Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/18/1994

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Darf ich Sie bitten, sich zur Erklärung zum Gedenken an die Sinti und Roma von Ihren Plätzen zu erheben. ({0}) Wir beginnen die heutige Sitzung mit einem Gedenken an die vor 50 Jahren in Auschwitz ermordeten Sinti und Roma. Zu diesem Gedenken begrüße ich den Vorsitzenden des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma, Herrn Romani Rose, der zusammen mit einer Delegation des Zentralrats auf der Tribüne Platz genommen hat. Vor 50 Jahren, im Mai 1944, gab die SS-Führung des Reichssicherheitshauptamts den Befehl zur Liquidierung des als „Zigeunerlager" bezeichneten Abschnitts des Vernichtungslagers Auschwitz. Doch die 6 000 noch lebenden Sinti und Roma ließen sich nicht ohne Gegenwehr ermorden. Am 16. Mai 1944 scheiterte der erste Versuch, die Gruppe durch Gas zu töten, am aktiven Widerstand der sich mit Spaten, Steinen und Stangen wehrenden männlichen Häftlinge. Danach zwang die SS 3 000 Männer und Frauen zur Sklavenarbeit, zur „Vernichtung durch Arbeit" - wie damals gesagt wurde - und verlegte sie in andere Konzentrationslager. Die übrigen Häftlinge, Kinder, Frauen und Ältere, wurden in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet. 22 000 Sinti und Roma aus fast allen Teilen Europas waren zwischen 1943 und 1944 nach AuschwitzBirkenau verschleppt worden. Tausende fanden dort den qualvollen Tod in den Gaskammern, bei menschenverachtenden medizinischen Experimenten oder starben an den Folgen der unmenschlichen Lagerbedingungen, an Hunger und Seuchen. Dem Völkermord an den Sinti und Roma gingen ihre planmäßige Diskriminierung und Entrechtung voraus. Verfolgungsgrund war der Rassenwahn der nationalsozialistischen Ideologie. Wenn wir heute der in Auschwitz umgekommenen Sinti und Roma gedenken, so stehen ihre Namen stellvertretend für die insgesamt etwa 500 000 Opfer des an den Sinti und Roma begangenen Völkermordes. Die Namen der Orte, in denen sie zusammen mit Juden und anderen Menschen ermordet wurden, sind für die Überlebenden bis heute mit qualvollen Erinnerungen verbunden. Es gibt in Deutschland und in den einst von den Nationalsozialisten besetzten Ländern Europas keine Familie der Sinti und Roma, die nicht unmittelbare Angehörige verloren hat. Das Trauma der Verfolgung hat alle geprägt. Die Erinnerung an das Unfaßbare ist Teil ihres Bewußtseins geworden. In unserem Land leben heute fast 70 000 deutsche Sinti und Roma. Sie erinnern sich in diesen Tagen gemeinsam mit uns an Verfolgung, Entrechtung und Ermordung. In der Nähe des Reichstagsgebäudes in Berlin ist eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Vernichtung der Sinti und Roma geplant. Unter Mithilfe von Yad Vashem, des Wiesenthal-Instituts und des Holocaust Memorial Museums in Washington wird beim Dokumentations- und Kulturzentrum der deutschen Sinti und Roma in Heidelberg zur Zeit die erste umfassende Ausstellung zum Völkermord im nationalsozialistisch besetzten Europa vorbereitet. Die Verbrechen an den Sinti und Roma mahnen uns nachdrücklich, gegen jedes an Minderheiten begangene Unrecht vorzugehen, im eigenen Land, aber auch außerhalb unserer eigenen Grenzen. Gerade angesichts der jüngsten brutalen ausländerfeindlichen Übergriffe in Magdeburg und - in dieser Nacht - in Hamburg sind alle Demokraten, sind wir alle aufgefordert und gefordert, jede Form von Herabsetzung, Ausgrenzung und tätlichem Angriff auf Menschen, gleich welcher Hautfarbe, Nationalität oder Weltanschauung, mit allen Mitteln zu ächten und zu unterbinden. Jeder und jede in unserem Land, ob Deutscher oder Nichtdeutscher, hat den ungeteilten Anspruch auf Schutz, auf Achtung der Menschenwürde und auf körperliche Unversehrtheit. Erinnern macht nur Sinn, wenn wir daraus lernen, anders zu handeln, nämlich Unrecht an Menschen nicht zuzulassen, Hilfe nicht zu verweigern, Menschenleben gemeinsam zu schützen. Sie haben sich erhoben. Ich danke Ihnen. Wir nehmen wieder Platz. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich dem Kollegen Dr. Hermann Schwörer, der am 1. Mai seinen 72. Geburtstag feierte, dem Kollegen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Erwin Horn, der am 2. Mai seinen 65. Geburtstag, und dem Kollegen Rudolf Meinl, der ebenfalls am 2. Mai seinen 60. Geburtstag feierte, aber auch dem Kollegen Karl-Heinz Spilker, der am 3. Mai seinen 73. Geburtstag, dem Kollegen Horst Niggemeier, der am 10. Mai seinen 65. Geburtstag, und dem Kollegen Dr. Alexander Warrikoff, der am 14. Mai seinen 60. Geburtstag beging, nachträglich die herzlichsten Glückwünsche des Hauses übermitteln. Sodann teile ich Ihnen mit, daß die Abgeordnete Christina Schenk nicht mehr der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angehört. Sie wird bis zum Ende dieser Wahlperiode dem Deutschen Bundestag als fraktionsloses Mitglied angehören. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bundesgesetzliche Konsequenzen aus rechtsradikalen Ausschreitungen in Deutschland am Beispiel der jüngsten Vorfälle in Magdeburg 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung der Bundesregierung zur Zukunft von EKO-Stahl und von Eisenhüttenstadt Im Rahmen eines stahlpolitischen Gesamtkonzepts 3. Weitere Überweisungen Im vereinfachten Verfahren ({1}) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und zur Änderung anderer Gesetze - Drucksache 12/7563 - b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausländerzentralregistergesetzes ({2}) - Drucksache 12/7520 - c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Edith Niehuis, Dr. Sissy Geiger ({3}), Uta Würfel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Frauenförderung Innerhalb der Europäischen Strukturförderung - Drucksache 12/7504 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, HansGottfried Bernrath, Rudolf Bindig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Internationale Anstrengungen zur friedlichen Lösung des Kurdenproblems in der Türkei - Drucksache 12/7422 - e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski, Wolfgang Zeitlmann, Werner Skowron, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Abgeordneten Wolfgang Lüder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Entschädigung für Opfer nationalsozialistischen Unrechts in den baltischen Staaten - Drucksache 12/7467 - f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Hans Gottfried Bernrath, Dr. Ulrich Böhme ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Grenzüberschreitende Kulturarbeit im östlichen Europa - Drucksache 12/6901 - g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Freimut Duve, Angelika Barbe, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zukunft der Bundeskulturförderung - Drucksache 12/7047 - h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Roswitha Wisniewski, Erwin Marschewski, Wilfried Seibel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ina Albowitz, Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Kulturförderung des Bundes ab 1995 - Drucksache 12/7231 4. Abschließende Beratung ohne Aussprache ({5}) a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 25. September 1991 zum Chloridübereinkommen/Rhein ({6}) - Drucksachen 12/6971, 12/7465, 12/... - b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({7}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({8}), Dr. Else Ackermann, Ina Albowitz und weiterer Abgeordneter zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({9}), Dietrich Austermann, Heinz-Günter Bargfrede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Carl Ewen, Arne Börnsen ({10}), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Lisa Peters, Dr. Michaela Blunk ({11}), Günther Bredehorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. sowie des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Situation der Niederdeutschen Sprache - Drucksachen 12/6579, 12/5355, 12/6073, 12/7443 -5. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Entschädigung nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen und über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage ({12}) - Drucksachen 12/4887, 12/..., 12/... -6. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Vorschriften über den Bundesgrenzschutz ({13}) - Drucksache 12/7562 -7. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1994 ({14}) - Drucksache 12/7565 -8. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({15}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Verbesserung des Ärztlichen Dienstes und der Arbeitsvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit - Drucksachen 12/2142, 12/3593 -9. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes Im Bereich des Baugewerbes - Drucksache 12/7564 Zugleich soll von der Frist für den Beginn der Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 7, Geschwindigkeitsbeschränkungen in Nationalparks, 18e, Bericht der Bundesregierung für die Belange der Ausländer, 20a und b, versorgungs- und dienstrechtliche Vorschriften, sowie 24, Gesetzentwurf zur Änderung des Wirtschaftsrechts, werden abgesetzt. Der Tagesordnungspunkt 19, Entwurf eines Kündigungsschutzgesetzes, wird ohne Debatte überwiesen und Tagesordnungspunkt 21, Umweltinformationsgesetz, ohne Aussprache beraten. Die Beratungen ohne Aussprache werden am Donnerstag vor der Befragung der Bundesregierung aufgerufen. Darüber hinaus mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 225. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28. 4. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Ausschuß für Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Gesetzentwurf der Abgeordneten Siegfried Hornung, Dr. Hans Stercken, Michael von Schmude, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Hans-Joachim Otto ({16}), Ina Albowitz, Gerhart Rudolf Baum, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Gesetz über den deutschen Auslandsrundfunk - Drucksache 12/7401 Der in der 223. Sitzung des Deutschen Bundestages am 22. 4. 1994 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Ausschuß für Frauen und Jugend zur Mitberatung überwiesen werden: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Die Strukturkrise der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie überwinden, den Textilstandort Deutschland erhalten - Drucksache 12/7242 Sind Sie mit den Änderungen der Tagesordnung und den nachträglichen Ausschußüberweisungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir es so beschlossen. Weiterhin möchte ich Sie darauf hinweisen, daß für heute - abweichend von der Geschäftsordnung - zwei Aktuelle Stunden stattfinden sollen. Sind Sie auch damit einverstanden? - Das ist der Fall. Darm ist das mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bundesgesetzliche Konsequenzen aus rechtsradikalen Ausschreitungen in Deutschland am Beispiel der jüngsten Vorfälle in Magdeburg Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder einmal muß sich der Deutsche Bundestag mit rechtsradikalen Ausschreitungen befassen. Wieder einmal bekunden wir Zorn und Scham, suchen nach Ursachen für diese Welle der Gewalt, fordern strengere Gesetze und bessere Handhabe für Polizei und Justiz. Wieder einmal sind wir hilflos, entsetzlich hilflos. Hoyerswerda, Rostock, Solingen, Mölln, Lübeck, Magdeburg - was dort und an hundert anderen Orten in Deutschland geschah und geschieht, dafür tragen wir alle, dafür trage auch ich Verantwortung. Es ist zu bequem, die Ursachen allein in der Gewaltbereitschaft und rassistischen Verblendung der radikalen Jugendlichen zu sehen. Es ist zu bequem, die Verantwortung nur bei den Polizisten und Staatsanwälten und den Politikern vor Ort zu suchen. Richtig ist, daß wir alle verantwortlich sind für das Klima, das im Lande herrscht, für die latente Gewaltbereitschaft, für den Haß, für die Isolation und Ausgrenzung. Diese Rechtsradikalen sind unsere Kinder, und sie sind geworden, was sie sind, weil wir ihnen keine Ideale und keine Zukunft gegeben haben. Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Gewalt. Diese Gewalt, ob direkt verübt oder strukturell vorhanden, ist allgegenwärtig, ohne daß wir uns ernsthaft urn die einzige Alternative, die Gewaltlosigkeit, bemühen würden. Wir müssen die Gewalt eingrenzen, statt die Gewalttäter auszugrenzen. Die neue Gewalt muß in engem Zusammenhang mit den Gewaltregimen in Deutschland gesehen werden. Die Auseinandersetzung mit unserer totalitären Vergangenheit war und ist zu nachlässig und oberflächlich. Es ist kein Zufall, daß die deutsche Justiz, die sich, im ganzen genommen, nie tief und ehrlich mit ihren Untaten im Dritten Reich befaßt hat, heute rechtsradikale Verbrecher mit unglaublicher Milde und Nachsichtigkeit behandelt. Ebensowenig ist es ein Zufall, daß sich fremdenfeindliche Ausschreitungen dort häufen, wo bis vor vier Jahren die Realsozialisten die Macht hatten. Diese feigen, verrohten Schläger in Magdeburg sind auch Kinder der DDR und Ergebnis der sozialistischen Erziehung. Ihre Eltern und Lehrer waren brave SED-Genossen oder untertänige Stasi-Spitzel. Ihre Grunderfahrung war der Mauerstaat, der ausgrenzte und isolierte. Die heute Zwanzigjährigen haben doch mitbekommen, wie von Staats wegen die Polen und ihre Solidarnosc verunglimpft und die Juden in Israel mit Haß überschüttet wurden. Vieles im wiedervereinigten Deutschland bestärkt diese entwurzelten und desorientierten Jugendlichen in ihrem Wahn. Sie führen radikal aus, wozu der Staat sie mit seinen ausländerfeindlichen Gesetzen ermutigt. ({0}) Die Asyldebatte mit ihren unsäglichen Entgleisungen hatte verheerende Folgen für die Akzeptanz von Ausländerinnen und Ausländern. ({1}) Die Energie, Einsatzfreudigkeit und Phantasie, mit der deutsche Politiker, Richter, Grenzschützer und Polizisten gegen Flüchtlinge vorgehen, bleibt doch auch bei den Rechtsradikalen nicht unbemerkt. Und wenn Herr Herzog, der Präsidentschaftskandidat der CDU, die Ausländer, die nicht eingedeutscht werden wollen, aus dem Land verbannen will, dann fordert er doch geradezu zur Menschenjagd auf! ({2}) Dann macht seine Empörung hinterher auch nichts gut. Zu dem, was die Gewalt unmittelbar fördern, ja, geradezu provozieren muß, gehören diese unerträgliche Nachlässigkeit und Tatenlosigkeit von Polizei und Justiz, die sich manchmal kaum noch von offener Sympathie für Rechtsradikale unterscheiden. Wie sonst ist zu erklären, daß in Magdeburg die klaren Warnungen des Verfassungsschutzes in den Wind geschlagen wurden! Entweder ist Herr Remmers unendlich naiv oder durch sein Doppelministerium in einer nicht mehr zu verantwortenden Weise überlastet. Unerträglich war auch das Verhalten des Magdeburger Polizeipräsidenten Stockmann. Sein Kommentar, die Hetzjagd auf Ausländer habe mehr mit Alkohol und Sonnenschein denn mit Ausländerfeindlichkeit zu tun, war eine schlimme Entgleisung und Verhöhnung der Opfer. Offenbar kennt dieser Polizeipräsident nicht einmal das Strafgesetzbuch. Wie sonst Konrad Weiß ({3}) ist zu erklären, daß er und seine Polizisten beim Zeigen und Grölen des Hitlergrußes, mit dem die rechtsradikalen Verbrecher durch Magdeburg zogen, nicht eingegriffen haben! Die Frage drängt sich auf, ob der verzögerte und dilettantische Polizeieinsatz vielleicht beabsichtigt war. ({4}) Haben diese ehemaligen Volkspolizisten überhaupt schon begriffen, daß sie Staatsbürger in Uniform, nicht aber mehr Büttel eines Willkürregimes sind und daß jeder einzelne Verantwortung für den Schutz der Demokratie in unserem Land trägt? Völlig unverständlich ist auch die unverzügliche Freilassung selbst der gefährlichsten Gewalttäter. Auch dies betrachte ich als eine unmittelbare und gewollte Begünstigung der rechtsradikalen Schläger. Wie sollen Bürgerinnen und Bürger denn noch Vertrauen in unseren Rechtsstaat haben, wenn sie immer und immer wieder erleben müssen, daß eben verhaftete, blutrünstige Schläger umgehend wieder auf freien Fuß gesetzt werden, daß sie die Polizeiwache höhnisch und triumphierend verlassen, um bei nächster Gelegenheit neue rechtsradikale Gewalttaten und Verbrechen zu begehen? Schließlich empört mich, meine Damen und Herren, daß die angegriffenen Ausländer und diejenigen, die sie gegen die braunen Schläger verteidigt haben, von der Polizei nicht nur nicht geschützt, sondern offenbar noch behindert und drangsaliert wurden. Ich finde, diese mutigen Türken sollten vom Bundespräsidenten in angemessener Weise ausgezeichnet werden, statt daß sie von der Staatsanwaltschaft gesucht werden. ({5}) Ich denke, meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag sollte sich bei den Menschen, die in unserem Land Todesangst erlitten haben, bei den Afrikanern, die in Magdeburg gejagt wurden, im Namen aller Deutschen entschuldigen. Ich danke Ihnen. ({6})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster hat Dr. Rolf Olderog das Wort.

Dr. Rolf Olderog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was an vandalistischer Gewalt und Brutalität am Himmelfahrtstag in Magdeburg geschah, erfüllt uns mit tiefer Sorge. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion verurteilt diese erschreckenden Vorgänge entschieden. Die Ereignisse sind schlimm; gleichwohl muß aber festgestellt werden, daß die Berichterstattung der Medien vielfach falsch und übertrieben war. Erstes Beispiel: Die Fernsehsendungen vermittelten den Eindruck, ausländerfeindliche Hooligans hätten über mehrere Stunden farbige Ausländer wie Vieh durch Magdeburg getrieben und - obendrein - Bürger und Polizei hätten das geschehen lassen, ohne etwas zu unternehmen. Das stimmt nicht. Richtig ist, daß betrunkene, brutale und gewalttätige Hooligans, die zunächst in einer Straßenbahn randaliert hatten, beim Aussteigen zufällig auf eine Gruppe von Schwarzafrikanern stießen und spontan auf diese losgingen. Die Ausländergruppe flüchtete in ein nahegelegenes Lokal. Die Hooligans folgten ihr dorthin und richteten schwere Verwüstungen an. Der Vorgang dauerte, nach den Informationen der Polizei, 25 Minuten. In der Folge kam es dann - immer wieder aufflakkernd - gleichsam eruptiv an verschiedensten Stellen der Stadt zu meist spontanen Auseinandersetzungen und vandalistischen Aktionen, woran sich unterschiedliche deutsche und ausländische Gruppen beteiligten. Der Polizei bot sich ein verwirrendes Bild, ein Durcheinander der verschiedensten Gruppen. Es war den Beamten weitgehend unmöglich, exakt festzustellen, wer Täter und wer Opfer war. Ablauf und Entwicklung der Ereignisse waren kaum zu kalkulieren. ({0}) - Sie sollten sich den Polizeibericht, der ja veröffentlicht worden ist, zumindest einmal ansehen, bevor Sie sich so äußern. Zweites Beispiel: Bei jedem Polizeieinsatz werden unvermeidbar Fehler gemacht, ganz besonders, wenn Polizeikräfte noch im Aufbau sind. Es fehlte - das ist vorzuwerfen - ein Observationstrupp; die Staatsanwaltschaft war nicht unterrichtet. Eine Berichterstattung aber, die den Eindruck erweckt, die Polizei sei überhaupt nur unzureichend auf dem Plan erschienen und habe zudem eher teilnahmslos dabeigestanden, ist einfach falsch. Schon kurz nach Beginn waren die ersten Polizisten am Ort des Geschehens und griffen entschieden ein. Die Polizei hat insgesamt, nach und nach, rund 100 Beamte dorthin entsandt. Ganz falsch ist also die Behauptung, die Polizei habe der Gewalt und den Krawallen teilnahmslos zugesehen. Daß die Polizei energisch einschritt, zeigt auch die Tatsache der Festnahme von 46 Personen aus den verschiedensten Gruppierungen: 32 Deutsche und 14 Ausländer. Da ein Observationstrupp fehlte - das habe ich kritisiert -, war es leider unmöglich, konkrete Straftaten bestimmten Tätern zuzuordnen. Sie konnten somit nicht in Haft verbleiben. Auch nach Polizeirecht war es nicht zulässig, die Randalierer weiter festzuhalten. Nachdem sich die Szene beruhigt hatte, bestand keine Wiederholungsgefahr. ({1}) Das zeigt auch die tatsächliche Entwicklung. Drittes Beispiel - Herr Weiß, auch Sie haben das falsch dargestellt -: Da wird ein weiterer Vorgang verfälscht. Angeblich soll der Verfassungsschutz am Vorabend der Polizei einen Hinweis auf die bevorstehenden Krawalle gegeben haben. ({2}) - Sie sollten sich ihn einmal genau angucken. - Der Verfassungsschutz erwartete Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppen an einem bestimmten Ort. ({3}) Die Polizei hat sich darauf eingestellt, hat Streife gefahren, war darauf vorbereitet, aber nichts dergleichen ist geschehen. Einen Hinweis auf das, was tatsächlich an anderer Stelle erfolgte, gab es überhaupt nicht. Meine Damen und Herren, ich sage ja nur: Das Geschehene ist doch ernst genug. Es bedarf weder einer journalistischen noch einer politischen Dramatisierung. ({4}) - Ich spiele das nicht herunter, sondern ich versuche, dem Sachverhalt einigermaßen objektiv gerecht zu werden. Dieser Vorgang zeigt uns erneut, welch ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft bei vielen jungen Menschen vorhanden ist. ({5}) Schon ein Funke kann eruptive oder gar explosive Vorgänge auslösen. Besonders gefährlich wird dies, wenn sie sich mit einem Potential an dumpfer Fremdenfeindlichkeit verbindet. Aber ich halte Ihre Vermutung, daß das damit zusammenhängt, daß wir das Asylrecht neu geregelt haben, für falsch. Eher umgekehrt würde ich die Situation beurteilen. ({6}) Meine Damen und Herren, es gibt Grenzen dessen, was ein Volk an sozialer Integration leisten kann. Diese Grenzen waren und sind bei uns überschritten. ({7}) Deswegen ist es richtig, daß wir den Weg des neuen Asylrechts einvernehmlich gegangen sind. Darum glaube ich, daß die Neuregelung des Asylrechts eher zu einer Entschärfung, einer Entspannung der Situation beitragen wird. ({8}) Das schließt aber nicht aus, daß es eine Reihe von weiteren Ursachen und Gründen für diese Entwicklung gibt. In Vorgängen wie denen in Magdeburg offenbart sich ein bedrückendes Defizit der unterschiedlichsten Bildungseinrichtungen, von den Elternhäusern bis zu den Schulen. Was die Ursachen angeht, möchte ich vor allem ein Thema besonders ansprechen: Was bestimmte Fernsehsendungen an Gewalt und Brutalität, an negativen Leitbildern und falschen Botschaften, an grober Verfälschung der Wirklichkeit und insbesondere des Rechtsstaates Tag für Tag auf junge, unerfahrene Menschen niederlassen, führt unvermeidbar zu solchen bestürzenden und beschämenden Vorgängen wie in Magdeburg. ({9}) Dies einfach so weiter laufen zu lassen, halte ich für unverantwortlich. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht jetzt Dr. Jürgen Schmude.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich würde die Problematik gerne etwas grundsätzlicher betrachten, als Herr Olderog das getan hat, und werde dabei ganz von selbst auf einen besonders fatalen Fehlschluß, den er uns vorgetragen hat, zu sprechen kommen. Heute nacht ist ausländischen Menschen in Hamburg das Haus über dem Kopf angezündet worden. Sie konnten fliehen, sie konnten sich retten. Aber ich frage uns alle: Kommt uns die Meldung bekannt vor? - So oder so ähnlich hören wir es doch seit Jahren fortlaufend. Erinnern wir uns an die Vielzahl dieser Meldungen, die inzwischen zusammengekommen sind? Erinnern wir uns eigentlich noch daran, was in Bielefeld erst vor vier Wochen los war? Erinnern wir uns, um es positiv zu wenden, eigentlich an einen etwas längeren Zeitraum in den letzten Jahren, wo es solche Meldungen nicht gegeben hat? Ich fürchte, mehr und mehr nehmen wir es hin, mit solchen Ereignissen zu leben, und sind dann allenfalls erleichtert, wenn es keine Opfer gegeben hat. Mehr und mehr sind wir in der Gefahr der Abstumpfung, und das sage ich aus meinem ganz eigenen Empfinden. Auch ich selbst sehe mich in der Gefahr der Abstumpfung. Wir schrecken auf, wenn Morde und schwere Verletzungen geschehen. Wir schrecken mit Recht auf, wenn - wie in Magdeburg vor einigen Tagen - Jagd auf ausländische Menschen mitten in unseren Straßen gemacht wird, Jagd in lebensgefährlicher Weise. Aber die hektischen Reaktionen, die dann aufkommen, halten bei uns nicht lange genug an. Wir müssen das länger nacharbeiten. Die Hektik der ersten Tage genügt nicht. Natürlich müssen die Versäumnisse vor Ort geklärt werden, schon um der Vorbeugung für die Zukunft willen. Aber immer wieder das gleiche Rezept herauszuziehen, nämlich Gesetze zu ändern und zu verschärfen, ist nicht nur im Verfahren proble19610 matisch und falsch, sondern auch in der Sache nutzlos. Denn nicht um die Schärfe der Gesetze geht es hier, sondern um die Ergreifung der Täter und um die Beweisführung, die in Magdeburg nicht zu gelingen scheint. ({0}) Alles, was wir da zur Kenntnis nehmen müssen, sind Bestandteile einer inzwischen schon dauerhaften Entwicklung zum Schlechten hin. Ausländerfeindliche Brutalität und Gewalttätigkeiten drohen zur Normalität zu werden. Unser Land beginnt, sich zu verändern, ohne daß wir es aufhalten. Deutschland ist nicht ausländerfeindlich. Diese Aussage unterstreiche auch ich. Und doch: Sie bekommt mehr und mehr den Beigeschmack des Pfeifens im Walde. Die Verderbnis bedroht alle hier lebenden Menschen, nehmen wir doch zur Kenntnis: In Magdeburg ist im Zuge der Krawalle ein Behinderter von jungen Leuten aus einer Straßenbahn geworfen worden, die dann anschließend noch auf ihn eingetreten haben. ({1}) Gelingt es uns nicht, den Anfängen zu wehren, werden wir unser Land nicht wiedererkennen. Hat die innere Zerstörung erst Breitenwirkung gewonnen, ist es zu spät. Wenn ich sage, „den Anfängen wehren", dann meine ich, der Abstumpfung zu wehren. Wir dürfen diese Einzelfälle nicht auf sich beruhen lassen. Sie müssen mit größerer Energie nachgearbeitet, aufgeklärt werden. Dann meine ich die Kälte, die abweisende Haltung, die Ausländern in unserem Land im Alltag, in den Ämtern und auch in den privaten Beziehungen begegnet, bis dahin - wie mir eine Besuchergruppe von Schauspielern und Ballettänzern aus dem Ruhrgebiet gestern berichtete -, daß sie etwa bei 80 % der deutschen Vermieter auf die Frage nach einer Wohnung die Antwort hören: An Ausländer vermieten wir nicht. Wir müssen den Anfängen wehren, indem wir das Thema Überfremdungsangst bitte nicht zum Wahlkampfthema machen und, Herr Olderog, hier bitte nicht behaupten, die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht. ({2}) Wir haben uns bemüht, diese Grenzen nicht zu erreichen. Dieses wohlhabende und starke, auch innerlich gefestigte Land darf sich nicht nachsagen lassen, daß durch die im ganzen gesehen kleine Gruppe von Ausländern die Grenzen der Belastbarkeit erreicht oder gar überschritten seien. Das ist das falsche Signal. Ein falsches Signal ist es, Regelungen für die erleichterte Staatsbürgerschaft und Einbürgerung, die Sie aus der Regierungskoalition uns doch zugesagt hatten, kurzerhand aufzuschieben. ({3}) Ein falsches Signal ist es, das Kommunalwahlrecht für Ausländer abzulehnen und regelrecht niederzukämpfen, wie Sie es immer wieder tun. ({4}) Es ist ein falsches Signal, bessere Aufenthaltsrechte für von Deutschen geschiedene Ausländer abzulehnen. ({5}) Es hilft uns wenig, wenn Frau Merkel heute erklärt, auch sie sei dafür, das zu tun; denn sie muß gleichzeitig zugeben: Sie hat die Mehrheit in ihrer Fraktion gegen sich. ({6}) Ein falsches Signal und eine verheerende Sache ist es, wenn die Aufnahme von Menschen aus Ruanda, die doch von der Abschlachtung bedroht sind, in Deutschland abgelehnt wird. Sie haben keine Chance, ein Visum zu bekommen. Statt dessen gibt es eine aufgeregte Diskussion über das Kirchenasyl. Sie wird sehr grundsätzlich und juristisch geführt. Auch ich habe mich in diesem Sinne daran beteiligt. Aber wir dürfen doch das Entscheidende nicht übersehen: daß sich christliche Bürgerinnen und Bürger bedrängter und bedrohter Menschen in ihrer Not und Verzweiflung annehmen, sie betreuen und für sie öffentlich eintreten. Das bedeutet natürlich Konflikt; aber es schließt auch Hoffnung ein. ({7}) Deutschland hat nämlich keinen Überschuß an menschlicher Zuwendung zu Ausländern und Asylsuchenden. Deutschland hat einen Überschuß an Kälte und an Härte gegen diese Menschen. ({8}) Das, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ist das Klima für Ausschreitungen, wie wir sie jetzt wieder beklagen. Das müssen wir ändern. ({9})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht unser Kollege Dr. Burkhard Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gab Warnungen. Es waren nicht Krawalle aus besoffenem Kopf heraus, sondern es gab Warnungen vom Vortage, es war geplant, etwas zu tun - etwas. Die Polizei - Herr Olderog, insoweit haben Sie recht - ist zum Alten Markt gefahren, die Krawalle begannen am Breiten Weg. Wenn Sie Magdeburg kennen: So weit ist das nicht voneinander weg. Begangen am frühen Nachmittag: eine Hetzjagd durch 50 bis 60 Jugendliche, die sich ausdehnte auf bis zu 150 Teilnehmer. Die Polizei war etwa nach 30 Minuten am Ort und bereit einzugreifen. Die Polizei in Magdeburg verfügt über einen Dokumentationstrupp; er war nicht einsatzbereit - es war Vatertag. Es hat 49 Festnahmen gegeben. Es wurde kein Haftbefehl beantragt, die Staatsanwaltschaft nicht mal informiert. Die Polizei hat keinen Haftbefehl beantragt, weil sie nicht wußte, ob diejenigen, die sie aufgegriffen hatte, an den Krawallen beteiligt waren und, wenn ja, ob sie als Täter oder als Opfer beteiligt waren. Das Ganze nicht in Kleinkleckersdorf, sondern in der Hauptstadt eines Bundeslandes. Der Polizeipräsident Antonius Stockmann stellt sich ins Fernsehen und sagt: „Alles in Ordnung. " Es ist schwer, das nicht als eine Satire zu betrachten. Es ist kabarettreif, wenn es nicht so traurig wäre. ({0}) Es ist keine Frage der Gesetzgebung. Der Landfriedensbruch ist in Deutschland seit gut 500 Jahren strafbar. Man kann auch in Deutschland bei Verdunklungsgefahr Haftbefehle erwirken, wenn man nur weiß, ob man einen Täter oder ein Opfer vor sich hat. Das muß man natürlich wissen. Ich habe den Eindruck, daß es nicht eine Frage der Gesetzgebung ist, sondern zunächst einmal eine Frage der Funktionsfähigkeit der dortigen Polizei; nicht des einzelnen Polizeibeamten, sondern: Was ist mit der Einsatzplanung, mit der Personalführung, mit der präsenten Stärke? Was ist mit dem Selbstvertrauen der Polizei? Was ist mit ihrer Übung und Schulung? Ich sage noch einmal: Ich meine nicht den einzelnen Polizeibeamten oder die Polizeibeamtin, die dort eingesetzt worden ist, sondern ich frage: Was hat eigentlich das leitende Personal dieser Stadt getan? Ich frage mich, ob der Innenminister nicht prüfen muß, ob dieser Polizeipräsident seiner Aufgabe gewachsen ist, weil sonst der Landtag prüfen wird, ob der Innenminister seiner Aufgabe gewachsen ist. ({1}) Wir haben im Fernsehen die Bilder grölender, pöbelnder Leute mit Hitler-Gruß gesehen. Ich frage mich wie Herr Schmude: Wie viele Magdeburger haben weggesehen? Ich erinnere mich noch daran, daß wir einmal ein Volk von Wegsehern waren. Wir waren ein Volk von Wegsehern. Hinterher wollte keiner etwas bemerkt haben. Das, was wir in Magdeburg gesehen haben, ist doch nur möglich, wenn die Täter mit der klammheimlichen Zustimmung vieler Stammtischtäter rechnen, wenn wir alles ineinanderrühren: „diese Drogenhändler" , Türken, Kriminelle, „durchraßte, multikriminelle Leute ", „Ausländer raus", „Deutschland den Deutschen" oder die moderne Spielart „Wer nicht Deutscher werden will, muß uns verlassen". Es zieht sich eine Blutspur durch unser Land: Hünxe, Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, Lübeck, Magdeburg, Hamburg - eine Blut- und Brandspur. Wenn der Eindruck entsteht, daß der Staat und unsere Gesellschaft mit zweierlei Maß messen, dann ist es ebenso schlimm, als ob es so wäre. Was mir Sorgen macht und uns Sorgen macht, ist die Differenz zwischen dem, was wir hier erklären und beschwören, und der Unverbrüchlichkeit dessen, was wir sagen, unserer Rechtsordnung, unserer Werte in der Wirklichkeit. Da tut sich ein Spalt auf. Wenn wir sagen, ohne Ächtung durch alle Teile unserer Gesellschaft, ohne Ächtung solcher primitiver Ausländerfeindlichkeit werden auch die Polizeien keine Erfolge haben, dann bezieht sich das nicht nur auf die Politik und die Politiker, sondern auch auf das, was wir vermitteln. Herr Schmude hat auf die Diskussion über das Kirchenasyl hingewiesen. Was für ein Vorgang, daß plötzlich Kirchen und Menschen das Gefühl haben, daß der Staat mit dem, was er tut, seine humanitären Verpflichtungen in einem solchen Maße verletzt, daß der Bürger zur Selbsthilfe greifen sollte! Das hat es bisher in der Bundesrepublik nicht gegeben. Es sollte uns nachdenklich machen, ob auch wir mit dem, was wir tun und sagen, unsere Pflicht erfüllen. Ohne unser aller Mitwirkung wird die Erörterung der Polizeitaktik keinen Erfolg haben. Aber ich habe den Eindruck, daß wir in der Analyse dessen, was wir tun müssen, auch in diesem Haus noch sehr viel zu tun haben, Herr Kollege Olderog. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Situation in Magdeburg, wie wir sie erleben mußten, ist einerseits eine Fortsetzung dessen, was wir nun schon seit geraumer Zeit erleben. Dennoch hat das auch neue Qualität - natürlich negative -, und zwar in dem Sinne, daß diesmal nicht bei Nacht, nicht heimlich und ohne daß sich die Täterinnen und Täter - meistens ja Täter - hinterher versteckten, sondern ganz offen in den Straßen einer Stadt Ausländerinnen und Ausländer, vor allem solche mit anderer Hautfarbe, verfolgt und geschlagen und getreten wurden, daß ein Behinderter aus der Straßenbahn gestoßen und danach getreten wurde und daß das alles unter den Augen der Öffentlichkeit und letztlich auch der Polizei geschah. Das setzt, glaube ich, neue Signale. Ich denke, wir kommen nicht umhin, Konsequenzen zu ziehen. Im Unterschied zu BÜNDNIS 90 würde ich dabei z. B. nicht vom Versagen sprechen. Es geht ja viel weiter. Müssen wir nicht doch einmal ehrlich zugeben, daß Teile der Polizei - ich sage extra: Teile; ich differenziere hier sehr wohl - inzwischen auch rassistisch eingestellt sind und ausländerfeindliche Einstellungen haben? ({0}) Ist es denn ein Zufall, daß z. B. dort ein Ausländer unter den Augen der Polizei festgehalten wurde und danach noch getreten werden konnte? Kann die Inkonsequenz im Eingreifen gerade bei solchen Straftaten - ich erinnere Sie an Rostock, als die Polizei daneben stand, als das Haus angezündet wurde -, kann das alles ohne Folgen bleiben? Sollten wir nicht über die Art des Dienstes, auch die Art der Erziehung, die in der Polizei stattfindet, einmal nachdenken? Denken Sie einmal an die Konsequenz, mit der die Polizei gegen Autonome und andere vorgeht. Wenn sie gegen sie vorgegangen ist, hat sie noch nie irgendwelche inneren Beschränkungen gefühlt oder gehabt. Ich sage Ihnen, Herr Olderog: Was Sie hier geboten haben, ist deshalb so gefährlich, weil Sie ganz indirekt wieder die Theorie des Wirtsvolkes aufstellen, das nur ganz begrenzt in der Lage ist, andere Menschen zu integrieren. Schon diesen Ansatz im Denken in einer Welt, die immer internationaler und einheitlicher wird - Sie wollen die Europäische Union, Sie wollen eine Gesamtverantwortung der UNO -, halte ich für geradezu verheerend. Und ich sage: Es ging doch nicht nur um die Asylrechtsänderung, sondern die Debatte dazu war doch das Schlimmste. Erinnern Sie sich doch mal an die Vokabeln, die in diesem Zusammenhang gefallen sind: „Asylant". Das klang mal in der deutschen Sprache, als würde damit jemand bezeichnet, der in Not ist und Hilfe braucht. Sie haben dafür gesorgt, daß das heute klingt, als würde es einen Kriminellen bezeichnen, der rausgeworfen werden muß. Das ist das Ergebnis des Umgangs mit Sprache. So etwas hat Folgen in einer Gesellschaft, bis dahin, daß eben dann die Hemmschwelle für Gewalttäter wesentlich herabgesetzt ist, weil sie sich im Grunde genommen von einer stillschweigenden Zustimmung von einem Teil der Behörden und von einem größer werdenden Teil der Bevölkerung leiten lassen oder darauf hoffen und deshalb auch glauben, daß ihnen wenig passiert. Ich nenne als ein Beispiel die Festnahme. Da wird gesagt: Ja, wir hatten zwar 49 - glaube ich, waren es; oder 47 - festgenommen. Aber da waren erstens viele Opfer dabei, und bei den Tätern wußten wir nicht, ob sie wirklich Täter waren; deshalb mußten wir sie alle wieder gehen lassen. Aber auch eine Festnahme darf doch nicht einfach erfolgen, weil jemand die Straße entlanggeht. Es muß doch auch für die Festnahme Gründe gegeben haben. Sie würde ich gerne erfahren, wenn man hinterher sagt: Man weiß gar nicht, wen man eigentlich festgenommen hatte. Das hat ja wohl auch etwas mit Gesetzlichkeit zu tun. Das Schlimmste ist folgendes. Es gibt bestimmte Sätze, die ich nicht mehr hören kann. Dazu gehört danach als erstes die Erklärung der Betroffenheit und als zweites die Sorge um das Ansehen Deutschlands. Nein, ich sage Ihnen: Mich treibt nicht das Ansehen Deutschlands, sondern mich treibt, daß diese rechtsextremistischen Gewalttaten endlich gestoppt und konsequent verfolgt werden müssen. Dazu brauchen wir keine Änderung der Strafgesetze und der Strafprozeßordnung. ({1}) Wir müssen sie nur endlich mal konsequent anwenden, gerade auch in diesem Täterbereich. Und die Täter müssen geächtet werden. Sie müssen endlich das Gefühl bekommen, daß sie isoliert sind in dieser Gesellschaft, nicht die Ausländerinnen und Ausländer. Das wäre das Entscheidende, und dann würden auch ihre Taten zurückgehen. Denn eine solche Einstellung gab es auch schon in früheren Jahren. Aber sie haben sich in früheren Jahren nicht getraut, so zu handeln, weil sie glaubten, gesellschaftlich geächtet zu werden. Heute glauben sie, nicht mehr gesellschaftlich geächtet zu sein. Das ist das eigentliche Problem, mit dem wir es zu tun haben und an dem wir etwas ändern müssen, weshalb Synagogen brennen, weshalb die Wohnungen von Ausländerinnen und Ausländern brennen, weshalb Schwarzafrikaner verfolgt werden. Ich sage Ihnen noch ein Beispiel. Wenn jemand einen Schwarzafrikaner aus einer fahrenden Straßenbahn stößt, dieser dabei zu Tode kommt und derjenige, der das gemacht hat, anschließend zu einer Strafe auf Bewährung verurteilt wird, ist das eine Einladung zur Fortsetzung solcher Taten. Der Täter geht nämlich aus dem Gerichtssaal und feiert mit seinen Gesinnungsfreunden den halben Freispruch, den er dafür bekommen hat. ({2}) Ich frage Sie genauso offen: Was wäre passiert, wenn ein Schwarzafrikaner einen Deutschen aus einer fahrenden Straßenbahn gestoßen hätte und dieser dabei zu Tode gekommen wäre? Er wäre ganz anders bestraft worden; wie ich meine, zu Recht. Aber es muß eben auch im umgekehrten Fall gelten, daß wir solche Taten verfolgen. Das ist doch bedingter Vorsatz. Wer jemanden aus einer fahrenden Straßenbahn stößt, weiß, daß dieser dabei zu Tode kommen kann. Das ist Mord und nichts anderes. ({3}) - Ja, aber er hat Bewährung bekommen. Und was haben Sie dagegen unternommen? Wo ist denn der Aufschrei gewesen? Ich mache dagegen mehr als Sie; das steht auf jeden Fall fest. Daß meine Möglichkeiten beschränkt sind, das wissen auch Sie. ({4}) Aber wenigstens aufrütteln müssen wir. Wir müssen die Täter anders ächten, als das bisher geschehen ist. Lassen Sie mich nur noch zwei Dinge sagen - Frau Präsidentin, ich bin sofort fertig -: Denken Sie bitte wirklich noch einmal nach - ich meine das ganz ehrlich - über die Frage des Ausländerinnen- und Ausländerwahlrechts. Bitte nicht nur auf kommunaler Ebene, sage ich an die Damen und Herren der SPD, sondern auf allen Ebenen. Wissen Sie auch, warum? Es geht mir nicht nur um die damit verbundenen politischen Rechte. Sie wissen sehr genau, daß Menschen mit geringeren politischen Rechten von ihren Nachbarinnen und Nachbarn und von ihren Kolleginnen und Kollegen auch weniger angesehen werden. Gleiche Rechte führen auch zu einem anderen Ansehen; mindere Rechte führen zu dem Bewußtsein, daß es eben auch Menschen minderer Qualität sind. Hier könnten wir wirklich einen Beitrag leisten. Lassen Sie uns ernsthaft über das von uns vorgeschlagene Antirassismusgesetz nachdenken: daß wir endlich zivilrechtlich mit Schadensersatzansprüchen und strafrechtlich verfolgen, wenn Menschen - wo und wie auch immer - aus rassistischen Gründen, ob im Berufsleben oder sonstwo, benachteiligt werden. Das wäre ein Zeichen, das dieser Bundestag setzen kann, das wäre ein Zeichen, daß wir endlich die Täter ächten und ausgrenzen in dieser Gesellschaft und nicht mehr ihre Opfer. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächstes spricht die Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schmude, ich erinnere mich sehr genau und eigentlich täglich an die vielen Ereignisse aus den letzten Monaten, die zum Gegenstand hatten: Ausschreitungen, Gewalttaten gegen Ausländer, gegen Schwache, gegen Minderheiten bei uns in Deutschland. Ich kann nur sagen: Sich das ständig vor Augen zu führen, ist nicht nur Mahnung, sondern gerade auch Aufruf an jeden, das zu tun, was in seinen Möglichkeiten liegt, um hier einem Klima, das sich droht auszubreiten, Einhalt zu gebieten. Es ist erschreckend, daß in Deutschland Ausländer auf der Straße gejagt werden und daß Unbeteiligte zuschauen. Ich erinnere: Es ist gerade erst einen Monat her, daß wir uns hier in einer Aktuellen Stunde mit dem Brandanschlag auf die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Lübeck beschäftigt haben, daß wir hier alle Betroffenheitsbekundungen abgegeben haben. Aber wir alle sehen, glaube ich, daß das nicht ausreicht. Diejenigen, die angesichts des 1993 beobachteten Rückgangs der Häufigkeit rechtsextremistisch motivierter Taten den Schluß gezogen haben, der Höhepunkt der Welle des Hasses gegen die als fremd deklassierten Menschen sei überschritten, werden immer wieder eines Besseren belehrt. Nur allmählich kann sich die Erkenntnis durchsetzen, daß die häufig von jugendlichen Gewalttätern begangenen Straftaten nur der sichtbare Ausdruck einer insgesamt noch sehr viel gefährlicheren Geisteshaltung ist, die in nicht mehr zu vernachlässigenden Teilen der Gesellschaft anzutreffen ist. Diese Geisteshaltung läßt sich eben mit dem Strafrecht allein - das habe ich immer wieder betont, und man muß es immer wieder sagen - nicht mit Aussicht auf Erfolg bekämpfen. Ich wiederhole auch, was ich schon vor vier Wochen an dieser Stelle gesagt habe: Wir müssen mit allen verfügbaren Mitteln dafür sorgen, daß die Werte unserer Verfassung, der Schutz der Menschenwürde und das Verstehen und Tolerieren von Minderheiten in uns allen viel lebendiger ist und daß die Defizite in der Vermittlung dieses Verständnisses von uns allen gemeinsam abgebaut werden müssen. Dazu gehört auch ein verantwortungsbewußter Umgang mit unserer Sprache: „Überfremdung", „Durchrassung", „Ausländer raus", „Das Boot ist voll" sind eben nicht die richtigen Worte in dieser Situation und in diesem wirklich angespannten Klima. ({0}) Es stellt dem deutschen Rechtsstaat kein gutes Zeugnis aus, festzustellen, daß er anscheinend nicht in der Lage ist, diese Auswüchse von Gewalt zu verhindern. Wie müssen sich andere ausländische Mitbürger und Angehörige anderer Minderheiten fühlen, die nicht direkt von diesen Ausschreitungen betroffen waren? Viele werden Angst haben, auf die Straße zu gehen, werden Angst haben, Opfer von Gewalttaten zu werden. Selbstverständlich ist die entschiedene Reaktion der dafür aufgerufenen Organe notwendig und erforderlich, um auch den Rechtsfrieden wiederherzustellen. Ich möchte hier nicht zu denjenigen zählen, die die Polizei in Magdeburg wegen ihres möglicherweise fehlerhaften und zu nachlässigen Einschreitens mit massiven Vorwürfen überziehen. Aber, daß Fehler gemacht worden sind, ist nach dem jetzigen Erkenntnisstand offensichtlich und wird auch von den Verantwortlichen vor Ort inzwischen eingeräumt. Möglicherweise hätte ein besser vorbereiteter Polizeieinsatz in einem frühzeitigen Zusammenwirken mit der Staatsanwaltschaft die Eskalation der Gewalt wenn nicht verhindern, so aber doch begrenzen können und hätte vielleicht noch andere Verfolgungsmaßnahmen früher ermöglicht. Denn wenn sich jetzt die Staatsanwaltschaft auf Grund von Zeugenaussagen in der Lage sieht, Haftbefehle zu beantragen, und diese dann auch erlassen werden, zeigt, daß sie bereit ist, unser geltendes Recht konsequent gegen rechtsradikale Gewalttäter anzuwenden. Ich darf auch das wiederholen, was alle Vorredner gesagt haben: Das geltende Recht reicht grundsätzlich aus, um hier konsequent einschreiten zu können. Aber das beste Recht nützt nichts, wenn die Beweise nicht am Tatort gesichert werden und damit der notwendige, dringende Tatverdacht für den Erlaß eines Haftbefehls nicht belegt werden kann. Das können und wollen wir natürlich auch nicht durch Änderungen unseres geltenden Rechts beseitigen. ({1}) Ich glaube, die Erfahrungen, die in den alten Bundesländern gerade mit Ausschreitungen von Hooligans gemacht worden sind, zeigen, daß mit einem besser abgestimmten Zusammenwirken von Polizei und Staatsanwaltschaft vor Ort manche Eskalation und manche Entwicklungen verhindert werden können. Es muß alles getan werden, darauf hinzuwirken, daß das auch in den neuen Ländern zur Selbstverständlichkeit gehört, wenn Polizeikräfte einschreiten müssen. Ich will den weiteren Untersuchungen und möglichen Folgerungen, die daraus gezogen werden müssen, nicht vorgreifen. Aber ich will auch hier sagen: Daraus kann sich für den Bundesgesetzgeber kein Handlungsbedarf ergeben. Was wir für notwendig halten, in unserem geltenden Recht zu ändern, haben wir schon überlegt und beschlossen, bevor es zu diesen Ausschreitungen gekommen ist. Das sind Überlegungen, die schon vor über einem Jahr angestellt worden sind und wo wir hoffen, diese Beratungen in den nächsten Stunden und Tagen in konstruktiver Atmosphäre zu einem Abschluß zu bringen. Mein Appell richtet sich in dieser Aktuellen Stunde nicht nur an die hier Anwesenden, sondern an alle in unserer Gesellschaft, daß wir mehr als bisher dazu beitragen, daß Integration und friedliches Zusammenleben gerade mit Bürgerinnen und Bürgern ausländischer Herkunft nicht nur verbessert, sondern auch wieder gesichert werden und daß wir das nicht nur sagen, sondern es tatsächlich auch tun. Denn sonst werden wir in den nächsten Wochen und Monaten möglicherweise leider noch öfter in Aktuellen Stunden andere Anlässe zu beklagen haben. Ich glaube, niemand von uns möchte zu denjenigen gehören, die sich dann sagen, sie haben nicht selbst alles getan, um so eine Entwicklung mit ihrem - vielleicht auch nur bescheidenen - Beitrag zu verhindern. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster folgt der Kollege Hartmut Büttner.

