gern informieren, wenn Sie das wünschen.
Zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, was gedenkt die Bundesregierung zu tun, damit der unrechtmäßige und zum Teil auch betrugsmäßige Bezug von Sozialversicherungsleistungen nicht als ein harmloses Kavaliersdelikt, sondern als ein schwerwiegender Verstoß gegen die Solidargemeinschaft der Beitragszahler verstanden wird?
Herr Kollege Otto, wir werden diese Delikte mit dem gleichen Nachdruck wie in der Vergangenheit verfolgen. Allerdings müssen wir immer das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit beachten. Wenn mehr Verfahren eingeleitet werden, müssen wir auch darauf achten, daß hier dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Übermaßverbot Rechnung getragen wird. Ich kenne viele Aktivitäten gerade von FDP-Kollegen, die uns dann, wenn es im Arbeitgeberbereich um Verstöße bei Schwarzarbeit, illegaler Leiharbeit oder Leistungsmißbrauch geht, sehr darauf hinweisen, hier das Übermaßverbot zu beachten. Das gleiche Übermaßverbot wollen wir auch im Arbeitnehmerbereich beachten.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich auf die Frage 35 des Abgeordneten Gernot Erler:
Wie viele Mittel hat die Bundesregierung im Haushalt 1991 in den Einzelplänen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit insgesamt zugunsten von Personal- und Sachkosten für das Programm „Aufbau und Reform ausländischer Arbeitsverwaltungen" der Bundesanstalt für Arbeit vorgesehen?
Herr Kollege Erler, der Entwurf des Bundeshaushaltsplans 1991 sieht im Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung für die Beratung osteuropäischer Staaten bei der Reform und Neugestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherung, der Arbeitsförderung und der Arbeitsbeziehungen insgesamt 6 Millionen DM vor. Diese Haushaltsmittel, über die der Gesetzgeber allerdings noch endgültig beschließen muß, sind für die sozialpolitische Beratung osteuropäischer Staaten insgesamt bestimmt. Der Aufbau und die Reform der Arbeitsverwaltungen in osteuropäischen Staaten bilden dabei einen bedeutsamen Schwerpunkt. Weitere Schwerpunkte sind der allgemeine sozialpolitische Erfahrungsaustausch, die Information über Fragen der Sozialpartnerbeziehungen, die Beratung beim Aufbau und bei der Reform der sozialen Sicherung und die Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes und des Arbeitsrechts.
Haushaltsmittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit sind für diese Zwecke nicht vorgesehen. Die Mittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit sind dazu bestimmt, generell die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Ländern Mittel- und Osteuropas zu fördern, z. B. über die Arbeit der politischen Stiftungen, Kammerpartnerschaften und allgemeine wirtschaftliche Beratung.
Herr Erler zu einer Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie mir sagen, zu wieviel Personalstellen die vorgesehenen Mittel im Rahmen des Programms Aufbau und Reform ausländischer Arbeitsverwaltungen ausreichen?
Es ist nicht das Ziel, hier neue Planstellen zu schaffen, sondern es ist das Ziel, unsere bewährte Sozialordnung, unsere bewährte Arbeitsverwaltung und die Prinzipien unserer sozialen Sicherung den osteuropäischen Staaten bei ihrem Reformprozeß verständlich zu machen und ihnen beim Aufbau ihrer gleichgerichteten Verwaltungen behilflich zu sein. Wie immer beim Bundesarbeitsminister, geschieht dies mit einem sehr knappen aber hochqualitativen Personalbestand.
Herr Kollege Erler.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob sich nach den wenigen Monaten, die Sie bisher zum Sammeln von Erfahrungen bei diesem Programm hatten, schon abzeichnet, ob Sie mit den zur Verfügung gestellten Mitteln allen Nachfragen aus den ost- und südosteuropäischen Stellen nach Hilfe im Rahmen dieses Programms werden nachkommen können?
Ich wäre Ihnen und dem gesamten Parlament sehr dankbar, wenn Sie uns gerade für diesen Zweck mehr Mittel zur Verfügung stellen würden.
Ich rufe die Frage 36 auf, die ebenfalls der Kollege Gernot Erler gestellt hat:
Welche ost- und südosteuropäischen Länder sollen in welchem Umfang und Anteil durch das Programm „Aufbau und Reform ausländischer Arbeitsverwaltungen" unterstützt werden?
Herr Kollege, wie sich aus der Beantwortung der vorangegangenen Frage bereits ergibt, stehen die Haushaltsmittel für die gesamte Bandbreite der sozialpolitischen Beratungshilfe zur Verfügung. Zur Zeit kann noch nicht abschließend beurteilt werden, in welchem Umfang und Anteil die Haushaltsmittel für arbeitsmarktpolitische Beratungshilfen gebunden werden. Die notwendigen Abstimmungsgespräche über gemeinsame sozialpolitische Projekte mit osteuropäischen Staaten sind bislang erst mit Polen, Ungarn und der Sowjetunion abgeschlossen worden. Mit der CSFR, mit Bulgarien und Rumänien werden die Gespräche erst in nächster Zeit geführt. Arbeitsmarktpolitische Projekte spielen bei den Abstimmungsgesprächen mit den osteuropäischen Ländern, wie gesagt, eine wichtige Rolle, so daß die Mittel voraussichtlich in einem beträchtlichen Umfang für diesen Zweck eingesetzt werden.
Eine Zusatzfrage, Herr Erler.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben ausgeführt, daß drei Länder bereits in den Genuß dieses Programms kommen und drei weitere noch nicht. Können Sie mir vielleicht sagen, nach welchen Kriterien entschieden wird, welche Länder in dieses Programm aufgenommen und entsprechend beraten werden und wie diese Länder eine Chance haben, diese Kriterien zu erfüllen?
Wir wollen mit all den von mir genannten sechs Ländern entsprechende Vereinbarungen treffen. Ich darf Ihnen einmal sagen, daß wir uns vorbehaltlich der Zustimmung zu den 6 Millionen DM durch den Deutschen Bundestag mit dem Gedanken tragen, im Jahre 1991 für die UdSSR und Ungarn jeweils rund 1 Million DM, für Polen und die CSFR jeweils rund 800 000 DM und für Bulgarien und Rumänien jeweils rund 600 000 DM einzusetzen.
Darüber hinaus beabsichtigen wir ja, wie Sie sicher wissen, uns auch in diesem Jahr wiederum an Osteuropaprojekten der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf finanziell zu beteiligen.
Ich kann Ihnen aus persönlichen Gesprächen, die ich selber mit Vertretern in Warschau geführt habe, sagen, daß sich die Prioritäten und die Kriterien sehr nach den Vorstellungen der Partnerländer ausrichten. Hier sind die Anforderungen und die Erwartungen völlig unterschiedlich. Manche Länder legen mehr Wert auf die Qualifizierung von Personal und von Wirtschaftsvertretern und auf Kurse für die Sozialpartner; manche Regierungen legen mehr Wert auf die
konkrete Unterstützung bei der Aufstellung einer Arbeitsverwaltung, vom Geschäftsverteilungsplan bis zur Erstellung von EDV-gerechten Arbeitsorganisationen. Wiederum andere sind schon damit zufrieden, wenn man ihnen die Unkosten für Delegationen erstattet.
Die zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, stellt der Aufbau des, wie Sie ja selber beschrieben haben, relativ bescheidenen Programms „Aufbau und Reform ausländischer Arbeitsverwaltungen" jetzt einen Endzustand dar, oder planen Sie, den Umfang dieses Programms in nächster Zeit zu erweitern und auch noch weitere osteuropäische Staaten über die sechs genannten hinaus in den Genuß dieses Programms kommen zu lassen?
Wie der gesamte Reformprozeß so steht auch dieses Projekt am Anfang. Natürlich werden wir es weiterführen. Wir denken auch daran, es zu erweitern. Nur, dies alles kostet Geld. Dieses Geld müßte uns das Parlament zur Verfügung stellen. Ich wiederhole meine Bitte aus der Beantwortung der ersten Frage: Unterstützen Sie uns dabei, daß im Bundeshaushalt für solche Zwecke künftig mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen. Wir schließen fast auf die Minute genau die Fragestunde.*)
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 1 auf: Aktuelle Stunde
Fünfter Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl - Die Haltung der Bundesregierung zum Bau von Kernkraftwerken in den neuen Bundesländern
Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde verlangt.
Das Wort hat der Abgeordnete Harald Schäfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Selbst fünf Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl kennen wir die ganze bedrückende Wahrheit über das Ausmaß dieser Katastrophe noch nicht. Täglich erreichen uns neue erschütternde Informationen über die schrecklichen Folgen der Katastrophe.
({0})
Mehrere tausend Menschen sind gestorben, Hunderttausenden droht der schleichende Strahlentod. Der Sarkophag ist nicht dicht und hält höchstens 15 Jahre. Eine Zeitbombe tickt. 100 000 Quadratkilometer sind verseucht. Knapp sechs Millionen Menschen sind direkt betroffen. Die Folgekosten werden zwischenzeitlich auf über 300 Milliarden Dollar geschätzt.
*) Die nicht erledigten Fragen werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Harald B. Schäfer ({1})
Für mich, meine Damen und Herren, ist es empörend, daß Minister Töpfer erst zu Beginn dieser Woche ein Informationsdefizit über das Ausmaß der Folgen von Tschernobyl entdeckt. Was hat die Bundesregierung eigentlich in den vergangenen fünf Jahren getan, um aufzuklären?
Haben nicht die Atomlobbyisten in der Internationalen Atomenergieorganisation und in der Bundesrepublik die Folgen von Tschernobyl immer wieder unwidersprochen durch die Bundesregierung verharmlosen dürfen?
({2})
- Verehrter Herr Lippold, ich empfehle Ihnen, das Organ „Atomwirtschaft" der Kerntechnischen Gesellschaft zu lesen, in dem die gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl als psychosoziales Problem bezeichnet werden. Das ist nachgerade zynisch angesichts der tatsächlichen Auswirkungen dieser Katastrophe.
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, hat aus der Katastrophe keine angemessenen Konsequenzen gezogen. Sie hat nirgends erreicht, daß Kernkraftwerke sicherer wurden. Es ist kein einziges Kernkraftwerk umfassend nachgerüstet worden. Die Kernkraftwerke in Osteuropa sind weiterhin meilenweit von unserem Sicherheitsniveau entfernt.
({3})
Aber es ist auch fahrlässig, anzunehmen, es gebe bei deutschen Reaktoren eine Garantie gegen einen GAU. Dies haben zuletzt die Ergebnisse der Risikostudie B gezeigt. Zudem ist die Entsorgung nach wie vor ungelöst. Die Hypotheken, die wir den nach uns kommenden Generationen aufbürden, werden täglich größer.
Dennoch hat Bundeskanzler Kohl in der Regierungserklärung die unbefristete Nutzung der Kernenergie zum Regierungsprogramm gemacht. Von der Übergangsenergie ist nicht mehr die Rede. Erstmals, meine Damen und Herren, seit der Katastrophe von Tschernobyl sollen wieder neue Kernkraftwerke in Deutschland gebaut werden.
({4})
Herr Wirtschaftsminister Möllemann läßt Einsicht erkennen, wenn er erklärt, aus energiepolitischen Gründen sei ein Zubau von Kernkraftwerken in den neuen Ländern nicht notwendig. Aber auch Herr Möllemann transportiert die Legende, daß Kernenergie notwendig sei, um die Klimakatastrophe abzuwenden.
({5})
Wir wissen, daß dies der falsche Weg ist. 10 Milliarden DM, die in den neuen Ländern in die Energieeinsparung gesteckt werden, entlasten die Umwelt mehr und bringen mehr an CO2-Reduktion, als 10 Milliarden DM, die in neue Kernkraftwerke investiert werden.
({6})
Das, meine Damen und Herren, ist die reine Wahrheit.
Tschernobyl war die letzte Warnung. Wir Sozialdemokraten bleiben beim Ausstieg.
({7})
Wir lehnen jeden Zubau und jeden Ersatz von Kernkraftwerken in Deutschland ab.
({8})
Dies kann und wird in Konsensgesprächen mit der SPD nicht zur Disposition stehen.
Noch einmal: Auch die drohende Klimakatastrophe kann nicht als buchstäblich letztes Argument herhalten. Wer glaubt, Klimaschutz mit Kernenergieausbaustrategien betreiben zu können, will den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
Die Kernenergie, meine Damen und Herren, ist eines der schwerwiegendsten ökologischen Probleme unserer Energieversorgung und nicht deren Lösung. Eine ökologisch verantwortbare Energiezukunft liegt nur in einer rationellen Energienutzung, im Energiesparen und in der Förderung erneuerbarer Energien. Heute müssen wir den massiven Einstieg in das Solarzeitalter bewerkstelligen, statt weiter auf die Dinosauriertechnologie Kernenergie zu setzen.
({9})
Das muß eine der Lehren von Tschernobyl sein, wenn wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen wollen.
Dazu haben wir Vorschläge gemacht. Bestandteil unserer Vorschläge ist das Angebot, mit allen über Energiepolitik zu sprechen, die daran interessiert sind. Darauf kann sich dann ein energiepolitischer Konsens aufbauen. Fest steht jedenfalls: Kernenergie wird in unserem Konzept einer zukunftsorientierten, ökologisch verträglichen Energiepolitik keinen Platz haben.
Ich bedanke mich.
({10})
Nächster Redner ist unser Kollege Klaus Harries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von der SPD beantragte Aktuelle Stunde und Ihre Ausführungen, Herr Schäfer, haben eines voll bestätigt: Das alles hat zwar etwas sehr Wirkungsvolles an sich, aber das, was wirkungsvoll ist, ist nicht immer der Sache gemäß und vor allen Dingen auch nicht gut. Sie wecken wieder Emotionen in der Bevölkerung und sorgen dafür, daß Ängste in weiten Teilen der Bevölkerung wachsen.
({0})
Die Begründung für diese Behauptung fällt mir sehr leicht. Sie machen nämlich folgendes: Sie verbinden zwei Probleme miteinander, zwischen denen es überhaupt keinen Kausalzusammenhang gibt. Sie wollen den Unfall von Tschernobyl auf deutsche Kernkraftwerke übertragen. Niemand von uns, meine Damen
und Herren, übersieht und vergißt: Die Katastrophe von Tschernobyl dauert, wie wir alle wissen - das haben Sie richtig gesagt -, an. Erst gestern haben wir im Umweltausschuß mit den Stimmen aller anwesenden Kolleginnen und Kollegen Einvernehmen darüber erzielt, daß verstärkt humanitäre Hilfe von der Bundesregierung geleistet werden muß und daß diese Hilfe möglichst schnell und wirksam in den Notstandsgebieten der Sowjetunion geleistet werden muß.
({1}) Nur das gilt.
Die gegebenenfalls beabsichtigte Errichtung von Kernkraftwerken in Greifswald und Stendal soll nach Ihrer Auffassung einen Kausalzusammenhang belegen, der überhaupt nicht besteht. Sie wollen im Grunde wieder deutlich machen - das haben Sie mit beredten Worten in gewohnter Manier getan -, daß Kernkraftwerke überall in der Welt und vor allen Dingen bei uns teuflisch sind, nicht zu verantworten sind und zu denselben Katastrophen wie in der Sowjetunion führen können.
({2})
Genau das stimmt nicht. Wir alle sollten wissen, meine Damen und Herren, daß die Kernkraftwerke, die wir in der Bundesrepublik haben, die hier genehmigt sind, die hier unter Sicherheitsüberwachung stehen, die geprüft werden, mit den Systemen in der Sowjetunion überhaupt nicht vergleichbar sind. Die Katastrophe von Tschernobyl ist auf menschliches Versagen,
({3})
auf leichtfertiges Planspiel, auf mangelnde Kontrolle und auf ein völlig anderes System zurückzuführen.
({4})
Meine Damen und Herren, wir haben in der Bundesrepublik Deutschland eine völlig andere Sicherheitsphilosophie, wir haben andere Systeme, und wir haben eine völlig andere Betriebsüberwachung. Gerade diese Tatsache der Unterschiede, die Sie überhaupt nicht leugnen können, gibt Ihnen doch immer wieder die Möglichkeit, sich davonzustehlen, wenn es darum geht, einen bestimmten, festen, klaren Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Kernenergie zu nennen. Sie nennen weder einen klaren Zeitpunkt noch einen klaren Zeitraum. Sie drücken sich um diese Frage herum. Wenn die Katastrophe bei uns in der Form drohen würde, wie Sie es hier darzustellen versucht haben, dann, meine Damen und Herren, müßte die SPD heute den Antrag stellen, sofort, morgen abzuschalten. Das aber tun Sie nicht.
({5})
Sie wissen auch, daß Kernkraftwerke mit sowjetischem System bei uns überhaupt nicht genehmigungsfähig sind. Daß dies so ist, haben wir auch durch Taten bewiesen, indem wir nämlich die Systeme, die wir nach der Wiedervereinigung in Greifswald und
Stendal übernommen haben, nach sachgerechter, relativ kurzer Prüfung abgeschaltet haben.
({6})
Sie verstoßen mit Ihrer Energiepolitik gegen ganz wichtige Grundsätze. Das schadet uns, das schadet unserem Lande, das schadet unserer Wirtschaft. Sie vermengen ferner Dinge, die nicht zu vermengen sind. Sie übersehen z. B., daß nicht die Bundesrepublik Deutschland, daß nicht der Staat bzw. ein Land eventuell in Stendal oder Greifswald bauen will, sondern private Antragsteller.
({7})
Wir haben nun wirklich die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, unter Umständen auf uns zukommende Anträge nach Recht und Gesetz zu bescheiden. Wir bekennen uns zu dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Anträge, die von privaten Betreibern gestellt werden, sind nach Recht und Gesetz zu entscheiden und nicht durch eine krumme Politik, mit der Sie in den Ländern politische Argumente mit Rechtsargumenten vermischen.
Meine Damen und Herren, wir können uns auch nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir leben in der Bundesrepublik mit unseren Kraftwerken nicht in einer Nische. Wir haben Verantwortung gegenüber Nachbarn und nach draußen, aber nicht in der von Ihnen angedeuteten Weise, daß wir offenbar etwas - was eigentlich? - in die Sowjetunion einziehen sollten, um dort Sicherheits- und Kontrollmechanismen in Gang zu bringen. Wir machen das durch Gespräche und durch Absprachen. Das ist wirksam und wird immer wirksamer und muß mit Sicherheit auch noch wirksamer werden.
Ein letzter Gesichtspunkt.
Nein, Herr Kollege Harries. Wir sind in der Aktuellen Stunde. Ich muß Sie bitten, aufzuhören.
Sie haben recht.
Unsere Wirtschaft braucht ganz klare Rahmenbedingungen, an die sie sich zu halten hat, und die machen Sie kaputt.
({0})
Das Wort hat jetzt unser Kollege Klaus-Dieter Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tschernobyl ist heute überall. Fünf Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl sind weite Gebiete der Sowjetunion noch immer radioaktiv verseucht, und sie werden noch auf viele hundert Jahre verseucht sein. Offiziell wird in der UdSSR bis heute von 31 Opfern der Havarie gesprochen. Experten schätzen allerdings, daß durch die Strahlenbelastung schon mehrere tausend Menschen ums Leben gekommen sind. Hunderttausend Menschen sind evakuiert worden.
Hunderttausend müßten noch folgen. Aber wirtschaftliche Ohmacht beläßt die im verseuchten Gebiet Verbliebenen weiterhin in großer Gefahr.
Wieder sind es die Kinder, das Wertvollste, das wir zu behüten haben, die an den Folgen dieser Katastrophe besonders leiden. In einer Zeit, in der sich viele Bürgerinnen und Bürger auch unseres Landes bemühen, diesen Kindern zu helfen und auch die Not der Eltern zu lindern, erleben wir im dichtbesiedelten Deutschland eine unglaublich geschmacklose Renaissance der Diskussion um den Neubau von Atomkraftwerken.
Bei dieser Diskussion ({0})
bisher ist es wohl mehr ein Monolog - wird immer wieder beteuert, daß es sich bei den für Stendal und Greifswald geplanten Atomkraftwerken natürlich um die sichersten handelt, die die deutsche Industrie zu bieten hat. Aber die vielen kleinen und großen Störfälle in den Atomkraftwerken nicht nur in der Sowjetunion bis hin zum GAU von Tschernobyl belegen, daß es keine atomare Sicherheit gibt. Ich glaube, wir stimmen darin überein, daß bei derart wichtigen Lebensfragen eine Versachlichung der Auseinandersetzung überhaupt erst eine Bewertung von Fakten ermöglicht. Ich glaube so einige Kollegen verstanden zu haben.
Ich bin dafür, daß die Menschen, die von einem Kraftwerksbau betroffen sind, die Chance haben müssen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wie sieht nun diese freie Meinungsbildung z. B. in der Region Greifswald aus? Jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang, haben dort die Bürgerinnen und Bürger lediglich die Chance gehabt, das Fernsehen der DDR zu sehen. Dort haben sie gehört, wie gut und wie wichtig Atomenergie ist. Informationen bundesdeutscher Fernsehanstalten erreichten große Teile Vorpommerns nicht. So ist noch heute für viele Menschen im Nordosten Deutschlands Tschernobyl lediglich ein Betriebsunfall. Während in anderen Bundesländern Kindergärten geschlossen wurden, Gemüse untergepflügt wurde, fast niemand im Freien zu baden wagte, war in Greifswald alles okay.
Heute ist die Berichterstattung in und um Greifswald wieder einseitig. Die finanzkräftigen Wirtschaftsunternehmen haben genug Geld, ihre einseitigen Argumente mit Werbebussen zu verbreiten. Besonders bedrückend ist für mich der Umstand, daß durch die hohe Arbeitslosigkeit in Vorpommern fehlende oder falsche Informationen auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Wer verschweigt, daß in zwei neuen Atomkraftwerken zusammen vielleicht 700 Menschen Arbeit finden, der betrügt 3 000 umsonst Hoffende. Wer sagt, daß beim Aufbau des neuen Atomkraftwerks alle Arbeit finden werden, verschweigt, daß der Bau vielleicht erst in Jahren beginnen kann, dann, wenn es nach deutschem Recht wirklich zu einem Verfahren gekommen ist. Aber was machen die Menschen so lange?
Es wird auch verschwiegen, daß es sich dabei vorwiegend um Spezialisten handelt, die es nur in Westdeutschland gibt. Ich verstehe die Angst der Bürgerinnen und Bürger meines Bundeslandes um die Arbeitsplätze sehr gut. Ich teile ihre Sorgen, und ich leide mit ihnen.
Wenn aber der Betriebsrat des Atomkraftwerkes von Greifswald haßerfüllt gegen die gesprächsbereiten Bürgerinitiativen aufwiegelt, so tragen auch die daran Schuld, die keine Alternativen für die betroffene Region aufzeigen. Die Freunde meiner Partei, die GRÜNEN als auch die Bürgerbewegungen, sind dagegen zu einem fairen Dialog bereit. Wenn am 2. Mai in Greifswald ein Treffen von Landtagsabgeordneten, Vertretern der Bürgerinitiativen und Bundestagsabgeordneten mit dem Betriebsrat des AKW stattfindet, dann erwarten wir einen fairen Dialog.
Jeder Tag, den wir später aus der Atomenergiewirtschaft aussteigen, kostet die Steuerzahler unnötig
- unnötig! - viel Geld. Es gibt nur eine Konsequenz aus Tschernobyl: Ausstieg aus der menschenfeindlichen Atomenergie, und wenn Sie einen Zeitpunkt haben wollen: von mir aus jetzt.
({1})
Das Wort hat nunmehr unser Kollege Gerhart Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Tschernobyl war eine schreckliche Katastrophe. Die Folgen sind bis heute nicht absehbar.
({0})
Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihren Bemühungen, eine internationale Risiko- und Sicherheitspartnerschaft aufzubauen. Die verantwortlichen Regierungen in Osteuropa haben die notwendigen Konsequenzen nach Tschernobyl nicht gezogen. Das stelle ich hier ausdrücklich fest. Die Reaktoren, die dort betrieben werden, entsprechen nicht unseren Sicherheitsstandards. Sie würden hier nicht genehmigt, sie sind nicht genehmigungsfähig. Sie müssen nachgerüstet oder stillgelegt werden. Dies ist Anlaß zur Sorge. Aber gerade wenn wir das feststellen, Herr Kollege Schäfer, können wir keine Verbindung ziehen zwischen den Anlagen in Osteuropa, zwischen der Anlage in Tschernobyl und unseren Anlagen. Das ist schon gesagt worden.
({1})
- Das ist so.
Meine Partei hat eine klare Position in der Kernenergiefrage. Die Sicherheitsanforderungen haben absolute Priorität gegenüber wirtschaftlichen Überlegungen. Die Reaktorsicherheit in unserem Lande ist ständig verbessert worden. Wir halten Kernenergie für verantwortbar. Das haben wir auch gemeinsam in der sozialliberalen Koalition getan.
({2})
- Das mag ja sein. - Wir halten sie also für verantwortbar. Wir sind der Meinung, daß gleichzeitig alle Anstrengungen gemacht werden müssen, den AusGerhart Rudolf Baum
stieg tatsächlich zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erreichen.
({3})
Wir werden an der Kernenergie nur so lange festhalten, wie der nach konsequenter Energieeinsparung und rationaler Energienutzung verbleibende Energiebedarf nicht durch andere umweltfreundliche Energiegewinnungsformen gedeckt werden kann. - Ich habe Ihnen bewußt unser Wahlprogramm vorgelesen. So kurz nach einer Wahl ist das ja vielleicht ganz nützlich.
Für einen weiteren Zubau an Kernkraftkapazität sehen wir keinen Anlaß. Auch das steht drin. Und wir sind der Meinung, daß wir bei der Begründung für die weitere Nutzung der Kernenergie das CO2-Argument nicht überschätzen sollten.
Wir wollen das Atomgesetz zu einem modernen Umweltgesetz entwickeln.
An diesen Maßstäben, meine Damen und Herren, messen wir auch die energiepolitischen Entscheidungen in den neuen Bundesländern. Wirtschaftsminister Möllemann hat unsere volle Unterstützung, wenn er sich unter Hinweis auf die mit der Einheit geschaffene neue Lage um einen energiepolitischen Konsens bemüht. In einem wirtschaftlich eng verzahnten föderalistischen Bundesstaat, der eine unvergleichliche Aufbauleistung im Osten zu erbringen hat, müssen sich die nach der Verfassung in Bund und Länder Verantwortlichen bemühen, eine gemeinsame Linie zu finden und die dann auch in der Europäischen Gemeinschaft zu vertreten.
Der Energiekonsens, den ich 1978 als Innenminister herbeigeführt habe, ist zerbrochen. Er muß in der Entsorgungsfrage - und darauf bezog er sich - wiederhergestellt werden. Wir haben gemeinsame Überlegungen, was die Konditionierung von Brennelementen angeht. Es ist unerträglich, wenn dann gleichzeitig in Niedersachsen das Pilotprojekt für die Konditionierung bekämpft wird. Wir vermögen - um auch das deutlich zu sagen - die Position der SPD eines Ausstiegs im Jahre 1996, die vom DGB nicht geteilt wird, nicht nachzuvollziehen. Dies ist für uns unverantwortlich.
({4})
Ich verstehe auch nicht, daß eine lebhafte Debatte über einen möglichen Ersatzbau in Stendal und Greifswald im Gange ist, ohne daß absehbar ist, ob die dafür allein zuständige Industrie überhaupt einen Antrag stellt. Wie kommen wir eigentlich dazu, uns sozusagen als Antragsteller in der Diskussion zu verstehen? Haben wir denn in Wackersdorf nicht genug Lehrgeld bezahlt? Haben wir nicht gelernt, daß das alles abhängig ist von Anträgen und Entscheidungen der Wirtschaft? Es gibt keine vom Staat betriebenen Reaktoren, Gott sei Dank nicht. Und wir haben zur Kenntnis genommen, ich jedenfalls, daß bisher ein ernsthafter Wille, dort neue Anlagen zu bauen, nicht sichtbar wird oder abhängig gemacht wird von dem Ausgang des von Minister Möllemann eingeleiteten Versuchs, einen solchen Konsens herbeizuführen.
Was hindert Sie eigentlich, Herr Schäfer, Herr Fischer, an einem solchen Gespräch intensiv teilzunehmen? Kommen Sie nicht wie wir zu der Einsicht, daß wir frühere Gemeinsamkeiten in einer so wichtigen Frage in Deutschland wieder beleben müssen? In einer Situation, wo es um die Umweltsanierung der neuen Bundesländer geht, in einer Situation, wo die Europäische Gemeinschaft eine gemeinschaftliche Energiepolitik entwickelt, müssen wir Deutschen doch versuchen, die grundlegenden Fragen zwischen Bund und Ländern gemeinsam zu klären. Es kann doch nicht so weitergehen, daß das Bund-Länder-Verhältnis dauernd durch Weisungen im Rahmen der Bundesaufsicht bestimmt wird.
({5})
- Sie klatschen falsch, das habe ich gar nicht gemeint!
({6})
Der Bund ist nach der Gesetzeslage gezwungen, die Weisungen zu erteilen, weil Sie dem Recht nicht Rechnung tragen, siehe Konrad. Das ist die Situation.
({7})
Nutzen wir die nächsten Wochen! Es gibt einen Energiebericht. Minister Möllemann bemüht sich um einen Konsens, um Gespräche. Nutzen wir die nächsten Wochen, schöpfen wir die Chancen für eine Gemeinsamkeit aus! Dies käme unserem ganzen Land zugute.
({8})
Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Jutta Braband.
Herr Vorsitzender, meine Damen und Herren! Fünf Jahre nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl - Wie ist die Bilanz dieser Katastrophe?
Wir wissen, ein riesiges Gebiet ist radioaktiv verseucht. Zwei Millionen Menschen leben dort, darunter eine halbe Million betroffener Kinder. Allein von den 600 000 Helfern und Helferinnen, die nach dem Unfall zu Aufräumarbeiten eingesetzt wurden, starben nach Angaben einer Selbsthilfeorganisation bis heute bereits 7 000 Menschen an den Folgen der radioaktiven Strahlung. Offiziell - wir hörten es bereits - wird von 31 Toten gesprochen. Ein einigermaßen vollständiger Überblick über die Folgen des Reaktorunfalls ist frühestens in zehn Jahren zu erwarten. Die drei betroffenen Republiken der UdSSR sehen sich heute eskalierenden Problemen gegenüber. In der gegenwärtigen Phase des politischen und wirtschaftlichen Umbruchs der Sowjetunion bedingen sie ein zusätzliches Element der Unsicherheit und kaum lösbare wirtschaftliche Schwierigkeiten.
Um so nötiger ist in dieser Situation humanitäre Hilfe aus der Bundesrepublik als einem der reichsten Industrieländer in der Welt. In diesem Zusammenhang begrüßt die PDS/Linke Liste, daß der Umweltausschuß in seiner gestrigen Sitzung einstimmig die Annahme eines Entschließungsantrages zur weiteren Unterstützung der Opfer von Tschernobyl vorgeschlagen hat.
Aber die humanitäre Hilfe ist nur die eine Seite des Problems. Unter Protest aus den Reihen der Regierungskoalition sagte ich schon einmal, daß die BRD als Staat über die Pflicht zur humanitären Hilfe hinaus vor allem in der Verantwortung als Atomenergieanwender steht. Wer diese Verantwortung leugnet, meine Herren, indem er sich auf die Folgen der sozialistischen Mißwirtschaft, sprich: unsichere Atomenergieanlagen, herausredet, leugnet schlichtweg die Gefahr, die von jeder einzelnen Anlage ausgeht. Die Behauptung, mit sogenannten westlichen Sicherheitstechniken könnten derartige Unfälle nicht geschehen, ist falsch. Richtig ist: Jeder Reaktortyp hat sein eigenes Störfallprofil und sein eigenes Störfallpotential. Die AKW von Harrisburg und Biblis haben nicht etwa bewiesen, daß sie sicher sind, sondern daß mit Mühe und Glück ebenso verheerende Katastrophen wie die in Tschernobyl, die allerdings sehr viel mehr Menschen betreffen würden, verhindert wurden. Ich wiederhole: Es gibt keine sicheren Atomanlagen.
Schon ein einprozentiges Risiko sagt lediglich etwas über die Häufigkeit, nicht aber über die Wahrscheinlichkeit des Zeitpunktes aus.
Das in der Welt angehäufte Katastrophenpotential ist riesig und reicht bereits aus, diese unsere Erde zu zerstören. Die Länder der Welt, die nicht zu den reichen Industrienationen gehören, aber ebenso wie diese ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard haben, würden, wenn sie die Praxis dieser Industrienationen nachvollzögen, das Potential um ein Vielfaches erhöhen.
Spätestens seit der Bombardierung irakischer Reaktoren durch die USA im Golfkrieg und seit dem irakischen Versuch, das israelische Atomforschungszentrum zu bombardieren, wissen wir: In zukünftigen kriegerischen Auseinandersetzungen wird zu allen Schrecken von Kriegen, die wir bereits kennen, noch die Gefahr des Bombardements von Atomreaktoren, die vor allem eine Bedrohung für die Bevölkerung ist, hinzukommen.
Fünf Jahre nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl basteln die westdeutschen Energiemonopole bereits wieder an einem sogenannten energiepolitischen Konsens, der nach dem Willen der Atomlobby darin besteht, in Stendal und Greifswald neue Atommeiler zu errichten. Dieser Konsens ist mit uns nicht herzustellen. Wir fordern von der Bundesregierung die Stillegung aller Atomanlagen und die sofortige Erarbeitung eines Maßnahmekatalogs unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte, also auch der Bürgerinitiativen. Denn wir alle sind betroffen davon, nicht nur die Industrie. Vor allem wären wir alle von einem Unglück betroffen.
Fünf Jahre Tschernobyl, aber auch der Bericht der Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre mahnen uns, über die Art und Weise unseres Lebens und Wirtschaftens nachzudenken. Sie mahnen uns, innezuhalten und zu begreifen, daß wir alle die Verantwortung für diese Erde haben. Wir können die Verantwortung weder an unsere Kinder delegieren noch uns mit einem verlogenen Verweis auf Wirtschaftlichkeit aus dieser Verantwortung stehlen. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie umgehend ihre bisherigen Positionen in dieser Frage revidiert und daß
die zehn kommenden Jahre, die für die Vorbereitung des Atomkraftbetriebs im Osten geplant sind, dafür genutzt werden, verstärkt regenerative Energieerzeugung und Energieeinsparungsmaßnahmen zu fördern; denn damit und nicht mit Atomenergieausbau werden Sie den Interessen der Menschen und der Kommunen gerecht.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile jetzt das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Beckmann.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Katastrophe von Tschernobyl und die von ihr verursachten schrecklichen Opfer, deren wir heute auch gedenken, verpflichtet uns zu ernsthaftem Nachdenken und zu verantwortlichem Handeln bei unseren Entscheidungen und bei unseren Plänen. In der Energiepolitik stehen wir vor der Aufgabe, die Weichen für die 90er Jahre neu zu stellen, und dabei erfordert die Integration der neuen Bundesländer in eine marktwirtschaftliche Energieversorgung sachgerechte wirtschafts- und energiepolitische Rahmendaten.
Die energiewirtschaftliche Ausgangslage in den neuen Bundesländern bedarf - das ist offensichtlich - dringend der Korrektur. Die Elektrizitätserzeugung ist mit über 80 % der Bruttostromerzeugung einseitig auf Braunkohle konzentriert und durch fehlende Diversifizierung gekennzeichnet. Das Umweltschutzniveau in den Braunkohlekraftwerken ist wahrhaft katastrophal. Kein einziges der Großkraftwerke verfügt über funktionsfähige Anlagen zur Reinhaltung der Luft, wie sie im Gebiet der alten Bundesländer seit Geltung der Großfeuerungsanlagen-Verordnung selbstverständlich sind. Nur ein Zahlenbeispiel: Das größte Braunkohlenkraftwerk der früheren DDR, Boxberg, mit 3 520 Megawatt emittiert allein doppelt soviel 502, Schwefeldioxid, wie alle Kohle- und Ölkraftwerke der öffentlichen Versorgung in den alten Bundesländern zusammen.
Ein weiteres Schlaglicht: Pro erzeugte Kilowattstunde wird in den neuen Bundesländern 25mal soviel Schwefeldioxid, viermal soviel NO. und doppelt soviel Kohlendioxid erzeugt wie durchschnittlich im Gebiet der alten Bundesländer. Der Kraftwerkspark ist im konventionellen Bereich total überaltert und renovierungsbedürftig. Die Wirkungsgrade der Anlagen liegen im Schnitt deutlich unter dem technisch möglichen Standard. Die in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke sowjetischer Bauart, insgesamt rund 1800 Megawatt, sind aus Sicherheitsgründen stillgelegt. Dies ist eine klare Bestätigung der Sicherheitsphilosophie dieser Bundesregierung, daß beim Einsatz der Kernenergie in jedem Fall die Sicherheit Vorrang vor der Wirtschaftlichkeit haben muß. Vor diesem Hintergrund kann die wirtschaftspolitische Zielsetzung nur
eine umfassende ökonomische und ökologische Umstrukturierung der Energiewirtschaft sein.
Wir haben mit der Einführung einheitlicher rechtlicher Rahmenbedingungen dazu einen wichtigen Schritt vollzogen. Ich erinnere an die Geltung der strikten Anforderung des bundesdeutschen Umwelt- und Atomrechts für alle Neuanlagen ab dem 1. Juli des vergangenen Jahres. Die Nachrüstungsfrist für Altanlagen im Bereich des Atomrechts läuft bis zum 1. Juli 1995 und im Bereich der konventionellen Kraftwerke bis längstens 1. Juli 1996.
Nunmehr, meine Damen und Herren, sind wir gefordert, in dem vorhandenen rechtlichen Rahmen ein energiepolitisches Konzept zu entwickeln, das die notwendigen Rahmendaten setzt und den Beteiligten eine verläßliche Basis für die dringend notwendigen Modernisierungs- und Investitionsentscheidungen bietet. Wir brauchen eine Neuakzentuierung der Energiepolitik als Antwort auf die besondere Ausgangslage in den neuen Bundesländern, aber auch als Reaktion auf die globalen Herausforderungen der CO2-Problematik.
Die derzeit größte energiepolitische Herausforderung liegt darin, die Energie- und die Umweltpolitik auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Dabei, so denke ich - das will ich auch unterstreichen - , ist die Überwindung der derzeitigen Stagnation im energiepolitischen Dialog ein ganz entscheidender Schlüssel.
Die politische Diskussion konzentriert sich derzeit ja auf die Frage neuer Kernkraftwerke in den neuen Bundesländern. In dem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich unterstreichen: Es geht hier nicht um den Zubau von Kernenergie, sondern um einen teilweisen Ersatz der stillgelegten bzw. nicht fortgeführten Anlagen sowjetischer Bauart durch neue Anlagen auf der Basis höchsten westlichen Sicherheitsstandards.
({0})
Die derzeitige Diskussion um den Bau von zwei neuen Kernkraftwerken sollte in den energiepolitischen Gesamtzusammenhang gestellt werden.
({1})
Es geht jetzt darum, Herr Kollege Schäfer, für die schwierige Ausgangslage in den fünf neuen Bundesländern einen zugleich umweltverträglichen und kostengünstigen Energiemix zu verwirklichen.
Der Bundeswirtschaftsminister hat kürzlich dazu aufgerufen - das will ich hier nachdrücklich unterstreichen - , über die Kernenergie auch und gerade vor dem Hintergrund der Umweltproblematik und der Ausgangslage in den neuen Bundesländern mit dem Ziel, einen tragfähigen Konsens zu finden, neu zu diskutieren. Dazu, meine ich, ist ein fairer und offener Dialog aller politischen Kräfte erforderlich, aber auch die Bereitschaft, die uns vorliegenden neuen Erkenntnisse in diesen Entscheidungsprozeß mit einzubeziehen.
({2})
Natürlich erstreckt sich der energiepolitische Konsens auch auf andere wichtige Elemente in der Energiepolitik, z. B. - das sage ich auch mit allem Nachdruck - auf die volle Ausschöpfung der wirtschaftlich nutzbaren Potentiale der rationellen und sparsamen Energieverwendung und auch auf eine möglichst umfassende Nutzung der Kraft-Wärme-Kopplung. Wir brauchen fortdauernde Anstrengungen für einen größeren Versorgungsbeitrag der regenerativen Energiequellen.
({3})
Diese Felder, liebe Kollegen aus der Opposition, können aber keine isolierten Einzelziele sein.