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Ich stimme all den Vorrednern zu, die betonten, daß die gegen Ausländer und Deutsche gerichteten Krawalle in Magdeburg erneut Besorgnis, Empörung, Trauer und Scham ausgelöst haben. Es ist betont worden, daß wir nach Hoyerswerda, Rostock, Solingen und Lübeck gehofft haben, daß sich ein Klimawechsel in unserem Land durchsetzt, ein Klimawechsel, der Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung ausschließt und ächtet. Wir haben leider vergebens gehofft. Herr Gysi, ich denke, auch für das internationale Ansehen der Deutschen waren die Ereignisse vom 12. Mai ein herber Rückschlag. Wir können nicht auf der einen Seite Investoren in die neuen Bundesländer holen wollen und auf der anderen Seite ein Klima haben, das Gewalt zuläßt. Zu Recht haben Öffentlichkeit und Politik die Ausschreitungen verurteilt. Zu Recht wird eine genaue Aufklärung der Tatereignisse angemahnt. Zu Recht werden aber auch Konsequenzen verlangt. Was wir bisher über die Ereignisse von Magdeburg wissen, zeichnet ein Bild ungezügelter Gewaltbereitschaft und Militanz. Eindeutig geklärt zu sein scheint, daß Hooligans und Rechtsradikale die Welle der Gewaltspirale durch die Anpöbelung und Verfolgung von fünf afrikanischen Asylbewerbern eröffnet haben. Wir wissen aber auch - das gehört ebenfalls zur Wahrheit -, daß das leider nur das Startsignal für eine ganze Kette von gewalttätigen Ereignissen war. Der Polizeibericht liest sich wie ein Drehbuch für einen Horrorfilm: Angetrunkene deutsche Jugendliche bedrohen ein Ausländerehepaar mit Kleinkindern im Kinderwagen; ein körperbehinderter Deutscher wird von deutschen Jugendlichen aus einer Straßenbahn geworfen und getreten. Ein weiterer Mann wird von 20 Hooligans überfallen und verletzt. Revancheakte von Ausländergruppen - das gehört auch dazu - wurden mit Messern, Stöcken und Steinen durchgeführt. Dabei wurden ebenfalls mehrere Personen durch Messerstiche erheblich verletzt. Die Polizei hat nach eigener Darstellung durch präventive Maßnahmen versucht, der besonderen Sicherheitssituation am Herrentag gerecht zu werden. Ich maße mir von dieser Stelle aus nicht an, darüber zu richten, ob das ausgereicht hat. Wahrscheinlich nicht, wie die Daten und Fakten zeigen. Nur sollten wir wissen, daß der Prozeß, eine demokratische und handlungsfeste Polizei in allen neuen Bundesländern aufzubauen, noch nicht abgeschlossen ist. Dabei sind leider auch Fehler, wie die erst mit eintägiger Verspätung vorgenommene Einschaltung der Staatsanwaltschaft, immer noch möglich. Wie mir mitgeteilt wurde und wie ich aus eigener Anschauung aus meinem Wahlkreis weiß, wird deshalb das Land Sachsen-Anhalt seine Anstrengungen verstärken, um die Ausbildung und die Arbeit der Polizei weiter zu verbessern und zusätzliche Beamte einzustellen. Ein Drittel ist doch ständig in Neuausbildung; das müssen wir sehen. Es wundert dabei aber schon sehr, daß viele von denen, die jahrelang bereits den Polizeistaat auf uns zukommen sahen, die z. B. das konsequente Vorgehen der Polizei beim Münchener Weltwirtschaftsgipfel wortreich verurteilt haben, nun nach den Magdeburger Ereignissen plötzlich härtere Maßnahmen fordern. ({0}) Hartmut Büttner ({1}) Noch verwunderlicher ist für mich, lieber Herr Lambinus, daß der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse - nach einer Agenturmeldung - beklagt hat, es sei unerträglich, gewalttätige Straftäter schon nach wenigen Stunden wieder laufen zu lassen. Das sagt der stellvertretende Vorsitzende einer Partei, die in Sachsen-Anhalt und im Bund bisher Verbesserungen im Haftrecht verschleppt oder abgelehnt hat. ({2}) Denn seit anderthalb Jahren hat die CDU im Landtag versucht, den Unterbindungsgewahrsam einzuführen. Dieser Unterbindungsgewahrsam würde es erlauben, Gewalttäter einige Tage festzuhalten ({3}) und sie, lieber Herr Graf, eben nicht gleich wieder laufen zu lassen. ({4}) - Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt. Nur mit größter politischer Anstrengung ist es der Union in Magdeburg gelungen, zumindest eine Minimallösung von vier Tagen Unterbindungsgewahrsam zu erreichen. Zum Vergleich: Baden-Württemberg und Bayern haben 14 Tage. ({5}) Und selbst diese vier Tage, lieber Herr Zwischenredner, waren dem SPD-Oppositionsführer und Ministerpräsidentenkandidaten in spe, Herrn Höppner, zuviel. Er hat diese Regelung im Landtag abgelehnt, meine Damen und Herren. ({6}) - Und, lieber Herr Küster, diese Verschleppungstaktik hat auch bewirkt, daß dieses Gesetz für die Ereignisse am 12. Mai zu spät kam und noch nicht in Kraft gesetzt werden konnte. ({7}) Lieber Herr Küster, meine Nachrichten aus Magdeburg zeigen auch, daß sich die SPD im Landtag bei der hier geforderten zusätzlichen polizeilichen Beweissicherung durch Videoaufnahmen ebenfalls ungemein schwer getan hat. Für den Bund - das muß ich leider feststellen - sieht das wohl ähnlich aus. Es reicht nicht aus, sich hier zu empören. Die vorhandenen Rechtsgrundlagen und die häufig nicht voll ausgeschöpfte Rechtsanwendung sind für die Freilassung der Randalierer in jedem Falle mitverantwortlich. Unzählige Male haben CDU und CSU auf die Notwendigkeit hingewiesen, beispielsweise den Straftatbestand des Landfriedensbruchs zu novellieren, eine Hauptverhandlungshaft einzuführen und den Strafrahmen für Körperverletzungsdelikte zu erhöhen. Meine Damen und Herren, wenn die Stunde der Abstimmung über diese Fragen kommt - wir werden in dieser Woche dazu noch einiges zu leisten haben -, werden wir sehen, ob Wolfgang Thierse und andere bereit sind, den kräftigen Worten auch Taten folgen zu lassen. ({8}) Wir bekennen uns aber auch dazu - das will ich an dieser Stelle auch sehr deutlich sagen -, der Erforschung der Ursachen von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt mehr Gewicht zu geben. Dabei ist es für uns völlig unerheblich, ob rechts- oder linksextremistische Motive zu Gewalt und Ausschreitungen führen. ({9}) Der Staat muß sein Gewaltmonopol mit gleichen Maßstäben wahrnehmen und durchsetzen. Unmittelbare staatliche Reaktion ist das beste Mittel, potentielle Gewalttäter von ihrem Tun abzuhalten. Wir sind bereit, meine Herren und Damen von den Sozialdemokraten, unseren Beitrag zu leisten, damit sich ein 12. Mai von Magdeburg nicht wiederholen kann. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als nächster spricht der Kollege Dr. Uwe Küster.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am hellen Tage werden in einer Stadt in Deutschland Ausländer durch die Straßen gehetzt, in meiner Heimatstadt Magdeburg. Bei den Älteren kommen da Erinnerungen auf; Vergleiche liegen nahe. Ich möchte daran erinnern, daß es der zweite schwere rechtsextreme Anschlag ist, der schwere Folgen gezeitigt hat. Vor zwei Jahren wurde in Magdeburg Torsten Lamprecht von Skinheads erschlagen. Es gab schon damals bei der Strafverfolgung erhebliche Beweisnot. Jeder ausländerfeindliche Übergriff, jeder rassistische Übergriff ist beschämend für uns; für mich besonders, denn es betrifft meine Stadt. Wenn Jugendliche grölend durch diese Stadt ziehen und den Hitlergruß zeigen, wenn niemand eingreift, wenn Gaffer dabeistehen - ich muß sagen, das macht mich sehr betroffen. Erklärungsversuche, die dann von verschiedenen Seiten gekommen sind, daß Sonne und Alkohol schuld seien, ({0}) halte ich nicht nur für abenteuerlich, sondern das ist beschönigend. Damit geht es genau in die falsche Richtung. ({1}) Nein, es waren Rechtsextremisten, es waren Rassisten, es waren Neonazis. Man darf sie auch nicht kleinreden. Es gibt nichts zu entschuldigen. Notwen19616 dig war die volle Anwendung der polizeilichen und strafrechtlichen Möglichkeiten. Das ist nicht geschehen. ({2}) Gehen wir einmal der Frage nach: Konnte sich die Polizei in Magdeburg auf diese Situation einstellen? Es gab Vorwarnungen durch den Verfassungsschutz über das Polizeiführungszentrum, das Innenministerium, an die Polizeidirektion in Magdeburg. Es gab Vorwarnungen durch ausländische Bürgerinnen und Bürger Magdeburgs. Warum waren denn die Linken nicht in Magdeburg, dort, wo sie üblicherweise sind, am Breiten Weg, in der Ernst-Reuter-Allee? Warum waren sie nicht dort? - Weil sie diese Warnungen hatten. Sie hatten sie ebenso wie viele andere Bürgerinnen und Bürger in Magdeburg. Auf meine telefonische Nachfrage am Samstag beim Polizeipräsidenten Antonius Stockmann m Magdeburg, auf die gezielte Frage: „Hatten Sie Vorwarnungen? Gab es Hinweise des Verfassungsschutzes? Gab es verdeckte Ermittler, die Hinweise gegeben haben? Gab es Hinweise durch Bürgerinnen und Barger?" lautete die Antwort: nein. ({3}) Generell stelle ich fest: Es gibt erhebliche Diskrepanzen. Im Polizeibericht wird bejaht, daß der Verfassungsschutz einen Tag vorher Hinweise auf Auseinandersetzungen gegeben hat, ({4}) auf die Absicht, daß rechtsextremistische Skinheads nach Magdeburg kommen wollten. ({5}) Das heißt, die Polizeiführung hätte sich darauf einstellen können. Ich muß sagen: Der Polizeibericht und die Lage, wie sie sich durch die Zeugenaussagen und die Berichte Unbeteiligter darstellt, sind zwei verschiedene Dinge, von denen man ausgehen muß. Ich meine, der Polizeibericht beschönigt, er geht nicht auf die Dinge ein. Es bleibt für mich unerklärlich, warum die VideoEinsatzgruppe nicht mindestens zwei Stunden nach dem Beginn der Auseinandersetzungen eingesetzt wurde. Das ist mir unverständlich. Ich war am Mittwoch vor diesem Donnerstag im Lagezentrum des Polizeipräsidiums. Ich habe dieses Lagezentrum gesehen, und ich weiß, wie gut man dort arbeiten kann. Es gab keine Beweissicherung, es gab keine Zeugenvernahme in einem frühen Stadium - und das, ich muß es noch einmal betonen, zwei Jahre nach dem Tod von Torsten Lamprecht. Bereits damals herrschte eine erhebliche Beweissicherungsnot. ({6}) Die SPD-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt wird versuchen, am kommenden Freitag diese Vorgänge im Landtag aufzuklären. ({7}) Der Innenminister, der Polizeipräsident und der Verfassungsschutzpräsident werden zu hören sein. Nötig sind eine Übernahme der politischen Verantwortung und die Aufklärung der Vorgänge. Schon jetzt kann ich sagen: Die Polizeiführung hat in Magdeburg versagt. Es gab eine falsche Lagebewertung. Es ist mir auch unerklärlich - lassen Sie mich das anfügen -, daß die Vorwürfe, die im Zusammenhang mit den Ereignissen um den Tod von Torsten Lamprecht gegen die Polizei und die Polizeiführung erhoben wurden, zwei Jahre später immer noch nicht aufgeklärt sind. Das heißt, die Frage, welchen Anteil der mangelnde Polizeieinsatz am Tod von Torsten Lamprecht hat, ist bisher unbeantwortet. Das ist unerträglich. ({8}) Der Unterbindungsgewahrsam, Herr Büttner, macht in Sachsen-Anhalt zwei Tage aus. Die Gesetzesänderung, die eine Verlängerung auf vier Tage vorsieht, ist verabschiedet. Das wird demnächst sicherlich in Kraft gesetzt. Hätte man diese zwei Tage nur ausgenutzt! Ich habe die Situation in Magdeburg vorher erlebt: Alle hatten Angst vor erneuten Auseinandersetzungen, vor erneuten Racheakten, egal von welcher Seite. Der Unterbindungsgewahrsam war angesagt, ({9}) war ganz dringend erforderlich. ({10}) Es gab keine Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei, obwohl Innenminister und Justizminister ein und dieselbe Person sind. Mit anderen Worten: Die Koordinierung zwischen der linken und der rechten Gehirnhälfte hätte stattfinden müssen. Sie hat offensichtlich unzureichend stattgefunden. Es ist höchste Zeit, daß die polizeilichen und die strafrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Ausschöpfen ist wichtig. Es ist höchste Zeit, sich einzumischen, Ausländern, Behinderten, unseren Mitmenschen zu helfen - nicht wegsehen, sondern Schutz gewähren. Ich danke Ihnen. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Jörg van Essen das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, Magdeburg - diese Namen sind heute bereits mehrfach gefallen, und die Liste wird immer länger. Von mir als Rechtspolitiker erwarten Sie, daß ich politiküblich nach neuen Gesetzen rufe. Das wird nicht der Fall sein, obwohl es der leichteste Weg ist. ({0}) In was für einer Gesellschaft leben wir, in der es schon als Errungenschaft gefeiert wird, daß sich die zuschauende Bevölkerung bei Ausschreitungen gegen Mitmenschen passiv verhält und nicht wie in Rostock Beifall klatscht? ({1}) Die notwendige Bewußtseinsänderung - die Justizministerin hat schon darauf hingewiesen - kann nicht das Strafrecht allein erreichen, das nur strafwürdige Auswüchse bekämpfen kann. ({2}) Hier sind die Familie, die Schule, alle gesellschaftlichen Institutionen, auch das Fernsehen mit seinen überbordenden Gewaltdarstellungen, ({3}) wir alle gefordert. ({4}) In unserem Land fehlen die ethischen Korsettstangen. Sie einzuziehen ist unsere vordringliche Aufgabe, und sie muß endlich angegangen werden. Ich freue mich, daß es, ausgehend vom nordrhein-westfälischen Landtag und initiiert von einer grünen Kollegin, eine parteienübergreifende Initiative gibt, zu mehr Ethik in der Gesellschaft zu kommen. Trotzdem sind einige fachliche Bemerkungen erforderlich. In Magdeburg haben sich nicht Mängel des Haftrechts gezeigt. Es haben sich Unterlassungen bei der Einsatzbewältigung durch die Polizei wiederholt, die ich schon seit langem beklage. ({5}) Es ist zehn Jahre her, daß ich als damals in einer Staatsschutzabteilung tätiger Staatsanwalt durch die Polizeischulen gezogen bin, um bei der Polizei dafür zu werben, beim polizeilichen Einsatz mehr auf die Belange der Strafverfolgung zu achten. Der Anlaß waren ähnliche Probleme, wie wir sie jetzt in Magdeburg zu beklagen haben. An der Spitze stand meine Forderung, mit technischen Mitteln wie Videoaufzeichnungen für eine intensive Beweissicherung und Dokumentation zu sorgen. Das Videoband ist ein besonders schnelles, ein besonders objektives Beweismittel und deshalb bei der Vorführung vor den Haftrichter von unschätzbarem Wert. Dieser kann dann viel leichter die für einen Haftbefehl essentielle Voraussetzung des dringenden Tatverdachts feststellen. In Magdeburg hat es offensichtlich nicht einmal den Ansatz für eine solche Beweissicherung und Dokumentation gegeben. ({6}) Im übrigen, Herr Büttner: Auch der Unterbindungsgewahrsam ist nicht möglich, wenn man so schlecht Beweise sichert, daß man nicht weiß, ob eine Person Täter oder Opfer ist. ({7}) Auch meine damalige zweite Hauptforderung, bei kritischen Einsatzsituationen einen Angehörigen der Staatsanwaltschaft in die polizeiliche Einsatzleitung zu nehmen, der dort das Bewußtsein für die Belange der Strafverfolgung schärfen kann, ist nicht umgesetzt worden. Es gibt übrigens einen Bereitschaftsdienst bei der Staatsanwaltschaft. ({8}) Auch darauf ist hinzuweisen. Die Polizei hat offensichtlich alles das, was wir einmal erreicht haben, wieder verlernt. Insbesondere diese Versäumnisse haben zu dem katastrophalen Ergebnis von Magdeburg geführt. Andere Ereignisse als die in Magdeburg haben allerdings auch Mängel im Haftrecht deutlich gemacht, die durch das seit langem eingebrachte und in dieser Woche zu verabschiedende Verbrechensbekämpfungsgesetz beseitigt werden. Bei besonders schweren Straftaten wie beispielsweise Mord bedarf es bereits jetzt nach unserem Haftrecht keiner der Haftgründe der Flucht oder Fluchtgefahr, der Verdunklungs- oder Wiederholungsgefahr. In Zukunft werden wir auch bei der beabsichtigten schweren Körperverletzung und bei der besonders schweren Brandstiftung diese Voraussetzung nicht mehr haben. Ich denke, daß das ein wichtiger Schritt bei der Bekämpfung von fremdenfeindlichen Verbrechen ist. Eine weitere Erleichterung gibt es darüber hinaus beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr. Nach der Verabschiedung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes ist eine Vorverurteilung nicht mehr erforderlich. Wiederholungsgefahr kann sich doch nicht nur in einer Verurteilung, sondern auch darin zeigen, daß man an jedem Wochenende als reisender Gewalttäter bei schweren Straftaten immer wieder auffällig wird. ({9}) Zur leichteren Feststellung dieser Aktivitäten wird das bundesweite staatsanwaltliche Verfahrensregister behilflich sein, das wir ebenfalls mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz einführen werden. Eine Freilassung der Täter wie jetzt in Magdeburg wird doch von ihnen selbst als Bestätigung ihrer Einschätzung angesehen, daß der demokratische Rechtsstaat ein schwacher Staat ist. Das dürfen wir nicht zulassen. ({10}) Zur Zufriedenheit besteht wahrlich kein Anlaß. Ich schäme mich. Zu Herrn Schmude, der wirklich eine bemerkenswerte Rede gehalten hat, sage ich: Ich nehme nicht hin, daß bei uns erneut so etwas Ungeheuerliches geschehen ist. Vielen Dank. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Bundesminister Friedrich Bohl.

Friedrich Bohl (Minister:in)

Politiker ID: 11000230

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat schon für die Bundesregierung darauf hingewiesen, daß die Vorgänge in Magdeburg für die Bundesregierung völlig inakzeptabel sind und daß die Bundesregierung alles unternehmen wird, daß sich ähnliches nicht wiederholt, soweit das in ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten steht. Ich möchte auf Grund der Debatte aber auch gleich hinzufügen, daß wir als Bundesregierung uns nicht in der Lage sehen, die polizeiliche Lage in Magdeburg zu beurteilen, und daß es auch nicht Aufgabe der Bundesregierung sein kann, das zu tun. Sicherlich wird jeder dazu seine eigene Meinung haben, aber das ist die Zuständigkeit des Landes Sachsen-Anhalt und damit der dortigen Kontrollorgane. Es ist nicht Absicht der Bundesregierung, hierzu weiter etwas zu sagen. Hinzufügen möchte ich gleich, daß wir ja ähnliches auch in anderen Ländern schon erlebt haben, wo sich die Bundesregierung gleichermaßen zurückgehalten hat. Ich finde, es wäre auch nicht gut, wenn wir diese Dinge hier parteipolitisch instrumentalisieren würden. Die Ehrlichkeit dieser Debatte sollte uns auch dazu führen zu sagen, daß eine Spur davon bisher durchaus sichtbar wurde. Die Bundesregierung hat die Tatsache, daß in Fulda vor einigen Monaten Neonazis aufmarschieren konnten, nicht zum Anlaß genommen, die Landesregierung in Wiesbaden zu kritisieren, sondern war der Auffassung, daß es Aufgabe der dortigen Gremien ist, den Dingen nachzugehen. ({0}) - Und das ist auch geschehen. Zu Recht auch! Das ist völlig in Ordnung. ({1}) Das muß auch geschehen, aber es sollte nicht nach dem Motto laufen, das sich hier in der Diskussion - vielleicht nicht ausgesprochen, aber doch unausgesprochen - andeutete. Das zweite, was ich sagen möchte, ist: Die Bundesregierung hat - ({2}) - Das wollte ich Ihnen gerade sagen. Die Bundesregierung hat auf Grund der von uns gemeinsam beklagten Zustände ja die „Offensive gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit" - auch mit Hilfe der Länder, auch SPD-geführter Lander - betrieben. Ich glaube, diese Offensive hat durchaus beachtliche Teilerfolge aufzuweisen. Ich sage noch einmal: Es ist dies ein Verdienst nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der Lander. Es ist uns ja immerhin gelungen - obwohl es immerhin noch 1 800 Übergriffe auf Asylbewerberheime gab und damit 1 800 zuviel - die Zahl dieser Übergriffe im Vergleich zum Vorjahr um 25 % zu reduzieren. Ich glaube, daß wir die Erfolge, die wir haben, nicht herunterreden sollten. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir, Herr Kollege Schmude, wenn wir über Gesetzesverschärfungen reden, sie nicht von vornherein als falsch beurteilen sollten. ({3}) - Ich wollte darauf nur hinweisen, damit eben die Gewichte richtig gesetzt werden. ({4}) Wir sind ja z. B. offensichtlich der gemeinsamen Überzeugung, daß die bisherige Strafandrohung für Körperverletzung zu gering war, ({5}) und deshalb wollen wir das korrigieren. Also kann man nicht a priori sagen: Gesetzesänderungen sind falsch. Es kommt vielmehr darauf an, welche wir betreiben. ({6}) Deshalb wäre ich auch insoweit für Klarheit in der Debatte dankbar. Ich möchte auch nicht den Eindruck erweckt wissen, daß wir sozusagen rechte Gewalt mehr bekämpfen müßten als linke Gewalt - oder einfache Gewalt oder grobe Gewalt oder mittlere Gewalt -, sondern Gewalt ist Gewalt, und alles muß gleichermaßen bekämpft werden. ({7}) Das ist doch ohne Zweifel richtig. An Ihre Adresse, Herr Kollege Hirsch, muß ich, weil Sie das Stichwort Kirchenasyl angesprochen haben, sagen, daß ich diese Debatte auch nachdenklich führen will. Ich meine, wir sollten darüber wirklich noch einmal gemeinsam reflektieren. Wenn Sie sagen, das sei Ausdruck der Tatsache, daß Bürger wegen staatlicher Willkürmaßnahmen meinten, ({8}) zur Selbsthilfe zu greifen, ({9}) - ich korrigiere mich: zur Selbsthilfe zu greifen, dann halte ich das für eine zumindest sehr bedenkliche Schiene, auf die wir uns begeben. Wenn wir jetzt einmal bei den rechten Gewalttätern bleiben, wird das nämlich in deren Ideologie damit begründet, daß der Staat nicht in der Lage sei, bestimmte Zustände zu verhindern. Wir können das staatliche Gewaltmonopol nicht aufgeben. Es muß gleichermaßen für alle gelten. Deshalb habe ich meine großen Zweifel, obwohl diejenigen, die sich da bemühen, einen anderen Anspruch haben. Das will ich gerne einräumen. Aber die Instrumente, die wir damit einräumen würden, sind zumindest sehr, sehr gefährlich. Deshalb sollten wir, Herr Kollege Hirsch, darüber vielleicht noch einmal gemeinsam nachdenken. ({10}) - Ich habe gerade gesagt, die Motive derjenigen, die so handeln, sind sicherlich ethisch oder moralisch unterschiedlich zu bewerten, aber der Weg, der begangen wird, ist doch gefährlich. Ich habe mich sehr daran gestört, Herr Kollege Schmude, daß Sie gesagt haben, unser Land beginnt sich zu verändern und zeigt mehr Kälte. ({11}) - Hören Sie mir doch zu. Zeigen Sie doch jetzt auch, daß Sie für Argumente offen sind. Wir wollen jetzt doch auch den Zuschauern zeigen, daß wir über eine solche Sache gemeinsam reden. ({12}) Ist es nicht doch so, daß wir in Deutschland, Herr Kollege Schmude, 7 Millionen Ausländer haben? Ist es nicht doch so, daß wir in Deutschland in diesem Jahr bisher 45 000 Asylbewerber aufgenommen haben, so viel wie Frankreich im ganzen Jahr? Ist es nicht so, daß in Deutschland 500 000 Bürgerkriegsflüchtlinge sind, mehr als in der ganzen übrigen Europäischen Gemeinschaft? ({13}) Ist es deshalb richtig zu sagen, daß wir in Deutschland einen Überschuß an Kälte haben? ({14}) Ist das angesichts der Tatsache gerechtfertigt, daß wir Lichterketten in Deutschland haben? Ist es angesichts der Tatsache gerechtfertigt, daß wir bei internationalen Sportfesten große Begegnungen der Völkerverständigung und der Völkerfreundschaft haben? ({15}) Ist es vor dem Hintergrund gerechtfertigt ({16}) - hören Sie mir doch einmal zu -, daß wir in unserem Lande viele gemeindliche und vereinliche Begegnungen zwischen den Völkern und Nationen haben? ({17}) Ich bin der festen Überzeugung, daß deshalb das Bild, das Sie malen, so nicht richtig ist. Richtig ist, daß uns das gemeinsam besorgt. ({18}): Sie müssen die andere Seite auch würdigen! Nicht nur die eine Seite, auch die andere!) Aber wir können darauf setzen, daß in unserem Lande so viele Kräfte da sind, so viel Engagement da ist, diese Fremdenfeindlichkeit zu überwinden, daß wir diese Kräfte nicht herunterreden sollten, sondern sie mobilisieren und motivieren sollten und deshalb auch zwischen den Parteien in diesem Hause nicht künstliche Fronten aufrichten sollten, sondern gemeinsam gegen Gewalt und Ausländerfeindlichkeit in unserem Land streiten sollten. ({19}) Eines muß ich ganz zum Schluß noch sagen: Daß Sie auch Regelungsbedarf gesehen haben, zeigt ja die Tatsache, daß wir gemeinsam z. B. zum Asylkompromiß gekommen sind. Sie sind doch auch zum Asylkompromiß deshalb gekommen, weil Sie der Oberzeugung waren, daß die Empfindungen, die Betroffenheit, die Haltung der Menschen dazu führen müsse, daß wir Korrekturen der früheren Entwicklung vornehmen. Deshalb haben Sie doch - und zwar zu Recht - zugestimmt. Wenn dem aber so ist, dann kann man doch nicht sagen, die Zahl der Ausländer, die Betroffenheit der Menschen, die Kapazitäten, die Ressourcen in unserem Land seien unbeachtlich. Daß wir Ausländer aufnehmen wollen, ist selbstverständlich. ({20}) - Das hat mit dem Thema zu tun, das Herr Schmude angesprochen hat. - Ich bin und bleibe der festen Meinung, daß wir recht daran tun, wenn wir den Nährboden für die Rechtsradikalen u. a. - neben Lichterketten, neben Veranstaltungen wie dieser, neben unserer Gemeinsamkeit der Demokraten - auch dadurch austrocknen, daß wir Gesetze beschließen und administrative Maßnahmen ergreifen, die dazu führen, daß die Rechtsradikalen keine Chance haben. ({21})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie gleich die Zehn-Minuten-Grenze überschreiten. Sie müssen sich über die Konsequenzen im klaren sein.

Friedrich Bohl (Minister:in)

Politiker ID: 11000230

Selbstverständlich. Einen Satz noch, wenn Sie gestatten, Herr Präsident. Was uns, ich will nicht sagen: beglückt, aber zumindest ein Zeichen der Hoffnung geben soll, ist doch, daß diese Politik Erfolge zeitigt, denn die Republikaner und Rechtsradikalen sind nicht in die Parlamente gekommen. ({0}) Die Wahlergebnisse zeigen, daß sie in der Ecke stehen, und dabei soll es bleiben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Horst Eylmann das Wort.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn bei uns Ausländer durch die Stadt gejagt werden, muß uns das aufs tiefste beunruhigen - das ist wiederholt festgestellt worden -, nicht nur, weil das im Ausland einen verheerenden Eindruck macht; nein, wir müssen ein ureigenstes innenpolitisches Interesse daran haben, daß jeder, ob Ausländer oder Deutscher, bei uns frei von Angst vor Gewalt leben kann. ({0}) Die Menschen bei uns haben einen Anspruch darauf, daß die Politik, daß der Staat ihnen diese Sicherheit gewährt. Es kommt nicht entscheidend darauf an, von welcher Gruppe Gewalt gegen welche Gruppe angewandt wird. ({1}) Diesmal waren es rechtsextremistisch verführte Jugendliche, die teilweise gegen Ausländer aggressiv wurden, im übrigen nicht nur gegen Ausländer, auch gegen Deutsche; Herr Schmude hat den wirklich schlimmen Vorfall mit den behinderten Deutschen erwähnt. Vor einigen Wochen waren es Ausländer, nämlich Kurden, die Gewalt gegen Deutsche sowie gegen andere bei uns lebende Ausländer verübt haben. Das muß uns besonders beunruhigen, weil diese Taten wiederum Aggressionen gegen Ausländer zu wecken vermögen, was wir mit allen Mitteln verhindern wollen. ({2}) Es kommt - es wäre gut, wenn wir uns darüber einig würden - nicht darauf an, aus welchen politischen Motiven Gewalt ausgeübt wird. Gewaltanwendung hat in unserer demokratischen Gesellschaft keine Rechtfertigung. ({3}) Es wäre gut, wenn in dieser Gesellschaft, aber auch in diesem Hause das Maß des Abscheus nicht nach Überlegungen parteipolitischer Opportunität, insbesondere danach dosiert würde, ob man nun glaubt, den Zielen der einen Gruppe etwas näher zu stehen als denen der anderen. ({4}) Ich habe nicht vergessen, meine Damen und Herren - wir alle sollten das nicht tun -, daß in den Wochen nach Bad Kiemen teilweise überhaupt nicht mehr die Rede davon war, daß ein mutmaßlicher Mörder einen Grenzschutzbeamten bei der Erfüllung seiner Pflichten erschossen hatte. ({5}) Was sollen wir tun? Erstens. Wir sollten uns weniger entrüsten und weniger appellieren. Wir sollten mehr handeln. Zweitens. Wir sollten solche Vorfälle nicht parteipolitisch instrumentalisieren. Ich weiß, daß das im Vorfeld einer Wahl ein frommer Wunsch ist. ({6}) Aber wenn wir uns darüber einig sind, daß wir jegliche Gewalt ablehnen und sie bekämpfen wollen, müßte es zumindest annäherungsweise möglich sein. Drittens. Wir müssen die Polizei in die Lage versetzen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Dazu gehört im übrigen auch, daß wir die Motivation der Polizisten nicht mutwillig noch mehr beschädigen, als das bisher schon der Fall war. Das, was hier heute geschehen ist, auch von Ihnen, Herr Weiß, war unverantwortlich. Hier sind wieder einmal aus Bad Kleinen überhaupt keine Lehren gezogen worden, ({7}) obwohl - das räume ich ein - es Anzeichen dafür gibt, daß in Magdeburg Fehler von der Polizei gemacht worden sind. Aber vor dem endgültigen Bericht, vor der endgültigen Klärung, hier so den Stab über die Polizei zu brechen, ({8}) ist eine schlimme Geschichte. ({9}) Wir müssen die Polizisten für diesen Staat gewinnen. Wir müssen dafür sorgen, daß sie diesen Staat und die Bürger verteidigen. Dazu paßt es nicht, wenn wir sie in dieser Weise leichtfertig zum Prügelknaben machen. ({10}) Viertens. Meine Damen und Herren, Herr Hirsch hat ein richtiges Wort gesagt: Wir sind in der Gefahr, eine Gesellschaft der Wegseher zu werden. Dazu gehört aber auch, daß wir nicht durch die Polizei ein schlechtes Vorbild liefern. Ich kenne Mitglieder der Bundestagsverwaltung, die in ihrem Glauben an diesen Rechtsstaat doch sehr erschüttert worden sind, als sie bei der Asyldebatte erleben mußten, wie sie verprügelt wurden ({11}) und die Polizei wegschaute oder, genauer gesagt: Sie schaute hin, durfte aber nicht eingreifen. Auch die Deeskalation, die ja immer als großes Mittel propagiert wird, muß dann einmal kritisch von uns hinterfragt werden. ({12}) Man kann nicht auf der einen Seite von der Polizei verlangen, daß sie sofort mit dem großen Knüppel und aller Energie eingreift, im übrigen aber bei anderer Gelegenheit vor der Gewalt zurückweicht. Das ist eine schwierige Frage. Ich habe kein einfaches Rezept für das Eingreifen der Polizei, aber daß wir uns das auch einmal überlegen müssen, ist doch klar. Fünftens. Die Justiz muß ihre Aufgabe erfüllen. Herr Schmude, das ist ja leicht gesagt: Die Justiz soll die Täter mit den Strafverfolgungsorganen fangen und überführen. Aber Sie wissen doch selbst, daß das mit dem Überführen in angemessener Zeit so eine Sache ist. Woher kommt denn die Frustration unserer Polizisten? Sie brauchen doch nur einmal mit den Polizisten zu sprechen: Sie fangen die Leute und müssen sie wieder laufen lassen. ({13}) Das liegt nicht nur und nicht immer - in Magdeburg mag das der Fall gewesen sein ({14}) daran, daß die Polizei Fehler gemacht hat. Es liegt auch an manchen Umständlichkeiten unserer Gesetze. Meine Damen und Herren, dieser Rechtsstaat lebt nicht aus dem Papier; er lebt vom Vertrauen der Bürger. Es ist ein Faktum, daß die Bürger in zunehmendem Maße nicht mehr das Vertrauen dazu haben, daß Strafverfolgung und Justiz in angemessener Zeit Straftäter zur Verurteilung bringen. Das steht fest. Infolgedessen müssen wir alle versuchen, Gesetzesänderungen dort, wo sie notwendig sind, zustande zu bringen. Wir haben ja heute im Rechtsausschuß darüber diskutiert. Da war es für mich schon etwas überraschend, daß nun wiederum gegen alle Vorschläge, die dort gemacht wurden, rechtsstaatliche Bedenken vorgebracht wurden. ({15}) - Ja, Sie scheinen ein unterschiedliches Recht haben zu wollen. Wenn es gegen rechtsradikale Gewalttäter geht, dann sollen wir wohl Sondergesetze haben! Das Gesetz gilt für alle.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter!

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme damit, Herr Präsident, auch zum Ende: Leisten wir gemeinsam bei den Gesetzesänderungen das, was zu tun ist! Vielen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Christel Hanewinkkel das Wort.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Im Mai 1992 wird in Magdeburg von rechten Jugendlichen der Punker Torsten Lamprecht erschlagen. Die Polizei ist dabei, greift aber nicht ein; es sind zu wenige. Fast zwei Jahre später findet der Prozeß gegen die Täter statt. Im Mai 1994 am „Herrentag" in Magdeburg: Angetrunkene Skins und Hooligans kommen in die Magdeburger Innenstadt, um die „linken Zecken" aufzumischen. ({0}) Die Punker sind nicht da; sie wußten vom Vorhaben der Skins. Die Polizei ist nicht da; sie wußte vom Vorhaben der Skins. Schwarzafrikaner sind da; sie wußten nichts vom Vorhaben der Skins. Sie werden von den Rechten durch die Stadt gejagt. Zu wenige Polizisten kommen, sie können die Situation nicht klären. Was ist das Problem? In den letzten Jahren nehmen die Gewaltbereitschaft und die Gewalttätigkeit bei Jugendlichen rapide zu, vor allem bei Jugendlichen, die sich dem rechten Spektrum oder der ausländerfeindlichen Seite zuordnen. Opfer sind Ausländerinnen und Ausländer, Behinderte, Punker, Linke, Andersdenkende, Obdachlose, jüdische Gemeinden. In der „Neuen Zeit" wurde am 14. Mai 1994 eine Zahl veröffentlicht. Ich frage vor allen Dingen Sie, Herr Bohl - er ist leider nicht mehr da -, wofür diese Zahl wohl steht. 1993 verübten in ganz Deutschland Rechtsextremisten 6 721 Straftaten gegen Ausländer. Straftaten gegen Behinderte, Linke und jüdische Gemeinden sind in diese Zahl nicht eingerechnet. Was ist zu tun? Gewalt in allen Beziehungen: in der Familie, im Staat, zwischen Gruppen, Mensch gegen Natur, gegen Asylbewerber, gegen Minderheiten - die Gewalt scheint in diesem Land ein gesellschaftsfähiges Mittel für Auseinandersetzungen geworden zu sein, obwohl die meisten, wenn sie passiert, erschrocken sind und sich distanzieren. Politisch, polizeilich wird Gewalt unterschiedlich befürchtet und bewertet. Wenn sie gegen die vorher genannten Gruppen gerichtet ist, wird sie offenbar anders eingeschätzt, und die Regie von Politikern und Polizeiführung sieht anders aus. Die Gewalt am „Herrentag" wurde bagatellisiert als etwas, das jederzeit jedermann überkommen kann, wenn man jugendlich, männlich, alkoholisiert und von der Sonne nur genug beschienen ist. Das ist eine makabre Verschätzung der Situation. Politiker und Polizeiführung bringen damit ihre Hilflosigkeit oder ihr Nichtwollen oder Nichtkönnen, die reale Gefahr von rechts wahrzunehmen und als solche einzuschätzen, zum Ausdruck. Die immer wieder aufgestellte Forderung nach der Verschärfung von Gesetzen ist ein weiteres Indiz für die Hilflosigkeit der Verantwortlichen, die diese Gefahr nicht wahrnehmen wollen. Kooperation von Polizei und Staatsanwaltschaft, eine umfassende und bessere Beweissicherung solcher Straftaten, ein entsprechendes Polizeiaufgebot 19622 all das ist in diesem Land gegen die sogenannte Gefahr von links, wie z. B. beim Weltwirtschaftsgipfel in München, bei der Demonstration gegen die öffentliche Vereidigung in Halle oder in Quedlinburg, als linksgerichtete Jugendliche stundenlang mit Kameras beobachtet wurden, als sie ein Asylbewerberheim schützen wollten, praktiziert worden. Was wir vor allem brauchen - ich zitiere aus einem Thesenpapier „Innere Sicherheit" der Bezirksgruppe der Gewerkschaft der Polizei, Polizeidirektion Halle: Innere Sicherheit zu erreichen kann und darf nicht die alleinige Aufgabe der Polizei sein, sondern muß durch eine breite Mitarbeit all jener, die an einer hohen öffentlichen Sicherheit Interesse haben und Mitverantwortung tragen, erreicht werden. Dazu gehören die Verantwortlichen des Bundes, der Länder und der Gemeinden genauso wie die Polizei und nicht zuletzt die Bürger selbst ... Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen muß durch Solidarität und Unterstützung ersetzt werden. Wegsehen und Sichvor- der-Verantwortung-drücken darf nicht länger toleriert werden. Das staatliche Gewaltmonopol ist wieder mehr in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussion zu stellen. ({1}) Dieser Feststellung und Forderung der GdP von Halle schließe ich mich voll an. Dazu gehören auch besser geschulte und organisierte Ordnungshüter, die in der Lage sind, die Situation zu erkennen und angemessen zu agieren und zu reagieren. Die Verbesserung der Kooperation zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei ist dringend notwendig. Nicht die Verschärfung des Strafrechtes, sondern die Anwendung des bisherigen und vor allen Dingen schnellere Prozesse für die Straftäter sind notwendig. Dazu gehört auch die zügige Besetzung von freien Stellen im Polizeidienst und die entsprechende Qualifizierung und Ausstattung der Polizei vor allen Dingen in den ostdeutschen Ländern. Das gilt besonders für Sachsen-Anhalt. Zum Schluß: Verantwortung tragen die Täter; sie müssen dafür nach geltendem Recht bestraft werden. Verantwortung tragen aber vor allen Dingen der verantwortliche Politiker Remmers und der Polizeipräsident in Magdeburg, Stockmann; sie müssen zur Verantwortung gezogen werden. Verantwortung tragen auch die Magdeburger und all diejenigen im Land, wo solche Straftaten passieren; ihre Verantwortung besteht darin, daß sie hinsehen und sich einmischen müssen. Verantwortung tragen aber auch wir, die Politikerinnen und Politiker; wir haben die Realität zu sehen, zu analysieren und Rahmenbedingungen zu schaffen, vor allen Dingen aber auch unser politisches Handeln in Frage zu stellen, damit wir das wirklich Not-wendende gegen Gewalt tun. Für uns alle gilt, was Konstantin Wecker singt - vielleicht kennen sie das Lied mit der Überschrift „Sage nein" -: Wenn sie jetzt ganz unverhohlen wieder Nazi-Lieder johlen, über Juden Witze machen, über Menschenrechte lachen, wenn sie dann in lauten Tönen saufend ihrer Dummheit frönen, denn beim Deutschen hinterm Tresen muß nun mal die Welt genesen, dann steh auf und misch dich ein, sage nein. Ob als Penner oder Sanger, Bänker oder Müßiggänger, ob als Schüler oder Lehrer, Hausfrau oder Straßenkehrer, ob du 6 bist oder 100, sei nicht nur erschreckt, verwundert, tobe, zürne, bring dich ein, sage nein. Ich denke, das gilt uns allen, den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes, aber auch den Politikerinnen und den Politikern. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Monika Brudlewsky.

Monika Brudlewsky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000275, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was soll der Schauprozeß heute? Wir sollten nicht auf Kosten der verletzten Opfer Wahlkampf machen. Es sind Deutsche und Ausländer Opfer. Nach dem Motto „Wer ist der bessere Demokrat? Wer ist hier betroffener?" sollte man nicht vorgehen. ({0}) Aber verfallen wir doch bitte nicht in denselben Fehler - deswegen habe ich dieses Wort benutzt - wie damals in Bad Kleinen. Der Ablauf der Geschehnisse ist nicht ganz geklärt. Der Abschlußbericht steht noch aus. Aber wir haben eine Aktuelle Stunde, aber wir haben die Verurteilung der Polizei und schon Forderungen nach Rücktritt. ({1}) Ich weiche zwar vom Thema ab; aber das gehört doch hierher. Für die Ereignisse in Bad Kleinen trat ein Minister zurück - völlig sinnlos, wie wir heute wissen. Schuld waren fehlerhafte Berichte, mangelhafte Berichte, das Nicht-warten-können auf die sachliche Darstellung. ({2}) Falsche Zeugenaussagen - ganz genau gesehen hat die Dame das alles -, damit verbunden Hysterie: Die Hysterie schadet uns. ({3}) Heute - wir wissen es - kennt kaum noch einer den Namen des ermordeten Polizisten. Aber der Name des linken Terroristen, der andere Menschenleben auf dem Gewissen hat, ist in aller Munde. Das ist die eigentliche Misere. Welche Rolle spielt der Polizist bei den Gewalttaten? Wie soll er sich verhalten? Jeder weiß es ganz genau: Sie hätten ja nicht die Fehler gemacht, die Sie jetzt anklagen. Die Polizisten sollen zugreifen, sie sollen verhaften, brutale Gewalt aushalten, sofort richtig reagieren und furchtlos solchen Gewalttätern gegenübertreten. Genau das wird von der Polizei verlangt. Wie ist es aber in den neuen Bundesländern? Glauben Sie mir: Es besteht auch bei uns nach vier Jahren Demokratie noch immer eine besondere Situation. Alte gingen, wenig Nachwuchs; es ist nicht gerade toll, bei uns Polizist zu sein. Es gibt noch immer psychologische Probleme, Unsicherheiten. ({4}) Es gibt in der Ausbildung sehr viel aufzuholen. Aber das brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu erzählen. Ich wohne 38 km von Magdeburg entfernt und weiß, daß die Mehrheit der Menschen dort Gewalt verabscheut. Natürlich verabscheuen die meisten Gewalt. Zu meinem Wahlkreis gehört auch Wernigerode, wo sich links- und rechtsorientierte gewaltbereite Gruppen des öfteren schwere Kämpfe lieferten. Nach den Ausschreitungen am 22. Oktober 1993 in Wernigerode - auch wieder links gegen rechts - wurden Polizisten verletzt, die, um Eskalationen zu vermeiden, zwischen die Kämpfenden gerieten. Sie berichteten mir, wie schwer es für sie als einzelne sei, ihre Arbeit zu tun. Sie forderten ein Gesetz, um die Übeltäter wenigstens einige Tage in Gewahrsam lassen zu können. Die Gesetze müssen geändert werden, wenn sie nicht richtig ziehen; denn sie können unterwandert werden. ({5}) Auch das sagten mir die Polizisten. Sie empfinden immer wieder Frust, wenn sie Gewalttäter entlassen müssen. Die größte Sorge unserer Polizisten beim Einschreiten ist es, einen Gewalttäter zu verletzen; denn beherztes Eingreifen wird gewünscht, möglichst immer ohne den Gebrauch von Waffen. In den neuen Bundesländern sind wir, was den Gebrauch von Waffen durch die Polizei betrifft, nämlich besonders belastet. Wenn aber ein Täter, auch wenn er noch so gewaltbereit ist, verletzt wird, dann wird meist der Polizist angeklagt, und zwar von denselben Leuten, die jetzt der Polizei Zögerlichkeit vorwerfen. ({6}) Noch heute haben gerade in Wernigerode Polizisten Mühe, sich zu verteidigen, weil Randalierer diese beschuldigt haben, sie hätten sie tätlich angegriffen. ({7}) Trotz aller Pannen, trotz aller bedauerlichen Zwischenfälle, die bei einem solchen Einsatz wie dem in Magdeburg sicher nicht immer zu vermeiden sind, weil die Situation nicht vorzuplanen ist, trotz aller Fehler, die gemacht werden, möchte ich mich ausdrücklich vor die Polizei in den neuen Bundesländern stellen, weil sie es, wie schon erwähnt, viel schwerer hat als z. B. die Polizei hier in Nordrhein-Westfalen. Ich erinnere auch noch einmal an den 26. Mai, die Asyldebatte. Hier wurde Deeskalation eingeübt. Ich kann mich noch an die im Regierungsviertel massenweise gelangweilt herumsitzenden Polizisten erinnern, während die etlichen hundert linksorientierten vermummten Gewaltbereiten im Pulk der Demo geborgen waren, die vorher ohne Probleme von der Polizei durchgelassen wurden, ({8}) die Abgeordneten und Mitarbeiter sich wehren mußten, ohne daß die Polizei helfend eingreifen durfte. Es gab etliche Verletzte, und es gab keine Aktuelle Stunde. ({9}) Der Polizeipräsident wurde verteidigt. Ist Gewalt doch nicht gleich Gewalt? ({10}) Sind vermummte Autonome die besseren Gewalttäter? Wir dürfen Gewalt nicht nach Ideologie sortieren. Ich danke Ihnen. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans-Peter Kemper.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erneut haben rechtsradikale Hohlköpfe Menschenleben gefährdet, nur weil diese Menschen eine andere Hautfarbe und eine andere Herkunft hatten. Erneut laufen in der Bundesrepublik Menschen um ihr Leben. Wieder wurde der innere Frieden, wurde die innere Sicherheit schwer geschädigt. Von dem erneuten Ansehensverlust in der Welt will ich gar nicht sprechen. Das alles geschieht unter den Augen der Öffentlichkeit, geschieht unter den Augen der Polizei. Das ist meines Erachtens sehr bedenklich. So waren der Polizei im Vorfeld deutliche Hinweise auf die geplan19624 ten Aktionen der Rechtsradikalen in Magdeburg zugegangen, ({0}) und der Verfassungsschutzpräsident von SachsenAnhalt hatte dieses mehr als deutlich kundgetan. Dennoch ist nichts passiert. Herr Olderog, vielleicht hören Sie einmal zu. Wenn Sie versuchen, diese Geschichte so zu erklären, daß die Polizei auf die Auseinandersetzung mit Linken eingestellt gewesen sei, und sagen, die Polizei konnte sich nicht mehr so schnell umstellen, weil die Linken nicht mehr da waren und dann die anderen auf die Ausländer einschlugen, kann ich nur feststellen: Das ist eine unglaubliche Verharmlosung; das kann es ja wohl nicht sein! ({1}) Die Polizeiführung hat sich hier sehr zögerlich und streckenweise dilettantisch verhalten. Ihr lagen bereits seit Tagen Erkenntnisse über die geplanten Ausschreitungen vor. Es ist nichts geschehen. Die Warnungen und Hinweise wurden einfach nicht ernstgenommen. Als die geplanten Attacken gegen die Linken nicht stattfinden konnten, hat man sich dann Ausländer gegriffen und diese durch die Stadt gejagt. Das wurde vom Innenminister als Zufall hingestellt. Auch das ist, so denke ich, eine sehr ungute Verharmlosung. Beim Eintreffen der Polizei hatte sich die Lage dann verschärft. Die Ausländer haben sich gegen die Skinheads zur Wehr gesetzt. Die Bilanz: 49 Festnahmen, davon 14 Ausländer. Nach diesen Ausschreitungen kommt es dann zu einer zweiten Welle von Gewalt. Die Nazis ziehen mit Hitler-Gruß an der Bevölkerung vorbei, ziehen mit Hitler-Gruß an der Polizei vorbei, und nichts geschieht. Die Polizei läßt es geschehen. ({2}) Sie befindet es nicht einmal für notwendig, einen Beweissicherungstrupp, einen Dokumentationstrupp einzusetzen. ({3}) Die Folge: Weil die Beweissicherung ganz offensichtlich vernachlässigt wurde, werden die Rechtsradikalen aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen. Lassen Sie mich noch eines zu dieser Freilassung sagen: Die Polizei hat selbständig entschieden - obwohl die Tatbestände des Landfriedensbruchs und der Körperverletzung vorlagen -, die Straftäter wieder freizulassen, ohne Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft aufzunehmen. Das halte ich für eine unverantwortliche Geschichte. Ich bin selbst viele Jahre lang Polizeibeamter gewesen. Ich habe sehr viel Verständnis dafür, daß es Einsatzsituationen gibt, bei denen die Polizei dann plötzlich nicht mehr Herr der Lage ist. Aber diese Entscheidung ist nach dem Einsatz gefallen, daß die Straftäter wieder freigelassen wurden, ohne daß die Staatsanwaltschaft einbezogen wurde. Ich denke, hier müssen Konsequenzen für die Verantwortlichen gezogen werden. ({4}) Aber nicht nur bei der Polizei müssen Konsequenzen gezogen werden, sondern auch bei den Politikern. Man kann nicht alles auf die eingesetzten Polizeibeamten vor Ort abwälzen, sondern man muß sich auch mit den Ursachen befassen. Ein Polizeipräsident, der glaubt, Sonne und Bier für rechtsradikale Wahnsinnstaten verantwortlich machen zu können, der muß sich fragen, ob er der richtige Mann am richtigen Ort ist. ({5}) Wer als Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit von Zufälligkeiten abhängig machen und sie damit erklären will, der hat, denke ich, den Ernst der Lage nicht erkannt. Unser Bundesinnenminister führt seit langem einen Eiertanz auf; er kann sich nicht entscheiden: Sind die Reps nun rechtsradikal, sind sie rechtsextrem, oder sind sie nur rechts? Ich denke, hier ist etwas Gutes geschehen: Eine langjährige Mitarbeiterin in der Spitze der Reps, nämlich Frau Rosenberger, hat eine eigene Einschätzung und eine eigene Einordnung vorgenommen. Diese Einordnung stellt eine schallende Ohrfeige für den Bundesinnenminister dar. ({6}) Wir brauchen uns über zögerliches Einschreiten und über falsches Verhalten der Polizei, aber auch über passives Verhalten der Menschen in unserem Land nicht zu wundern, wenn diese Politiker mit einem solchen Vorbild vorangehen. Kriminalität und Extremismus fallen nicht vom Himmel. Sie sind Folge des politischen und gesellschaftlichen Klimas. Armut, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, eine kalte Ellenbogengesellschaft und fehlende Perspektiven begünstigen die Ausbreitung des Extremismus. ({7}) Aber auch bei dem leichtsinnigen und dem gewissenlosen Umgang mit der Sprache sollten wir ein bißchen vorsichtiger sein. Mir liegt hier ein Wahlkampfinfo der CSU vor, große Überschrift: „Kampf dem Verbrechen" und darunter „Das neue Asylrecht zeigt Erfolg". Ich denke, wenn wir solche Verbindungen herstellen, brauchen wir uns über rechtsradikale Ausschreitungen nicht zu wundern. ({8}) Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik. Hier sind in der Vergangenheit sehr viele Todsünden begangen worden. Ich denke, darüber sollten Sie einmal nachdenken; dadurch läßt sich vieles an Kriminalität und an Radikalität verhindern. Vielen Dank. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dietrich Mahlo.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Ende einer langen Aktuellen Stunde muß man sagen, daß die Argumente eigentlich ausgetauscht sind. Ich finde es nicht ganz einfach, hierzu zu sprechen, angesichts der Tatsache, daß es einerseits - soweit sich der Sachverhalt für uns schon bewertend darstellt - nichts zu verharmlosen und zu beschönigen gibt und daß es mir persönlich andererseits doch widerstrebt, mich hier in einen Wettbewerb derjenigen, die ihre gute Gesinnung ausstellen, einzureihen. Meine Aufgabe als Abgeordneter ist es doch wohl eher, unabhängig von einer bestimmten Atmosphäre - die leicht eine solche Diskussion überlagert und beherrscht - den Versuch zu machen, objektiv zu werten und in einem rationalen Erfassungsversuch auch zu gewichten. Ich bin Westberliner Abgeordneter. Ich habe Auseinandersetzungen in Westberlin lange vor der Vereinigung mit den neuen Bundesländern erlebt, gegenüber denen diese Auseinandersetzungen vergleichsweise harmlos sind. Ich habe Auseinandersetzungen erlebt, bei denen man bestimmte Stadtviertel 24 Stunden lang nicht betreten konnte, auch nicht die Polizei. Die Frage ist eben, ob wir wirklich am Rande eines neuen Nationalsozialismus stehen, wie hier immer wieder in Anspielungen gesagt worden ist. ({0}) - Sie, Herr Kollege Graf, haben das nicht gesagt. Aber „Neonazis" ist von Herrn Kemper gesagt worden, und Herr Gysi hat gesagt, er hätte sich an Vorgänge der 30er Jahre in Magdeburg erinnert gefühlt. ({1}) Das heißt doch, daß wir kurz davorstehen, in Totalitarismus zurückzufallen. Ich glaube, daß diese Vergleiche, ohne irgend etwas verharmlosen, ohne irgend etwas entschuldigen zu wollen, nicht den Realitäten entsprechen. Ich könnte Ihnen das analytisch darlegen, aber ein solcher Fünfminutenbeitrag ist dafür nicht geeignet. Ich gebe Herrn Kemper recht, daß das möglicherweise auch etwas mit Armut, Wirtschaft und sozialen Defiziten zu tun hat. Aber es ist auch Ausdruck eines Wertedefizits. Straßenvandalismus und notorisches Rowdytum, Gewaltbereitschaft und Kleinkriminalität sind eben nicht das unausweichliche Schicksal jeder freien Gesellschaft, sondern sie haben etwas damit zu tun, daß unser Staat, der in seinen Rändern als Leistungsträger und Daseinsvorsorger, Verteiler und Subventionierer immer weiter wächst, in seinem Kernbereich bei der Durchsetzung von Ordnung und Recht und bei der Gewährleistung von Frieden und Sicherheit immer schwächer wird. ({2}) Jahrelang hat der Zeitgeist oder ein übertriebener Liberalismus die Kapitulation des Staates vor dem Unrecht gefördert. Die Folgen sind ein verlorenes Gleichgewicht zwischen Anspruch und Verantwortung, ein angeschlagenes Rechtsbewußtsein und eine gewisse geschwundene Rechtstreue. Das ist unser Anteil an der Schuld. Ich beziehe mich durchaus mit ein. Ich zitiere hier verkürzt aus einem Artikel von Wolfgang Schuller im „Südkurier", in dem es heißt: Seit Jahrzehnten hatte sich die Polizei in der Rolle einer Institution sehen müssen, deren Tätigkeit man nach Kräften behinderte und reglementierte. Im Vordergrund auch des ... gesetzlichen und durch die Gerichte weiterentwickelten Regelwerkes stand immer, was die Polizei nicht dürfe. Am besten sollte sie sich gar nicht zeigen, um friedliche Demonstranten nicht zu provozieren. Jetzt haben wir es tragischerweise Kahlköpfen zu verdanken, die Brandflaschen auf lebendige Menschen werfen und Farbige durch Magdeburg hetzen, daß die Polizei wieder in der gewandelten Rolle einer Institution erscheint, die in kontrollierter Weise hart und schnell zuzupacken habe. Es ist betrüblich, daß es erst wieder einer rechtsextremen oder allgemeinkriminellen Mordlust bedurfte, um diese Selbstverständlichkeit in unser Bewußtsein zu rufen, auch in das Bewußtsein derer, die gestern noch die Polizeien als „Bullen" titulierten. Ich bin am Ende meiner Zeit. Die Hauptschuld an den Verhältnissen, die wir heute erörtert haben, fasse ich in einem Wort zusammen. Es lautet: Nachgiebigkeit. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Abgeordnete Ortwin Lowack hat nunmehr das Wort.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Widerspruch im Beitrag von Konrad Weiß ist unübersehbar: Auf der einen Seite ist es die Gesellschaft der Gewalt, die Verantwortung trägt, auf der anderen Seite wird die große Keule, eine Verschärfung des Haftrechts und des Strafrechts, aus der Tasche gezogen. Das heißt zuschlagen, den einzelnen Menschen zu schablonisieren und ihn in eine Ecke zu drängen, aus der er möglicherweise lebenslang keine Chance mehr hat, wieder herauszukommen. Dabei sind die Ausschreitungen, um die es heute hier geht, doch vielmehr ein Zeichen psychischer Fehlentwicklungen, oft eines Minderwertigkeitsbewußtseins, vor allem der Hilfslosigkeit und der Massensuggestion. Lieber Kollege Weiß, wenn Sie erlebt hätten, wie in der 68er-Bewegung Hunderte von Studenten auf das Wort „Drauf!" ihres Führers losgelaufen sind, egal, worum es überhaupt ging, dann wissen Sie, was hier teilweise eine Rolle spielt. Und wo kommt denn das insgesamt her? Das ist doch auch das Ergebnis einer geradezu hysterischen Hetze gegen das, was Gemeinschaft und Gesellschaft in Deutschland bedeutet. Diese jungen Menschen haben kein Ziel vor Augen, für das es sich offenbar lohnt zu arbeiten. Ich frage: Wo kommt das her? Und wir können es nur beantworten, wenn hier die Fehler der Politik anerkannt werden. ({0}) Wir belasten junge Menschen unnötigerweise mit einem persönlichen Schuldvorwurf aus der Vergangenheit der deutschen Geschichte, den sie nicht verdient haben. Es hat keinen Sinn, Minderwertigkeit in ihr Bewußtsein einzupflanzen und dann zu erwarten, daß sie sich jederzeit richtig verhalten. In der Geschichte der Deutschen war die Gastfreundschaft immer ein herausragendes Recht. Wer souverän ist, wer selbstbewußt ist und wer weiß, wofür er zu leben und zu arbeiten hat, der wird auch gegenüber Fremden freundlich und zuvorkommend sein. Aber lernen Sie in der Politik doch erst mal, den Begriff „Deutschland" positiv zu besetzen. Jeden Tag wird hier der Freiheitsraum begrenzt, beschränkt. Mit Gesetzen, mit Verordnungen, mit allem Möglichen hinterlassen Sie nicht nur menschliche Ruinen, sondern vor allen Dingen auch in ihrer seelischen Existenz ruinierte Menschen. Wer hier beginnt, auf andere zu schimpfen und Empörung zu zeigen, der soll sich wahrlich erst einmal an seine eigene Brust klopfen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da wir ja bei des Deutschen liebstem Kind, der Polizei, sind, vorweg eine Bemerkung, die ich eigentlich zum Schluß machen wollte: Was das Verhalten der Polizei und der Polizeiführung in Magdeburg betrifft, denke ich, sieht es ungefähr so aus: Glauben wir ihr, daß ihr das einfach so passiert ist, dann sind es schlicht und einfach unfähige Trottel. Gehen wir aber davon aus, daß dahinter irgendwie ein bewußtes, ein motiviertes, ein zweckgerichtetes Handeln wirklich stand, ({0}) - bei der Polizei und Polizeiführung - dann muß zumindest die Frage auftauchen, ob es nicht in dieser Polizei bestimmte Kräfte gibt, die bereit sind, die demokratische Ordnung dieses Landes zu sabotieren. Ich glaube, das ist eine der Fragen, die da auftauchen. ({1}) - Ja, ich weiß, was ich damit sage. Aber ich glaube: Der Punkt ist wirklich klar. Von dem Pogrom in Magdeburg habe ich in Paris erfahren. Die „Le Monde" brachte einen Artikel mit dem Titel „Scènes de chasse aux étrangers à Magdebourg", Jagdszenen auf Ausländer in Magdeburg. Der Artikel erschien in einer Rubrik mit Nachrichten über Morde und Kämpfe in Algerien, Haiti, Nigeria, dem Jemen. Die „Libération" zitierte Stimmen aus Paris, nach denen sich unter den gejagten Ausländern auch farbige Franzosen und Leute aus Perpignan, also EU-Bürger wie wir, befunden haben sollen. Wer Pogromtaten wie die von Hoyerswerda, Rostock, Quedlinburg, Mölln, Solingen und jetzt in Magdeburg und in dieser Nacht in Hamburg mit eher geringfügigen Gefängnisstrafen bedroht, wer die Tatverdächtigen entweder überhaupt nicht festnimmt oder verdächtig schnell freiläßt, wer Vorbeugemaßnahmen trotz kompetenter Warnungen unterläßt, wer angegriffene Ausländer und Ausländerinnen oftmals eher belangt als die potentiellen Totschläger und Mörder, der braucht sich nicht zu wundern, daß es so weitergeht, der braucht sich nicht zu wundern, daß der Haß auf und die Aggression gegenüber Menschen anderer Herkunft, anderer Sprache und anderer Hautfarbe in diesem Land wachsen und sich weiter ausbreiten. Wer Ausländer als verbrechensanfälliger und damit als potentiell und tendenziell Kriminelle generell verdächtigt - wie mehrfach hier in diesem Haus geschehen -, der leistet der latenten und wachsenden Pogromhaltung in großen Teilen der deutschen Bevölkerung - das ist das wirkliche Problem - Vorschub. Es scheint irgendwie geradezu zum Nationalcharakter der Deutschen zu gehören - um Willi Helpach zu zitieren -, Lust daraus zu ziehen, daß Menschen gejagt werden, daß Menschen durch Gewalt und durch Gewaltausübung geradezu in Todesangst versetzt werden. Der Flächenbrand ist bereits da, der Brand, der die eh gering entwickelte politische Vernunft in dieser Gesellschaft womöglich völlig zerstört. Das Spiel mit dem Feuer hat bereits stattgefunden, auch in diesem Haus, z. B. in der Asyldebatte. Die Folge ist ein Brand, der weiter züngeln wird, bis er womöglich wieder einmal das ganze Land erfaßt. Verbieten Sie vor allem und endlich die einschlägigen und offen zu Rassenhaß, zu Pogromen, zu antisemitischen Aktionen aufrufenden und aufstachelnden Organisationen und ihre Wort- und Tatführer. ({2}) Und verhindern Sie - das an die Adresse beispielsweise der PDS; das muß ich mal ganz offen sagen - Kontakte, die diese Tat- und Wortführer auch noch irgendwie legitimieren. In einigen Jahren, wenn sich die Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens durchgesetzt hat, ist es womöglich zu spät. Das Beispiel Italiens mag warnen. Wenn in diesem Land, in Deutschland, der Faschismus soweit kommt wie in Italien, dann ist hier viel mehr Blut geflossen, dann sind unendlich viel größere Verbrechen begangen worden, dann sind die daraus entstehenden politischen Verhältnisse auch noch viel brutaler, viel gewaltträchtiger und unmenschlicher als selbst in Italien. Herr Präsident, ich danke Ihnen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, wir kommen jetzt zur Fragestunde. Ich möchte Ihnen aber gleich sagen, daß es nur wenige Fragen sind. Falls die Serie der Zusatzfragen nicht zu groß ist, können sich die Kolleginnen und Kollegen, die an der Aktuellen Stunde teilnehmen wollen, schon darauf einrichten. Ich rufe auf: 1. Fragestunde - Drucksache 12/7527 Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Staatssekretär Wighard Härdtl zur Verfügung. Ich rufe die Frage 1 des Kollegen Hans Büttner auf: Hält es die Bundesregierung mit § 5 des Bundesministergesetzes far vereinbar, daß der Bundesminister Carl-Dieter Spranger auf dem Briefkopf einer Ansbacher Anwaltskanzlei firmiert, die sich darauf spezialisiert hat, die Errichtung von Betriebsräten zu verhindern? Herr Staatssekretär, ich bitte Sie um Beantwortung.

Not found (Staatssekretär:in)

Vielen Dank, Herr Präsident. Nach Auffassung der Bundesregierung ist das Bundesministergesetz nicht berührt, denn § 5 des Bundesministergesetzes untersagt lediglich, den Anwaltsberuf weiter auszuüben. Die Bundesregierung nimmt grundsätzlich nicht Stellung zum Tätigkeitsbereich einer Anwaltskanzlei. Dies kann auch nicht Gegenstand einer rechtlichen Bewertung sein.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Erste Zusatzfrage.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist der Bundesregierung bekannt, ob der Bundesminister nach wie vor an der Kanzlei beteiligt ist, die seinen Namen im Briefkopf führt?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, Bundesminister Spranger ist seit 1982, seit er nämlich Parlamentarischer Staatssekretär wurde, nicht mehr für die Kanzlei tätig gewesen und hat auch keine Honorare und weiteren Einkommen bezogen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine weitere Zusatzfrage.

Hans Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000302, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geht die Bundesregierung der Frage nach, ob Bundesminister Spranger für die Zurverfügungstellung seines Namens im Briefkopf dieser Kanzlei eventuell nach Ablauf seines Ministeramts nachträglich eine Entschädigung für die Zurverfügungstellung eines Mandantenstammes erhält?

Not found (Staatssekretär:in)

Ich darf Ihnen mitteilen, daß der Briefkopf durch die Rechtsanwaltskammer für den Bezirk des Oberlandesgerichts Nürnberg geprüft und akzeptiert wurde. Weitere Auskünfte über die Frage der Honorierung der Tätigkeit danach kann ich nicht geben. Aber Sie können davon ausgehen, daß Minister Spranger keine vertragliche Verpflichtung in bezug auf eine nachträgliche Honorierung eingegangen ist. Ob Bundesminister Spranger irgendwann später in die Anwaltskanzlei zurückkehrt, bleibt seiner Entscheidung anheimgestellt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Urbaniak hat eine weitere Zusatzfrage.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wir haben 1972 mit großer Mehrheit das Betriebsverfassungsgesetz verabschiedet. Soweit ich mich erinnern kann, ist es ein einmaliger Vorgang, daß sich ein Minister offiziell dazu bekennt, eine Kanzlei zu betreiben, um einen wichtigen Bestandteil des gesellschaftlichen Konsenses, nämlich Betriebsräte zu bilden, zu verhindern. Ist das eigentlich akzeptabel für die gegenwärtige Bundesregierung?

Not found (Staatssekretär:in)

Entschuldigung, Herr Abgeordneter, es liegt im Ermessen jeder Kanzlei, die Mandanten zu nehmen, die ihr genehm sind. Dazu leben wir in einem Rechtsstaat. Sicherlich würde die Kanzlei auch Sie vertreten, nur leider derzeit nicht Minister Spranger. Darauf müssen Sie noch einige Zeit warten.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Lambinus.

Uwe Lambinus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001271, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, darf ich noch einmal nachfragen? Ist es nach der Bundesrechtsanwaltsordnung zulässig, daß ein zur Zeit nicht zur Ausübung des Anwaltsberufs Befähigter - das ist er ja nicht nach dem Bundesministergesetz - in einer Anwaltskanzlei firmiert?

Not found (Staatssekretär:in)

Dies ist zulässig. Denn § 5 des Bundesministergesetzes untersagt lediglich die Ausübung, aber nicht eine ruhende Mitgliedschaft in dieser Anwaltskanzlei. Die Frage nach dem Briefkopf ist durch die zuständige Rechtsanwaltskammer beantwortet worden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Hampel.

Manfred Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000798, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist aus der Antwort an den Kollegen Urbaniak zu schließen, daß es die Billigung der Bundesregierung findet, wenn die Bildung von Betriebsräten massiv behindert und damit das Kernelement der betrieblichen Mitbestimmung in der Sozialen Marktwirtschaft ausgehebelt wird?

Not found (Staatssekretär:in)

Ich muß Sie noch einmal darauf hinweisen, daß wir keine Bewertung der Tätigkeiten von Rechtsanwaltskanzleien vornehmen. Sonst müßten wir auch unser Befremden äußern, wenn beispielsweise Betrüger, Mörder oder andere Straftäter verteidigt werden. Die Ausübung des Anwaltsberufs ist grundsätzlich so weit möglich, wie es der Rahmen unserer Rechtsordnung zuläßt. Irgend19628 eine Eingrenzung auf einen Bereich oder damit verbunden bei einer rechtlichen Vertretung auf eine persönliche Einflußnahme oder persönliche Einstellung ist nicht gegeben, ganz zu schweigen davon, daß die Bundesregierung natürlich nicht dafür in Anspruch genommen werden kann, welche Anwaltskanzlei mit welchen Mitgliedern welche Mandanten vertritt. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwortung. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit auf. Die Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl wird die Frage 35 beantworten, die der Kollege Lowack gestellt hat: Hat die Bundesregierung die große Gefahr erkannt, die daraus resultiert, daß die flächendeckende ärztliche Versorgung auf Dauer nicht mehr gewährleistet ist, weil auf Grund des „Gesundheitsstrukturgesetzes" ca. 30 % der ärztlichen Fachpraxen betriebswirtschaftlich Konkurs erleiden und ein hoher Anteil der bislang ambulant erbrachten fachärztlichen Leistungen in Zukunft stationär in Krankenhäusern erbracht werden muß? Bitte, Frau Parlamentarische Staatssekretärin.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Herr Kollege Lowack, Ihrer Behauptung, „daß die flächendekkende ärztliche Versorgung auf Dauer nicht mehr gewährleistet ist", steht die Tatsache entgegen, daß in der Bundesrepublik zur Zeit ca. 60 % aller Planungsbereiche überversorgt und für Neuzulassungen gesperrt sind. Die Bundesregierung sieht keine Gefahr, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen ihrem gesetzlich zugewiesenen Sicherstellungsauftrag nicht nachkommen und eine flächendeckende Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gewährleisten können. Der Bundesregierung liegen auch keine fundierten Hinweise darauf vor, daß es auf Grund des Gesundheitsstrukturgesetzes zu zahlreichen Schließungen ärztlicher Praxen gekommen ist oder künftig kommen wird. Allerdings ist die Zahl der zugelassenen Ärzte in den letzten Jahren stets gestiegen. Grundsätzlich ist darauf hinzuweisen, daß ein Anstieg der Zahl der Leistungserbringer, ohne daß gleichzeitig die Zahl der Versicherten und damit der Versorgungsbedarf steigt, zu entsprechenden Umsatz- und Einkommensrückgängen bei einzelnen Leistungserbringern in unserem Gesundheitssystem führen kann. Die niedergelassenen Ärzte unterliegen hier den gleichen Bedingungen wie andere freie Berufe. Eine ähnliche Entwicklung hat es z. B. auch bei den Rechtsanwälten gegeben. Die gesetzliche Krankenversicherung kann bei einer steigenden Zahl der Ärzte den einzelnen Ärzten nicht ein bestimmtes Umsatz- und Einkommensniveau garantieren.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Staatssekretärin, in welcher Weise hat denn die Bundesregierung die Folgen und Konsequenzen aus der Gesundheitsstrukturreform für zahllose Praxen mit der Tendenz, die ich in der Frage angesprochen hatte, überhaupt analysiert und überprüft?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Herr Lowack, ich habe Ihnen mitgeteilt, daß uns keine fundierten Kenntnisse darüber vorliegen. Wenn Sie uns eine Praxis benennen können, die auf Grund des Gesundheitsstrukturgesetzes „pleite" gegangen ist, dann bitte ich Sie, mir diesen Arzt mitzuteilen. Er möchte mir unter Offenlegung seiner Einnahmen und Ausgaben nachweisen, daß diese Praxis infolge des Gesundheitsstrukturgesetzes nicht mehr existenzfähig ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zweite Zusatzfrage.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Staatssekretärin, sind Sie bereit, insoweit zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Fragestellung in Übereinstimmung mit Vorstandsmitgliedern des Hartmannbundes in Bayern vorgetragen wurde?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Herr Lowack, ich nehme das zur Kenntnis. Allerdings hat der Hartmannbund in Bayern auch die Möglichkeit, sich direkt an mich zu wenden und mir seine Kenntnisse zu übermitteln. Ich bin gesprächsbereit und werde gern auf diese Fakten eingehen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Werden dazu aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen weitere Zusatzfragen gestellt? - Das ist nicht der Fall. Dann darf ich an die Adresse der Stenographen sagen, daß die Frage 8 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung sowie die Frage 36 aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit zurückgezogen worden sind. Alle anderen Fragen - mit Ausnahme der jetzt noch folgenden beiden Fragen der Kollegin Funke-Schmitt-Rink - sollen schriftlich beantwortet werden. Das betrifft die Fragen aus den Geschäftsbereichen der Bundesministerien des Innern, der Justiz, für Verkehr, für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, für Forschung und Technologie sowie für Gesundheit. die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe nun die Frage 40 der Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink auf: Wie bewertet die Bundesregierung das jüngste Urteil des BVG vom 28. April 1994 zu Besitz, Erwerb und Einfuhr von Haschisch in geringen Mengen zum Eigenverbrauch, und welche gesetzlichen Konsequenzen zieht sie ggf. daraus? Ich bitte Sie, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, um Beantwortung.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Frau Kollegin, in seinem am 28. April veröffentlichten Beschluß vom 9. März 1994 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie den Erwerb, Besitz und Handel mit sowie die Einfuhr von Cannabisprodukten betreffen, mit dem Grundgesetz vereinbar sind, und zwar auch insoweit, als sie den Erwerb und Besitz von Haschisch in geringen Mengen zum ausschließlichen Eigenkonsum betreffen. Ein sogenanntes Recht auf Rausch hat das Gericht abgelehnt. Es hat ferner auf die Verpflichtung der Länder hingewiesen, für eine im wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis nach § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes zu sorgen. Diese Entscheidung bestätigt uneingeschränkt die langjährige Drogenpolitik der Bundesregierung, und zwar auch im Detail. Die Bundesregierung hat bisher Forderungen und Gesetzesinitiativen zur Aufhebung der Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes für Cannabisprodukte abgelehnt. Sie hat vielmehr auf die Einstellungsvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes verwiesen und an die Länder appelliert, diese Vorschriften bundeseinheitlich auszuschöpfen und damit insbesondere für jugendliche Gelegenheitstäter das Prinzip „Hilfe vor Bestrafung" anzuwenden. Gesetzgeberische Konsequenzen hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht verlangt, sondern festgestellt: „Der Gesetzgeber darf abwarten", ob wegen einer dauerhaft unterschiedlichen Handhabung insbesondere des § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes zu einem späteren Zeitpunkt weitere gesetzliche Konkretisierungen der Einstellungsvoraussetzungen erforderlich sind. Die Bundesregierung wird daher zunächst und gemeinsam mit den Ländern die Prüfung fortsetzen, wie durch eine einheitliche Richtlinie der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts möglichst schnell in die Praxis umgesetzt werden kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ist durch dieses Urteil ausgeschlossen, daß in Deutschland Coffeeshops nach niederländischem Vorbild eingerichtet werden können?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Ich gehe davon aus.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Die zweite Zusatzfrage.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ist die Initiative des nordrhein-westfälischen Justizministers, auch Heroin in einer bestimmten Menge freizugeben, durch das Verfassungsgerichtsurteil gedeckt?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Ja, wobei es, wie Sie wissen, in der Diskussion sehr unterschiedliche Meinungen zur Frage der Menge gibt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen aus dem Kreis der Kolleginnen und Kollegen? - Kollege Lowack.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Staatssekretärin, welche Konsequenzen wird die Bundesregierung aus den neuesten Erkenntnissen ziehen, daß man auf Grund der Bestimmung des § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes neue Vertriebswege, den sogenannten Ameisenweg, entwickelt hat, auf dem immer nur kleine Mengen transportiert werden, in der Summe aber ungeheure Mengen an Rauschgift herauskommen? Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Pari. Staatssekretärin: Herr Lowack, ich habe, glaube ich, in meiner Antwort deutlich gemacht, daß weiterhin der Erwerb, Besitz und Vertrieb von Rauschgift unter Strafe steht. Ich meine also, daß das Urteil solchen Praktiken nicht Vorschub leistet.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Weitere Zusatzfragen dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 41 der Kollegin Dr. FunkeSchmitt-Rink auf: Wann und in welcher Form wird der Nationale Drogenrat den Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan fortschreiben, vor allem vor dem Hintergrund des jüngsten Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 28. April 1994 zu Besitz, Erwerb und Einfuhr von Haschisch in geringen Mengen zum Eigenverbrauch und der neueren Entwicklung in anderen europäischen Ländern, z. B. den Niederlanden und der Schweiz? Ich bitte Sie, Frau Parlamentarische Staatssekretärin, um Beantwortung.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Frau Kollegin, es ist nicht die Aufgabe des Nationalen Drogenrates, den Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan fortzuschreiben. Der Nationale Rauschgiftbekämpfungsplan wurde vielmehr von Bund, Ländern, Gemeinden, Verbänden und allen wesentlichen Gruppen gemeinsam entwickelt und im Konsens auf der Nationalen Drogenkonferenz im Juni 1990 verabschiedet. Die Bundesregierung hat die in ihre Verantwortung fallenden Aufgaben in diesem Plan kontinuierlich umgesetzt und auch darüber berichtet. Während der Beratung über den Bericht zu den Maßnahmen des Bundes zur Umsetzung des Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes vom Juni 1992 hat das Bundeskabinett ergänzend die Einsetzung des Nationalen Drogenrates beschlossen, damit er die Bundesregierung in Fragen der Drogenpolitik auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen und Erfordernisse berät. Der Nationale Drogenrat hat deshalb auf seiner Sitzung am 16. Dezember 1993 die Weiterentwicklung der Drogenpolitik in Deutschland diskutiert und sein Votum zu Fragen des Umgangs mit illegalen Drogen abgegeben, das mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts übereinstimmt. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts und die Entwicklung in anderen europäischen Ländern haben die Bundesregierung darin bestärkt, daß die Verbote und die Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes für den Umgang mit illegalen Drogen, und zwar nicht nur mit Cannabisprodukten, geeignet und notwendig sind, um die Verbreitung illegaler Drogen in der Gesellschaft einzuschränken und die von ihnen ausgehenden Gefahren im ganzen zu verringern. Die Bundesregierung wird diese Erkenntnisse auch bei der weiteren Umsetzung des Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplanes berücksichtigen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Frau Kollegin.

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000625, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Staatssekretärin, wie kommen Sie zu der Auffassung, daß die Initiative des nordrhein-westfälischen Justiz19630 ministers gedeckt sei, wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur von weichen Drogen spricht und nicht von harten?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Frau Kollegin, nach dem Betäubungsmittelgesetz ist nicht ausgeschlossen, daß auch bei Rauschgift- und Heroinabhängigen das Prinzip Hilfe vor Strafe zutreffen kann.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Zusatzfrage, Kollege Lowack.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Staatssekretärin, welchen Sinn gibt eigentlich die besondere Strafverschärfungsvorschrift bei der Einfuhr von Betäubungsmitteln beispielsweise aus den Niederlanden, wenn in der Zwischenzeit über den europäischen Binnenmarkt die eigentlichen Gründe für die Strafverschärfung weggefallen sind?

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Mir ist nicht bekannt, daß die eigentlichen Gründe für die Strafverschärfung entfallen sind. Sie wissen, daß wir als Bundesregierung gemeinsam mit den anderen Regierungen alles tun wollen, um den illegalen Rauschgifthandel zu unterdrücken bzw. nicht zuzulassen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Gibt es dazu weitere Zusatzfragen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Fragestunde beendet, Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD Haltung der Bundesregierung zur Zukunft von EKO-Stahl und von Eisenhüttenstadt im Rahmen eines stahlpolitischen Gesamtkonzepts Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Manfred Hampel.

Manfred Hampel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000798, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein fast dreijähriger Verhandlungsmarathon, der mit der Ausschreibung der EKO-Stahl AG im Dezember 1991 durch die Treuhand begonnen hat, sollte nun mit der Übernahme des Unternehmens durch den italienischen Investor Riva abgeschlossen sein. Dem ostdeutschen Stahlstandort Eisenhüttenstadt sollte eine Zukunft bevorstehen, die nicht nur die Produktionsstätte, sondern auch 2 300 Arbeitsplätze sichert. Diese Privatisierung ist am 12. Mai endgültig gescheitert, damit auch letztlich die vom Wirtschaftsminister und von der Bundesregierung gefahrene Stahlpolitik. Die Treuhandanstalt steht mit diesem Unternehmen wieder da, wo sie angefangen hat. Man muß sich nun die Frage stellen: Warum hat sich Riva zurückgezogen? Man muß sich auch die viel entscheidendere Frage stellen: Was wird aus EKO-Stahl nun werden? Zur ersten Frage möchte ich ausführen, daß die offenen, nicht zu klärenden Punkte wie die Umsetzung des Personalanpassungskonzepts sowie die Einbeziehung von ausgegliederten Unternehmen und den dort befindlichen Arbeitsplätzen in das EKOKonzept auf eine ungenügende Abstimmung mit dem betroffenen Betriebsrat und der zuständigen Gewerkschaft IG Metall schließen lassen. Die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion haben immer wieder gefordert, daß die Betriebsräte und Gewerkschaften von Anfang an umfassend und kontinuierlich in den Privatisierungsprozeß einzubeziehen sind. Die Entwicklung des Privatisierungskonzepts der EKO-Stahl AG und dessen Scheitern ist wiederum ein Beispiel dafür, daß nur durch die aktive Einbindung der Arbeitnehmervertreter die sozialen Anpassungsprozesse besser begleitet werden können und ein notwendiger Arbeitsplatzabbau zu realisieren ist. Meine Kritik in diesem Zusammenhang: Die Treuhandanstalt hat es nicht nur versäumt, Herrn Riva die ihm in seinem Land unbekannten Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte und Gewerkschaften zu verdeutlichen. Sie hat es auch versäumt, den Betriebsrat der EKO und die IG Metall rechtzeitig in eine angemessene Position als Partner bei den Verhandlungen einzubeziehen. Völlig unverständlich ist für mich noch ein weiterer Punkt: Warum bleibt der Riva-Rückzug ohne jede Konsequenz für den ausgestiegenen Investor? Warum hat die Treuhandanstalt keinen Vorvertrag abgeschlossen, der beim Scheitern der Übernahme auch zu Konsequenzen für Herrn Riva geführt hätte? Der jetzt entstandene Schaden wird ausschließlich dem Beschäftigten und dem Steuerzahler aufgebürdet. Dies hätte die Treuhandanstalt, dies hätte die Bundesregierung vermeiden müssen. Nun zu der für mich viel wichtigeren, entscheidenderen Frage: Was wird aus EKO? Unsere Position ist eindeutig: Dieser Standort muß erhalten bleiben. Am 15. Mai haben sich auf Einladung der Präsidentin der Treuhandanstalt, Frau Breuel, alle Verantwortlichen zu einer gemeinsamen Beratung zusammengefunden. Im Kern bestand Einvernehmen darüber, daß eine sichere Zukunft mit einem starken industriellen Partner möglich ist, der die notwendigen Investitionen im Rahmen der Regeln der Europäischen Union mitträgt und sein Potential für die Vermarktung der Produkte einbringt. Wenn es jedoch der Treuhandanstalt nicht möglich sein sollte, dieses Unternehmen kurzfristig zu privatisieren, so muß sie für die Übergangszeit ein tragfähiges Konzept erarbeiten, das die laufende Produktion und die Geschäfte der EKO-Stahl AG unter Verantwortung der Treuhandanstalt und somit das Fortbestehen des Stahlstandortes sichert. Um die Chancen einer längerfristigen Privatisierung zu verbessern, muß die Treuhandanstalt dann auch weitere notwendige Investitionen vornehmen, um die technische Lücke zwischen Stahlerzeugung und Kaltwalzwerk zu schließen. Es ist bekannt, daß EKO ein unliebsamer Konkurrent der internationalen Stahlindustrie ist. Eine Standortsicherung darf sich deshalb nicht zu der Schaffung einer verlängerten Werkbank degradieren. Ziel muß es sein, in Ostdeutschland soviel an Stahlproduktion zu erhalten, wie auf längere Sicht für diesen Teil Deutschlands an Verbrauch und an Exportanteil zu erwarten ist. Meine Damen und Herren, diesem Ziel sind wir alle verpflichtet. Auch wir Politiker tragen hier ein hohes Maß an Verantwortung. Lassen Sie uns diesem gemeinsam gerecht werden. Vielen Dank. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Ulrich Junghanns.

Ulrich Junghanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001042, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! EKO-Stahl AG in Eisenhüttenstadt - das scheint sich zur unendlichen Geschichte auszuwachsen. In der Tat: Im Auf und Ab und Hin und Her um dieses wichtige Unternehmen in den letzten drei Jahren haben wir wohl alle schmerzlichen Probleme der notwendigen Umstrukturierung ostdeutscher Stahlindustrie für ihre Integration in den Wirtschaftsraum Europas durchleben können und durchleben müssen. Ich kann nachvollziehen, wenn sich auf diesem Weg der Wechselbäder zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen die Stimmen unter den Stahlkochern und insbesondere unter den Eisenhüttenstädtern mehren, die von Resignation und auch von Kritik gezeichnet sind. Man braucht da schon ein dickes Fell. Völlig unverständlich ist für mich aber, daß der Rückzug von Riva, wie übrigens schon der Rückzug von Krupp oder jeweils auch die Verhandlungsrückschläge in Brüssel, auf dem schweren Gang bis zum heutigen Tag jedesmal von der Opposition zum Anlaß genommen werden, um ein Scheitern der Stahlpolitik der Bundesregierung auszumachen oder anprangern zu wollen. Wenn es Ihnen hilft - na gut. In Eisenhüttenstadt und im Unternehmen selbst hilft es niemandem, so mit dem Problem umzugehen. Auch Sie kommen nicht an der Tatsache vorbei, daß die Bundesregierung, daß der Bundeswirtschaftsminister in schweren Brüsseler Verhandlungsgängen und gegen alle Widerstände - selbst der deutschen Stahlindustrie - in einer Stahlkrisensituation ({0}) den europäischen Beistand für den Sonderfall EKOEisenhüttenstadt ausgehandelt hat. ({1}) Immer, wenn es darauf ankam, haben die politisch Verantwortlichen in Bund, Land und Kommune - lassen Sie mich doch ausreden - zusammengestanden. Das Unternehmen in seiner ausschlaggebenden wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung für unsere Grenzregion kann nicht schlechthin durch konkurrierende Interessenlagen an Rhein und Ruhr zur Disposition gestellt werden, und es wird auch zukünftig nicht zur Disposition gestellt werden. Meine Auffassung ist: Mit dem Ausstieg von Riva ist nicht zugleich das EKO-Konzept gescheitert. Die Suche nach Ursachen und Schuldigen für diesen Bruch ist - weil jeder wohl einen Anteil daran hat und es eigentlich jetzt darauf ankommt, schnell weiter zu handeln - nur insofern interessant, wie sie hilft, Fehler, die bis dato gemacht worden sind, nicht wieder zu machen. So einfach, wie mein Vorredner sich das gemacht hat mit der Schuldzuweisung für die Treuhand und der Nichtinformation gegenüber Riva, kann es gar nicht sein; denn wir haben in Brandenburg andere Stahlstandorte, an denen Riva nachvollziehbar erfolgreich arbeitet. ({2}) Viel wichtiger ist deshalb auch für mich: Wir haben von Brüssel einen Beschlußrahmen, der klug und ohne Zeitverzug von der Treuhand mit dem Land und dem Unternehmen und mit der Unterstützung der Bundesregierung jetzt gefüllt werden muß. Grundlage und Maßstab ist dabei das von Brüssel genehmigte Unternehmenskonzept mit der Schließung der Warmbandlücke. Ich darf in Erinnerung rufen: Die vom europäischen Stahlministerrat beauftragten britischen Gutachter kamen im Juni vergangenen Jahres zu dem Schluß - ich zitiere -: Dieses Konzept repräsentiert den einzigen lebensfähigen Weg, die Stahlindustrie in Eisenhüttenstadt aufrechtzuerhalten. Um die Chancen für eine Zukunft der Stahlproduktion an der Oder zu wahren oder zu verbessern in dieser schwierigen Situation, ist jetzt aber zweierlei ausschlaggebend: Zum einen kann angesichts der hohen Verlustzahlen nicht einfach wie bisher weitergemacht werden. Es muß sofort und wirksam weitergehend die Kostensenkung bei EKO in Angriff genommen werden. Damit natürlich verknüpft müssen weitere konzertierte Hilfen für den jungen örtlichen Mittelstand und Neuansiedlungen auf den Weg gebracht werden. Zum zweiten gilt es, für die unumgängliche Privatisierung schnell einen soliden Partner zu finden. Herr Vondran, ich habe, wie Sie wissen, auch in der vergangenen Zeit überhaupt keinen Hehl daraus gemacht, daß ein Einstieg der deutschen Stahlindustrie ins EKO-Unternehmenskonzept, wie es von Krupp schon einmal als einzig richtig befunden wurde, das Beste wäre. Für mich ist es nach wie vor keine vermessene, sondern eine berechtigte Erwartung, daß es doch einen Weg geben muß, angesichts des drastischen Kapazitätsabbaus der Stahlindustrie in den neuen Bundesländern und unter den jetzt eben gegebenen europäischen Beistandsleistungen für EKO 900 000 Jahrestonnen Warmband mit ins Boot der nationalen Stahlproduktion zu nehmen. Diesen Appell, richte ich sowohl an die Unternehmer als auch an die Arbeitnehmervertreter und die IG Metall in den Unternehmen der alten Bundesländer. Die Situation gebietet jetzt einen neuen Anlauf. Wenn der Wille dazu da ist, gibt es auch Möglichkeiten, alle bisherigen Vorbehalte nochmals zu überdenken. Sollte dieser Weg jedoch nicht wahr werden können, dann müssen vorbehaltlos und intelligent alle andersgearteten Privatisierungsmodelle - etwa bankengeführte Investorengruppen oder auch internationale Partnerschaften - wieder in Angriff genommen und zu einem Ergebnis geführt werden.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, die Redezeit ist abgelaufen.

Ulrich Junghanns (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001042, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin beim letzten Satz. Ich meine, EKO verdient - wie „Die unendliche Geschichte" ihr Happy-End - unser gemeinsames Engagement für eine tragfähige Unternehmenszukunft. Danke. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg Ganschow.