({4})
Übergeordnetes Ziel für unsere Energiepolitik ist die Gewährleistung der klassischen energiepolitischen Zielsetzungen dieser Bundesregierung, die ich Ihnen auch gerne noch einmal in Erinnerung rufen will: Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit, Preisgünstigkeit und Effizienz der Elektrizitätsversorgung. Darum geht es unseren Bürgern in erster Linie.
({5})
Meine Damen und Herren, in dieser Gesamtstrategie ist die Nutzung der Kernenergie unverändert eine wichtige Option und zwar sowohl als Beitrag zur Diversifizierung der Elektrizitätserzeugung als auch aus umweltpolitischen Gründen, wie gerade im Hinblick auf die Situation der neuen Bundesländer ganz deutlich wird.
({6})
Der emissionsfreie Betrieb von Kernkraftwerken
({7})
trägt ja unbestreitbar wesentlich zur Umweltentlastung bei. Ich will dazu ein Beispiel nennen: Ein 1 300Megawatt-Block in der Kernenergie vermeidet, verglichen z. B. mit der Erzeugung auf der Basis von Steinkohle, jährlich 10 Millionen Tonnen CO2. Um eine vergleichbare CO2-Reduktion zu erreichen, müßte z. B. die Fernwärme trotz des hohen Anteils der Kraft-Wärme-Kopplung ihren Versorgungsbeitrag in den alten Bundesländern mehr als verdoppeln.
({8})
- Ich freue mich, daß mein Beitrag auf eine so lebhafte Resonanz in den Reihen der Opposition stößt.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal sagen: Zur Bewältigung der vielfältigen energiepolitischen Probleme in den neuen Bundesländern ist entschlossenes Handeln geboten.
({9}) Die Politik ist gefordert,
({10})
kalkulierbare Daten für dieses Handeln zu setzen. Die künftige gesamtdeutsche Energiepolitik braucht gemeinsame Lösungen in Sachen Kohle. Sie braucht sie in Sachen Kernenergie. Sie braucht sie auch in Sachen Umweltschutz. Dieses Ziel zu erreichen wird sich die Bundesregierung bemühen.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile nunmehr dem Umweltminister des Landes Hessen, Joschka Fischer, das Wort.
Staatsminister Joseph Fischer ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute habe ich sehr viel über den energiepolitischen Konsens gehört.
({1})
Ich weiß nicht, Herr Kollege Beckmann, ob Sie sich nicht in den Nonsens verflüchtigt haben, als Sie hier von emissionsfreien Atomkraftwerken gesprochen haben. Wenn die Emissionsfreiheit der Atomkraftwerke die Genehmigungsgrundlage für die neue Atompolitik der Bundesregierung wird, dann kann ich Ihnen schon heute die volle Unterstützung der Hessischen Landesregierung und sicherlich auch der Opposition zusichern. Dann wären nämlich all diese Hütten dicht. Das muß man einmal sagen.
Wenn Sie glauben, die CO2-Bilanz der Atomkraftwerke - ich nehme an, daß Sie die gemeint haben - wäre eine Null-Bilanz, dann sollten Sie einmal - das tut manchmal ganz gut - einen Blick in die Drucksachen dieses Hauses werfen. Dann werden Sie feststellen, daß es wunderbare Enquete-Kommissionen gab. Sie werden dann auch die Stelle finden, an der nachgewiesen wird, daß dies mitnichten der Fall ist; denn bei der Produktion fällt eine erhebliche Menge an CO2 an.
Darüber hinaus ist auch das energiesystematische Argument von zentraler Bedeutung, daß nämlich Atomenergiestromproduktion auf der Grundlage dieser großen Grundlastbrummer immer auch Energiewirtschaft mit Stromvergeudung, mit Energievergeudung bedeutet. Atomenergie bedeutet eine unglaublich hohe Kapitalinvestition pro Reaktorblock, die sich nur dann rentiert, wenn - theoretisch 365 Tage im Jahr - tatsächlich rund um die Uhr produziert wird. Es gibt aber auch Stillstandszeiten, Störfallzeiten und ähnliches mehr. Aber nur dann rentiert sich das.
Wenn Logik in der Bundesregierung einen Sinn macht, schließt dieses Kriterium demnach einen Durchbruch zur Energiesparwirtschaft aus. Darauf komme ich im weiteren Verlauf meines Beitrags aber gleich noch zu sprechen. Ich halte das schlichtweg für ein unsinniges Argument, und zwar auch vor dem Hintergrund der Tatsache, daß nicht nur die Klimaschutz-Kommission, sondern auch schon die in einer früheren Legislaturperiode vom Kollegen Schäfer geleitete Enquete-Kommission zur Bewertung der Atomenergiepolitik zu diesen Positionen gekommen ist.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wenn wir heute in einer Debatte des Jahrestages von
Tschernobyl gedenken, dann möchte ich, bevor wir hier über die Dinge so lockerflockig hinwegsprechen, daran erinnern, wie es damals war. Damals, genau zu dieser Zeit, fand eine Umweltministerkonferenz statt. Ich erinnere mich - das hatte nichts mit Parteipolitik zu tun - sehr gut an die Hilflosigkeit aller Kollegen, ob sie nun der CDU, der CSU, den GRÜNEN, der SPD oder der FDP angehörten; das ist völlig egal. Diese Hilflosigkeit war auch feststellbar bei dem Versuch, mit dieser Katastrophe administrativ umzugehen.
Meine Damen und Herren, wer von uns wußte denn schon, wo Tschernobyl liegt? Die Ukraine kannten wir nur aus Erzählungen von altvorderen Lehrern über Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie war weit, weit weg. Daß nun aber ein Atomunglück in der Ukraine, ein Super-GAU, für uns einmal Bedeutung haben könnte - von meiner Heimatstadt Frankfurt mehr als 1 000 km entfernt - , das hätte niemand für möglich gehalten. Dann war es aber soweit, und wir mußten feststellen, daß wir es mit Kontaminationen zu tun hatten.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den 1. Mai. Es war ein wunderbarer Tag. Alle Kinder waren draußen, auch die eigenen. Die Werte gingen kurzfristig wieder herunter, und dann wurde Süddeutschland voll von der Wolke getroffen. Die Frage war: Was tun? Das Ganze geschah 1 000 km entfernt. Als erstes haben wir damals eine Evakuierungszone mit einem Radius von 50 km um das Atomkraftwerk Biblis gezogen. Wenn man sich einmal vorstellt, was es bedeuten würde, wenn diese Technologie eines Tages schwer versagt, wenn die Menschen, die diese Technologie bedienen, versagen - ich werde Ihnen gleich noch das Beispiel aus Biblis vom 17. Dezember 1987 erläutern -, dann kann ich Ihnen nur sagen: Es ist grauenhaft. Wir sind auch nach der Vereinigung ein kleines, dicht besiedeltes, hochverdichtetes Land. Wenn es hier zu einem schweren Unfall kommen sollte, dann wird niemand von Ihnen die Verantwortung übernehmen können. Dann werden wir zu Formen eines Ausstiegs aus der Atomenergie kommen, die sozial alles andere als gerecht sein werden. Dann wird es ein Notausstieg von jetzt auf nachher werden.
Ich finde es sehr bedauerlich, daß die Bundesregierung offensichtlich glaubt, all diese Erfahrungen in ihrer Atompolitik hintanstellen zu können, und darauf vertraut, daß von Menschen geschaffene Technik niemals versagen kann.
({2})
Für mich war, um nur ein Beispiel zu nehmen, ein Artikel aus dem Lokalteil der „Frankfurter Rundschau" beeindruckend. Im Zusammenhang mit der Hilfe für die Sowjetunion hat Frankfurt eine Partnerschaft mit Kiew übernommen. Die Frankfurter Berufsfeuerwehr hat Teile der Transporte organisiert und durchgeführt. Am 4. Januar 1991 habe ich im Lokalteil der „Frankfurter Rundschau" unter der Überschrift „Feuerwehr hilft Kiew - Erschütterndes Erlebnis" folgenden Artikel gefunden, den ich kurz vorlesen will:
Den Branddirektor Werner Müller kann so
schnell nichts aus dem emotionalen GleichgeStaatsminister Joseph Fischer ({3})
wicht bringen. Doch als er unlängst in Kiew die Lebensmittelspende für die Berufsfeuerwehr der ukrainischen Hauptstadt verteilte, da hat der stellvertretende Chef in der Frankfurter Branddirektion wie ein kleines Kind geweint.
Und Feuerwehrleute sind kraft ihres Berufes weiß Gott einiges gewöhnt!
Vor ihm standen Männer mit kalkweißen Gesichtern und ausgefallenen Haaren, deren Körper seit mehr als dreieinhalb Jahren von radioaktiven Strahlen systematisch zerstört werden und deren Lebenserwartung auf gerade noch ein Jahr geschätzt wird. Es war eine Begegnung mit den Berufskollegen, die wenige Tage nach der Kernschmelze im Atomreaktor von Kiew nach Tschernobyl beordert und dort einer enormen Strahlendosis ausgesetzt waren.
Ich erspare mir die ganzen Schilderungen, auf die Rednerinnen und Redner vorher schon hingewiesen haben, Schilderungen über den Zustand der Region dort, flächendeckend, über die Verstrahlung von hunderttausenden von Menschen. Die Opferzahlen bewegen sich offiziell bei 34; inoffiziell spricht aber der wissenschaftliche Leiter in dieser Region von bis zu 10 000 direkten Todesopfern, ganz zu schweigen von dem, was noch kommt, ganz zu schweigen von den Kindern, denen die Erfahrung der Umwelt genommen wurde, denen die Kindheit und Jugend genommen wurde. Gott sei Dank ist es ja so, daß freie Initiativen, kommunale Träger und andere im Rahmen der Tschernobyl-Hilfe diese Kinder hierherholen. Aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein; das ist nicht wirkliche Hilfe; das kann es auch nicht sein.
Aus all diesen Gründen möchte ich daher noch einmal nachdrücklich an die Bundesregierung appellieren: Wenn Sie das mit dem Konsens ernst meinen, müssen Sie aber auch die Grundlagen eines neuen Energiekonsenses akzeptieren. Für uns gehört elementar dazu, die Konsequenzen aus Tschernobyl zu ziehen. Mit Atomenergie werden Sie in der Bundesrepublik Deutschland keinen neuen energiepolitischen Konsens bekommen.
({4})
Nun kommt die These von den kommunistischen Schrottreaktoren. Sie ist gar nicht falsch. Nur: Merkwürdigerweise wurden die Atomkraftgegnerinnen und -gegner beschimpft, wie sie immer beschimpft wurden und werden, als wenige Wochen vor Tschernobyl, im Jahre 1986, in einer Fachzeitschrift,
({5})
der „Atomwirtschaft" , eine Hymne auf den Sicherheitsstandard der sowjetischen Reaktortechnologie zu finden war; sie hätten dasselbe Niveau wie unsere schnuckeligen westdeutschen Atomreaktoren. Das war dort zu finden und zu lesen. Dann kam Tschernobyl. Daraufhin kam die These und die Erkenntnis von den kommunistischen Schrottreaktoren.
Nun höre ich hier vom Kollegen Baum die hochinteressante These, diese Reaktoren wären bei uns
niemals genehmigungsfähig. Habe ich Sie, Herr Kollege Baum, so verstanden, daß wir demnach den Maßstab „heutige Genehmigungsfähigkeit" als Bewertungsgrundlage für unsere Atomreaktoren nehmen dürfen? Wenn das so ist, Herr Kollege Baum, kann ich Ihnen eine Reihe von Beispielen von seit vielen Jahren im Betrieb befindlichen Atomreaktoren nennen. Nehmen Sie Biblis A und B. Sie brauchen heute bei der Kuppeldicke einen Auslegungswert von 180 bis 220 cm Stahlbeton. Biblis A hat eine Dicke von 60 cm, Biblis B eine solche von einem Meter. Herr Kollege Baum, über Jahre hinweg war Biblis auf Grund der wunderbaren Dampffahne und der Größe dieses Reaktorblocks zugleich Anflugsziel für übende Tiefflieger; das muß man noch hinzufügen.
Wenn wir Argumente brachten und fragten, warum sie nicht stillgelegt würden, wurde uns immer gesagt, es handele sich hierbei um Restrisiko, nicht wahr? Demnach ist das zu akzeptieren. Eine Nachrüstung ist in diesem Falle nicht durchzudrücken. Ich sage Ihnen: Sie müssen sich entscheiden. Was gilt nun? Gelten hohe Sicherheitsstandards, die heute Genehmigungsvoraussetzung sind? Dann werden Sie einen Gutteil der Altanlagen, der alten Atomreaktoren auch hier in Westdeutschland, unverzüglich vom Netz nehmen müssen.
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Andernfalls handelt es sich um einen schlechten Spruch, um Leuten Sand in die Augen zu streuen.
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Und nun weiter: Wir haben es, Herr Kollege Baum, bei Atomreaktoren mit einer Technologie zu tun, die von Menschen gefahren wird.
({8})
Da mache ich den Menschen erst einmal überhaupt keinen Vorwurf. Es sind der alte Adam und die alte Eva, die immer so mit Technologie umgehen.
Am 17. Dezember 1987, in der Vorweihnachtszeit, wurde in Biblis der Reaktor A wieder angefahren. Dabei blieb ein Ventil von zweien, die den Primärkreislauf an einem Rohr dicht halten, offen. Drei Tage lang haben sie es nicht gemerkt, obwohl die rote Lampe auf dem Steuerpult leuchtete. Als sie es gemerkt haben, wurde etwas gemacht, was selbst ein Befürworter, ja, gerade ein Befürworter der Atomenergie für einen der schlimmsten Vorgänge überhaupt halten muß. Anstatt den Reaktor, der unter enormen Drücken stand, herunterzufahren, wurde dieses Ventil angetippt, d. h. geöffnet.
({9})
Das heißt, damals wurde ein Herunterfahren - und damit auch entsprechende Nachfragen der Direktion, ein entsprechender Abfall bei der Stromproduktion und entsprechend ökonomische Nachteile - mutwillig verhindert, indem man den primären Kreislauf bei einem voll unter Druck stehenden Reaktor geöffnet hat.
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Staatsminister Joseph Fischer ({11})
- Aber Herr Kollege Baum! Es war das Prinzip des Antippens über ein Rückschlagventil!
({12})
- Ich sage gar nicht, daß ein Super-GAU bevorstand.
({13}) Ich schildere Ihnen erst einmal den Vorgang.
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- Ich schildere Ihnen nur den Vorgang. Der Vorgang war der, daß dann, wenn dieses Ventil offengeblieben wäre, der Primärkreislauf bei einem voll unter Druck stehenden Reaktor offen gewesen wäre. Damit wären wir möglicherweise auf dem Wege - ich sage nicht, daß es dann so weit gekommen wäre - zu einem sehr, sehr schweren Unfall gewesen. Denn die Öffnung des Primärkreislaufs respektive seine Dichtigkeit ist das A und O beim Druckwasserreaktor und der Sicherheitsphilosophie derer, die das begründen.
Das war damals möglich, hier in Deutschland.
({15})
Die Konsequenz, die daraus gezogen wurde, war, daß man RWE eine Störfallwarte abgeschwatzt hat, die sich bis auf den heutigen Tag irgendwo im Bereich des Versprechens und halber Konkretisierungen befindet.
Ich könnte Ihnen noch andere Beispiele nennen. Wer hätte den Hanauer Atommüllskandal für möglich gehalten, wo in einem hohen Maße -
Herr Minister, darf ich Sie kurz unterbrechen? - Sie sind in der Gefahr, hier eine allgemeine Debatte auszulösen.
({0})
Ich bitte Sie, Ihre Redezeit entsprechend einzurichten.
Staatsminister Joseph Fischer ({1}) : Ich komme gleich zum Ende. Aber ich finde, das Thema rentiert es wirklich, eine allgemeine Debatte zu führen. Denn wenn es hier um eine der zentralen Fragen der Zukunft, nämlich um den Energiekonsens, und gleichzeitig um die Risiken für unsere gesamte Bevölkerung geht, dann gestatten Sie mir noch zwei Minuten; dann will ich gerne zum Schluß kommen.
({2})
- Herr Kollege Baum, nun war ich hier auch schon Kollege und habe über den Sinn dieser grundgesetzlichen Regelung, die die GRÜNEN nicht zu verantworten haben, auch schon zähneknirschend nachgedacht. Ich würde mich freuen, Sie würden diese Frage einmal beim Kollegen Genscher oder beim Kollegen Beckmann oder bei wem auch immer stellen. Ich glaube, dann wäre sie sinnvoller angebracht, aber nicht bei mir. Das hält mich nur auf.
Meine Damen und Herren, einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen. Wenn jetzt versucht wird, Klimakatastrophe, Treibhauseffekt und CO2-Problem gegen die Frage der Atomenergie und der Radioaktivitätsproblematik zu setzen,
({3})
dann wäre es ungefähr so, als wenn man Menschen klarmachen wollte: Wir retten dich vor der Pest um den Preis, daß du die Cholera bekommst.
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Das kann doch allen Ernstes nicht die Alternative sein. Das ist sie auch nicht. Selbst bei Befürwortung der Atomenergie: Wenn Sie sich die drängenden Energieprobleme der Welt anschauen, werden Sie feststellen, daß uns nur der Durchbruch zu einer Energiesparwirtschaft weltweit helfen wird. Das werden nicht die Drittweltländer machen können, sondern das werden die reichen Industrieländer machen.
Jetzt erleben wir doch, wie die Bundesregierung eine einmalige Chance der Stunde Null in den neuen Bundesländern in dieser Frage sträflich vertut. Man glaubt gewissermaßen, die Menschen dort drüben würden alles, was aus dem Westen kommt, erst einmal begrüßen; deswegen schafft man die abgelegten Hüte, die man hier nicht mehr losbekommt, nach drüben. Deswegen glaubt man, man könne dort noch die Dinosauriertechnologie Atomenergie unterbringen. Welch ein sträfliches Vergeuden einer einmaligen Chance!
({5})
Statt dort auf ein hochmodernes, am Energiesparen orientiertes Energiesystem, auf eine Basisinnovation zu setzen, die dann auch Arbeitsplätze bringt,
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die dann diese neuen Bundesländer in 10 bis 15 Jahren zu einem moderneren Standort machen würde, als es der Westen ist, kommen Sie mit Ihren ollen Kamellen, nämlich dort drüben Atomkraftwerke hinzusetzen.
Modernisieren Sie die Wärmenetze! Drüben haben sie bei der Raumwärme einen Anteil von 22 % aus Fernwärme. Hier haben wir 6 %. Dieser Anteil bricht in der DDR rapide ab. Wenn das einmal kaputt ist - diese Erfahrung haben wir im Westen nach dem Krieg gemacht - , dann ist es endgültig kaputt.
({7})
Das ist eine grundsätzliche Systementscheidung. Deswegen kann ich Ihnen nun sagen: Die Alternative der Hessischen Landesregierung ist eine atomenergiefreie Alternative. Der Durchbruch zu einer Energiesparwirtschaft muß kurzfristig geleistet werden. Alles andere läuft auf die Frage „Pest oder Cholera" hinaus.
Deswegen, Herr Beckmann, teilen Sie Ihrem Minister mit, daß er, wenn er wirklich an einem Energiekonsens interessiert ist - ich finde, dieses Land braucht einen Energiekonsens -, alle einbeziehen muß.
Staatsminister Joseph Fischer ({8})
Kollege Baum hat völlig recht: Mit diesen ständigen Weisungen kann es nicht so weitergehen, respektive irgendwann wird es mit dieser Weiserei ein Ende haben. Ich darf Sie an Kalkar, Wackersdorf oder auch an Mülheim-Kärlich erinnern; da verbinde ich mit dem letzten Sonntag große Hoffnungen.
Sie werden bei den Ländern zunehmend auf eine grundsätzlich andere Energiepolitik stoßen.
({9})
Sie werden mit neuen Atomreaktoren nicht durchkommen. Es gibt in diesem Lande - parlamentarisch, außerparlamentarisch - eine Sperrminorität von Atomkraftgegnern, die gleichzeitig auf regenerative Energiealternativen und Energiesparwirtschaft setzen.
({10})
Diese Sperrminorität wird Sie daran hindern, einen Atomenergiekonsens neu zu zimmern.
Wenn Sie eine neue Energiepolitik wollen, dann appelliere ich an die Mehrheiten, an die Bundesregierung: Erkennen Sie endlich die Schrift an der Wand, die Ende April 1986 in Tschernobyl geschrieben wurde. Wir können das atomare Risiko nicht tragen. Wir haben es auch nicht nötig, es zu tragen. Die atomenergiefreien Alternativen sind da. Sie sind technisch machbar; sie sind finanzierbar. Es fehlt nur die politische Entscheidung und der Mut zu einem atomenergiefreien Energiekonsens, wie wir ihn uns vorstellen. Die Hessische Landesregierung wird ihre Energiepolitik an diesen Grundsätzen ausrichten.
Danke schön.
({11})
Meine Damen und Herren, nunmehr hat der Abgeordnete Dr. Harald Kahl das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem mein Vorredner den Versuch unternommen hat, die Aktuelle Stunde in eine Generaldebatte umzuwandeln, möchte wenigstens ich mich an die Modalitäten einer Aktuellen Stunde halten und mich auf die Redezeit von fünf Minuten beschränken.
({0})
Genau heute vor fünf Jahren ereignete sich mit dem Reaktorunglück in Tschernobyl eine Umwelttragödie bisher nie gekannten Ausmaßes, die uns alle zutiefst betroffen gemacht hat. 150 000 Bewohner mußten in den ersten Tagen nach dem Reaktorunfall evakuiert werden, und noch heute sind weite Teile der Region so stark belastet, daß erhebliche Einschränkungen im Leben der dortigen Bevölkerung die Folge sind. In den stärker betroffenen Gebieten wird Landwirtschaft auf absehbare Zeit nicht mehr möglich sein. Nicht überschaubar ist das Ausmaß der noch zu erwartenden gesundheitlichen Spätschäden in der Bevölkerung.
Das Unglück ist unser bester Lehrmeister und unser bester Freund, sagte einst Anatole France. Dieses Unglück hat uns alle, glaube ich, wie kein anderes Thema wachgerüttelt und sensibilisiert.
({1})
Der Informationsbedarf ist sehr groß; doch das damalige Verschweigen der Tatsachen und die noch heute spärliche Informationspolitik der sowjetischen Regierung tragen viel zur großen Verunsicherung der Bevölkerung bei und deuten diesbezüglich auf wenig Lernfähigkeit hin.
Dabei ist es weder hilfreich, die Probleme der Nutzung von Kernkraft zu bagatellisieren, noch, ein Horrorszenario an die Wand zu malen. Für die Betroffenen ist es ohne jeden Nutzen, und es ist zugleich unverantwortlich, wenn durch das Ausstreuen von Vermutungen und Halbwahrheiten Geschäfte mit der Angst gemacht werden und wenn folglich eine ohnehin desolate psychische Verfassung der betroffenen Menschen eher verschlechtert wird.
Ich meine, es kommt vielmehr darauf an, daß dieses so sensible Thema seriös, wissenschaftlich fundiert und frei von Emotionen diskutiert und aufgearbeitet wird. Ich wehre mich ganz entschieden dagegen, die schlimmen Ereignisse in Tschernobyl,
({2})
die aus einer dem Sozialismus anzulastenden Umwelt- und Sicherheitsschlamperei erwuchsen, in der Diskussion unreflektiert mit den Verhältnissen in der Bundesrepublik zu vergleichen.
({3})
Die Sicherheitsstandards bundesdeutscher Kernkraftwerke sind von ganz anderer Qualität. Es wäre wünschenswert, wenn sie sich europaweit durchsetzen könnten.
({4})
Welche gravierenden Folgen das Fehlen oder Nichtbeachten strenger Sicherheitsvorkehrungen nach sich zieht, zeigt sich sehr deutlich im Uranbergbaugebiet in meinem ostthüringischen Wahlkreis, das uns eine Fülle von Altlasten beschert hat. Daher begrüße ich ausdrücklich die Maßnahmen zur Sanierung der Region im Rahmen des von der Bundesregierung beschlossenen Programms zum ökologischen Aufbau der neuen Bundesländer. Als erste positive Beispiele dafür sind das Soforthilfeprogramm für die Stadt Schneeberg im Erzgebirge, das wesentlich zur Reduzierung der Strahlenbelastung durch Radongas beiträgt, und die Bereitstellung von mehr als 800 Millionen DM noch in diesem Jahr für weitere Sanierungsarbeiten in der Region, die bereits angelaufen sind, zu werten.
Aber wir sind es den Opfern von Tschernobyl schuldig, daß wir uns nicht allein auf unsere eigenen Probleme zurückziehen, sondern auch aktive Solidarität üben. Die Bundesregierung hat sich dieser moralischen Verpflichtung gestellt. So kommen 80 % der seit
Dezember 1990 in der Sowjetunion eingetroffenen Hilfsgüter, vornehmlich Nahrungsmittel, aus der Bundesrepublik. Einer Empfehlung der Strahlenschutzkommission folgend, werden in Kürze 14 Strahlenmeßfahrzeuge im Wert von 7,1 Millionen DM und entsprechende Meßteams in die Region um Tschernobyl entsandt. Sie sollen die teilweise antiquierten sowjetischen Meßmittel schrittweise abzulösen helfen. Hiermit, so glaube ich, kann ein wertvoller Beitrag zur Aufklärung der tatsächlichen Strahlenbelastung und zum Abbau der Strahlenphobie geleistet werden.
Meine Damen und Herren, der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit faßte gestern in einer gemeinsamen Entschließung fraktionsübergreifend den Beschluß, das Bundesministerium für Familie und Jugend zu bitten, für Ferienaufenthalte und zur ärztlichen Behandlung von Kindern aus der Region um Tschernobyl in der Bundesrepublik konkrete Vorschläge zu erarbeiten. Ich erachte das als ein sehr positives Beispiel dafür, daß zum Wohl der Betroffenen und vorrangig in der Sache unter Hintanstellung sonst vorhandener unterschiedlicher politischer Ansichten entschieden wird. Es zeigt sich aber heute deutlich, daß sich die SPD von dieser konstruktiven Linie offenbar wieder entfernt hat.
Danke.
({5})
Nun hat unsere Kollegin Ulrike Mehl das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mehr als 100 000 qkm in der Sowjetunion sind radioaktiv verseucht. Am stärksten betroffen vom Reaktorunfall in Tschernobyl ist Weißrußland, wo 70 % der Strahlenemission niedergingen. Diese Flächen sind nicht etwa ungenutzte Taiga, sondern vor allem Städte, Dörfer und hochwertige, dringend benötigte landwirtschaftliche Nutzfläche.
Schätzungsweise ein Viertel der Strahlenbelastung wird über die Nahrung aufgenommen. Dies wird angesichts der Lebensmittelsituation in der Sowjetunion wohl auch so bleiben. Neueste inoffizielle Messungen haben eine um das 3 000fache über dem Grenzwert liegende Belastung von Grundwasser in einer Entfernung von bis zu 700 km ergeben.
Mehr als 6 Millionen Menschen sind von dieser Katastrophe betroffen. Hauptleidtragende sind aber ca. 500 000 Kinder. In dem noch wachsenden und sich vervollkommnenden Organismus eines Kindes wirkt sich radioaktive Strahlung katastrophal aus. Das betrifft vor allem Strontium 90, das sich in Knochen ablagert, dort ein Leben lang strahlt und die blutbildenden Zellen zerstört. Die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, schätzt, daß erst in weiteren fünf bis sieben Jahren das wahre Ausmaß der Katastrophe zu erahnen sein wird. Dr. Gajle aus den USA rechnet mit 100 000 Toten. Bei 96 To der Kinder wurden psychische oder organisch bedingte Schäden festgestellt. Viele leiden unter Schilddrüsen-, Magen- und Darmgeschwüren und einem geschwächten Immunsystem, dem Tschernobyl-Aids.
Diese Menschen brauchen dringend Hilfe. Sie brauchen medizinisches Gerät, Schulungen für Ärzte, sie brauchen unbelastete Nahrungsmittel für Säuglinge und Kleinkinder sowie Ferienaufenthalte außerhalb verstrahlter Gebiete. Man geht davon aus, daß strahlenbelastete Kinder mindestens zwei Monate im Jahr in unbelastete Gebiete kommen müssen, um überhaupt die Chance eines längeren Lebens zu haben. Hierzu müssen wir, auch aus Gründen der Solidarität gegenüber leidenden Menschen, Hilfe leisten.
Ich möchte deshalb gerne wissen, was die Bundesregierung zu diesen Punkten beigetragen hat. Was ist von den bisher genannten Beträgen und Hilfen im Katastrophengebiet von Tschernobyl angekommen? Wo sind die konkreten Hilfsangebote und Maßnahmen für 1991? Oder bleibt es, wie man nachlesen kann, bei Versuchen? Die Betroffenen vor Ort haben davon nämlich noch nicht viel gemerkt. Wo ist die Erfolgskontrolle der Hilfsmaßnahmen? Immerhin liegen schon fünf Jahre der Katastrophe hinter uns. Oder ist das Ganze schon unter der Überschrift „hoffnungslos" abgeheftet worden?
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch einen Satz zum psychischen Moment bei Strahlenerkrankungen sagen. Zuweilen wird behauptet, die psychologische Belastung durch Angst vor Strahlenschäden sei maßgebliche Ursache dann erfolgter Erkrankungen. Ich schätze die Bedeutung der psychologischen Verfassung eines Menschen in bezug auf Krankheiten sehr hoch ein. Nur, in diesem Falle ist die Lage doch wohl eine andere. Wie sonst wären die häufigen Mißbildungen bei Kälbern oder anderen Tierarten zu erklären? Das gleiche gilt für die Pflanzenwelt. Das kann doch dort wohl keine psychologischen Ursachen haben.
({0})
Ich behaupte, gerade hier helfen nicht abschwächende Beruhigungsformeln, sondern nur glasklare Aufklärung über die Gefährlichkeit radioaktiver Strahlung und die von Kernkraftwerken.
({1})
Nur dies kann einen eigenen Handlungsspielraum der betroffenen Menschen ermöglichen und Angst nehmen. Das gilt natürlich nicht nur für die Sowjetunion.
Und noch eins: Ein Kollege der CSU stellte neulich fest: „Der Unfall ging unmittelbar auf menschliches Versagen zurück. " Und er zog daraus den folgenden Schluß: „Deshalb ist dieser Unfall kein genereller Beweis dafür, daß Atomenergie unbeherrschbar ist." Das ist eine bemerkenswerte Schlußfolgerung. Genau das Gegenteil ist der Fall.
({2})
Gerade weil Menschen nicht unfehlbar sind, weil sie eben irgendwann einmal Fehler machen, besteht die Möglichkeit, daß auch in Atomkraftwerken mit einem höheren Sicherheitsstandard katastrophale Unfälle geschehen können. Bei solch einem oder einem ähnlichen Unfall in unserer Region wären dann allerdings drei bis fünf Millionen Menschen sofort betroffen.
Man kann es aber auch wie Professor Jacobi, Mitglied der Strahlenschutzkommission des BMU, halten, der sagt: „Sterben müssen wir alle. Die Menschen, die durch radioaktive Strahlung den Krebstod erleiden, sterben dann wenigstens nicht an anderen Ursachen. " Den Menschen von Tschernobyl muß ein solcher Satz wie ein Exekutionsbefehl vorkommen. Das nenne ich nämlich menschenverachtend.
({3})
Ich meine, die Verantwortung gegenüber dem Risiko der Kerntechnologie kann kein Mensch tragen. Kernenergie ist die gefährlichste und außerdem auch noch teuerste Energiequelle der Welt. Der Schaden von Tschernobyl wird inzwischen auf 500 bis 600 Milliarden Dollar geschätzt. Das kann keiner mehr bezahlen.
Frau Kollegin Mehl!
Ich sage den Schlußsatz - Deshalb gehört in die Antwort auf die Frage zukünftiger Energieversorgung hinein: auf absehbare Zeit völliger Verzicht auf Kernenergie! Wenigstens diese Lehre müßten wir aus der Katastrophe gezogen haben, denn sonst sterben die Menschen in Tschernobyl umsonst.
({0})
Nächster Redner ist unser Kollege Jürgen Timm. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Atomunfall von Tschnerobyl am 26. April 1986 ist ganz sicher ein Ereignis, das nicht vergessen werden darf; denn bis heute sind die Folgen und Risiken dieses Unfalls noch nicht zu Ende; es geht weiter.
Ob wir - wenn ich „wir" sage, meine ich uns alle in Bund und Ländern als politisch Verantwortliche - aus diesem Vorfall für unsere Energiepolitik die richtigen Schlüsse gezogen haben, darf bezweifelt werden
({0})
- warten Sie mit Ihrem Beifall -; denn spätestens seit Tschernobyl steht sich unsere Politik in der Frage der Energieentwicklung selber im Wege nach dem Motto: Kopf in den Sand! Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen!
({1})
Es gibt fast keine Lösung, die nicht in Frage gestellt wird, ob bei der Standortfrage von Kraftwerksneubauten oder -ersatzbauten. Es gibt kaum eine Bereitschaft, Risikoentscheidungen nach sachlicher Abwägung zu treffen. Dabei wäre gerade diese Bereitschaft notwendig. Sie ist unumgänglich; denn egal, um welche Art von Kraftwerken es geht: Risikobehaftet sind sie alle, spätestens dann, wenn es um die Endlagerung der Abfälle und Abfallstoffe und deren hochgradige Verdichtung durch Mengenreduzierung geht nicht nur bei Kernenergie, auch bei jeder anderen Form der Energie.
Unsere Politik ist im Augenblick nicht fähig, dafür die notwendigen Genehmigungsverfahren zu bewerkstelligen: weder für den Bau von Anlagen noch für die Entsorgung. Alles wird emotional und ideologisch betrachtet. Fordert einer, wie unser Minister, im Fall Greifswald und Stendal einen Ersatzbau bei gleichzeitiger Reduzierung der effektiven Leistung auf die Hälfte, bei gleichzeitiger Erhöhung der absoluten Sicherheit und bei gleichzeitiger Erhöhung der Verfügbarkeit von Energie, dann wird er gegeißelt. Dabei will der Minister mit mehr Sicherheit, weniger Umweltbelastung und besserer Entsorgung in den neuen Bundesländern eine vernünftige Versorgung mit Energie sicherstellen.
Wir erlauben uns aber, wenn es um Kernenergie geht, den Luxus, unsere sichere Technik nicht einzusetzen, obwohl mittlerweile bekannt ist, daß es in den osteuropäischen Ländern noch 60 Kraftwerke des Tschernobyl-Typs gibt, die sich im Einsatz befinden; wahrscheinlich bis etwa 40 weitere sind im Neubau. Physikalische Unterschiede von Funktions- und Bauweisen, sowohl in Betrieb als auch in Sicherheit, werden ignoriert. Darauf kommt es aber an; der graphitmoderierte Reaktortyp von Tschernobyl ist bei uns im Jahr 1951 in der Entwicklungsphase herausgeflogen, weil er nicht sicher zu bekommen war.
Was soll denn geschehen, wenn in absehbarer Zeit weitere unserer Kernkraftwerke außer Betrieb genommen werden müssen? Wie werden wir sie ersetzen? Durch Braunkohlekraftwerke? Durch Steinkohlekraftwerke mit heimischer oder Importkohle?
({2})
Wir haben bis zu dem Zeitpunkt mit Sicherheit keine einzige großtechnisch funktionierende Anlage regenerativer Energieformen. Die Experten sagen dafür 25 bis 50 Jahre voraus. Wenn wir also mit einer vernünftigen Energieversorgung weitermachen wollen, dann gilt auch bei uns in der FDP die Tatsache, daß wir Kernenergie nur als eine Übergangsenergie bezeichnen. Zu dieser Tatsache gehört auch: Ein notwendiger Ersatzbau darf, zumindest in der Diskussion, nicht von vorneherein tabuisiert werden. Die Tabuzonen, die wir gleichzeitig aufbauen, lassen selbst die Erwartungen, die wir haben - in Sachen Umweltbelastung voranzukommen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren -, schon in der Diskussion nicht mehr real erscheinen..
Wir müssen heute erkennen, daß Kernenergie noch weiter zu nutzen ist; gerade Schweden hat diese Entscheidung erst kürzlich getroffen. Auch wenn wir in der Bundesrepublik in Zukunft unter Ausschöpfung aller möglichen Energieeinsparungspotentiale, z. B. der Verbesserung der Wirkungsgrade fossiler Energieträger, das Gesamtpotential an Energienutzung verringern könnten, müssen wir jetzt eine für die Zukunft richtige Entscheidung treffen.
Wie es darüber hinaus in Europa aussieht, ist völlig offen. Weltweit laufen wir der Entwicklung hinterher. Es werden sämtliche Energien fossiler Art verbraucht. Auch die Biomasse, unsere großen Wälder, werden zunehmend als Energieressource aufgefressen. Wir haben keine Lösung, dies zu verhindern.
Im Augenblick ist bei uns, meine ich, nach drei Elementen zu entscheiden:
Erstens. Die Endlichkeit unserer fossilen Energieträger zwingt uns, sie unseren nachfolgenden Generationen für eine wertvollere Nutzung zu erhalten. Kernenergie darf nicht tabuisiert werden. Die Entwicklung regenerativer Energien und der Einstieg in regenerative Energieformen ist forciert voranzutreiben.
Zweitens. Unsere gemeinsamen Ziele zum Klima-und Umweltschutz dürfen nicht durch konterkarierende Entscheidungen blockiert werden, wenn wir das hochgesteckte Ziel, CO2-Verminderung bis zum Jahre 2005, erreichen wollen. Wir müssen bereit sein, Risikoentscheidungen zu treffen.
Drittens. Unsere Entscheidungen müssen auch berücksichtigen, was wir als hochindustrialisierte Nation der übrigen Welt schuldig sind, wenn es um wissenschaftliche, technische und tatsächliche Hilfen bei der Zukunft der Energieversorgung geht, wenn wir Überlebenschancen behalten wollen.
Meine Fraktion begrüßt die Vorschläge unseres Wirtschaftsministers. Ich fordere Sie alle auf, Ihrer Verantwortung jetzt gerecht zu werden. Ich bitte alle Verantwortlichen in Bund, Ländern und Parteien, den Weg zu einem Konsens in der zukünftigen Energiepolitik freizumachen und auch freizuhalten.
Danke schön.
({3})
Ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Reinhard Weis.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor zwei Tagen hatte ich Besuch von einer Schulklasse aus Klietz im Havelland. Die Eltern von 7 der 22 Schülerinnen und Schülern sind derzeit ohne Arbeit. Leider ist das kein Einzelfall; wir wissen das. Die Bundesregierung reagiert auf diese dramatische Situation gerade in dieser Region ziemlich ungewöhnlich. Laut erklärte sie, daß sie den Bau neuer Kernkraftwerke - und eines davon in Stendal unweit von Klietz - befürworte, und ihre Lokalmatadoren verkünden, dies sei der Weg zu Arbeit, Brot und Wohlstand.
Meine Damen und Herren, was hier vor sich geht, gleicht einem Erpressungsversuch:
({0})
Atomkraft oder Arbeitslosigkeit, Pest oder Cholera, wie Herr Fischer schon sagte.
({1})
- Der Vergleich ist auch hier angebracht.
Das einzig Tröstliche daran ist, daß dieser Zusammenhang keiner halbwegs seriösen Nachprüfung standhält. Meine Mitbürger lehnen es ab, die neuen Länder als nukleare Entwicklungsländer zu betrachten.
({2})
- Das stimmt; das belegen Umfragen.
Ein Kernkraftwerk löst keineswegs die Arbeitsplatzprobleme in unserer Region. Im Betrieb benötigt ein solches Kernkraftwerk höchstens 300 bis 400 Personen - und die frühestens in 6 bis 10 Jahren, die bis zur Inbetriebnahme erforderlich sind. Für den Bau ist aus der Region kaum mit einem spürbaren Arbeitskräftebedarf zu rechnen, da hier vermutlich Fachleute der Errichterfirmen tätig werden.
Auf der Negativliste aber bedeutet jedes Kernkraftwerk einen entscheidenden Standortnachteil für die Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte, wie sie in den Regionen um den geplanten Kraftwerksstandort im Havelland und in der Altmark beheimatet sind und für die mittelfristig gute Absatzchancen bestehen.