Jörg Wolfgang Ganschow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000629, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorweg: Ich wohne seit 1982 in Eisenhüttenstadt und habe mehrere Jahre selbst bei EKO gearbeitet. Ich weiß also auch, wovon ich da rede. Es geht nicht in erster Linie um die Frage: Was wird mit EKO? Es geht vielmehr um die Frage: Was wird mit Eisenhüttenstadt? Denn diese Privatisierung ist jetzt zum zweitenmal gescheitert. Es war die aufwendigste Privatisierung. Eines muß ich zurückweisen, eines stimmt nicht, nämlich daß dort Geheimverhandlungen stattgefunden haben und keiner informiert war. Ich war zwar nicht in die Verhandlungen einbezogen, aber ich konnte jeden Tag jeder brandenburgischen Zeitung alles entnehmen. Schuldzuweisungen an Riva sind völlig fehl am Platz. Es war ein langer Weg zu einem tragfähigen Konzept, und zwar durch die Zustimmung der EU. Danach kamen ständig Querschüsse. Danach wurde von der IG Metall verbreitet, Riva hätte das Geld gar nicht. Dann stellte sich vor zwei Wochen auf der außerordentlichen Betriebsversammlung der Arbeitsdirektor hin und sagte: Riva hat das fachliche Knowhow überhaupt nicht, um solch ein Werk zu führen. Der Hang des Vorstandes zur Privatisierung war von Anfang an äußerst gering, was vorrangig mit der Person des stellvertretenden DDR-Ministers, ZK-Mitglieds usw. Dr. Döring zu tun hat. In Eisenhüttenstadt wurde nämlich alles nur noch darauf geprüft, ob es EKO nutzt und nicht mehr, ob es der Region oder der Stadt nutzt. Man gefiel sich mit der Bezeichnung „Stahlkrisenregion" statt einmal nachzudenken, wie man daraus eine „Chancenregion" machen kann. 1990 sagten alle zur Wahl antretenden Parteien, die Monostruktur in der Wirtschaft dort muß aufgebrochen werden. Aber wer die Überlegung laut äußerte, daß Eisenhüttenstadt mehr sein muß als EKO und Stahl, wurde niedergeschrien, beschimpft und bedroht. Herr Stolpe, Sie haben am 23. August des vorigen Jahres verkündet: Der Stahlstandort ist endgültig gesichert. Ich habe daraufhin meine Zweifel angemeldet. Das war nämlich noch vor Brüssel. Da hatte ich Schreiben von Jacques Delors, Martin Bangemann, von Karel Van Miert. Ich habe dann nachgefragt. Reaktion war, daß ich durch den stellvertretenden Regierungssprecher als Amokläufer beschimpft wurde. Jetzt geht es weiter. Es heißt, sofort einen Investor finden für Gesamt-EKO. Ich denke, es ist nicht an der Zeit, den Eisenhüttenstädtern Dinge wieder zu versprechen, die man nicht halten kann. ({0}) Es spricht sich nämlich herum, wie in Eisenhüttenstadt mit Investoren umgegangen wird, ob sie willkommen sind oder ob sie bekämpft werden. Sie fordern jetzt die Solidarität der deutschen Stahlindustrie. Was soll das? Ich erinnere mich, im November des vorigen Jahres hat der nordrhein-westfälische Landeswirtschaftsminister einen sehr harschen Brief an den Bundeswirtschaftsminister geschrieben, in dem steht, er solle das in Brüssel sein lassen, denn das gefährde die Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen. Also, wenn Sie nicht einmal innerhalb ihrer Partei die Solidarität für Eisenhüttenstadt haben, dann frage ich mich, wie das in der deutschen Stahlindustrie funktionieren soll. Der Wunsch nach einem integrierten Stahlwerk ist richtig, aber man muß auch die Frage nach der Machbarkeit stellen. Der Wunsch darf nicht außer acht lassen, daß besonders außerhalb von EKO und außerhalb vom Stahl endlich einmal etwas geschehen muß. Mir will nicht in den Kopf, daß ein Arbeitsloser von EKO ein wertvollerer Arbeitsloser ist als einer aus dem Plattenwerk, aus dem Betonwerk oder anderswoher. Auch die Nicht-Stahlwerker wollen wieder Arbeit haben. Deswegen müssen wir vom Image Stahlkrisenregion hin zur Chancenregion kommen. Deshalb müssen wir vom Stahlstandort zum Wirtschaftsstandort hinkommen. Dabei scheint mir, daß es endlich an der Zeit ist, daß Sie einige Dinge, die dort schon lange in Vorbereitung sind, wirklich einmal zu einer Chefsache erklären, daß nicht Ihr Verkehrsminister in der Frage des Industrieparks Oderbrücke, in der Frage der Straßenanbindung ständig gegenholzt und neue Gutachten braucht, obwohl bewiesen ist - durch viele Gutachten, durch eine lange Studie der USW und ähnliches -, daß es ohne diese Verkehrsanbindung nicht geht. Die Frage des Recyclingparks ist in der Priorität umgedreht: Nicht der Recyclingpark ist Zulieferer für EKO, sondern EKO kann einer der Abnehmer des Recylingparks sein; dann würden nämlich viel mehr Leute dort auch Arbeit finden. Nicht zuletzt die Fachhochschule! Wir müssen verhindern, daß die ganze Region intellektuell ausblutet, daß alle jungen Leute losgehen. Aber es kann nicht sein, daß ewig darüber gegrübelt wird, ob in dieser Gegend eine Fachhochschule sinnvoll wäre oder nicht. Ich sage: Nicht versprechen, sondern endlich handeln! ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann, Sie haben das Wort.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle guten Dinge sind drei. Wer aber wird in Eisenhüttenstadt der dritte sein? Ist die Bundesregierung überhaupt noch ernsthaft am Erhalt der EKO interessiert? Minister Rexrodt hat ein integriertes Hüttenwerk inzwischen abgeschrieben und Graf Lambsdorff sieht die EKO-Stahl AG den Bach hinuntergehen. Herr Graf, ich höre jetzt schon Ihre Vorwürfe gegen mich: 40 Jahre, und Sie haben das doch alles hinterlassen. Aber warum müssen Stahlwerker dafür bluten, daß es in der DDR chronischen Devisenmangel gegeben hat und deshalb ein halbfertiges Werk blieb und deswegen heute Investitionen für eine Warmwalzstraße notwendig sind? Seit fast vier Jahren findet ein Eiertanz um die Zukunft des EKO statt und das auf dem Rücken der Beschäftigten. Regie führt die Treuhand. Meine Damen und Herren, die gescheiterte Privatisierung der EKO-Stahl AG macht aber auch schlagartig die Komplexität und Kompliziertheit des Umstrukturierungsprozesses nicht nur in Brandenburg deutlich. Die Gruppe PDS/Linke Liste ist sicherlich vom Verdacht frei, ein glühender Bewunderer der gegenwärtigen Regierungspolitik zu sein. Vielleicht können wir gerade deshalb eine Reihe von Sachverhalten vorurteilsfrei akzeptieren. Erstens. Der politische Wille zum Erhalt des EKOStandorts reichte und reicht quer durch alle politischen Parteien und Organisationen des Landes Brandenburg. Gleiches gilt aber offenkundig nicht für den Bund. Zweitens. Mit der bisherigen Entwicklung der EKO-Stahl AG ist in Ostdeutschland eine der wenigen, vielleicht die einzige standortbezogene Entwicklung und Umstrukturierung einer Region eingeleitet worden. Immerhin ist es hier gelungen, am industriellen Kern ein Verflechtungsnetz von mittelständischen Unternehmen - Ausbau von bestehenden und Neugründungen - mit ca. 2 000 Arbeitsplätzen zu gestalten. Drittens. Die Ostbeziehungen der EKO-Stahl AG stellen eine positive Ausnahme im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialkontakte Ost-West, und das an der geographischen Grenze zwischen EU und Osteuropa, dar. Viertens. Die Bundesregierung hat - auch das wird von uns durchaus anerkannt - im Rahmen der Brüsseler Verhandlungen darauf Einfluß genommen, daß öffentliche Subventionen für die Umstrukturierung des Standorts genehmigt wurden. Wir hoffen, daß es gelingt, diese zu halten. Meine Damen und Herren, der gesamte bisherige Umstrukturierungsprozeß - ich denke, das muß hier deutlich gesagt werden - hat von Anfang an unter den Bedingungen eines sich ständig verschärfenden Konkurrenzkampfs der deutschen Stahlindustrie gegen diesen Standort gestanden. Die Vereinigung beider deutscher Staaten wurde offensichtlich im Rahmen der Entwicklung der deutschen Stahlindustrie durch den einseitigen Kapazitätsabbau Ost zu einem Krisenmanagement für die Stahlindustrie West genutzt. Solidarität zwischen Ost und West auf einem der am härtesten umkämpfen Märkte ist nach wie vor eine Illusion. Das unseriöse Angebot von Thyssen, unter Beibehaltung der technologischen Lücke am Standort und bei massivem Arbeitsplatzabbau die Produktion weiterzuführen, belegt nachdrücklich, daß von der deutschen Stahlindustrie eine gesamtdeutsche Verantwortung nicht erwartet werden darf. Bezeichnend nur, daß die Treuhandanstalt danach wie nach dem rettenden Strohhalm greift. Lassen Sie mich auf einige gravierende Defizite des Umstrukturierungsprozesses hinweisen. Sollen die Ziele des Weißbuchs der Europäischen Kommission zu Beschäftigung und Wachstum ernsthaft umgesetzt werden, ist eine Veränderung des ordnungspolitischen Rahmens, insbesondere der Rolle der öffentlichen Hand, zwingend erforderlich. Wir sind uns allerdings darüber im klaren, daß die gegenwärtige Beschlußlage der EU eine zeitweilige Führung der EKO-Stahl AG als Staatsunternehmen nahezu ausschließt. Eine Chance, wie sie z. B. Salzgitter bekommen hat, das fast 40 Jahre als Staatsbetrieb existierte und erst 1989 und immerhin mit einem Gewinn für den Bundeshaushalt von 2,5 Milliarden DM für den Bund privatisiert wurde, ist heute unter den genannten Rahmenbedingungen der EU nicht möglich. ({0}) - Das müßte man sicherlich gegeneinander abwägen, aber ein Gewinn ist trotzdem noch herausgekommen. ({1}) Gerade deshalb liegt hier die große Verantwortung der Bundesregierung, sich nachdrücklich für eine Änderung einzusetzen. Erneut erweist sich aber auch am Beispiel EKO, daß eine alleinige Orientierung des Treuhandauftrags auf Privatisierung sowie die Unterstellung unter das Finanzministerium sanierungsbezogenen und regional abgestimmten Entwicklungskonzeptionen wenig Raum läßt. Wo liegen nach Auffassung der PDS/Linke Liste mögliche Lösungsvarianten? Wir fordern Sie auf, diese ideologiefrei und im Interesse der Betroffenen gründlich zu prüfen. Erstens. Wir stimmen mit Ihnen darin überein, daß es um Neuverhandlung und wiederholte Prüfung der Angebote und Absichten aller ehemaligen potentiellen Interessenten an der EKO-Stahl AG ohne Reduzierung auf einen Partner geht. Zweitens. Eine Beschränkung auf ernsthafte und potente Partner aus dem industriellen Bereich würde allerdings möglichen Optionen zur Entwicklung des Standorts zuwiderlaufen. Es ist dringend zu prüfen, ob nicht beispielsweise Banken und Versicherungen im Rahmen ihrer definierten sozialen Verantwortlichkeit eine maßgebliche Rolle im Privatisierungs- und Umstrukturierungsprozeß spielen könnten. Das auch vor dem Hintergrund, daß im Gegensatz zur Metallhandelsgesellschaft oder dem Schneider-Imperium vor Ort in Eisenhüttenstadt die notwendige Kompetenz zur Unternehmensführung gegeben ist. Drittens. In der Entscheidungsfindung ist ebenso zu überlegen, ob am Standort ansässige Unternehmen den Kernbereich eines möglichen Übernahmekonsortiums darstellen könnten. Nach unserer Kenntnis spielten derartige Überlegungen, die, nebenbei bemerkt, auch ein Bestandteil der oft postulierten Mittelstandspolitik wären, im unmittelbaren Vorfeld der Entscheidung für Riva eine Rolle. Die PDS/Linke Liste ist sich sehr wohl darüber im klaren, daß der Erhalt des Standorts eine parteiübergreifende Willensbildung erfordert.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin - Dr. Dagmar Enkelmann ({0}): Mein letzter Satz. - Trotz Wahlkampf 1994 sollten die Interessen und Belange der Menschen im Vordergrund stehen. Daran ist die PDS/Linke Liste im Bundestag und im Landtag Brandenburg interessiert. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Abgeordnete Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir könnten uns die Sache leichtmachen, wenn die Lage nicht so ernst wäre. Schließlich haben wir seit langem davor gewarnt, unter allen Umständen zu privatisieren und andere Möglichkeiten der Sanierung schon im voraus zu verwerfen. Schließlich haben wir vor dem nicht gerade seriösen Investor Riva bereits am 6. Dezember 1991 gewarnt, als mein Kollege Weiß in einer Aktuellen Stunde zum Standort Henningsdorf geredet hat. ({0}) - Sie hätten lieber die Bonität prüfen sollen, Graf Lambsdorff, als hier Zwischenrufe zu machen. Dann hätten wir uns bestimmt manches ersparen können. ({1}) Schließlich haben wir von Anfang an gesagt, daß die Fortsetzung der Monostruktur Stahl in der Region Eisenhüttenstadt der falsche Weg ist, daß ökologischer Strukturwandel auch hier und sofort in Angriff genommen werden muß; aber wir haben auch den Willen der Region, den Willen der Belegschaft zur Erhaltung des Stahlstandortes Eisenhüttenstadt zur Kenntnis genommen, akzeptiert und dann auch mitgetragen. Es reicht jetzt nicht aus, auf alten Fehlern herumzureiten. Jetzt muß es darum gehen, den 3 000 Stahlwerkern eine neue Perspektive zu schaffen. Jetzt ist die Treuhand wieder in der Pflicht, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Ein neuer Investor muß gefunden werden, der das Werk in einen sinnvollen Zusammenhang einbinden kann. Bis dahin ist es an der Treuhand, alles zu tun, um die angelaufene Sanierung energisch voranzubringen. Ein scheibchenweises Abwickeln von EKO-Stahl dürfen wir nicht zulassen. Das Angebot der Belegschaft, das Stahlwerk in eigener Regie weiterzuführen, mag auf den ersten Blick als Ausweg erscheinen; aber es ist wohl mehr ein Akt der Verzweiflung. Ob es uns paßt oder nicht: Ohne einen starken Investor, der Marktnähe, Kapital und einen leistungsstarken Konzernverbund mitbringt, ist ein dauerhaft tragfähiges Konzept für EKO nicht zu verwirklichen, zumal die Treuhand bisher MBO-Unternehmen nicht sonderlich unterstützt hat und viele ostdeutsche Existenzgründer momentan vor dem Aus stehen. Aber EKO zeigt auch ein anderes trauriges Kapitel, das ich hier nicht verschweigen möchte: Ein Ministerpräsident, der ständig um seinen eigenen Arbeitsplatz kämpfen muß, ist offensichtlich überfordert, auch noch für Arbeitsplätze im Land zu kämpfen. ({2}) Auch das kommt dabei heraus, wenn eine Staatskanzlei, wenn die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit mehr mit der Imagepflege des Ministerpräsidenten beschäftigt sind als mit der Standortwerbung des Landes, ({3}) wenn ein Ministerpräsident mehr an der Legendenbildung arbeitet, als in die Geschichte einzugreifen. Ich glaube, Herr Stolpe, die Stahlwerker von EKO werden Ihnen dafür keinen Orden an die Brust heften. Die Zeiten sind wohl vorbei! Ich bin ganz gespannt auf die Protokolle des Verwaltungsrates, die vielleicht einmal das ans Licht bringen, was Sie als Ministerpräsident wirklich geleistet haben, wenn Sie immer betonen, daß Sie die Interessen der Ostdeutschen so sehr vertreten. Sie stehen damit bei vielen im Wort, denen Sie Versprechen gegeben haben. Das, was wir bisher wissen, ist, daß der Verwaltungsrat die Tischvorlagen des Vorstandes sang- und klanglos passieren lassen und abgesegnet hat. Auch das werden wir uns noch zu Gemüte führen dürfen. Aber interessant ist auch die Arbeitsteilung in der SPD. Wir hätten hier eher Herrn Clement von der Düsseldorfer Staatskanzlei hören sollen. Er nörgelt nämlich an dem ganzen Sanierungskonzept mit dem Argument herum, an der Ruhr gäbe es demnächst weitaus fortschrittlichere Technologien. Was will er uns damit sagen? Daß es im Westen besser und moderner zugeht, daß die Ostbetriebe nicht gegen Westunternehmen konkurrieren können, daß man EKO-Stahl besser gleich fallenlassen sollte oder daß diese moderne Technologie besser in Eisenhüttenstadt eingeführt werden sollte? Wenn man das generelle Treuhand-Konzept der schnellen Hauruck-Privatisierung anschaut, dann wird klar, daß die Erfolgsaussichten im Stahlsektor dabei äußerst gering sind. Was wäre wohl aus der westdeutschen Stahlindustrie, was wäre wohl aus Arbed Saarstahl geworden, wenn man mit ihnen so umgesprungen wäre wie jetzt mit Henningsdorf, Riesa und Eisenhüttenstadt? In Deutschland wird man nach wie vor mit zweierlei Maß gemessen. Teilen ist in Deutschland eine unverbindliche Absichtserklärung. Meine Damen und Herren! Es ist auch ein schlechter Witz, daß Minister Rexrodt rund 10 Milliarden Stahlsubventionen für Spanien und Italien zugestimmt hat und die vergleichsweise geringfügigen 800 Millionen für EKO jetzt in den Sternen stehen Werner Schulz ({4}) sollen. Jetzt zeigen plötzlich alle Betroffenen außer Emilio Riva große Einigkeit, und vor allem die Treuhand demonstriert Zuversicht, sieht jetzt wieder alle Optionen offen. Wir werden Sie nicht an Ihren Hoffnungen messen, sondern an Ihren Taten. Vor allem die Bundesregierung und die Treuhand stehen jetzt in der Pflicht. Bisher war der Erhalt industrieller Kerne nur Gerede. Jetzt gilt es tatsächlich einmal, einen industriellen Kern zu erhalten. Ich bin gespannt, wie Sie sich dafür einsetzen. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt, das Wort.

Dr. Günter Rexrodt (Minister:in)

Politiker ID: 11002759

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was sind die Fakten? Da wird ein Vorzeige- und Prestigebetrieb der ehemaligen DDR, in wesentlichen Teilen unvollendet, als industrieller Kern mit Steuermitteln über mehr als vier Jahre am Leben gehalten. Da wird intensiv nach Privatisierungslösungen gesucht, in Deutschland und weltweit. Da wird klug und zäh verhandelt. Dann wird letztlich ein Investor gefunden und ein Vertrag gemacht. Dann wird in Brüssel, gegen Widerstände aus Deutschland, Dänemark, Großbritannien und anderswoher, über Monate in Nachtsitzungen um Fördermodelle gerungen. Dann haben wir eine Lösung und glauben, das Problem sei damit beseitigt. Dann springt der Investor ab - aus verschiedenen Gründen, maßgeblich aber aus solchen, die aus dem Widerstand gegen sein Konzept, das auch von der Bundesregierung getragen wurde, resultieren. Dann stellt man sich hin, stempelt die Bundesregierung ab und sagt, daß sie die Schuld für das Scheitern der Privatisierung von EKO trage. Dies wird, wie ich meine, in dem Wissen getan, daß es anders war. Den Menschen in der Region und der Bundesregierung ist gleichermaßen ein Tort angetan worden, und zwar, wie ich sagte, aus den verschiedensten Gründen. Ich werde das noch erläutern. Da werden Dolchstoßlegenden geschmiedet: Herr Clement gibt sich dafür her, Riva einen Masterplan zu unterstellen, nach dem er EKO vernichten und die Stahlindustrie in Deutschland, gerade in dieser Region, besonders schädigen wollte. Wie soll man das Verhalten der nordrhein-westfälischen Landesregierung begreifen, die sich in ihrer Position, was EKO angeht, immer in der Nähe der nordrhein-westfälischen Stahlindustrie bewegt hat. Und die hat aus Gründen, die wir alle nachvollziehen können, gar nichts davon gehalten, daß in Eisenhüttenstadt ein integrierter Stahlstandort entsteht oder erhalten wird. Ich verstehe das nicht. Ich halte das für unfair. Ich halte das für Polemik, die den Menschen in der Region schadet und ihre Hoffnungen zunichte macht. ({0}) Es hat im übrigen keinen Zweck, die Ursachen im Detail aufzubereiten, die dazu geführt haben, daß Riva abgesprungen ist. Die Wahrheit aber wird man schon sagen dürfen. Es gibt da eine Gemengelage; das gebe ich zu. Ich gebe auch zu - ich habe das sehr genau beobachtet -, daß Herr Riva sicherlich eine Reihe von Ungeschicklichkeiten begangen hat und daß er möglicherweise - ich weiß es nicht, aber es spricht einiges dafür - andere betriebliche Prioritäten in Italien gesehen hat. Faktum aber ist auch - das ist nicht etwas, was mir von Dritten vermittelt worden ist, sondern was ich in Eisenhüttenstadt selbst habe glaubhaft studieren können und im Gespräch mit den Rivas gemerkt habe -: Die Atmosphäre der Feindschaft und Aggression, die ihm von maßgeblichen Leuten in Eisenhüttenstadt entgegengebracht worden ist, war maßgeblich mit dafür verantwortlich, daß Riva aus dem Vertrag ausgestiegen ist, daß er das Handtuch geschmissen hat. Das dürfen wir nicht vergessen machen, meine Damen und Herren. Wer hat in Eisenhüttenstadt mitgespielt? Das sind Teile des Vorstands - vornehmlich ein ganz bewußter Herr -, Teile des Aufsichtsrats und Teile des Betriebsrats - das Ganze -ich habe es selbst gespürt - in mehreren Veranstaltungen. Es war eine Atmosphäre von Ablehnung, von Skepsis und von Desavouierung. Daß es der Mann hingeschmissen hat, ist für mich kein Wunder, aber ein Unglück. Meine Damen und Herren, mit Riva wäre ein Konzept eines integrierten Stahlwerkes mit Eisen und Stahl, mit einer neuen Warmwalzstufe und dem Kaltwalzwerk verwirklicht worden. Riva als Investor - das wird uns in der Zukunft noch beschäftigen - wäre in der Lage gewesen, die Stillegung zu erbringen, die notwendig ist, um den Segen von Brüssel für die vielen Millionen Subventionen zu bekommen. Ich möchte von hier aus, meine Damen und Herren, mit allem Nachdruck für die Bundesregierung erklären, daß wir weiter im Interesse der Region und der Menschen an Lösungen arbeiten und daß unsere allererste Priorität nach wie vor ein integriertes Stahlwerk mit Warmwalzwerk und mit Kaltwalzwerk ist. Das hat unsere Priorität. Ich sage das ohne Wenn und Aber. Wir wünschen uns und suchen einen solchen Investor. Wenn ich in einem Nebensatz hinzufüge, daß unsere Karten nicht gut sind und die Ausgangslage schlechter geworden ist, dann stellt das in keiner Weise die Ernsthaftigkeit, mit der wir an dem interessiert sind, was ich soeben geschildert habe, in Abrede. Ich habe Zweifel, daß uns das gelingt. Aber wir werden mit Nachdruck daran arbeiten, und es hat unsere Priorität. Da es schwer wird und da auch andere das wissen, aber nicht zugeben, werden schon wieder die Stimmen laut, die am liebsten den Traum des Herrn Dr. Döring verwirklichen würden, nämlich ein Stahlwerk in Staatsbesitz möglichst auf Dauer, ein Platz für ihn und seine Mannen und die Warmwalzstufe mit Steuermitteln finanziert. So denkt man sich das. So glaubt man etwas für die Menschen und die Region zu tun. Ich frage mich, für wen man da etwas tut. ({1}) Ich erkläre für die Bundesregierung, daß wir von staatlicher Seite bereit sind, Übergangslösungen und Mischformen zu finden und uns Zeit zu nehmen, um eine sinnvolle Lösung im Interesse der Menschen zu ermöglichen. Aber ich erkläre genauso, daß ein Staatsbetrieb auf Dauer, der im übrigen von nur wenigen gewollt wird, jeden Tag Verluste machend, nicht in Betracht kommen kann. Das wäre ein Verzicht auf die Umstrukturierung der Region. Das wäre für die Menschen, die dort leben, mittel- und langfristig Hoffnungslosigkeit. Wir brauchen einen Investor. Das Herangehen an die Suche des Investors soll von der Bundesregierung sehr flexibel und sehr modifiziert begleitet werden. Das ist unsere Position. Wer irgendwelche Pamphlete vorliest und der Bundesregierung unterstellen will, sie habe nie ernsthaft Interesse an EKO-Stahl gehabt, der sagt wissentlich die Wahrheit. ({2}) - Die Unwahrheit. - Daran können Sie sich aufhängen! Das ist ein solcher Quatsch und ein solcher Unsinn. ({3}) Die Bundesregierung hat mit der Treuhandanstalt in Brüssel und anderswo mit Nachdruck für das Konzept gekämpft. Das Konzept ist kaputtgemacht worden, zu einem Gutteil von jenen, die gegen die Bundesregierung und ihre Konzeption waren. Deshalb darf die Schuld nicht bei uns, sondern sie muß da abgegeben werden, wo sie hingehört. Aber es kommt auf die Zukunft an; das ist das Entscheidende. Wenn dann noch gesagt wird, die Bundesregierung habe versagt, als es darum ging, ein stahlpolitisches Konzept vorzulegen, dann sage ich Ihnen: Das stahlpolitische Konzept kann begleitet werden und wird begleitet von der Bundesregierung; es muß aber von der Industrie erarbeitet werden. ({4}) Sie ist dafür verantwortlich, daß dieses Konzept bis heute noch nicht vorliegt. Sie muß an diesem Konzept ganz konsequent arbeiten. Wenn wir es begleiten wollen, dann in dem Sinne, daß wir uns dafür einsetzen, daß die Maßnahmen zugunsten der deutschen Industrie in Brüssel nachhaltig unterstützt werden. EKO hätte aus Sicht der Bundesregierung in diesem Konzept einen guten Platz gehabt - mit Riva. EKO wird einen Platz auch mit einem anderen Investor haben. Dafür treten wir ein, und ich sage Ihnen: wenn es ein sinnvolles Konzept ist, mit großem Nachdruck. Wir stehen zu den Menschen, und wir stehen zu dieser Region. Wir haben das in der Vergangenheit getan und werden das auch in der Zukunft tun. Sie, meine Damen und Herren, die Sie mit schnellen Schuldzuweisungen an die Adresse der Bundesregierung kommen, sollten diese Schuldzuweisungen bei Leuten abgeben, die Ihnen viel näher stehen, und nicht bei denen, die für die Menschen in dieser Region gekämpft haben. ({5})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Dr. Manfred Stolpe. Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 700 km von hier, im äußersten Osten Deutschlands, muß sich jetzt deutsche Einheit bewähren. Die Zukunft einer ganzen Region ist in Gefahr. Ostdeutschland schaut auf das EKO, schaut auch auf dieses Haus, schaut auf die Bundesrepublik Deutschland. Werden wir in der Lage sein, den wirtschaftlichen Systemwechsel vom Plan zum Markt an dem klassischen Exempel Eisenhüttenstadt zu bewältigen? Denn EKO Eisenhüttenstadt ist eine Retortenstadt, nur für ein Werk gebaut. Gigantomanie und Monostruktur sind hier in krassester Form anzutreffen - eine extrem schwere Umgestaltungsaufgabe, die dennoch seit fast vier Jahren von allen Beteiligten entschlossen angegangen wird. Belegschaft, Betriebsrat und Gewerkschaften haben im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit einen Personalabbau von 11 000 auf 3 000 Mitarbeiter mitgetragen. Ihre Verbundenheit mit dem Werk, ihre Geduld und ihre Belastbarkeit sind bewundernswürdig und verdienen unsere Anerkennung. ({1}) Diese Menschen sind bereit, zur Erhaltung des Standortes weiter Opfer zu bringen. Die Landesregierung hat die Region Eisenhüttenstadt zum Entwicklungsschwerpunkt gemacht. Viele Maßnahmen sind nötig, viele auch schon eingeleitet. Die ganze Region muß umstrukturiert werden. EKO muß als industrieller Mittelpunkt erhalten bleiben. Ausgliederungen werden gefördert, Existenzgründer aus der Region werden umfassend unterstützt. Mit Arbeitsförderungsprojekten wird Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert. Wir träumen nicht von Unerreichbarem, sondern betreiben das Machbare. ({2}) Mittlerweile sind im direkten Umfeld schon 1 700 Arbeitsplätze entstanden - nicht geplant, entstanden! Doch alles, meine Damen und Herren, hängt am Kern, nämlich am Stahlwerk. Deshalb gilt heute und für mindestens die nächsten zehn Jahre: Stirbt der Stahl, stirbt die Stadt. Wir wollen für die ganze mittlere Oder-Region ein zukunftssicheres Stahlwerk, ein integriertes Stahlwerk mit Warmwalzstufe. Alle Hoffnungen hängen daran. Wir haben es als aktive Aufbauhilfe Ost empfunden, daß dieses Vorhaben auch von der Bundesregierung und der Europäischen Kommission unterstützt wurde. In Eisenhüttenstadt ist nicht vergessen, daß sich Kanzler Kohl, Bundesminister Rexrodt, Präsident Delors und Kommissar van Miert zur Zukunftssicherung des Stahlstandortes Eisenhüttenstadt bekannt haben. Jetzt wird dort Glaubwürdigkeit geprüft. Mit Entsetzen erleben unsere Menschen, wie schnell mancher die Flinte ins Korn wirft, von kleinsten Lösungen redet und schon das Ende einer ganzen Region prophezeit. Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe ({3}) Ich appelliere eindringlich an die Bundesregierung, ihre Bemühungen fortzusetzen, und bin dankbar für die zwei Sätze, die Sie zum Schluß sagten, Herr Minister: Der Bund ist über die Treuhandanstalt Eigentümer des Stahlwerks Eisenhüttenstadt, ({4}) und der Eigentümer steht in der Pflicht. Von der Treuhandanstalt erwarten wir, daß die Sicherung und Sanierung des industriellen Kerns EKO fortgesetzt wird. Wir unterstützen die Privatisierungsbemühungen; denn Privatisierung ist in der Regel der beste Weg zur Wettbewerbsfähigkeit. Doch die Frage darf nicht heißen: Privatisierung oder Abwicklung? Selbst wenn sich kein Erwerber finden sollte, bleibt der Bund in seiner Eigentümerverantwortung. Wir haben kein Verständnis dafür, daß das Staatseigentum an EKO in manchen Äußerungen der letzten Tage weit zurückgewiesen wurde. EKO ist Bundeseigentum und muß es bis zu einer besseren Lösung bleiben. ({5}) Meine Damen und Herren, Riva hat sich anders entschieden. Das hat Ursachen, die in Italien liegen, und Anlässe, die in Deutschland lagen. Doch auch ohne Riva muß und wird EKO weiterleben. Wir stehen vor der nationalen Herausforderung, EKO nicht zu einem Schrotthaufen zu zerreden, sondern es zu einem wettbewerbsfähigen industriellen Kern zu gestalten. Der Italiener hat sich für Italien entschieden. Wir erwarten die Entscheidung der Deutschen für die deutsche Region Eisenhüttenstadt. Wir appellieren an die deutsche Stahlindustrie, EKO nicht als Störer, sondern als Partner der deutschen Stahlfamilie zu behandeln. Die Menschen am Stahlstandort Eisenhüttenstadt müssen erfahren, daß sie in Deutschland Platz und Perspektive haben. Die brandenburgische Landesregierung wird alles in ihren Kräften Stehende tun. Aber wir brauchen die Hilfe der deutschen Politiker und der deutschen Stahlindustrie für Eisenhüttenstadt. Machen Sie mit EKO eine wirklich gesamtdeutsche Stahlpolitik! Prüfen Sie die Möglichkeit eines Konsortiums der deutschen Stahlindustrie mit Eisenhüttenstadt! Nutzen Sie die besonderen Chancen einer gewachsenen und erhalten gebliebenen Zusammenarbeit mit Osteuropa in Eisenhüttenstadt. Wir müssen gemeinsam gerade an diesem Standort ein überzeugendes Modell des Systemwechsels vom Plan zum Markt schaffen. Wir müssen ein Signal gelungener Einheit geben. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Hermann Pohler, Sie haben das Wort.

Dr. Hermann Pohler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001731, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über die Zukunft der EKO-Stahl AG in Eisenhüttenstadt debattieren, sprechen wir über ein Unternehmen, das zu dem Bereich des sogenannten industriellen Kerns zählt. Eisenhüttenstadt sollte als Stahlstandort nicht nur erhalten, sondern modernisiert und ausgebaut werden. Mit dem Konzept der Riva-Gruppe wäre dies ohne Zweifel gelungen. Nachdem sich Riva überraschend und endgültig zurückgezogen hat, ist eine der größten Privatisierungen der Treuhandanstalt gescheitert. Die Treuhandanstalt hat in den vergangenen dreieinhalb Jahren rund 2 Milliarden DM für EKO-Stahl aufgewendet. Darin enthalten sind Eigenkapitalhilfen, Entschuldungen von Altkrediten, Verlustausgleich und Mittel für Investitionen. Schuldzuweisungen über den derzeitigen Zustand bewirken nun nichts mehr. Die Suche nach den Gründen für das Scheitern der Privatisierung bleibt letztendlich Spekulation. Entscheidend ist allein der Blick in die Zukunft, der Blick nach vorn. Der vor uns liegende Scherbenhaufen muß geräumt werden. Allein das Prinzip Hoffnung genügt nicht; dies wissen alle Beteiligten. Es gilt, Eisenhüttenstadt als exponierten Stahlstandort in Deutschland zu erhalten. Eine industrielle Alternativlösung kommt angesichts der Monostruktur in Eisenhüttenstadt nicht in Betracht. Die Chancen, die durch das Unternehmenskonzept, die Finanzierung und das Investitionskonzept sowie die Bewilligung der Mittel von Brüssel gegeben sind, müssen genutzt werden. Auch die deutsche Stahlwirtschaft ist jetzt aufgefordert, ihrer gesamtdeutschen Verpflichtung endlich nachzukommen. Angestrebt werden muß, daß nicht nur die Fortführung des EKO-Stahlwalzwerks Gegenstand der Priviatisierung wird. Angestrebt werden muß weiterhin, ein integriertes Stahlkonzept zu realisieren. In Betracht kommt nicht, EKO als Staatsbetrieb zu erhalten. Ich glaube, dies wäre für die neuen Bundesländer wirtschaftspolitisch das falsche Signal. ({0}) Wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß die Zeit drängt. Die Europäische Union wird den Status quo in Eisenhüttenstadt nicht unbefristet lange hinnehmen. Auch für die Menschen in der Region, die nun um ihren Arbeitsplatz bangen, deren Zukunft ungewiß ist, müssen alle Kräfte mobilisiert werden, möglichst bald einen neuen Investor zu finden. EKO-Stahl hat durchaus eine Zukunft. Noch mehr als zuvor sind jedoch massiver Einsatz, wirtschaftlicher Sachverstand, aber auch Kreativität und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, das Gebot der Stunde. Ein letztes Wort sei mir noch an die Mitglieder der SPD-Fraktion gestattet. Es ist nicht die Aufgabe von Bundesregierung oder Parlament, ein stahlpolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln. Marktwirtschaft heißt, daß solche Konzepte von Unternehmen zu gestalten sind. Aufgabe der Politik ist es, den gesamtwirtschaftlichen Rahmen hierfür zu schaffen. Einen solchen, im europäischen Konsens gestalteten Rahmen gibt es. Der Bundesregierung und der Treuhandanstalt ist für die bisherigen Bemühungen zur Privatisierung von EKO-Stahl durchaus Respekt zu zollen. Es ist gut, daß Einvernehmen darüber besteht, eine sichere Zukunft für EKO-Stahl nur mit einem starken industriellen Partner ermöglichen zu können. Dieser muß die notwendigen Investitionen im Rahmen der Regeln der Europäischen Union mittragén und sein Potential für die Vermarktung der Produkte einbringen. Das Ziel ist hochgesteckt. Wünschen wir uns gemeinsam, daß alle Beteiligten recht rasch zu einem guten Erfolg kommen. Danke schön. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Otto Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist offenbar üblich, zu sagen: Man darf nicht nach den Verantwortlichen suchen. Ich meine, daß zwei Sätze dazu sehr wohl notwendig sind. Sonst passiert nämlich genau dasselbe noch einmal, was mit EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt geschehen ist. ({0}) Die Feindseligkeiten, die es mit dem Investor Riva, der in Henningsdorf ein erfolgreicher und mit Ihnen gut zusammenarbeitender Investor geworden ist, gegeben hat, sind dort vom Betriebsrat, von der IG Metall ({1}) und von dem Vorstandssprecher, der der frühere Kombinatsdirektor war, ausgelöst worden. Daß der gerne eine staatliche Lösung weiterhin haben will, Herr Thierse, braucht einen nicht zu wundern. ({2}) - Herr Vogel, das erinnert mich alles lebhaft an die Situation der AEG, als sich 1980 ein großer englischer Konzern zur Zusammenarbeit mit der AEG in Frankfurt zusammenfinden wollte und nach einem Gespräch mit den zuständigen Herren der IG Metall erklärte: So nicht; wir fahren nach Hause; unsere Zusammenarbeitsabsichten sind beendet. Offensichtlich hat man in Eisenhüttenstadt nicht gesehen, daß dieses für längere Zeit, wenn nicht für lange Zeit, die letzte Chance war, dort ein integriertes Stahlwerk auf die Beine zu bringen. Ich finde das alles sehr schön, daß wir uns bemühen wollen. Wir unterstützen die Bemühungen und die Anstrengungen der Bundesregierung und der Treuhandanstalt. Aber, Herr Ministerpräsident, auch Ihre Rede hat doch wieder nicht die berechtigten Zweifel, die wir alle haben und die wir nicht aussprechen, zum Ausdruck gebracht: Dies wird so bald nicht gelingen. Wer, glauben Sie, wird denn ein Warmwalzwerk dort bauen? Wer soll denn ein Interesse daran haben? Sie fordern die westdeutsche Stahlindustrie auf. Verehrte Kollegen von der SPD, Herrn Rexrodt haben wir in seinem Kampf nicht nur in Brüssel, sondern auch gegen die NRW-Landesregierung unterstützt, die der westdeutschen Stahlindustrie dabei half, nichts für EKO-Stahl zu tun und alles zu verhindern. ({3}) Ihr Wirtschaftsminister in Düsseldorf war derjenige, der Herrn Rexrodt kritisiert hat und ihm Schwierigkeiten gemacht hat. Also, spielen Sie nicht mit gezinkten Karten. Die eine spielen Sie in Eisenhüttenstadt und die andere in Düsseldorf aus. So geht es nicht. ({4}) Ich halte es auch für falsch, daß wir Herrn Riva als nicht seriös bezeichnen. Herr Schulz, wollen Sie ihn auch in Henningsdorf noch aus dem Lande jagen? Was denken Sie überhaupt, wie wir mit Investoren umzugehen haben, die in die fünf neuen Bundesländer kommen, wenn sie so behandelt werden, wie das hier geschehen ist? Die Frage „Was wird aus EKO?" ist wohl sehr berechtigt. Das betrifft aber bitte nicht nur Stahl; das ist hier auch erwähnt worden. Herr Ganschow hat es erwähnt, und er hat völlig recht. Auch Sie, Herr Stolpe, haben von 1 700 neuen Arbeitsplätzen gesprochen; das stimmt. Aber wir wissen doch wohl alle: Wenn es um die Zusammenarbeit in einem anderen Bereich als einem integrierten Hüttenwerk geht, können Sie nie im Leben mehr die 2 300 Arbeitsplätze erhalten, die es jetzt noch gibt. Dann sind es bestenfalls noch 1 000 bis 1 300. Aber man darf seine berechtigten Zweifel ja nicht aussprechen. Man muß den Leuten vormachen, am Horizont sei alles wunderschön und rosarot. Spricht man seine Zweifel aus, Herr Ministerpräsident - da sitzt Ihr verehrter Pressesprecher; er war eben weg; er mußte Ihre Erklärung verbreiten; aber er ist wiedergekommen -, ({5}) dann heißt es, man äußere sich unverantwortlich. Nein, unverantwortlich haben sich die verhalten, die Riva weggejagt haben, und unverantwortlich verhalten sich die, die immer noch Illusionen erwecken und die Realitäten nicht auf den Tisch legen. Was heißt es denn, wir sollten die Genehmigungen, die in Brüssel gegeben worden sind, nutzen? Die sind verfallen, die sind für das Riva-Projekt gegeben worden. Für neue Subventionen brauchen Sie eine neue Genehmigung, und Sie müssen jemanden finden, der eine Kapazität von 900 000 t Stahl stillegt. Wollen Sie einmal sagen, wo Sie den auftreiben? Ich sage noch einmal: Wir unterstützen alles. Hans Apel ist ein tüchtiger Mann, und ich hätte ihn sofort als 21. Mann akzeptiert, weil ich ihn lange genug kenne. Aber kann man nicht verstehen, daß ein ausländischer Investor beim 21. Mann, einem Deutschen, einem Sozialdemokraten, der den Gewerkschaften nahesteht, Probleme sieht und sagt, da holen wir jemanden aus einem anderen Land - nicht einen Italiener; er hat von Belgien oder Luxemburg gesprochen -, um Hans Apel zu ersetzen? Als das losging, Herr Stolpe, habe ich vermißt, daß Sie aktiv geworden sind. Denn da zeichnete sich ab, was am Ende passieren würde. Sie haben gesagt: Wir wollen vom Plan zum Markt; aber auch EKO muß Staatseigentum bleiben. Meine Damen und Herren, EKO kann nur so lange StaatseiDr. Otto Graf Lambsdorff gentum bleiben, bis die Untersagungsverfügung aus Brüssel auf den Tisch des Bundeswirtschaftsministers kommt, weil jeden Monat Verlustübernahmen gezahlt werden müssen. Das wissen wir doch. Wir hängen in bezug auf Brüssel an einem seidenen Faden, auch beim bisherigen und gegenwärtigen Zustand. Wollen Sie eine zweite Auflage Salzgitter haben? Das ist eine Milchmädchenrechnung! Frau Enkelmann, wenn Sie glauben, daß das 2,5 Milliarden für den Bund erbracht hätte: Die zweite Auflage jenes Trauerdramas, das wir, Herr Urbaniak, mit Salzgitter erlebt haben, will ja doch wohl keiner haben. Seien wir bitte realistisch; bemühen wir uns, aber machen wir den Menschen nicht vor, wir hätten die Patentrezepte in der Tasche, mit denen wir das Stahlproblem Eisenhüttenstadt, möglichst auch noch über Nacht und ohne Subventionen und alles mit Schlagworten wie „vom Plan zum Markt" lösen könnten. Ich bin für „vom Plan zum Markt", Herr Ministerpräsident - das wissen Sie ganz genau -, aber ich bin nicht dafür, den Menschen dort irgend etwas vorzumachen. Ich habe am Hochofen bei EKO-Stahl gestanden und habe mir die Situation angesehen. Es ist verheerend, wenn dieses Unternehmen nicht weiterarbeiten kann. Es ist für die ganze Region verheerend. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Herbert Meißner, Sie haben das Wort.

Herbert Meißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002732, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum wiederholten Male diskutieren wir hier über die ostdeutsche Problematik, die im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt steht. Die Bundesregierung hat es mit ihrer Treuhandpolitik wieder einmal verstanden, in Negativschlagzeilen zu kommen, und das Fiasko, das wir heute bezüglich des Investors Riva bei EKO behandeln, belegt es ein erneutes Mal. Die Kommentatoren haben ein ergiebiges Thema gefunden; gleichfalls werden Wertungen und Schuldzuweisungen ausgesprochen, Schuldzuweisungen einer besonderen Art. Nationalistische Tendenzen der Bürgerinnen und Bürger von Eisenhüttenstadt oder die ablehnende Haltung des Betriebsrates und der Belegschaft der EKO gegen die ausländischen Investoren sind schuld daran, daß Emilio Riva den besonders auf ihn zugeschnittenen Vertrag nicht unterschrieben hat. Diese eigentlich ungeheuerlichen Vorgänge sind keine Einzelfälle. Wir haben gerade vor einer guten Stunde hier im Hause ähnliches behandelt. Neueste Meldungen zu alten Seilschaften aus den staatstragenden Personenkreisen der SED in der Vorstandsriege bei EKO können nur im Zusammenhang mit alten und neuen Seilschaften gesehen werden. Aber ich frage: Wer hat bis hier und heute den angeblichen Seilschaften zugearbeitet oder mit ihnen zusammengearbeitet? ({0}) Besonders möchte ich mich in diesem Fall an Herrn Ganschow wenden. Er ist ja Eisenhüttenstädter. Was hat er denn getan, um diese Seilschaften zu entfernen? Was hat Herr Rexrodt getan, als er damals noch bei der Treuhandanstalt war? Das ist hier doch die Frage. ({1}) Die Antwort, wer hier die Schuld trägt, müssen sich die Bürgerinnen und Bürger selbst geben. Aber zurück zum Vertrag: War dieser Vertrag das Papier wert, auf dem er geschrieben wurde? Diese Frage müssen wir uns stellen, wenn fünf Minuten nach zwölf der potentielle und von der Treuhandanstalt und allen anderen Beteiligten vorgesehene Investor aus seiner bisherigen Zustimmung eine Ablehnung macht. Ich erinnere daran, daß ich mich von dieser Stelle beim Wirtschaftsminister Rexrodt für seinen Einsatz um den Standort Eisenhüttenstadt bei den Verhandlungen in Brüssel bedankt habe. Dies gilt auch heute noch. Doch jetzt wird klar, daß der besondere Zuschnitt der ausgehandelten Quoten und Investitionsbeihilfen nur auf einen Investor die nicht richtige Vorgehensweise war. Im weiteren möchte ich hier an die von der SPD geforderte Stahlkonferenz erinnern. Sie scheint mir wichtiger denn je. Wir müssen uns endlich Klarheit verschaffen, mit welchen Prioritäten wir diesbezüglich vorgehen wollen. An dieser Stelle möchte ich auf die prekäre Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland hinweisen. Die Nettoarbeitslosigkeit von über 30 % spricht Bände. Von ehemals 12 000 Mitarbeitern bei EKO sollen 2 300 zunächst erhalten bleiben, dies aber nur, wenn bei EKO ein Warmwalzverfahren oder, noch besser, das neueste Dünnbrammverfahren installiert wird. Doch sollte in Eisenhüttenstadt nur die Minimallösung mit dem Erhalt des gerade mit Steuergeldern modernisierten Kaltwalzwerks möglich sein, dann bleiben von den 12 000 doch nur noch 900 Arbeitsplätze übrig. ({2}) - Ja, so ist es. Das ist besonders bedauerlich für die Betroffenen, Herr Graf Lambsdorff. Hans Apel hat keine leichte Aufgabe übernommen. Es müssen alle Möglichkeiten zur Rettung der ostdeutschen Produktionsbereiche ausgelotet werden. Wenn ich hier und heute an die Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erinnere, denke ich nur an Salzgitter - wir haben soeben davon gesprochen - und an Saarstahl. Diese Gedanken müssen in dieser schweren Zeit ganz einfach möglich sein. Eine Konsortiallösung und ein weiterhin gesamtstaatliches Sanierungskonzept für eine nach oben möglicherweise offene Übergangszeit sind Überlegungen wert. Ich werde als ostdeutscher Abgeordneter nicht müde werden, den Gedanken der Solidarität im Nachwendedeutschland einzufordern. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern, es muß ganz einfach möglich sein, daß nicht nur an Ruhr und Saar, sondern auch an der Oder Stahl gekocht wird. Danke schön. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Erich Fritz.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Wir haben in unterschiedlichen Debatten die Zukunft von EKO diskutiert. Wir haben an verschiedenen Stellen auch die Widersprüchlichkeit, die in dieser Politik von Anfang an steckte, klargemacht. Der Spagat, den der Wirtschaftsminister in der Auseinandersetzung in der westdeutschen Stahlindustrie und in Brüssel hat vollziehen müssen, war nicht einfach. Um so wichtiger ist es, noch einmal festzuhalten, daß das Konzept, das schließlich gefunden worden ist, bei allem Zähneknirschen der Stahlindustrie im Westen ein tragfähiges Konzept hätte werden können. Es hilft jetzt den Betroffenen und der Standortdiskussion bei EKO nichts, wenn wir das SchwarzePeter-Spiel machen. Und sicher, Herr Lambsdorff, kann man es auch nicht auf die Arbeitnehmerseite allein projizieren, daß dieses Konzept gescheitert ist. Denn solche Diskussionen werden dann auf den Rücken der Beschäftigten ausgetragen und schaffen keinen einzigen Arbeitsplatz. Richtig bleibt aber, daß nicht alles von den Verantwortlichen getan worden ist, um erfolgsorientiert an die Verhandlungen über die Umsetzung des Konzeptes zu gehen. Vielmehr ist der Eindruck entstanden, daß es dort viele gibt, die gern weiter einen Zustand gehabt hätten, den sie gewohnt waren, und daß das Kombinatsdenken in den Köpfen so stark war, daß man sich davon nicht verabschieden wollte, vielleicht auch deshalb, weil das allmähliche Zugrundegehen eines Standortes für diese Personen immer noch interessanter war, als in ein neues Konzept einzutreten. Wenn in der SPD vorhin immer gesagt wurde: Ja, wer hält den denn im Amt?, dann muß ich bei dieser Gelegenheit sagen: Es gibt Bundesländer, in denen einem eine bestimmte Art der Vergangenheitsbewältigung vorgemacht wird. Dann entstehen solche restaurativen Strukturen leichter als woanders. ({0}) EKO hat nur mit privaten Investoren eine Zukunft. Weder das Land, auch wenn es in der Gefahr ist, noch die Bundesrepublik insgesamt hat die Chance und hätte nur den geringsten Anlaß, aus EKO einen Staatsbetrieb zu machen. Wir wissen aus leidgeprüfter Erfahrung, daß dies zu nichts führt. Das heißt allerdings gleichzeitig, daß es ein solches Gesamtkonzept, wie es eingefordert wird, nicht geben kann. Denn dieses Konzept hieße schlicht und einfach, daß das, was jetzt nicht mehr vorhanden ist, nämlich Kapazität zum Abbau innerhalb eines Konzepts, auf irgendeinem Weg herbeigeführt werden müßte. Nennen Sie mir den Betrieb, der dazu bereit wäre und diese Entscheidung vor seiner Belegschaft begründet und nachvollziehbar darstellen könnte. Ich sehe eine solche Möglichkeit nicht. Deshalb ist auch die Frage zu beantworten, ob denn nicht das, was im Ruhrgebiet an Erfahrungen da ist, an Abläufen nachvollziehbar ist, was auch an Negativbeispielen dort aufgeführt werden kann, hier erstmal studiert werden muß. Denn ein großer Problembereich der Umstrukturierung im westdeutschen Stahl war doch, daß zu häufig die Politik Strukturveränderungen behindert hat ({1}) - natürlich, Herr Urbaniak, das ist die Geschichte Ihrer Politik in Nordrhein-Westfalen -, ({2}) weil man sich nicht getraut hat, Umstrukturierung zu betreiben, und weil man es in Kauf genommen hat, die Folgen unterbliebenen Strukturwandels hinterher um so teurer zu bezahlen, auch mit noch höheren sozialen Folgelasten. Deshalb ist das erste Gebot jetzt, daß das, was private Investoren anbieten, auch an Teillösungen, ernstgenommen wird und daß dann das Land im Zusammenwirken mit der Bundesrepublik und mit Europa alles tut, um eine aktive Strukturpolitik zu machen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Es gibt keine tragfähige Lösung außerhalb der Möglichkeit, alle Impulse, die jetzt angeboten werden, für einen neuen Ansatzpunkt fruchtbar zu machen. Danke schön. ({3})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Wolfgang Weiermann, Sie haben das Wort.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Rexrodt, wenn es denn wahr ist, daß einige Leute im Management des Unternehmens aus dem Bereich der alten Seilschaften verhindert hätten, daß es zu einem Zusammenschluß mit Riva gekommen wäre: Warum habt ihr sie aus dem Bereich der Verantwortung nicht rausgeschmissen, verdammt noch mal? ({0}) - Ich will Ihnen etwas sagen: Es ist schon eine Frechheit, zu sagen, daß die Mitbestimmung, etwa die Montan-Mitbestimmung, einen Zusammenschluß verhindert hätte. Andersherum wird ein Schuh daraus, meine Damen und Herren. Es ist stets und ständig durch die Treuhand und durch Vertraute von Riva an der Montan-Mitbestimmung vorbeigearbeitet worden. ({1}) Das ist die Tatsache in den letzten Jahren. Ich habe erst heute morgen noch ein Gespräch mit dem Betriebsratsvorsitzenden gehabt. Auf der TriWolfgang Weiermann büne sitzen eine Reihe von Menschen, die heute extra dafür angereist sind, mit denen ich auch heute noch ein Gespräch geführt habe. Es ist in der Tat nicht wahr, daß der Betriebsrat nicht zu Gesprächen bereit gewesen wäre. Der Betriebsrat hat nie von sich aus die Forderung gestellt, mit Riva nicht zusammenarbeiten zu wollen. Es ist nicht wahr, daß die IG Metall nicht bereit gewesen wäre, in dem Falle des neutralen Mannes weiter zu überlegen. Ich wehre mich dagegen, wenn die, die heute davon betroffen sind, Arbeitsplätze zu verlieren, zu ihren eigenen Tätern gestempelt werden. Das kann doch in der Tat nicht wahr sein. ({2}) Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle deutlich machen: Die SPD-Bundestagsfraktion hat seit Jahren eine längerfristige Rahmenplanung angefordert, eine längerfristige Perspektive für die deutsche Stahlindustrie insgesamt. Wir leben nicht einzeln, jeder für sich, sondern wir brauchen eine Stahlkonzeption der Bundesregierung, mit der eine Rahmenplanung geschaffen wird, damit es für die Stahlindustrie in Deutschland wieder eine Zukunft gibt, in der sie arbeiten kann. ({3}) Das ist das, was wir gegenwärtig einklagen. Hätte man nicht in bezug auf EKO drei bis vier Jahre vertan und EKO in solch eine Stahlkonzeption eingeplant, dann stünden wir heute nicht vor dem Scherbenhaufen Ihrer Politik. ({4}) Lassen Sie mich noch eines hinzufügen. Ich mache das heute noch einmal, aber nicht, um Streit mit Ihnen zu bekommen, sondern um deutlich zu machen, daß in den letzten Jahren, ohne daß die Bundesregierung eingeschritten ist - sie hat immer zugestimmt -, 135 Milliarden DM an Subventionen in Form genehmigter nationaler Hilfen in andere Bereiche der Europäischen Gemeinschaft geflossen sind. Das ist natürlich mit Zustimmung des jeweiligen deutschen Bundeswirtschaftsministers geschehen, zuletzt auch mit Zustimmung des Herrn Rexrodt. Das ist doch die Wahrheit. Hat es denn nicht mit Substanzverlust, mit finanziellem Substanzverlust der deutschen Stahlindustrie zu tun, wenn sie in diesem Wettbewerb, der keiner ist, an den Rand des Geschehens gedrückt wird und den Wettbewerb nicht mehr aushalten kann? ({5}) Hat eine mangelnde finanzielle Grundlage, haben fehlende finanzielle Rücklagen nicht auch damit zu tun, wie es mit der Stahlindustrie - auch und besonders mit der in Ostdeutschland - weitergeht? In den letzten Jahren sind allein an Ilva in Italien mehr als 40 Milliarden DM geflossen! ({6}) Und hier in der deutschen Stahlindustrie hat man keine finanziellen Rücklagen, um neue Technologie ohne weiteres anpacken zu können. Wenn ich mir den Kreislauf zu Ende denke, wird mir angst und bange, meine Damen und Herren, sollte diese Politik für die deutsche Industrie, für den deutschen Stahl so weitergehen, wie sie bisher betrieben wurde. ({7}) Was machen wir eigentlich im Wirtschaftsausschuß des Bundestages? Wie oft haben wir auf unsere gemeinsamen - ich betone es noch einmal -, auf unsere gemeinsamen Beschlüsse und Empfehlungen an dieser Stelle hingewiesen! Sie wissen es, Herr Rexrodt. Wir haben gesagt: Warum stimmen wir zu? Können wir nicht einmal in der Europapolitik, in der Politik des Ministerrates deutlich machen, daß wir Subventionen in anderen Bereichen dann nicht zustimmen, wenn die Belange der deutschen Stahlindustrie nicht genügend Berücksichtigung finden? Warum machen wir das denn nicht einmal? ({8}) Warum machen wir nicht deutlich, daß auch bei uns Arbeitsplätze erheblich in Gefahr geraten sind?

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten.

Wolfgang Weiermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002447, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Wir brauchen eine Konzeption, und ich hoffe, daß wir, wenn es denn nicht anders geht, zusammen mit gutwilligen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen, fraktionsübergreifend, hier einen Antrag auf den Tisch legen, damit es mit der deutschen Stahlindustrie wieder aufwärtsgeht. Ich sage ein herzliches „Glückauf" ! ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich muß zwei geschäftsleitende Bemerkungen machen. Erstens. Bei den Aktuellen Stunden, in denen wir nur fünf Minuten Redezeit haben, ist eine Minute Überziehung natürlich schon eine Menge, auch im Blick auf die anderen Kollegen. Zweitens. Unsere neue Sitzanordnung ist etwas verführerisch. Deshalb darf ich sehr indirekt formulieren und die Kolleginnen und Kollegen, die am Rednerpult stehen, bitten, die Anrede sowohl in Richtung des Bundesrates als auch in Richtung der Regierung vielleicht in einer Form zu wählen, daß weder auf der Bundesratsbank noch auf der Regierungsbank der Versuchung unterlegen wird, von dort aus per Zuruf zu antworten. ({0}) Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Ruprecht Vondran.

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich rate zur Nüchternheit. Das vor wenigen Tagen gescheiterte EKO-Konzept hatte von Anfang an drei Schwachstellen. Der Standort Eisenhüttenstadt an der deutschpolnischen Grenze, fernab von nennenswerten schiff19642 baren Wasserwegen und weit abgelegen von den großen Verarbeitungszentren, stellte Betriebswirte und Techniker vor die schwere, ja, fast unlösbare Aufgabe, dort kostendeckend Stahl zu produzieren. Weiter: Parallel zu Planungen in Eisenhüttenstadt - auf Steuerzahlerkosten waren Breitbandkapazitäten neu aufzubauen - laufen andernorts, wie wir gehört haben, quälende Bemühungen, solche Anlagen stillzulegen und zu verschrotten. Schließlich führen seit langem vor allem verstaatlichte europäische Unternehmen mit öffentlichem Geld einen Verdrängungswettbewerb gegen die privaten deutschen Werke. Der Fall EKO war ihnen hochwillkommen, um gegen das Subventionsverbot des Montanvertrags weitere 12 Milliarden an Beihilfen durchzusetzen. Des einen Freud, des anderen Leid. Gegen diese Fakten stehen die Notwendigkeiten vor Ort in Ostdeutschland, die ich ebenfalls nicht übersehen möchte. EKO ist der wirtschaftliche Kern einer Region an der Oder. Die Arbeitslosigkeit ist bereits heute erschreckend hoch - 30 % sind genannt worden -, und Eisenhüttenstadt ist ein sozialpolitisches Spannungsfeld. Was tun? Ich plädiere erneut dafür, die Probleme zu trennen. Wir müssen den Stahlkern von EKO sanieren, so gut es nur irgend geht, und wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich im Raum Eisenhüttenstadt, also der Region zugewandt, neues wirtschaftliches Leben jenseits von Stahl entwickeln kann. So schmählich und wohl auch dürftig bemäntelt - Graf Lambsdorff, ich bin da anderer Meinung als Sie; Sie haben die Ehrenrettung für Herrn Riva versucht - der Abgang von Riva war, ergibt sich doch auch eine neue Chance. Auch das muß man in diesem Kreis betonen. Etwas Optimismus gehört ja wohl auch zur Politik. Mitten in der Misere sehe ich an einigen Stellen sogar etwas mehr Licht als noch vor Monaten. Die Stahlkonjunktur hat angezogen. Das könnte jedenfalls etwas mehr Luft für neue Lösungen geben. Zwar dauern die Verteilungskämpfe an, aber sie haben nicht mehr ganz so schlimme Wirkungen. Und weiter: Die Zahl der Schultern, die mittragen, könnte sich vergrößern. Als die letzte Entscheidungsrunde „Riva oder Alternative" lief, mußten sich mehrere große Stahlunternehmen aus der Diskussion schlichtweg abmelden. Zwei hatten unter schwierigsten Bedingungen gerade fusioniert und waren vor allem mit eigenen Sorgen beschäftigt. Ein anderes Unternehmen kämpfte gegen den Konkurs. Am Ende waren nur zwei Firmen - Preussag und Thyssen - in der Lage, an einem Konzept zur Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen mitzuwirken. In der Stahlindustrie sind noch längst nicht alle Probleme bereinigt, aber es besteht doch etwas größere Klarheit über künftige Strukturen. Schließlich: Wir kommen alle vom Rathaus, wir sind alle klüger geworden. Alle Unternehmen wissen - ich meine, sie haben sich in der Vergangenheit auch schon danach verhalten -, daß ihre Verantwortung nicht am eigenen Hüttenzaun endet, sondern daß sie untereinander und mit der Politik zusammenwirken müssen, wenn für die Branche Lösungen gefunden werden sollen. Die Gewerkschaften sehen klarer als noch vor Monaten, welche Anstrengungen notwendig sind, damit die Unternehmen international wettbewerbsfähig bleiben oder es wieder werden. Und die Politik? - Die in der Exekutive Verantwortlichen haben wohl gelernt, daß die privaten deutschen Unternehmen, die ohnehin unter schwierigen, Herr Minister, politisch zu verantwortenden Rahmenbedingungen arbeiten, nicht über die Grenzen des Zumutbaren hinaus belastet werden dürfen. Wie könnte eine Lösung konkret aussehen? Ganz auf eigenes Risiko, ohne jemanden sonst in Anspruch zu nehmen, gebe ich folgendes zu überlegen. Erstens. Wir sollten darin einig sein, daß es keine Lösung ist, Eko auf Dauer als Staatsunternehmen zu führen. Es wäre ein Fremdkörper in unserer Wirtschaftsordnung. Zweitens. Die Unternehmensteile, die eine Chance im Markt haben, sollten möglichst bald privatisiert werden. Ich denke beispielsweise an das zu modernisierende Kaltwalzwerk in Eisenhüttenstadt. Drittens. Die Vormaterialstufe, die in ihrer gegenwärtigen technischen Auslegung auf Dauer nicht lebensfähig ist, sollte für einen gesicherten Zeitraum weitergeführt werden. Sie müßte zunächst im öffentlichen Eigentum bleiben. Die Geschäftsbesorgung sollte aber einem privaten Betreiber anvertraut werden. Viertens. Dies wäre nur der erste Schritt der Privatisierung. Die Treuhand sollte dem Betreiber aufgeben, innerhalb eines festen Zeitraums - sagen wir: innerhalb eines halben Jahres - auf Grund seines Know-hows Vorschläge für die bestmögliche Lösung zu machen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte keine weiteren Nummern. Sie sind schon ein großes Stück über die Redezeit hinaus.

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin auf null, ich sehe das. ({0}) Ich darf abschließen. Es spricht viel dafür, liebe Kollegen, alle Initiativen, die ich genannt habe, und auch diejenigen, die ich leider auf Grund der Intervention des Herrn Präsidenten nicht mehr nennen konnte, die Privatisierung, die Geschäftsbesorgung und die Schaffung alternativer Arbeitsplätze, in die Hand eines Konsortiums zu legen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege!

Dr. Ruprecht Vondran (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002394, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Partner dafür sollten nicht nur innerhalb der deutschen Grenzen, Herr Präsident, sondern auch in der Europäischen Union gesucht werden. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Meine Damen und Herren, wir haben eine Geschäftsordnung. Wenn der Präsident auf das Ende der Redezeit hinweist, dann bitte noch einen Satz und nicht eine Minute. Das ist gegenüber den anderen Kollegen einfach nicht fair. Ich sitze ja nicht hier, um den einzelnen in seinen Äußerungen zu beschränken. Es muß dann eben die Numerierung der wichtigen Appelle an den Anfang der Rede; sie kann jedenfalls nicht nach dem Ende der Redezeit erfolgen. Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Warnke.

Dr. Jürgen Warnke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002428, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In dem Drama Eisenhüttenstadt ist die Liste der Rollen lang, aber sie ist von unterschiedlicher Gewichtigkeit. Auf zwei Beteiligte kommt es vor allem an: zum einen auf die Menschen in Eisenhüttenstadt und Ostbrandenburg, die Anspruch auf einen gerechten Anteil am gesamtdeutschen Wirtschaftspotential und auf Aussichten für ihre Zukunft haben; zum anderen - der ist mir hier heute eigentlich etwas zuwenig zur Sprache gekommen - auf den deutschen Steuerzahler, der mit mehr als zweieinhalb Milliarden DM für Eigenkapitalhilfen, Entschuldung von Altkrediten, Verlustausgleich und Investitionen bereits einen Kraftakt sondergleichen geleistet hat. Beide, die Stahlarbeiter wie der Steuerzahler, erwarten zu Recht einen zukunftweisenden Abschluß von fünf Jahren Umstrukturierung. Ich gebe Graf Lambsdorff recht: Da müssen Lehren aus den Erfahrungen der letzten Wochen gezogen werden. Die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie ist eine einzigartige Organisationsform innerhalb der Europäischen Union. Daß sie in den letzten Monaten bei der Lösung der Krise von Eisenhüttenstadt hilfreich gewesen ist, hat niemand behauptet und kann auch niemand behaupten. ({0}) Das Instrument der Montanmitbestimmung, Herr Kollege Weiermann, steht hier nicht zur Disposition. Aber was wir aus diesem Instrument machen, wenn wir mit ausländischen Investoren über die Sicherung einer optimalen Zahl von Arbeitsplätzen verhandeln, das müssen sich allerdings sämtliche Beteiligten nach der Erfahrung der letzten Wochen neu überlegen. Es war sicher auch nicht gut, daß Nachrichtenmagazine in Deutschland in den letzten Monaten unwidersprochen behaupten konnten, daß aus der Mitte des Aufsichtsrats von EKO an Bonität und Solidität des ins Auge gefaßten neuen Eigentümers Zweifel geäußert wurden. Mir sind Bilanzen und Eigentumsverhältnisse von Riva genausowenig bekannt wie anderen. Nur, die Entscheidung für Riva als der optimale Weg zur Verwirklichung eines integrierten Stahlwerks war mm einmal gefallen. Durch die Art und Weise, wie daran herumgenörgelt worden ist, ist ein entscheidender Beitrag zu diesem bedauerlichen Ergebnis geleistet worden. Nun ist der Ausländer draußen, und die Deutschen sind wieder unter sich. Ob das gut ist, wird sich zeigen. Der Durchbruch zu einem integrierten Stahlwerk in Eisenhüttenstadt ist jedenfalls nicht leichter geworden. Die Fortführung unter staatlicher Leitung ist durch europäisches Recht ausgeschlossen. Das ist gut so; denn, Frau Abgeordnete Enkelmann, wenn es eine Ursache dafür gibt, daß EKO in dieser Misere ist, dann ist das letztendlich sein Charakter als Staatsbetrieb in einem sozialistischen Rahmen. Wir wären miserabel beraten, hier durch die Fortführung als Staatsbetrieb den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. ({1}) Das Zeichen, das wir hier und heute setzen können, ist folgendes: Bund und Europäische Union sollten zu ihren Beihilfezusagen in der Größenordnung von 800 Millionen DM stehen. Da kommt Riva übrigens - hierauf hat ein Mitglied Ihrer Landesregierung aufmerksam gemacht, Herr Ministerpräsident - möglicherweise erneut ins Spiel. Sie sollten für die Erhaltung oder für die Neuschaffung einer entsprechenden Zahl von Arbeitsplätzen die Mittel bereitstellen. Ich sage hier ganz bewußt als jemand, der auch aus einer monostrukturierten oder mit Strukturschwierigkeiten behafteten Region kommt: In dieser Strukturkrise steckt auch eine Chance. Die Lösung muß auch einen zukunftweisenden Ansatz für die Auflockerung der Struktur enthalten. Ich wünsche jedenfalls Hans Apel, dem über Fraktionsgrenzen hinaus geachteten langjährigen Kollegen, der die Aufgabe übernommen hat, Wege auszuloten, die zu einer Lösung führen, eine glückliche Hand: im Interesse der Stahlarbeiter und ihrer Familien, aber auch im Interesse der gesamten Bevölkerung von Eisenhüttenstadt und Ostbrandenburg. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Erlauben Sie mir noch einen Halbsatz an die Adresse des Kollegen Vondran, damit das nicht so stehenbleibt, als sei er hier der einzige große Sünder. Nur, meine Damen und Herren, man traut sich ja nicht, eine weitere technische Verbesserung in diesem System zu proklamieren. ({0}) Wir haben hier oben am Präsidiumstisch jeder - die Schriftführer und der Präsident - eine Uhr, die die Sekunden anzeigt. Da unten werden nur die Minuten angezeigt. Deshalb ist es oft sehr viel schwieriger, mit dem Gelb und Rot zurechtzukommen. Aber ich traue mich nicht, anzuregen, auch am Rednerpult eine Uhr zu installieren, die die Sekunden anzeigt, weil das System dann vielleicht wieder - ({1}) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Vizepräsident Hans Klein Ich rufe Punkt 2 a bis e der Tagesordnung auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1994 - Drucksache 12/7344 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({2}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Frauen und Jugend Haushaltsausschuß b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eckart Kuhlwein, Doris Odendahl, Hans Gottfried Bernrath, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes - Drucksache 12/2125 - ({3}) aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({4}) - Drucksache 12/7272 - Berichterstattung: Abgeordnete Engelbert Nelle Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 12/7273 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Carl-Ludwig Thiele c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Evelin Fischer ({7}), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sicherung eines auswahlfähigen, qualifizierten Ausbildungsplatzangebotes für alle Jugendlichen in den neuen Ländern - Drucksachen 12/5495, 12/7086 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr.-Ing. Rainer Jork Stephan Hilsberg d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Doris Odendahl, Günter Rixe, Ulrich Böhme ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bericht über die Erfahrungen mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes - Drucksachen 12/5783, 12/7275 - Berichterstattung: Abgeordnete Engelbert Nelle Dirk Hansen e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({10}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 31 04 Titel 685 03 - Beteiligung des Europäischen Sozialfonds am Sonderprogramm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze in den neuen Ländern und Berlin ({11}) - Drucksachen 12/6984, 12/7370 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Carl-Ludwig Thiele Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Rainer Jork.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Vorlage des Berufsbildungsberichtes im Plenum des Bundestages über Bilanz, abzuleitende Maßnahmen, auch über die Relation zur akademischen Bildung nachzudenken, halte ich für förderlich und notwendig, für existentiell wesentlich aber vor allem bezüglich der Dynamik in den neuen Bundesländern. Trotz eines höheren Lehrstellenangebotes in den neuen Bundesländern ist der Bedarf infolge einer stärker wachsenden Bewerberzahl gestiegen. Die Situation hat sich also gegenüber dem Vorjahr verschärft. Um es vorwegzunehmen: Ich bin froh, daß sich die Bundesregierung mit dem 1. Juli selbst in die Pflicht nimmt und die erforderliche Hilfe zu Beginn der Sommerzeit, also etwa zwei Monate eher als im Vorjahr, zugesagt hat. So wie die Schulen die Brücke zum Arbeitsmarkt sein müssen, erwarte ich von den Partnern bei der Berufsausbildung und bei der akademischen Bildung, daß sie die eigenen Ziele mit den Möglichkeiten des Arbeitsmarktes abgleichen. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Stihl, sagte am 4. Mai in Frankfurt mit Blick auf die großen Unternehmen zu Recht: Wer heute nicht ausbildet, schadet sich morgen auf dem Markt. Eine Kernaussage des Verbandes der Chemischen Industrie lautet: Ein Nachlassen der Ausbildungsleistungen wird sich in sinkender Wettbewerbsfähigkeit, geringerem Angebot an Arbeitsplätzen und fallendem Lebensstandard bemerkbar machen. Noch ein Zitat: Am gravierendsten - so prognostiziert der DGB stellt sich die Unterversorgung mit betrieblichen Ausbildungsplätzen für die Schulabgänger im Bundesland Sachsen dar. Dies sei mir Anlaß, auf die Situation im Freistaat Sachsen näher einzugehen. 1994 werden dort etwa 7 000 Schüler mehr als im Vorjahr eine Schule verlassen. Es ist mit 48 700 Bewerbern um AusbildungsDr.-Ing. Rainer Jork plätte zu rechnen. Mindestens 8 400 Stellen mehr als im Ausbildungsjahr 1993/94 werden benötigt, aber nur relativ wenige Lehrstellen stehen zusätzlich zur Verfügung. Im März stand, gemäß Statistik, nur jedem zweiten Bewerber ein Ausbildungsplatz gegenüber. Als besonders problematisch erweist sich die Vermittlung der 5 700 Mittelschüler mit Hauptschulabschluß. Diese hier gekürzt dargestellte Zustandsanalyse war Hintergrund für den Start der Lehrstellenoffensive und Aktionen des entsprechenden Beirates im Freistaat Sachsen. Eine Auswertung der Ausbildungsplatzförderungsprogramme des Vorjahres ergab, daß diese in Kleinunternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten mit 10 800 zusätzlichen Berufsausbildungsplätzen überdurchschnittlich in Anspruch genommen wurden. Probleme, die z. B. durch Bearbeitungsfristen, Diskrepanzen durch Bemessungsgrundsätze und unterdurchschnittliche Besetzung durch Mädchen in allen Industriebereichen sowie im Handwerk auf traten, werden im kommenden Förderprogramm durch Korrekturen bzw. die Einrichtung zusätzlicher Ausbildungsplätze für Mädchen berücksichtigt. Auch im kommenden Ausbildungsjahr werden z. B. zusätzlich geschaffene Lehrstellen in Kleinunternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten, die die 10-%-Grenze, gemessen an der Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer, übersteigen, mit 4 000 DM gefördert. Bei Mädchen erhöht sich der Betrag auf 6 000 DM. In Unternehmen mit bis zu drei Beschäftigten wird der erste Lehrling unterstützt. Insgesamt werden so ca. 12 000 Ausbildungsplätze gefördert, und ein Teil der Lehrgangskosten in überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen des Handwerks wird weiterhin durch den Freistaat Sachsen übernommen. In einer ,.Aktion Maikäfer" haben im Raum Dresden Industrie- und Handelskammer, Arbeitsamt sowie Handwerkskammer ca. 500 Ausbildungsplätze durch persönliche Ansprache in Handwerksbetrieben gewinnen können. Unabhängig davon wird offensichtlicher, dringender Bedarf an einer erneuten „Gemeinschaftsinitiative Ost" zur Schaffung von außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen festgestellt. Interessant ist der Hinweis der AEG in Dresden, daß zusätzlich bereitgestellte Plätze nicht besetzt werden, weil außerbetriebliche Bildungsträger bereits die potentiellen Bewerber unter Vertrag hatten. Besonders für den handwerklichen Bereich besteht die Gefahr, daß außerbetriebliche Ausbildungsplätze den betrieblichen die Nachfrage wegnehmen könnten. Der Ausbildungsstellenmarkt in den neuen Bundesländern ist sowohl regional als auch berufsfachlich sehr unterschiedlich. Im gewerblich-technischen Bereich ist Bewerbermangel festzustellen - im Unterschied zu kaufmännischen und Dienstleistungsberufen. Für Zerspanungsmechaniker gibt es beispielsweise 5,14 Plätze je Bewerber, aber etwa 10 Bewerber für eine Hotelfachstelle. In Potsdam liegt das Verhältnis der gemeldeten Stellen zur Bewerberzahl bei 0,81, in Bautzen aber bei 0,29. Hier hilft also nicht ein Gießkannenprinzip bei der Förderung. Regionenspezifische Maßnahmen sind gefragt. Zur Stabilisierung der dualen Berufsausbildung halte ich eine verstärkte Unterstützung der betrieblichen und überbetrieblichen Ausbildung und insbesondere der berufsbildenden Schulen für erforderlich. Die berufliche Ausbildung wird durch die Qualität auch des schulischen Teils attraktiv und standortbestimmend. Das bedeutet für mich, daß Berufsschullehrer in den neuen Bundesländern tariflich genauso einzugruppieren sind wie ihre entsprechend qualifizierten Kollegen in den alten Bundesländern. Die Bundesregierung muß nicht zur Hilfe aufgefordert werden. Sie tat es mit rund einer halben Milliarde seit 1991 allein für den Bau und die Ausstattung von überbetrieblichen Berufsbildungsstätten in den neuen Bundesländern. Ich begrüße, daß das BMF 85 Millionen DM vorschießt, um eine rechtzeitige Beteiligung des Europäischen Sozialfonds am Sonderprogramm zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze zu unterstützen. Wer angesichts dieser Zahlen der tätigen Hilfe der Bundesregierung sagt, daß bisher nichts getan wurde und weiterhin nichts getan wird, hat entweder ein gestörtes Verhältnis zu Steuergeldern oder zur Wahrheit - oder zu beidem. ({0}) Die Hilfe der Bundesregierung ist zugesagt. Die aktuelle Lage Ende 1994 wird den Handlungsumfang bestimmen. Daß dieser Zeitpunkt angemessen ist, bestätigten mehrheitlich die Fachexperten in den Anhörungen des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft am 27. April in Bonn. Ich danke. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Günter Rixe, Sie haben das Wort.

Günter Rixe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001861, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In einer großen süddeutschen Zeitung war am 6. Mai unter der Überschrift „Kohl gibt Lehrstellengarantie" zu lesen, daß der Kanzler wieder einmal Ausbildungsplätze versprochen hat: für jeden einen Platz, der kann und will. Die Betonung liegt auf: der kann und will. Ich befürchte, daß sich hier etwas wiederholt, was wir schon mehrfach in der Regierungszeit des Bundeskanzlers erlebt haben: Versprechungen über Versprechungen. Dieser Kanzler wird noch, wenn es so weiter geht, vor lauter Versprechungen, die nicht gehalten worden sind, in die Geschichtsbücher eingehen. Mitte der 80er Jahre hat er auch diese Versprechungen abgegeben, und das Ergebnis war, daß Ende der 80er Jahre 1,5 Millionen junge Leute nicht ausgebildet worden sind und die Qualifizierung bis heute fehlt. Die Situation in der Berufsausbildung läßt aber keinen Raum für bloße Versprechungen. Die Situation ist viel zu ernst: 18 000 Jugendliche konnten 1993 nicht auf einem Ausbildungsplatz untergebracht werden. Das sind nicht nur alles Jugendliche, die nicht wollen oder können. Die jungen Menschen wissen nämlich ganz genau, daß eine Ausbildung die Grundlage für ihre persönliche Zukunft ist. Wer aber so redet wie der Bundeskanzler - von jungen Menschen, die nicht wollen und nicht können und für die es deshalb keinen Ausbildungsplatz geben soll -, macht sich mitschuldig an der zunehmenden Politikverdrossenheit der jungen Menschen und schuldig an deren Hinwendung zu rechtsextremer Agitation und Verbrechen. Hat sich diese Regierungskoalition eigentlich einmal die Frage gestellt, ob die ausländerfeindlichen Gewaltaktionen der jungen Menschen - wir haben vorhin darüber diskutiert - nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Perspektivlosigkeit der jungen Leute in den fünf neuen Ländern und auch in der alten Bundesrepublik stehen? Wenn nein, dann sollten Sie darüber schnellstens nachdenken und nicht immer nur nach Strafgesetzen rufen. Es ist außerdem auch nicht richtig, so zu reden, wie das der Bundeskanzler tut, weil die Zahlen andere Entwicklungen belegen. Allein in den neuen Bundesländern standen Ende März 1994 für über 98 000 Jugendliche nur rund 34 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Vor einem Jahr waren es mit rund 85 000 noch wesentlich weniger Jugendliche, für die es damals 35 000 Ausbildungsplätze gab. Im Saldo bedeutet dies eine Zunahme an unvermittelten Bewerbern um 28 % gegenüber dem Vergleichsmonat 1993. Ganz besonders trifft es die jungen Mädchen und Frauen, die in den neuen Bundesländern einen immer größer werdenden Anteil an den Unvermittelten ausmachen. Die Steigerung beträgt 14,8 %. Nahezu 53 000 Mädchen und Frauen sind heute noch ohne Lehrstellenvertrag. Die Tendenz ist weiter steigend. Auch in den alten Bundesländern geben die vorliegenden Zahlen für große Versprechungen keinen Grund. Schon 1993 waren rund 30 000 Ausbildungsverträge weniger abgeschlossen worden als im Vorjahr, und für 1994 sind die bisherigen Tendenzen weiter rückläufig. Von freier Wahl des Ausbildungsplatzes kann nur noch in den Statistiken die Rede sein. In der Bundesrepublik Deutschland insgesamt ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die Zahl der Jugendlichen mit einer Lehrstelle im Jahr 1993 urn 2,4 % gegenüber 1992 zurückgegangen. Wir müssen nicht feststellen, ob es willige und unwillige Jugendliche gibt, sondern wir müssen feststellen, daß sich Teile der Wirtschaft allmählich aus der Berufsausbildung verabschieden. Das Bundesverfassungsgericht hat aber im Dezember 1980 die Wirtschaft verpflichtet, für Ausbildungsplätze zu sorgen. ({0}) Wenn jetzt aus Kostengründen ein Teil der Wirtschaft aus der beruflichen Bildung aussteigt, dann verstoßen diese Unternehmen und Betriebe gegen geltendes Recht. Sie gefährden zudem den Qualifikationsstandort Deutschland und bringen das duale Ausbildungssystem überhaupt in Gefahr. ({1}) Ich halte es für einen Skandal, daß z. B. die Telekom in diesem Jahr lediglich 700 Auszubildende aufnehmen will, und das auch nur in den fünf neuen Ländern. Über die Signalwirkung eines solchen Verhaltens eines großen Bundesunternehmens auf die Wirtschaft muß einmal geredet werden. Der Minister ist nicht da, aber der Herr Staatssekretär. Ich habe heute im „General-Anzeiger" unter der Überschrift „Frauenmangel in Technikberufen" gelesen, daß es eine Gemeinschaftsinitiative gibt, an der die Telekom beteiligt ist. Wenn man dann sieht, daß sie ihre Ausbildung zurückfährt, paßt das überhaupt nicht zusammen. Ich habe Sie, Herr Staatssekretär, deswegen angesprochen, weil der Minister dort eine große Rede gehalten hat. Es hilft kein Appellieren mehr, es müssen Maßnahmen eingeleitet werden. Der Beschluß des Kabinetts zum Berufsbildungsbericht 1994 enthält angesichts dieser benannten Tatsachen lediglich die Forderung nach erheblichen Anstrengungen der Beteiligten. Das reicht aber nicht aus. Den Beteiligten muß deutlich gesagt werden, wie sie ihre Ausbildung organisieren und vor allem, wie sie diese finanzieren können. In der auf Antrag der SPD-Bundestagsfraktion durchgeführten Anhörung des Bildungsausschusses zur Situation der außerbetrieblichen Ausbildung in den neuen Ländern wurde von der großen Mehrheit der Sachverständigen und Betroffenen ganz deutlich gesagt, daß Förderungen des Bundes zur Finanzierung von zusätzlichen außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen frühzeitig benannt werden und beginnen müssen. Das 10 000-Plätze-Programm vom vorigen Jahr kam viel zu spät. Das Ergebnis war ja, daß die 10 000 Plätze nicht einmal ausgenutzt wurden. Es konnten nur 8 500 Plätze vermittelt werden. Für 1994 muß das Programm noch in diesem Monat beginnen, es muß jetzt ausgelegt werden und auf 25 000 Plätze ausgeweitet werden, um den Nachfrageüberhang abzubauen. Dies war das einstimmige Votum der Anhörungsteilnehmer. Wenn man drüben nachfragt: Es ist überall so. Neben den außerbetrieblichen Einrichtungen brauchen auch die Betriebe und Unternehmen und auch die jungen Menschen frühzeitige Planungssicherheit. Ich bin der Auffassung, daß es zu den Aufgaben einer Bundesregierung gehört, rechtzeitig gegenzusteuern, wenn sich der Trend verfestigt, aus Kostengründen aus der Berufsausbildung auszusteigen. Das ist so bei der westdeutschen Industrie. Eine Möglichkeit der Gegensteuerung könnte eine Umlagefinanzierung für Betriebe und Verwaltungen sein, die sich immer mehr ihrer Ausbildungsverpflichtung entziehen; sogar ganz bekannte westdeutsche Firmen entziehen sich ihr. Anstatt von einer Verbilligung der betrieblichen Ausbildung zu reden, müssen die Kosten gerechter verteilt werden. Es kann doch nicht angehen, daß sich große Teile der Industrie ihren Nachwuchs nur fertig ausgebildet beim Handwerk oder von der Hochschule abholen! ({2}) Es ist in der Tat so, daß die Industrie nicht ausbildet, das Handwerk überproportional ausbildet. Nach der Lehrzeit werden die Ausgebildeten von der Industrie abgeholt, ihnen wird mehr Geld geboten, sie werden ein bißchen weitergebildet, und die Hochqualifizierten holt sich die Industrie von den staatlich finanzierten Fachschulen. Da müssen wir gegensteuern. Das müssen wir der Industrie nun endlich einmal sagen, oder wir müssen das duale System in dieser Bundesrepublik in Frage stellen. ({3}) Ich will an dieser Stelle dem deutschen Handwerk dafür danken, daß es immer noch sehr stark ausbildet. ({4}) Der heute in die parlamentarische Beratung eingebrachte Berufsbildungsbericht 1994 ist angesichts der Probleme auf dem Ausbildungsmarkt nur bedingt tauglich. Wir werden in den kommenden Beratungen versuchen, die mangelhaften Positionen ins Gespräch zu bringen, sie in Anträge zu formulieren, und wir werden Sie bitten, mit uns gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Neben der bereits benannten Aufgabe, der Diskussion über die Kostenbelastung der ausbildenden Unternehmen ein Ende zu bereiten, muß nach wie vor die Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern an oberster Stelle stehen. Angesichts der erwarteten 135 000 Jugendlichen und mehr in den neuen Ländern müßte über steuerliche Möglichkeiten für diejenigen Unternehmen nachgedacht werden, die ihren Ausbildungsverpflichtungen nachkommen. Auf die öffentlichen Verwaltungen, die weit hinter den Ausbildungsquoten der westlichen Verwaltungen zurückbleiben, muß endlich direkt eingewirkt werden. Schließlich muß ergänzend die außerbetriebliche Ausbildung, ohne die der ostdeutsche Lehrstellenmarkt längst zusammengebrochen wäre, gezielt und frühzeitig gefördert werden. Das habe ich soeben schon gesagt. Auch in den neuen Bundesländern sehe ich eine Gefahr für das duale System, wenn nicht bald der Anteil der betrieblichen Ausbildung ausgeweitet werden kann. Das Problem der Nichtübernahme der Ausgebildeten in die Berufstätigkeit ist auch von zentraler Bedeutung für die Lebensperspektiven junger Menschen. Hier muß über Beschäftigungsinitiativen und zweiten Arbeitsmarkt nachgedacht werden. Auch die zunehmende Zahl von jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluß wird immer problematischer. Allerdings ist der Weg über die Differenzierung, für schwächere Jugendliche einfachere und kürzere Ausbildungen zu schaffen, der falsche Weg. Aber dazu habe ich ja im CDU-Papier gelesen, daß die CDU und auch die F.D.P. langsam davon wieder abrücken. ({5}) - Ihr seid ein bißchen schneller? - Nein, das haben wir schon lange gesagt. Hinsichtlich der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung müssen wir endlich über das Diskussionsstadium hinauskommen. Hier ist die Vermittlung von Fremdsprachen, und zwar nicht nur berufsbezogen, wie es die Arbeitgeber möchten, ein wesentlicher Punkt. Nur bei allgemeinen Fremdsprachenkenntnissen sind ein europäischer Austausch und eine berufstypische Fortentwicklung möglich. Seit Jahr und Tag hat die SPD-Bundestagsfraktion bei den Debatten zum Berufsbildungsbericht darauf hingewiesen. Das Auseinanderklaffen von Ausbildung und Beschäftigung, der Strukturwandel und der Arbeitsplatzabbau sind Ursachen dafür, daß in vielen Bereichen nicht mehr genügend Angebote für ausreichende Qualifikationen gemacht werden. Hieran sind Sie von der Regierungskoalition ein gutes Stück mit schuld, weil Sie nicht oder nur zaghaft gehandelt haben. Wir wollen einmal sehen, wie wir das in den nächsten Wochen für die jungen Leute in den neuen Ländern noch gemeinsam hinbekommen. Danke schön. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Rixe, Sie haben natürlich uneingeschränkt recht, daß der Kanzler Versprechungen macht. ({0}) Da Sie, wie ich Sie kenne, ein sachlich argumentierender Kollege sind, haben Sie sich sicherlich versprochen, wenn Sie gesagt haben: nur Versprechungen. Denn, meine Damen und Herren, das Programm, das noch zum Schluß der Lehrlingsplatzsituation aufgelegt worden ist, die wir im Sommer vergangenen Jahres ten, hat doch gezeigt, daß das Versprechen der Bundesregierung eingehalten worden ist. ({1}) Ich würde Sie an dieser Stelle auch gleich beim Wort nehmen. ({2}) Wenn Sie sagen, daß in der öffentlichen Anhörung das Plädoyer dafür abgegeben worden ist, ein Sonderprogramm bereits jetzt im Mai aufzulegen, dann muß ich Ihnen insofern widersprechen, als sich die Wirtschaft geschlossen dafür ausgesprochen hat, ein solches Sonderprogramm dann aufzulegen, wenn der Bundesminister am 1. Juli im Kabinett seinen Bericht abgegeben hat, ({3}) in dem festgestellt wird: Jawohl, jetzt ist es notwendig, daß wir ein Sonderprogramm auflegen. ({4}) Die Industrie hat davor gewarnt und gesagt, es bestehe die Gefahr, daß junge Menschen schon jetzt einen Vertrag für eine außerbetriebliche Ausbildung abschließen würden und keinen mit der Industrie, mit den Kammern. Das müssen wir vermeiden, meine Damen und Herren. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Guttmacher, die Abgeordnete Frau Oden19648 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg dahl möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, selbstverständlich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, sind Sie bereit, noch einmal zu bestätigen, daß der Herr Bildungsminister anläßlich einer Befragung hier im Plenum erklärt hat, daß er es für erforderlich hält, angesichts der bekannten Situation nicht zu spät mit einem solchen Programm herauszukommen, und dabei den 1. Juli genannt hat? Nur für den Fall, daß Sie wieder den Herbst mit dem Sommer verwechseln. ({0})

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin, Sie hätten mir gerade zuhören sollen. Ich habe zu diesem Stichtag, dem 1. Juli, gesagt: Wenn der Minister seinen Kabinettsbericht abgibt, dann wird festgelegt, daß dieses Sonderprogramm auf den Weg kommt. ({0}) Damit haben sich auch die Vertreter der Industrie bei der öffentlichen Anhörung zufrieden gegeben, auch die Bildungsträger. Ich halte es für sehr wesentlich, den Zeitpunkt zu kennen, damit sie sich entsprechend auf die sie zu erwartende Ausbildung vorbereiten können. ({1}) Meine Damen und Herren, meine Fraktion stimmt dem Bundesbildungsbericht auch deshalb zu, weil er kritisch ist und sagt: Wir haben in diesem Jahr mehr Probleme zu erwarten als in den letzten Jahren. Davon müssen wir ausgehen. ({2}) - Herr Rixe, da sind wir uns alle so etwas wie einig.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Guttmacher, ich muß noch einmal stören. Es besteht ein weiterer Wunsch, eine Frage zu stellen.

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich war Montag und Dienstag im Wahlkreis Großenhain-Riesa und habe dort mit Vertetern der drei beruflichen Schulen gesprochen: mit der Handwerkskammer, mit den Gewerkschaften und dem Arbeitsamt Riesa. Alle haben mir mit auf den Weg gegeben ({0}) - die Frage kommt gleich -, die Entscheidung über die Zusatzprogramme nicht wieder, wie bisher geschehen, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Die Planungssicherheit müsse hergestellt werden. Insbesondere müßten bei dem Verhältnis 1 Lehrstelle zu 2,5 Jugendlichen Ausbildungsplatzsuchende davor bewahrt werden, sich zum Westen hin zu orientieren. Wie bewerten Sie denn diese Äußerung, die von den unterschiedlichsten Gesprächspartnern immer wieder aufgestellt wurde? Der 1. Juli ist für die Praktiker vor Ort zu spät. ({1}) - Ich habe gefragt, wie er beurteilt, was mir dort gesagt wurde.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Vergin, Sie hätten aufmerksam zuhören sollen. Ich habe gerade diese Frage partiell beantwortet, weil sie sich fast mit der deckte, die Frau Odendahl gestellt hat. Ich greife daher den zweiten Teil Ihrer Frage auf, wie ich bewerte, daß viele junge Menschen dann gedenken, in den anderen Teil Deutschlands, in die alten Bundesländer, zu gehen, damit sie dort eine ordentliche Ausbildung bekommen. In den grenznahen Gebieten der neuen Bundesländer werden Sie dieses Problem ständig haben. Ich muß Ihnen aber sagen: Es ist für unsere jungen Menschen gut, wenn sie eine berufliche Bildung dort, wo sie gut ist, bekommen. Ich muß Ihnen auch mitteilen, daß das Problem, wie Sie es eben beschrieben haben, möglicherweise daher rührt, daß die Kammern strukturschwach angesiedelt sind. Es ist richtig - das haben wir auch in Thüringen; ich hätte ein paar Zahlen nennen können, die ich heute weglasse --, daß das Handwerk leicht gesättigt ist und wir den industriellen Mittelstand leider noch nicht so aufgebaut haben, daß Lehrstellenplätze zur Verfügung stehen. Das ist ein Problem, vor dem aber nicht nur Riesa steht, sondern vor dem alle Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern stehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Ausbildung in den alten Bundesländern in einem Handwerksbetrieb durchzuführen ist besser als eine außerbetriebliche, von uns künstlich eingerichtete Ausbildung. ({0}) Eine gewisse Mobilität steht unseren jungen Menschen von ihrer gesamten Selbständigkeit her gar nicht schlecht zu Gesicht. Wenn sie es denn wollen - ich sage: wenn sie es denn wirklich wollen -, dann kommen sie eines Tages auch zurück. Das Heimatgefühl unserer jungen Menschen unterschätzen Sie bitte nicht. ({1}) Aber wichtig und prioritär ist ihre Ausbildung. Das hilft auch den Firmen, die in den neuen Bundesländern einen industriellen Mittelstand gründen, von dem ich sprach. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie bitte einmal. Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, Ihnen noch einmal in Erinnerung zu rufen, daß es in der Geschäftsordnung präzise heißt, Zwischenfragen sollen kurz sein und die Antworten natürlich ebenso. ({0}) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Es ist, mit Verlaub, schon ein wenig mißbräuchlich, wenn zum Schluß die Summe aller Antworten länger ist als die gesamte Redezeit. Ich möchte mit aller Zurückhaltung einmal auf diesen Sachverhalt aufmerksam machen und Sie bitten, entsprechend darauf Rücksicht zu nehmen. Das wäre sehr, sehr nett.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Insofern bin ich Herrn Vergin für seine Frage sehr dankbar; ich habe hier leider nur vier Minuten Redezeit zur Verfügung gestellt bekommen. Meine Damen und Herren, ich möchte auf ein Problem aufmerksam machen, bei dem uns gesetzliche Regelungen mitunter im Wege stehen, wenn wir Lehrlingsstellen suchen und Verträge abschließen wollen. In Altenburg, einer Stadt in Thüringen, ist ein Krankenhaus existent und ein weiteres wird gebaut. Man hat 25 junge Menschen, die man in der beruflichen Erstausbildung zur Krankenpflege ausbilden möchte. Die praktische Ausbildung können diese Krankenhäuser selbst übernehmen. Die theoretische Ausbildung hat eine Lehranstalt vor Ort übernommen und auch durch das dortige Kultusministerium für drei Jahre bewilligt bekommen. Nun sträubt sich das Gesundheitsministerium, die Finanzierung der Ausbildung dieser jungen Menschen zu übernehmen, weil die Bildungseinrichtung nicht in der Trägerschaft des Krankenhauses liegt. Das sind Probleme, denen wir uns zuwenden müssen, damit es gelingt, gerade auch für die Krankenpflege und später für die Altenpflege eine Ausbildung durchzuführen. Hier hätten wir, so meine ich, große Reserven, um Ausbildungsstellen gerade unseren weiblichen Auszubildenden zur Verfügung zu stellen. Es ist für mich unerträglich, wenn - darauf komme ich jetzt noch einmal zurück - von Ihnen, meine Damen und Herren der SPD, und den Gewerkschaften - der Korrektheit halber sage ich aber auch: und von der Bundesanstalt für Arbeit - immer wieder die Forderung gestellt wird, im Mai das Sonderprogramm aufzulegen. Meine Damen und Herren, freuen wir uns erst einmal darüber, daß der Finanzminister einstweilig verfügt hat, daß jene 85 Millionen DM, die wir später einmal über den Europäischen Sozialfonds zurückbekommen, der Bundesanstalt für Arbeit zur Verfügung gestellt werden. Damit ist für die Bildungsträger Planungsfreiheit gegeben, ({0}) und wir können uns darauf vorbereiten, daß wir uns möglicherweise auf eine etwas größere Anzahl von in der außerbetrieblichen Ausbildung befindlichen Auszubildenden einzurichten haben. In dieser Form werden wir dem Bundesbildungsbericht unsere Zustimmung geben. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Dietmar Keller das Wort.