Eine weitere Kostenquelle kommt hinzu. Was sich in Tschernobyl auf Grund des gewaltigen Ausmaßes der Katastrophe nicht verheimlichen ließ, ist ein Problem aller Kernkraftwerksruinen, auch derjenigen von Greifswald. Bevor dort überhaupt mit dem Bau eines neuen Kraftwerks begonnen werden kann, müssen die Altlasten beseitigt werden.
Abgesehen von der ungelösten Frage der Endlagerung des radioaktiv verseuchten Mülls fragen wir die Bundesregierung, ob es stimmt, daß diese Maßnahmen Kosten in Milliardenhöhe verursachen. Und wer soll die bezahlen? Die Atom- und Energieversorgungsunternehmen sind dazu nicht bereit. Bleibt wieder nur der Steuerzahler. Keine Frage, diese Ruinen müssen verschwinden!
({3})
Wir Sozialdemokraten sind durchaus bereit, mit der Bundesregierung gemeinsam eine Lösung für dieses Problem zu finden. Voraussetzung wäre allerdings, daß die Bundesregierung eine klare Wende in ihrer Energiepolitik einleitet.
({4})
Jedes Kernkraftwerk, auch das nach einer letztlich doch nicht überzeugenden Sicherheitsphilosophie erbaute, wird eher über kurz als über lang zwangsläufig zur gefährlichen Atomruine. Ein erster deutlicher Schritt der Einsicht wäre der längst überfällige und atomrechtlich gebotene Entzug der Betriebsgenehmigung für die stillgelegten Atomreaktoren in Greifswald.
({5})
Schließlich muß noch ein weiterer Punkt genannt werden: Atomkraftwerke zählten in der DDR zur Vorzeigeindustrie, für die jeder Preis gezahlt wurde.
({6})
Das war eine Politik, die man aus der UdSSR übernommen hatte und deren Hybris in Tschernobyl dramatisch scheiterte. Eine solche Katastrophe blieb uns bisher erspart. Doch an dem Entzug des Volksvermögens zugunsten derart unsinniger Großprojekte tragen wir bis heute.
({7})
Reinhard Weis ({8})
Leider scheint die Bundesregierung sehr bestrebt zu sein, diese Tradition fortzusetzen.
({9})
Wir wären der Bundesregierung sehr dankbar, wenn sie den Steuerzahlern endlich eine saubere Kosten-Nutzen-Analyse von Kernkraftwerken vorlegen und die ökonomisch gebotenen Konsequenzen daraus ziehen würde. Wir brauchen keine neuen Atomkraftwerke. flexible und umweltfreundliche Klein- und Mittelstrukturen, die für den Bedarf und nicht für den Überschuß produzieren, sind notwendig. Leistungsfähige kommunale Unternehmen werden das in den nächsten Jahren, z. B. auch in Stendal, vorführen.
Als Kraftwerksingenieur, der in Greifswald und Stendal gearbeitet hat, weiß ich, wovon ich rede. Ich übte meinen Beruf gerne aus. Aber als vor fünf Jahren als erste von vielen Tausenden meine Kollegen im Kernkraftwerk Tschernobyl für eine falsche Politik mit dem Leben bezahlten, wurde mir klar, daß diese Vorstellungen von der wunderbaren und sauberen Kernenergie falsch waren.
({10})
Viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben das ebenfalls erkannt. 30 % der ehemaligen Befürworter der Kernenergienutzung stehen dieser heute ablehnend gegenüber. Insgesamt dreiviertel aller Menschen in Deutschland wollen keine neuen Kernkraftwerke. In den neuen Bundesländern lehnen 68 % neue Kernkraftwerke ab.
({11})
- Das sind neue Zahlen.
Ich fordere also zu nichts anderem auf als dazu, die Meinung des Volkes zu respektieren und die Pläne für den Ausbau der Kernenergie zum Altpapier zu legen.
({12})
Nächster Redner ist unser Kollege Erich Fritz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ordnung in dieser Debatte ist ja etwas verschoben worden. Es ist schwer, nach dem langen Beitrag von Joschka Fischer noch von einer gleichgewichtigen Debatte zu sprechen. Es gäbe vieles, was darauf geantwortet werden müßte. Das kann in diesem Rahmen aber nicht getan werden.
Herr Schäfer, Sie haben in perfider Weise
({0})
mit der Bezeichnung der Aktuellen Stunde etwas fortgesetzt, was Ihre Partei landauf, landab immer wieder macht.
({1})
- Ich glaube nicht, daß das auf Dauer glaubwürdig sein wird. Sie haben hier nämlich menschliche Schicksale und die fürchterlichen Folgen einer Katastrophe in einer Art und Weise mit der Diskussion über die Energiepolitik in unserem Lande verbunden,
({2})
die einfach nicht richtig sein kann. Sie streuen hier Sand, und Sie vernebeln.
({3})
Sie sorgen dafür, daß genau daß, was dringend nötig ist, nicht zustande kommen wird, nämlich eine breite, offene, allen Fragen aufgeschlossene Diskussion über den neuen Konsens in der Energiepolitik.
({4})
Sie stehlen sich damit aus der Verantwortung für das, was wir in der Zukunft leisten müssen, und überlassen die schwierigen Aufgaben anderen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen jetzt eine Diskussion, die sich von dieser Art der Auseinandersetzung in den letzten Jahren abhebt.
Natürlich haben Sie eine ganze Menge richtiger Fragen gestellt; das gilt auch für den Herrn Minister. Aber diese kann man doch nicht mit der Bedingung, die Sie ständig stellen, verbinden, nämlich daß ein Gespräch nur dann stattfinden kann, wenn ein Thema von vornherein ausgeschaltet wird. Dieses Gespräch ist eben keine Plattform mehr für eine wirkliche Auseinandersetzung um einen energiepolitischen Konsens.
({5})
Die Auseinandersetzung wird an einer anderen Linie verlaufen, als Sie denken.
Schauen Sie sich doch bei Ihren Genossen in Schweden um, und schauen Sie sich bei ehemaligen Atomkraftgegnern in Amerika um. Dann werden Sie feststellen, daß die Diskussion dort anders verläuft
({6})
und daß natürlich neue Anforderungen auch im Umweltschutz sehr genau damit in Einklang zu bringen sind. Nicht alles, was Joschka Fischer gesagt hat, ist haltbar.
Sagen Sie doch den Bürgern auch, daß wir hier nicht nur über die Gefährlichkeit von Kernkraft, sondern auch darüber reden müssen, daß wir um unser Land herum, in der engeren und in der weiteren Nachbarschaft etwas tun müssen, daß wir dort eine Partnerschaft für die Energieversorgung wie auch für die
Sicherheit zustande bringen müssen und daß wir in den europäischen Nachbarländern vor der Alternative stehen, entweder vernünftig nachzurüsten und nach deutschem Sicherheitsstandard gebaute Kernkraftwerke zu haben oder solche nach sowjetischem Muster. Diese Alternative sollten Sie den Menschen einmal klar machen.
({7})
- Das können Sie ja leider nicht trennen. Es ist gerade ausführlich dargestellt worden, daß es in unserem Zeitalter diese Begrenzung in der Energiepolitik nicht mehr gibt.
Meine Damen und Herren, der Wirtschaftsminister hat angekündigt, daß er im Herbst ein energiepolitisches Gesamtkonzept vorlegen wird.
({8})
Diese Konzept muß kommen; aber es muß von einer breiten Basis getragen werden. Die Einladung zum Gespräch an Sie
({9})
ist da. Wenn Sie sie auf die Art und Weise, wie Sie es heute tun, ablehnen, dann wird daraus nichts werden; dann verhindern Sie das.
({10})
Dann sind Sie verantwortlich, und irgendwann können Sie den Schwarzen Peter nicht mehr hin- und herschieben.
({11})
Diese Forderung nach einem Gesamtkonzept ist seit langem erhoben worden. Dieses Gesamtkonzept wird es nur dann geben, wenn Sie wirklich in der Lage sind, sich von einigen Parteitagsbeschlüssen, in deren babylonischer Gefangenschaft Sie sich offensichtlich befinden, zu befreien und die Worte des IGBE-Vorsitzenden aufzunehmen, der Kernkraft nicht nur aus Gründen der Energiesicherheit, sondern auch mit Blick auf den Einsatz heimischer Steinkohle für unverzichtbar hält.
Diesen Zusammenhang haben Sie hier noch gar nicht beachtet; Sie tun so, als ob es diese alte Formel nicht mehr gäbe. Es wird sie auch nur geben, wenn darüber hinaus - und dafür ist der IGBE-Vorsitzende - die Frage, ob denn an einem der beiden genannten Standorte gebaut werden muß oder nicht, zumindest in einer offenen Analyse behandelt wird.
Dazu laden wir Sie herzlich ein.
({12})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß einmal etwas zur Geschäftslage sagen.
Nach unserer Geschäftsordnung ist es so: Wenn ein Mitglied der Bundesregierung die Redezeit von 10 Minuten überschreitet, kann jede der hier anwesenden Fraktionen beantragen, daß sofort die allgemeine Aussprache eröffnet wird. So steht das in unseren Richtlinien.
Nun haben wir folgende Situation: Von der Bundesregierung hat bisher Herr Staatssekretär Klaus Beckmann gesprochen, und nun wird als nächster Redner Herr Staatssekretär Bernd Schmidbauer sprechen. Er hätte nur noch 3 Minuten Zeit. Würde er diese Zeit überschreiten, dann verlängert sich nach der Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde um eine weitere halbe Stunde. So ist die Geschäftslage.
Ich mache noch eine Bemerkung: Ich habe nicht das Recht, die Redezeit eines Landesministers, eines Bundesministers oder eines Parlamentarischen Staatssekretärs hier einzuschränken. Herr Kollege Schmidbauer, Sie können demnach so lange reden, wie Sie wollen. Ich habe nur auf alle Folgen, die sich aus der Geschäftsordnung ergeben, aufmerksam zu machen.
Wir können das Problem dadurch lösen - denn ich nehme an, daß der Herr Staatssekretär mehr als drei Minuten braucht, um hier die Auffassung der Bundesregierung darzulegen - , daß es zur Aktuellen Stunde keine Wortmeldungen mehr gibt.
Die andere Möglichkeit wäre, daß wir mit einer Zweidrittelmehrheit von der Geschäftsordnung abweichen würden.
Das ist die Geschäftslage, in der wir uns jetzt befinden.
Nun erteile ich das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Bernd Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, Herr Präsident, wie ich zu der Ehre komme, daß Sie sich so intensiv mit mir auseianndersetzen müssen.
Ich sehe es dem Kollegen Fischer nach und bitte, Herr Präsident, die Zeit jetzt einen Augenblick anzuhalten, da er, weil er sich neu einarbeitet, einen wesentlich längeren Anlauf braucht, als das früher hier der Fall war. Wir haben uns überhaupt nicht beschwert. Die Bundesregierung wird jetzt natürlich Stellung beziehen, wir werden uns natürlich überlegen, wie wir hier im einzelnen reagieren. Aber das wird von uns nicht als tragisch bewertet.
Herr Präsident, ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß ich die Redezeit eines Kollegen mitbenutzte und somit als Parlamentarier zusätzliche Zeit hätte, damit Sie aus dem Problem herauskomen und wir dann keine Schwierigkeiten haben. Ich bitte darum, die Geschäftsordnung hier so zu interpretieren.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Erwartungsgemäß versucht die Opposition die theoretische Frage des Baus neuer Kernkraftwerke mit dem fünften Jahrestag des Reaktorunglücks von Tschernobyl zu verknüpfen. Ich denke, daß wir in dieser Aktuellen Stunde beiden Themen nicht gerecht werden können.
Herr Kollege Schäfer, bei Ihnen schien es mir, als ob Sie beim Angriff auf die Bundesregierung weit über das Ziel hinausgeschossen sind. Sie müßten es an sich
besser wissen. Gerade Sie müßten besser wissen, wie Minister Töpfer sich in den vergangenen Jahren sehr sensibel und aktiv darum bemüht hat, ein Ziel zu erreichen, nämlich die Entwicklung einer Sicherheits- und Verantwortungspartnerschaft in der Welt, was die Sicherheitstechnologie bei Kernkraftwerken angeht.
({0})
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns - auch bei der Aufarbeitung der Folgen von Tschernobyl - nicht gegenseitig die Sensibilität und die Ernsthaftigkeit absprechen. Es war schlimm genug. Wenn ich daran denke, daß wir nun von der Diagnose zur Therapie übergegangen sind, dann will ich darauf hinweisen, daß es eine konzertierte Aktion der westlichen Staaten, die die Kernenergie nutzen und die sich zu einer kernenergiepolitischen Zusammenarbeit, zu einer die Sicherheit in Fragen der Kernenergie umfassenden Zusammenarbeit mit den Staaten Mittel- und Osteuropas entschlossen haben, gegeben hat.
Es kommt jetzt darauf an, Hilfe zu technischen Nachrüstungsmaßnahmen in diesem Bereich, Hilfe durch Schulung bzw. Entsendung von Betriebspersonal, notfalls auch Hilfe durch Stromsubstitution im Falle der Stillegung von Anlagen und in Nachrüstungsphasen zu leisten. Die Staatengemeinschaft hat - ich zitiere daß, was Klaus Töpfer heute morgen gesagt hat - , wir selbst haben „ein vitales Interesse, daß kein zweites Tschernobyl eintritt".
Meine Damen und Herren, die Tatsache, daß auf Veranlassung des Bundesumweltministers in der ehemaligen DDR in Betrieb befindliche Kernkraftwerke sowjetischer Bauart - wenn auch anderen Typs als der verunglückte RBMK-Reaktor - vom Netz genommen worden sind, belebt unsere strikte Position in Fragen der kerntechnischen Sicherheit. Es wird bei dieser Technologie keinen Rabatt in Sicherheitsfragen geben.
({1})
Deshalb ist absurd, was hier teilweise vorgetragen wurde. Es ist eine Phantomdebatte. Während andere über ihre Ausstiegsphilosophien reden, Beschlüsse fassen, auf der Basis welcher Zeitachse auch immer, hat die Bundesregierung im Interesse der Bürger, im Interesse der Sicherheit gehandelt. Wenn die Einheit nicht gekommen wäre, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, würden diese Reaktoren weiterbetrieben.
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Wir können uns hier lange theoretisch über diese Fragen unterhalten.
Nun zu der derzeit hypothetischen Frage des Baus neuer Kernkraftwerke. Dies hat eine genehmigungsrechtliche und, wie Sie wissen, Herr Kollege Schäfer, eine energie- und umweltpolitische Seite.
Zunächst zur genehmigungsrechtlichen Ebene: Wenn ein atomrechtlicher Genehmigungsantrag gestellt wird, hat die zuständige Landesbehörde diesen Antrag nach Recht und Gesetz zu prüfen und zu bescheiden. Sie wird dabei, wie das Grundgesetz es vorsieht, vom Bundesumweltminister als Bundesaufsicht begleitet.
Dabei ist zu prüfen, ob das vorgelegte Konzept dem heutigen Stand der Technik entspricht. Es ist weiter zu prüfen, ob der vom Antragsteller gegebenenfalls beantragte Ablauf der Genehmigungsschritte verfahrensrechtlich zulässig ist. Es ist ferner das sogennante Bescheidungsinteresse zu prüfen, also die Frage, ob überhaupt ein ernsthafter Wille des Antragstellers besteht, die Anlage wirklich zu errichten. All dies wird geprüft; all dies muß dann, wenn entsprechende Anträge gestellt werden, geprüft werden.
Nun zur umwelt- und energiepolitischen Seite: Es ist gemeinsame Auffassung der Koalitionspartner, daß die Kernenergie, deren Einsatz wir auf unserem hohen Sicherheitsniveau für vertretbar halten, auch weiterhin einen substantiellen Beitrag zur Stromerzeugung leisten muß, solange andere vergleichbar versorgungssichere, umweltfreundliche und preisgünstige Energieträger nicht zur Verfügung stehen. Dabei will ich insbesondere betonen, daß die Ausschöpfung aller Energieeinsparmöglichkeiten und die Anstrengungen zum Einsatz neuer Energien ein zentraler Legitimationsfaktor für die weitere Nutzung fossiler und nuklearer Energieträger sind.
Wir haben in den alten Bundesländern einen Energiemix; wir sollten ihn auch unter Einschluß der neuen Bundesländer erhalten. Monostrukturen führen auf Dauer in die Sackgasse. Das ist der Rahmen.
Wie sich die Energieversorgungsunternehmen entscheiden, läßt diesen Rahmen unberührt. Das ist deren Entscheidung, die ihnen die Politik nicht abnehmen kann und will.
({3})
- Hören Sie zu! - Eine Ausfallbürgschaft der Politik kann und wird es nicht geben.
An der Frage des Baus neuer Kernkraftwerke hat sich die Frage des energiepolitischen Konsenses aktualisiert, und, Herr Kollege Schäfer, dies ist gut so. In einer so zentralen Angelegenheit den Konsens mit der Opposition zu suchen, ist Aufgabe der Regierung. Es ist ein normaler Vorgang, überhaupt nichts Sensationelles.
Sie sollten dies nicht mißverstehen. Konsens mit der Opposition in grundlegenden Fragen ist eine wünschenswerte, aber nicht notwendige Voraussetzung für das Handeln einer Regierung.
({4})
Wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition versuchen würden, ihr Verhalten realistisch zu hinterfragen, würden ihnen bei ihren Positionen Widersprüche auffallen. Ich will fünf Punkte nennen.
Erstens. Ihr Zehn-Jahres-Ausstiegsbeschluß ist völlig unrealistisch und weder sozial- noch umweltverträglich.
({5})
Sie werden ihn aufgeben müssen, je näher das Ausstiegsdatum 1996 kommt.
Zweitens. Die Entsorgungsblockade führt zu längerer oberirdischer Zwischenlagerung. Das ist unter Strahlenschutz- und Umweltverträglichkeitsgesichtspunkten ein Minus gegenüber der Endlagerung in tiefen geologischen Formationen.
({6})
Sie werden diese Position nicht durchhalten können.
Drittens. Sie können nicht die direkte Endlagerung zu Ihrem Ziel erheben und gleichzeitig die Pilotkonditionierungsanlage, mit der gerade das ermöglicht werden soll, blockieren.
Viertens. Sie können nicht hierzulande den Ausstieg aus der Kernenergie fordern und sich gleichzeitig auf die Lieferung von Ersatzstrom aus den Kernkraftwerken Frankreichs verlassen.
({7})
Fünftens. Sie können nicht den Ausstieg aus der Kernenergie bei uns und damit aus der entsprechenden Sicherheitstechnik fordern und gleichzeitig einen Beitrag zur sicherheitstechnischen Verbesserung der Kernkraftwerke Mittel- und Osteuropas wollen, von denen Sie genau wissen, daß Sie nicht von heute auf morgen abgeschaltet werden. Der Ausstieg wäre zugleich der Ausstieg aus der internationalen Mitsprache und Mitwirkung bei der Verbesserung der Sicherheit von über 400 Kernkraftwerken, die weltweit in Betrieb sind.
Ihre energiepolitischen Vorstellungen - das möchte ich Ihnen sagen - beschränken sich bedauerlicherweise auf enges nationales Denken. Ihre Wunschvorstellung, andere würden dem Ausstiegsbeispiel folgen, ist irreal. Nationale Energiepolitik ist heute nur im europäischen Rahmen denkbar. Erforderlich ist es, hier einen Konsens zwischen nationaler und europäischer Energiepolitik herzustellen.
Wir sind dazu bereit. Die Opposition würde gut daran tun, sich an diesem energiepolitischen Konsens zu beteiligen.
Herzlichen Dank.
({8})
Ich kann dem Haus mitteilen, daß in der soeben vom Kollegen Becker geschilderten schwierigen Geschäftsordnungsfrage eine übereinstimmende Lösung gefunden worden ist. Der Herr Abgeordnete Schütz wird sprechen. Der Herr Abgeordnete Seesing wird sprechen. In Abweichung von unserer Geschäftsordnung werden wir die Rede des Herrrn Abgeordneten Dr. Friedrich zu Protokoll nehmen * ). Somit ist die allgemeine Zustimmung zum Verfahren wiederhergestellt.
Herr Abgeordneter Schütz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will zu Beginn auf das Thema Konsens eingehen. Herr Schmidbauer, Sie können
*) Anlage 2
doch nicht sagen, bei der entscheidenden Frage der Gefährlichkeit von Atomenergie bedeute Konsens, daß wir zu Kreuze kriechen und in das Atomgeschäft wieder einsteigen sollen. Das kann für uns nicht Konsens bedeuten.
({0})
Ich erinnere daran, daß Sie noch vor ein, zwei Jahren von der Atomenergie als Übergangsenergie gesprochen haben, Herr Schmidbauer, und zwar in der Enquete-Kommission und in den Ausschüssen.
Wir hören jetzt etwas ganz anderes. Herr Harries hat schon ein anderes Szenario geschildert. Wir sind völlig verunsichert, was Sie eigentlich wollen. Sie reden von einem theoretischen Zubau. Herr Harries hat aufgezeigt, daß wir weitermachen müssen. Herr Riesenhuber redet davon, daß die Atomenergie unverzichtbar sei. Das hören wir auch aus anderem Munde. Sie selber antworten auf die aktuelle Frage zum möglichen Ausbau der Kernenergie, die wir jüngst gestellt haben, daß die Kernenergie weiterhin einen substantiellen Beitrag zur Stromerzeugung leisten muß und deshalb auch der Bau neuer Kernkraftwerke in Betracht gezogen werden muß.
({1})
Das ist die Haltung der Bundesregierung.
Wir wissen überhaupt nicht mehr, woran wir sind. Sie sind konzeptionslos.
({2})
Sie können den Konsens nicht bei der Frage fordern, bei der wir zu Kreuze kriechen sollen.
Von Ihnen wird die Kernenergie zur entscheidenden Energiesäule bei der Stromerzeugung ausgebaut. Wir werden bei der Stromerzeugung bald einen Kernenergieanteil von etwa 40 % haben. Die Frage bleibt, ob die Atomwirtschaft überhaupt eine substantielle Lehre aus der Katastrophe in Tschernobyl gezogen hat. Ist seit der Katastrophe von Tschernobyl die Sicherheit der Kernkraftwerke erhöht worden, und sind zusätzliche substantielle Schutzmaßnahmen gegen Unfälle bei uns getroffen worden?
Die Antwort ist negativ. Ich kann nicht erkennen, daß nur ein einziges westdeutsches Kernkraftwerk umfassend nachgerüstet worden ist.
({3})
Das Ergebnis der Risikostudie B hat das Vertrauen der Nuklearexperten widerlegt, was die Sicherheit z. B. der Containments betrifft. Bei einer Kernschmelze ist entgegen früheren Ansichten ein Bersten innerhalb weniger Stunden nicht mehr auszuschließen. Bisher ging man von etwa einer Woche aus.
Praktische Konsequenzen haben weder die Bundesregierung noch die Energiewirtschaft aus diesen Erkenntnissen gezogen. Würgassen z. B. müßte ein neues Containment haben. Und wenn wir - Herr Baum ist schon weggegangen ({4})
auf die heutige Genehmigungssituation eingehen, müssen wir feststellen: Einige Kernkraftwerke könnten nicht mehr stehen bleiben. Herr Fischer hat darauf hingewiesen.
({5})
Würgassen könnte nicht mehr stehen bleiben, Stade könnte nicht mehr stehen bleiben, Biblis A könnte nicht mehr stehen bleiben.
({6})
- Wenn Sie das wollen, fangen Sie damit an, Herr Baum. Meine Zustimmung haben Sie an der Stelle.
Auch in der Bewertung der Strahlenschutzbestimmungen, insbesondere der Neubewertung der Gefahr der Niedrigstrahlung, verharren Sie immer noch in Ihren Grabenpositionen.
Daß die medizinischen, sozialen und ethnischen Folgen von Tschernobyl in schamloser Weise verharmlost werden, hat Frau Nehl vorhin schon dargestellt. Ich will aber noch eine Stimme zitieren, die dieses Rollenspiel der Verharmlosung ganz aktuell verdeutlicht. Die Europäische Kernenergiegesellschaft
- European Nuclear Society - veröffentlichte jüngst folgenden Satz:
Die objektive Analyse des Tschernobyl-Problems ist in hohem Maße belastet durch politische, wirtschaftliche und sogar ethnische Faktoren, die zu notorisch unfundierten und manchmal falschen Veröffentlichungen in den Massenmedien führen. Dies endet in Massenangst.
Dies ist die Analyse von Tschernobyl.
({7})
- Weil das die Verantwortung der Atomindustrie und nicht die von NRW ist.
({8})
- Herr Baum, weil sich die Atomindustrie auf den Bestandsschutz der Genehmigungen beruft und wir kein anderes Instrumentarium zur Hand haben.
({9})
- Meine Damen und Herren, ich muß abkürzen. Ich bin durch Ihre Zwischenrufe mit meiner Redezeit schon auf Null gekommen.
Tschernobyl ist nicht ein Problem der Sowjets, Tschernobyl ist auch für uns ein Problem. Bei unseren Standards, sagen Sie immer, sei das alles undenkbar. Ich sage Ihnen: Nichts ist undenkbar. Vergessen wir nicht, daß auch die Franzosen noch Kraftwerke mit offenen Containments haben. Vergessen wir nicht, daß es in der Regel bei ernsthaften Meldungen der Kernkraftwerke nicht Defekte in der Anlage, sondern
- darauf hat Fischer hingewiesen - fast jedesmal Probleme beim Verhältnis von Mensch und Maschine
gab. Biblis war ein Versehen der Leute und kein Versagen der Maschine.
({10})
Die Lehren aus Tschernobyl, können nur sein, den europäischen Konsens in der Weise herzustellen, daß tatsächlich auf Kernenergie verzichtet wird.
({11})
Dies kann geschehen bei gleichzeitiger Begrenzung der Verbrennung der fossilen Stoffe durch sofortige Aktivierung der weltweiten Sparpotentiale. Zusätzlich müssen die Forschung, insbesondere die Solarforschung, sowie die Entwicklung und Markteinführung alternativer Energien intensiviert werden.
({12})
Auf dieser Basis wäre der energiepolitische Konsens sofort möglich.
Ich danke Ihnen.
({13})
Als letzten Redner rufe ich den Abgeordneten Seesing auf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte am Schluß dieser Debatte noch einmal auf das Unglück im Reaktor Tschernobyl zu sprechen kommen. Es war wahrscheinlich die größte Katastrophe, die die Technik bisher erlebt hat. Unabhängig von der Frage, ob es nicht anderswo mehr Tote und Verletzte bei einem Unglück oder Unfall gegeben hat, darf sich ein solches Ereignis nie wiederholen; denn das Heimtückische daran ist ja, daß man nur wenig sieht, nur wenig fühlt und die Auswirkungen fahre- oder vielleicht jahrzehntelang die Menschen vor allem im näheren und weiten Umfeld bedrohen.
Ich bedaure es außerordentlich, daß für die von der Katastrophe besonders betroffenen Menschen nicht alles, was möglich ist, geschehen kann, weil Ideologie und politische Hybris dem entgegenstehen. Ich habe den Eindruck, daß wir gut daran tun, die Bundesregierung darin zu bestärken, intensiv mit den zuständigen Behörden in der Ukraine, in Weißrußland und der Sowjetunion insgesamt über die Verhinderung weiterer Schäden für die Menschen und die Umwelt zu sprechen.
Durch Nachdenken und die nachfolgende Anwendung aller Techniken, die bereitstehen, muß es möglich sein, eine befürchtete Katastrophe wie in Tschernobyl zu verhindern. Wir sollten der Sowjetunion alle Hilfen, auch finanzielle, anbieten.
({0})
Nun hat es die SPD-Fraktion für richtig gehalten, diese entsetzliche Fehlnutzung einer wichtigen Energieform mit der Energieversorgung unserer östlichen
Bundesländer in einen Zusammenhang zu bringen. Das hat mich traurig und zornig gestimmt.
({1})
Ich habe lange darüber nachgedacht, mit welchem Wort man ein solches Verhalten richtig trifft. Meinen Ärger habe ich durch das Aufschreiben einer langen Reihe von einschlägigen Begriffen abgebaut. Ich mußte feststellen: Keiner dürfte parlamentarisch und gar gegen Kolleginnen und Kollegen anwendbar sein. Also lasse ich sie ungesagt.
Aber ich fordere dafür auch etwas ein: Erstens fordere ich, im Hinblick auf die Energieversorgung in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen zu einem Energiefrieden zu kommen. Dieses Wort, das Eberhard Wild geprägt hat, hat mir so gut gefallen, daß ich es in die Debatte einführen möchte.
({2})
Man braucht dann nicht unbedingt einen Konsens zu haben, sondern kann einfach Frieden schließen. Eine Energieversorgung, die umweltzerstörend gewirkt hat und Menschen krank macht, kann nicht das Ziel von Politik gegen die Kernkraft sein.
Ich erkläre nachdrücklich, daß es nicht Aufgabe des Bundes ist, die richtigen Kraftwerke zu planen und zu bauen. Das müssen die Energieversorgungsunternehmen leisten. Wenn sie Kernkraftwerke planen sollten, dann muß das Verfahren
({3})
nach Recht und Gesetz ablaufen. Wenn sie das aber nicht tun - wovon ich ausgehe - , dann muß man fragen, wie der Anteil der Braunkohle an der Stromerzeugung im Osten Deutschlands den Menschen und der Umwelt zuliebe von bisher 85 % auf unter 50
reduziert werden kann.
({4})
Zweitens. Ich fordere den Energiefrieden auch, um Klarheit darüber zu erlangen, wie sich eine europäische Energiepolitik entfalten kann.
({5})
Da die Stellung der Kernenergie weltweit nicht schwächer, sondern ständig stärker wird, muß geklärt werden, welche Sicherheitsphilosophie wir dabei verwirklicht sehen möchten. Nur nach Europa zu schauen ist arg wenig. Wer über den Ausstieg aus der Kernenergie nachdenkt, muß auch Rußland, Osteuropa, Indien, Korea, Indonesien, China, Japan und jetzt auch wieder die USA betrachten.
({6})
Da geht die Diskussion in eine ganz andere Richtung.
Ich will nicht verschweigen, daß mir die amerikanischen Umweltverbände mit ihrer Forderung nach einer neuen Kernenergiepolitik sehr sympathisch werden; denn sie fordern - wenn ich es richtig verstanden habe - nichts anderes als einen Kugelbettreaktor, dessen Bau bei uns allerdings nicht nur wegen der Politik, sondern auch aus großunternehmerischen Gründen gescheitert ist.
Der Mensch braucht Energie, um leben zu können. Die Erzeugung von Energie ist also nicht nur ein wirtschaftliches oder soziales, sondern auch ein ethisches Problem. Ich empfehle keine schnellen Antworten und kein lautes Schreien. Ich empfehle Nachdenken, ganz intensives Nachdenken.
Danke sehr.
({7})
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich habe einige amtliche Mitteilungen zu verlesen:
Aus den beiden Gesetzentwürfen zum Haushaltsbegleitgesetz 1991 auf den Drucksachen 12/221 und 12/401, die dem Haushaltsausschuß zur federführenden Beratung überwiesen worden sind, sollen die Art. 5 und 6 gesondert dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zur federführenden Beratung und dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist. - Ich kann das als beschlossen feststellen.
Des weiteren habe ich Ihnen bekanntzugeben, daß sich der Ältestenrat darauf verständigt hat, daß die nächste Fragestunde bereits am Dienstag, dem 14. Mai 1991, in Berlin stattfinden soll. Deshalb und wegen eines vorausgehenden Feiertags - am 9. Mai ist Christi Himmelfahrt - ist es notwendig, die Frist für die Einreichung der Fragen auf Mittwoch, den 8. Mai 1991, 11 Uhr, zu verkürzen. Ergeben sich gegen dieses Verfahren Bedenken? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Wir können das so handhaben.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD, FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/ DIE GRÜNEN zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre"
- Drucksache 12/419 Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde vor. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden.
Ich kann die Debatte eröffnen und erteile dem Abgeordneten Klinkert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der letzte der drei Berichte der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" der 11. Wahlperiode zum Schutz der Erde war wohl einer der umfangreichsten Berichte, den eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages bisher vorgelegt hat. Trotzdem konnten nicht alle Aspekte des Treibhauseffekts und der damit verbundenen Klimaänderung berücksichtigt werden; zu umfassend und vielschichtig ist dieser ThemenbeUlrich Klinkert
reich. Insbesondere die Situation in den neuen Bundesländern konnte bei der Abfassung des Berichts nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden.
Die sich für die nationale Strategie ergebenden Fragen sind für das vereinte Deutschland im einzelnen zu untersuchen und aufzuarbeiten. Vor allem im Hinblick auf die unsichere Datenlage ist eine aktuelle Bestandsaufnahme und deren Einbeziehung in die Gesamtkonzeption der Enquete-Kommission zur Reduzierung der CO2-Emission notwendig. Allerdings enthält der Bericht in einem Zusatzvotum der Koalitionsfraktionen bereits Gedanken zur Ausdehnung der Reduktionsstrategien auf das Gebiet der neuen Bundesländer. Darüber hinaus enthält das Votum den Versuch einer Abschätzung zur Entwicklung des Energieverbrauchs und der CO2-Emission in den neuen Bundesländern bis zum Jahre 2005.
Die Enquete-Kommission in der vorigen Wahlperiode hat der Energieeinsparung sowie dem Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien Priorität im nationalen Reduktionsplan eingeräumt. Diese Grundsätze sind prinzipiell auf das Gebiet der neuen Bundesländer übertragbar. Gerade im Bereich der Haushalte und Kleinverbraucher sind die Möglichkeiten, Energie zu sparen, noch längst nicht ausgeschöpft. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Wärmeverbrauch in den Haushalten und in Gewerbe und Industrie zu.
Abgesehen von preislichen Maßnahmen kann der Energieverbrauch der Haushalte und Kleinverbraucher deutlich reduziert werden durch Installierung bisher weitgehend fehlender Wärmedämmung, durch bessere Regulierung der Heizung, insbesondere bei mit Fernwärme beheizten Wohnungen, durch verbesserte Wasseraufbereitung und durch den Einsatz energiesparender Haushaltsgeräte.
Welche Einsparmöglichkeiten hier noch bestehen, zeigt sich darin, daß ein Haushalt in der ehemaligen DDR zur Zeit noch immer drei- bis viermal mehr Energie als ein Haushalt in der Alt-Bundesrepublik verbraucht. Dies ist jedoch nicht auf fehlendes Umweltbewußtsein der Bürger in den neuen Bundesländern zurückzuführen, sondern auf die begrenzten Möglichkeiten und Stimulierungen, die die sozialistische Planwirtschaft diesen Bürgern eingeräumt hatte.
Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir auch mit äußerst schwierigen Fragen, vor allem im Bereich der Kohlepolitik, konfrontiert werden. Zwar gehört die Energiepolitik nicht zum Aufgabenbereich der Enquete-Kommission, aber die Ergebnisse dieser Enquete-Kommission werden die Energiepolitik nachhaltig beeinflussen. So wird sich die Frage stellen, in welchem Ausmaß Steinkohlenbergbau und Braunkohlenbergbau im gesamten Bundesgebiet weiterbetrieben werden sollen.
({0})
Um die von der Enquete-Kommission geforderte Reduktion der CO2-Emission zum Jahre 2005 um mindestens 30 % erreichen zu können, wird es nötig sein, die Förderung der Kohle deutlich zu vermindern. Die neue Kommission wird um die umweltpolitische Beantwortung dieser Frage nicht herumkommen. Die
Antwort auf die Reduzierung der CO2-Emission kann aber natürlich nicht darin bestehen, daß die bisherige Förderung im alten Bundesgebiet beibehalten und in den neuen Ländern gegen Null gefahren wird.
Die Wirtschaft im geeinten Deutschland verfügt nur über begrenzte Ressourcen zur Finanzierung von Umweltschutzinvestitionen. Da wird es günstiger sein, diese Investitionen vor allem schwerpunktmäßig in den neuen Ländern einzusetzen, weil die direkten Auswirkungen auf die Umwelt auf Grund des desolaten Zustands der alten Anlagen in den neuen Bundesländern bei entsprechendem Einsatz von finanziellen Mitteln insgesamt für die Umwelt höher sein wird.
Bereits die dargestellten offenen Fragen, die einen Teilausschnitt des Aufgabengebietes darstellen, machen deutlich, wie notwendig die Einsetzung dieser Enquete-Kommission ist. Hinzu kommen die globalen Auswirkungen, die wir in unserem wiedervereinigten Deutschland nicht vergessen dürfen.
Die Bedeutung der mit dem Treibhauseffekt verbundenen Fragen verbietet es, das Thema wahltaktischem Kalkül zu unterwerfen und zum Spielball polemischer Auseinandersetzungen zu machen. Es ist daher der Enquete-Kommission zu wünschen, daß sie mit den in ihr vertretenen Fraktionen und Gruppen fruchtbar zusammenarbeitet, wie es bei der Enquete-Kommission in der vorigen Wahlperiode unter Leitung von Bernd Schmidbauer der Fall war, die damit nationale und internationale Anerkennung gefunden hat. Ein ermutigendes Zeichen hierfür sehe ich in der Tatsache, daß sich die SPD-Fraktion und Bündnis 90/ GRÜNE dem von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Antrag auf Einsetzung dieser Kommission angeschlossen haben.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile dem Abgeordneten Müller ({0}) das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Vokabel „angeschlossen" finde ich ein bißchen peinlich.
Auch die SPD begrüßt natürlich die Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission, weil wir hier eine Chance haben, ein sehr wichtiges Thema in der dafür angebrachten systematischen und detaillierten Form zu behandeln. Ich will hier nicht auf die Einzelaspekte, sondern auf den politischen Rahmen eingehen.
Die mögliche und bald auf uns zukommende Veränderung der Klimazonen ist eine Herausforderung an die Menschheit insgesamt. Es ist sozusagen eine Menschheitsherausforderung. Wir kommen einfach nicht an der Tatsache vorbei, daß die Art und Weise, wie wir seit der industriellen Revolution unsere Wirtschaftsprozesse organisiert haben, immer mehr zu einem Experiment mit der Zerbrechlichkeit der Erde wird und daß bei einer Klimakatastrophe auch das Existierende selber in Frage gestellt wird.
Der entscheidende Punkt bei dieser Klimaproblematik ist das damit verbundene unglaubliche Be1558
Michael Müller ({0})
schleunigungssyndrom bzw. die ungeheure Ungleichheit in der Verteilung von Lebenschancen. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen.
Wenn man die Energienachfrage von 1900 bis heute nachvollzieht, stellt man fest, daß sie heute etwa 80mal größer als um die Jahrhundertwende ist und daß vier Fünftel dieses Wachstums auf die Zeit nach 1950 entfallen. Daran wird klar: Wir leben in einer Gesellschaft, wo der Naturverbrauch nicht langsam steigt, sondern sozusagen exponentiell explodiert. Das geschieht in einer Situation, wo die Welt mehr als gespalten ist, wo nämlich drei Viertel der Menschheit erst vor der industriellen Entwicklung leben. Hinzu kommt, daß sich für die Mehrheit der Menschen in den Entwicklungsländern in den letzten zehn Jahren die sozialen und wirtschaftlichen Daten weiter verschlechtert haben. Ich will nur ein Beispiel nennen: Nach der Veröffentlichung des World Watch Institute leben mehr als 1,2 Milliarden Menschen unter dem von den Vereinten Nationen genannten Existenzminimum; in vielen Ländern Afrikas sinkt die Lebenserwartung; durchschnittlich 40 000 Kinder sterben pro Tag an Hunger und Unterernährung. Mit andern Worten: Nur um diesen Ländern zu helfen, brauchen wir auf jeden Fall mehr Energie und Rohstoffe.
Nach der Bestandsaufnahme der Ist-Situation sind wir bereits an der Grenze der ökologischen Belastbarkeit angelangt. Das macht die ungeheure Zuspitzung der Problematik aus: daß wir, wie der Bericht sagt, heute schon die Klimabedingungen dreimal schneller verändern, als es zu verantworten ist, aber drei Viertel der Menschheit erst vor der industriellen Entwicklung stehen. Hier wird die ungeheure Herausforderung, die wir in diesen Fragen haben, deutlich.
Man kann es auch anders sagen, nämlich so, wie es im Bericht steht: Wenn der heutige Trend im Rohstoffund Energieverbrauch anhält, werden wir vom Beginn der industriellen Revolution bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts die klimatischen Bedingungen auf der Erde in einer Bandbreite verändern, die den Veränderungen der letzten 18 000 Jahre, also seit der letzten großen Eiszeit, entspricht. Die Dramatik besteht also sowohl in der Größe der Veränderung als auch, was vielleicht noch schlimmer ist, in der ungeheuren Geschwindigkeit der Veränderung.