Dr. Dietmar Keller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001077, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon ein interessantes Ritual geworden: Die Mitglieder des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft sowie befreundete Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hauses treffen sich regelmäßig hier. ({0}) - Ach, wissen Sie, ich möchte Sie jetzt nicht in die Verlegenheit bringen, daß ich in eine Richtung zeige, wo Sie sagen, das wußten Sie noch gar nicht. Ich wollte damit eigentlich nur andeuten: Wir könnten ja alle unsere Manuskripte weglegen; denn wir sagen sowieso alle das gleiche. Die neuen Zahlen haben wir im Kopf, geändert hat sich nichts. Nun wäre das etwas makaber, weil hinter der Tatsache, daß die Koalition zwar immer sagt, sie löse immer mehr Probleme, und die Opposition sagt, sie sehe immer weniger gelöste Probleme, ({1}) letztendlich - egal, wie das Wortduell zwischen beiden Seiten ausgeht - das Problem steht, daß die Anzahl junger Menschen im Osten Deutschlands, die keine Berufsausbildung haben und die in das Heer der Arbeitslosen stoßen, von Jahr zu Jahr größer wird. Nun können wir alle Parteipolitik beiseite lassen: Wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen - ich wiederhole, was ich auch hier gesagt habe -, sind existentielle Fragen junger Menschen nicht gelöst und damit auch nicht gesellschaftliche und politische Probleme. Ich frage mich selbst: Wo würde ich landen, wie würde es mir ergehen, wenn ich in einem ausbildungsfähigen Alter wäre und keinen Ausbildungsplatz bekommen könnte? Wäre vielleicht auch ich verführbar? Würde ich vielleicht auch zu denen gehören, die uns heute in der Bundesrepublik Deutschland Sorge bereiten? Ich glaube zwar, daß die Bundesregierung viele Anstrengungen unternimmt. Das erfolgt aber mit einem Gießkannenprinzip, das das eigentliche Problem nicht löst. Der Bundesminister hat auf meine Frage, ob im Bildungsbericht nun einmal die Gesamtzahlen für Ostdeutschland nach der Wende enthalten sind, geantwortet, ich solle mich in den Bericht vertiefen. Ich habe es gemacht - das war sehr anstrengend -, ich habe die Zahl nicht gefunden. Nun kann es sein, daß die Bundesregierung die Zahl nicht hat. Das glaube ich nicht. Es kann sein, daß die Zahlen so gut sind, daß sie sie nicht veröffentlicht. Auch das glaube ich nicht. Es kann aber auch sein, daß die Zahlen so problematisch sind, ({2}) daß sie sie nicht veröffentlicht. Das würde ich verstehen, wenn ich an der Stelle der Regierung wäre. Aber wenn sie die Zahlen hat, kann es doch nur eine Konsequenz geben: nicht jedes Jahr ein klein bißchen zu klotzen, sondern langfristig eine Grundsatzent19650 scheidung herbeizuführen, die das Problem der Ausbildung von jungen Menschen, insbesondere im Osten Deutschlands, löst. Ich kann natürlich von Heimatliebe, Heimatverbundenheit und ähnlichem sprechen - auch ich liebe mein Sachsen -, aber wenn ich ein Grenzgänger bin, in meiner Heimat keinen Ausbildungsplatz bekomme und mich nach drei, vier Jahren dort wohl fühle und dort Arbeit bekomme, ist doch klar, wie ich mich entscheide. Die Anzahl der jungen Menschen, die Ostdeutschland verlassen, wird immer größer. Wahr ist, daß heute nur jeder zweite Bewerber eine Chance auf einen Ausbildungsplatz hat, davon nur jeder zweite Bewerber die Chance hat, einen Ausbildungsplatz im Rahmen seiner Wünsche zu bekommen, und davon wiederum nur jeder zweite die Chance hat, nach der Ausbildung einen Arbeitsplatz zu bekommen. Das heißt, im Prinzip bekommt nur jeder achte Ostdeutsche nach der Ausbildung, die er sich gewünscht hat, einen Arbeitsplatz. Konkret heißt das: jeder sechste Junge, jedes zehnte Mädchen. Ich denke, diese Zahlen, die uns allen bekannt sind, wären Anlaß, über die Konzeptionen zur Veränderung des Lehrstellenangebots zu sprechen. Ich achte - ich sage das hier ausdrücklich -, daß das Handwerk vieles geleistet hat und in eine Lücke gestoßen ist, die noch viel größer wäre, wenn das Handwerk und die Freiberuflichen das nicht gemacht hätten. Aber dieser Bereich kann das Problem für die Bundesrepublik Deutschland nicht lösen. Die Bundesregierung ist am Zuge. Sie muß Entscheidungen treffen, und das so schnell wie möglich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nunmehr hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Norbert Lammert das Wort.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über den Berufsbildungsbericht bietet traditionell Gelegenheit, sowohl eine Bilanz des abgeschlossenen Berufsbildungsjahres vorzunehmen, als auch sich perspektivisch mit den absehbaren Konstellationen im bevorstehenden Ausbildungsjahr auseinanderzusetzen. Ich will mich an dieser Debatte, die wir nicht nur hier, sondern auch in den Auschüssen fortsetzen werden, gern beteiligen, zumal in der bisherigen Aussprache neben manchen zutreffenden Feststellungen auch manche nicht ganz so zutreffenden Anmerkungen gemacht worden sind. Wenn wir mit der Situation beginnen, die dieser Berufsbildungsbericht für das abgeschlossene Ausbildungsjahr dokumentiert, dann können wir zunächst einmal feststellen, daß im vergangenen Jahr mehr als 570 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen worden sind und daß wir insgesamt gesehen in den alten und den neuen Ländern eine im ganzen ausgeglichene Ausbildungsplatzbilanz haben. Dies ist, wie jedermann weiß, nicht das ganze Bild, sondern hinter diesen globalen Zahlen verbergen sich sehr differenzierte und zum Teil auch sehr komplizierte Verhältnisse, die in der Diskussion auch angesprochen worden sind. Natürlich bleibt die Situation in den neuen Ländern bis auf weiteres besonders kompliziert und schwierig. Aber gerade deswegen sollte man dann auch festhalten, daß wir in den neuen Ländern in 1993 eine insgesamt ausgeglichene Bilanz erreicht haben, wobei zu dieser ausgeglichenen Bilanz eine Vielzahl von Entwicklungen und Bewegungen beigetragen hat, natürlich auch die Einstellung von jungen Leuten auf die Situation mit den damit verbundenen Entscheidungen, sich für eine weitere schulische Ausbildung in dieser oder jener Variante zu entscheiden. Dies alles trägt im übrigen auch zu dem etwas komplizierten Zahlenbild bei, auf das Sie, Herr Kollege Keller, gerade noch einmal Bezug genommen haben. Daß im vergangenen Jahr gut 99 000 Jugendliche in den neuen Ländern einen Ausbildungsplatz erhalten haben, ist jedenfalls ein Erfolg, der vor einem Jahr in den einschlägigen vergleichbaren Debatten, Herr Kollege Rixe, auch von Ihnen und manchen Kollegen noch gar nicht für möglich gehalten wurde. ({0}) Dieser Teil der Debatte hat inzwischen fast rituelle Züge, was ich jetzt gar nicht vertiefen will. Aber ich denke, wir dürfen festhalten: Dies ist ein gemeinsamer Erfolg von Wirtschaft, Bund und neuen Ländern. Daran haben viele mitgewirkt. Zu den besonders zutreffenden Bemerkungen, Herr Kollege Rixe, gehörte Ihre und auch die des Kollegen Keller, nämlich die Bemerkung, daß sich da insbesondere das Handwerk in besonders dankenswerter Weise engagiert hat. Wahr ist auch, daß wir eine noch vorhandene Ausbildungsplatzlücke nach dem September, also nach dem Beginn des Ausbildungsjahres, nur durch eine Gemeinschaftsinitiative des Bundes, der neuen Länder und Berlins schließen konnten, mitfinanziert aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Aber diese Initiative hat es auch gegeben. Wir reden hier nicht über ein Phantomprogramm, über dessen Notwendigkeit pausenlos geredet worden wäre, ohne daß es gekommen wäre. Es ist gekommen, und es hat genau die Lücke geschlossen, die damals tatsächlich noch bestanden hat. Dieser Bericht unterschlägt auch nicht - das ist auch angemerkt worden -, daß wir nach Einschätzung der Bundesregierung und aller Fachleute im Jahr 1994 mit einer mindestens ebenso schwierigen Situation rechnen müssen, was für alle Beteiligten wiederum bedeutet, daß sie sich für dieses Jahr auf weitere intensive Anstrengungen einrichten müssen. Die Bundesregierung hat fest vereinbart, daß sie auf der Basis eines Berichts des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft zum 1. Juli dieses Jahres über die dann überschaubare Ausbildungssituation in den neuen Ländern reden und, wenn erforderlich, auch Maßnahmen beschließen wird. Wirtschaft, LänParl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert der und Bund stehen hier in einer gemeinsamen Verantwortung. Ich glaube auch nicht, daß wir uns hier wechselseitig in dem Versuch überbieten sollten, wer an welcher Stelle welche alleinige oder vorrangige Verantwortung hat. Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen, wird sich am Ende weder die Politik noch die Wirtschaft mit dem Hinweis auf den jeweils anderen Partner herausreden können. Genau dies hat der Bundeskanzler völlig zu Recht immer wieder hervorgehoben: daß wir durch gemeinsame Anstrengungen sicherstellen müssen, daß jeder am Ende einen Ausbildungsplatz hat, der einen Ausbildungsplatz braucht und einen Ausbildungsplatz will. Das, was wir in den vergangenen Jahren erreicht haben - verehrter Kollege Rixe, das wissen Sie besser, als Sie es vorgetragen haben -, hängt nicht ganz unwesentlich auch mit dem persönlichen Engagement des Kanzlers wie des Bundesbildungsministers in dieser Frage zusammen. Nun führen wir auch nicht zum erstenmal die Diskussion darüber, wann man ein solches Programm mit welcher Dimensionierung und welchen Konditionen ankündigen, beschließen und umsetzen muß. Wir sagen in diesem wie im vergangenen Jahr: Ein solches Programm, wenn es denn notwendig ist, muß rechtzeitig beschlossen werden. Rechtzeitig heißt: nicht zu spät, aber eben auch nicht zu früh. Herr Kollege Rixe, da ich vermute, daß Sie von dem Thema, über das heute hier geredet wird, noch mehr verstehen, als aus Ihrem Beitrag deutlich wurde, ({1}) bin ich fast sicher, daß Sie dann, wenn Sie jetzt für die Bundesregierung die Fragen beantworten müßten, die Sie ihr gestellt haben, ziemlich präzise das sagen würden, was ich jetzt vortrage, daß man nämlich die Wirtschaft auch nicht durch voreilige Ankündigungen der Politik aus ihrer ureigenen Verantwortung entlassen darf. ({2}) Ich bitte Sie ohne jeden Anflug von Polemik, einfach auch zu bedenken, welches vielleicht gutgemeinte, aber fatale Signal wir für ein dauerhaft leistungs- und funktionsfähiges System dualer Berufsausbildung in den neuen Ländern und über die neuen Länder hinaus vermitteln würden, wenn wir mit einer unkonditionierten Garantieerklärung der Politik für den Fall einer Ausbildungsplatzlücke hier aufmarschieren würden. Ich sage Ihnen - das meine ich ganz ernst -: Das wäre der Anfang vom Ende eines Systems dualer Berufsausbildung in der hauptsächlichen Verantwortung der deutschen Wirtschaft. ({3}) Ich sage das auch deswegen mit besonderem Ernst, weil wir, wie Sie wissen, wie es auch in dem Bericht niedergelegt ist, inzwischen auch in den alten Ländern mit einer Entwicklung zu tun haben, die, was die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze angeht, einen Trend erkennen läßt, der uns gemeinsam Anlaß zum Nachdenken und auch zur Sorge bietet. ({4}) - So treuherzig wie Ihr Zwischenruf sind Sie ganz gewiß nicht. Spätestens in dem Augenblick, wo wir genau die Art von allgemeiner Garantieerklärung für einen Teil eines inzwischen vereinten Landes machen würden, müßte die gleiche Politik, die gleiche Bundesregierung, das gleiche Parlament selbstverständlich für jeden möglicherweise betroffenen jungen Mann oder jedes junge Mädchen in den alten Ländern der Bundesrepublik die gleiche Bereitschaft hier zu Protokoll geben. ({5}) - Natürlich! - Ich sage noch einmal: Dies wäre der Anfang vom Ende eines leistungsfähigen, funktionsfähigen Systems dualer Berufsausbildung. Auch deswegen muß es bei dieser Vorgehensweise bleiben. Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß der Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildung einvernehmlich, die Auffassung vertritt, daß die deutschen Unternehmen falsch beraten sind, wenn sie allein aus einzelbetrieblichen und kurzfristigen Kosten-Nutzen-Erwägungen derzeit darauf verzichten, durch Berufsausbildung auf breiter Basis die zur Erhaltung ihrer Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit notwendige Personalvorsorge zu treffen. Dem ist aus der Sicht der Bundesregierung überhaupt nichts hinzuzufügen. Lassen Sie mich zum Schluß, weil der Kollege Kuhlwein -

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär, Sie reden inzwischen auf Kosten Ihrer Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion. Sie haben die Redezeit überschritten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Dann lasse ich das bleiben und behalte mir vor, gegebenenfalls in Gestalt einer geeigneten Zwischenfrage bei dem Beitrag des Kollegen Kuhlwein das geradezustellen, was er sonst möglicherweise als Einschätzung mangelnder Innovationsbereitschaft der Koalition oder der Bundesregierung zum Thema Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte hier nachher vortragen könnte. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Auch das war kein Beitrag zur Verkürzung der Debattenzeit. ({0}) Das Wort hat die Abgeordnete Frau Maria Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge war auch 1993, wie wir gehört haben, rückläufig. Der Trend zu Abitur und Studium scheint trotz wachsender Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen ungebrochen zu sein. Seit vielen Jahren wird der Gedanke der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung betont. Wirtschaft und Politik haben Vorschläge gemacht, um diese bildungspolitische Forderung zu realisieren. Ein möglichst ausgewogenes Verhältnis der verschiedenen Ausbildungswege und Bildungsbereiche ist notwendig. Der einseitige Trend zu Abitur und Studium führt dazu, daß sich die Bildungsnachfrage von den Anforderungen des Beschäftigungssystems entfernt. Ein immer größer werdendes Ungleichgewicht am Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte und zunehmende Arbeitslosigkeit der Akademiker sind die Folge. Eine Ursache dieses Trends ist, daß viele Eltern eine berufliche Ausbildung immer noch für eine Sackgasse halten. Im Zweifelsfalle schicken sie ihre Kinder lieber auf das Gymnasium. Denn ein erfolgreiches Hochschulstudium verspricht nach wie vor ein höheres Einkommen und Sozialprestige als das Absolvieren einer Berufsausbildung. Damit sich wieder mehr junge Menschen und deren Eltern für einen beruflichen Ausbildungsweg entscheiden, muß die Attraktivität der Berufsbildung weiter erhöht werden. ({0}) Es gilt, Karriere und Aufstiegschancen für Absolventen des beruflichen Bildungswegs weiter zu verbessern. ({1}) - Ich komme darauf gleich noch zu sprechen, Frau Odendahl. Dazu ist notwendig: Erstens. Die berufliche Erstausbildung muß durch anspruchsvolle Weiterqualifizierungsmaßnahmen ergänzt werden, damit die Fähigkeiten und das Leistungsvermögen der Auszubildenden entwickelt werden können. Zweitens. Die Einkommens- und Laufbahnchancen für junge Menschen, die eine Berufsausbildung abgeschlossen und sich im Betrieb bewährt haben, müssen verbessert werden. Der Meister muß endlich die gleichen Chancen haben wie der Akademiker. ({2}) Hier sind Wirtschaft und öffentlicher Dienst gleichermaßen gefordert. Tarifrecht und Laufbahnverordnungen müssen geändert werden. Drittens. Die Begabtenförderung in der beruflichen Bildung hat sich bewährt und muß weiter ausgebaut werden. ({3}) Begabte junge Berufstätige, die eine anerkannte Berufsausbildung abgeschlossen haben, werden durch das 1991 gestartete Programm „Begabtenförderung berufliche Bildung" in der Weiterbildung unterstützt. 1993 haben sich nahezu alle zuständigen Stellen in den Bereichen Industrie und Handel sowie im Handwerk daran beteiligt. Gefördert werden Weiterbildungsaktivitäten, die besondere Ansprüche stellen. Berufs- oder betriebsübliche Weiterbildung ist nicht förderfähig. Seit Mitte 1993 sind auch Vorbereitungslehrgänge auf berufliche Aufstiegsvorbildung, wie z. B. zum Meister oder Techniker, förderfähig. Für 1994 stehen 28 Millionen DM zur Verfügung, 2 Millionen mehr als 1993. Damit können 3 200 Stipendiaten neu in die Förderung aufgenommen werden zu den 8 100, die derzeit gefördert werden. Viertens. Das Bildungssystem muß insgesamt durchlässiger werden. Es ist der richtige Weg, qualifizierte Hauptschüler mit abgeschlossener dualer Berufsausbildung Realschülern uneingeschränkt gleichzustellen. Zur Verwirklichung der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung ist es auch notwendig, die Zugangsmöglichkeiten von Absolventen der beruflichen Bildung zum Studium zu verbessern. Es ist zu begrüßen, daß bereits in allen Bundesländern für beruflich qualifizierte Bewerber Möglichkeiten des Zugangs bestehen. Die von den Ländern geschaffenen Möglichkeiten sind jedoch sehr unterschiedlich und offenbaren unterschiedliche Meinungen. Die einen gehen selbstverständlich von Eignungsprüfungen oder Auswahlgesprächen aus und überlassen die Verantwortung für Erfolg oder Mißerfolg den einzelnen. Dabei bleibt aber völlig außer Betracht, daß die Erfolgschancen nicht nur vom persönlichen Einsatz, sondern auch von der Qualität der Aus- und Weiterbildung abhängen. Auf der anderen Seite hingegen wird schon ein Probestudium als Zumutung empfunden. Förmliche Auswahlprozeduren werden völlig abgelehnt, weil sie dem Gleichwertigkeitsgedanken widersprechen. Es ist eine schwierige Aufgabe für die Länder, auf Grund der gewonnenen praktischen Erfahrungen eine einheitliche Regelung zu finden, die beiden Ansprüchen gerecht wird. Meiner Meinung nach muß dabei vor allem das Anforderungsprofil für das Studium im Mittelpunkt stehen. Sachlich nicht gerechtfertigte Hürden sind abzubauen. Allerdings müssen die Verantwortlichen auch dafür Sorge tragen, daß qualifizierten Berufstätigen Enttäuschungen an der Hochschule erspart werden. Dies durch ein Probestudium zu erkunden - wie die SPD es will - ist nach Meinung der Koalition nicht der richtige Weg. Durch ein Probestudium wird die Entscheidung über eine Studienberechtigung beruflich Qualifizierter unnötig hinausgeschoben. Es ist besser, die Eignung des Bewerbers für das gewählte Studienfach frühzeitig zu erkunden. Nicht zuletzt deshalb lehnen wir den von der SPD eingebrachten Entwurf einer Novelle des Hochschulrahmengesetzes ab. Unser Ziel ist, die Attraktivität der beruflichen Bildung zu steigern und die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung zu verwirklichen. Das ist dann gelungen, wenn Eltern und junge Menschen erkennen: Mit einer guten beruflichen Ausbildung sind alle Lebenschancen und Entfaltungsmöglichkeiten offen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nunmehr spricht der Abgeordnete Eckart Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich so auf die Regierungsbank sehe und weiß, daß der Kollege Lammert gleich eine Frage an mich stellen will, dann habe ich den Eindruck, die Regierung ist heute in Vorwegnahme des Wahlergebnisses vom 16. Oktober schon völlig untergetaucht. ({0}) Ich wollte auch eine Vermißtenmeldung aufgeben, weil ich den Bundesminister für Bildung und Wissenschaft bei der ersten bildungspolitischen Debatte nach seinem Amtsantritt hier heute gerne auf der Regierungsbank gesehen hätte, damit auch er sich etwas hätte bilden können. ({1}) Seines Amtes wäre es auch, sich dem Bundestag zu stellen. Seine Abwesenheit können wir nur so erklären, daß auch er bereits amtsmüde geworden ist, was mir in dieser Regierung nicht als Besonderheit auffällt. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Kuhlwein, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Eichhorn zu beantworten?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Frau Abgeordnete.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kuhlwein, was schließen Sie dann aus der Tatsache, daß auf der Länderbank keiner anwesend ist?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir reden heute über Bundesbildungspolitik, Frau Kollegin. Ich habe mir auch die Liste der Entschuldigungen angesehen. Der Bundeskanzler hat sich ordentlich entschuldigt, ebenso wie Frau Staatsministerin Seiler-Albring und der Bundesminister Töpfer. Der Bundesbildungsminister, dessen Themen hier verhandelt werden, hat sich nicht einmal entschuldigt. Ich finde es einigermaßen bemerkenswert, wie hier mit dem Parlament umgegangen wird, übrigens auch mit Ihnen, nicht nur mit der Opposition. Ich will das Ritual der Berufsbildungsdebatten etwas durchkreuzen und einige grundsätzliche Bemerkungen zum Stand und zur Entwicklung unseres Bildungswesens machen: Erstens. Unser Bildungssystem ist alles in allem besser als der Ruf, in den es gelegentlich gebracht wird. Das hat mit dem anhaltenden Engagement trotz immer knapperer Kassen in vielen Ländern zu tun, aber auch mit dem ausgeprägten Interesse von Gewerkschaften und vielen Arbeitgebern an Aus- und Weiterbildung. Die Bundesregierungen unter Helmut Kohl haben am allerwenigsten dazu beigetragen. Zweitens. Unser Bildungssystem muß ständig weiterentwickelt werden, wenn es zukunftsfähig bleiben oder wieder werden soll. Wer vom Standort Deutschland redet, darf Bildung und Wissenschaft nicht so vernachlässigen, wie es diese Bundesregierung getan hat. Die Binsenweisheit, daß ein rohstoffarmes Land wie die Bundesrepublik Deutschland nur dann wettbewerbsfähig bleiben kann, wenn es in die Kenntnisse und Fähigkeiten seiner Menschen investiert, ist von der Bundesregierung nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen worden. Drittens. Es ist richtig, daß die wesentlichen Zuständigkeiten im Bildungsbereich bei den Ländern liegen. Frau Kollegin Eichhorn, ein paar Länder werden auch noch von der Union regiert; sie sind auch nicht vertreten. In einem regiert sogar Ihre Partei noch. Davon ist auch niemand da. Das heißt, sie interessieren sich ohnehin sehr selten für unsere bildungspolitischen Debatten. Das ist ein Problem, das wir gemeinsam mit den Ländern haben, egal welcher Couleur dort die Regierungen sind. Richtig ist aber auch, daß der Bund eine Anstoßfunktion hätte und gleichzeitig gleichwertige Lebensverhältnisse sicherstellen müßte. Wenn der Bund nicht ausreichend Mittel für den Hochschulbau zur Verfügung stellt, muß er sich nicht wundern, wenn in einigen Ländern trotz steigender Nachfrage Studienplätze abgebaut werden. Wenn sich der Bund, Herr Lammert, bei Bahn und Telekom aus der Ausbildung zurückzieht, braucht er sich nicht zu wundern, wenn Großunternehmen mit derselben betriebswirtschaftlichen Begründung ebenso verfahren, was wir gemeinsam ausdrücklich verurteilen. Wenn der Bund die Aufstiegsfortbildung im Arbeitsförderungsgesetz streicht, darf er damit rechnen, daß auch Arbeitgeber diesen Bereich vernachlässigen werden. Wenn der Bund den Hochschulausbau in den neuen Bundesländern auf Sparflamme fährt, überbetriebliche Ausbildungsstätten nicht ausreichend fördert und kein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen rechtzeitig sichert, macht er das mit der deutschen Einheit übernommene soziale Gefälle zum Dauerzustand. Viertens. Der Bund hat viele Möglichkeiten versäumt, Bildung und Wissenschaft wieder zu einer politischen und gesellschaftlichen Priorität zu machen. Er hat die Chance versäumt, das Berufsbildungsgesetz zu modernisieren. Er hat die BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung nicht genutzt, um die Weiterbildung, wie seit 1973 gefordert, aufzuwerten und zu ordnen und damit zur vierten Säule des Bildungssystems zu machen. Er hat weder im Hochschulrahmenrecht noch im Beamtenrecht Konsequenzen aus der Erkenntnis gezogen, daß unsere Hochschulen effektiver gemacht und besser mit den übrigen Bereichen des Bildungssystems, auch mit der beruflichen Bildung, verzahnt werden müssen. Fünftens. Der Bund hat statt dessen eine Kampagne zur Abschreckung vom Hochschulstudium gestartet, ohne auch mir ansatzweise die betriebliche Berufsausbildung im dualen System attraktiver zu machen, als ob wir es uns leisten könnten, die Wünsche vieler junger Menschen nach einer guten und weiterführenden Bildung zu vernachlässigen, und das, obwohl diese Bundesregierung genau weiß, daß die Bildungsexpansion auch ökonomisch richtig und notwendig ist. ({0}) Was sich um unseren Entwurf einer 4. HRG-Novelle abgespielt hat, die heute hier zur Abstimmung steht, ist ein Musterbeispiel dafür, wie weit eigene Erkenntnisse und politische Umsetzung auseinanderklaffen. Da haben wir von der SPD eine Regelung vorgeschlagen, die Berufserfahrenen auch ohne Abitur grundsätzlich den Zugang zum Studium ermöglichen soll, wie das viele Länder in sehr unterschiedlichen Varianten bereits in ihre Hochschulgesetze geschrieben haben. Es ging uns um das notwendige Maß an Bundeseinheitlichkeit. Wir haben geglaubt, wir würden damit offene Türen einrennen, weil auch die Bundesregierung in ihren Sonntagsreden die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung beschwört und die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Bereichen des Bildungssystems verbessern will. Wir haben die Beratungen über unseren Entwurf mit der ausdrücklichen Bereitschaft eingeleitet, im Ausschuß nach Kompromissen zu suchen. Wir haben auch entsprechende Angebote gemacht, die Einwendungen aus den Reihen der Koalition entgegengekommen sind. Frau Kollegin Eichhorn, wir haben als Angebot im Ausschuß auch ausdrücklich hineingeschrieben, daß es auch Eingangsprüfungen sein könnten und nicht nur ein Probestudium. Die Bundesregierung und die Fraktionen von CDU/ CSU und F.D.P. hatten zwei Jahre Zeit, eine abgestimmte Position zu erarbeiten. Daß die noch Regierenden heute unseren Gesetzentwurf ablehnen, zeigt, daß sie nicht mehr fähig sind, Politik zu gestalten. Offenbar sind der Koalition die Rücksichtnahme auf konservative Standesorganisationen und ihre Abiturideologie ({1}) oder auf den bayerischen Koalitionspartner wichtiger als die guten Argumente, ({2}) die gemeinsam von Gewerkschaften und Arbeitgebern vorgetragen werden. Wir bleiben dabei: Das Hochschulrahmenrecht ist einer der wenigen Hebel des Bundes, um die Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung praktisch werden zu lassen und gleichzeitig die Gefahr zu reduzieren, daß berufliche Bildung nach der Sekundarstufe I zur Sackgasse wird. Deshalb muß dieser bundespolitische Hebel auch genutzt werden, Herr Kollege Lammert. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Kuhlwein, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Lammert zu beantworten?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe diese Frage ausdrücklich an dieser Stelle erwartet. Bitte sehr, gerne. Ich finde es nur traurig, daß jetzt die Regierung völlig verschwunden ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr, Herr Abgeordneter Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte Ihnen doch Gelegenheit geben, Ihre vorbereitete Antwort vorzutragen, Herr Kollege Kuhlwein. Stimmen Sie mir zu, daß es bei der von uns allen gemeinsam für wünschenswert gehaltenen einheitlichen Regelung eines fairen Hochschulzugangs auch aus der beruflichen Bildung heraus nicht darum geht, irgendeine Regelung zu finden, sondern darum, eine solche Regelung zu finden, die erstens sachlich vernünftig und zweitens sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat mehrheitsfähig ist, und können Sie bestätigen, daß der von Ihnen vorgeschlagene Gesetzentwurf neben den Zweifeln an der sachlichen Vernünftigkeit ganz ohne jeden Zweifel im Bundesrat nicht mehrheitsfähig ist? ({0})

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Antwort auf die erste Frage, Herr Lammert: Die Koalition hat zwei Jahre Zeit gehabt, sich eine auch von ihr für vertretbar gehaltene vernünftige Lösung für dieses Problem einfallen zu lassen. ({0}) Sie kommen heute mit einem Null-Angebot in diese zweite und dritte Lesung. ({1}) Die Antwort auf die zweite Frage: Es wäre nicht das erste Mal, daß dieses Hohe Haus etwas beschließt, manchmal sogar auf Vorschlag Ihrer Regierung, was im Bundesrat keine Mehrheit findet und im Vermittlungsausschuß nachher überprüft und aufgearbeitet wird, bevor es seine endgültige Form findet. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das veranlaßt den Abgeordneten Lammert, noch einmal nachzufragen.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lammert, wenn es denn sein muß.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Könnten Sie, Herr Kollege Kuhlwein, wie ich einen Zusammenhang zwischen diesem Gesetzentwurf und der gleichzeitigen Debatte über Verfassungsänderungen entdekken, jedenfalls insoweit, als die Länder, nicht zuletzt die von der SPD geführten, mit Nachdruck in genau diesen Monaten eine Änderung des Grundgesetzes betreiben, nach der der Bund gar keine Kompetenz mehr hätte, den Sachverhalt zu regeln, den Sie mit diesem Gesetzentwurf gerne regeln möchten? ({0})

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lammert, in den Gesprächen, die ich mit sozialdemokratischen Bildungs- und Wissenschaftsministerinnen und -ministern geführt habe, ist mir niemals widersprochen worden, wenn ich gesagt habe, daß auch in Zukunft der Hochschulzugang bundeseinheitlich über das Hochschulrahmengesetz geregelt werden können sollte. ({0}) - Die Verfassungsdiskussion führen wir Ende Juni weiter, und wir sind uns auch im Ausschuß alle einig gewesen, wie wir damit umgehen sollen. Deswegen ist dieses Scheingefecht, das überdecken soll, daß die Bundesregierung aus ihren erklärten Absichten bis heute keine gesetzgeberische Konsequenz zieht, ziemlich sinnlos.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Kuhlwein, der Abgeordnete Hansen möchte auch gern eine Zwischenfrage beantwortet haben.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Fragt er jetzt etwas Intelligenteres? Dann darf er. ({0})

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich weiß ja nicht, ob dem Redner die Qualifikation der Kollegen so unbenommen bleibt.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das muß der Präsident beurteilen.

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wende mich ja damit auch an den Präsidenten, und ich frage erst jetzt den Abgeordneten Kuhlwein: Haben denn die Gespräche, die Sie mit Ihren sozialdemokratischen Kollegen in letzter Zeit geführt haben und die Sie gerade angeführt haben, auch bei Ihnen den Erkenntnisprozeß befördert, daß sich offensichtlich auf seiten der SPD-Ländervertreter zunehmend mehr ein Abrücken von unserer, im hiesigen Bundestagsausschuß gemeinsam, also auch von Ihnen getragenen Position abzeichnet, und zwar hinsichtlich der Verfassungsänderung, und ist nicht damit indirekt oder sogar direkt der Zusammenhang zum HRG hergestellt?

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hansen, in einigen der Lander, die Sie gerade zitieren, ist Ihre Partei sogar an der Regierung beteiligt. Und es gibt ein anderes Land, das auch mehr Föderalismus und Selbstbestimmung gegen den „bösen Bund" mit seinen „zentralistischen Tendenzen" bei der Hochschulrahmenrechtsausfüllung haben möchte, und das ist das Land, in dem noch die Parteifreunde - kaum Parteifreundinnen - von Frau Eichhorn regieren. ({0}) Wir sollten aufhören, uns gegenseitig mit dem oder jenem Land vorzuführen, in dem wir mehr oder weniger Verantwortung tragen, sondern sollten hier festhalten, was unsere eigene bildungspolitische Absicht ist. Wir müßten von der Regierung erwarten dürfen, daß sie, wenn sie es sonntags immer erklärt, auch montags einmal einen in den Ressorts abgestimmten Gesetzentwurf auf den Tisch legt, damit deutlich wird, was sie denn eigentlich will. Jetzt bieten Sie uns an Stelle eines Gesetzes nach zwei Jahren einen Entschließungstext an, der alle Argumente wiederholt, die wir seit langem kennen. Wir sollen heute beschließen, daß der Bundestag das HRG ändern möchte, aber so nicht und jetzt nicht. Das ist uns nach diesem langen Vorlauf und bei der verbal immer wieder bekundeten Gemeinsamkeit in der Sache erheblich zu wenig. Wir werden deshalb diesem Entschließungsantrag nicht zustimmen. Ich sage es einmal etwas spitz an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der Koalition: Als selbstbewußter Abgeordneter hätte ich mich nicht in dieser Weise von der Bundesregierung gängeln lassen. ({1}) Karl Valentin hat, Frau Kollegin Eichhorn, Ihr Dilemma vorausgeahnt und Ihnen ins Stammbuch geschrieben: „Wollen hätten wir schon mögen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut." ({2}) Meine Damen und Herren, meine Fraktion hält eine neue Phase der Bildungsreform für notwendig, wenn wir dauerhaft Arbeitsplätze sichern und den Strukturwandel bewältigen wollen. Dazu gehört auch, daß wir die berufliche Bildung aufwerten und Bildungsschranken weiter abbauen. Wir könnten heute dafür ein Signal geben. Die Koalition mauert. Sie wird sich von der Wirtschaft fragen lassen müssen, wie lange sie noch Worte wechseln will, bevor wir endlich Taten sehen. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dirk Hansen das Wort. ({0})

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erste Bemerkung. Ich finde es ein bißchen vordergründig, Herr Kuhlwein, wenn Sie hier die Abwesenheit der Bundesregierung bzw. des Bundesbildungsministers monieren. ({0}) - Sie wissen ganz genau, daß die jetzige Debatte auf Grund des SPD-Antrags, zusätzlich eine Aktuelle Stunde anzuberaumen, verschoben worden ist. Der Bundesbildungsminister wäre zum ursprünglichen Termin hier gewesen; er muß aber jetzt einen anderen, auswärtigen Termin wahrnehmen. ({1}) Zudem sehen Sie bitte das Problem auch darin, daß der Parlamentarische Staatssekretär soeben vor den Haushaltsausschuß zitiert worden ist, weil dort derzeit über Bildungsdinge beraten wird und der Haushaltsausschuß einen Anspruch darauf hat, daß die Regierung dort vertreten ist. Zum anderen frage ich den ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretär Kuhlwein, ob nicht auch er in seiner immerhin weit zurückliegenden Amtszeit bei verschiedenen Gelegenheiten seinen Minister vertreten durfte und vertreten konnte. ({2}) Nun zum Berufsbildungsbericht und zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes. Zum Hochschulrahmengesetz folgende Bemerkung, Herr Kuhlwein. Sie machen es sich - wenn auch verständlicherweise - zu einfach, wenn Sie sagen, seit zwei Jahren würden die Lippen gespitzt, auch von seiten der Koalition, aber es werde heute nicht entsprechend gepfiffen. Vordergründig gesehen haben Sie recht, aber eben bloß vordergründig. Der Staatssekretär und ich haben schon mit unseren Zwischenfragen versucht, Sie darauf hinzuweisen, daß die Gefechtslage leider eine sehr viel kompliziertere ist, als es die isolierte Betrachtung eines einzelnen Sachverhalts deutlich macht. Sie wissen genau - Sie kennen den Hintergrund der Verfassungsdebatte und argumentieren ja im Grunde nur aus politisch-taktischen Erwägungen so -, daß es sehr schwierig ist, im Verhältnis zwischen Bund und Ländern - diese wiederum bekanntermaßen aufgeteilt in A- und B-Länder - die Bundeskompetenzen für die Bildung zu bewahren. Ich fordere gerade die Sozialdemokraten in diesem Hause sowie in den Landtagen und den Landesregierungen auf, hinsichtlich der bewährten Regelung bei den Bildungskompetenzen bei der Stange zu bleiben und nicht, wie es durchaus befürchtet werden muß, gegenüber Politikern in allen Fraktionen, die nicht unmittelbar mit den Bildungsfragen befaßt sind, nachzugeben. Vor diesem Hintergrund muß eindeutig gesehen werden, daß das Hochschulrahmengesetz, wäre es mit der einen oder anderen Variante novelliert worden - da mag es immer noch Diskussionsstoff geben -, den Bach heruntergegangen wäre und daß aus den, wie ich glaube, 16 Regelungen in den Ländern keine vernünftige einheitliche Regelung geworden wäre.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Odendahl zu beantworten?

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte schön.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege Hansen, reicht Ihr Gedächtnis noch soweit zurück, daß Sie bereit sind, hier zu bestätigen, daß die Arbeitsgruppe Bildung und Wissenschaft im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu den Gesetzgebungskompetenzen genauso wie Sie votiert hat?