Man muß wissen, daß eine Klimaveränderung nicht nur etwas mehr Wärme, also eine Erhöhung der Temperaturen, bedeutet. Sie bedeutet vielmehr beispielsweise zugleich eine Veränderung der Windgeschwindigkeiten, also daß beispielsweise in bestimmten Bereichen die Stürme zunehmen, während in anderen der Wind ausfällt. Sie bedeutet beispielsweise auch eine Umverteilung der Niederschläge. So werden vor allem Regionen, die heute schon unter Trockenheit leiden, noch sehr viel mehr in Dürrezonen verwandelt werden. Und sie bedeutet möglicherweise auch eine Veränderung der Meeresströmungen. Dieses Gesamtsystem muß man begreifen. Das ist es, was ich sozusagen als das globale Experiment mit dem Existierenden bezeichne.
Wir wissen aber auch, daß das Treibhausjahrhundert nicht von selbst quasi naturgesetzlich kommt, sondern daß es im Gegenteil die Mißachtung der Naturgesetze ist, die uns in diese Problemlage hineingebracht hat. Mit anderen Worten: Die Abwendung einer Klimakatastrophe ist nicht eine Frage der Umwelt, sondern eine Frage der Organisation von Gesellschaften und damit letztlich der Politik. Wir müssen dies begreifen. Es geht nicht um Teilkorrekturen, sondern es geht darum, wie wir die Zukunftsfähigkeit unseres Lebensstils und unserer Wirtschaftsweisen erreichen. Das ist die Herausforderung. Es geht nicht nur um die Beachtung einiger weniger Naturgesetze. Es geht um sehr viel mehr. Es geht um die Frage der Zukunftsfähigkeit der Menschheitsgesellschaft.
({1})
Genau zu diesem Punkt stelle ich zu Beginn dieser Diskussion fünf Thesen auf.
Die erste These ist: Die Klimaveränderung ist keine Frage von Fehlentwicklungen nur innerhalb der industriellen Zivilisation, sondern eine Frage der Fehlentwicklung der industriellen Zivilisation selber.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. In der Konsequenz wird man die Probleme nur dann lösen, wenn man versucht, die Gesellschaft insgesamt und nicht nur Teilbereiche ökologisch verträglich zu gestalten. Den Begriff „ökologisch verträglich" definiere ich in diesem Zusammenhang in der Weise, daß ich ihn auf die Solidarität sowohl mit den Mitmenschen als auch mit der Mitwelt beziehe. Soziale Solidarität und ökologische Solidarität müssen in einer solchen Strategie zusammengeführt werden; denn sonst hat sie keine Chance.
Heute sind es die Industrieländer - das ist der zweite Punkt meiner ersten These -, die auf Kosten der Zukunft leben. Wir kommen nicht daran vorbei, daß wir, wenn der heutige Lebensstil und die heutigen Wirtschaftsweisen in den Industrieländern allgemeiner Standard der Welt wären, den ökologischen Kollaps sehr schnell erreichen würden. Wir kommen nicht daran vorbei, daß es die industrialisierte Welt mit einem Viertel der Menschheit ist, die diese problematische Situation herbeigeführt hat. Um es mit einigen Zahlen zu verdeutlichen: Rund 80 % der Kohlendioxidemissionen entstammen von weniger als einem Viertel der Menschheit.
These 2: Wollen wir eine Klimakatastrophe verhindern, dann müssen wir schon jetzt handeln. Wir müssen handeln, bevor die Auswirkungen voll sichtbar sind; denn wenn die Auswirkungen erst einmal sichtbar werden, dann können wir nicht mehr handeln. Um es anders zu sagen: Durch den Wärmepuffer der Ozeane erfahren klimatische Veränderungen eine Verzögerung von 30 bis 40 Jahren. Das, was heute schon an klimatischen Veränderungen sichtbar ist, entspricht also in etwa der Chemie und der Dynamik der Atmosphäre der 50er Jahre. Die Anreicherungsprozesse, die danach stattgefunden haben, werden sich erst in Zukunft voll auswirken. Wir müssen unser Denken dahin ändern, daß wir die möglichen Bedrohungen in unser heutiges Handeln einbeziehen. Heute betreiben wir in der Regel erst dann Politik, wenn wir von Veränderungen betroffen sind. In diesem Punkt können wir uns das nicht leisten.
These 3: Nur wenige Länder verfügen über die Möglichkeiten, eine Klimakatastrophe zu verhindern. Es sind die wenigen hochindustrialisierten reichen
Michael Müller ({2})
Länder. Die Entwicklungsländer haben schon auf Grund ihrer sozialen Situation überhaupt keine Chance, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Natürlich müssen aber auch die Entwicklungsländer viel unternehmen. Brasilien etwa muß die Vernichtung der Primärwälder stoppen. Die entscheidenden Voraussetzungen müssen jedoch in den Industrieländern geschaffen werden. Wenn der sozialökologische Umbau in den Industrieländern nicht klappt, werden wir und vor allem die Dritte Welt keine Chance haben.
These 4: Jede Strategie zum Schutz des Klimas ist mit tiefgreifenden Eingriffen verbunden. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten eine Klimaschutzpolitik zum Nulltarif erreichen. Unabhängig davon, welche Politik wir im einzelnen verfolgen, brauchen wir einen neuen Stil in der Politik, weil die Herausforderungen, die wir an die Gesellschaft stellen, so gewaltig sind, daß wir ihnen mit der traditionellen Polarisierung nicht gerecht werden können. Die gegenteilige Ansicht ist eine Illusion. Wir brauchen ein breiteres Verständnis, ohne unsere Meinungsunterschiede hinsichtlich dessen, was notwendig ist, zu verkleistern.
These 5: Die Gewinnung von Zukunftsfähigkeit verlangt von der Politik eine Verbindung von Nahethik und Fernethik. In unserer bisherigen Politik haben wir keine Fernethik. Wir haben bestenfalls - aber auch das nicht immer - eine Nahethik, also eine Ethik für das, was heute existiert. Wir brauchen aber eine Ethik auch für unsere Kinder, Kindeskinder etc. Diese Ethik muß heute Bestandteil der alltäglichen Politik werden.
Ich könnte dies jetzt auch im Zusammenhang mit der Problematik der Atomkraft verdeutlichen. Ich möchte hier aber nicht mehr über die Risiken der Atomkraft sprechen, sondern nur noch einige kurze Schlußbemerkungen zu den klimapolitischen Herausforderungen im Zusammenhang mit der Energiepolitik machen.
Es kommt nicht von ungefähr, daß alle Strategien, die auch auf einen massiven Ausbau der Atomenergie setzen, trotzdem zu einer ungeheueren Steigerung der Kohlendioxidemissionen gelangen. Das liegt daran, daß sie in einer angebotsorientierten Struktur bleiben, die in sich effizient ist und - wie Studien belegen - bestenfalls 20 % bis 30 % der Einsparpotentiale mobilisieren kann. Wer eine Klimaschutzpolitik betreibt, der muß von den großen zentralisierten und angebotsorientierten Energiestrukturen weg zu einer dezentralen nachfrageorientierten Energieversorgung kommen, also zu dem, was wir unter „Energiedienstleistung" verstehen.
Alles andere mobilisiert nicht den notwendigen Schwung für die Energieeinsparung und für die Reduktion der Kohlendioxidemissionen. Das klassiche Beispiel ist das Szenarium der Weltenergiekonferenz von 1986. Es sieht eine Verzwölffachung - ich sage noch einmal: eine Verzwölffachung! - der Produktion der Atomenergie vor und kommt trotzdem zu einer mehr als Verdoppelung der Kohlendioxidemissionen bis zum Jahre 2040. Das ist typisch; das liegt in der inneren Logik dieser Energiepolitik.
Ich sage es noch einmal: Wir stehen vor Herausforderungen, die so gewaltig sind, daß wir in der Tat die Fähigkeit haben müssen, solche Prozesse offen und vor allem in ihrer ganzen Tragweite zu erkennen; denn sonst versagen wir angesichts dieser Herausforderungen an die Menschheit.
({3})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Sehn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An der Schwelle zum 21. Jahrhundert stehen wir vor einer der größten Herausforderungen in der Geschichte der Menschheit. Wir stehen vor der Gefahr, durch hemmungslose Inanspruchnahme der Ressource Umwelt unsere eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören.
Viele Gefahren, die Plünderung des Planeten Erde durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe, die alarmierende Vernichtung der Wälder, die Ausbreitung der Wüsten und nicht zuletzt meine Damen und Herren, die Belastung von Böden, Luft und Gewässern mit Schadstoffen, bedrohen das Überleben auf unserer Erde.
Nunmehr steht die Frage an, ob auch in dieser Legislaturperiode eine Kommission eingesetzt werden soll, die sich mit den drohenden Folgen der Klimaveränderungen beschäftigt. Hierfür gibt es gewichtige Gründe, die der Bundestag beachten sollte. Die auf Antrag der Koalition im Jahre 1987 eingesetzte Enquete-Kommission zum Schutz der Erdatmosphäre hat erfolgreiche Arbeit geleistet, die, weit über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinausreichend, anerkannt werden. Dieses Thema hat wahrlich globale Dimensionen und verlangt nach einer Fortsetzung der Enquete-Kommission.
Umweltbelastungen stellen die Politiker vor immer größere Probleme. Die FDP hält es daher für unumgänglich, daß die Kommission ihre Arbeit in dieser Legislaturperiode fortsetzt.
Ein wichtiger Schwerpunkt der Kommission ist dabei der Bereich Klima und Energie. Umsetzungsstrategien, insbesondere in den Energiesektoren, müssen national und international weiterentwickelt werden. Die Probleme sind bekannt, aber, wie wir alle wissen, meine Damen und Herren, bei weitem nicht gelöst. Seit Beginn der Industrialisierung steigt der Anteil am Kohlendioxid in der Lufthülle der Erde ständig an. 90 % des Weltenergiebedarfs werden heute aus fossilen Energiequellen gedeckt. Das ist, mit Verlaub, eine gigantische Verschwendung nicht erneuerbarer Naturschätze, und zwar durch uns, die Industriestaaten.
Doch nicht nur hierin liegt das Problem, sondern auch darin, daß mit dieser Art der Energieversorgung eine hohe Luftbelastung einhergeht. Das beginnt schon beim einfachen Bürger, der mit seinem Auto fährt oder der seine Wohnung heizt, und reicht bis zur Industrieanlage. Die Emissionen aus Hausfeuerung und Großfeuerung, aus Autoabgasen und Verbrennungsmotoren summieren sich in gewaltiger Höhe. Im Wege des Ordnungsrechts, insbesondere durch die
TA-Luft und durch die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, konnte hier einiges verbessert werden, allerdings nur in nationaler, nicht aber in internationaler Hinsicht. Dies zeigt der Bericht der Enquete-Kommission aus der 11. Wahlperiode deutlich.
80 % des CO2 werden von den Industriestaaten freigesetzt. Bedenkt man dies, so zeigt sich, daß alle Industriestaaten erheblichen Handlungsbedarf im Energiebereich haben.
Noch sind wir von einer internationalen Klimaschutzstrategie, die eine sachgerechte Antwort auf das Klimaproblem darstellt, weit entfernt. Die Bundesregierung hat sich in den Koalitionsvereinbarungen ein ehrgeiziges Programm gesetzt. Hierzu zählt u. a. die Reduzierung der CO2-Emissionen um 25 bis 30 % bis zum Jahre 2005. Darüber hinaus soll der CO2- Ausstoß durch eine restverschmutzungsabhängige CO2-Abgabe belastet werden, wobei gesetzlich vorgeschrieben wird, das Aufkommen für Maßnahmen des Umweltschutzes, insbesondere des Klimaschutzes, zu verwenden. Dabei ist in jedem Jahr nachzuweisen, daß die Aufwendungen des Bundes für Maßnahmen, die dem Umwelt- bzw. Klimaschutz dienen, mindestens so groß sind wie das Aufkommen der Abgabe.
Die Kleinfeuerungsanlagen-Verordnung muß an den Stand der Technik angepaßt werden.
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Die Entwicklung erneuerbarer Energien unter besonderer Berücksichtigung von Wind- und Solarenergie ist stärker zu fördern, und zwar nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Länderebene und in der EG.
Eine wesentliche Bedeutung bei der Reduzierung von CO2 hat die künftige Verkehrspolitik. Wir brauchen hier unter anderem eine europaweite Durchsetzung der international strengsten Abgas- und Lärmgrenzwerte für Lkw, des weiteren eine progressive Verminderung der Emissionen aus dem Pkw unter besonderer Berücksichtigung der Senkung der Partikelemissionen bei Dieselfahrzeugen. Hier ist das System der Besteuerung des Autoverkehrs neu zu gestalten durch die Einführung einer Abgassteuer. Eine derartige Abgassteuer, meine Damen und Herren, kann einen dynamischen Prozeß zur Verminderung des Verbrauchs der Autoabgase einleiten und infolge einer stärkeren Spreizung und Einbeziehung von CO2 wichtige Signale hin zu einem umweltfreundlicheren Auto setzen. Allein ordnungsrechtliche Maßnahmen können jedoch den Zweck nicht erfüllen. Mit Verboten kann man nur bedingt vernünftiges Handeln der Bürger bewirken.
({1})
Die FDP fordert deshalb darüber hinaus marktwirtschaftliche Instrumente zur Reduzierung des Treibhausgases CO2. Die verschmutzungsabhängige CO2- Abgabe als marktwirtschaftliches Lenkungsinstrument muß dabei national und in Form einer Klimaschutzsteuer EG-weit eingeführt werden. Abgaben mit umweltpolitischer Zielsetzung müssen so ausgestaltet sein, daß sie durch umweltgerechteres Verhalten zurückgeführt oder vermieden werden können. Mit Lenkungsabgaben oder Restverschmutzungsabgaben setzt der Staat einen Preis für die Belastung der Umwelt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ende meiner Ausführungen kommen. Der Klimaschutz ist eines der wichtigsten Aufgabenfelder in der Umweltpolitik geworden. Er erfordert national und international koordinierende Maßnahmen. Die Maßnahmen der Bundesrepublik Deutschland spielen dabei im Hinblick auf das CO2-Emissions-Reduzierungspotential, das in den neuen Ländern besteht, eine wichtige Rolle. Die gewaltige Luftverschmutzung in den neuen Bundesländern auf Grund der von der ehemaligen DDR betriebenen menschen- und umweltverachtenden Politik ist durch schnell wirkende Sanierungsmaßnahmen zu beheben. Die eingeleiteten und vorgesehenen Maßnahmen des Bundes zur Verbesserung der Energie- und Umweltsituation in den neuen Bundesländern sind zu begrüßen und auch im Hinblick auf die Vorbildfunktion international unverzichtbar.
Meine Damen und Herren, ich denke, der Boden zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" ist bereitet. Auf dieser Grundlage sollten wir debattieren, und wir sollten zu einer Zeit, die Lösungen für Zukunftsaufgaben erfordert, ein Gremium aufrechterhalten, das sich hier als leistungsfähig erwiesen hat. Ganz besonders freue ich mich darüber, daß wir über alle Fraktionen diesem Antrag zustimmen werden.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Nun hat das Wort der Abgeordnete Dr. Feige.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße das Zustandekommen eines gemeinsamen Papiers und daß nicht, wie es noch im Herbst der Fall war, drei Bleichlautende Anträge vorliegen. Auch die Papiereinsparung ist ja ein kleiner Beitrag.
({0})
Niemand bezweifelt heute ernsthaft, daß die bereits erfolgte Erhöhung der Durchschnittstemperatur und die weitere Erwärmung von bis zu 4 Grad bis zum Anfang des kommenden Jahrtausends maßgeblich durch menschliche Aktivitäten hervorgerufen werden. Unbestritten ist auch, daß diese Temperaturerhöhung erhebliche Auswirkungen auf das globale Klima haben wird. Differenzen hierzu gibt es lediglich bei der Beurteilung dieser Auswirkungen. Ich habe vorhin in dem Beitrag von Herrn Schmidbauer gehört, daß es nur zwischen vertretbar oder nicht vertretbar geht.
Die Berichte der Enquete-Kommission der vergangenen Legislaturperiode zählen zu den beeindrukkendsten Dokumenten, die der Deutsche Bundestag bisher hervorgebracht hat. Ich weiß, sie gehören nicht nur bei den aktiven Umweltschützern im Osten zu den am meisten gelesenen Dokumenten. Ich weiß auch,
daß einige sie ganz besonders dem Staatsvertrag zum Beispiel vorziehen.
Die Erdatmosphäre ist aber nicht nur durch den Treibhauseffekt akut gefährdet, sondern auch durch die tägliche Freisetzung von Radioaktivität, die leider in den bisherigen Berichten eher verniedlicht wurde. Wir erleben heute, daß die Atomenergie stattdessen als trügerische Illusion einer Lösung des Problems durch das Problem selbst angesehen wird. Die peinlichen Äußerungen einiger Regierungsmitglieder in der vergangenen Woche - ich denke an die Herren Möllemann und Riesenhuber - sprechen für sich.
Ursache für die Erwärmung der Erdatmosphäre ist vor allem der maßlose Energieverbrauch der Industrienationen, der einerseits unseren bisherigen Wohlstand und Konsum sichert, aber andererseits verantwortlich für die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen ist. Nicht die notwendigen Verbote klimawirksamer Schadstoffe wie FCKW sind allein das Problem, sondern die notwendige, drastische Verminderung der CO2-Immissionen rüttelt an den Grundfesten unserer Produktions- und Konsumweise.
({1})
Will man das Klimaproblem tatsächlich in den Griff bekommen, steht auch das pauschale Wachstumsdenken unserer Wirtschaft zur Disposition.
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Wir brauchen eine demokratische Mehrheit, die in einer gewaltigen Kraftanstrengung eine Wende zum globalen, wirtschaftlich behutsamen Handeln bewirkt. Es geht um eine radikale Neuordnung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Industrienationen und der sogenannten Dritten Welt. Auch für dieses Problem ist der deutsche Wohlstand mitverantwortlich.
({3})
Schuldenerlasse und Technologietransfer sind notwendig. Es geht um eine globale Effizienzrevolution der Energieversorgung. Keine Energiequelle ist so wichtig wie das Energiesparen.
({4})
Der Golfkonflikt und seine Folgen zeigen nur allzu deutlich, daß die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen nicht nur eine Bedrohung unserer Erdatmosphäre, sondern auch eine Ursache für kriegerische Auseinandersetzungen sein kann.
Wir brauchen vor allem in den Industriestaaten neue Verkehrssysteme, die Mobilitätsbedürfnisse und -notwendigkeiten mit ökologischer Behutsamkeit verbinden. Wir brauchen Konzepte, die das Schrumpfen ökologisch schädlicher Wirtschaftszweige möglich machen und gleichzeitig das Wachsen umweltfreundlicher Industrien fördern. Darin stimmen wir, glaube ich, überein.
Der desolate Zustand der Energieversorgungsstruktur und der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern bietet für moderne, zukunftsweisende Konzepte eine großartige Chance. Bis jetzt kann ich noch nicht so richtig erkennen, daß wir diese nutzen.
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Aber ich denke, daß es die letzte Chance ist.
Kurzfristige ökonomische Interessen dürfen nicht länger Vorrang vor langfristigen ökologischen Einsichten haben. - Jetzt hätte ich eigentlich Beifall von der rechten Seite erwartet;
({6})
denn das ist ein Zitat von Herrn Schmidbauer, das er als Vorsitzender der Enquete-Kommission gebracht hat und dem wir voll und ganz folgen. Herr Schmidbauer hat jetzt die Möglichkeit, die Forderungen, die in den Berichten vorgelegt wurden, im Umweltministerium umsetzen zu helfen.
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- Ich hoffe, er läßt seinen Worten auch Taten folgen. Ich bezweifle, daß er dabei auf sehr viel Gegenliebe im Kabinett stößt.
Daß aber auch - ich komme zum Schluß - nationale Entscheidungen einen Einfluß haben, zeigt ein Beispiel. Der bereits zitierte Herr Wild vom Bayernwerk hat mir gestern in einem gemeinsamen Interview bestätigt, daß die ostdeutschen Atomkraftwerke seiner Meinung nach für Ungarn und die CSFR gebraucht werden. Denn die eigentliche Zielrichtung ist: Dahin sollen weitere Atomkraftwerke kommen. Das erscheint mir hinsichtlich der vorhin nur auf nationale Fragen konzentrierten Diskussion sehr merkwürdig.
Die Zeit läuft uns davon. Ohne das Anstreben eines breiten Konsens und ohne die Unterstützung der Menschen in diesem Land wird die durch uns selbst verursachte Herausforderung an das Leben nicht zu meistern sein.
Herr Dr. Feige, sind Sie noch bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Hitschler zu beantworten?
Bitte sehr.
Bitte sehr.
Herr Kollege, sind Sie sich bei dem, was Sie hier ausgeführt haben, darüber im klaren, daß die eigentlichen Betreiber der Elektrizitätsversorgungsunternehmen, die Vorstände der Elektrizitätswerke, die Sie ein bißchen kritisch begleitet haben, Ihre sozialdemokratischen Genossen sind, die dort in der Regel die Mehrheit haben?
({0})
Ich bin ein Grüner. Aber ich glaube, daß wir in mehr Punkten mit der SPD denn mit der Koalition übereinstimmen, als es an Hand der gemeinsamen Ergebnisse
deutlich wird. Ich denke, daß die weiteren Gepräche, die es geben wird, auch die verbleibenden Schwierigkeiten ausräumen können.
Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Lippold das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sehen uns weltweit Herausforderungen gegenüber, wie wir sie in der Geschichte der Erde nicht gekannt haben. Zum erstenmal können wir erkennen, daß es die Möglichkeit zu globaler Selbstzerstörung gibt. Das war der Grund für die Einsetzung der ersten Enquete-Kommission.
Ich freue mich, heute hier feststellen zu können, daß die Bundesregierung die Empfehlungen der ersten Enquete-Kommission aufgegriffen hat, daß wir nicht nur im theoretischen Rahmen gearbeitet haben, nicht nur Vorschläge unterbreitet haben, die Papier blieben, sondern daß sofort nach der vorgeschlagenen Maßnahmenpolitik bei FCKW sowohl nationale wie internationale Handlungsanstrengungen eingesetzt haben.
({0})
Das gleiche können wir für den Schutz der tropischen Regenwälder sagen, bei dem wir international noch nicht die Erfolge erzielt haben, die wir erzielen wollen. Ich gehe davon aus, daß wir sie gemeinschaftlich erzielen wollen. Aber die Anstrengungen der Bundesregierung infolge der Empfehlungen der Enquete-Kommission sind auch auf diesem Gebiet nicht zu übersehen. Der Einstieg, den wir jetzt anstreben, besteht darin, daß die ersten Überlegungen, die wir in der Enquete zur Klimaschutzpolitik insbesondere für den Energiebereich erarbeitet haben, in einer vergleichbaren Form umgesetzt werden, wie dies bei den beiden erstgenannten Problembereichen der Fall ist.
Ich glaube, uns allen ist deutlich, daß wir nicht die Zeit haben, uns auf Grund der eingeleiteten Maßnahmen selbstzufrieden zurückzulehnen, sondern daß auf diesem Gebiet noch ausreichend zu tun bleibt und daß es neue Aufgabengebiete gibt. Diese neuen Aufgabengebiete gehen nicht nur in die Forschung und in die Wissenschaft hinein. Insoweit haben wir selbstverständlich noch viel aufzuarbeiten. Es muß selbstverständlich auch noch viel nachgearbeitet werden.
Wir müssen uns aber darüber im klaren sein, daß wir auch in dieser Hinsicht wiederum den Auftrag haben, dies nicht nur national, sondern auch international umzusetzen. Ich sage dies deutlich, weil wir auch als Bundesrepublik Deutschland bei aller Vorreiterpolitik, die wir betrieben haben, die wir betreiben und die wir in Zukunft betreiben werden, den Konsens der internationalen Völkergemeinschaft brauchen, um die Probleme einer wirklichen Lösung zuführen zu können. Mit unseren Anteilen am CO2-Ausstoß und bei der FCKW-Emission allein können wir nicht die Reduktionen erzielen, die notwendig sind.
({1})
Wir werden eine Vielfalt von Phantasie, von Kreativität und von Innovationsbereitschaft erzeugen müssen, um das Handeln auf neue Wege zu bringen, um Bewußtsein neu zu schaffen und um aus dem neu geschaffenen Bewußtsein heraus auch Verhaltensstrukturen zu verändern.
Ich sage das vor dem Hintergrund der Tatsache, daß wir dabei sind, die soziale Marktwirtschaft und damit das entscheidende und nach meinem Dafürhalten richtige Steuerungs- und Wirtschaftssystem, das nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Komponenten berücksichtigt, neu zu orientieren. Ich finde, daß gerade wir in der Union einen guten Weg gehen, um dieses System zu einer ökologisch orientierten sozialen Marktwirtschaft umzuarbeiten.
({2})
Herr Müller, das ist der Ansatzpunkt, bei dem wir uns wohl treffen werden, weil das im Grunde die Neuorientierung und die Umstrukturierung ist, die wir brauchen. Sie besteht darin, daß wir die Zielfunktionen im volkswirtschaftlichen Bereich und von dort hergeleitet für die Ebene des einzelnen Unternehmens, aber auch für den einzelnen Konsumenten verändern. Wenn wir nicht gemeinschaftlich unser Verhalten auch als Konsumenten ändern, werden wir die notwendigen Erfolge, die wir erzielen müssen, nach meinem Dafürhalten nicht erzielen.
Die großen zukünftigen Aufgaben, die die Fortführung der Enquete-Kommission rechtfertigen, liegen für mich in erster Linie darin, daß wir die erkannten Notwendigkeiten zum Handeln im energiepolitischen Bereich konkretisieren, daß wir diesbezüglich die Maßnahmenstrategien ausfeilen und daß wir in dieser Hinsicht zu einer verstärkten Umsetzung kommen. Das ist der eine Bereich.
Ich glaube aber, daß wir insbesondere auch im Verkehrsbereich, den wir in der bisherigen Enquete-Kommission nur andenken konnten, entscheidende weitere Schritte unternehmen müssen,
({3})
um zu integrierten Verkehrsleitsystemen zu kommen, weil dieses Problem nur mit einer Fülle von Einzelmaßnahmen zu lösen ist. Ich bin dabei auch gar nicht ideologisch fixiert.
({4})
Es gibt einen weiteren Bereich, bei dem ich meine, daß wir etwas tun müssen - das ist die landwirtschaftliche Problematik - , weil wir insbesondere im Bereich der Landwirtschaft, und zwar weltweit, vor Problemen stehen, die wir unter dem Gesichtspunkt, daß Landwirtschaft natürlich auch Bekämpfung des weltweiten Hungers bedeutet, mit einer anderen Gewichtung versehen müssen, als das vielleicht bei den anderen Maßnahmen der Fall ist. Es kann nicht angehen, daß wir dies alles mit gleicher Elle messen. Wenn Völker der Dritten Welt noch hungern, können wir dort nicht mit der gleichen Strategie herangehen, wie wir das bei uns tun können. Das ist ein wesentlicher Punkt.
({5})
Dr. Klaus W. Lippold ({6})
Ich glaube, wir müssen auch berücksichtigen - insoweit knüpfe ich an die entsprechenden UNEP-Berichte an - , daß uns die Bevölkerungsexplosion, der wir uns gegenübersehen, vor Fragen stellt, denen wir uns nicht entziehen dürfen. In diesem Zusammenhang geht der Appell an die Kirchen, in der Dritten Welt eine Politik und eine Strategie der Familienplanung möglich zu machen,
({7})
mit der wir an den Grundzügen des Problems arbeiten können und nicht nur an den späteren Auswirkungen werkeln, ohne die Ursachen aufzuheben.
({8})
Ich glaube, die Fortführung der Enquete-Kommission bietet eine Chance zu gemeinschaftlichem Handeln. Wir bieten dieses gemeinschaftliche Handeln an, weil wir darin die größte Chance sehen, auch international erfolgreich zu sein.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Braband.
Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Die Linke Liste/PDS begrüßt die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" nachdrücklich. Wir bedauern in diesem Zusammenhang durchaus, daß wir nicht gebeten worden sind, den Antrag mit Ihnen gemeinsam zu tragen.
Im Treibhauseffekt und der Zerstörung der Ozonschicht bündeln sich sämtliche Fehlentwicklungen moderner Industriegesellschaften. Wir wissen, Ursachen der Umweltzerstörungen durch Emissionen sind ein extrem hoher Pro-Kopf-Energieverbrauch in den Industriestaaten, eine Chemisierung nahezu sämtlicher Lebensbereiche, eine exzessive Automobilität insbesondere der westlichen Industriegesellschaften, das Eindringen industrieller Produktionsweisen in die Landwirtschaft sowie die rasante Zunahme von Abfallstoffen in der herrschenden industriellen Produktionsweise.
Der dritte Bericht der Enquete-Kommission aus der vorigen Legislaturperiode zeigt bereits Handlungsempfehlungen sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene auf. Die neue Enquete-Kommission muß sich vordringlich mit Durchsetzungsstrategien für empfohlene Maßnahmen und der Beseitigung von institutionellen Hemmnissen beschäftigen.
Ein besonderer Schwerpunkt muß auf der Erarbeitung von Maßnahmen zur Beseitigung der sozialen Klimakatastrophe liegen; denn diese ist mit der meteorologischen Klimakatastrophe untrennbar verbunden. Viele Menschen auf unserer Erde tragen aus wirtschaftlicher Not zur Umweltzerstörung bei. Brandrodungen in Südamerika und extensive Brennholznutzung in Afrika sind letztendlich Auswirkungen einer Weltwirtschaftsordnung, die es den Armen dieser Erde nicht erlaubt, aus dem Teufelskreis von Armut, Energieverschwendung und Umweltzerstörung herauszukommen. Ein wichtiger Bestandteil
einer Strategie gegen die Klimakatastrophe ist daher die Herstellung einer gerechten Weltwirtschaft.
Aber auch bei uns in der Bundesrepublik und in anderen Industriestaaten leben Menschen in wirtschaftlichen Verhältnissen, die ihnen eine individuelle Veränderung ihrer Situation nicht erlaubt. Wer von Arbeitslosengeld, Rente, Sozialhilfe oder BAföG lebt, kann nur schwer auf umweltfreundlich hergestellte Produkte zurückgreifen oder seinen Energieverbrauch durch Einsparinvestitionen reduzieren.
Nötig ist daher nicht nur eine soziale Mindestsicherung, die umweltfreundliches Verhalten auch finanziell ermöglicht, sondern nötig sind auch materielle Bedingungen, die umweltfreundliches Verhalten belohnen. Notwendig sind aber auch Änderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Bereichen Wohnen, Produzieren und Verkehr.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der Arbeit der Enquete-Kommission muß in der Untersuchung der Auswirkung des EG-Binnenmarktes auf den Energieverbrauch und die hierdurch entstehenden Klimabelastungen und deren Vermeidung liegen. Nach Berechnungen der EG-Kommission werden sich die Emissionen des Verkehrsbereiches in den EG-Mitgliedstaaten bis 2010 fast verdoppeln, wenn nicht gegengesteuert wird. Die zwangsläufigen Folgen der Deregulierung wären Mobilität um jeden Preis, Transport von Gütern durch halb Europa, nur weil sie an einer bestimmten näher liegenden Ecke ein bißchen teurer sind. Diese Vollgasstrategie kann nur in die Klimakatastrophe führen.
Leider ist festzustellen, daß auch die Bundesregierung praktisch nicht bereit ist, ihre Umweltpolitik, die sich auf technische Nachsorge beschränkt, zu ändern. Insoweit wird sie an bestimmten Stellen selber zu einem institutionellen Hemmnis. Die drohenden Klimaänderungen sind jedoch nur mit einer konsequenten Vorsorgepolitik abzuwenden. Die notwendigen strukturellen und politischen Rahmenbedingungen für die Verwirklichung einer Strategie zur Reduktion der Emissionen müssen umgehend verwirklicht werden.
Die Bundesregierung ist jedoch auch hier wieder kontraproduktiv. Wir haben gerade gehört, wie das Problem des Ausbaus der Atomenergie in Ostdeutschland hier in keiner Weise als politisches Problem behandelt wird.
({0})
Im Bereich des Verkehrs wird zwar überall von Regierungsvertretern verbreitet, daß die Bundesregierung bereit ist, den Ausbau des Schienennetzes zu fördern, aber faktisch werden LKW jährlich mit 8 000 DM subventioniert. In den fünf neuen Bundesländern werden bereits Eisenbahnstrecken stillgelegt, obwohl gerade hier gute Voraussetzungen für den Güterverkehr auf der Schiene bestanden. Die ehemalige DDR bewältigte 80 Prozent ihres Güterverkehrs auf der Schiene und damit ebensoviel wie die ehemalige Bundesrepublik.
Es wären hier noch eine Menge Beispiele anzuführen und Forderungen zu stellen. Die wichtigste ist
jedoch, daß die Bundesregierung auf allen Gebieten aus den Ergebnissen einer solchen Kommission tatsächlich Handlungsbedarf ableitet.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Harries.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der kommenden Woche führt der Umweltausschuß auf Grund eines einvernehmlichen Beschlusses eine Anhörung von Sachverständigen wegen der Golfkatastrophe durch. Ich halte das für richtig und für gut; denn diese schlimmen ökologischen Ereignisse am Golf haben die letzten aufgerüttelt und ihnen gezeigt, was Menschen anrichten können, wie durch eigenes Handeln die ökologischen Grundlagen für das Zusammenleben zerstört werden.
Ich weiß, daß die Ereignisse am Golf - es ist noch zu prüfen, ob die Auswirkungen nur regional, hoffentlich, oder global sind - , nur einen Teilaspekt von dem darstellen, was sich die Enquete-Kommission als Arbeit vorgenommen hat und vornehmen wird. Wir wissen aber alle, daß eine Klimaveränderung, die Erwärmung der Erde, in der Tat stattfindet, selbst wenn nur über Einzelheiten diskutiert wird.
Die in der vergangenen Legislaturperiode eingesetzte Enquete-Kommission hat - da stimmen wir überein - hervorragend gearbeitet. Man kann für diese Arbeit Dank und Anerkennung aussprechen. Das Ergebnis der Arbeit ist eine unverzichtbare und hervorragende Grundlage für das, was nun die neue Enquete-Kommission fortzusetzen hat.
({0})
Ich selbst empfinde es als besonders hervorhebenswürdig und beachtlich, daß es weitestgehend gelungen ist, zu übereinstimmender politischer Analyse über das Ergebnis zu kommen. Auch sind ganz bemerkenswerte Aussagen zu dem, was noch zu geschehen hat, erfolgt. Ich hoffe sehr, daß sich dieser politische Konsens in der Arbeit der nächsten Enquete-Kommission fortsetzt.
Wir wissen alle, meine Damen und Herren, daß es wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des Treibhauseffektes gibt. Energiebedingte CO2-Emissionen, Methan- und Stickstoffemissionen, NOI, FCKW und FCKW-Ersatzstoffe müssen und können verringert werden. Nur, diese Eindämmungsmaßnahmen werden Auswirkungen auf unser eigenes Verhalten haben: Die Wirtschaft wird betroffen, die Landwirtschaft wird betroffen, der Verkehr wird berührt, unser soziales Zusammenleben wird berührt. Es ist einfach unverzichtbar, daß wir als Politiker nicht mit den Maßnahmen, mit dem, was getan werden muß, um den Schäden zu begegnen, warten, bis das Kind im Brunnen liegt. Vielmehr muß rechtzeitig - das ist von den Vorrednern eindrucksvoll dargestellt worden - gehandelt werden. Das müßte und sollte unser Ziel sein.
Dabei wird es um die Abwägung zweier Fragen gehen: Was ist möglich, was ist notwendig, oder muß auch das möglich sein, was notwendig ist? Das wird uns sicher intensiv beschäftigen.
Hier ist auch eindrucksvoll dargelegt worden, daß die Probleme, die uns hier beschäftigen, nicht an den Grenzen Halt machen, daß im Grunde innerhalb der EG, zwischen den Industrieländern weltweit nicht nur Konferenzen und kluge Diskussionen erforderlich sind; das reicht nicht. Wir müssen hier zu globalen und regionalen Absprachen kommen, die durchgesetzt werden.
Ich habe den Eindruck, daß wir als Bundesrepublik auch hier wieder Vorreiter sind. Zu dieser Vorreiterrolle können wir uns bekennen; das ist wichtig. Es ist aber genauso wichtig, diese Vorreiterrolle zusammen mit der Wirtschaft und der Industrie zu bewältigen, nicht zuletzt um den sozialen Frieden in unserem Lande zu bewahren. Die Aufgabe ist groß, packen wir sie an. Der Antrag ist rechtzeitig gestellt. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Ganseforth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" wird von uns begrüßt. Die Kommission hat in der letzten Legislaturperiode gute Arbeit geleistet. Wer jedoch die Ergebnisse der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" benutzt, um, wie man es immer wieder hört, die Atomenergie wieder hoffähig zu machen, hat die Ergebnisse entweder nicht zur Kenntnis genommen, oder er hat sie nur durch die Brille einer bestimmten interessierten Lobby selektiv und verfälscht wahrgenommen.
({0})
Es gibt keine Notwendigkeit für den Ausbau der Atomenergie aus Klimagründen. Auf diesen Punkt gehe ich besonders ein, weil das leider fünf Jahre nach dem furchtbaren Reaktorunfall von Tschernobyl dringend nötig zu sein scheint. Ich hatte heute in der Aktuellen Stunde nämlich den Eindruck, daß bei einigen Kollegen die Verdrängungsleistung zu diesem Thema die gleiche Größenordnung hat wie die Gefährdung. Ich will nur Herrn Fritz oder Staatssekretär Beckmann und den Kollegen Timm nennen; aber auch bei Herrn Seesing wirkte das so.
Die Atomlobby versucht fälschlicherweise, die Treibhausproblematik als Argument für die Renaissance der Kernenergie zu benutzen. CO2 trägt mit etwa 50 % zum zusätzlichen Treibhauseffekt bei. Davon entstehen etwa 20 % durch die Rodung der tropischen Wälder, 80 % durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe. Dazu kommen die FCKW, Methan usw.; wir wissen das.
Die Enquete-Kommission hat nun ermitteln lassen, ob und unter welchen Randbedingungen bis zum Jahre 2005 die nötige 30%ige CO2-Reduktion möglich ist. Rund 150 Wissenschaftler aus 50 Instituten wurden beauftragt, den Spielraum für politisches
Handeln zur CO2-Reduktion zu ermitteln. Dabei wurde nach heutigem Wissensstand das durch rationelle Energieverwendung technisch mögliche Energiesparpotential zusammengestellt. Das Energiesparpotential beträgt, bezogen auf den Primärenergieverbrauch von 1987, 35 bis 44 %. Diese Angabe bezieht sich zwar nur auf die alten Bundesländer, wegen der extremen Energieverschwendung in den neuen Ländern dürfte das Potential jedoch dort eher größer sein.
Die größten technischen Sparpotentiale rationeller Energienutzung liegen im Raumwärmebedarf, nämlich bei 70 bis 90 %. In diesem Bereich wirkt sich allerdings fehlendes politisches Handeln besonders langfristig und negativ auf Klimaveränderungen aus. Beispielsweise ist die Novellierung der Wärmeschutzverordnung von 1982, wie von uns gefordert, dringend überfällig. Will man jedoch das gesamte Sparpotential kurzfristig bewegen, ist das teuer. Das stellt dann die Frage, ob das Geld, das in den Zubau neuer Atomkraftwerke gesteckt werden soll, hier nicht besser angewendet ist.
Etwas niedrigere Energiesparpotentiale, nämlich 50 bis 60 %, haben die Kraftfahrzeuge, die Pkw und die Lkw. Diese Potentiale lassen sich wesentlich schneller bewegen, wenn man es politisch will. Aber da habe ich bei dieser Regierung meine Zweifel.
({1})
Eine entsprechende Verkehrspolitik muß diese Maßnahmen flankieren. Es geht dabei nicht nur um energiesparende Pkw und Lkw, sondern um die Verlagerung von Verkehr und um die Eindämmung der Verkehrsverschwendung.
Bei Haushaltsgeräten beträgt das Energiesparpotential 30 bis 70 %. Alles zusammengenommen sind es 35 bis 44 %.
Diese Einzelstudien sollten unter drei Randbedingungen das Reduktionsziel von 30 % CO2 bis zum Jahre 2005 ermitteln: Eine Randbedingung ist der Kernenergieausbau, eine andere Randbedingung ist die Statuts-quo-Variante in bezug auf den Einsatz der Kernenergie, und das dritte Szenario ist der Kernenergieausstieg bis zum Jahre 2005.
Ergebnis der Untersuchungen: Alle drei Varianten machen das CO2-Reduktionsziel möglich. Es ist ganz wichtig, dies zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
Die Strategie der rationellen Energieverwendung plus Aufbau der Solarwirtschaft plus Ausstieg aus der Kernenergie bringt sogar mittelfristig größere Vorteile als die anderen Varianten. Atomenergie und Solartechnik und Investitionen zum Energiesparen lassen sich nicht gleichzeitig fördern. Es bedarf in diesem Zusammenhang politischer Prioritätensetzungen. Auf die warten wir.
Über die volkswirtschaftlichen Kosten einer CO2-Minderungspolitik liegen nach den Aussagen der Enquete-Kommission bisher nur Grobschätzungen vor. Werden die Gesamtinvestitionen für die einzelnen Strategien zur CO2-Reduktion bis zum Jahre 2005 addiert, und werden die Energiekosteneinsparungen wieder abgezogen, so ergeben die Ermittlungen der
Enquete-Kommission - wieder in bezug auf die drei Varianten - beim Status quo der Kernenergie, d. h. Ersatz bestehender Kernkraftwerke, 100 DM pro Kopf der Bevölkerung; insgesamt sind es 2,7 Milliarden DM pro Jahr. Bei der Ausstiegsvariante sind es 156 DM pro Kopf oder 9,4 Milliarden DM pro Jahr. Es ist also ein durchaus finanzierbarer Betrag.
({3})
- Doch, im Saldo.
Bei der Kernenergieausbauvariante waren wir uns nicht einig; da streuten die Daten sehr stark. Ich will dazu keine Zahlen nennen, und zwar deswegen, weil es kein Mitglied der Enquete-Kommission gab, das auf eine Kernenergieausbauvariante gesetzt hat und das diese Variante unterstützt hat.
Jedenfalls kann man feststellen, die CO2-Minderungspolitik ist finanzierbar. Jetzt bedarf es nur noch der Umsetzung der Beschlüsse der Enquete-Kommission.
Bei der Regierung ist es dazu merkwürdig still geworden. Die Politik ist gefordert, hat der Staatssekretär vorhin zur Energiefrage gesagt. Wo bleibt die Politik? Wo bleiben die Konsequenzen, z. B. die Förderung der Energiesparinvestitionen an Gebäuden durch steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten und durch direkte Zuschüsse? Das muß fortgeschrieben und ausgeweitet werden.
In den neuen Ländern muß die Umstellung der Einzelfeuerung auf Braunkohlebasis auf moderne Heizanlagen gefördert werden. Wo ist die Förderung des Ausbaus der Nah- und Fernwärmeversorgung auf der Basis der Kraft-Wärme-Kopplung? Gerade vor Ort sieht man, daß die CDU da teilweise eine sehr fragwürdige Politik betreibt.
({4})
- Ich kann es für die Stadt Hannover sagen; da diskutieren wir das gerade intensiv.
Wo sind die Höchstverbrauchsgrenzwerte für Kraftfahrzeuge? Die freiwilligen Vereinbarungen der Automobilindustrie sind längst nicht ausreichend.
({5})
Es ist daher nötig, die Arbeit der Enquete-Kommission fortzusetzen und die Ergebnisse der letzten Legislaturperiode erneut in die Beratungen einzubringen. Es muß Aufgabe der neuen Enquete sein, die Emissionsminderungsziele auch umzusetzen.
Wir brauchen Untersuchungen für die Emissionen im Verkehrssektor. Wir müssen den Flugverkehr mit einbeziehen.
Wo bleibt die Energiepolitik der neuen Länder? Diese muß mit einbezogen werden. Hier stehen gravierende Weichenstellungen an.
Die neue Enquete-Kommission muß die Klimapolitik im internationalen Zusammenhang behandeln, auch im Hinblick auf die UN-Umweltkonferenz 1992.
Vertieft werden müssen biogene Faktoren wie Vegetation und Landwirtschaft.
Es sind also noch viele Fragen offen. Die neue Enquete-Kommission soll sich mit Engagement um Lösungen bemühen. Sie wird aber nur dann erfolgreich arbeiten, wenn die Ergebnisse der Enquete-Kommission der 11. Legislaturperiode endlich in konkretes Handeln umgesetzt werden und wenn sie nicht als Alibi für bestimmte Lobbygruppen der Energiewirtschaft, allen voran der Kernenergiebefürworter verfälscht werden.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat Herr Staatssekretär Wieczorek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Arbeit der Enquete-Kommission des 11. Deutschen Bundestages „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" hat sowohl in der Bundesrepublik als auch weltweit große Anerkennung gefunden. Die Kommission hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Sie hat diese in einem Geist gemeinsamer Ergebnisfindung getan, der parteipolitische Zuordnung weitgehend unbeachtet ließ. Dies war die ungewöhnliche Leistung ihrer Mitglieder und inbesondere des Vorsitzenden der Kommission. Die Bundesregierung schuldet ihnen allen Dank und Respekt.
Einiges, was zum Schutz der Erdatmosphäre dringend getan werden muß, ist auf den Weg gebraucht. Die Berichte der Enquete-Kommission haben dazu beigetragen, daß dies so ist.
Für den internationalen Bereich hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen am 21. Dezember vergangenen Jahres beschlossen, einen zwischenstaatlichen Verhandlungsausschuß zur Aushandlung einer Weltklimakonvention einzusetzen. Dieser Ausschuß hat seine Beratungen im Februar in Washington aufgenommen.
Die Verhandlungen sind mühsam. Unser Ziel, die Konvention bis zur UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Brasilien in zeichnungsreife Form zu bringen, ist aber realistisch.
Die Bundesregierung fordert, in der Konvention die Verpflichtung zu unverzüglichem Handeln in folgenden Bereichen festzuschreiben: Maßnahmen zur Begrenzung und Reduzierung der Emissionen von klimarelevanten Gasen, insbesondere von CO2, Maßnahmen zum Schutz der Wälder in ihrer Funktion als CO2-Speicher und -Senken, der Entwicklung von Strategien und Maßnahmen zur Vermeidung von klimabedingten Schäden. Die Bundesregierung tritt dafür ein, daß zum Zeitpunkt der UN-Konferenz bereits die Protokolle vorliegen, die die verbindlichen Festlegungen der Weltklimakonvention weiter konkretisieren sollen. Die Verhandlungen werden vom IPCC, dem auf Regierungsebene internationalen Pendant zur Enquete-Kommission, wissenschaftlich begleitet.
Hinsichtlich des weltweiten Ausstiegs aus der Produktion und dem weltweiten Einstellen des Verbrauchs von FCKW hat die zweite Vertragsstaatenkonferenz zum Montrealer Protokoll im Juni 1990 in London wesentliche Fortschritte erzielt. Der Zeitplan
zum Ausstieg aus der FCKW-Produktion wurde drastisch verkürzt. Neue Stoffe wurden in das Protokoll aufgenommen. Außerdem wurden finanzielle Unterstützungsmaßnahmen zur Erleichterung des Technologietransfers in die Entwicklungsländer beschlossen.
Für den nationalen Bereich hat das Bundeskabinett in seinen Beschlüssen vom Juni und November 1990 das Ihnen bekannte CO2-Minderungsprogramm festgelegt. Dessen Zielvorgaben sind in der Regierungserklärung wie folgt konkretisiert worden: CO2-Reduktion um 25 bis 30 % bis zum Jahr 2005, und zwar im gesamten Bundesgebiet, wobei sich die Reduktion auf das Basisjahr 1987 bezieht.
Die Bundesregierung bereitet daraufhin derzeit ein CO2-Abgabengesetz vor, die Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes, die Novellierung der Wärmeschutzverordnung, der Heizungsanlagenverordnung und der Kleinfeuerungsanlagenverordnung. Die Wärmenutzungsverordnung, die die Nutzung industrieller Abwärme vorschreiben wird, wird noch in diesem Jahr vorgelegt werden. Die Bundesregierung wird ihre CO2-Minderungsziele schrittweise verwirklichen. Die von der Bundesregierung eingesetzte Interministerielle Arbeitsgruppe wird deshalb im Herbst dieses Jahres dem Bundeskabinett einen weiteren Bericht mit entscheidungsreifen Vorschlägen vorlegen. Sie wird dabei insbesondere Vorschläge zur Realisierung von CO2-Minderungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern ausarbeiten.
Das Bundeskabinett hat der Arbeitsgruppe im übrigen ausdrücklich den Auftrag gegeben, die Arbeiten der Enquete-Kommission für den zweiten Bericht detailliert auszuwerten.
Das Kabinett wird außerdem in Kürze endgültig die FCKW-Halon-Verbotsverordnung beschließen. Mit ihr wird die Verwendung von FCKW und Halonen stufenweise bis spätestens 1995 verboten.
Trotz dieser Maßnahmen bestehen die Probleme, die die Erdatmosphäre bedrohen, noch fort.
Die neue Enquete-Kommission hat sicher nicht über einen Mangel an Themen zu klagen. Da ist zunächst die Situation in den neuen Bundesländern. Die Kommission sollte insbesondere die dortigen konkreten Handlungsmöglichkeiten für verbesserten Klimaschutz untersuchen.
Ich bin der Überzeugung, daß mit derartigen Maßnahmen ein tiefgreifender Modernisierungs- und Sanierungsprozeß verbunden sein wird. In diesem Sinne wird die Umsetzung des CO2-Minderungsprogramms tendenziell eine Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft bewirken.
Weitere Aufgabenfelder in der neuen Enquete-Kommission werden die Bereiche Landwirtschaft und Klima, Emissionen von Distickstoffoxid und anderen klimarelevanten Stoffen und die regionalen Auswirkungen einer Klimakatastrophe sowie geeignete Gegenmaßnahmen sein. Die Enquete-Kommission hat in ihrem dritten Bericht festgestellt, daß hier noch erhebliche Forschungsanstrengungen erforderlich sind. Die
Bundesregierung begrüßt die entsprechenden Aufgabenzuweisungen.
So sehr wir in diesen Wochen unser Augenmerk auf den Aufbau in den neuen Bundesländern richten, so sollten wir uns darüber im klaren sein, daß die Länder in Osteuropa noch weit schwierigere Aufgaben zu bewältigen haben. Eine umwelt- und klimagerechte Energieversorgung in Osteuropa sollte uns nicht zuletzt aus eigenem Interesse am Herzen liegen.
Meine Damen und Herren, die Klimaproblematik spitzt die Nord-Süd-Problematik zusätzlich zu. Die bisherigen Ergebnisse der Klimaforschung zeigen, daß gerade diejenigen Regionen, zu denen die ärmsten Länder gehören, von den Klimaveränderungen am schlimmsten betroffen sein werden. Dies gilt nicht nur für die Ausdehnung der Wüsten, sondern auch für den Anstieg des Meeresspiegels. Mit den damit verbundenen ökonomischen und ökologischen Problemen werden große soziale Spannungen in diesen ressourcenarmen Ländern einhergehen.
Die Bundesregierung räumt daher den Maßnahmen zum internationalen Klimaschutz wie auch der Vorbereitung der erwähnten UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung, die 1992 auf der Ebene der Staatsbzw. der Regierungschefs in Brasilien stattfinden wird, höchste Priorität ein. Die Konferenz muß neben der Weltklimakonvention und den dazugehörigen Protokollen konkrete Festlegungen für Strategien und Hilfsmaßnahmen bringen, die die Entwicklungsländer in den Stand versetzen, zum Schutz des Klimas und der Umwelt ihren Beitrag zu leisten.
Die Bundesregierung wird durch konsequentes Handeln auf europäischer und internationaler Ebene wie auch durch eine anspruchsvolle nationale Umweltpolitik alles in ihrer Macht Stehende tun, um gute Resultate zu erreichen.
Beim Thema Ozonschicht hat die internationale Staatengemeinschaft gezeigt, daß sie in Anbetracht des weltweiten Bedrohungspotentials zum Handeln fähig ist. Ebenso rasch und konsequent müssen die Vereinbarungen für den Klimaschutz getroffen und in die Tat umgesetzt werden. Die Arbeit der künftigen Enquete-Kommission wird ein wichtiger Faktor sein, um den Entscheidungsdruck auch auf internationaler Ebene zu erhöhen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP sowie der Gruppe Bündnis 90/Die GRÜNEN auf Drucksache 12/419 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist damit - bei Nichtteilnahme einiger Abgeordneter - einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mietentwicklung in den neuen Bundesländern
- Drucksache 12/313 Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Franz Müntefering, Achim Großmann, Norbert Formanski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nutzung mietenpolitischer Verordnungsermächtigungen für die neuen Länder durch die Bundesregierung
- Drucksache 12/156, 12/343 Berichterstatter:
Abgeordnete Rolf Rau Otto Reschke
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnet Achim Großmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Morgen steht im Bundesrat die Entscheidung - hoffentlich - über die Mietverordnungen in den neuen Bundesländern an. Sicherheit und Bezahlbarkeit der Wohnungen und die Verbesserung ihrer Qualität gehören naturgemäß zu den Fragen, die die Menschen in den neuen Bundesländern am meisten beschäftigen.
Wir wollten diese wichtigen Entscheidungen zum Gegenstand parlamentarischer Beratungen und gesetzgeberischer Entscheidungen machen. Das lehnt die Koalition unverständlicherweise ab. Es ist bedauerlich, daß das gesamtdeutsche Parlament die wohnungspolitischen Entscheidungen für die alten Bundesländer treffen kann, diejenigen für die neuen Länder aber der Exekutive überläßt. Dies ist nach unserer Meinung kein guter Anfang für die Wohnungspolitik beim demokratischen Neubeginn und beim Aufbau der neuen Bundesländer.
({0})
In einer Situation, in der grundlegende mietenpolitische Entscheidungen zu treffen sind, versteckt sich die Parlamentsmehrheit hinter der Regierung.
({1})
Das vorgeschobene Argument, die Entscheidung durch den Bundestag hätte zu Zeitverzögerungen geführt, ist angesichts der wochenlangen Verzögerungen durch handwerkliche Fehler des Bundesbaumini1568
sters und politischer Fehlentscheidungen der Bundesregierung lange widerlegt.
({2})
Wir sind nun bereit, uns diesen schwierigen und unangenehmen Entscheidungen zu stellen, sie hier zu beraten und zu treffen.
({3})
Wir haben deshalb einen zweiten Antrag eingebracht, der heute hier zur Diskussion steht, bevor sich morgen der Bundesrat endgültig zu den Verordnungsentwürfen der Bundesregierung äußern wird.
Die Bundesregierung hat sich bis heute in einer fast peinlichen Abfolge von Ankündigungen, Vorlage von Entwürfen, Korrektur dieser Entwürfe, Vorlage neuer Entwürfe, Nennung von Terminen und Terminverschiebungen durchlaviert. Da, meine Damen und Herren von der Koalitionsmehrheit, helfen auch keine - unzulässigen - Schuldzuweisungen an die Ministerpräsidenten oder die Länder. Denn noch Anfang April hat Bundesbauministerin Frau Adam-Schwaetzer über die Presse mitgeteilt, jetzt sei klar, am 1. Oktober würden die Mieten erhöht, und die Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern könnten zunächst unbeschadet von Mitteilungen über Mieterhöhungen in Urlaub fahren. Inzwischen soll es, wie jeder weiß, wieder der 1. August werden. Das Durchlavieren ging sogar so weit, daß uns im Bauausschuß morgens andere Termine genannt wurden, als sie die Bundesbauministerin nachmittags der Presse verkündete.
Dieser Schlingerkurs alleine würde schon rechtfertigen, daß der Gesetzgeber der Regierung die Entscheidungsbefugnis entzieht. Morgen berät der Bundesrat. Dabei sind die besonderen Wohngeldregelungen für die neuen Länder, auf die es zur sozialen Flankierung der unvermeidbaren Mietsteigerungen ganz entscheidend ankommt, bis heute unklar.
Wir haben die Beratung im Bauausschuß inzwischen mehrfach von der Tagesordnung absetzen müssen, weil die Bundesregierung immer noch keine abschließenden Formulierungen vorgelegt hat. Es war wie immer in letzter Zeit mit dieser Regierung: In dem Moment, wo ein Gesetzentwurf vorlag, war schon klar, daß er durch nachgereichte weitgehende Formulierungshilfen ergänzt und verbessert werden mußte. Das war beim Haushalt so, ist beim Wohngeld so, und das ist auch bei den steuerlichen Regelungen für den Wohnungsneubau so. Jeder Gesetzentwurf der Regierung zeigt eigentlich immer nur an, daß etwas kommen soll. Aber das, was vorgelegt wird, kommt mit Sicherheit nicht. Sie haben die Anzahl der Staatssekretäre im Bauministerium verdoppelt. Das Management des Regierungshandelns in der Wohnungspolitik droht dabei aber zum Dilettantismus zu verkommen.
({4})
Was Sie im Wahlkampf den Bürgerinnen und Bürgern zur Entwicklung der Mieten in den neuen Ländern gesagt haben, war nicht die Wahrheit. Die Koalitionsvereinbarungen und die ersten Verordnungsentwürfe zielten auf eine Vervielfachung der jetzigen Mieten ab. Zusätzlich zeigten diese Vorschläge ein erschreckendes Maß an Realitätsferne und mangelnde Sachkenntnis.
({5})
Bei diesen Vorschlägen, Herr Kansy, hätten bei mehreren über das Jahr verteilten Mieterhöhungen - das war bei Ihnen vorgesehen - über 10 Millionen Wohngeldanträge in den neuen Bundesländern bearbeitet werden müssen. Viele Mieten wären so hoch geklettert, daß sie aus den Miethöchstbeträgen der Wohngeldskala herausgefallen wären. Die ersten Verordnungen waren also - kurz ausgedrückt - völlig unakzeptabel.
Heute können wir feststellen: Die Koalition hat sich den Vorschlägen der SPD weitgehend angenähert.
({6})
Sie haben sich bewegt, haben dazugelernt und etliches übernommen, was wir gefordert haben.
({7})
Die Verordnungen sind damit besser geworden, aber noch nicht gut. Sie haben auf die Möglichkeit der Umlage von Instandhaltungskosten verzichtet. Das Wohngeld wird anders aussehen, als ursprünglich geplant. Die Verfahren sollen vereinfacht werden. Die Leistungen sollen verbessert werden. Beides begrüßen wir. Wir unterstützen diese Maßnahmen, und wir werden auch das Unsere dazu beitragen, wenn es darum geht, den Menschen in den neuen Ländern deutlich zu machen, daß die Inanspruchnahme des Wohngeldes ein selbstverständliches Recht ist und nicht der Bußgang eines Bittstellers zur Behörde.
({8})
Worte wie die des Kollegen Hitschler von der Sonderschulfähigkeit des Wohngeldes zeugen aber von gänzlich unangebrachter Wessi-Arroganz und sind völlig fehl am Platze. Ich bedauere solche Äußerungen ausdrücklich.
Bei den - ith sage es noch einmal - unvermeidbaren Mieterhöhungen fehlt aber eine Obergrenze, die verhindert, daß die Summierung und Kumulation der verschiedenen Erhöhungen der Wohnkosten wie Grundmietenerhöhung, Nebenkostenumlage, Heizkostenabrechnung und Modernisierungskostenumlage die individuelle Leistungsfähigkeit der Haushalte übersteigt. Wir halten eine solche Obergrenze, die zu große Belastungssprünge und Ausreißer verhindert, für sinnvoll und erforderlich. Sie bietet den Mietern eine Orientierung und eine Sicherheit in bezug auf die Obergrenze möglicher Belastungen. Das ist gerade in kritischen Zeiten wie jetzt, wo für große Teile der Menschen in den neuen Ländern die wirtschaftlichen Zukunftserwartungen unsicher sind und eine immense Ausweitung der Arbeitslosigkeit zu befürchten ist, nötig.
({9})
Ich will noch einige weitere Probleme erwähnen, die bald gelöst werden müssen, will sich die Bundesregierung nicht weiterer Versäumnisse schuldig machen: Dazu gehören die dringend notwendigen mietrechtlichen Verbesserungen für die alten Bundesländer. Eile ist auch geboten bei den anderen wohnungspolitischen Problemen in den neuen Ländern. Ich erwähne hier nur das Problem der Altschulden und der Bewirtschaftungskosten. Die Regierung hat immer noch kein schlüssiges und überzeugendes Gesamtkonzept vorgelegt.
Der Neubau in den neuen Ländern ist um 32 geschrumpft. Die Modernisierungstätigkeit entfaltet keine Dynamik. Selbst Reparaturen werden nur noch in Notfällen durchgeführt, obwohl, wie wir wissen, mehrstellige Millionenbeträge investiert werden müßten. Kurzarbeit und Betriebsaufgaben sind die Folgen. Die Konjunkturlokomotive Bauwirtschaft steht eben noch nicht unter Dampf, obwohl dies dringend notwendig wäre. Die Differenz zwischen Einnahmen und Aufwendungen der Wohnungsunternehmen in Höhe von mehreren Milliarden DM sollen, so sagen Sie, die Länder übernehmen. Sie wissen aber, daß die dies gar nicht leisten können. Auch das Zinsmoratorium bei den Altschulden löst das Problem nicht, hilft nur befristet. Marktschreierische Preisangebote für die Privatisierung von Bestandswohnungen lösen auch keine Probleme, weder für die Mieter, die nicht wissen, welche Folgen auf sie zukommen, noch für die Kommunen, die die Schulden mit den Verkaufspreisen, die sie teilweise nennen, nicht abdecken können.
({10})
Der vorliegende Antrag nennt unsere Anforderungen an eine Mietenpolitik, die dem Einigungsvertrag entspricht, die sozial verträglich ist und die den krisenhaften Entwicklungen in der Wirtschaft der neuen Länder nicht noch ein weiteres überflüssiges Konflikt-und Spannungsfeld beim Wohnen hinzufügt.
Die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP verzichten auf eigene mietenpolitische Entscheidungen. Sie schicken lieber die Bundesregierung vor. Wir lassen Sie nicht aus Ihrer Verantwortung und fordern Sie deshalb auf, unserem Antrag zuzustimmen.
Danke.
({11})
Als nächste hat die Abgeordnete Gabriele Wiechatzek das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man muß kein Prophet sein, um die Wohnungs- und Mietenpolitk für eines der beherrschenden Themen der deutschen Innenpolitik in diesem Jahrzehnt anzusehen. Neben den Fragen der Sicherheit des Arbeitsplatzes beschäftigt - ich sage auch: ängstigt - die Menschen in den neuen Bundesländern die Sorge um die Bezahlbarkeit der Miete ihrer Wohnungen. Schon aus diesem Grunde muß die nach meinem Empfinden überlange und damit schädliche Mietendebatte endlich beendet werden, zumal sie keine neuen Aspekte mehr bringt,
übrigens auch nicht in Ihrem Beitrag, Herr Kollege Großmann.
Insofern, meine Damen und Herren von der SPD- Fraktion, hilft es beim besten Willen nicht weiter, wenn Sie uns nach Art der tibetanischen Gebetsmühle in fast jeder Sitzung eine nahezu inhaltsgleiche Diskussion zum Mietenthema präsentieren.
({0})
Dabei versuchen Sie, wie auch heute wieder, den Eindruck zu erwecken, als trage für diesen Dauerbrenner die Bundesregierung die alleinige Schuld. Wie schwierig sich aber der Umgang mit den neuen Ländern gestaltet, erweist der Verlauf der gestrigen Sitzung in Berlin, an der ja auch Sie teilgenommen haben.
({1})
Während Senator Nagel, SPD, sich noch vehement für die Umlage der Instandsetzungskosten auf die Miete einsetzte, wurde er bereits von seiner eigenen Fraktion zurückgepfiffen. Dies alles ist eben nicht hilfreich, übrigens auch nicht, wenn Sie heute noch Anträge einbringen, obwohl, wie Sie selber sagten, der Bundesrat bereits morgen dazu entscheidet.
Meine Damen und Herren, die Ausgangssituation ist doch klar und unstrittig. Sie ist im Einigungsvertrag festgeschrieben. Wir, die CDU/CSU, bekennen uns nachdrücklich dazu. Mieten dürfen nur im Rahmen der Einkommensentwicklung angehoben werden. Daß diese Entwicklung eben sehr unterschiedlich verläuft und daher ein differenzierteres Vorgehen erfordert, ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, sehr wohl bekannt, übrigens auch, daß langfristig die Kostendeckung beim Wohnungsbestand gesichert werden muß.
Mieterhöhungen, wie sie die Bundesregierung beabsichtigt, sind also unausweichlich. Die soziale Abfederung muß durch das mietergebundene Wohngeld erfolgen. Nachdrücklich ist aber festzuhalten, daß dafür umgehend Verwaltungsstrukturen geschaffen werden müssen, die zum Zeitpunkt der Mieterhöhungen wirksam werden. Ich sage ganz deutlich: Nur die zeitgleiche Koppelung von Mieterhöhung und Wohngeld findet unsere Zustimmung. Dabei können wir alle nicht oft genug den Menschen in den neuen Bundesländern - dies haben auch Sie dankenswerterweise deutlich gemacht - sagen, daß das Wohngeld eben kein Almosen ist, sondern ein legitimer Anspruch, um soziale Härten abzufangen.
In der ehemaligen DDR verrotteten die Altbauten, weil nichts repariert wurde. Die Neubauten wurden in steriler Massenbauweise aus Billigfertigteilen hergestellt, deren Haltbarkeit mehr als begrenzt ist, vom nicht vorhandenen Wohnkomfort einmal ganz abgesehen. Schon deshalb muß schleunigst gehandelt werden. Denn wer zahlt schon gerne für eine schlechte Wohnung mehr Geld, wenn ihm nicht zugleich die Perspektive eröffnet wird, daß auch seine Wohnsituation verbessert wird?
Fest steht: Die Bundesregierung hat die erforderlichen Mittel für die Erhaltung und die Verbesserung der Bausubstanz lockergemacht und an die Länder
weitergeleitet. Nun aber sind die Länder, die Städte und Gemeinden am Zuge. Hier allerdings läuft es vor Ort noch viel zu zögerlich.
Durch die geplante Mieterhöhung, die inzwischen von fast allen Fraktionen gefordert wird, können sich die Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften stabilisieren, und sie erhalten auch endlich einen finanziellen Spielraum. Die öffentlichen Haushalte wiederum werden von den Subventionen entlastet. Das sind für Wohnungen im Ostteil Berlins allein 100 Millionen DM pro Monat, wie wir gestern gehört haben. Die Vorgaben der Bundesregierung sind also Signale in die richtige Richtung.
An dieser Stelle möchte ich die neuen Bundesländer allerdings dazu aufrufen, bei ihrem Handeln auch konzeptionelle Phantasie und politischen Mut zu beweisen. Ich begrüße es in diesem Zusammenhang ausdrücklich, daß z. B. Mecklenburg-Vorpommern ein Modellvorhaben für sozialverträgliche Privatisierung von Wohnraum entwickelt, und wünsche mir in den Ländern noch mehr gute Ideen, um möglicherweise auf unkonventionellem Wege die mehr oder weniger festgefahrene Situation in Gang zu bekommen.
Meine Damen und Herren, Ziel unserer Politik muß es sein, zu investieren, statt zu subventionieren. Dies ist allein durch die öffentliche Hand nicht zu bewerkstelligen. Vielmehr müssen wir versuchen, durch entsprechende Anreize privates Kapital zu gewinnen. Auch aus diesem Grunde ist es falsch, Mieten festzuschreiben. Mieterhöhungen, gekoppelt mit Wohngeld, das ist der richtige Weg, gerade auch um notwendige Instandsetzungsmaßnahmen durchzuführen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in diesem Zusammenhang feststellen: Es muß sichergestellt werden, daß durch einfache Verhaltensweisen der mit dem Wohngeld verbundene Aufwand in den Ländern auch wirklich bewältigt werden kann. Wenn ich mir vorstelle, daß für den Ostteil Berlins allein schätzungsweise 300 000 bis 400 000 Haushalte künftig Anrecht auf Wohngeld haben, dann erscheint ein zeitlicher Vorlauf von drei Monaten zwingend erforderlich. Dies aber verlangt von uns, endlich zu handeln.
Ein Weg, mit dem das Wohngeld wirkungsvoll zum Ausgleich für die erhöhten Mietbelastungen eingesetzt werden kann, könnte die direkte Zuführung an den Vermieter sein. Für den Mieter würde daraus folgen, daß er nur die um das Wohngeld verringerte Miete zahlt. Behördengänge und umständliche Oberweisungen ließen sich dadurch reduzieren. Auch die - wie ich meine - immer noch bestehenden Vorbehalte gegen das Wohngeld könnten dadurch abgebaut werden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf den brandenburgischen Ministerpräsidenten verweisen, der erst vor wenigen Tagen darauf aufmerksam gemacht hat, daß die Lage in den neuen Ländern besser sei als die Stimmung. Diese Aussage beinhaltet die Aufforderung an uns alle, über Parteigrenzen hinweg den Menschen in den neuen Bundesländern Mut zu machen, statt Ängste zu schüren.
({2})
Es geht eben nicht, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, daß Sie über die Form und Höhe der Mieten hier meckern und dies kritisieren, daß sich ein Potsdamer Stadtbaurat aber gleichzeitig hinstellt und die Bundesregierung kritisiert, weil die Mieterhöhungen viel zu gering ausfallen. Dies ist ein Reden mit zwei Zungen. Das müssen wir scharf kritisieren.
({3})
Die Bürger erwarten jetzt konkrete Hilfe bei der Lösung ihrer Probleme, bei der Instandsetzung von Dächern, bei der Reparatur an der Warmwasserzufuhr, bei der Fugensanierung an Großplattenbauten, wo der Wind zum Teil durch die Steckdosen pfeift. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es handelt sich hier nicht um die Form von Stromerzeugung aus Windenergie, sondern schlicht und einfach um das Ergebis zu groß geratener Löcher sozialistischer Plattenbauweise.
Meine Damen und Herren von der SPD: Ich wende mich ganz bewußt an Sie: Beenden Sie bei einem so sensiblen Thema, wie es die Mietenpolitik nun einmal ist, das parteipolitische Gezänk. Lassen Sie uns vielmehr nach Gemeinsamkeiten, die oft größer sind, als man glauben mag, suchen, zum Wohle unserer Bürger in den neuen Ländern!
({4})
Wir werden daher - das wird Sie nicht überraschen - Ihren Antrag, der durch die Vorgaben eine erneute zeitliche Verzögerung in der Mietenpolitik mit sich brächte, die die Länder finanziell nicht verkraften können, wie Sie wissen, Ihren Antrag also im Ausschuß ablehnen und aus demselben Grund der Beschlußempfehlung heute zustimmen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei dem heute zur Debatte stehenden Thema handelt es sich, genau besehen, in den sechs neuen Ländern in bezug auf die Mietenentwicklung um zwei verschiedene Probleme, die sich auf folgende Fragen reduzieren lassen, die mir - und vielleicht auch Ihnen - immer wieder gestellt werden:
Erstens. Wie kann ich mit meiner Familie in meiner Wohnung, in meinem Kiez bleiben, ohne ständig am Rande des finanziellen Abgrundes balancieren oder auf völlig überforderten Ämtern um Wohngeld „Minken putzen" zu müssen?
Zweitens. Wie komme ich für mich und meine Famillie überhaupt zu einer menschenwürdigen, bezahlbaren Wohnung?
Daß es zwischen diesen beiden Fragen hundertfache Schattierungen gibt - beispielsweise Wünsche nach Umzug in eine passendere Wohnung - ist so selbstverständlich, daß ich hier nicht länger darauf eingehen möchte.
Jedenfalls handelt es sich einmal darum, den vorhandenen Wohnraum - so differenziert seine LeDr. Ilja Seifert
bensqualität im einzelnen sein mag - so effektiv wie möglich zu nutzen. Effektiv heißt für mich, in erster Linie: so günstig wie möglich für den Nutzer, für den Mieter, also bezahlbar, komfortabel, ohne Angst vor Exmittierung.
({0})
- Ich rede von der jetzigen Zeit.
Erst danach rangiert für mich und für die PDS/Linke Liste Effektivität im Sinne von Kapitalverwertung, von Gewinn für die Eigentümer. Deshalb halte ich für die Mietentwicklung den Aspekt der Sozialverträglichkeit für weitaus gewichtiger als den der Motivierung der Eigentümer. Daß ich durchaus auch deren Interesse sehe, Herr Kansy, zeigt sich in der Forderung nach zumindest befristeter Direktsubventionierung durch Wohngeldzahlung ohne langwierige und die Behörden überlastende Bedürftigkeitsprüfung.
Selbstverständlich sind Instandhaltung und meist auch Modernisierung im ureigensten Interesse der Nutzer. In der Mehrzahl der Fälle ist es auch im Interesse der Mieter, daß ihre Wohnungsbaugesellschaften, ihre Genossenschaften und auch die privaten Hauseigentümer, mit denen sie zu DDR-Zeiten ganz gut auskamen, jetzt nicht von den Unterhaltskosten in den Ruin getrieben und zu quasi-enteignenden Zwangsverkäufen an kapitalkräftige westliche Miethaie gezwungen werden.
Einer behutsamen Anhebung der Mieten zu diesen Zwecken, flankiert von direkter Subventionierung, verschließen auch wir uns deshalb nicht.
Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit - ich meine soziale Gerechtigkeit - nicht oberstes Prinzip ist. So enthält natürlich auch unser Vorschlag Ungerechtigkeiten. Aber sie sind sozial bedeutend weniger ungerecht als eine schlagartige Vervielfältigung der Mietbelastung.
Zum anderen handelt es sich darum, neuen, guten Wohnraum in ausreichender Menge zu schaffen und ihn dann den Menschen zu annehmbaren Bedingungen zur Verfügung zu stellen. Das - nur nebenbei gesagt - gilt übrigens in Ost und West gleichermaßen. Eine der Möglichkeiten, hier rasch zumindest ein wenig Entlastung zu bringen, ist, bereits fertiggestellte bzw. kurz vor der Vollendung stehende Gebäude, die noch zur DDR zählten, dort auch geplant und bei denen in dieser Zeit mit dem Bau begonnen wurde, von den Kommunen zu übernehmen, sie also zu kaufen, damit Mieter wirklich einziehen können. Selbstverständlich müssen diese Wohnungen als Sozialwohnungen eingestuft werden, da sie mit öffentlichen Mitteln errichtet wurden. Langfristig gesehen ist es jedoch erforderlich, endlich ein Wohnungsbauprogramm auf den Weg zu bringen.
Der gestrige Besuch des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau in Nauen und Potsdam brachte diese Notwendigkeit deutlich zutage. Neue Häuser in den Städten - öffentlich und privat finanziert - in größerem Umfang errichtet, werden die Konjunktur auch tatsächlich ankurbeln. Davon profitiert dann die Gemeinde in Form von Steuereinnahmen, der Bürger in Form von Wohnung und Arbeit
sowie die mittelständischen Unternehmen in Form von Nachfolgeaufträgen.
Was nun die vorliegenden Anträge der SPD angeht: Ich betrachte sie als Pflaster auf einer großen Wunde. Sie heilen nicht, schützen aber vor weiterer Infektion. Da sie also keinen Schaden anrichten und uns gewählte Abgeordnete an unsere Pflicht erinnern, kann ich ihnen - wenn auch nicht gerade hocherfreut - zustimmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als nächster hat der Kollege Dr. Walter Hitschler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, Herr Kollege Seifert, daß wir in den nächsten drei Jahren aus Ihnen noch einen überzeugten Marktwirtschaftlicher machen. Leichte Tendenzen zur Besserung sind in Ihren Reden zunehmend erkennbar.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist erfreulich, festzustellen, daß sich zumindest in dem Antrag der SPD, wenn auch nicht in der Rede des Herrn Kollegen Großmann, in zwei wesentlichen und grundlegenden Fragen, die Mietentwicklung in den neuen Bundesländern betreffend, ein parteiübergreifender Grundkonsens abzuzeichen beginnt. Zunächst wächst allenthalben die Erkenntnis, daß die Mieten angehoben werden müssen, weil ohne Mieterhöhungen weder die kommunalen Wohnungsbaugenossenschaften noch private Vermieter in der Lage sind, Instandsetzungs- bzw. Modernisierungsmaßnahmen durchzuführen, die ihrerseits notwendig sind, um das Bauhaupt- und -nebengewerbe in Gang zu bringen und originäres Einkommen für die in der Bauwirtschaft Tätigen zu schaffen. Wir wissen uns auch einig darin, daß die Qualität der Wohnraumversorgung Werterhaltungs- und Wertverbesserungsmaßnahmen dringlich erfordert.
Wir erzielen zum zweiten Konsens darüber, daß der schmerzliche Gewöhnungsprozeß höherer Mieten zeitgleich von einer Regelung begleitet sein muß, die soziale Härten abfedert, zumal ein Teil der Kosten, die künftig vom Mieter zu tragen sind, in der anfallenden Höhe nur wenig beeinflußbar sind, weil beispielsweise die technische Ausstattung der Heizungsanlagen die Energieverschwendung geradezu programmiert.
Der Einigungsvertrag verpflichtet uns dazu, die Mietanpassungen entsprechend der Einkommensentwicklung vorzunehmen. Um diesen schwierigen Abwägungsprozeß zwischen der wirtschaftlichen Notwendigkeit der Mieterhöhung und ihrer Tragbarkeit durch die Mieter ausgewogen zu gestalten, hat die Bauministerin, Frau Adam-Schwaetzer, in Ausfüllung ihrer Verordnungsermächtigung, die im übrigen, Herr Kollege Großmann, mit Zustimmung ihrer Genossen in der Volkskammer zustande gekommmen ist und in den Einigungsvertrag hineingeschrieben worden ist, eine Grundmietenverordnung, eine Betriebskostenverordnung sowie eine spezielle Wohngeldregelung für den Osten vorgelegt, die unseren großen
Respekt verdient, weil ihr mit dem zeitgleichen Inkraftsetzen in der Tat genau das Kunststück des Interessenausgleichs in vorzüglicher Weise gelingt. Die von den Mietern danach zu zahlenden Mieten werden sich je nach Einkommen um die Grenze einer 10%igen Belastung des Einkommens bewegen.
Inhaltlich sind die Verordnungen deshalb auch kaum noch umstritten. Da man der Regierung aber nicht so einfach zugestehen möchte, daß sie hervorragende Arbeit geleistet hat,
({0})
verlagert man die Auseinandersetzungen auf den Nebenkriegsschauplatz des Zeitpunktes des Inkrafttretens und wirft der Regierung dabei ein unter den unschlüssigen und entscheidungsschwachen Landesregierungen selbst inszeniertes Fingerhakeln um den Termin als deren Schuld vor.
({1})
Sie brauchen doch nur die täglichen Pressemeldungen Ihres brandenburgischen Ministerpräsidenten Stolpe nachzulesen,
({2})
der nach der Einigung im Bundesrat am Freitag schon wieder erklärt hat, daß die Mietanpassung auf den 1. Oktober hinausgeschoben werden soll.
Wir sagen klipp und klar, daß wir die Auffassung vertreten, daß der Termin der 1. August 1991 sein sollte. Ein von den Ländern zu verantwortendes Hinausschieben dieser Regelung - sie tragen die Verantwortung für den Zeitpunkt - auf den 1. Oktober bedeutete eben nicht nur eine zusätzliche Belastung der öffentlichen Haushalte um den Betrag von 2 bis 3 Milliarden DM, nicht nur eine nicht mehr länger zu vertretende Belastung der privaten Vermieter, denen wir noch zwei Monate länger zumuten würden, die Betriebskosten für ihre Mieter zu bezahlen, sondern es hätte auch die fatale Folge, daß im laufenden Jahr die Bauwirtschaft wohl überhaupt nicht mehr angekurbelt werden könnte und die Handwerksbetriebe schließen müßten. Dieser Verantwortung müssen sich die Länder bewußt sein. Ein Hinauszögern dokumentiert deshalb keineswegs ein höheres Maß an sozialer Sensibilität, wie immer wieder suggeriert wird, sondern im Gegenteil ein geringeres. Es offenbart Handlungsschwäche und gar Drückebergerei vor politisch notwendiger Verantwortung, zumal nicht die Ausrede gelten kann, die Verwaltungen könnten das nicht bewerkstelligen. Die Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Aufgabe sind vom Bund geschaffen worden. Nun gilt: Hic Rhodos, hic salta.