Dirk Hansen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000804, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Gedächtnis reicht vollkommen aus. Ich habe Ihnen in der Sache ja bestätigt, daß durchaus Einvernehmen besteht. Über Einzelheiten bei „und/oder" kann man durchaus diskutieren. Andererseits ist vollkommen klar - da fordere ich Ihr Gedächtnis, Frau Kollegin -, daß bei der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben, von seiten der Wirtschaft ebenso wie von seiten der Hochschulen selber klar gesagt wurde, daß ein Modell nach dem Beispiel Niedersachsens vorgezogen würde, bei dem nicht etwa Schnupperstudien, wie Sie es ursprünglich in Ihren Antrag geschrieben hatten, zugelassen wären, sondern klare Leistungsprinzipien gelten würden, etwa eine Eingangsprüfung. Insofern geht es nicht um das „oder", wie es immer noch in Ihrem Antrag steht, sondern um die Eindeutigkeit des Falles selber. ({0}) Da meine Redezeit abläuft, ein letztes Wort zum Berufsbildungsbericht. Ich glaube, es ist richtig, daß von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen wurde, daß es sich hier um eine grundsätzliche Problematik handelt. Es geht auch keineswegs nur um die Frage des Lehrstellenprogramms ad hoc und zu welchem Zeitpunkt, ja oder nein. Es geht vielmehr um die grundsätzliche Fragestellung: Ist das duale System, das, wie ich mehrfach gesagt habe, im Grunde an Auszehrung leidet, wirklich noch das Modell für uns in Deutschland? Das Ausland bezeichnet es zunehmend als Modell und will es, um es einmal so auszudrücken, kopieren. Herr Rixe, an Sie gerichtet: Ich habe Hoffnung, daß das berühmte Stichwort von der Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung stärker in den Vordergrund gestellt wird. ({1}) Sie haben recht: Hier ist die Wirtschaft gefordert. ({2}) Es ist eine langfristig wirkende Negativmaßnahme, bei schwieriger Wirtschaftslage unter kurzfristigen Kostenbetrachtungen aus der Ausbildung herauszugehen. ({3}) Insofern sollten wir dankbar dafür sein, daß - das ist mehrfach gesagt worden - im Mittelstand, bei den freien Berufen immer noch verstärkt ausgebildet wird und Lehrstellen angeboten werden. In Großbetrieben aber ist beim Lehrstellenangebot ein Rückgang von 10 % zu verzeichnen. Das ist das eigentliche Warnsignal neben - das wird in der Debatte vielfach vergessen - dem anderen Warnsignal, vor dem wir mindestens seit dem letzten Jahr stehen, nämlich daß die Zahl Studierender und die Zahl Auszubildender nicht mehr in einem Verhältnis steht, das als gesund betrachtet werden kann. Auch die Politik ist gefordert - nicht nur die Wirtschaft -, insbesondere auch der öffentliche Dienst. Das A-13-Syndrom muß weg. ({4}) In unserer Zertifikatsgesellschaft darf nicht der Bildungsabschluß gewissermaßen als Einstieg gelten, sondern Tätigkeit und Qualität derselben müssen Kriterien sein. Leistung - ein Stichwort, das Sie bestimmt sehr gerne hören - muß sich wieder lohnen. Gerade das könnte die Wirtschaft in ihren eigenen Bereichen möglich machen, indem sie Karrierechancen eröffnet und in den beruflichen Zweigen eine stärkere Differenziertheit anbietet. Wenn der öffentliche Dienst da als Vorbild voranginge, dann wäre das großartig.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Hansen - Dirk Hansen ({0}): Ich komme zum Schluß. - Ich frage mich selber, ob bei uns in den Parteien, und zwar in allen Parteien, diejenigen, die Dienstrecht und Beamtenrecht zu vertreten haben, auch auf der Seite der Bildungspolitiker sind. Da liegen doch die eigentlichen Konfliktthemen und die Hürden, die beseitigt werden müssen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzter Redner in der jährlich stattfindenden Debatte über den Berufsbildungsbericht muß man besonders flexibel sein, erstens weil die Redezeit gering geworden ist und zweitens weil man ohnehin versucht ist, die eine oder andere Redeversion des Vorjahres wieder herauszuholen. ({0}) Ich bin fast versucht, das zu tun, Herr Rixe, nachdem Sie das Ritual und die alte Leier, wie schlimm das ist, wiederholt haben. In diesem Jahr unterscheidet sich das dadurch, Herr Rixe, daß Sie im Mai die Zahlen von März vortragen, wo das auseinandergeht. ({1}) - Okay, dann haben Sie das eben falsch gemacht. Sie dramatisieren das doch immer gerne. ({2}) Sie haben im April, als die Zahlen kamen, schon gesagt, die Bundesregierung habe in der Berufsbildungspolitik versagt und verspiele die Zukunftschancen der jungen Generation. Ich muß ehrlich sagen, selbst in einem Wahlkampfjahr halte ich das für ein bißchen viel. Deswegen will ich Ihnen einmal helfen - denn mit Optimismus kann man Wahlen gewinnen und nicht mit Miesmachen - und einmal einige optimistische Zahlen nennen. Wenn ich die drei, vier Jahre, die wir hier über die Entwicklung in den neuen Bundesländern reden, Revue passieren lasse, dann ist für mich eines völlig klar: Wir haben es wirklich geschafft, in jedem Jahr genügend Ausbildungsstellen zur Verfügung zu haben. Darüber hinaus haben wir vor allem folgendes geschafft - es ist wirklich wichtig, das in der Perspektive zu sehen, Herr Rixe -: Wir haben immer mehr betriebliche Stellen geschaffen. Ich nenne Ihnen noch einmal die Zahlen: 1990/91 waren es 62 000, im darauffolgenden Jahr 75 000 und im Jahre 1992/93 84 000. Wir haben also einen Trend zu mehr betrieblicher Bildung. Das ist doch eigentlich genau das, was wir wollen. Wir wollen doch nicht zurück in den alten Sozialismus mit vielen Staatsprogrammen. Ich sage ganz ehrlich: Ich glaube, daß das nur möglich war, weil wir Ihren Verführungen nicht erlegen sind, im März und April jeweils schon Programme aufzulegen und zu verkünden, und weil wir Druck gemacht ({3}) und gesagt haben: Wir brauchen vorrangig betriebliche Ausbildungsstellen für junge Leute in den neuen Bundesländern. Dies ist gelungen. ({4}) - Nein, wir sind doch dabei, vom Sozialismus und von Staatsprogrammen wegzukommen und soziale Marktwirtschaft einzuführen. ({5}) Ein Zweites ist gelungen: Bei den außerbetrieblichen Ausbildungsstellen haben wir einen Rückgang. Das heißt, das, was die große Ausnahme ist, ist auch als solche erkennbar. Wir haben auch erreicht, daß die Bundesregierung in jedem Jahr reagiert hat. Sie hat 1991 mit einem Zuschußprogramm des Bundes für die Bereitstellung von zusätzlichen Lehrstellen in kleineren Betrieben reagiert. 1991/92 gab es eine staatliche Förderung für außerbetriebliche Ausbildungsplätze nach dem alten § 41 AFG. Im letzten Jahr gab es die Gemeinschaftsinitiative Ost mit einem 500-MillionenProgramm. Da kann man nicht sagen, die Bundesregierung verspiele die Zukunft der Jugend. Das ist einfach daneben, denn da ist eine Menge gemacht worden. ({6}) Lassen Sie mich einen kurzen Blick auch noch auf die alten Länder werfen. Da sind zwei Trends erkennbar: Erstens. Es gibt zwar nach wie vor mehr Lehrstellen als Nachfrager, aber es ist in bestimmten Bereichen rückläufig und regional sehr unterschiedlich verteilt. Zweitens. Es gibt einen Rückgang der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge. Hier müssen wir aufpassen. Darin steckt die Gefahr, daß insbesondere - es ist angesprochen worden - Großunternehmen und kleinere Industrieunternehmen Ausbildung zu einem Kostenfaktor machen und die langfristige Wirkung nicht sehen. Daraus könnte ein Facharbeitermangel, ein Fachkräftemangel werden. Wir müssen aufpassen, daß das nicht passiert. Meine Damen und Herren, ich will auch festhalten, daß es Daten und ein paar Schritte gibt, wo wir konkreter geworden sind. Das eine Datum ist der 1. Juli - ich will darauf noch einmal hinweisen -, wo im Kabinett darüber geredet wird, was notwendig ist zu tun. Aber jetzt muß erst einmal der Druck gemacht werden, daß in den Betrieben etwas passiert. ({7}) - Ja, natürlich, der wird ja auch erfüllt. Der ist jedes Jahr erfüllt worden, Herr Rixe. Worüber reden wir eigentlich die ganze Zeit? ({8}) - Ja, natürlich ist der erfüllt worden. ({9}) Es gibt zweitens ein Ergebnis: Die eingesetzte Arbeitsgruppe „Berufliche Bildung" der Regierungschefs von Bund und Ländern hat ja ein Maßnahmenpaket vorgelegt, eine ausreichende Zahl qualifizierter betrieblicher Ausbildungsplätze zu schaffen. Das ist ein Punkt, der darin enthalten ist. Zweiter Punkt: attraktive berufliche Aus- und Weiterbildung. Das ist auch schon angesprochen worden. Es wird hier konkretisiert. Es ist ein Programm da, wo man erkennen kann, wann und mit wem welche Aufgaben gelöst werden. Dritter Punkt: das Ansehen der Berufsbildung in der Arbeitswelt zu verbessern - ein ganz wesentlicher Punkt. Vierter Punkt: die Gleichwertigkeit der Berufsausbildungsabschlüsse beim Zugang zu weiteren Bildungswegen anzuerkennen. Fünfter Punkt: den Anteil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung weiter zu verringern. Die vergessen wir vielfältig. Deswegen, meine Damen und Herren - das muß ich einfach sagen, nachdem ich das jetzt über die ganze Legislaturperiode hier mitdiskutiert habe, mitgestalten konnte und auch feststellen konnte, was wirklich erreicht worden ist -, kann die Devise auch in einem Wahljahr nicht heißen: miesmachen, sondern die Devise kann nur heißen: mitmachen und Mut machen. ({10}) Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler wird mitmachen und Mut machen. Er ist bei den Repräsentanten der Wirtschaftsverbände im Wort und nimmt das Wort von ihnen, sich einzusetzen. Der Minister für Bildung und Wissenschaft ({11}) ist bei Verbänden und Organisationen dabei, mitzumachen. ({12}) - Vielleicht ist er gerade dabei, Mut zu machen, und hat vielleicht einen größeren Beitrag geleistet als wir hier. ({13}) Der DIHT wird mitmachen und Mut machen. Er hat eine Kampagne angekündigt. ({14}) - Entschuldigung, Herr Rixe, all das hat im letzten Jahr geholfen. Hätten wir im letzten Jahr zu dem Zeitpunkt, als Sie gesagt haben, wir sollen hier Programme machen, dies getan, hätten wir in der Tat ({15}) die hohe Zahl von betrieblichen Ausbildungsstellen nicht bekommen, die wir am Ende hatten und die wir dringend gebraucht haben. Das ist ein Faktum. Das können wir hier auch nicht wegdiskutieren. ({16}) Deswegen bitte ich Sie auch herzlich in einem Wahljahr, nicht mieszumachen, meine Damen und Herren, sondern schließen Sie sich den Mimachern und Mutmachern an. Gehen Sie raus! Machen Sie den jungen Leuten Mut, und reden Sie nicht nur immer die auch vorhandenen negativen Zahlen hoch. ({17}) Herzlichen Dank. ({18})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir zu dem Tagesordnungspunkt nicht vor. Ich kann also die Aussprache schließen. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Tagesordnungspunkt 2 a. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Berufsbildungsberichts 1994, der Ihnen auf der Drucksache 12/7344 vorliegt, an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 2 b. Wir stimmen über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes ab. Das liegt Ihnen vor auf der Drucksache 12/2125. Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft empfiehlt auf der Drucksache 12/7272 unter Nr. 1, den Gesetzentwurf abzulehnen. ({0}) Ich lasse über den Gesetzentwurf der SPD auf Drucksache 12/2125 abstimmen. Diejenigen, die dem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Gesetzentwurf zuzustimmen wünschen, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf der SPD mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der PDS/Linke Liste abgelehnt worden, und eine dritte Lesung erübrigt sich. Wir stimmen weiter über den Tagesordnungspunkt 2 b ab. Der Ausschuß für Bildung und Wissenschaft empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlußempfehlung, ebenfalls auf der Drucksache 12/7272, die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Wir stimmen über Tagesordnungspunkt 2 c ab: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zur Sicherung des Ausbildungsplatzangebots in den neuen Ländern. Dies liegt Ihnen auf Drucksache 12/7086 vor. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5495, diesen Antrag abzulehnen. Wer stimmt der Beschlußempfehlung, den Antrag abzulehnen, zu? - Dagegen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Wir stimmen über den Tagesordnungspunkt 2 d ab: Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem Bericht über die Erfahrungen mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes. Dies liegt Ihnen auf Drucksache 12/7275 vor. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5783, den Antrag abzulehnen. Wer der Beschlußempfehlung, den Antrag abzulehnen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Wir stimmen über den Tagesordnungspunkt 2 e ab: Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1993 zur Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze in den neuen Ländern. Das sind die Drucksachen 12/6984 und 12/7370. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Gruppe PDS/Linke Liste angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 in Deutschland - Drucksache 12/5781 Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor, wobei die PDS/Linke Liste eine Redezeit von 10 Minuten hat. Herr Dr. Gysi, Sie haben das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die zwei größten Verbrechen, die die Nazidiktatur begangen hat, sind auf der einen Seite der Beginn und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, der die Menschheit nahe an den Abgrund ihrer Existenz geführt hat, und es ist auf der anderen Seite ein bis dahin in der Geschichte einmaliger Massenmord an etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden aus einem einzigen Grunde, eben weil sie jüdisch waren. Es gab keine politische Motivation, es hat sie nicht interessiert, ob es sich um Gegnerinnen und Gegner ihres Regimes handelte oder nicht. Es hat sie auch nicht die soziale Struktur interessiert, sondern allein ihre jüdische Herkunft. Nicht einmal der Glaube hat sie interessiert, denn auch der war völlig unrelevant. Es sind 6 Millionen Menschen ermordet worden auf viehischste und industrielle Art und Weise. Ich weiß sehr wohl, daß die Nazidiktatur auch viele andere Menschen ermordet hat. Heute früh haben wir der Sinti und Roma gedacht. Ich weiß, daß Homosexuelle ermordet wurden. Ich weiß, daß Kommunistinnen und Kommunisten ermordet wurden. Ich weiß, daß Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ermordet wurden. Ich weiß, daß aufrechte Katholiken ermordet wurden, daß evangelische Pfarrer und Gläubige ermordet wurden, die sich z. B. zur Bekennenden Kirche bekannt haben. Das alles ist mir bekannt. Es gibt auch immer wieder Gelegenheit, all dieser Opfer zu gedenken, z. B. am 8. Mai oder auch am 1. September, oder am Tage der sogenannten „Machtübernahme durch die Nazis" am 30. Januar. Es sind verschiedene Möglichkeiten. Dennoch sage ich, der Genozid am jüdischen Volk, das Ziel, eine Gruppe von Menschen, die vor über 2 000 Jahren - aus welchen Gründen auch immer - ihre Heimat verloren haben und dennoch 2 000 Jahre in der Diaspora in den verschiedensten Ländern dieser Welt überlebten und in den verschiedensten Ländern dieser Welt auch immer auf unterschiedliche Art verfolgt waren, im Mittelalter aus religiösen Gründen, später aus ganz anderen Gründen - wir hatten Pogrome in Rußland, wir hatten Pogrome in Polen, wir hatten Pogrome in Deutschland, all diese Entwicklungen des Antisemitismus, der auch immer in der Literatur nicht nur in Europa, aber gerade auch in Europa eine ganz große Rolle spielte -, fand seinen entsetzlichen Höhepunkt in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Es war übrigens ein Prozeß. Es war ein Prozeß der Entrechtung. Es fing an mit der Beschränkung der Rentenansprüche. Es ging weiter über das Verbot der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, es ging weiter über die berühmte sogenannte Reichskristallnacht und das Brennen von Synagogen und das Plündern von Geschäften. Es ging um Enteignung. Den Juden wurde dann verboten, Haustiere zu besitzen, sie durften bestimmte Ärzte nicht mehr aufsuchen, sie durften ihrem Glauben nicht nachgehen, sie wurden plötzlich verpflichtet, gelbe Binden mit einem entsprechenden Davidstern zu tragen, bis sie dann in die Lager kamen und bis dann der Massenmord an ihnen beschlossen wurde, mit dem klaren und eindeutigen Ziel, daß es nach diesem tausendjährigen Reich auf der ganzen Welt und schon gar nicht in Europa keine Juden mehr geben soll. Diese Verbrechen sind so einmalig, daß es in vielen Ländern dieser Welt einen Tag gibt, an dem man speziell dieser Opfer gedenkt und den man auch nicht mit anderen Ereignissen mischt. Jeder Tag in der Geschichte hat natürlich verschiedene Bedeutungen. Der Kalender hat nur 365 Tage, und es gibt kein einziges Datum, an dem nicht verschiedene auch bedeutende historische Ereignisse zugleich liegen. Hier z. B. die Ausrufung der Republik durch Scheidemann, die Ausrufung auch der sozialistischen Republik durch Liebknecht, der Fall der Mauer. Alles sind völlig unbestritten ganz wichtige Daten. Dennoch sage ich Ihnen, daß der 9. November des Jahres 1938 eine ganz besonders tiefe Symbolik hat. Wir als Deutsche müssen zu dieser eigenen verbrecherischen Geschichte stehen. Wir brauchen einen Tag, der endlich auch einmal festgelegt ist, wo wir nicht jedes Jahr wieder von vorne anfangen, darüber nachzudenken, ob und wie wir ihn begehen, ob und was wir im Bundestag machen, welche anderen Reaktionen in gesellschaftlichen und staatlichen Kreisen es gibt. Wir müssen uns, finde ich, zu einem Tag bekennen - das kann nur der 9. November sein -, von dem wir sagen: Es ist der offizielle Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmords während der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 in Deutschland. Es geht hier nicht um arbeitsrechtliche Probleme. Wir fordern keinen gesetzlichen Feiertag. Es soll sozusagen kein arbeitsfreier Tag sein; das wäre auch durch nichts gerechtfertigt, das will ich ganz deutlich sagen. Es soll ein Tag der Mahnung und Erinnerung sein. Das heißt, wir legen gesetzlich nur fest, daß eigentlich der Staat an diesem Tag in besonderer Weise verpflichtet ist, dieser Opfer zu gedenken. Ich glaube, daß Bürgerinnen und Bürger in großem Umfang nachziehen werden. Wir werden dann jedes Jahr einen Tag haben, anläßlich dessen wir uns besinnen müssen und auch darüber nachdenken, wie so etwas oder auch nur irgend etwas ähnliches für die Zukunft für immer ausgeschlossen werden kann. In einer Zeit, in der die rechtsextremistische Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland so unerträglich zunimmt, in einer Zeit, in der auch Antisemitismus wieder Blüten schlägt, in einer Zeit, in der, worüber wir heute mittag diskutiert haben, in Magdeburg Schwarzafrikaner auf offener Straße verfolgt, gejagt, geschlagen und getreten werden, wo Menschen mit Behinderungen, die im Rahmen der Euthanasie übrigens auch Opfer der Nazidiktatur geworden sind, aus Straßenbahnen gestoßen und danach auch noch getreten werden, in einer Zeit, wo all das plötzlich relativiert wird, wo wir plötzlich auch rechtsgerichtete Intellektuelle haben - ich denke an Botho Strauß und andere, die in Beiträgen im „Spiegel" und sonstwo versuchen, die nationale Frage in eine ganz bestimmte Richtung zu drängen -, wo wir eben heute - von einem Vertreter der CDU, muß ich sagen - gehört haben, daß die Integrationsfähigkeit des Volkes begrenzt war - ich erinnere Sie an alle Theorien in der Nazizeit über das „Wirtsvolk" und wie sich „Gäste" wie die Juden im Vergleich zum „Wirtsvolk" zu benehmen hätten -, wo wir es erleben, daß ernsthaft Herr Bubis in Rostock gefragt wird, ob er nicht eigentlich nach Israel und nicht nach Deutschland gehörte, wo wir es erleben, daß sich ein Mitglied des Europäischen Parlaments, der Herr Schönhuber - ich habe schon Schwierigkeiten mit dem Namen -, ernsthaft wagt, Herrn Bubis einen Volksverhetzer zu nennen, wo das durchgeht, wo wir dagegen praktisch keine rechtlichen Möglichkeiten haben und wo es uns völlig unzureichend gelingt - und hier müssen wir alle selbstkritisch sein -, das so zu ächten, wie es eigentlich geächtet werden müßte, kann dieser Bundestag ein Signal setzen, indem er sagt: Wir führen einen offiziellen Gedenktag für die Opfer des Holocaust ein und damit einen Gedenktag für eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit überhaupt, ausgelöst durch dieses Deutschland und seine Menschen - das ist ja das Problem! - und zugelassen von ihnen, die weggesehen haben. Viel davon hatten Nachbarinnen und Nachbarn und haben gesehen, daß sie nicht mehr da waren und wie sie weggeführt wurden. Wissen Sie: Es geht hierbei um Menschen, die überhaupt keine Chance hatten. Der entscheidende Unterschied zu den verfolgten Kommunistinnen und Kommunisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und vielen anderen politischen Gegnerinnen und Gegnern des Nazi-Regimes bestand ja darin: Die hatten theoretisch noch eine Wahl; sie konnten sich politisch entscheiden. Wir gedenken dieser Opfer ganz genau so; aber es ist schon etwas anderes, einer Gruppe zu sagen: Wie du dich auch immer entscheidest, wie du dich auch immer verhältst, du wirst von uns liquidiert! Es gibt überhaupt keine Chance für dich, nicht einmal, indem du dich opportunistisch verhältst - nichts, keine Gnade, gar nichts, keine Rechtsgrundlage! Kein einziges Konzentrationslager hatte eine Rechtsgrundlage. Nicht einmal die Nazis haben sich gewagt, dafür eine Rechtsgrundlage zu schaffen. Sie haben den Massenmord einfach betrieben und geleugnet, wie wir das heute auch erleben und worüber wir diskutieren. Zu diesem Leugnen werde ich nachher noch etwas sagen. Ich habe noch mehr Angst vor dem Tag, an dem Leute mit Stolz an diese Verbrechen erinnern und sie nicht mehr leugnen. ({0}) - Ich weise nur darauf hin, daß auch das kommen könnte. Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen einen solchen Tag. Ich bitte Sie, dem in Anbetracht der Ereignisse der letzten Jahre, der letzten Monate, der letzten Tage, unserer Diskussion von heute zuzustimmen, auch wenn ich weiß, daß er den Nachteil hat, ein Antrag von uns zu sein. Setzen Sie sich einfach darüber hinweg! Stimmen Sie dem zu! Setzen wir ein Signal! Führen wir einen offiziellen Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Holocaust ein und sagen damit allen Deutschen in diesem Lande und allen Nachbarinnen und Nachbarn, die sich für die Entwicklung in Deutschland interessieren: Dieser Bundestag entscheidet, daß es einen solchen Tag der Mahnung und Erinnerung offiziell in dieser Bundesrepublik Deutschland gibt, dem sich niemand in dieser Bundesrepublik Deutschland entziehen darf. Das ist unser Anliegen. Ich kann Sie nur bitten: Stimmen Sie zu; machen Sie es nicht von formalen Mehrheitsverhältnissen abhängig! Hierin sollten wir eigentlich aller einer Meinung sein. Danke schön. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Professor Dr. Roswitha Wisniewski das Wort.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Gysi, Sie sind wahrscheinlich noch nicht so ganz in dem Leben der Bundesrepublik geübt; denn natürlich gedenken wir jedes Jahr der Dinge, die Sie eben erwähnt haben, wenn auch nicht hier im Bundestag und offiziell, so doch überall in der Bundesrepublik. ({0}) Die Anregung der PDS/Linke Liste, den 9. November zu einem Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmordes während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zu machen, stimmt nachdenklich, und - ich muß es leider gestehen - sie hat mich auch peinlich berührt. Es steht, glaube ich, einer Partei, die aus der Nachfolge der SED kommt, nicht gut an, sich zum Wortführer der Mahnung zum Gedenken an die Greuel der Nationalsozialisten zu machen, nachdem die SED unseren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine gerechte Würdigung ihrer Leiden jahrzehntelang vorenthalten hat ({1}) und nachdem seit der Wende immer mehr eigene Unrechtstaten des SED-Regimes auch gegen Jüdinnen und Juden offenbar werden. In der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts - das wurde schon gesagt - spielt der 9. November eine bemerkenswerte und durchaus ambivalente Rolle. Nachdem das deutsche Kaiserreich in der Novemberrevolution verschwunden war, verließ am 9. bzw. 10. November 1918 der deutsche Kaiser Deutschland; die Abdankung folgte wenige Tage später. In der Forschung gibt es Überlegungen, ob die deutsche Geschichte anders verlaufen wäre, wenn es gelungen wäre, rechtzeitig eine stabile parlamentarische Monarchie - nach dem damaligen Zeitverständnis - aufzubauen. Wenige Jahre später, am 9. November 1923, führte Hitler seinen Marsch auf die Feldherrenhalle durch. Dieser 9. November wurde zum nationalistischen Gedenktag erhoben, zum - Sie entsinnen sich sicherlich - Tag der Gefallenen der Bewegung; so hieß er damals. Sicherlich nicht ohne Bezug darauf wurde der 9. November 1938 zum unübersehbaren Zeichen der sich anbahnenden Vernichtung der Juden. Synagogen brannten, Geschäfte und andere Einrichtungen von Jüdinnen und Juden wurden zerstört. Die Schrekken und die Verbrechen dieser Nacht sind unvergessen und dürfen nie vergessen werden. Aber, der 9. November wurde auch ein Tag der Wiederkehr der Freiheit für den Teil Deutschlands, in dem nach 1945 die zweite Diktatur dieses Jahrhunderts in Deutschland errichtet worden war. Am 9. November 1989 fiel die Mauer, der sogenannte antifaschistische Schutzwall; so wurde er von den Machthabern des SED-Regimes genannt. In einer friedlichen Revolution wurde der SED-Unrechtsstaat beseitigt. Wer die historischen Ereignisse der jüngsten deutschen Vergangenheit in wacher Anteilnahme wahrnimmt, wird an jedem 9. November aller dieser Ereignisse gedenken. Das sollte natürlich auch in öffentlichen Veranstaltungen und im Schulunterricht geschehen. Ist es aber wirklich erlaubt und sinnvoll, nur eines dieser Ereignisse zum Inhalt offiziellen Gedenkens im Deutschen Bundestag zu machen? Es gab Anregungen, den 9. November zur Erinnerung an den Fall der Mauer zum Tag der deutschen Einheit zu erklären. Aber wie hätte das ein Tag der Freude und der Befreiung sein können vor dem Hintergrund düsterster Ereignisse, die ebenfalls am 9. November geschahen? Oder will die PDS gar das Andenken an den Fall der Mauer verdrängen? Ich kann mir dies nicht vorstellen. In den Beratungen, die wir jetzt beginnen, sollte der Antrag der PDS in den größeren Zusammenhang gestellt werden, in dem der Deutsche Bundestag gegenwärtig über die angemessene Form des Gedenkens an die Unrechtstaten der nationalsozialistischen Diktatur wie auch der SED-Diktatur berät.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Kollegin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Gysi zu beantworten?

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin, mal abgesehen von Ihren Wertungen, die Sie zum Teil vorgenommen haben, und den Gleichsetzungen und Vergleichen, die ich so nicht akzeptieren kann, interessiert mich an Ihren letzten Überlegungen nur eines: Der 9. November war der Tag des Politbürobeschlusses über den Fall der Mauer und der Bekanntgabe dieses Beschlusses durch Herrn Schabowski, durch die Presse; im Grunde genommen wäre das die Würdigung einer Politbüroentscheidung. Glauben Sie nicht im Ernst, daß nicht der 4. November, der Tag der größten Massendemonstration in der DDR, der letztlich seinen Beitrag dazu geleistet hat, oder der 18. Oktober, der Tag der größten Demonstration in Leipzig, viel geeigneter wären, um dieser Art von Befreiung, an die Sie denken, zu gedenken, als gerade der Tag eines Politbürobeschlusses? Ich glaube, daß es für Ihr Anliegen - ich will das durchaus respektieren - günstigere Tage in der Geschichte des Herbstes 1989 gibt, insbesondere der 4. November oder der 18. Oktober. Dann müßten wir diesen Tag, der eine solch andere historische Bedeutung hat, nicht unzulässig vermischen; denn die Verbrechen an den Juden waren so einzigartig, daß sie sich meiner Meinung nach durch kein anderes histo19662 risches Ereignis relativieren lassen. Würden Sie dem zustimmen?

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gysi, ich war am 9. und 10. November 1989 zufällig in Berlin. Ich habe die Menschen gesehen, die auf der Mauer gestanden haben - für mich ein unvergeßliches Bild und ein völlig unvergeßlicher Vorgang. Ich glaube, der Politbürobeschluß und die Verwirrung, die im Hintergrund vielleicht bestand, tritt hinter diese Dinge zurück. Aber wir können uns darüber gern auseinandersetzen und darüber sprechen. Auf jeden Fall geht es uns zur Zeit darum - ich sagte: es ist wichtig, daß wir Ihren Vorschlag in einen größeren Zusammenhang stellen -, in welcher Form wir das Gedenken an die beiden Diktaturen in Deutschland in Zukunft gestalten, daß wir also dies mit einbeziehen. Dabei geht es vor allem um die Frage, auf welche Weise dies geschieht, weil es tatsächlich unerläßlich ist, daß wir zur Überwindung totalitaristischer Ideologien, Systeme und politischer Praktiken durch solche Gedenkstätten und Gedenkformen der verschiedensten Art beitragen. Denn dies - ich glaube doch, darin sind wir uns einig - ist die Botschaft, die von dem Gedenken an die beiden sicher nicht gleichen, aber doch vergleichbaren Diktaturen ausgehen muß, die in diesem Jahrhundert in Deutschland errichtet wurden. Zu dieser Aufgabe gehört übrigens auch die Überwindung jenes trügerischen Antifaschismusbegriffs, der - leider, muß ich sagen - zur Zeit allzu unkritisch wieder verwendet wird, auch hier bei uns in dem westlichen Teil der Bundesrepublik, eines Antifaschismusbegriffs, mit dem die SED die Menschen in der ehemaligen DDR zu täuschen und zu gängeln wußte. Distanziert sich eigentlich die PDS davon? Ich hoffe dies sehr. Oder muß man etwa befürchten, daß der von ihr propagierte Gedanke an einen Gedenktag zur Wiederbelebung von antifaschistischer SED-Praxis beitragen soll? Ich nehme dies nicht an. Auch darüber aber müssen wir bei den Beratungen im Innenausschuß sprechen; denn auch dies gehört zu den wichtigen Zielen der Aufarbeitung des Unheils deutscher Geschichte in diesem Jahrhundert. Dazu kann eine Partei, die in der Nachfolge der SED steht, natürlich viel beitragen. Die CDU/CSU ist jedenfalls zu einer intensiven Diskussion über diese Fragen gern bereit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Siegfried Vergin.

Siegfried Vergin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002367, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Diese erste Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfes über den Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur zwischen 1933 und 1945 in Deutschland sollte uns Veranlassung sein -jedenfalls für mich war es das -, darüber nachzudenken, warum es angesichts so vieler Gedenktage in unserer Republik bis heute keinen Gedenktag an die jüdischen Opfer des Völkermordes während der Nazidiktatur gibt. Michel Friedmann, Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, stellte im November 1992 mit Bedauern fest, daß für die „furchtbarste und einmalige Zerstörung menschlichen Wertes" kein solcher Tag eingeführt worden sei. Er führte aus - ich zitiere -: Es ist immer wichtig, sich daran zu erinnern, wie schnell Menschen ihre Menschlichkeit vergessen und zu welchem Unglück es führt, wenn Gewalt in einer Gesellschaft herrscht. In Anlehnung an Martin Niemöller schloß er mit den Worten: Erst trifft es die Minderheiten, letztlich trifft es alle Menschen in einem Staat. Kolleginnen und Kollegen, ein Gedenken in einer jährlichen Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages gäbe die Möglichkeit, gegen das Vergessen und für die Demokratie zu werben. Sie gäbe aber vor allem die Möglichkeit zu reflektieren, wie wir unsere Demokratie sehen. Die jüngsten Ereignisse, aber auch die vielen Schändungen jüdischer Friedhöfe, der Anschlag auf die jüdische Baracke in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen und der Synagogenbrand in Lübeck unterstreichen dies. Das Datum des 9. November als Tag der Mahnung und Erinnerung an die jüdischen Opfer des Massenmordes halte ich aber für problematisch. Der 9. November trägt viele Ereignisse deutscher Geschichte in sich, positive wie negative. Mit der Ausrufung der Republik 1918 und der Maueröffnung 1989 steht er für Freiheit und Demokratie. Der Hitler-Putsch 1923, die Gründung der SS durch Adolf Hitler 1925, die 1933 erfolgte Vereidigung der berüchtigten „Leibstandarte Adolf Hitler", insbesondere aber die Reichspogromnacht vom November 1938 stehen dagegen für staatlich legitimierte Brutalität gegen Andersdenkende und letztlich für Mord. Nicht zuletzt wegen der Widersprüchlichkeit dieses Datums scheiterten zu Recht Versuche, nach der Einigung Deutschlands diesen Tag zum deutschen Nationalfeiertag zu erklären. Der 9. November als Gedenktag wäre widersprüchlich und damit mißdeutig. Daran würde auch eine durch Gesetz bestimmte inhaltliche Füllung nichts ändern. Ignaz Bubis hat sich im April 1993 aus Anlaß des 50. Jahrestages des Warschauer-Ghetto-Aufstandes für die Einführung eines offiziellen Gedenktages zur Erinnerung an die nationalsozialistische Judenverfolgung ausgesprochen. Damals wäre der Deutsche Bundestag gut beraten gewesen, diesen Vorschlag aufzunehmen. ({0}) Anläßlich dieses Aufstandes wird in Israel auf Beschluß der Knesseth vom 12. April 1959 des Holocaust, der Shoa, aber auch des jüdischen Heldentums gedacht - für Israel ein wichtiger nationaler Gedenktag. Ich bin durch den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit dem ich vor drei Tagen über diesen Antrag eingehend gesprochen habe, autorisiert, vor dem Deutschen Bundestag zu erklären, daß er den 9. November als Gedenktag ablehne. Statt dessen schlage er den 8. Mai als offiziellen Gedenktag an die Judenverfolgung und -vernichtung vor. Es ist der Tag der Befreiung, der Tag, an dem sich den geschundenen und gequälten Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager endlich die Tore zur Freiheit öffneten. ({1}) Und es ist der Tag, an dem es dem deutschen Volke insgesamt ermöglicht wurde, den Weg in die Demokratie zu gehen. ({2}) Ich meine, verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit würden auch wir Deutschen keinen Zweifel daran lassen, daß dieser Tag für uns alle ein Tag der Befreiung von der Nazibarbarei war, den auch Deutsche im Widerstand mit herbeigeführt haben. Viel zu lange ist man bei uns daran gewöhnt, von der deutschen „Niederlage" und vom deutschen „Zusammenbruch" zu reden, obwohl doch erst dieser den demokratischen Neuanfang ermöglicht hat. ({3}) Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, ein Tag der Mahnung und Erinnerung an die Opfer des Massenmordes während der Nazidiktatur sollte die Unterstützung des Deutschen Bundestages finden. Wir stimmen der Überweisung des Antrages an den Innenausschuß zu. Dort sollte jedoch nicht nur über den 9. November diskutiert werden, sondern auch über den Vorschlag des Herrn Bubis. Zu überlegen ist auch, wie dieser Tag begangen werden soll, d. h. ob eine Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages wirklich ausreicht. Im Innenausschuß sollte der Vorschlag des Präsidenten der Israelischen Lehrergewerkschaft, Dr. Schalom Lewin, der vor zwei Jahren auch der deutschen Öffentlichkeit vorgelegt wurde, bedacht werden, im Rahmen eines offiziellen Gedenkens an die Shoah in Deutschland auch in Klassen, Arbeitsgemeinschaften, in Projekten und Schulversammlungen, wie er sagt, besonders intensiv über die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte zu unterrichten. Meine Damen und Herren, ich glaube, der Anstoß zum Nachdenken darüber, wie wir mit unserer Vergangenheit im Blick auf die Zukunft umgehen wollen, ist, glaube ich, dem Deutschen Bundestag gut angestanden. Ich hoffe, daß wir in den Beratungen zu einem Ergebnis kommen können. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Wolfgang Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwischen der Geschäftsordnungsdebatte, die wir schon am 21. Oktober zu dem Thema hatten, und der heutigen Debatte hat es zwei Anschläge auf Synagogen in der Bundesrepublik Deutschland gegeben, von denen nur der eine wirklich öffentlichen Aufmerksamkeitswert bekommen hat. Daß die Essener Synagoge beschädigt wurde, war eine kleine Meldung, die groß nur aus dem Ausland mit Recht mahnend auf uns zurückkam. Der Anschlag auf die Lübecker Synagoge, dieses feurige Fanal, das hier geschehen ist, ist uns allen noch erschreckend vor Augen. Wir können nur hoffen, daß die Täter wirklich auch gefunden sind und nicht nur vorläufige Festnahmen erfolgt sind. Ich sage dies bewußt vorweg, weil ich eines unterstreichen möchte, Herr Kollege Gysi: die Einmaligkeit des Holocaust. Wir machen uns etwas vor, wenn wir davon Abstriche machen wollen. Die Einmaligkeit des Holocaust - Sie haben auf die Unmöglichkeit zu entrinnen, die Unmöglichkeit, Widerstand zu leisten, hingewiesen, auch auf die Unmöglichkeit, daß sich das frisch geborene Kind, in der Wiege sich noch von der Muttermilch nährend, überhaupt als Persönlichkeit entfalten konnte, als es schon mit dem Völkermord konfrontiert war und ins KZ kam - ist dann noch mit einer deutschen Gründlichkeit gepaart. Wer je in Auschwitz gesehen hat, wie im „Stammlager Auschwitz" - wie das, glaube ich, so schön hieß - das Standesamt geführt wurde und die Sterbeurkunden einzeln ausgefüllt wurden - nachher beim Massenmord in Birkenau war es nicht mehr möglich -, wer diese deutsche Perfektion erlebt hat, der sieht sich schon veranlaßt, einen Punkt des Nachdenkens zu finden. Ich unterstreiche das, was der Kollege Vergin gesagt hat; ich habe es in der Geschäftsordnungsdebatte damals auch schon gesagt. Dieses Datum ist nicht geeignet. Die Form eines Gedenktages macht jedenfalls uns aus der alten Bundesrepublik in Anbetracht des erschreckenden Abstumpfens des Gedenkens an den 17. Juni nachdenklich. Beides ist nicht vergleichbar. Aber die Warnung vor Gedenktagen dieser Art möchte ich doch geben. Was mir vorschwebt - und darauf werde ich in den Beratungen des Innenausschusses, die wir hoffentlich bald durchführen können, eingehen -, ist, daß wir die verschiedenen Facetten und die verschiedenen Ansatzpositionen des Nationalsozialismus gegen die Juden auch wirklich beleuchten. Das war ja leider nicht nur an einem Tag. Das begann schon, als unsere Leute - Herr Dr. Hirsch hat heute morgen von denen gesprochen, die weggesehen haben - weggesehen haben, als die Beamten aus dem öffentlichen Dienst entfernt wurden, als sie weggesehen haben, als die Empfehlung kam: „Kauft nicht bei Juden. " Das endet nicht damit, daß wir heute manchmal noch immer von Deutschen und Juden - von Halbjuden spricht man heute nicht mehr, von Halbchristen hat niemand gesprochen, von Viertelkatholiken oder Dreiviertelprotestanten schon gar nicht - hören. Wir müssen meines Erachtens darüber nachdenken, wie wir eine geeignete, vielfältige Form des Gedenkens erreichen können und wie wir uns hier in diesem Bundestag darstellen, damit es nicht so ist wie früher am 17. Juni, wo wir immer schön Reden gehalten haben, Reden gehört haben, pflichtschuldig gekommen sind, Reisekosten ersetzt bekommen haben und dann wieder weitergefahren sind. Das geht mir nicht tief genug. Es muß tiefer gehen in das eigene Erleben, in das eigene Wissen. Wir müssen über diese Form nachdenken. Das ist, glaube ich, unsere Aufgabe, ebenso wie das, was wir in der nächsten Woche im Innenausschuß zum Thema Gedenkstätten und was wir zum Thema Deserteure und Kriegsdienstverweigerer tun müssen. Wir müssen uns auch mit der Frage befassen: Wie stehen wir zu der Geschichte, was haben wir eigentlich gelernt, wie sehen wir das an? Das war nicht nur eine Diktatur, das war schlimmer, das war mehr, das war einmalig. Diese Einmaligkeit mit der Brutalität und Vielseitigkeit des Terrors gehört wachgehalten. Danke. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs ist der nächste Redner.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Deutsche tun uns schwer mit unserer Geschichte. Deshalb tun wir uns auch schwer mit nationalen Gedenktagen und nationalem Bewußtsein überhaupt. Deutschland und die Deutschen haben in ihrer jüngeren Geschichte zwei Genozide und zahlreiche, zum Teil unvorstellbar grausame Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten. Eben deshalb kann dieses Land und kann diese Bevölkerung sich einen neuen Nationalismus, sei er auch geläutert und aufgeklärt, nicht erlauben, nicht aus moralischen Gründen und auch nicht aus faktisch-politischen Gründen. Wird denn nicht jede Berufung auf deutsche nationale Tradition, auf Leistung, auf Kultur oder auch auf die nationale Wiedervereinigung 1989 sofort zwangsläufig die Erinnerung an die furchtbaren Verbrechen des dritten Deutschen Reiches mit sich bringen müssen? Muß nicht jede deutsche nationale Referenz und Regung bei unseren Nachbarvölkern, aber z. B. auch in den USA oder in ganz fernen Ländern wie Australien und Neuseeland, die an der alliierten Befreiungsaktion im Juni 1944 in der Normandie teilgenommen haben, sofort entgegenwirkende Gefühle und Argumente hervorrufen? Sollten wir uns nicht eher auch vor den Opfern dieser Völker verneigen, statt krampfhaft neue nationale Feiertage einrichten zu wollen? Es gibt keinen gesunden deutschen Nationalismus; es kann ihn nicht geben. Es gibt übrigens auch in anderen europäischen Ländern nicht diesen gesunden Nationalismus, bzw. dort wird er schlicht und einfach schnell lächerlich. Hier wirkt er jedoch makaber und einfach schrecklich. Denn in Deutschland ist er verbunden mit den Erinnerungen an die deutsche Barbarei, auch an die hochgradige Zustimmung der deutschen Bevölkerung zum NS-Regime. Wir sind aber dazu verpflichtet, die Erinnerung und das Gedächtnis an die Opfer dieser Barbarei wachzuhalten, an die jüdischen Opfer - insbesondere an diese -, an die Sinti und Roma - auch an diese -, an die unvorstellbar vielen, die aus allen möglichen Gründen zu Opfern der deutschen Barbarei geworden sind. Die Deutschen hatten die Möglichkeit, ein ganz anderes, aus der Negation der nationalen Barbarei der Zeit von 1933 bis 1945 gewonnenes Staats- und Gesellschaftsverhältnis zu entwickeln. Sie haben diese Chance nicht genutzt, nicht im Westen, nicht im Osten und schon gar nicht nach der Wiedervereinigung 1989. Um so wichtiger wird es, an diesem Tag, dem 9. November, nicht nur der Ausrufung der ersten deutschen Republik 1918 und der Wiedervereinigung 1989 zu gedenken, sondern auch und insbesondere der Reichspogromnacht und der Genozide an Juden und an Sinti und Roma. Nun muß ich doch noch etwas zur realen politischen Situation sagen, weil da vieles auch Angst macht, und das an die Adresse der PDS: Gespräche mit NeonaziRädelsführern, das Feststellen von partiellen Übereinstimmungen mit ihnen, wie vor einiger Zeit von der damals stellvertretenden PDS-Vorsitzenden praktiziert, oder Interviews von PDS-Landtagsfraktionsvorsitzenden in Mecklenburg-Vorpommern mit ausgerechnet dem führenden Neonazi-Organ, der „Jungen Freiheit", bedeuten nicht, daß man sich aus dem völkischen Dunst heraushält, sondern im Gegenteil: Linker Populismus schlägt um in gefährliche Rede- und Argumentationsgemeinsamkeiten mit den neofaschistischen Kräften. Dem Grundanliegen des PDS-Antrags, einen würdigen Gedenktag zu schaffen, der den furchtbaren Verbrechen insbesondere an der jüdischen Bevölkerung Rechnung trägt, ist jedoch voll zuzustimmen. Herr Präsident, ich danke Ihnen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf der Drucksache 12/5781 an den Innenausschuß vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Gibt es weitere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß ({0}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Strafbarkeit der Leugnung des nationalsozialistischen Völkermordes - Drucksache 12/7421 -Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 30 Minuten vor, wobei das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als einbringende Gruppe eine Redezeit von 10 Minuten erhalten soll. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist es so beschlossen. Dann kann ich Herrn Dr. Wolfgang Ullmann das Wort erteilen.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Auschwitz-Lüge" sagen die einen. Sie halten sogenannte wissenschaftliche Konferenzen mit Hinrichtungsexperten, um ganz unvoreingenommen im Sinne dessen, was sie sich unter wissenschaftlicher Objektivität vorstellen, mit einer befremdlichen Unschuldsmiene zu erörtern, ob der Massenmord an den Juden, der Versuch, ein ganzes Volk aus der Menschheit auszurotten, wirklich stattgefunden hat. Wieder andere sind geschäftig, die Namen derer, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft und dabei ihr Leben verloren haben, aus der deutschen Öffentlichkeit verschwinden zu lassen. Da gibt es alte Herren, die unter voller Angabe ihres Namens, ihrer Adresse und unter Berufung auf ihre in der Hitler-Armee erlangten Orden denen mit der Hinrichtung durch ein Kriegsgericht drohen, die den Dienst in einer durch schwere Völkerrechtsverstöße und grauenhafte Unmenschlichkeiten befleckten Armee verweigert und sie verlassen haben. Es gibt Leute in unserem Land, die auf Zustimmung der öffentlichen Meinung rechnen können, wenn sie mit einem Aufkleber auf der Rückwand ihres Pkw herumfahren, auf dem steht: Eure Armut kotzt mich an. Es begegnet einem beim Straßenwahlkampf, daß von ganz harmlosen Mitbürgern und Mitbürgerinnen der gute Rat gegeben wird: Wenn die Politiker Stimmen sammeln wollen, sollten sie sich doch endlich zu der Losung „Unser Volk zuerst" bekennen, und zwar zur prinzipiellen Antastbarkeit der Menschenwürde derer, die diesem Volk nicht angehören, zur Veräußerlichkeit von Menschenrechten, wenn die selbstverständlichen Vorrechte des eigenen Volkes das erfordern. Diejenigen, die mich auf dem Berliner Alexanderplatz als „Jude" titulieren, weil ich für die Solidarisierung mit den mißhandelten Bosniern öffentlich eintrete, können sich darauf verlassen, daß das nicht als eine, freilich irrige, Ehrung, sondern als Anpöbelung verstanden wird. Es ist die Tatsächlichkeit dieses Zustandes unserer Öffentlichkeit, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen, auf die die Gesetzesinitiative von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reagiert. Sie tut es mit der Konstatierung eines neuen Strafrechtstatbestandes. Denn es gilt, das Täuschungsmanöver zu unterbinden, das in der Inanspruchnahme des Rechtes der freien Meinungsäußerung etwas ganz anderes bezweckt als die Förderung unseres geschichtlichen Wissens und die unbestochene Konfrontation mit unserer eigenen deutschen Geschichte. Ralph Giordano hat recht, wenn er sagt: Die von der „Auschwitz-Lüge" sprechen, drohen selbst mit Auschwitz. Mit ihren Aktivitäten betreiben sie nicht wissenschaftliche Meinungsbildung unter dem Schutz des Art. 5 des Grundgesetzes. Vielmehr betreiben sie aktiv die nachträgliche Legitimation des NS-Völkermordes. Durch seine aktive Rechtfertigung suchen sie diejenige politische Macht zu mobilisieren, mittels derer früher oder später einmal die Urteile über die deutschen Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit außer Kraft gesetzt werden können und damit eine der Grundvoraussetzungen unserer Demokratie zerstört werden kann. Die Würdigung dieses Sachverhaltes war es auch, die zu der vom Koalitionsentwurf abweichenden Formulierung geführt hat. War es doch genau das Fehlen dieses Tatbestandes „Leugnung des NS-Völkermordes", der zu dem in der Öffentlichkeit mit Recht kritisierten Bundesgerichtshofurteil vom 15. März 1994 geführt hat, in dem jener Satz steht, der Gegenstand der mit berechtigter Leidenschaft geführten Debatte wurde: Daraus ergibt sich zugleich, daß das bloße Bestreiten der Gaskammermorde den Tatbestand der Volksverhetzung nicht erfüllt. Wer kann das in unserem Land ruhigen Blutes anhören: „das bloße Bestreiten der Gaskammermorde"? Aber zu solch hochbedenklichen Formulierungen kommt es, wenn das Reden von „AuschwitzLüge" irgendwie den Tatbeständen Volksverhetzung ({0}), Aufstachelung zum Rassenhaß ({1}) oder Belohnung und Billigung von Straftaten ({2}) subsumiert werden soll. Ich freue mich, mit dem Koalitionsentwurf darin übereinstimmen zu können, daß auch das hochbedeutsame Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 13. April 1994 die vorgesehene Strafrechtsänderung nicht überflüssig macht. Zwar wird in diesem Urteil in Formulierungen von denkwürdiger Präzision klargestellt, inwiefern das Recht der freien Meinungsäußerung begrenzt ist durch die Rücksicht auf etwa berührte Persönlichkeitsrechte einerseits und den Zwang zur objektivierbaren Verifikation im Falle von Tatsachenbehauptungen andererseits. Ansonsten bewegt sich auch das Bundesverfassungsgerichtsurteil auf dem Boden der bisherigen Gesetzeslage und Rechtsprechung. Ich teile mit dem Koalitionsentwurf das Interesse daran, diesen Boden nicht unnötig zu verlassen und damit zu verunsichern. Aber, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist das in Ihrem Entwurf völlig überzeugend gelungen? Ich finde, die Zuordnung zum § 130 StGB könnte die Rechtsprechung abermals in die Falle jenes Beweisnotstandes führen, dessen Dokument das Bundesgerichtshofurteil wurde. Andererseits macht das Wort „billigen" eine Anleihe beim § 140 StGB, was einesteils nicht ganz systemkonform, andererseits tatbestandsverunklärend ist. Es bleibt mir nur, am Schluß die Genugtuung darüber auszudrücken, daß die Initiative von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einem in dieser Sache besonders wichtigen Konsens der Demokraten und Demokratinnen geführt hat, und zu hoffen, daß die Gesetzesänderung, auch wenn sie in der Form des Koalitionsantrags beschlossen wird, unsere Rechtsprechung endlich in den Stand setzt klarzustellen, daß der demokratische Rechtsstaat durchaus in der Lage ist, die tückischen Versuche derer zu durchkreuzen, die ihn verächtlich machen und untergraben wollen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Dietrich Mahlo das Wort.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Herr Ullmann, obwohl ich im Ergebnis dem Strafrechtsänderungsvorschlag des Verbrechensbekämpfungsgesetzes der Koalitionsfraktionen zustimme und nicht dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, begrüße ich doch deren Gesetzesvorlage und teile ihr Anliegen. In der Sache sind sich offenbar alle Fraktionen darüber einig, daß die Leugnung des nationalsozialistischen Völkermords - ich ziehe diese Formulierung dem Ausdruck „Auschwitz-Lüge" vor -, j eden-falls wenn sie in Deutschland und von Deutschen geschieht, eine strafwürdige Handlung darstellt. Nach der Rechtsprechung war das bekanntlich bisher nicht der Fall, solange nicht zusätzlich die Menschenwürde verletzt wurde. Zwar wurde von der deutschen Rechtsprechung eine Kollektivbeleidigungsfähigkeit der in Deutschland lebenden Juden bejaht. Dieser Tatbestand galt aber als durch die sogenannte bloße Leugnung der ihnen widerfahrenen Verfolgung nicht als erfüllt. Daher ist gesetzgeberisches Handeln geboten. Trotz der Übereinstimmung ist allerdings an dieser Stelle die Frage zu stellen: Was ist eigentlich der präzise Grund für eine Strafverfolgung? In dem mir vorliegenden relativ kurzen Formulierungsvorschlag des Bundesministeriums der Justiz steht nur sehr allgemein als Grund: Vergiftung des politischen Klimas. Das scheint mir nicht sehr präzise zu sein. Denn es gibt natürlich sehr viele Vergiftungen des politischen Klimas durch andere Methoden, die wir nicht unter Strafe stellen. Der Antrag vom BÜNDNIS 90 ist meiner Ansicht nach sehr viel interessanter in seiner Begründung, sehr viel tiefergehend und in gewissem Umfang auch anspruchsvoller. Allerdings beschränkt er sich in der entscheidenden Frage, was der Grund für die Bestrafung ist, darauf, den BGH zu zitieren. Wenn ich es richtig verstanden habe, sagt der BGH in einer Entscheidung von 1980, die Anerkennung des Holocaust jedenfalls für die in Deutschland lebenden Juden sei Teil ihrer Würde und die Leugnung des Holocaust eine Form ihrer Diskriminierung. Ich gestehe, daß ich auch Schwierigkeiten habe, die Auffassung nachzuvollziehen, daß es die Identität oder die Würde des jüdischen Menschen als solche verlangten, das NS-Massenverbrechen an ihnen anzuerkennen. Ich kann nicht ganz begreifen, daß den jüdischen Menschen mindestens ein Teil ihrer Würde sozusagen durch die Untaten des Herrn Hitler verschafft sein sollen. Aber wie dem auch sei: Ich neige persönlich dazu, gerade auch als ein nichtjüdischer Deutscher, zu finden, daß die Leugnung des nationalsozialistischen Verbrechens an den Juden insbesondere das deutsche Volk verletzt. Es gibt heute einen Artikel in der FAZ zu diesem Thema. In dem heißt es zu Beginn richtigerweise - vieles andere habe ich nicht verstanden -: Auschwitz ist eine offene Wunde. Wer Auschwitz leugnet, der bewirkt, daß diese Wunde noch offener klafft. Das finde ich richtig. Aber ich bin der Auffassung, es ist in erster Linie eine Wunde am deutschen Volk und erst in zweiter Linie eine Wunde am jüdischen Menschen. Das einzige, was wir als Volk - für ein Volk gibt es eben nicht die Gnade der späten Geburt - tun können, um mit diesen Verbrechen irgendwie umzugehen, ist doch, uns ihrer zu erinnern.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Mahlo, ich habe drei Wünsche vorliegen, Zwischenfragen beantwortet zu bekommen: von Herrn Ullmann, vom Kollegen Schmude und von Herrn Dr. Seifert. Sind Sie prinzipiell bereit, sie zu beantworten?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bereit, sie zu beantworten. Ich will hier jedoch diesen Gedanken noch abschließen. Wie gesagt, das einzige, was uns bleibt, um als Volk damit umzugehen, ist in erster Linie, uns dieser Sache zu erinnern. Wer diese Untaten abstreitet, der nimmt uns die Möglichkeit, sich ihrer zu erinnern, und sei es nur, um damit unsere Zukunft zu meistern. Ich bin hier mit einem Gedanken zu Ende.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zunächst einmal Herr Dr. Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Mahlo, vielleicht können wir uns darüber verständigen, daß unser Gesetzentwurf nicht so sehr, wie Sie vermuten, einen Angriff auf die Würde der jüdischen Menschen beinhaltet, sondern daß er weitergeht und in dem Holocaust die Bestreitung des Lebensrechts zur Voraussetzung hat. Ist es nicht so, Herr Kollege Mahlo - das ist meine Frage -, daß derjenige, der die Tatsächlichkeit des Holocaust bestreitet, damit - mindestens implizit - die Bestreitung des Lebensrechts der Juden bejaht?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wahrscheinlich haben Sie in der Wirkung und in der Tendenz desjenigen, der dieses Bestreiten vornimmt, recht. Trotzdem kann ich das logische Band zwischen der Aussage, die ich bestrafen will, und der Folgerung, die Sie daraus ziehen, nicht nachvollziehen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Schmude.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Mahlo, ich versuche es einfacher zu machen, indem ich Sie frage: Können Sie sich vorstellen, daß Sie, wenn Sie das Opfer eines Raubüberfalls und einer Mißhandlung wären, begangen durch Personen der Gesellschaft, in der Sie leben, sich dann in Ihrer Menschenwürde verletzt fühlen würden, wenn man anschließend nur sagte, Sie hätten Verluste erlitten, Sie hätten einen Unfall erlebt oder dergleichen mehr, aber nicht benennt, was Ihnen wirklich an Schändlichem passiert ist?