Der Bausenator von Berlin dreht inzwischen - Sie haben das heute bemerkenswerterweise wiederholt, Herr Großmann - den Spieß um und macht der Bundesregierung zum Vorwurf, daß sie nicht gleich auch noch eine Instandsetzungsverordnung vorgelegt habe, obwohl die Ministerpräsidenten die Bauministerin schon vor Monaten gezwungen haben, auf eine solche Instandsetzungsverordnung zu verzichten.
({3})
Heute aber machen Sie der Bundesregierung zum Vorwurf, daß sie diese Verordnung nicht vorgelegt hat. Das ist eine scheinheilige und zwiespältige Argumentation.
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Ja, es ist derselbe Senator, der erst kürzlich mit Horrormeldungen von 14fachen Mietsteigerungen die Boulevardpresse beglückte und in einer konzertierten Aktion mit seinen Kollegen eine solche Verordnung von vornherein verhinderte. Nun verbindet er sein Petitium wie die SPD im vorliegenden Antrag mit der Forderung nach Einführung einer Mietobergrenze.
Kann man den Streit um den Inkraftsetzungszeitpunkt für die Verordnungen noch als übliches Oppositionsgeplänkel um höheres soziales Ansehen betrachten, geht es mit diesem Vorschlag ans Eingemachte.
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Wir sind im übrigen dankbar dafür, daß Sie ihn hier eingebracht haben. Er ermöglicht uns doch, deutlich zu machen, daß wir nicht bereit sind, mit Ihnen auf diesem Zirkusklepper Runden in der Manege des Populismus zu drehen.
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Wir können somit unseren gänzlichen anderen Weg , der wirtschaftlich erfolgversprechender ist, aufzeigen und die Unterschiede unserer völlig verschiedenen Denkansätze in der Mietenpolitik herausstellen.
Mietobergrenzen, wie Sie sie wünschen und vorschlagen, zeigen folgende Wirkungen:
Erstens. Sie hemmen die Wohnungsmodernisierung, da die Obergrenze politisch festgelegt und nach den Vorstellungen der sozialen Verantwortbarkeit dirigistisch festgesetzt wird. Sie orientiert sich nicht am Markt, nicht an den echten Kosten, sondern am sozialen Gewissen von Parteimitgliedern, die ihre Entscheidungen nicht an objektivierbaren Kriterien messen, sondern an der Frage, ob sie ihres Verhaltens wegen noch einmal gewählt werden. Die Wohnqualität wird dadurch nicht so verbessert, wie dies ein freier Markt zuließe. Wir hatten in der DDR etwas Ähnliches. Das Ergebnis haben wir vor Augen. Sie empfehlen uns ein etwas differenziertes Modell, aber ebenfalls eines mit eingeprägtem Verfalldatum für Mietwohnungen.
Zweitens. Durch die fiktiven Obergrenzen würden Einheitswohnungen mit niedrigen Qualitätsstandards geschaffen, die der Vielfalt der Wohnungswünsche der Menschen nicht gerecht würden und die die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft außer Betracht ließen. Obergrenzen würden damit auch die Architektur einheitlicher und gleicher machen. Mir kommt dieses Schreckbild im Bild auf die Plattenbauweise nicht gänzlich unbekannt vor.
Drittens. Mietobergrenzen im Neubau - der Antrag sieht sie in der Tat für den Altbestand wie für den Neubau vor - bewirken einen Attentismus privaDr. Walter Hitschler
ter Anleger. Sie wirken in einer Zeit, in der wir zahlreiche neue Wohnungen brauchen, kontraproduktiv, wenn der Vermieter nicht mehr die echte Kostenmiete verlangen kann, sondern nur noch jene, die ihm beispielsweise eine rot-grüne Mehrheit zuzubilligen gedenkt. Wer würde unter diesen Umständen so bescheuert sein, Wohnungen zu bauen und zu modernisieren?
({7})
Dies ist deshalb ein Irrweg, ein Rückfall in archaische Auffassungen vom Funktionieren der Wirtschaft. Sie wollen die Bürger damit zu Ihrem politischen Mündel machen.
Wir haben die bessere Alternative: Wir fördern mit erheblichen Zuschüssen die Modernisierung und senken auf diese Weise die Modernisierungskosten. Wir bauen darauf, daß marktwirtschaftliches Verhalten in 99 % aller Fälle aus sozialer Verantwortung geschieht. Oder wollen Sie den Vorstandsmitgliedern der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und der Baugenossenschaften oder den privaten Vermietern unterstellen, daß sie Modernisierungen an der Leistungsfähigkeit ihrer Mieter vorbei durchführen? Sie werden Modernisierungen in Teilschritten vornehmen; denn auch sie sind soziale Wesen und handeln aus moralischer Verantwortung.
({8})
Genau dies ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis unserer Marktwirtschaft.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß.
Wir haben als weiteren Rahmen ein soziales Mietrecht mit erheblichen Einflußmöglichkeiten, gar einem Widerspruchsrecht des Mieters in § 541 b BGB, das für Modernisierungsfälle geschaffen wurde.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluß!
Wir haben eine Wohngeldregelung, welche die Folge der Umlage von Modernisierungskosten abmildert.
Wir brauchen mehr Anreize zur Investitionstätigkeit im Wohnungsbau und Hilfen zur sozialen Abfederung. Das ist der Königsweg. Wir bitten die Bundesregierung, auf diesem Weg fürderhin voranzuschreiten.
({0})
Und ich bitte, fürderhin die Zeit einzuhalten.
Nun hat der Kollege Konrad Weiß das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Mieten in der DDR, die auch heute noch in den östlichen Bundesländern weitgehend gelten, waren ganz ohne
Zweifel wirtschaftlich unvertretbar und haben zum katastrophalen Zustand vieler Häuser und Wohnungen in Ostdeutschland beigetragen. Niemand wird bestreiten, daß die Wohnungswirtschaft von Grund auf neugeordnet und die Mieten realistisch gestaltet werden müssen.
Die niedrigen Mieten in der DDR sind aber auch immer vor dem Hintergrund niedrigster Löhne und Gehälter zu sehen. Dieses Gefüge ist mit demjenigen der Altbundesrepublik unvergleichbar. Deshalb war es nur vernünftig, wenn der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung versprach, die Mieten in den neuen Bundesländern schrittweise und sozialverträglich anzupassen.
Die Praxis der Bundesregierung sieht aber leider auch in diesem Fall anders aus: Durch das Hin und Her an widersprüchlichen Aussagen, was denn nun wann warum und um wieviel erhöht werden soll, hat die Bundesregierung in Ostdeutschland Verwirrung und Unsicherheit gestiftet. Ich halte es für unverantwortlich, wenn in einem so sensiblen Bereich Informationen über Daten und Summen ausgestreut werden, die offensichtlich in den zuständigen Ministerien selbst noch umstritten sind.
({0})
Mit dieser Politik öffnet die Bundesregierung Spekulanten Tür und Tor, nicht aber solchen Investoren, denen es darum geht, sich durch den Erwerb von Immobilien an der Generalreparatur Ostdeutschlands zu beteiligen. Der Goldgräber sind genug, die Rostock, Potsdam und Dresden als Eldorado betrachten.
Die ungebremste Freigabe des Wohnungsmarktes hätte katastrophale Folgen. Erlauben Sie mir ein Beispiel, eine kleine Vorschau: Unlängst sprach in meinem Wahlkreis im Rahmen meiner Sprechstunde ein Antiquitätenhändler aus Potsdam vor, der ein Geschäft besitzt, das seit 99 Jahren in Familienbesitz ist und das auch 40 Jahre Kommandowirtschaft der SED überstanden hat. Die Politik Ihrer Koalition wird es aber nicht überstehen. Denn das Haus wurde - ganz offensichtlich in spekulativer Absicht - von einer westdeutschen Immobiliensammlerin gekauft. Statt bisher 437 DM hat der Geschäftsinhaber nun 3 090 DM Miete zu zahlen. Die Konsequenz ist, daß er seine zwei Mitarbeiterinnen entlassen mußte und das Aus für seine Firma absehbar ist. Ähnliches spielt sich in Ostdeutschland alltäglich ab.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, wie es vielen Mieterinnen und Mietern ergehen wird, falls den östlichen Bundesländern die westdeutsche Wohnungsmarktpolitik transplantiert würde. Das würde der Patient nicht verkraften. Der Glaube an Selbstheilungskräfte ist bei einem Patienten, der im Koma liegt, purer Mord, mindestens aber unterlassene Hilfeleistung.
Die auch nicht unumstrittenen Regularien der Altbundesrepublik können nicht einfach für Ostdeutschland übernommen werden. Nach vielem Hin und Her hat die Bundesregierung begriffen, daß Wohngeld nicht ausgezahlt werden kann, weil die dafür notwendigen Auszahlungsstellen fehlen. Also sollen
Konrad Weiß ({1})
die Mieten im Oktober erhöht werden. Kann mir irgend jemand begreiflich machen, was das mit durchdachter und gestalteter Politik zu tun hat?
({2})
Da die Bundesregierung offensichtlich mit schrittweisen und sozialverträglichen Maßnahmen in Ostdeutschland überfordert ist, ist das Parlament in die Pflicht genommen. Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern - und nicht nur dort, meine Damen und Herren - erwarten von uns, ihren Abgeordneten, daß wir in ihrem Sinne nicht nur reden, sondern endlich handeln. Jeder von uns kennt die Probleme nur allzu gut aus eigener Anschauung. Wir wissen, daß die Menschen im Osten nicht auf Geschenke hoffen und keine Wunder erwarten, sondern eine realistische Politik, die die Bedingungen in den östlichen Bundesländern umfassend berücksichtigt. Dazu gehört nun einmal, die Mieten an die reale Einkommensentwicklung zu koppeln, sie stufenweise und sozialverträglich zu erhöhen und bei allen, die dies wollen, den Erwerb von Wohnungseigentum zu fördern.
({3})
Dieses Hohe Haus sollte sich die Gestaltung einer solchen Politik zu eigen machen. Dafür werden durch den zur Abstimmung stehenden Vorschlag der SPD-Fraktion die Voraussetzungen geschaffen. Deswegen unterstütze ich diesen Antrag.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat Herr Staatssekretär Echternach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über die Notwendigkeit einer Mietenreform besteht hier im Hause offensichtlich eine breite Übereinstimmung. Dies erfordert aber eine schmale Gratwanderung: Einerseits müssen wir den Mietenstopp aufheben; denn solange die Mieten nicht einmal 20 % der Kosten decken, sind natürlich Wohnungsmodernisierungen nicht möglich und verfallen die Wohnungen immer weiter.
Andererseits dürfen wir die Menschen in der schwierigen Umstellungssituation nicht überfordern, ihnen nicht mehr abverlangen, als sie verkraften können. Dies erfordert Kompromisse. Ich bin froh, daß sich Bund und Länder jetzt auf ein gemeinsames Konzept verständigt haben, das einerseits das wirtschaftlich Notwendige anpackt und andererseits sicherstellt, daß die Menschen auch die höheren Mieten zahlen können.
Unsere Vorstellungen zur Mietenreform basieren auf drei Säulen:
Erstens wird die Grundmiete um durchschnittlich 1 DM erhöht. Dies gibt dann der Wohnungswirtschaft und den privaten Vermietern den Handlungsspielraum, den sie brauchen, um die Wohnqualität zu verbessern.
Zweitens werden die Betriebskosten auf die Miete umgelegt, wobei die Betriebskosten für Heizung und Warmwasser auf 2 DM pro Quadratmeter begrenzt werden. Dies gilt in der alten Bundesrepublik seit eh und je, daß die Mieter die von ihnen verursachten Kosten selbst tragen. Es wäre nicht zu rechtfertigen, wenn in den neuen Ländern die Vermieter oder die Steuerzahler diese Lasten tragen müßten. Schon aus ökologischen Gründen muß auch hier das Verursacherprinzip gelten.
Diese Maßnahmen führen dazu, daß im Durchschnitt die Mieten im Altbau um 2,60 DM und im Neubau um 3,60 DM steigen werden. Um diese höheren Wohnkostenbelastungen auch verkraftbar zu machen, werden wir das spezielle Wohngeld Ost einführen; das ist die dritte Säule unserer Mietenreform. Das heißt, wir werden die Wohngeldbestimmungen bei uns, die sich ja hier bewährt haben, in doppelter Hinsicht verbessern. Erstens wird das Wohngeld höher ausfallen dadurch, daß wir Heizungs- und Warmwasserkosten, die bei uns unberücksichtigt bleiben, mit einer besonderen Pauschale zusätzlich über das Wohngeld auffangen. Zweitens stellen wir über einen besonderen Einkommensfreibetrag sicher, daß die durchschnittliche Wohnkostenbelastung der Mieter in den Beitrittsländern deutlich niedriger liegen wird als hier bei uns im Westen.
Zweitens. Wir werden die Wohngeldzahlungen besonders schnell und unbürokratisch abwickeln, indem wir zum einen das Wohngeld pauschal gewähren und zum anderen das ganze Wohngeldrecht drastisch vereinfachen. Wir verzichten auf die vielen Zu- und Abschläge und Sonderbestimmungen, die es bei uns gibt, die alle ihren guten Sinn haben. Aber die höchste Gerechtigkeit, die wir auf diese Weise anstreben, darf nicht dazu führen, daß die Mieter im Beitrittsgebiet lange auf das Wohngeld warten müssen, während die Mieterhöhungen sofort wirksam werden. Beides muß Hand in Hand gehen. Insofern gilt auch hier der Grundsatz: Doppelt gibt, wer schnell gibt.
Deshalb gibt es Wohngeldpauschalen.
({0})
- Dies gilt für mehrere Jahre, solange dies in der Übergangszeit erforderlich ist.
({1})
Wir werden dabei Erfahrungen sammeln. - Deshalb gibt es einfache Wohngeldtabellen, die der einzelne Mieter selbst verstehen und die er in die Brieftasche stecken kann. Wir werden den Kommunen zusätzlich bei der Ausbildung der Sachbearbeiter helfen, damit auch in der Praxis keine Probleme auftreten.
Offen ist jetzt nur noch der Termin des Inkrafttretens: 1. August oder 1. Oktober. Die Bundesregierung überläßt die Entscheidung darüber den Ministerpräsidenten der Beitrittsländer. Jeder muß sich aber morgen bei der Entscheidung im Bundesrat darüber im klaren sein, daß jeder Monat später Konsequenzen hat; denn zur Zeit bedeutet jeder Monat gleichzeitig Subventionserfordernisse von über einer Milliarde DM. Das bedeutet zusätzlich, daß die notwendigen
Modernisierungen und Instandsetzungen weiter verschoben werden, in diesem Jahr möglicherweise gar nicht mehr in Gang kommen. Dies alles muß von den Ländern morgen bedacht werden.
Die Bundesregierung ist bereit, dem Wunsch der Länder Rechnung zu tragen, den sie am letzten Freitag zum Inkrafttreten am 1. August geäußert haben, nämlich das Wohngeld aus dem Haushaltsbegleitgesetz auszugliedern. Ich bedanke mich dafür, daß auch der Bundestag dies unterstützt.
Ein Kompromiß ist natürlich notwendig gewesen zwischen dem, was die Koalition auf der einen Seite von der Sache her für notwendig gehalten hat, und dem, was die Ministerpräsidenten der Beitrittsländer auf der anderen Seite meinten verantworten zu können. Entscheidend ist aber jetzt, daß wir eine breite Übereinstimmung haben bis hin zu den Sozialdemokraten, die im Beitrittsgebiet Verantwortung tragen.
Sogar Herr Nagel, der uns noch vor wenigen Wochen mit harter Polemik öffentlich gescholten hat, trägt dieses Konzept voll mit. Es ist schon vorhin von den Kollegen erwähnt worden, daß er gestern sogar noch weiter ging, daß er zusätzlich eine begrenzte Umlage der Instandsetzungskosten auf die Mieter gefordert hat.
({2})
Spätestens jetzt hätte man eigentlich erwarten können, Herr Kollege Großmann, daß auch die SPD im Bundestag, die bisher eine Äußerung in der Sache vermieden hat, dieses Konzept mit unterstützen würde.
({3})
Herr Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Großmann?
Gerne.
Herr Staatssekretär, darf ich Sie fragen, ob Sie bei meiner Rede so aufmerksam zugehört haben, daß Sie feststellen konnten, daß wir in den Teilbereichen, die auch die anderen Redner gerade schon namhaft gemacht haben, auf Konsens-linie sind und daß die Frage der Wohngeldregelungen, die heute nicht zu behandeln ist - dazu haben Sie gerade Hinweise gegeben -, und die Frage der Preisobergrenze offen sind?
Herr Kollege Großmann, Sie kommen jetzt mit der Forderung, eine neue Kappungsgrenze einzuführen. Diese Kappungsgrenze betrifft nicht die Betriebskosten, sie betrifft nicht die eine Mark, die sowieso nach oben begrenzt ist. Sie betrifft nur eines, nämlich die Modernisierungskosten. Sie sagen in Ihrer Rede, dies entspreche dem Einigungsvertrag. Das stimmt aber nicht. Das steht in Widerspruch zum Einigungsvertrag. Nach dem Einigungsvertrag gilt insoweit ausdrücklich unser Miethöhegesetz. Wenn Sie hier jetzt eine Kappungsgrenze einführen wollen, bedeutet dies im Ergebnis, daß Sie Modernisierungen hinauszögern oder unmöglich machen wollen. Eine solche Kappungsgrenze können wir unmöglich mitmachen. Sie verhindert das, was drüben jetzt am dringendsten erforderlich ist.
Herr Staatssekretär, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Eine letzte. Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß die Preisobergrenze von der großen Koalition in Berlin gefordert wird, d. h., daß es auch CDU-geführte Landesregierungen gibt, die unsere Forderungen erheben?
Herr Kollege Großmann, ich weiß nur, daß der Berliner Senat unser Mietenreformkonzept in vollem Umfang mitträgt und es nicht mit solchen Forderungen belastet. Ich habe gestern mit Erstaunen gehört, daß der Berliner Bausenator, allerdings unter dem Widerspruch seiner eigenen Parteifreunde, sogar eine noch weitergehende Überwälzung der Instandsetzungskosten in einer bestimmten Höhe auf die Mieter für möglich hält, ja sogar fordert.
({0})
Ich kann jedenfalls Ihre Position so nicht akzeptieren.
Herr Staatssekretär, der Kollege Hitschler hat noch den Wunsch, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen. Ich lasse auch noch diese Zwischenfrage zu, möchte aber darum bitten, daß wir es dabei bewenden lassen, da wir sehr in Verzug sind.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen aufgefallen, daß dieser Vorschlag der SPD-Fraktion nicht nur die Modernisierungskosten betrifft, sondern auch eine Mietobergrenze für den Neubau und für erstmals vermietete Wohnungen zum Inhalt hat?
Wenn dies tatsächlich so gemeint sein sollte - Herr Großmann mag sich dazu noch äußern - , dann bedeutete das in der Konsequenz, daß nicht nur die Modernisierung, sondern auch der Neubau erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht würde. Wir müssen uns darüber im klaren sein: Solange die Mieten so hinter den Kosten hinterherhinken, so lange sind die Eigentümer überhaupt nicht in der Lage, die notwendige Instandsetzung und Modernisierung durchzuführen, und so lange wird natürlich auch kein Neubau betrieben werden.
Insofern führt kein Weg an der Umlage der Betriebskosten, an der Erhöhung der Mieten vorbei. Wir müssen eben heraus aus dem Teufelskreis verfallen1576
der Häuser, fehlender Wohnungen und einer wegen der viel zu niedrigen Mieten ausbleibenden Investitionsbereitschaft.
Mit dem ersten wichtigen Reformschritt geben wir sowohl der Wohnungswirtschaft als auch den privaten Vermietern die notwendige Perspektive für die Entwicklung ihrer Einnahmen. Wir stellen sicher, daß kein Mieter überfordert wird, und öffnen zugleich die Tür für Privatinitiative und dafür, daß die Wohnqualität verbessert werden kann. Zugleich geben wir der Bauwirtschaft und damit auch dem Arbeitsmarkt wichtige Impulse. Ich bitte dieses Haus, der Bundesregierung, den Regierungen der neuen Länder und damit letzten Endes auch den Menschen auf diesem Weg seine Unterstützung zu geben.
({0})
Als nächstes hat Frau Kollegin Dr. Christine Lucyga das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Thema Wohnen und Mieten in den neuen Bundesländern stand in den vergangenen Wochen wiederholt auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages, und das mit gutem Grund; denn auf dem Sektor Wohnungswirtschaft müssen rasch die Weichen für eine spürbare Verbesserung gestellt werden, wenn die ohnehin kritische Wohnungssituation in den neuen Ländern nicht außer Kontrolle geraten soll.
Der Wohnungsnotstand in der ehemaligen DDR ist eine Hinterlassenschaft des SED-Staates. Jetzt aber werden die Wohnungsprobleme immer drängender, weil sie, wie viele Probleme, mit der Einigung erst einmal verschärft worden sind, einerseits durch längeres Liegenlassen, andererseits weil die in der Alt-Bundesrepublik bewährten Instrumentarien nicht der Spezifik der Situation in den fünf neuen Ländern entsprechen. Ein wohnungs- und mietenpolitisches Konzept der Bundesregierung für die neuen Länder wird erst jetzt erkennbar.
Gewiß ist Wohnungsnot auch in der Alt-Bundesrepublik eine wachsende Sorge der Kommunen. Dennoch sind Ausmaß und qualitative Kriterien, was die Wohnungsnot in Ost und West betrifft, nicht vergleichbar. Denn im Osten kommt zum allgemeinen Mangel an Wohnraum noch der erbarmungswürdige Zustand vieler Wohnungen, an dem Mieter, Vermieter und Kommunen gleichermaßen schwer zu tragen haben.
Wir sind uns auch alle darüber einig, daß es so wie bisher nicht weitergehen kann und daß es notwendig ist, rasch für eine spürbare Verbesserung der Wohnungssituation in den ostdeutschen Ländern zu sorgen.
({0})
Angesichts des ungeheuren Modernisierungs- und Instandsetzungsbedarfs muß natürlich auch die bisher weit offene Schere zwischen Mieteinnahmen und tatsächlichen Wohnkosten geschlossen werden; denn zu den Relikten einer verfehlten Wohnungspolitik gehört auch, daß in der Ex-DDR Mieten auf dem Vorkriegsniveau eingefroren blieben und zur Zeit nur etwa 30 %
der laufenden Kosten decken. Mieterhöhungen sind also unumgänglich. Dies wird auch von den meisten Menschen in den fünf neuen Ländern so akzeptiert.
Bis hierhin, Herr Staatssekretär, besteht also vom Grundsatz her Übereinstimmung. Aber der Teufel steckt, wie überall, im Detail, so daß uns hier die Frage nach dem Procedere beschäftigt, und da sind wir in einigen Dingen anderer Meinung.
Bis in den neuen Bundesländern wirklich kostendeckende Mieten erzielt werden können, wird noch einige Zeit vergehen. Es wird also auch nicht ohne gewisse Schutzmaßnahmen für das Gebiet der ehemaligen DDR abgehen. Auf Grund der Kompliziertheit der Lage ist hier etwas zu lösen, was der Quadratur des Kreises gleicht. Wirklich kostendeckende Mieten überfordern einen Großteil der immer noch einkommensschwachen Mieter deutlich. Sozial verträgliche Mieten sind nicht kostendeckend. Aber wenn einheitliche Mietbelastungsquoten angestrebt werden, dann muß auch vom schon mehrfach dargestellten Zustand der Wohnungen, d. h. auch vom tatsächlichen Kostenaufwand, ausgegangen werden.
Uns liegen Analysen vor, nach denen der Finanzaufwand allein für die wichtigsten baulichen Leistungen zur Verbesserung und zum Erhalt der Bausubstanz in den neuen Bundesländern gegenwärtig etwa 100 000 DM pro Wohnung beträgt, und das bei einem Richtwert von 60 bis 65 qm.
Das kann durch Mieterhöhungen allein nicht geleistet werden. Das kann aber auch von den Ländern und Kommunen allein nicht geleistet werden. Es ist auch mit einer Reihe von Mietminderungsklagen zu rechnen, weil ein Großteil der Menschen - ein Fünftel der Wohnungen sind praktisch unbewohnbar - noch unter menschenunwürdigen Zuständen hausen; das wissen Sie.
Ich möchte an dieser Stelle eine weitere aktuelle Zahl bringen. Erst vor zwei Tagen gab das Statistische Bundesamt bekannt, daß das Bruttolohn- und Gehaltsniveau in Ostdeutschland gegenwärig knapp 37 % der Durchschnittseinkommen westlicher Arbeitnehmer erreicht. Das heißt, es gibt nach wie vor ein großes Einkommensgefälle von West nach Ost. Arbeitsmarktberichte und Prognosen sagen darüber hinaus aus, daß vorerst kein Grund für lautstarken Optimismus besteht. Auch die Regierung wird in dieser Hinsicht mittlerweile etwas zurückhaltender.
Unsere Forderung nach einer Mietpreisobergrenze ist also durchaus berechtigt, zumal die Masse der ostdeutschen Bürger zur Zeit auf den verschiedensten Gebieten einer wahren Kostenexplosion ausgesetzt ist. Ich nenne hier Energie- und Heizungskosten, Tarife für die Dienstleistungen, Verkehrstarife, Kindertagesstätten und anderes.
({1})
Vor diesem Hintergrund muß ganz einfach eine behutsamere Gangart in der Mietenpolitik eingeschlagen werden. Hier hat sich offensichtlich die Bundesregierung schwergetan; denn der fortwährende Terminpoker: Mietsteigerungen erst 1. April, dann - April, April! - zum 1. August, dann zum 1. Oktober, dann wieder zum 1. August, deutet doch darauf hin,
daß die Regierung mit dem Nachdenken über die Lösung der Mietenprobleme in Ostdeutschland noch nicht ganz zu Ende ist, und offenbleibende Fragen in den vorliegenden Verordnungsentwürfen weisen in dieselbe Richtung.
Ich möchte ein Beispiel herausgreifen: Nach dem letzten Verordnungsentwurf soll für die neuen Bundesländer das Wohngeldverfahren vereinfacht und verbessert werden. Dem ist in der Sache zuzustimmen, weil die besondere Lage in der ehemaligen DDR auch besondere Regelungen erforderlich macht.
Ich möchte jedoch fragen, ob gleichzeitig auch daran gedacht ist, daß die praktische Umsetzung dieser Regelungen gewährleistet werden muß, und ob auch die Voraussetzungen für das Inkrafttreten schon gegeben sind. Denn unter den Bedingungen des gegenwärtig in der Ex-DDR herrschenden Verwaltungschaos ist es geradezu weltfremd, anzunehmen, man brauchte nur eine Verordnung in Kraft zu setzen und alles Weitere würde sich schon richten.
Bisherige Erfahrungen besagen eher das Gegenteil. Bisher ist es in Ostdeutschland nicht die Regel, sondern die Ausnahme, daß Rechtsansprüche auf soziale Hilfen problemlos und vor allem rechtzeitig abgerufen werden können. Arbeitslose, Vorruheständler, Sozialhilfeempfänger und andere Beihilfeberechtigte wissen von der oft demütigenden, in jedem Falle aber schwerfälligen Arbeit der Versorgungsämter ein Lied zu singen.
({2})
Es kommt auch ein enormer Verwaltungsaufwand hinzu, wenn jetzt die Quadratmeter Wohnfläche vermessen und ausgerechnet werden müssen. Wenn wir uns einmal vergegenwärtigen, in welchem Ausmaß Wohngeld in den neuen Bundesländern beantragt und gezahlt werden muß, und wir uns gleichzeitig den Verwaltungsnotstand dort vor Augen halten, werden wir erkennen, daß ganz einfach der notwendige zeitliche Spielraum geschaffen werden muß, um den erforderlichen administrativen und institutionellen Vorlauf bewältigen zu können.
({3})
Wir unterstützen daher den Beschluß der Bauministerkonferenz, die vorgesehenen Mieterhöhungen erst zum 1. Oktober vorzunehmen, um diesen Spielraum zu gewinnen.
Dies legen auch Schätzungen des Wohngeldbedarfs dringend nahe. Neueste Angaben aus Berlin ({4}) besagen, daß hier mit ca. 400 000 Wohngeldanträgen gerechnet wird. Rostock, eine Stadt mit 250 000 Einwohnern, erwartet ca. 40 000 Anträge. Hinzukommt, daß vor Einführung des Wohngeldes auch eine intensive Informationskampagne in den neuen Ländern durchgeführt werden muß; denn den Menschen dort wurde binnen kürzester Frist zugemutet, in fast allen existentiellen Lebensbereichen völlig umzudenken. Wohnen und Mieten sind solche existentiellen Fragen.
({5})
Die Frage nach der Bezahlbarkeit der Wohnung rückt immer mehr in den Vordergrund, je mehr den
Menschen vom bisherigen sozialen Besitzstand verlorengeht. Wenn schon die sichtbaren positiven Signale, daß sich die Situation der Menschen dort ganz allgemein zum Besseren wendet, bis jetzt ausbleiben, dann sollten zumindest Signale eines feinfühligeren Umgangs mit den Menschen gesetzt werden, die bisher immer wieder mit der Praxis des gebrochenen Wortes konfrontiert werden.
({6})
Auch die vor der Wahl abgegebenen und in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 30. Januar dieses Jahres wiederholten Versprechungen zur Entwicklung der Mieten in den neuen Ländern sind inzwischen, wie wir wissen, Makulatur. Um so wichtiger wird es sein, Sonderregelungen, Pauschalisierungen und Vereinfachungen für Wohngeldempfänger in den neuen Ländern voll zu gewährleisten.
({7})
Wir ersuchen deshalb die Bundesregierung, sich dem Beschluß der Arge Bau, Mieterhöhungen zum 1. Oktober als verwaltungstechnisch frühestem Termin, anzuschließen sowie Mietobergrenzen festzusetzen, die mit der Wohngeldobergrenze identisch sind.
Bei alledem bleibt noch ein Problem offen, an dem die Existenz von Mietern, Vermietern und ganzen Kommunen hängt. Ich meine ganz konkret die Bewirtschaftungshilfen für Wohnungsunternehmen in den fünf neuen Ländern.
Ich beziehe mich auf die Pressemeldung der Bundesbauministerin vom 23. April, nach der so lange, wie die Mieten allein nicht zur Sicherung der Wirtschaftlichkeit der Mietwohnbestände in den neuen Bundesländern ausreichen, für eine Übergangszeit auch weiterhin Subventionen an private Vermieter und an die Wohnungswirtschaft gezahlt werden müssen; das ist richtig. Es muß aber auch die Zuständigkeit für diesen Defizitausgleich an Wohnungsunternehmen geklärt werden, denn wenn es in der gleichen Presseerklärung der Bundesbauministerin weiter heißt, diese Aufgabe müsse jetzt von den Ländern in eigener Verantwortung gelöst werden, nachdem der Bund für ihre angemessene Finanzausstattung gesorgt habe, möchte ich doch einmal an einem einfachen Rechenexempel darlegen, wie diese angemessene Finanzausstattung aussieht und wie die Länder versuchen, sie künstlich zu strecken.
In der Stadt Rostock benötigen das kommunale Wohnungsunternehmen und die Wohnungsgenossenschaften, die gemeinsam einen Mietwohnungsbestand von ca. 80 % verwalten, im Jahre 1991 jeweils 126 Millionen DM, insgesamt also ca. 250 Millionen DM Zuschüsse. Bereits Anfang des Jahres wurde übrigens die finanzielle Lage der Wohnungsunternehmen als katastrophal eingeschätzt.
An das Land Mecklenburg-Vorpommern wurden im März zur Entlastung der Wohnungswirtschaft ca. 675 Millionen DM angewiesen, wohlgemerkt: für ein Land mit 1,9 Millionen Einwohnern. Rostock, eine Stadt mit 250 000 Einwohnern, braucht allein 250 Mil1578
lionen DM. Dieser Betrag ist also für die Deckung des Defizits bei weitem nicht genug.
Es gab im übrigen um Bewirtschaftungshilfen einen mehrwöchigen Kampf der Kommunen und Wohnungsunternehmen mit der Landesregierung, die dem drohenden Konkurs der Wohnungsunternehmen untätig zusah. Allein in Rostock hätte aber dieser Konkurs 60 bis 70 Handwerksbetriebe und die Sparkasse mit in den Konkurs gezogen.
Nun erst hat das Land begonnen, Bewirtschaftungshilfen auszugeben - aber in Form rückzahlbarer Darlehen. Das heißt, weitere, zusätzliche Mietsteigerungen sind bei der Rückzahlung der Darlehen vorprogrammiert, schätzungsweise um 1,65 DM pro Quadratmeter. Und das ist nur die Spitze des Eisberges; denn damit ist überhaupt noch nichts für die Sanierung der Wohnungsunternehmen geschehen, und damit ist noch kein Instandsetzungsproblem geklärt.
Das bedeutet: Bei einer Verlagerung des Problems der Bewirtschaftungskosten auf die Länder setzt eine verhängnisvolle Kettenreaktion zuungunsten der Mieter, der Vermieter und der Kommunen ein. Die Sicherung der finanziellen Handlungsfähigkeit der Wohnungsunternehmen darf also nicht allein den Ländern aufgebürdet werden. Hier muß der Bund Flagge zeigen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Hans Raidel.
Hochverehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
({0})
Darf ich jetzt wieder um Ernsthaftigkeit bitten, meine Kollegen.
Hochverehrte Frau Präsidentin!
({0})
Bau-, Boden-, Wohnungs- und Mietenpolitik sind aus dem Wirtschafts- und dem Arbeitsmarkt die zentralen Themen des Gemeinschaftswerkes Aufschwung Ost. Einerseits ist kein anderer Bereich besser geeignet, schnell für Beschäftigung zu sorgen und die Konjunktur anzukurbeln, andererseits ist dies ein ungeheuer sensibler Bereich, weil er die Menschen unmittelbar in ihren Lebensverhältnissen berührt.
Die wohnungspolitischen Erfahrungen bei uns in Westdeutschland und in der ehemaligen DDR zeigen deutlich, daß eine marktwirtschaftliche Wohnungspolitik zu einer wesentlich besseren Befriedigung der Wohnraumnachfrage führt als eine Wohnungswirtschaft mit starken staatlichen Eingriffen.
({1})
Deshalb sind in den alten Bundesländern eine konsequente Weiterentwicklung der marktwirtschaftlich
orientierten Wohnungspolitik und in den neuen Bundesländern die Nutzung der Kompetenzen der Bundesregierung, der Länder und der Gemeinden zur Förderung einer raschen marktwirtschaftlichen Entwicklung notwendig.
({2})
- So kann man es auch sagen. Das ist eigentlich die exakte Definition.
({3})
Selbstverständlich ist dabei die Frage des Mietrechtes, also des Mieterschutzes, gleichwertig zu beachten.
Das zentralistische Gesellschaftskonzept in der ehemaligen DDR hat die Eigeninitiative der Bürger 40 Jahre lang unterdrückt und damit jene Kraft untergraben, ohne die ein Gemeinwesen auf Dauer nicht gedeihen kann.
Infolgedessen befindet sich der Wohnungsbestand in einem miserablen Zustand. 23 % der rund 7 Millionen Wohnungen der ehemaligen DDR verfügen nicht über ein Bad und nicht über eine Duschgelegenheit, 30 % der Wohnungen verfügen nicht über eine Innentoilette, etwa die Hälfte der Wohnungen wird noch mit Einzelöfen beheizt, was bei der schlechten Braunkohle zugleich eine enorme Umweltbelastung zur Folge hat, und fast ein Viertel der Altbausubstanz ist nicht mehr bewohnbar oder sogar baufällig.
Diese Bestandsaufnahme macht deutlich, wozu die Mißachtung des privaten Eigentümers und seines Einsatzwillens führt. Ein Schlüssel zur Bewältigung dieser Aufgaben in den neuen Bundesländern ist die Mietenreform. Die Fakten sind Ihnen bekannt. Ich halte sie für wirtschaftlich vertretbar und sozial ausgewogen.
Zur sozialen Abfederung der Mieten ist das Ineinandergreifen von Mietenreform und Wohngeldregelung unabdingbar. Dem neuen Sonderwohngeld kommt sogar eine entscheidende Schlüsselstellung zu. Durch die Schaffung dieses besonderen Wohngeldes wird der Problemstellung Rechnung getragen, die Mietenbelastung in etwa auf durchschnittlich 10 % des Haushaltseinkommens abzusenken, während im Westen die Belastung im Schnitt mindestens bei 20 liegt.
Diese Besserstellung im Wohngeld Ost wurde durch einige Sonderregelungen erreicht, die eine Überforderung der Mieter verhindern. So werden die Mehrkosten für Wärme und Wasser berücksichtigt. Außerdem werden ein Einkommensfreibetrag eingerechnet und das pauschalierte Wohngeld eingeführt, das nach einem vereinfachten Verfahren ausgezahlt werden kann. Die Länder sind für die Durchführung zuständig. Sie sollten sich jedoch schnell darauf einigen, zu welchem Zeitpunkt diese gesetzlichen Vorschriften in Kraft treten sollen. Wünschenswert wäre der 1. August und nicht der 1. Oktober, da jeder Monat ohne diese verzahnte Regelung von Mietrecht und Wohngeld zusätzliches Geld kostet. Die Erwartung, der Bund würde dieses Nichthandeln der Länder zusätzHans Raidel
lich subventionieren, ist nach meiner Auffassung abschlägig zu beurteilen.
Nach Klärung der Eigentumsverhältnisse, insbesondere der für den Boden, sollten sich die Kommunen im wesentlichen vom Wohnungsbesitz trennen und ihn privatisieren. Ein bestimmter Prozentsatz wäre allerdings für sozial Schwache im Rahmen der Wohnungsfürsorge im Kommunaleigentum zu belassen.
In diesem Zusammenhang muß darüber nachgedacht werden, ob den kommunalen Wohnungsunternehmen nicht die Schulden aus der Vergangenheit erlassen werden könnten. In vielen Fällen handelt es sich bei den Altschulden nur um Papierschulden, die den Wohnungsunternehmen im Rahmen des Staatshaushalts einfach zugeordnet worden sind und bei der Währungsunion zu Realschulden wurden.
({4})
Wenn diese Schulden nicht mehr die Wohnungsunternehmen belasten, wäre es für die Mieter erheblich attraktiver, ihre Wohnung zu erwerben.
Meine Damen und Herren, wir sind uns darüber einig, daß der Mietstopp in den neuen Bundesländern aufgehoben werden muß und daß die Mieten schrittweise in das Vergleichsmietensystem überführt werden sollen und müssen. Ein immer höherer Anteil des gesamten Mietwohnungsbestandes muß dem allgemeinen Mietrecht unterliegen.
Ein Sondermietrecht besteht bei uns im sozialen Wohnungsbau. Gerade für die neuen Bundesländer sollte das Instrumentarium der Mietbindung als sinnvolle soziale Komponente, z. B. durch Ankauf, eingeführt werden.
Um ein großes Wohnungsangebot zu haben, müssen sich nach meiner Meinung die Mieten grundsätzlich nach Angebot und Nachfrage bilden. Gegen überhöhte Mieten und Wuchermieten gibt es einen gesetzlichen Schutz. Die soziale Absicherung erfolgt unmittelbar durch Maßnahmen zugunsten der einkommensschwachen und sozial schwachen Gruppen, z. B. durch das Wohngeld.
Für den Mietwohnungsmarkt müssen wir Perspektiven eröffnen. Das bedeutet, erstens verläßliche Bedingungen für Investoren zu schaffen, zweitens die Beziehungen zwischen Vermietern und Mietern zu verbessern, drittens eine zusätzliche Absicherung gegen starke Mietänderungen zu etablieren und viertens soziale Sicherungen weiter auszubauen. Im Osten wie im Westen gilt nach meiner Überzeugung: Ein Schlüssel zur Lösung liegt in der Ausweitung des Angebotes.
Zu diesen unmittelbar wohnungspolitisch orientierten Themen treten die Mittel der Städtebauförderung hinzu. Die in großem Umfang noch erhaltenen historisch wertvollen Dorf- und Stadtkerne müssen in ihrer Substanz bewahrt und wieder instand gesetzt werden. Aus diesem Grund fließen erhebliche Bundesmittel im Rahmen der Städtebauförderung in die neuen Bundesländer. Wieder im Stadtkern zu wohnen ist ja außerdem besonders attraktiv und entlastet zusätzlich den Wohnungsmarkt.
Meine Damen und Herren, daneben wurde ein Programm aufgelegt, um mit Sofortmaßnahmen dringend zu behebende Bauschäden zu bewältigen. Bei der Durchführung sollten jedoch Mindestbedingungen der VOB beachtet werden, um Falschvergaben zu vermeiden. Die Aufträge sollten, wann immer es möglich ist, der heimischen Wirtschaft in den neuen Bundesländern zugute kommen. Persönlich wäre ich deshalb sehr dafür, den Wettbewerb, wo es sinnvoll ist, auf die neuen Länder zu begrenzen und Aufträge bis zu gewissen Obergrenzen freihändig zu vergeben bzw. mit beschränkten Ausschreibungen hauptsächlich einheimische Firmen zu bedienen.
({5})
Meine Damen und Herren, das Instrumentarium für die wohnungspolitische Offensive für den Aufschwung Ost ist geschaffen. Die Hilfen sind umfangreich. Mit einer verständlichen und überzeugenden Öffentlichkeitsarbeit sind diese Hilfen unseren Mitbürgern in den neuen Bundesländern klarzumachen. Nun gilt es, die Maßnahmen tatkräftig, ideenreich und vor allem schnell umzusetzen.
Vielen Dank.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen in der Abstimmung zunächst zum Antrag der Fraktion der SPD zur Mietentwicklung in den neuen Bundesländern. Der Ältestenrat schlägt dazu die Überweisung des Antrags auf Drucksache 12/313 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Antrag der Fraktion der SPD zur Nutzung mietenpolitischer Verordnungsermächtigungen für die neuen Länder durch die Bundesregierung auf Drucksache 12/156. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt auf Drucksache 12/343, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD, Bündnis 90 und PDS angenommen.
Wir kommen noch zum Tagesordnungspunkt 2 e. Es handelt sich dabei um den Bericht der Enquete-Kommission „Technologiefolgen-Abschätzung und -Bewertung " über landwirtschaftliche Entwicklungspfade auf Drucksache 11/7991.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen, daß dieser Bericht zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit überwiesen wird.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Die Fraktion der SPD hat hingegen beantragt, daß die Federführung beim Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten liegen soll.
Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit gegen die Stimmen von SPD und PDS bei Stimmenthaltung des Bündnisses 90 so angenommen. Damit erübrigt sich eine Abstimmung über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD.
Ich rufe Punkt 8a bis j sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 der Tagesordnung auf:
8. Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgaben bei
Kapitel 33 03 Titel 446 01 - Beihilfen aufgrund der Beihilfevorschriften Kapitel 33 04 Titel 433 03 - Übergangsgebührnisse und Ausgleichsbezüge Kapitel 33 04 Titel 433 04 - Übergangsbeihilfen - Drucksachen 12/31, 12/68 Nr. 1.9, 12/293 Berichterstatter:
Abgeordnete Adolf Roth ({1}) Rudolf Purps
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({2}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr 1990 bei Kapitel 10 02 Titel 656 55
- Krankenversicherung der Landwirte -
- Drucksachen 11/8530, 12/68 Nr. 1.3, 12/294 -
Berichterstatter:
Abgeordnete Bartholomäus Kalb Dr. Sigrid Hoth
Ernst Kastning
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe im Einzelplan 12 Abschnitt B bei der Haushaltsstelle „Investitionen"
- Drucksachen 11/8525, 12/68 Nr. 1.2, 12/295 -
Berichterstatter:
Abgeordnete Ernst Waltemathe
Wilfried Bohlsen Werner Zywietz
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({4}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 14 22 Titel 686 01 - NATO-Militärhaushalte - Drucksachen 12/19, 12/68, Nr. 1.6, 12/296 Berichterstatter:
Abgeordnete Hans-Werner Müller ({5})
Carl-Ludwig Thiele
Horst Jungmann ({6})
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 02 Titel 684 01 - Kosten zur Durchführung des Gesetzes über die politischen Parteien - Drucksachen 12/20, 12/68, Nr. 1.7, 12/297 Berichterstatter:
Abgeordnete Adolf Roth ({8}) Dr. Wolfgang Weng ({9}) Helmut Wieczorek ({10})
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({11}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 02 Titel 548 01 ({12}) - Unvorhergesehene Ausgaben im Zusammenhang mit der Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion - im Haushaltsjahr 1990
- Drucksachen 12/27, 12/68 Nr. 1.8, 12/298 Berichterstatter:
Abgeordnete Adolf Roth ({13}) Dr. Wolfgang Weng ({14}) Helmut Wieczorek ({15})
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 60 02 Titel 893 01 ({17}) - Maßnahmen zur Förderung der Infrastruktur
- Drucksachen 11/8532, 12/68 Nr. 1.4, 12/299 Berichterstatter:
Abgeordnete Adolf Roth ({18}) Dr. Wolfgang Weng ({19}) Helmut Wieczorek ({20})
Vizepräsidentin Renate Schmidt
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Weitere überplanmäßige Ausgabe bis zur Höhe von 65 200 000 DM bei Kapitel 60 02 Titel 893 01 ({22}) - Zuweisungen für Maßnahmen zur Förderung der Infrastruktur - Drucksachen 12/18, 12/68 Nr. 1.5, 12/300 Berichterstatter:
Abgeordnete Adolf Roth ({23}) Dr. Wolfgang Weng ({24}) Helmut Wieczorek ({25})
i) Beratung der Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses ({26})
Übersicht 1
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 12/301 -
Berichterstatter:
Abgeordneter Herbert Helmrich
j) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({27}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung
- Drucksachen 11/8528 Nr. 31, 12/210 Nr. 138, 12/315 Berichterstatter:
Abgeordneter Manfred Reimann
ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 11 zu Petitionen
- Drucksache 12/379 ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 12 zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 18. Februar 1987 bis 19. Dezember 1990 eingegangenen Petitionen
- Drucksache 12/380 Wir kommen zunächst zur Beratung der aufgerufenen Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses zu Unterrichtungen durch die Bundesregierung zu überplanmäßigen Ausgaben. Der Ausschuß empfiehlt, die Unterrichtungen auf den Drucksachen 12/293 bis 12/300 zur Kenntnis zu nehmen. Erhebt sich dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.
Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht auf Drucksache 12/301. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist damit mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der SPD bei Enthaltung der Gruppe der PDS angenommen.
Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zum Vorschlag der Europäischen Gemeinschaft für eine Richtlinie über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung auf Drucksache 12/315 ab. Es handelt sich hierbei um den Tagesordnungspunkt 8j. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Gruppe der PDS angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Zusatzpunkten 2 und 3. Wir stimmen nun über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/379 und 12/380 ab. Das sind die Sammelübersichten 11 und 12. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind diese Beschlußempfehlungen mit den Stimmen aller Fraktionen und bei Enthaltung der PDS so angenommen.
({30})
- Habe ich irgend etwas übersehen? - Nein, ich habe nichts übersehen. Ich bedanke mich.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Maßnahmen zur Verbesserung der Situation im Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern
- Drucksache 12/386 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Gesundheit ({31}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Zehnminutenrunde vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Damit ist dies so beschlossen.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In seiner Rede in der Haushaltsdebatte am 13. März 1991 unterstrich der Bundeskanzler: Wie im bisherigen Bundesgebiet hat jetzt in ganz Deutschland jeder Anspruch auf den Beistand der Gemeinschaft, auf Schutz und soziale Sicherheit. Er machte deutlich, daß dies auch bei der Gesundheitsversorgung gelte. Bundesministerin Gerda Hasselfeldt sieht es als ihre vornehmste Aufgabe an, „allen Bürgerinnen und Bürgern in gleicher Weise helfende Gesundheitsversorgung zu garantieren". Manchmal frage ich mich, ob schönen Worten auch Taten folgen könnten!
Im Einigungsvertrag, Anlage I, Kapitel VIII, Sachgebiet G, Abschnitt II findet sich der Satz:
Bei der Anwendung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität ist zu berücksichtigen, daß für Finanzierung der Ausgaben, die auf das in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet entfallen, nur die Einnahmen aus der Durchführung der Versicherung in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet verwendet werden dürfen.
Viele Ärzte, Schwestern, Fürsorgerinnen usw. in der DDR hatten mich wiederholt aufgefordert, mich für Maßnahmen einzusetzen, die die Situation im Gesundheitswesen der neuen Bundesländer verbessern könnten. In diesen intensiven Gesprächen konnte auch ich meine persönlichen Schwierigkeiten in dieser Problematik erläutern und feststellen, daß sie angenommen wurden. Alleinstehende Ärztinnen, Ärzte mit Behinderungen, Ärztinnen und Ärzte im Alter zwischen 50 und 60 Jahren schilderten mir ihre Probleme. Da war auch viel Verbitterung zu hören, auch Suizidgedanken erschreckten mich. Eine Nachricht aus Brandenburg, daß dort bereits 20 bis 30 Suizidfälle von Ärzten registriert wurden, versetzten mich in hohe Alarmbereitschaft. Ich habe gebeten, daß diese Aussagen aus Brandenburg belegt werden.
Sicher ist es auch weniger verständlich für westdeutsche Ärztinnen und Ärzte, wenn Mediziner im Osten mir gegenüber, aber übrigens auch in Zeitungen äußern, daß sie wahrscheinlich unter den Prämissen für die Gesundheitsversorgung, wie sie jetzt mit Vehemenz stehen, gar nicht Medizin studiert hätten. Für viele mag es auch unverständlich sein, daß vor der Vereinigung immer hervorgehoben wurde, daß den Ärztinnen und Ärzten, die in der DDR geblieben sind, um ihre Patienten gut zu versorgen, höchste Achtung und Anerkennung zu zollen sei, während jetzt zum Teil eine beträchtliche Diskriminierung in vielen Bereichen erfolgt. Das betrifft übrigens auch Ärztinnen und Ärzte sowie Schwestern, die jahrelang im stationären Bereich gearbeitet haben, zum Teil hochqualifiziert sind und jetzt erkennen müssen, daß ihre Berufsjahre nicht anerkannt werden, daß sie wie Anfänger behandelt werden und daß auch noch der reale Lohn für ihre Arbeit geschmälert wird.
Über das Gesundheitswesen in der DDR gibt es sehr unterschiedliche Aussagen. Es gibt nicht wenige Stimmen, die feststellen, daß die Ärztinnen und Ärzte im Osten qualifizierter seien. Auch die Kinder- und Jugendmedizin wird durchaus als gut betrachtet. Aber auch da ist leider schon viel den Bach heruntergegangen.
Mir wird immer der Vorwurf gemacht, daß doch nur Altes erhalten werden solle, daß die PDS die Poliklinik, wie sie in der DDR bestand, erhalten wolle. Ich beobachtete einen Mangel der Fähigkeit zu differenziertem Denken. Macht jemand von der PDS den Mund auf, wird er in eine Ecke gestellt, wo er sich gefälligst aufzuhalten hat.
({0}) - Ich tue Ihnen diesen Gefallen nicht.
Für mich ist Gesundheit ein zentraler Grundwert, der wachsende Bedeutung gewinnt. Gesundheitsschutz und Gesundheitsfürsorge müssen sich an den Bedürfnissen des einzelnen nach Selbstbestimmung über seine Gesundheit und Mitgestaltung entsprechender gesellschaftlicher Bedingungen orientieren.
({1})
Das bedeutet auch die Sicherstellung einer modernen und für jeden - unabhängig von seiner sozialen Stellung - verfügbaren medizinischen Betreuung.
Statt die gebotene Chance zu nutzen und ein auf der Grundlage einer gründlichen Analyse beider Seiten und unter Nutzung der Erfahrungen anderer Länder und Empfehlungen internationaler Gremien wie der WHO verbessertes Gesundheitssystem für ganz Deutschland zu erreichen und Gesundheitsschutz als wichtiges sozialpolitisches Ziel in Verantwortung des Gemeinwesens zu verwirklichen, wurde mit dem Anschlußvertrag ein rigoroses Überstülpen des westdeutschen Gesundheitssystems begonnen. Die PDS geht davon aus, daß für eine gut funktionierende medizinische Betreuung in den Städten und Gemeinden die Vielfalt und Chancengleichheit von staatlichen bzw. kommunalen, privaten, konfessionellen und anderen Einrichtungen nicht nur möglich ist, sondern auch im Interesse der Bürgerinnen und Bürger liegt.
Wir sind für die Aufhebung des staatlichen Monopols im ambulanten Bereich, wollen aber auch kein Behandlungsmonopol für Ärztinnen und Ärzte in eigener Niederlassung, das - wie in westdeutschen Ländern - die Entwicklung anderer Formen der ambulanten Versorgung fast ausschließlich und zu einer scharfen Trennung von stationärer und ambulanter Betreuung führt. - Das ist übrigens nicht von mir.
Wir unterstützen deshalb auch die Forderung vieler progressiver Ärztinnen und Ärzte in der BRD
({2})
und auch Forderungen der SPD nach einer umfassenden gesetzlichen Krankenversicherung. Wir fordern an dieser Stelle auch die sofortige Rücknahme der über die Beitragszahlungen hinausgehenden Beteiligung der Versicherten an den Krankheitskosten. Sie ist eine Form der Beitragserhöhung, die außerdem ausschließlich Kranke, alte Menschen, Menschen mit Behinderung und sozial Schwache trifft.
Der Niedergang der Wirtschaft in den neuen Bundesländern mit ungefähr 4 Millionen von irgendeiner Form der Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen - von ehemals 8,5 Millionen Arbeitskräften - bringt es mit sich - das war voraussehbar - , daß die Einnahmen der Krankenkassen für die ostdeutschen Länder sinken und somit die Leistungsmöglichkeiten der Krankenkassen selbst sehr einschränken. Angesichts des Nachholbedarfs im Niveau der gesundheitlichen Betreuung in der DDR und der Aufgaben bei der Umstukturierung des Gesundheitswesens ist diese Konstellation untragbar. Auswirkungen sind, daß Leistungen sozialer Art in Polikliniken, die „traditionell" nicht von den Krankenkassen getragen werden, in der Luft hängen. Das bedrückt mich besonders bei der ärztlichen Versorgung und Fürsorge in Einrichtungen zur Frühförderung von Kindern mit Behinderung.
Wesentlichste Voraussetzung zur Sicherung und Erweiterung des Leistungsangebots auf gesundheitlichem und sozialem Gebiet ist für mich eine Aufstokkung der Ostkassen. Als einen Weg sehen wir an; Beiträge der „Westarbeitspendler" in die Ostkassen fließen zu lassen, denn „Arbeitspendler" in westlichen Bundesländern sind in der Regel jung, also weniger krank, und sie nehmen weniger Leistungen in Anspruch, verdienen viel im Vergleich zum Einkommensniveau im Osten und füllen damit die Westkassen. Die Zahl der „Arbeitspendler" mit Wohnsitz im Osten nimmt ständig zu; vor Wochen wurde eine halbe Million angegeben.
Sollte es jedoch verwaltungstechnisch nicht möglich sein, sollte sich eine Überführung der im Westen erarbeiteten Beiträge an die Ostkassen schwierig realisieren lassen, plädieren wir für eine rasche Zusammenlegung der Ost- und Westhaushalte der Krankenkassen. Damit würden die Pendler erfaßt. Allerdings muß streng darauf geachtet werden, daß sich der Bund nicht aus seiner Zuschußverantwortung für das Gesundheitswesen herausmontiert und alle Einheitsausgaben den Beitragszahlern Ost und West aufbürdet. Das Bestehen von getrennten Kassen bis zur Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse bringt eine schier endlose Kette von Problemen. Und wer sagt mir hier, wann es diese Angleichung geben wird? Die Aussage der fünf Weisen sind dabei durchaus richtungweisend für mich.
Nun zum Vergütungsfaktor der niedergelassenen Ärzte. Wenn dieser Faktor nicht schnellstens spürbar angehoben wird, ist zu befürchten, daß ein Großteil der mit vielen Belastungen neu eröffneten Praxen spätestens in zwei Jahren geschlossen werden muß. Inzwischen sind Wirtschaftlichkeitsprüfungen durchgeführt worden. Neben der persönlichen Lage der Ärztinnen und Ärzte wäre das für die medizinische Versorgung der Bevölkerung nicht tragbar. Notwendig ist
eine sich festigende neue Struktur im ambulanten Gesundheitswesen. Die Erhöhung des Faktors bedeutet natürlich auch, daß die Fallpauschalen angehoben werden müssen, und es bedeutet auch, daß Ärztehäuser, Polikliniken, Praxisgemeinschaften, Gemeinschaftspraxen usw. wirtschaftlich arbeiten können und sogar Gewinne für Investitionen erwirtschaften, die wieder den Patienten zugute kommen. Es würde auch bedeuten, daß die Irritationen, die Ängste im ambulanten Gesundheitswesen auf seiten des Personals abgebaut werden. Wer wollte schon im Ernst behaupten, daß sich diese Irritation, die zum Teil auch als ausgesprochene Diskriminierung aufgefaßt wird, nicht auch negativ auf die Patienten auswirken kann?
Bei allen Mängeln und Problemen, die aber nichts mit dem poliklinischen Prinzip zu tun haben, aber viel mit ausgebliebenen Bauarbeiten, fehlenden medizinischen Materialien und Mängeln in Verwaltung, Organisation und Leistungsbewertung, wurde und wird dieses Prinzip - wie jüngste Meinungsumfragen ergaben - von den Bürgerinnen und Bürgern durchaus angenommen. Die gewonnenen Erfahrungen in solchen Einrichtungen haben in Ost und West und in den Entwicklungsländern zu Recht Anerkennung gefunden. Sollte das Wort Poliklinik so sehr diskriminiert sein, muß man Überlegungen anstellen, ohne das Prinzip aufzugeben. Dabei sollten die Interessen der Patienten der Gradmesser sein. Aber auch die Ärzte - ein Drittel der niedergelassenen Ärzte in der BRD soll nach Dr. Hirschmann, Bundespräsident des NAV, Sturm gegen die eigene Selbstverwaltung laufen - sollten im Interesse ihrer eigenen Lebensqualität darüber nachdenken.
Auch das Gesundheitsministerium wäre gut beraten, einen Beitrag zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen intensiv zu beraten. Einzelpraxen sind der Weg in die Zukunft nicht. Das ist ebenfalls eine Aussage des Bundespräsidenten des NAV.
Mit diesem Antrag spricht sich die PDS/Linke Liste dafür aus, fortschrittliche Modelle der Verbindung sozialer und medizinischer Belange in vielgestaltiger Form zu schaffen und damit auch das poliklinische Prinzip zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Ich bitte, den Antrag in die Ausschüsse zu verweisen, um dort gemeinsam nach tragfähigen Lösungen zu suchen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Joachim Sopart.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Fischer, bei allen grundsätzlichen Unterschieden unserer politischen Anschauungen und, wie ich annehme, auch bei den Unterschieden unserer politischen Biographie einen uns doch zwei Eigenschaften. Wir sind beide Ärzte, und beide kommen wir aus den neuen Bundesländern. So mögen Sie mir wohl
glauben - die Aktivitäten des Gesundheitsausschusses mögen das auch belegen - , daß mir und diesem Haus die Entwicklung des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern sehr wichtig ist.
Nach allen mir vorliegenden Erkenntnissen hat der Umbruch zwar zu erheblichen Turbulenzen bei den Mitarbeitern des Gesundheitswesens in den neuen Ländern geführt, eine Gefährdung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung hat aber zu keiner Zeit bestanden, und eine solche Gefährdung wird es absehbar auch nicht geben.
({0})
Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. Fischer?
Ja, gerne.
Herr Kollege, ich achte Ihre Meinung sehr, und ich frage Sie jetzt: Woran liegt es, daß es zu keiner Versorgungslücke gekommen ist? Liegt das nicht etwa an der Einstellung vieler Ärzte, die oft viele Dinge machen, ohne sie vergütet zu erhalten? Von vielen Ärzten sind z. B. Krankenbesuche gemacht worden - das wissen auch Sie - , ohne daß überhaupt bekannt war, ob sie vergütet würden oder nicht. Die wären auch so gemacht worden. Liegt das nicht auch an der Mentalität der Ärzte bei uns?
Frau Kollegin, ich gebe Ihnen in diesem Punkt ausgesprochen recht. Ich möchte hier das Engagement und den Einsatz unserer Kollegen in den neuen Bundesländern im Rahmen dieser Umgestaltung nachdrücklich hervorheben und auch dankbar erwähnen.
({0})
Entgegen so mancher Befürchtung auch in diesem Hause und durch Presseerklärungen unterstützt haben mir Vertreter verschiedener Krankenkassen im persönlichen Gespräch signalisiert, daß es absehbar auch kein Defizit in der Finanzierung der Ostkrankenkassen geben werde.
({1})
Insofern besteht keinerlei Notwendigkeit einer Veränderung der Festlegungen der §§ 173 und 313 SGB V.
Frau Kollegin Fischer, wie Sie wissen, werden die Vergütungen der ärztlichen Leistungen von den Landesverbänden der Krankenkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen geregelt. Innerhalb dieser Rechtssystematik liegt auch die Kompetenz, über die Höhe des sogenannten Punktwertes zu entscheiden, in der Hand der Selbstverwaltung.
Herr Kollege, die Kollegin Fischer möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte nur diesen Gedanken noch zu Ende führen.
Für die neuen Länder galt die Sonderregelung, daß sich die Ausgaben nach den Einnahmen zu richten hätten und sich an den wirtschaftlichen Verhältnissen orientieren sollten. Auf Grund der zunächst noch fehlenden Selbstverwaltung war der Punktwert mit 6,1 Pfennig im Rahmengesamtvertrag festgelegt worden. Zwar ist es richtig, daß sich die neu niedergelassenen Ärzte im Beitrittsgebiet auf der Ausgabenseite größeren Belastungen gegenübersehen, aber andererseits sind die Honorareinnahmen auch nicht so schlecht, wie Sie das in Ihrer Begründung erscheinen lassen, Frau Kollegin Fischer.
Jetzt die Zwischenfrage.
Bitte, Sie haben das Wort.
Das letzte war eine Interpretation. - Eine Frage zu den Kassen: Sie waren doch bei dieser öffentlichen Ausschußsitzung dabei. Ich habe damals die AOK gefragt, ob die Arbeitspendler ein Problem seien, gerade für die AOK in Berlin. Zweifeln Sie die Aussage der AOK an, die gesagt hat: Jawohl, das ist ein Problem?
Frau Kollegin Fischer, darf ich meine Ausführungen zu Ende führen? Ich werde darauf zu sprechen kommen.
({0})
Ich kann jedenfalls dem von Ihnen gezeichneten Schreckensbild von geschlossenen Arztpraxen in den neuen Ländern keinesfalls folgen, obgleich auch ich die Notwendigkeit eines möglichst raschen Angleichs der Honorarleistungen in Ost und West sehe.
Zwischenzeitlich haben sich die Verhältnisse auch wegen der von Ihnen angesprochenen Problematik so geändert, daß eine Veränderung der Vergütungsleistungen vereinbart werden kann. So wurde für die Zahnärzte zum 1. Juli 1991 eine Anhebung der Vergütung pro Punkt von 86 Pfennig auf 1 DM schon vereinbart. Gegenwärtige Verhandlungen der KBV mit den Kassen sehen für Ärzte entweder eine Anhebung rückwirkend zum 1. April 1991 auf 6,7 Pfennig oder zum 1. Juli 1991 auf 7 Pfennig vor. Damit, Frau Kollegin Fischer, wäre Ihre Forderung für unsere ärztlichen Kollegen nahezu erfüllt, ohne daß der Gesetzgeber hier eingegriffen hätte. Dies ist, wie dargestellt, eben auch der normale Weg der Erstattungsgestaltung, wie er durch das SGB vorgegeben ist.
Zur Diskussion über eventuell nötig werdende Ausgleichszahlungen bezüglich der von den Ostkrankenkassen erbrachten Leistungen für diejenigen Versicherten und deren Angehörige, die im Westen versichert sind, sollten doch zunächst, so meine ich, die betroffenen Kassen angehört werden. Ehe man hier den § 313 des SGB V zum Teil außer Kraft setzt.
Somit ist - lassen Sie mich das resümieren - der vorliegende Antrag in der Zielstellung zum Teil bereits von der Realität überholt und bezüglich der Frage der Umsetzung ungenügend vorbereitet. Ich beantrage deshalb die Überweisung Ihres Antrages zur Überarbeitung an den Gesundheitsausschuß.
Ich danke Ihnen.
({1})
Als nächste hat die Kollegin Gudrun Schaich-Walch das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der Reise der Arbeitsgruppe Gesundheit und dem Besuch des Ausschusses haben wir sehr wohl sehen können, daß es in Ostdeutschland Probleme im Gesundheitswesen gibt. Wir werten es in unserer Fraktion so, daß der vorliegende Antrag Ausdruck der schwierigen Lage der gesundheitlichen Versorgung und aller im Gesundheitswesen Tätigen und Beteiligten in Ostdeutschland ist.
Diese Situation ist auf vergangene Fehler der Bundesregierung zurückzuführen. Einseitig wurde nach der deutschen Einigung versucht, den neuen Bundesländern das westdeutsche Gesundheitswesen überzustülpen. Es wurde kein Gedanke daran verschwendet, ob damit nicht Strukturen zerstört würden, die durchaus erhaltenswert wären. Es wurde auch nicht geprüft, ob es vielleicht Strukturen gibt, die in ihrem Ansatz zur Weiterentwicklung des bundesdeutschen Gesundheitswesens führen könnten. Durch diese falsche Politik der Bundesregierung und die vehemente Interessenpolitik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wurden die Polikliniken bewußt zerschlagen. Ohne Rücksicht auf den Sicherstellungsauftrag des Einigungsvertrages wurde allein der Anspruch der niedergelassenen Ärzte unterstützt. Das hat zu erheblichen Problemen geführt.
Wie massiv diese Förderung wirkt, zeigt sich schon an den Zahlen. In Mecklenburg-Vorpommern hat sich der Anteil der niedergelassenen Ärzte von 21,6 % im Januar auf 30,1 % im März erhöht. Eine weitergehende Zulassungsschwemme wird vorausgesagt. Das sind Bedenken von seiten der AOK. Die damit verbundenen wirtschaftlichen Probleme, die einige Ärzte durch ihre Niederlassung erlebt haben, sind sicherlich ein Grund für diesen Antrag der PDS, der allerdings - so meine ich - in seinem Inhalt völlig verfehlt ist. Die Zielsetzung mag richtig sein, aber wie es angegangen wird, halte ich für völlig falsch.
({0})
Wir müssen hier aber auch ganz deutlich sagen, daß die Bundesregierung diese Entwicklung in Gang gesetzt hat. Sie hat es versäumt, den Neubeginn ohne die Fehler des westdeutschen Gesundheitssystems zu machen. Dabei sind in der Vergangenheit oft genug Stimmen laut geworden, die die alleinige ambulante Versorgung durch niedergelassene Ärzte kritisiert haben. Die mangelnde Verzahnung von gesundheitlicher und sozialer Betreuung wurde permanent beklagt.
Der Sachverständigenrat für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen fordert seit langem eine stärkere Kooperation von Ärzten untereinander sowie deren enge Zusammenarbeit mit den anderen medizinischen Berufen und sozialen Diensten. Für diese integrierte Versorgung hätten die Polikliniken eine gute
Basis geboten, so wie sie vielen Ärztinnen und Ärzten einen Arbeitsplatz geboten hätten. Die Lösungsvorschläge der PDS/Linke Liste halten wir in diesem Zusammenhang allerdings nicht für hinreichend.
Nun zu den einzelnen Punkten des Antrages. Mit diesem Antrag soll ein Generalfehler des Einigungsvertrages geheilt werden, so sehen wir das. Die strikte Trennung der Kassen in Ost und West hat zu Verwerfungen geführt. Der vorliegende Lösungsvorschlag ist jedoch nicht praktikabel, da ein kompliziertes Verrechnungssystem zwischen den verschiedenen Kassen eingeführt werden müßte. Wir meinen allerdings, es war vorauszusehen, daß die Einführung des gegliederten Systems der gesetzlichen Krankenkassen zu Fehlsteuerungen des Krankenversicherungssystems führen würde.
({1})
So ist zum Beispiel die von uns vorhergesagte Risikoselektion nach Kassenarten eingetreten. Ebenfalls ist seit Monaten absehbar - da bin ich völlig anderer Meinung als der Kollege von der CDU - , daß die Ausgaben der Krankenkassen wesentlich höher sein werden als vorausgesehen. Wir haben bei unseren Gesprächen mit den Kassen entsprechende Informationen erhalten. Ein wesentlicher Grund dafür ist - das sollten wir nicht verschweigen - , daß wir eine zunehmende Massenarbeitslosigkeit in Ostdeutschland haben werden. Das große Entgegenkommen der Bundesregierung gegenüber der Pharmaindustrie hat eine weitere Grundlage dafür geschaffen, daß es zu Beitrags- und Ausgabensteigerungen kommen kann.
Kollegin Schaich-Walch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sopart?
Am Schluß meiner Rede; er hat vielleicht noch mehr zu fragen.
Diese Finanzierungslücke kann nur aus Steuermitteln gedeckt werden, es sei denn, die Bundesregierung löst sich vom Einigungsvertrag und stimmt Beitragserhöhungen zu. Für diesen Fall kündige ich Ihnen schon jetzt den entschiedenen Widerstand meiner Fraktion an.
({0})
Die finanzielle Belastung der Menschen in den neuen Bundesländern ist sozial kaum noch zu vertreten. Wir haben das vorhin schon im Rahmen der Wohnungsdebatte gehört. Wir sind der Meinung, daß diese Belastung in keinem Fall weiter erhöht werden darf. Die im PDS-Antrag vorgeschlagenen Instrumentarien werden diesem Anliegen allerdings - wie ich schon sagte - nicht gerecht. Nach unserer Auffassung könnte das Gefälle zwischen Ost und West und den verschiedenen Kassenarten durch einen bundesweiten Finanzausgleich zwischen den Kassen abgebaut werden. Der Einigungsvertrag mußte dann allerdings schnellstens korrigiert werden, es sei denn, der Bund ist bereit, die Mittel bereitzustellen und die Kassendefizite auszugleichen.
Zu Punkt 2 des Antrags: Der Antrag wirkt erstens der Bestrebung entgegen, die Krankenkassen in Ost1586
deutschland nicht weiter zu belasten. Die Forderung begünstigt zweitens in unberechtigter Weise die Ärzteschaft. Auch andere Anbieter im Gesundheitswesen haben hohe Niederlassungskosten zu tragen.
Die Tendenz, den Einigungsvertragsabschlag nach und nach, je nach Stärke der Lobby, aufzuweichen, ist mit dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit unserer Meinung nach nicht zu vereinbaren.
({1})
Leider, muß ich sagen, hat die Bundesregierung damit begonnen: Zunächst wurde die Pharmaindustrie aus der Verantwortung entlassen, die Ärzte bekommen inzwischen 61 %, während z. B. die Hebammen immer noch mit nur 45 % der derzeit gültigen Gebührenordnung auskommen müssen und damit tatsächlich keine Existenzgrundlage haben, im Gegensatz zu anderen. Wir wollen keine Besserstellung der Ärzteschaft gegenüber den anderen Anbietern im Gesundheitswesen und den Beschäftigten in Ostdeutschland, deren Gehälter schließlich auch eingefroren worden sind.
Jetzt zum dritten Punkt und damit zum Anliegen, Frau Kollegin Fischer, daß Sie ganz unbedingt die Polikliniken retten wollen. Ich bin der Meinung, mit diesem Antrag wird die Zerschlagung der Polikliniken gefördert, weil weitere Niederlassungsanreize geschaffen werden, obwohl es keine wirtschaftliche Sicherstellung auch für ihre Kolleginnen und Kollegen gibt. Wir halten dies für falsch. Nach unserer Auffassung ist die Weiterführung der Polikliniken auch über das Jahr 1995 hinaus laut Einigungsvertrag möglich, und im Gegensatz zur Regierung halten wir das auch für ein wünschenswertes Ergänzungsangebot.
({2})
Wir sind uns natürlich darüber im klaren, daß vorhandene Mängel durch Umstrukturierungen beseitigt werden müssen, und es ist notwendig, kleinere Einrichtungen in ärztliche Gemeinschaftseinrichtungen umzuwandeln. Es wird sicher auch notwendig sein, bei größeren Einrichtungen Kosten und Leistungsangebot zu überprüfen, bevor man z. B. ein Modell wie das der Gesundheitszentren angeht.
Träger dieser Zentren - damit komme ich zu Ihrer Frage der Kosten - könnten die Arbeiter der ehemaligen Polikliniken sein, die Kommunen oder karitative Einrichtungen. Ich bin der Meinung, wir sollten die Chance nutzen, durch die Verbesserung und Weiterentwicklung der Polikliniken Modelle für die Integration im Gesundheitswesen zu schaffen, die durchaus auch Anreiz und Innovation für uns in Westdeutschland sein könnten. Ich meine, daß wir hier alle die Verantwortung dafür tragen, daß es zwischen den Anbietern im Gesundheitswesen Chancengleichheit gibt, d. h. für mich auch finanzielle Gleichbehandlung von allen, und daß das, was in den neuen Bundesländern erhaltenswert sein könnte, von uns nicht einfach zur Seite geschoben werden darf.
Jetzt würde ich gern zur Beantwortung Ihrer Fragen kommen.
Herr Kollege, wollen Sie noch zwischenfragen?
({0})
- Er will nicht mehr.
({1})
Ich darf der Kollegin Schaich-Walch herzlich zu Ihrer Jungfernrede gratulieren.
({2})
Nun hat der Kollege Bruno Menzel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns liegt ein Antrag der PDS/Linke Liste vor, in dem Maßnahmen zur Verbesserung der Situation im Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern angefordert werden. Ich gehe mal davon aus, daß in diesem Haus unbestritten ist, daß wir alle erdenklichen Maßnahmen ergreifen müssen, um ein leistungsfähiges ambulantes und stationäres Gesundheitswesen in den neuen Bundesländern so schnell wie möglich zu gewährleisten. Dies entspricht auch dem wichtigen innenpolitischen Ziel, in allen Bundesländern gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen, und die Gesundheitspolitik wie auch die soziale Sicherheit nehmen dabei nach unserem Verständnis eine Schlüsselposition ein.
Ich denke aber auch, es ist nur legitim, daß wir, wenn wir hier über einen solchen Antrag sprechen, zumindest kurz auf die eingeleiteten Maßnahmen eingehen, die zur Verbesserung des Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern bereits von der Bundesregierung vollzogen worden sind.
({0})
Es sei mir daher gestattet, darauf hinzuweisen, daß bereits wesentliche Schritte zur Erreichung dieses Zieles, wie allen bekannt ist, unternommen wurden, z. B. in einem Soforthilfeprogramm die Behandlungsmöglichkeiten der Dialyse-Patienten in den neuen Bundesländern betreffend.
Konnten z. B., Frau Kollegin, bis 1989 nur 40 % der Neuzugänge einer ordnungsgemäßen Behandlung zugeführt werden, so ist es durch die Initiative des Bundesgesundheitsministeriums und des Kuratoriums für Dialyse nun gelungen, die Behandlung aller Neuzugänge bis Mitte 1992 durch die neu etablierten Dialyseeinrichtungen in den neuen Bundesländern zu sichern.
({1})
Für das Dialyseprogramm stellte das Bundesgesundheitsministerium 23 Millionen DM zur Verfügung.
Erinnert sei hier auch an das bereits Ende 1989 aufgelegte medizinische Soforthilfeprogramm, für das 1990 insgesamt 520 Millionen DM verausgabt wurden. Hinzuweisen ist, denke ich, auch noch einmal auf das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, durch das für Länder und Kommunen 5 Milliarden DM bereitstehen, die vorrangig für die Instandsetzung medizinischer Einrichtungen genutzt werden sollen. Auch das 15 Milliarden DM umfassende Gemeindekreditprogramm sei erwähnt, das neben den Mitteln aus dem Haushalt des Bundesgesundheitsministeriums sofort
zur Verfügung steht, um Investitionen für den Krankenhausneubau und die Sanierung zu ermöglichen.
({2})
Ebenso ist die Entscheidung über die Finanzierung der sich in Ausbildung befindlichen Ärzte in diesem Zusammenhang wichtig, für die immerhin 10 Millionen DM in den Haushalt eingestellt wurden. Auch für die Absicherung der zum großen Teil in den Polikliniken angesiedelten nichtärztlichen bzw. sozialen Dienste stehen 1991 und 1992 umfangreiche Mittel aus dem Sonderprogramm der Bundesregierung im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung. Ich denke, wenn man über dieses Thema spricht, sollte man auch dies hier in diesem Hause deutlich sagen; denn das sind, so meine ich, entscheidende Schritte hin zur Angleichung der Verhältnisse in den neuen Bundesländern an den Standard der alten Bundesländer.
({3})
Jedoch kann man auch damit noch nicht die ungeheuren Defizite, die aus den vergangenen 40 Jahren resultieren, restlos beseitigen. Man muß sich darüber im klaren sein, daß trotz der großzügig zur Verfügung gestellten Mittel die Umstrukturierung speziell im ambulanten Bereich - da gebe ich Ihnen völlig recht - von einem zentralistisch geleiteten in ein freiheitlich-pluralistisches und bedarfsangepaßtes Gesundheitswesen mit vielen Problemen sowohl subjektiver als auch objektiver Art einhergeht. Denn nicht nur die Rahmenbedingungen für ein solches Versorgungssystem sind zu schaffen, sondern die darin agierenden Personen müssen die Rahmenbedingungen auch verstehen und annehmen.
Dabei sollte man nicht versäumen, genau zu prüfen, welche Formen und welche Konzepte der gesundheitlichen Versorgung, die in der ehemaligen DDR vorhanden sind, übernommen werden bzw. als gleichwertige Konkurrenz am Markt auftreten können. Wir sprechen immer wieder davon, daß wir die Arbeit der Kolleginnen und Kollegen in den neuen Bundesländern hoch anerkennen. Es ist die beste Anerkennung, wenn wir uns die Mühe machen, darüber nachzudenken, ob diese Formen Bestand haben können und es verdienen, in das geeinte Deutschland hinübergenommen zu werden.
({4})
Dies betrifft natürlich und vor allem die Polikliniken, die, wenn privatwirtschaftlich organisiert - das darf ich betonen - , einen wesentlichen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten könnten. Es sollte sich im Wettbwerb herausstellen, wo die kostengünstigsten Angebote gemacht werden können. Auch sei noch einmal daran erinnert, daß von der Konzeption her Prävention, Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Fürsorge hier in idealer Weise miteinander verbunden werden.
Wir dürfen auch nicht übersehen, daß bei der schnellen Umstrukturierung und dem Auseinanderfallen vieler Polikliniken wesentliche fürsorgliche Bereiche, die in Zeiten sozialer Spannung besondere
Bedeutung haben, wegfallen, ohne daß sich bereits neue Strukturen ausgebildet haben. Eine begleitende psychosoziale Betreuung jener Menschen, die durch den schmerzlichen, aber unvermeidlichen Umstrukturierungsprozeß in allen Bereichen der neuen Bundesländer in soziale Schwierigkeiten geraten, wird eine unabdingbare Forderung für ein funktionierendes Gesundheitswesen sein.
Wie immer man sich entscheidet: Die ökonomische Sicherung muß - ob in freier Einzelpraxis, Praxisgemeinschaft oder Gemeinschaftspraxis bzw. Ärztehaus - gegeben sein. Diese finanzielle Absicherung wiederum vollzieht sich in einem freiheitlichen Gesundheitssystem nicht per Verordnung, sondern in freier Absprache zwischen Leistungserbringern und Leistungsanbietern bzw. deren Spitzenverbänden. Die Aufgabe des Staates kann es nur sein, die entsprechenden Rahmenbedingungen und die ordnungspolitischen Richtlinien zu geben.
Unbeschadet dessen ist der vorliegende Antrag - das unterstelle ich einmal - aus echter Sorge um die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung in den neuen Bundesländern gestellt worden und der Prüfung durchaus wert. Allerdings erscheint mir zum jetzigen Zeitpunkt eine Entscheidung über die hier dargelegten detaillierten Forderungen wie etwa die Erhöhung des Punktwertes noch verfrüht. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Erstens kann man innerhalb eines so kurzen Zeitraumes noch nicht beurteilen, wie sich die tatsächliche wirtschaftliche Situation der Ärzte darstellen wird, da wir bisher nur wissen, daß im ersten Quartal Abschlagszahlungen in Höhe von 450 Millionen DM für niedergelassene Ärzte und Polikliniken gezahlt wurden, eine endgültige Quartalsabrechnung aber noch aussteht.
Zweitens bedarf es, um einer sachgerechten Beurteilung näherzukommen, eines Beobachtungszeitraums von mindestens zwei Quartalen.
Drittens muß es uns auch ein ganz besonders wichtiges Anliegen sein, die festgesetzte Beitragshöhe von 12,8 % für die Versicherungsträger für mindestens ein Jahr stabilzuhalten.
Viertens ist der Punktwert von 6,1 ein Resultat aus der gesamtwirtschaftlichen Situation, der nicht ohne Kenntnis vorliegender Informationen über Abrechnungsmodalitäten und der daraus resultierenden Beurteilung der Gesamtwirtschaftlichkeit der Arztpraxen verändert werden kann. Dabei ist es selbstverständlich, daß wir in engem Kontakt mit den entsprechenden Verbänden die Situation aufmerksam verfolgen müssen, um bei Bedarf entsprechend reagieren zu können.
Trotzdem sind auch wir davon überzeugt, daß eine schnelle Angleichung des Punktwertes an die Verhältnisse in den alten Bundesländern notwendig ist. Es muß aber darauf hingewiesen werden, Frau Kollegin, daß ein gewisser Ausgleich dadurch stattfindet - das halte ich für sehr wesentlich - , daß es in den neuen Bundesländern zur Zeit keine Mengenbegrenzung gibt.
Ich möchte auch nicht versäumen, an dieser Stelle den Mitarbeitern der KBV noch einmal dafür Dank zu sagen, daß sie mit unendlicher Mühe versucht haben, die vielen Einzelprobleme, die sich aus dem neuen Abrechnungsmodus ergeben haben, nach ihren Möglichkeiten großzügig und unbürokratisch zu überbrücken.
Aus dem bereits Dargelegten ergibt sich, daß auch eine sofortige Entscheidung hinsichtlich der Verwendung der Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitspendler mit Wohnsitz in den neuen Bundesländern nicht getroffen werden kann, sondern daß es einer sorgfältigen Überprüfung bedarf, wobei die angeregte Zuführung der Krankenversicherungsbeiträge an die Krankenkassen der neuen Bundesländer ein überdenkenswerter Ansatz ist und aus unserer Sicht eine Möglichkeit darstellt, auftretende Defizite der gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Bundesländern zu mildern.
Aus all diesen Gründen empfehlen wir, den Antrag der PDS/Linke Liste an den Gesundheitsaussschuß zu überweisen.
Danke.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erteile jetzt der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, Frau Sabine Bergmann-Pohl, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Schaich-Walch, ich möchte auch Ihnen ganz herzlich zu Ihrer Jungfernrede gratulieren. Ich freue mich um so mehr, als Ihre Meinung zu dem Antrag der PDS mit unserer Meinung weitestgehend übereinstimmt. Ich kann Ihnen aber insofern nicht zustimmen, als Sie gesagt haben, daß das westdeutsche Gesundheitssystem dem ostdeutschen übergestülpt werden sollte. Ich bitte Sie, das im Einigungsvertrag doch noch einmal nachzulesen; denn dort sind seitenlange Übergangsregelungen festgelegt worden, so z. B. auch für die Weiterbeschäftigung in den Polikliniken, für das Weiterbestehen von Gesundheitsberufen und anderes mehr. Ich glaube, daß sich die Bundesregierung bzw. die Verhandlungspartner im Vorfeld sehr viel Mühe gegeben haben, hier sozialverträgliche Übergangsregelungen zu finden.
Nun aber zum Antrag. Die neue deutsche Wirklichkeit stellt große Herausforderungen an die Bundesregierung sowie die Regierungen der alten und der neuen Bundesländer. Auch über die künftige Entwicklung des Gesundheitswesens in Gesamtdeutschland ist eine sachbezogene und gemeinwohlorientierte Diskussion unverzichtbar. Es geht dabei nicht nur darum, im westlichen Teil Deutschlands den hohen Leistungsstandard unseres Gesundheitswesens zu erhalten und weiterzuentwickeln. Insbesondere ist es die Aufgabe aller für das Gesundheitswesen Verantwortlichen, die Gesundheitsversorgung in den neuen Bundesländern so rasch wie möglich an das westdeutsche Niveau heranzuführen. Dabei ist
dieser Antrag keine Hilfe. Zwar behandeln Sie wichtige Themen, aber Sie beschreiten falsche Wege.
Zunächst die Rechtslage: Die Durchführung der Versicherung von versicherungspflichtig Beschäftigten richtet sich nach dem Beschäftigungsort. Für Personen aus dem Beitrittsgebiet, die einen Arbeitsplatz in den alten Bundesländern gefunden haben, ohne ihren bisherigen Wohnort aufzugeben, bedeutet dies, daß sie bei einer westlichen Kasse versichert werden. Sie und ihr Arbeitgeber zahlen die Beiträge an die westliche Krankenkasse, weil diese auch die Leistungen für die Versicherten zu erbringen hat.
({0})
- Hören Sie weiter zu, Frau Fischer; Sie können sicher noch etwas aus dieser Rede lernen.
Der Beitragssatz kann höher oder niedriger als der Durchschnittssatz von 12,8 % für alle Krankenkassen im Beitrittsgebiet sein. Weil das Arbeitsentgelt höher als im Beitrittsgebiet ist und auch die Beitragsbemessungsgrenze, bis zu der Beiträge gezahlt werden müssen, doppelt so hoch wie die im Beitrittsgebiet ist, werden im rechnerischen Ergebnis höhere Beiträge an die westliche Krankenkasse gezahlt. - Soweit die Lage.
Nun zu Ihrem Antrag. Leider ist nicht zu erkennen, worauf Sie eigentlich hinauswollen.
({1})
Man könnte Ihren Antrag so verstehen, daß die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung den Krankenkassen ({2}) zufließen sollen, während die Westkrankenkassen weiterhin leistungspflichtig sind. Gegen diesen Vorschlag sprechen jedoch mehrere gewichtige Gründe. Ich will jetzt gar nicht darauf verweisen, daß die Verwirklichung Ihres Vorschlages zu einem sehr großen Verwaltungsaufwand führen müßte, wenn man diese Beiträge extra errechnete. Möglicherweise ließe sich auch ein Finanzausgleichs-verfahren in den neuen Bundesländern nicht vermeiden; auch das ist heute schon gesagt worden.
Entscheidend ist aber etwas anderes: Damit eine Krankenkasse für ihre Ausgaben aufkommen kann, stehen der Krankenkasse, die die Leistungen zu erbringen hat, auch die Beiträge aus dem Beschäftigungsverhältnis ihrer Mitglieder zu. Wenn man dies ändert, entstehen für die leistungsverpflichteten Krankenkassen Einnahmeverluste, die durch deren übrige Mitglieder ausgeglichen werden müßten, letztlich auch durch Beitragserhöhungen. Dies würde das Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung nicht nur aushöhlen, sondern aufheben.
Tatsächlich hätte die Verwirklichung Ihres Antrags eine Subventionierung der Krankenkassen in den fünf neuen Ländern durch die Krankenkassen der alten Bundesländer zur Folge. Dies ist durch den Einigungsvertrag jedoch ausdrücklich ausgeschlossen worden, weil dieser getrennte Haushaltsführung in beiden Bereichen - auch beim Belastungsausgleich der Krankenversicherung der Rentner - vorschreibt.
Man könnte Ihren Antrag aber auch so verstehen, daß Sie erreichen wollen, daß Arbeitspendler aus dem Beitrittsgebiet weiterhin bei den östlichen Krankenkassen versichert und diese dann auch leistungspflichtig sein sollen. Dies hätte u. a. zur Folge, daß die Betreffenden bei einer Behandlung am Beschäftigungsort nur bei Notfallbehandlungen die Leistungen ihrer Kassen uneingeschränkt in Anspruch nehmen könnten, während in anderen Fällen eine Behandlung faktisch nicht bezahlbar wäre.
Neben der Belastung für die Versicherten würde das aber auch die Gefahr eines sozialen Unfriedens heraufbeschwören; denn wenn diese Versicherten den östlichen Krankenkassen zugewiesen würden, müßte der westliche Arbeitgeber Beiträge auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze ({3}) zahlen. Diese Mitarbeiter würden ihm weniger Lohnkosten verursachen als diejenigen, die am Beschäftigungsort wohnen. Dies würde zu einem Verdrängungswettbewerb der im Westen ansässigen Arbeitskräfte führen. Die Arbeitgeber wären aber daran interessiert, sogenannte billigere Arbeitnehmer aus dem Beitrittsgebiet anzustellen.
Entscheidend ist, daß niemandem gedient wäre. Die Ostkrankenkassen würden zwar auf der einen Seite Beiträge erhalten, müßten aber auf der anderen Seite auch die Leistungen für die Berufspendler und ihre Familien tragen.
Denkbar wäre auch noch eine dritte Möglichkeit der Auslegung: Der Berufspendler zahlt an die Krankenkasse ({4}) den wesentlich höheren Beitrag, den er im Westen zahlen müßte, hätte aber nur Anspruch auf Leistungen seiner Krankenkasse ({5}). Dazu ist nur kurz festzuhalten, daß dies nicht nur systemwidrig, sondern auch rechtlich unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung unhaltbar ist.
Deshalb lehnen wir die Nr. 1 Ihres Antrags ab.
Mit dem zweiten Teil Ihres Antrags wollen Sie die Vergütung der niedergelassenen Ärzte durch die Krankenkassen im Beitrittsgebiet erhöhen und ab 1. Januar 1992 mit denen im übrigen Bundesgebiet gleichstellen. Ihr Vorschlag ist nicht zu verwirklichen. Sie wissen ganz genau, daß der Einigungsvertrag für das Beitrittsgebiet einen Beitragssatz von 12,8 To vorschreibt. Ich brauche Ihnen nicht zu erläutern, daß auch die Beitragseinnahmen wegen der geringeren Löhne und Gehälter dort aufgrund dieser prozentualen Beitragsberechnung geringer sind als in der alten Bundesrepublik.
Damit die Beitragssatzstabilität gewahrt werden kann, enthält der Einigungsvertrag die Vorgabe, daß die Krankenkassen im Beitrittsgebiet für die ärztlichen Honorare nur soviel aufwenden dürfen, wie es ihren Einnahmen im Verhältnis zu den Krankenkassen im bisherigen Bundesgebiet entspricht. Dies ist notwendig, um mit dem Beitragssatz von 12,8 % die Ausgaben der Krankenkassen bestreiten zu können. Sie wissen auch, daß die Vergütungen im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung von der Selbstverwaltung vereinbart werden, nämlich von den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Während der Punktwert in den alten Bundesländern 10 Pfennig beträgt, hat man für
das beigetretene Gebiet 6,1 Pfennig zugrunde gelegt.
Der Einigungsvertrag sieht aber auch vor, daß die Absenkung der ärztlichen Vergütung im Beitrittsgebiet unter Beachtung der weiteren Einkommensentwicklung in den neuen Bundesländern regelmäßig zu überprüfen ist. Ziel ist natürlich, das Vergütungsniveau langfristig zu erhöhen und dem der alten Bundesländer anzupassen. Die Spitzenverbände der Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben in ihrer Berliner Erklärung vom 28. Februar 1991 erneut bekräftigt, daß sie die Vergütungen für Leistungen der ambulanten Versorgung an die eingetretene Grundlohn- und Kostenentwicklung anpassen wollen. Mögliche strukturelle Änderungen können allerdings erst dann vorgenommen werden, wenn die Abrechnungsergebnisse des ersten Vierteljahres 1991 vorliegen.
Dieser Weg ist mühsam und wird seine Zeit brauchen bis zum Ziel, die Gesundheitsversorgung der neuen Bundesländer an das westdeutsche Niveau heranzuführen. Auf Ihrem Weg können die Leistungen in der von Ihnen vorgeschlagenen Höhe derzeit jedoch nicht finanziert werden. Der Ruin der gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Bundesländern wäre nicht ausgeschlossen. Das kann aber nicht das Ziel unserer gesetzgeberischen Tätigkeit sein. Nur eine verantwortungsbewußte und gesamtwirtschaftlich vertretbare Kosten- und Ausgabenentwicklung eröffnet die erforderlichen Spielräume für neue Aufgabenfelder und steigende Anforderungen. Deshalb müssen wir auch die Nr. 2 Ihres Antrages ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/386 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den letzten Punkt der heutigen Tagesordnung auf, den Tagesordnungspunkt 11:
Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ Linke Liste
Kündigungsschutz für bisherige Angehörige des öffentlichen Dienstes der ehemaligen DDR
- Drucksache 12/392 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({0})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünfminutenrunde vereinbart worden. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Helmuth Becker
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Redner Herr Dr. Ilja Seifert von der Gruppe der PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste brachte den heute zur Behandlung stehenden Antrag, die Bundesregierung zu beauftragen, den besonderen Kündigungsschutz für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten, die dem öffentlichen Dienst der DDR angehörten, lange vor der gestrigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Warteschleife ein. Wenn ich die Entscheidung des Gerichts, insgesamt gesehen, auch bedaure, so ist doch unübersehbar, daß auch das hohe Gericht die Regierung mahnt, „zur Wiedereingliederung der Betroffenen in das Berufsleben besondere Bemühungen zu unternehmen" . Ausdrücklich wird dem Urteil hinzugefügt:
Dazu reichen Fortbildungs- und Umschulungsangebote nicht aus. Die Entlassung aus ihrem Arbeitsverhältnis und der darin liegende Eingriff in ihre Berufsfreiheit sind für sie nur zumutbar, wenn ihnen eine begründete Aussicht auf eine neue Stelle im öffentlichen Dienst geboten wird.
Aus eben dieser Intention ergeben sich auch die konkreten Forderungen unseres Antrags, die die allgemeine Absichtserklärung handhabbar und praktisch umsetzbar machen sollen. Ihre tatsächliche Durchsetzung im Interesse der Menschen mit Behinderungen entspricht dem Anliegen des Schwerbehindertengesetzes sowie weiterer gesetzlicher Regelungen zur Behindertenproblematik und wäre somit ein Stück praktizierter Sozialstaatlichkeit.
Mit Hoffnung registrieren meine Freunde im Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland, der für Selbstbestimmung und Würde eintritt, Äußerungen des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble, der öffentlich empfiehlt, Schwerbehinderte zu beschäftigen. Allerdings ist es in diesem Zusammenhang überhaupt nicht zu verstehen und widerspricht sowohl den allgemeinen Absichtserklärungen als auch dem Hinweis des Verfassungsgerichts, daß der im Dezember 1990 mit der ÖTV abgeschlossene Manteltarifvertrag, der BAT-O, Menschen mit Behinderungen ganz brutal quasi automatisch aussondert. Bisher antworteten leider weder Frau Wulf-Mathies noch Herr Schäuble auf die Frage, ob wir die diskriminierenden Paragraphen - es handelt sich insbesondere um die §§ 7 und 9 jenes BAT-O - nicht gemeinsam und rasch aussetzen könnten.
Wenn wir, verehrte Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause, heute mit der Überweisung unseres Antrages die Bundesregierung entsprechend beauftragen, kann sie sofort ans Werk gehen und die Zunahme der massenhaften Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderungen zumindest bremsen.
Ich bitte Sie um Zustimmung zur Überweisung und um rasche und konstruktive Bearbeitung unseres Antrages in den Ausschüssen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Frau Erika Steinbach-Hermann. Bitte sehr, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von der PDS vorgelegte Antrag greift ein Thema auf, das bereits im Rahmen der Fragestunde am Mittwoch der vorigen Woche ausführlich behandelt worden ist. Am Sachverhalt hat sich seither nichts, aber auch überhaupt nichts verändert, auch nicht durch das taufrische Urteil der Verfassungsrichter zur sogenannten Warteschleifenlösung für ehemalige Angehörige des öffentlichen Dienstes der DDR.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, daß diese Warteschleifenregelung nicht verfassungswidrig ist, auch nicht für Schwerbehinderte. Die Interpretation, wie sie hier gegeben wurde, teile ich nicht. Ausgenommen wurden lediglich Frauen, auf die das Mutterschutzgesetz anzuwenden ist.
In den Leitsätzen des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts werden Schwerbehinderte in einer Reihe mit älteren Arbeitnehmern, mit Alleinerziehenden und mit - ich zitiere das wörtlich - „anderen in ähnlicher Weise Betroffenen" genannt. Deren Lage soll, so das Gericht, bei der Besetzung von Stellen - es geht nicht um die Kündigung, es geht nur um die Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst - berücksichtigt werden.
Über diese Empfehlungen ist aber unser Bundesinnenministerium, wie Sie schon in der vorigen Woche hören konnten, wenn Sie aufmerksam zugehört haben, für den Kreis der Schwerbehinderten bereits weit hinausgegangen.
({0})
- Ich komme darauf noch zurück.
Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen: Durch den Einigungsvertrag ist ein besonderer Beendigungstatbestand für Arbeitnehmer geschaffen worden, deren Arbeitsverhältnis zunächst ruht und dann nach Ablauf der Wartefrist endet. Soweit dieser Beendigungstatbestand gegeben ist, greift der besondere Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertengesetz zunächst nicht ein. Das ist vom Bundesverfassungsgericht auch nicht beanstandet worden.
Der Bundesinnenminister hat aber bereits in einem Rundschreiben am 6. März dieses Jahres empfohlen, auch in diesen Fällen die kündigungsrechtlichen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes anzuwenden. Er ist also weit über das hinausgegangen, was in der Empfehlung des Bundesverfassungsgerichts heute für uns alle zu lesen ist.
({1})
Diese Regelung ist auch den neuen Bundesländern mit der Bitte mitgeteilt worden, danach zu verfahren. Damals gab es das Urteil des Verfassungsgerichts noch gar nicht.
Darüber hinaus gilt natürlich für alle neuen Bundesländer ebenso wie für die alten Bundesländer in vollem Umfang unser Behindertenschutzrecht, soErika Steinbach-Hermann
wohl im Kündigungsbereich als auch im Bereich der Förderung.
({2})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Dr. Seifert?
Ich möchte zunächst meine Ausführungen fortsetzen, dann aber gerne.
Danach ist jeder, sowohl der öffentliche Dienst als auch der private Unternehmer, verpflichtet, 6 % der Arbeitsplätze mit Behinderten zu besetzen. Wenn er das nicht tut, muß er praktisch eine Strafe zahlen.
({0})
- 6 % ist Pflicht, ansonsten wird der Arbeitgeber mit Strafe belegt.
({1}) Er muß einen Ausgleich bezahlen.
({2})
Das ist nicht nur bei uns so; das ist auch in den neuen Bundesländern so.
({3})
Darüber hinaus gibt es umfangreiche Rahabilitations- und Förderungsprogramme und -maßnahmen, die natürlich auch in den neuen Bundesländern Geltung haben.
Meine Damen und Herren, dieses Haus und auch die Bundesregierung bedürfen nicht des Nachhilfeunterrichts durch die PDS, auch in dieser Behindertenfrage nicht.
({4})
Ich möchte Sie fragen, ob Sie jetzt die Zwischenfrage zulassen wollen.
Ja, gerne.
Inzwischen sind es schon zwei Zwischenfragen:
Erstens. Haben Sie eine genaue Zahl, wie viele Menschen von dieser Empfehlung des Innenministers betroffen sind? Mich würde sehr interessieren, wie viele Beschäftigte auf Grund dieser Empfehlung übernommen worden sind.
Die zweite Frage darf ich vielleicht gleich anschließen. Wissen Sie - da Sie von diesen 6 % so begeistert reden -, daß nach neuesten Angaben nur 4,9 % der Arbeitsplätze mit Schwerbehinderten besetzt sind und daß im übrigen die Ausgleichsabgabe von der Steuer absetzbar ist und insofern überhaupt keine Strafe darstellt?
Die Zahlen habe ich nicht. Die hat sicherlich das Ministerium greifbar, sofern es darüber für die neuen Bundesländer schon Statistiken gibt.
Allerdings weiß ich aus meiner kommunalen Erf ah-rung, daß etwa die öffentliche Hand selbst bei intensiver Suche oftmals Schwierigkeien hat, die 6 %- Quote zu erfüllen, weil nicht ausreichend Bewerber vorhanden sind und weil auch über die Arbeitsämter nicht ausreichend Arbeitssuchende angeboten werden. Das mag in den neuen Bundesländern unter Umständen anders sein. Aber ich weiß, daß es in den Kommunen und bei den Landesverwaltungen häufig ein großes Problem ist, diese 6 %-Quote zu erfüllen, weil nicht ausreichend Bewerber vorhanden sind. Darüber können wir eigentlich nur glücklich sein. Das heißt doch, daß der Behindertenanteil doch nicht so hoch ist. Das ist eigentlich ein positives Zeichen.
({0})
Ich darf fortfahren: Meine Damen und Herren von der PDS, Sie haben mit Ihrem Antrag Eulen nach Athen getragen. Im Behindertenrecht ist die Bundesrepublik der ehemaligen DDR weit voraus.
({1})
Herr Gysi und Herr Modrow stehen im Grunde genommen für eine schändliche Behindertenpolitik in der ehemaligen DDR.
({2})
Geistig Behinderte galten als schulbildungsunfähig. Deshalb gab es keine Schulen für geistig Behinderte.
({3})
- Doch, das ist so. Wo haben Sie denn Schulen für geistig Behinderte? - In sogennanten Kinderheimen vegetieren geistig Behinderte dahin, oftmals den ganzen Tag über angebunden, in einem menschenunwürdigen Zustand.
Eine Förderung der Behinderten als Individiuum hat in Ihrem früheren Staate letzten Endes doch nicht stattgefunden. Sie haben verwahrt, aber Sie haben nicht gefördert. Die wenigen Behindertwohnungen
- die es erst seit kurzer Zeit in der alten DDR gibt - waren darüber hinaus leider Gottes oftmals noch zweckentfremdet benutzt.
Ein besonderer Dank in diesem Zusammenhang gilt allerdings den Kirchen in der früheren DDR. Ohne die Kirchen in der ehemaligen DDR hätte mancher Behinderte, hätten manche Eltern von behinderten Kindern verzweifeln müssen.
Ich würde mich allerdings freuen, wenn das urplötzliche Interesse an Behindertenfragen seitens der PDS aus ehrlichem Herzen käme. Allerdings habe ich daran wirklich intensive Zweifel. Außer Herrn Dr. Seifert nehme ich das keinem von Ihnen ab. Mir scheint viel eher, daß die PDS ihre Verkaufspalette ein wenig erweitert hat, um Werbung zu machen, und sonst nichts.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das war die erste Rede von Frau Steinbach-Hermann hier. Einschließlich der
Vizepräsident Helmuth Becker
Replik auf die Zwischenfrage hat sie das sehr gut gemeistert.
({0})
Nach § 27 unserer Geschäftsordnung hat Herr Dr. Schumann das Wort zu einer Kurzintervention.
Frau Kollegin, Ihre Rede macht mich sehr tief betroffen. Ich habe einen Sohn, der geistig behindert ist. Er hat eine Schulbildung erhalten, er hat eine Berufsausbildung erhalten, und er hat auch Arbeit gehabt. Er ist am 1. August entlassen worden. Ich habe inzwischen die schriftliche Bestätigung dafür, daß er keine Arbeit wiederfindet.
Sie stellen sich nun hierhin und reden darüber, daß das für die PDS eine Erweiterung ihrer Verkaufspalette sei. Ich bitte Sie, das zurückzunehmen. Solche Dinge sollten wir hier nicht austragen. Mich persönlich trifft es sehr hart, was Sie hier gesagt haben.
Zu einer Kurzintervention hat Frau Steinbach-Hermann das Wort.
Herr Kollege, unterhalten Sie sich doch einmal mit der Lebenshilfe für geistig Behinderte! Dann werden Sie sehr schnell feststellen, wie die Eltern klagen.
({0})
Ich kann mir natürlich vorstellen, daß, wenn man entsprechende Beziehungen in Ihrem früheren Staat gehabt hat, manches möglich war, was für den Normalbürger selbstverständlich ausgeschlossen war.
({1})
Meine Damen und Herren, es wird das Wort zu einer weiteren Kurzintervention gewünscht. Bitte sehr.
Ich kann das nur ergänzen, was die Kollegin soeben sagte. Wir bauen gerade in Mecklenburg-Vorpommern einen Verband für geistig behinderte Kinder auf. Nichts ist da vorhanden: keine Behindertenwerkstätten, keine Schulen, keine Unterrichtung. Es ist eine einzige Katastrophe, was man in der früheren DDR mit den Behinderten gemacht hat.
({0})
Als nächste Rednerin hat Frau Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten neigen im allgemeinen nicht dazu, die Anrufung des Verfassungsgerichts als Politikersatz zu benutzen. Aber eins bleibt schon festzuhalten: Diese Entscheidung in Karlsruhe zur sogenannten Warteschleife im öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer ist wenigstens in ihrem Appell an das soziale Verantwortungsbewußtsein binnen einer Woche das
zweite kluge Urteil. Denn es mahnt beim Bund die Fürsorgepflicht für die Schwachen dieser Gesellschaft an, und das kann man dieser Regierung nicht oft genug ins Stammbuch schreiben.
({0})
Wir begrüßen grundsätzlich das Ziel, den Schwerbehinderten auch im Zuge der sogenannten Abwicklung einen besonderen Schutz zu geben. Wir werden dafür die notwendigen gesetzlichen Initiativen auf den Weg bringen. Wir wollen das, weil wir die Sorgen der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR ernst nehmen.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts setzt uns außerdem unter einen ganz heilsamen Zugzwang. Die Marschroute ist klar: Wir werden in den Beratungen des Innenausschusses prüfen, welche Lösungen denkbar und praktikabel sind. Wie z. B. können die neuen Arbeitgeber verpflichtet werden, den besonders schwer Betroffenen, also den Behinderten, eine „begründete Aussicht" - so heißt es ja - auf eine neue Stelle in der Verwaltung anzubieten? Allerdings erscheint uns die von Karlsruhe formulierte „begründete Aussicht" zu vage; sie läßt zu viele Schlupflöcher. Es muß den Behinderten vielmehr eine solide Basis angeboten werden, damit sie nicht in einen Abgrund von Hoffnungslosigkeit und Resignation fallen. Das ist für alle anderen, die nicht noch unter körperlichen oder geistigen Handikaps leiden, schon schlimm genug. Viel schlimmer ist es aber für Menschen, die mit einem Gebrechen belastet sind und wenigstens auf den Staat als Arbeitgeber mit sozialem Gewissen gesetzt haben.
Jetzt gilt es also, die notwendigen Korrekturen so schnell wie möglich einzuleiten. Die Bundesregierung ist sehr wohl in der Pflicht, und wir werden den notwendigen Druck ausüben. Wir brauchen eine gesetzliche Regelung als Ergänzung zum Einigungsvertrag. Das ist der formale parlamentarische Weg.
Meine Damen und Herren, es ist kein gutes Zeichen für die politische Führung, wenn ausgerechnet der öffentliche Dienst nicht von der PDS, Frau Steinbach-Hermann, wohl aber vom Gericht - in Sachen sozialer Verantwortung Nachhilfeunterricht braucht. Das läßt sich auch nicht mit dem Hinweis darauf entschuldigen, daß angesichts der riesigen Kosten, die die Neuorganisation der Verwaltung in den neuen Bundesländern verschlingt, massiver Personalabbau nötig sei. Geldknappheit ersetzt eben nicht die Pflicht zur Rücksichtnahme auf diejenigen, die ein restlos überforderter und geschwächter Arbeitsmarkt am ehesten und am schnellsten abschiebt - schon weil es ihnen an Kraft fehlt, sich zur Wehr zu setzen.
Der neu aufzubauende öffentliche Dienst in den östlichen Bundesländern stellt sich damit eine denkbar schlechte Visitenkarte aus und stößt all diejenigen vor den Kopf, die mit ihrem friedlichen Kampf um die Demokratisierung ihres Landes auch die Hoffnung verbanden, der Staat und sein Apparat würden ihnen endlich beweisen, wie human man mit Schwachen, Verletzlichen und Langsamen dieser Gesellschaft umgehen kann.
Noch eine Schlußbemerkung: Die sogenannte Abwicklung in der Verwaltung der früheren DDR ist auch mit der jetzt durchzusetzenden sozialen Abfederung noch unerbittlich und menschlich erschütternd genug. Wenn wir den Personalabbau schon nicht verhindern können, dann, meine Damen und Herren, sollten wir die Dinge wenigstens beim Namen nennen. Da ist die beschönigende Formulierung von der „Warteschleife" im wesentlichen doch nur die Umschreibung für das Verfahren, Menschen die Arbeit wegzunehmen, sie mit gekürzten Bezügen nach Hause zu schicken und nach sechs oder neun Monaten endgültig in die Erwerbslosigkeit zu schicken. Sprechen wir also lieber von Kündigung mit Schonfrist; das dient der Ehrlichkeit in einer Region, die von den Schönfärbereien der letzten Monate endgültig die Nase voll hat.
({1})
Das Wort hat jetzt unser Kollege Heinz-Dieter Hackel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Bei der Behandlung dieses Antrages muß man sich eigentlich wundern. Gestern haben wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der sogenannten Warteschleifenregelung im Einigungsvertrag erhalten. Wir sollten uns alle hüten, an dieser Stelle, nämlich im Deutschen Bundestag, das Bundesverfassungsgericht zu kritisieren und ihm den notwendigen Respekt zu verweigern.
({0})
Das Parlament kann nicht der Ort sein, wo das Bundesverfassungsgericht ungestraft, wie es gestern von Kollegen der PDS durch ihre Presseerklärung gemacht worden ist, maßlos beschimpft und in Zusammenhang mit den Untaten des Nationalsozialismus gebracht wird. Hier offenbart die PDS ein gerütteltes Maß an Nachholbedarf im demokratischen Meinungskampf und im Umgang mit Verfassungsorganen.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschriften zur „Warteschleife" bis auf einen Punkt für verfassungsgemäß gehalten und die soziale Absicherung der Betroffenen im Einigungsvertrag anerkannt und richtigerweise gestärkt. Auffällig ist, daß in dem Antrag der PDS von dem einen Fall, in dem das Bundesverfassungsgericht eine andere Position bezogen hat als die Parteien des Einigungsvertrages, nämlich bei der Gewährleistung von Mutterschutz, nicht die Rede ist.
Die PDS kritisiert nur das Fehlen von Sonderregelungen für Schwerbehinderte. Gerade dazu hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß die Warteschleifenregelung zumutbar, sozialverträglich und deswegen verfassungsgemäß ist, also einzelvertraglicher Kündigungsschutz nicht gewährleistet werden muß und auch nicht gewährleistet werden kann.
Für den anderen Bereich des öffentlichen Dienstes, nämlich die übernommenen Verwaltungseinrichtungen, hat der Bundesminister des Innern bereits im
Zuge der Übernahme verwaltungsintern durch verschiedene Rundschreiben sichergestellt, daß den besonderen sozialen Bedürfnissen der Schwerbehinderten, der älteren Arbeitnehmer und der Alleinerziehenden bei der Ausübung der Kündigungsmöglichkeiten Rechnung getragen wird. Von daher ist das Anliegen der betroffenen Menschen in den neuen Bundesländern schon seit langem erkannt und anerkannt. Nur ist die Problemlösung so schwer wie die Quadratur des Kreises.
Wir alle wissen, daß der frühere Staatsapparat der DDR aufgebläht und überdimensioniert war.
Herr Kollege Hakkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Heuer?
Ich schlage vor, mich erst zu Ende reden zu lassen. Vielleicht bedarf es dann keiner Anfragen mehr.
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Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst muß nachhaltig verringert werden; das erfordert mehr als nur eine bloße Schlankheitskur. Ob der öffentliche Dienst in den neuen Bundesländern angesichts der Ausgangslage ein Bereich ist, in dem besondere sozialpolitische Vorbildfunktionen durch den öffentlichen Dienst übernommen werden können, wage ich zu bezweifeln.
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So berechtigt soziale Erwägungen bei der Ausübung der Kündigungsregelung und bei der Ausfüllung der Warteschleifenregelung sind, so schwierig werden sie im einzelnen durchzusetzen sein.
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- Nun lassen Sie mich doch erst einmal zu Ende reden! Ich komme aus einem der neuen Bundesländer.
Diese Probleme werden in dem Antrag der PDS nicht gesehen. Mit der Beschränkung auf die Schwerbehinderten ist es nicht getan.
Bei diesem und anderen Anträgen der PDS fragt man sich, ob da nicht die alte Parteilobby der SED wirksam wird, um sich auf diese oder andere Weise unter dem Deckmantel der Sozialpolitik ihre alten Arbeitsplätze und Funktionen sichern zu wollen.
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Jedenfalls ist es bemerkenswert, wenn die PDS, die durch ihren Vorgänger SED die Probleme in den neuen Bundesländern erst geschaffen und zu verantworten hat, nunmehr aus diesen Problemen vordergründigen parteipolitischen Nutzen zu ziehen versucht.
Ich bedaure insoweit, daß die Bemühungen der ÖTV, durch die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu einer Stärkung der sozialpolitischen Flankierung der Warteschleifenregelung im Einigungsvertrag zu gelangen, in das partei1594
politische Spiel der PDS geraten sind. Nach meiner Überzeugung ist es der geringste Teil der Bevölkerung in den neuen Bundesländern, der hier seine Interessen durch die PDS formuliert und vertreten sehen möchte.
Desungeachtet werden wir der Überweisung zustimmen.
Vielen Dank.
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Das ist nicht möglich. Ich habe schon eine Kurzintervention zugelassen. Lesen Sie § 27 der Geschäftsordnung nach. Das darf an sich erst am Ende einer ganzen Debattenrunde sein, und bei fünf Minuten Redezeit wäre das dann sehr schwierig. Ich kann nicht noch einmal Kurzinterventionen zulassen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesministerium des Innern, Herr Eduard Lintner.
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Natürlich muß das sein! - Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die in dem Einigungsvertrag für Arbeitsverhältnisse in der öffentlichen Verwaltung getroffenen Regelungen stellen ein in sich geschlossenes System dar, das nach dem Willen des Gesetzgebers an die Stelle der bisherigen Arbeitsbedingungen treten soll. Diese Übergangsregelungen für den öffentlichen Dienst gehen als gesetzliche Spezialbestimmungen allen anderen entgegenstehenden Regelungen vor. Dies gilt nicht nur für einzel- oder kollektivvertragliche Vereinbarungen, sondern in gleicher Weise für Gesetzesrecht. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich bestimmt, daß den Übergangsbestimmungen entgegenstehende oder abweichende Regelungen nicht anzuwenden sind. Das hat nun zur Folge, daß das Schwerbehindertengesetz auf die nach Ablauf des Ruhenszeitraums kraft Gesetzes endenden Arbeitsverhältnisse und bei einer Kündigung nach den Sondervorschriften des Einigungsvertrages nicht anwendbar ist.
Unabhängig von dieser Rechtslage - darauf ist bereits hingewiesen worden - hat der BMI in seinem Rundschreiben vom 6. März 1991, also lange Zeit vor dem Urteil, gebeten, auch in diesen Fällen die kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes anzuwenden. Ein Handlungsbedarf besteht in diesem Punkt also nicht mehr, zumal auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 24. April 1991 die Ruhensregelung des Einigungsvertrages in diesem Punkt für verfassungsmäßig hält.
Zur Klarstellung möchte ich noch bemerken, daß die Ausführungen des Kollegen Seehofer vom 11. Dezember 1990, die sich auf die allgemeine Geltung des Schwerbehindertengesetzes bezogen haben, hierzu nicht im Widerspruch stehen.
Nach dem Schwerbehindertengesetz sind die öffentlichen Arbeitgeber ebenso wie die Privatunternehmen verpflichtet, auf wenigstens 6 % der Arbeitsplätze Schwerbehinderte zu beschäftigen. Diese Vorschrift bezieht sich sowohl auf Beamte als auch auf Arbeitnehmer.
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Der Festlegung einer gesonderten Einstellungsquote für Schwerbehinderte im öffentlichen Dienst bedarf es daher nicht.
Allerdings wird zu berücksichtigen sein, daß das Bundesverfassungsgericht die Ruhensregelung des Einigungsvertrages nur für vertretbar hält, wenn der Staat zur Wiedereingliederung der Behinderten in das Berufsleben besondere Bemühungen unternimmt.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, können Sie mir einmal sagen, wie hoch die Schwerbehindertenquote im öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern sein wird?
Da werden Sie in erster Linie die Landesregierungen fragen müssen. Ich bezweifle, daß dort schon ausreichendes und exaktes statistisches Material zur Verfügung steht. Aber wir können Ihnen gerne zusagen, daß wir Ihnen die Zahl, sobald wir sie haben, mitteilen werden.
Zur Erhöhung der Altersgrenze ist folgendes zu bemerken: Die Bundeslaufbahnverordnung sieht in § 14 Abs. 2 vor, daß Schwerbehinderte bis zu einem Höchstalter von 40 Jahren in den Vorbereitungsdienst für eine bestimmte Laufbahn eingestellt werden dürfen. Für die unmittelbare Begründung eines Beamtenverhältnisses auf Probe bzw. auf Lebenszeit gilt die vom Bundesfinanzminister auf der Grundlage des § 48 der Bundeshaushaltsordnung festgesetzte allgemeine Höchstaltersgrenze von 40 Jahren.
Die individuelle Förderung der beruflichen Rehabilitation ist im Beitrittsgebiet zunächst tatsächlich nur zögerlich angelaufen. Hierfür gibt es mehrere Ursachen. Ich will einige nennen.
Die erforderlichen Reha-Fachkräfte mußten zunächst gewonnen und herangebildet werden. Die Arbeitslosen sind bei der Mitteilung von Behinderungen noch sehr zurückhaltend. Erschwert wird die Arbeit im Rehabilitationsbereich zusätzlich dadurch, daß mit dem Aufbau des ärztlichen Dienstes nur sehr langsam begonnen werden konnte.
Aber trotz dieser ungünstigen Rahmenbedingungen ist nunmehr doch eine steigende Tendenz bei der Förderung der beruflichen Rehabilitation erkennbar.
Soweit die Voraussetzungen des Arbeitsförderungsgesetzes vorliegen und insbesondere die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahme arbeitsmarktpolitisch notwendig ist, können Behinderte auch die allgemeinen Förderleistungen für diese Maßnahmen
beanspruchen. Es gelten die speziellen, zur Flankierung der Strukturanpassung im Beitrittsgebiet in das Arbeitsförderungsgesetz eingefügten Regelungen.
Die Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz erfolgen nach dem Grundsatz der Individualleistung; eine Differenzierung nach Bundesländern erfolgt naturgemäß nicht.
Umschulungsmaßnahmen sind nach den geltenden Vorschriften grundsätzlich als Betriebsausgabe steuerlich absetzbar.
Meine Damen und Herren, zusammenfassend stelle ich deshalb fest: Nach Auffassung der Bundesregierung sind keine weiteren Maßnahmen zur Anwendung des Schwerbehindertengesetzes erforderlich.
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- Haben Sie etwas anderes erwartet?
Ich erteile nunmehr dem Herrn Abgeordneten Dr. Ilja Seifert zu einer Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer Geschäftsordnung das Wort. Bitte sehr.
Herr Präsident, vielen Dank für die Worterteilung.
Meine Damen und Herren, ich bin zutiefst betroffen darüber, daß hier unterstellt wird, daß ich persönlich nur eine Art Aushängeschild für Parteipolitik sei. Ich bitte Sie alle dringend darum, hinsichtlich der Arbeit und anderer Lebensbereiche von Menschen mit Behinderungen derartige parteipolitische Gräben nicht aufzureißen. Ich haben ausdrücklich versucht, zur Sache zu reden, und würde Sie alle bitten, das ebenfalls zu tun.
Im übrigen möchte ich einmal sagen - ich hätte vorhin gerne noch eine Zwischenfrage gestellt; das ist aber nicht möglich gewesen -, daß ich durchaus der Meinung bin, daß eine bindende Verpflichtung des Parlaments einen ganz anderen Stellenwert hat als eine Empfehlung des Bundesinnenministers, so sehr ich diese schätze. Ich denke, zu einer solchen verbindlichen Erklärung sollte sich das Parlament durchringen können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. April 1991, um 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.