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich glaube, daß ich das nachvollziehen kann, obwohl ich wahrscheinlich, jedenfalls gegenüber den Räubern, keinen großen Wert mehr darauf legen würde, daß sie hinterher anerkennen, daß sie mich beraubt haben. Aber es ist einfach so, daß ich gewissermaßen ein Anrecht auf Wahrheit habe, und insofern will ich mich demgegenüber nicht grundsätzlich sträuben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Dr. Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Dr. Mahlo, ich habe jetzt einige Probleme mit Ihren Antworten, insbesondere mit der auf Herrn Ullmanns Frage. Erlauben Sie mir, die Frage so zu stellen: Sie haben gerade ausdrücklich gesagt, daß Auschwitz eigentlich eine offene Wunde für das deutsche Volk ist und daß man sich als Volk nicht aus seiner Geschichte herausstehlen kann, daß man sozusagen als Volk nicht die Gnade der späten Geburt hat. Können Sie mir dann darin folgen - ich denke, das ist auch die Intention des Antrags -, daß die jüdischen Menschen sich ebenfalls nicht aus ihrer Geschichte herausstehlen können oder wollen und daß demzufolge die Leugnung des Tatbestandes des Genozids, die Leugnung des Tatbestandes, daß man ihnen das Lebensrecht bestritt und praktisch zu Taten schritt, das auch zu vollziehen, so tief in jedem einzelnen Mitglied dieses Volkes steckt, daß es mehr als einen gewöhnlichen Straftatbestand darstellt und so tief ist, daß man es wirklich nicht mit irgend etwas anderem vergleichen kann und hier nicht durchgehen lassen kann? Hier geht es nicht um irgend etwas, sondern um etwas ganz Prinzipielles.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Seifert, Sie haben die Frage von Herrn Schmude noch einmal anders formuliert. Im Ergebnis bestreite ich es nicht. Ich kann die Forderung nach Strafwürdigkeit oder Unterstrafestellung sehr gut nachvollziehen. Letztlich habe ich gleichwohl Schwierigkeiten mit der logischen Verknüpfung, daß das Verletztsein im Zusammenhang mit einer offensichtlichen Tatsache, die meine eigenen Leiden betrifft, gleichzeitig auch meine Ehre verletzen soll. Es ist letztlich nicht ganz sicher, ob Sie nicht möglicherweise doch auch recht haben. Offenbar werden die jüdischen Menschen das so empfinden. Wer sich als Deutscher oder auch als Nichtdeutscher in Deutschland nach allem, was geschehen ist, hinstellt und die Frage stellt: „War was?", beleidigt für meine Begriffe nicht nur die Toten und die heute lebenden Angehörigen der Personengruppe, der die Toten zuzurechnen waren, sondern beleidigt nochmals die Würde auch unseres Volkes, indem er unsere Unfähigkeit, mit dieser Vergangenheit angemessen umzugehen, dokumentiert und unser Volk damit gewissermaßnen nochmals als ohne Anstand seiend verächtlich macht. Das ist ein Gesichtspunkt, der mich besonders empört, ganz abgesehen davon, daß der Leugner der nationalsozialistischen Verbrechen natürlich den Versuch unternimmt, die Ideenwelt und die politische Bewegung, die diese Verbrechen hervorgebracht hat, schönzureden und damit den ersten Schritt zu unternehmen, sie wieder gesellschaftsfähig zu machen. Wer das tut, stellt sich nach unserer übereinstimmenden Überzeugung außerhalb aller Gesittung. ({0}) Erlauben Sie mir noch eine Schlußbemerkung, die möglicherweise nicht auf viel Zustimmung stoßen wird. ({1}) Die Unterstrafestellung der Auschwitz-Leugnung ist in meinen Augen eine etwas verspätete Selbstverständlichkeit. Sie entlastet niemanden. Wenn wir die Lektion von Auschwitz als Volk ernst nehmen, kann es eben nicht genügen, daß wir den Nationalsozialismus ein halbes Jahrhundert nach seinem Untergang hier einverständlich bekämpfen. Da muß man sich gewissermaßen zu einem umgekehrten Auschwitz aufraffen: Da muß man sich meiner Ansicht nach in Anerkennung einer besonderen Verantwortung im Einzelfall einmal vor die hinstellen, mit denen heute Genozid passiert, wenn vielleicht auch in anderen Formen und ohne Vergleichbarkeit im einzelnen. Ich werde daher nie verstehen, warum gerade diejenigen, die Auschwitz ständig auch dazu benutzen, eine negative Einzigartigkeit der Deutschen zu begründen und die auch heute in der Aktuellen Stunde wieder davon Gebrauch gemacht haben, die natürlich in vielen Formen ihre gute Gesinnung herausstellen, Lichterketten, Menschenketten usw. bilden, dann, wenn es darum geht, nach Somalia zu gehen, Leute vor dem Verhungern zu retten, dann, wenn es um ein paar Awacs-Soldaten geht, die einen minimalen Beitrag dazu leisten sollen, daß einige Leute weniger umgebracht werden, dafür nicht zu sprechen sind. Dann laufen sie zum Bundesverfassungsgericht, um dagegen zu klagen. Es tut mir leid, ich kann diesen Zusammenhang nicht leugnen. Er liegt auf der Hand. ({2}) Wenn wir irgend etwas tun wollen, um von dieser Schuld im Zusammenhang mit Auschwitz loszukommen, müssen wir etwas in dieser Richtung tun, - sozusagen das Gegenteil von Auschwitz. Ich finde, daß Sie dem mehr Verständnis entgegenbringen sollten, als Sie es bisher getan haben. Vielen Dank.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile als nächstem Redner unserem Kollegen Dr. Hans de With das Wort.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Mahlo, ich habe Ihre Argumentation nicht ganz verstanden. Ich denke, wir müssen, wenn wir über die Strafbarkeit der Auschwitz-Lüge reden, den neonazistischen Hin19668 tergrund in unserer Zeit sehen, vor allem aber auch das damalige unendliche Leid. ({0}) Der Rechtsextremismus, gewiß, zeigt viele in den einzelnen Ländern unterschiedliche Formen. Aber nirgendwo zeigt er seit Jahren sein Gesicht deutlicher und mit gravierenderen Folgen als in Deutschland, mit demütigenden Parolen, Hetzjagden auf Ausländer, brennenden Asylheimen, einem Brandanschlag auf eine Synagoge und sogar mit Morden. Dabei hat kein Land eine furchtbarere rechtsradikale Vergangenheit als Deutschland. Angekündigt, geplant, mit fabrikmäßiger Systematik verfolgt und hingemordet wurden unter Hitler allein aus rassistischen Gründen Juden, Sinti und Roma, wie es bis dahin auf der Welt ohne Beispiel war. Das ist die Einmaligkeit, Herr Mahlo. Zunächst diffamiert, dann gezeichnet, aus dem öffentlichen Leben verbannt, dann auf der Rampe selektiert und zu Millionen vergast. Herr Mahlo, auch dieses unendliche Leid müssen wir sehen. Übrigens sind auch die Zeugnisse hierüber ohne Beispiel. Sie sind gerichtsnotorisch wie keine anderen. Dennoch wurde und wird Auschwitz geleugnet und verharmlost. Diejenigen, die das tun, können und dürfen nicht als querulatorische Einzelgänger abgetan werden. Wer Auschwitz leugnet oder verharmlost, denkt an Hitler, bereitet Rassismus den Boden, setzt Bausteine zu neuem Rechtsradikalismus und mißachtet und verletzt in unerträglicher Weise die Gefühle der Betroffenen, vor allem jener, die - das ist nicht überzogen - durch die Hölle gegangen sind und sie überlebt haben. ({1}) Dem immer und immer wieder entgegenzutreten ist Aufgabe aller Demokraten. Wenn wir erkennen, daß unsere derzeitigen Gesetze - aus welchen Gründen auch immer - nicht ausreichen, dann müssen sie eben geändert werden. Die Zeit ist überreif. Die Debatten im Bundestag um die Einführung einer von der SPD vorgelegten Strafvorschrift in den Jahren 1982/83, also vor mehr als zwölf Jahren, sind mir noch in frischer Erinnerung. Die freie Meinungsäußerung dürfe nicht eingeschränkt und die Vertreibungsverbrechen an Deutschen könnten nicht außer Betracht gelassen werden, hieß es damals. Ergebnis war letztlich nur eine von beinahe allen Kommentatoren als verunglückt bezeichnete Vorschrift im Strafgesetzbuch bei den Beleidigungsdelikten. In der Sache wurde damit nichts bewegt. Das jüngste Urteil des Bundesgerichtshofs, das hier schon herangezogen wurde, im Fall des NPD-Vorsitzenden Deckert belegt das eindrucksvoll. Natürlich wollen und dürfen wir nicht die Meinungsfreiheit angreifen. Natürlich dürfen auch die unsäglichen Verbrechen bei der Vertreibung nicht verkleinert oder gar auf die Seite geschoben werden. Nur, die Einmaligkeit des von den Nazis geplanten und skrupellos ins Werk gesetzten Mechanismus zur Ausrottung ganzer Völker rechtfertigt eine besondere Strafvorschrift vor allem in unserer Zeit. ({2}) Wir Deutschen tragen den Makel, und wir haben alles zu tun, damit 50 Jahre nach Hitler und seinem Genozid nicht neues Böses gezeugt und geboren wird. Die hier zur Debatte stehende Vorlage des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist nicht der erste Vorschlag - Herr Ullmann, das sei erlaubt zu sagen - und gesetzestechnisch auch nicht akzeptabel. Ich darf demgegenüber auf den alten Vorschlag der SPD aus dem Jahre 1982 verweisen, den wir am 12. April als Ergänzung zum bestehenden § 130 des Strafgesetzbuchs, also des Straftatbestands der Volksverhetzung, wieder eingebracht haben. Unser Vorschlag vermeidet die Schwierigkeiten, die der Bundesgerichtshof aufgezeichnet hat, indem er auf die zusätzliche Voraussetzung des Angriffs auf die Menschenwürde verzichtet. Er hat außerdem die Zustimmung des Deutschen Richterbundes gefunden. Ich freue mich, daß sich die CDU/CSU mit der F.D.P. nun endlich, offenbar allerdings erst am letzten Freitag, zu einer fast wortgleichen Vorschrift aufgerafft hat - bis auf ein Wort ist sie gleich -; denn die bisherigen Vorschläge der Regierungskoalition im Verbrechensbekämpfungsgesetz - das haben Sie heute in der Beratung hier eingeräumt - reichen einfach nicht aus. Ich füge hinzu - das ist eine brandneue Nachricht -: Ich freue mich auch, daß wir heute im Rechtsausschuß einstimmig eine entsprechende Strafrechtsregelung verabschiedet haben, die endlich die bisherigen Schwierigkeiten ausräumt. Ich muß allerdings hinzufügen: Das hätten Sie sich ersparen können, hätten Sie schon damals, vor mehr als zwölf Jahren, der erwähnten Vorlage zugestimmt. Aber immerhin: Wir haben es heute getan. Damit ist endlich ein Stein des leidvollen Anstoßes ausgeräumt. ({3}) Ich verzichte hier deshalb auf eine weitere Erörterung tatbestandsmäßiger Details - ich sage auch, warum -, weil damit eigentlich nur der Eindruck der Beckmesserei und das beklemmende Gefühl entstehen könnten, jetzt, wo die Geschichte eigentlich schon erledigt ist, streiten die rückwirkend noch um Punkt und Komma. Das wollen wir nicht. Wir haben heute etwas Vernünftiges beschlossen, und ich gehe davon aus, daß dies am Freitag in zweiter und dritter Lesung ebenso einstimmig die Zustimmung des ganzen Hauses findet. Ich kann, meine sehr verehrten Damen und Herren, den Deutschen Bundestag nur aufrufen, und zwar nicht nur in bezug auf den derzeitigen Gegenstand der Debatte, alle Maßnahmen zur Bekämpfung des Neonazismus und des Rechtsradikalismus nicht im Wahlkampfgetöse zu zerreden. Dabei würde keine Partei gewinnen. ({4}) Auschwitz ist und bleibt unser Menetekel. Ich sage ganz einfach: Wer den nationalsozialistischen Massenmord, also den Holocaust, verharmlost oder leugnet, muß wissen, daß er an demokratischen Grundfesten rührt. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unser Kollege Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Wahlkampfzeiten mag es unüblich sein, einem politischen Konkurrenten Lob zu zollen, aber ich habe mich über die parlamentarische Initiative, die Gegenstand der heutigen Debatte ist, sehr gefreut. Bereits in der Anhörung zum Verbrechensbekämpfungsgesetz haben der Kollege Burkhard Hirsch und ich uns darauf verständigt, im gleichen Sinne tätig zu werden. Die Bundesjustizministerin hat uns sofort ihre Unterstützung signalisiert, und auf Grund Ihres Vorschlags hat eine Koalitionsrunde am vergangenen Freitag beschlossen, eine dem Petitum dieses Antrags gerecht werdende Strafvorschrift in das Verbrechensbekämpfungsgesetz aufzunehmen. Der Kollege de With hat es ja schon mitgeteilt: Wir haben heute im Rechtsausschuß einstimmig - und das ist sehr erfreulich - entsprechend beschlossen. Ich möchte der Bundesjustizministerin dafür ausdrücklich danken. ({0}) Sosehr der Bundesgerichtshof für Verwirrung gesorgt haben mag, so sehr ist dem Bundesverfassungsgericht für seine klaren Worte zu danken. In seiner Entscheidung vom 13. April 1994 auf eine Verfassungsbeschwerde der NPD führt es aus, daß die Behauptung, es habe im Dritten Reich keine Judenverfolgung gegeben, nach ungezählten Augenzeugenberichten und Dokumenten, den Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft erwiesen unwahr ist. Alle untauglichen Versuche aus der rechten Ecke, Zweifel an den schlimmen Tatsachen zu wecken, sind ein schwerer Angriff auf die Angehörigen aller Opfer, der nicht hingenommen werden kann. Der Grund für die Bestrafung - Sie haben ja die Frage gestellt, Herr Kollege Dr. Mahlo - ist für mich klar: Sie werden als Lügner, als Simulanten dargestellt, und die Leugnung trifft sie angesichts des unendlichen Leids bis ins Mark. Das kann ich sehr gut begreifen, Herr Kollege. Im Gegensatz zu dem Vorschlag vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sehen wir einen engen Sachzusammenhang zur Volksverhetzung und werden die Strafbarkeit deshalb in § 130 StGB einstellen. Das ist keine Falle, Herr Kollege Dr. Ullmann, sondern klar und abgewogen formuliert. Der entscheidende Fortschritt gegenüber der jetzigen Rechtslage ist, daß schon das einfache Leugnen der Massentötungen aus der niedrigeren strafrechtlichen Ebene der Privatklagedelikte, hier der Beleidigungsvorschriften, herausgehoben wird, auch wenn der § 194 Abs. 2 StGB jetzt schon eine Verfolgung ohne gesonderten Strafantrag zuläßt. Bei unserem Koalitionspartner, aber auch da und dort in der eigenen Partei hat es Vorbehalte gegeben, ob nicht das Grundrecht auf Meinungsäußerung zu stark eingeschränkt werden könnte, was aus grundsätzlichen, verfassungspolitischen Erwägungen kritisiert wird. Aber auch hier hat das Bundesverfassungsgericht in seiner bereits zitierten Entscheidung deutlich gemacht, daß die Schutzwürdigkeit von Meinungsäußerungen vom Wahrheitsgehalt der Ihnen zu Grunde liegenden tatsächlichen Annahmen abhängt. Sind diese, wie bei der Auschwitz-Lüge, erwiesen unwahr, tritt die Meinungsfreiheit angesichts des Gewichts der Ehrverletzung hinter den Persönlichkeitsschutz zurück. Ich habe vor einigen Wochen in Fulda an einer Diskussion teilgenommen, in der Teilnehmer aus der rechten Ecke nach einer wissenschaftlichen Untersuchung verlangten, ob tatsächlich so viele Menschen hätten vergast werden können. Ein einfacher Bürger meldete sich und sagte: Ihm sei es völlig gleich, ob eine genaue Zahl ermittelt werde. Jeder vergaste Mensch sei einer zuviel. Ich möchte ihm heute an dieser Stelle für seine Äußerung ausdrücklich danken. ({1}) In der letzten Woche bin ich in Buchenwald gewesen und stehe immer noch unter dem Eindruck dieses Besuchs. Es kann nicht zugelassen werden, daß versucht wird, uns die notwendige Scham angesichts der tiefen Schatten unserer Vergangenheit zu nehmen. Die besondere Strafvorschrift, auch für die einfache Auschwitz-Lüge, ist gerade in diesen Zeiten ein bitter notwendiges politisches Signal. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Gregor Gysi das Wort.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieses Thema beschäftigt uns heute in verschiedenen Varianten schon den ganzen Tag. Ich möchte deshalb nur zu drei Aspekten etwas sagen. Ich will heute zur gesetzestechnischen Frage und auch zur Einordnung nicht sprechen. Ich finde allerdings, die Einordnung bei Volksverhetzung auch günstiger als bei Beleidigung, weil diese doch einen ganz anderen Charakter hat. Herr Schmude hat hier den Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion nach Raub gefragt. Es gibt natürlich überhaupt keinen Vergleich mit dem Holocaust am jüdischen Volk. Aber wenn, um die Gefühlslage zu verstehen, dann ist ein anderes Beispiel angebrachter, um das nachzuvollziehen. Stellen Sie sich eine Frau, die brutal vergewaltigt wird, vor. Dann soll es zum Gebiet der Meinungsfreiheit gehören, daß alle ihr immer sagen dürfen: Du hast es doch im Grunde genommen gewollt und mitgemacht. Verstehen Sie, das ist dann keine Meinungsfreiheit mehr, sondern es muß diese Frau zutiefst verletzen, nicht nur, daß ein übliches Gewaltverbrechen an ihr begangen wurde, sondern dann auch noch der ganze Rest der Bevölkerung sie verhöhnen und ihr sozusagen Dinge unterstellen darf, die völlig absurd sind. Ich glaube, auch wenn man das natürlich nicht vergleichen kann, hier wird ein bißchen deutlich, worin diese tiefe Ehrverletzung - und das ist eine tiefe Ehrverletzung - und Demütigung bestehen. Wenn man versucht hat, ein ganzes Volk auszurotten, aus der Geschichte der Menschheit zu tilgen, und dann auch noch Angehörige des Volkes, das dafür die Verantwortung trägt, im Rahmen von Meinungsfreiheit das Recht haben sollen, zu sagen, diesen Versuch hat es nie gegeben, dieses Verbrechen hat es nie gegeben, dann ist eine Grenze überschritten, eine Grenze, wo auch das Strafrecht greifen muß. Im übrigen geht es gar nicht um Meinungen. Es ist doch gar keine Meinung. Was da wirklich geäußert wird, ist doch die Verhöhnung der Opfer des Holocaust. Das ist auch die Absicht derjenigen, die so etwas sagen. Es gibt keinen von denen, der es in Wirklichkeit nicht besser weiß, es sei denn vielleicht ein ganz naiver Jugendlicher, der irgendwelchen Einflüsterungen glaubt. Sie glauben doch nicht im Ernst, daß irgendwer an den Quatsch glaubt, den er erzählt. Der weiß doch ganz genau, daß es diese Verbrechen gegeben hat. Sein Ziel ist doch ein anderes. Um den Nationalsozialismus zu rehabilitieren und den Rechtsextremismus hoffähig zu machen, glaubt er, sei es Voraussetzung, diese Verbrechen zu leugnen. Diese und keine andere Absicht kann man bei all diesem Gebaren unterstellen. ({0}) Deshalb ist es dringend erforderlich, es strafrechtlich zu fassen, wobei ich jetzt sage, besser zu fassen als bisher. Wie und in welchen Paragraphen, darüber können wir uns in den Ausschüssen unterhalten. Ich denke, wir werden uns da auch verständigen. Ich will noch eine Sache erwähnen. Sollten wir nicht, richtig vorbeugend, über eine Ergänzung nachdenken? Ich sage nicht, daß das jetzt aktuell ist. Aber sollten wir nicht doch darüber nachdenken, ob wir nicht schon jetzt unter Strafe stellen wollen, falls die Irvings meinen, die Situation hat sich so geändert, daß man sich der Verbrechen brüsten kann? Es ist nämlich ein ganz gefährlicher Punkt, wo es weitergehen könnte, wo eine andere Schiene erreicht wird, wenn sie denken, zur Rehabilitierung des Nationalsozialismus und zur Möglichmachung von Rechtsextremismus die Verbrechen nicht mehr leugnen zu müssen, sondern mit Stolz auf sie verweisen zu können. Das haben wir noch nicht. Aber sollten wir warten, bis es passiert, oder sollten wir - das wäre mein Vorschlag - prophylaktisch in das Strafgesetzbuch nicht auch die gegenteilige Variante aufnehmen? Ich meine natürlich nicht die Bestätigung, sondern sozusagen das Feiern, das Beschönigen, das Stolz-darauf-Sein. ({1}) Ich habe jetzt noch nicht eine Formulierung dafür. ({2}) Aber es wird meines Erachtens auch nicht so genau getroffen, so daß wir in einem solchen Fall auch dort noch mit einem Freispruch beim Bundesgerichtshof rechnen müßten. Ich bitte nur, darüber nachzudenken, ob wir das nicht noch genauer fassen könnten. Dies einfach nur als Anregung für die Beratung in den Ausschüssen. ({3}) Das Stolz-darauf-Sein - ich weiß noch nicht, ob ich ganz deutlich gemacht habe, was ich meine - verharmlost ja nicht unbedingt. Sie können es in der ganzen Schärfe sagen und sagen: Es war richtig, und es war notwendig. Was machen wir dann? Einer, der leugnet, der verharmlost auch nicht. Der sagt: Nein, so war es. Das war auch genau richtig und notwendig. Diesen Fall meine ich. Wir haben ihn eigentlich noch nicht erfaßt. ({4}) Wir sollten darüber nachdenken, ob wir ihn nicht prophylaktisch erfassen sollten. Dieser Fall wäre noch ein Schritt weiter, das wäre noch ein Schritt schlimmer. Auch hier geht es nicht nur um das Ansehen. Das Schlimme ist, daß der Deckert mit einem Freispruch davongekommen ist und alle Neonazis dieses Landes wissen, sie dürfen das jetzt sagen. Das ist das eigentliche Gift, das müssen wir so schnell wie möglich unterbinden. Deshalb hoffe ich, daß wir uns so schnell wie möglich in den Ausschüssen verständigen. Danke. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege Dr. Ulrich Briefs das Wort.

Dr. Ulrich Briefs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000266, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Gesetzesvorhaben zur Strafbarmachung der Auschwitz-Lüge ist seit langem überfällig. Ich erinnere mich daran, daß bereits vor etwa 20 Jahren bei einer Veranstaltung am Rande des Ruhrgebiets ein älterer Herr Pamphlete verteilte, in denen die Existenz der Konzentrationslager und die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung bestritten wurde. In den inzwischen mehr als sieben Jahren Parlamentszugehörigkeit habe ich, wie andere Abgeordnete auch, eine ganze Reihe von Zuschriften, die die Auschwitz-Lüge oder ähnliches beinhalteten, erhalten. Diese widerlichste Form deutscher Geschichts- und Realitätsverleugnung hat also zumindest in Westdeutschland eine lange Tradition. Sie fügt sich ein, sie ist eine Konsequenz der fehlenden Auseinandersetzung mit der NS-Zeit überhaupt. Sie entspricht einem langsamen Prozeß der Restauration, von dem auch die politisch Interessierten immer nur die Spitze der Spitze des Eisbergs - die Fälle wie Globke, Bütefisch, Hanns-Martin Schleyer, Reinhard Höhn, um willkürlich nur einige Namen zu nennen - zur Kenntnis nahmen. In der Praxis der Auschwitz-Lüge quillt etwas aus dem braun-nationalen Untergrund der deutschen Gesellschaft, insbesondere auch aus einem bestimmten Teil des deutschen Bildungsbürgertums an die Oberfläche. In der sowjetischen Besatzungszone und, in den ersten Monaten zumindest - das habe ich selbst erlebt -, in der früheren DDR wurde die Bevölkerung systematisch und breit, z. B. über Dokumentarfilme, die in jeder Vorstellung, in jedem Kino vor dem Spielfilm zu sehen waren, über die NS-Lager, über die Verbrechen, über die Opfer, über die verhängnisvolle Mittäterschaft auch z. B. der Wehrmacht, aufgeklärt. 1950, nach der Rückkehr nach Düsseldorf, habe ich solche Dinge nicht mehr erlebt. Die gab es in Westdeutschland einfach nicht. Da gab es nur die seltenen Ereignisse wie die Filme von Erwin Leiser und Alain Resnais, aber das waren dann cineastische Ereignisse, die am Sonntagmorgen um 11 Uhr in der Matineevorstellung präsentiert wurden. Jetzt aber noch ein anderes Wort dazu. Die jüngst aufgetauchten Informationen, daß auch in der DDR Naziverbrecher von den Behörden gedeckt wurden, hebt diese verdienstvolle Praxis der breiten öffentlichen Aufklärung der Bevölkerung nicht auf. ({0}) - Nein, das wird dadurch, so denke ich, nicht aufgehoben. - Sie zeigen aber vielleicht eher, wie gefährlich auch in der DDR Kompromisse und Relativierungsansätze in bezug auf die Haltung zum Nationalsozialismus, zum Faschismus, zum Rassismus, zum Antisemitismus waren und sein mußten. Sie werden das auch in Zukunft sein. Aus diesem Grund und auch aus anderen Gründen: Der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist überfällig. Er ist voll zu unterstützen. Das sich dahinter verbergende und darunterliegende gesellschaftliche Problem ist damit leider nicht gelöst und auch nicht zu lösen. Herr Präsident, ich danke Ihnen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile nun der Frau Bundesminister für Justiz, unserer Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ermordung von Millionen vor allem jüdischer Menschen in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ist eine geschichtliche und offenkundige Tatsache. Es gibt daher nichts zu diskutieren, ob sie stattgefunden hat oder nicht. Wer sie der Wahrheit zuwider in Abrede stellt, kann sich, wie das Bundesverfassungsgericht im April dieses Jahres in dankenswerter Weise klargestellt hat, nicht auf den Schutz der Meinungsfreiheit berufen. Ich glaube, diese klare Aussage des Bundesverfassungsgerichts hat auch die Beratungen zu diesem den Bundestag jetzt ja schon seit über zehn Jahren beschäftigenden Thema erheblich erleichtert. Rechtsextremisten, die versuchen, die schreckliche Bürde des nationalsozialistischen Völkermordes abzuschütteln, um dann um so ungehinderter für ihre Ideen werben zu können, muß Einhalt geboten werden. Wir sind es dem Respekt vor den Opfern und unserer geschichtlichen Verantwortung schuldig, daß solche Geschichtsfälschungen nicht ungestraft verbreitet werden können. Der vorliegende Entwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will eine Strafvorschrift einführen, die ausdrücklich das Leugnen unter Strafe stellt. Er knüpft damit an das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 15. März dieses Jahres an, das in der Öffentlichkeit teilweise so verstanden worden ist, als wäre das Verbreiten des Leugnens des Holocaust in der Bundesrepublik gar nicht oder nur unter besonderen Voraussetzungen strafbar. So ist das nicht richtig. Aber es hat Irritationen und Unverständnis über diese Entscheidung des Bundesgerichtshofs gegeben. Ich bin froh, daß wir alle gemeinsam einer Meinung sind, daß wir hier nicht Grauzonen und Bereiche lassen wollen, in denen eben diese Behauptungen ungestraft geäußert werden können, ({0}) und zwar natürlich gerade mit bestimmtem politischem Hintergrund ungestraft geäußert werden können. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus in allen seinen Formen ist eine der zentralen Herausforderungen, denen wir uns gegenwärtig mehr als zuvor stellen müssen. Rechtsextremistischer Propaganda und ihren unsäglichen Parolen müssen eindeutige - auch eindeutige strafrechtliche - Grenzen gezogen werden. Ein eigener Tatbestand gegen das Verbreiten des Leugnens des Holocaust hebt die Strafbarkeit im Vergleich zum geltenden Recht besonders hervor und bringt damit in besonderer Weise zum Ausdruck, daß solche Lügen nicht nur die Ehre der Ermordeten, der Überlebenden und ihrer Nachkommen angreifen, sondern auch das friedliche Zusammenleben zwischen deutschen und jüdischen Bürgern und damit die Völkerverständigung belasten. Damit ist das Schaffen eines eigenen Tatbestandes auch ein wichtiges politisches Signal, wie Herr van Essen in seinen Ausführungen schon deutlich gemacht hat. ({1}) Dabei muß aber sichergestellt sein, daß ein solcher Tatbestand auch umfassenden Schutz bietet und Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gerade nicht die große Gefahr in sich birgt, durch geschickte Formulierungen umgangen werden zu können. Deshalb habe ich gegen die Formulierung, wie sie vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegt worden ist, etwas Bedenken; denn hierin wird nur das Leugnen des Holocaust unter Strafe gestellt. Herr Gysi, wir haben heute im Rechtsausschuß im Rahmen der Beratungen zum Verbrechensbekämpfungsgesetz eine von mir vorgelegte Formulierung beschlossen, wonach eben gerade auch das Billigen und das Verharmlosen der millionenfachen Morde in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern in jedem Falle als Volksverhetzung bestraft werden können. Das macht deutlich, daß nicht nur das Leugnen, sondern auch das Billigen, also auch das SichDahinterstellen, vielleicht auch einmal der Fall, daß sich jemand damit brüstet, mit dieser jetzt in § 130 Abs. 3 neuzuschaffenden Strafnorm unter Strafe gestellt werden. Ich meine, daß das der richtige Weg ist. Es ist ein ermutigendes Zeichen, daß alle Fraktionen und Gruppen gemeinsam diesem Vorschlag zugestimmt haben; denn dies ist kein Thema, mit dem Wahlkampf und parteipolitische Auseinandersetzung betrieben werden sollte. Es muß vielmehr zum Ausdruck kommen, daß wir mit der Schaffung dieser Strafbestimmung wirklich ein gemeinsames Ziel verfolgen. Ich hoffe, daß die Einstimmigkeit und Übereinstimmung bei diesem Thema bei den gemeinsamen Bemühungen und Auseinandersetzungen, nationalsozialistischen und rechtsextremistischen Entwicklungen und Tendenzen in Teilen unserer Gesellschaft und ebensolchem Gedankengut entgegenzutreten, eine Hilfe ist. Ich meine, daß wir ein positives Signal dadurch setzen, daß wir heute hier in großer Einmütigkeit darüber debattieren und dies auch am Freitag, bei der zweiten und dritten Lesung des Verbrechensbekämpfungsgesetzes, bestimmt wieder tun werden. Vielen Dank. ({2}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/7421 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu noch anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Darm ist die Überweisung so beschlossen. Meine Damen und Herren, ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Lennartz, Michael Müller ({3}), Wilhelm Schmidt ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kindergesundheit und Umweltbelastungen - Drucksache 12/6833 -Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Debatte eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Klaus Lennartz das Wort.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als wir im Mai vergangenen Jahres im Bundestag die Große Anfrage der SPD zu Kindergesundheit und Umweltbelastungen debattierten, gab es in den Beiträgen der Fraktionen keine unterschiedlichen Auffassungen darüber, daß umweltschädliche Stoffe die Körper unserer Kinder mehr belasten als die der Erwachsenen. Es gab keinen Dissens in der Frage, daß die Anhäufung von Schadstoffen für unsere Kinder bedrohlich ist und daß es konkrete Zusammenhänge zwischen Umweltbelastung und Kindererkrankungen gibt. Immer mehr Kinder leiden unter umweltbedingten Krankheiten wie Allergien, Atemwegserkrankungen und Immundefekten. Auch bei Krebs und Fehlbildungen ist ein Zusammenhang zwischen steigender Umweltbelastung einerseits und Krankheitsentstehung andererseits zu befürchten. Hinter den Statistiken verbergen sich tragische Einzelschicksale. Kinder werden durch diese Erkrankungen isoliert, verlieren einen Teil oder gar ihre gesamte Lebensqualität und können nicht mehr unbeschwert aufwachsen. Die Zusammenhänge sind auch durch Erhebungen in der zum Teil hochbelasteten Tschechischen Republik statistisch erwiesen. Es gab auch keine unterschiedlichen Auffassungen darüber, daß die Wirkungszusammenhänge zwischen Umweltbelastungen und Kindergesundheit weitgehend nicht erforscht sind und als offene Felder vor uns liegen, die es wahrlich zu bestellen gilt. ({0}) Auch die Zunahme psychosomatischer Erkrankungen durch - weit zu fassende - Umwelteinwirkungen auf unsere Kinder war vor einem Jahr in diesem Hause unstrittig. - Soweit, kann man festhalten, die Gemeinsamkeiten. Aber die schon damals weitgehend von Ignoranz gekennzeichneten Zwischenrufe aus der CDU/CSU-Fraktion machen das Dilemma der Regierungskoalition in Sachen Kindergesundheit deutlich. Das Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" findet nicht die Hinwendung der Regierungskoalition, die es verdient hätte. Die Koalition flüchtet sich in Hilfsargumentationen, die ihre Untätigkeit abstützen sollen, so z. B. das angeblich auf der Welt einzigartig hohe Umweltniveau der Bundesrepublik Deutschland, die niedrige Säuglingssterblichkeit in der Bundesrepublik und die Initiativen von Umweltminister Töpfer auf dem Weltumweltgipfel in Rio. Zu konkretem Handeln oder auch nur zu den erforderlichen Untersuchungen ist die Regierungskoalition allerdings nicht bereit. Forschungsdefizite werden beklagt; aber ein umfassendes Forschungsprogramm zum Thema „Kindergesundheit und Umweltbelastungen" ist nach wie vor nicht in Sicht. So ist leider nicht absehbar, wann konkrete Schritte unternommen werden - ein Makel - das ist Ihnen von der Regierungskoalition nichts Neues -, der Sie auf vielen Politikfeldern plagt, insbesondere wenn es den gesamten Bereich der Umweltpolitik angeht. ({1}) Wenn aber einer von Ihnen auf die Idee kommen sollte, die Frage zu stellen: „Wo sind denn die Daten?", dann darf ich Sie nur bitten: Sehen Sie sich das von Ihrer Bundesregierung in Auftrag gegebene Umweltgutachten des Jahres 1987 an und lesen Sie bitte nach, was dort zu dem Punkt Kindererkrankungen steht, nämlich welche Umwelteinwirkungen vorhanden sind, die diese Erkrankungen auslösen. - Also, damit können Sie sich nicht exkulpieren. Die SPD-Bundestagsfraktion bekräftigt heute ihre Forderungen nach mehr Aktion und Handeln auf dem Feld der Kindergesundheit. Das Leiden der Kinder und ihrer Eltern sowie die gesellschaftlichen Folgen der umweltbedingten Krankheiten sind in ihrer Tragik, meine Damen und Herren, kaum zu beschreiben, in statistischen Zahlen nur schwer zu erfassen und mit unserem überwiegend reaktiven - ich betone ausdrücklich: reaktiven - Gesundheitssystem nicht zu beseitigen. Wir sind davon überzeugt, daß ein Generationenvertrag über eine gesunde Umwelt mit unseren Kindern heute mehr denn je erforderlich ist, ({2}) wenn die übrigen Generationenverträge morgen von denen, die morgen erwachsen sein werden, noch akzeptiert werden sollen. ({3}) - Wenn Sie nicht dagegen sind, Herr Kollege Baum, dann darf ich Sie einmal fragen: Wo ist Ihr Handeln als verantwortlicher Politiker in den letzten Jahren auf diesem Felde gewesen? Ich habe soeben ausdrücklich darauf hingewiesen. Vom Jahre 1987 an liegen Ihnen alle Daten vor. Es lag an Ihnen zu handeln. Sie haben es nicht getan. Sie haben sich versündigt, versündigt an der Zukunft unserer Kinder. Sie haben sich auch an der Akzeptanz der Technologie versündigt. Das ist Ihr Problem. ({4}) - Nein, nein. Weisen Sie bitte nach, in welchen Politikfeldern Sie hier gehandelt haben. Wir sind der Auffassung, meine Damen und Herren, daß sich eine positive Zukunftshaltung unserer Kinder und eine positive Grundhaltung zur Technik nur fördern lassen, wenn die konkrete Umwelt unsere Kinder nicht krank macht. Deshalb sagen wir: Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hängt ganz wesentlich davon ab, ob wir heute in der Lage sind, ökologisch umzusteuern und unseren Kindern bald Luft, Wasser und Nahrung zu bieten, die nicht krank machen. Der Wohlstand der Zukunft muß ein Wohlstand des Vermeidens von Umweltschäden und von Krankheit sein. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb heute die Bundesregierung auf, ein umfassendes Forschungsprogramm „Kind, Gesundheit und Umwelt" aufzulegen, um die ökologischen Kinderrechte auf ein gesundes Leben und eine intakte Umwelt zu verwirklichen. Zu den vielen konkreten Maßnahmen, die schnell eingeleitet werden und Kindergesundheit erheblich verbessern helfen können, gehören: eine Ozonverordnung, die die Immissionen drastisch senkt, und zwar nach dem Maßstab des Kinderschutzes. ({5}) - Lieber Herr Kollege Baum, wenn die Ozonverordnung erledigt wäre, dann würde ich das hier bestimmt nicht vortragen. Ich würde Sie bitten, daß Sie sich bei dem Kollegen Staatssekretär, der dort hinten sitzt, einmal Nachhilfeunterricht geben lassen, daß die Ozonverordnung nicht erledigt ist. Wir warten ja schon einige Zeit darauf. Da haben Sie recht. Weitere Maßnahmen sind: das generelle Verbot von Benzol als Beimischung im Benzin ({6}) - nicht nur dort, lieber Herr Kollege, nicht nur dort -, die Absenkung der Grenzwerte für Schadstoffbelastungen in Luft, Boden und Wasser gemäß der höheren Empfindlichkeit des kindlichen Organismus, Qualitätsziele für das Grundwasser, die sich an der Kindergesundheit orientieren und Nitrat, Pestizide und organische Chlorverbindungen im Trinkwasser reduzieren, eine bessere Vorsorge und Information der Familien über gesundheitsgefährdende Umweltbelastungen, ein bundesweites Lebensmittel- und Gewässermonitoring, eine verschärfte Deklarationspflicht für Produkte mit flüchtigen Chemikalien, eine vollständige Aufzählung der Bestandteile von Babynahrung in der Produktbeschriftung, Tempo 30 als generelle Regelgeschwindigkeit in Wohngebieten zur Verringerung der Lärmemissionen, wirksame Maßnahmen gegen die ständig zunehmende Reizüberflutung und die damit verbundenen psychischen Störungen bei Kindern, eine wirksame Verbesserung der Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltaufklärung in der Schulausbildung - um nur einige Forderungen aus unserem Antrag zu benennen. Meine Damen und Herren, wir von seiten der SPD-Bundestagsfraktion hatten heute nachmittag eine Anhörung mit Kinderärzten, Ärzten der Allgemeinmedizin aus der Bundesrepublik Deutschland mit dem Schwerpunktthema „Kindergesundheit und Umwelt". Ich hätte mir wirklich nicht vorgestellt, daß unser Handlungsbedarf so groß ist. Bei all dem, was dort an Informationen übergekommen ist, bedauere ich, daß wir einen Fehler gemacht haben: bestimmte Ignoranten, die ich in diesem Deutschen Bundestag sehe, zu dieser Informationsveranstaltung nicht eingeladen zu haben. Wenn Sie die Ergebnisse der Fachleute mitbekommen hätten, wären dem einen oder anderen vielleicht Augen und Ohren übergegangen, und wir hätten diese Reden hier nicht zu halten brauchen, hätten alle im Interesse unserer Kinder unserem Antrag hier zugestimmt. ({7}) Ich darf diejenigen Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion, die das eventuell wieder für übertriebenen Ökoquatsch halten, mit einem Zitat aus einem Text mahnen, zu dem Sie sich sicher hingezogen fühlen: „Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." So steht es in der Verfassung des Freistaates Bayern. Danach sollten Sie handeln, meine Damen und Herren! Ich bedanke mich bei Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Harald Kahl das Wort.

Dr. Harald Kahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001050, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel ist die Gesundheit das höchste Gut des Menschen, sind die Kinder der Lebensquell einer Gesellschaft. Kinder brauchen für ihre Entwicklung Liebe, Zuwendung, Hilfe und Unterstützung, eine intakte Familie, aber auch ein intaktes Umfeld, eine gesunde Umwelt. Aufgabe des Staates ist es dabei, Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine solche Entwicklung fördern und begleiten. Aufgabe des Staates ist es nicht, mit immer mehr Gesetzen, Verordnungen und Verboten - also mit einem Übermaß an Reglementierungen - die Freiräume seiner Bürger einzuengen und in zunehmender Weise in die Kompetenzen und Pflichten der Erziehungsträger einzugreifen. Es ist vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, alles für das Wohl und die Gesundheit ihrer Kinder zu tun. ({0}) Und es ist angesichts der länderübergreifenden Gesundheitsgefährdung durch Umweltbelastungen letztlich auch ein globales Problem. Im Rahmen ihrer Zuständigkeit hat die Bundesregierung in den letzten Jahren wichtige Leistungen für Familien und Kinder durchgesetzt und eine Reihe von Präventionsangeboten unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen. ({1}) Unbestritten stellen zunehmende Atemwegserkrankungen durch Einwirkungen von Schadstoffen bei Kindern, verbunden mit dem Ansteigen allergischer Erkrankungen wie Asthma, allergischer Rhinitis, aber auch Exzemen, einen ganz besonderen Problemkreis dar. Emissionen durch Industrie, Straßenlärm und Straßenverkehr spielen dabei eine dominierende Rolle. Die Schwierigkeit, einen Zusammenhang zwischen den emittierten Schadstoffen und der Erkrankungshäufigkeit bei bestimmten Erkrankungen herzuleiten, liegt jedoch darin, daß auf Grund der Vielzahl möglicher gesundheitsgefährdender Umwelteinflüsse und deren schier unendlichen Interaktionsmöglichkeiten in vielen Fällen verläßliche Daten nicht vorliegen. ({2}) - Lassen Sie mich das doch bitte einmal weiter ausführen. ({3}) Die Forschungsergebnisse sind nicht selten lückenhaft und widersprechend. Auf Grund der sehr geringen Schadstoffkonzentrationen und wegen der damit verbundenen Schwankungsbreite der Meßergebnisse sind diese oft nur spekulativ interpretierbar. Panikmache, die sich lediglich auf Verdacht und auf wissenschaftlich nicht belegte Einzelfälle bezieht, ist wenig hilfreich und trägt eher zur Verunsicherung der Bevölkerung als zur Lösung des Problems bei. ({4}) Deshalb muß es vorrangiges präventives Ziel sein, die Forschungen auf diesem Gebiet weiter zu intensivieren. Schon jetzt unterstützt die Bundesregierung zahlreiche Maßnahmen in den Bereichen Prävention und Forschung. Seit 1987 hat sie die Allergieforschung mit über 60 Millionen DM gefördert. In zahlreichen Modellvorhaben läßt sie praktische Wege zur Vorsorge und Früherkennung erproben. Des weiteren wird durch die Förderung der Dokumentations- und Informationsstelle für Umweltfragen bei der Akademie für Kinderheilkunde in Osnabrück ein umfangreiches umweltmedizinisches Netzwerk erstellt, das uns wichtige Basisdaten zur Verfügung stellt. Insbesondere in den neuen Bundesländern, in denen die Umweltbelastungen ungleich höher sind, wurde mit dem Soforthilfeprogramm „Trinkwasser" eine wichtige Gefahrenquelle, insbesondere durch die teilweise hohen Nitratgehalte verursacht, schnell und unkompliziert angegangen. Im Herbst 1990 initiierte das BMU ein Forschungsvorhaben zum Gesundheitszustand der Bevölkerung in Bitterfeld im Zusammenhang mit den Umweltbelastungen zur Prävalenz von Atemwegserkrankungen, die gegenwärtig noch ausgewertet werden. Bei einem weiteren Forschungsvorhaben „human-biologische Untersuchungen auf Hexachlorocyklohexan und Dioxinkontamination" von Einwohnern des Landkreises Bitterfeld wurden Muttermilchproben diesbezüglich untersucht. Im Frühjahr 1991 wurde in Sachsen und in SachsenAnhalt eine Studie über die Auswirkungen der Luftverschmutzung auf die Gesundheit von Schulanfängern durchgeführt. Gegenwärtig werden in einer umweltepidemiologischen Studie Lernanfänger im Mansfelder Land auf mögliche Belastungen des kindlichen Organismus durch Schwermetalle untersucht. ({5}) Mit einer Reihe von Maßnahmen hat die Bundesregierung entscheidend dazu beigetragen, daß es eine deutliche Verringerung der Dioxineinträge zu verzeichnen gibt. Dazu zählen die 17. und 19. BImSchV, die Pentachlorphenolverbotsverordnung sowie die Novelle zur Klärschlammverordnung und die Verordnung zum Verbot von polychlorierten Biphenylen und zur Beschränkung von Vinylchlorid. Wenn in dem Antrag der SPD u. a. eine OzonVerordnung mit einem Grenzwert von 120 Mikrogramm pro Kubikmeter gefordert wird, ist hierzu zu sagen, daß es sich beim Ozon um einen Sekundärstoff aus Stickoxiden und flüchtigen Kohlenwasserstoffen handelt, der unter Sonneneinwirkung meist weit entfernt von den Schadstoffquellen entsteht. Deshalb favorisiert die Bundesregierung einen anderen Weg, nämlich den der Senkung der Vorläufersubstanzen - und das mit erheblichem Erfolg. So konnte die jährliche NOX-Emission um 600 000 Tonnen und die Emission der flüchtigen Kohlenwasserstoffe um 200 000 Tonnen gesenkt werden. Dieser Erfolg ist nicht zuletzt ein Ergebnis der Einführung des Dreiwegekatalysators bei Kraftfahrzeugen. Unbestritten gehen besondere Gefahren für Kinder sowohl vom Alkohol als auch vom Rauchen aus. Mehr als die Hälfte aller Kinder in Deutschland sind Passivraucher. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen erleidet irreversible Gesundheitschäden durch Alkohol- oder Nikotingenuß der Mutter während der Schwangerschaft. ({6}) Zunehmende Gefahr droht unseren Kindern leider mehr und mehr auch aus der Drogenszene. Der Versuch jedoch, den Besitz von kleinen Drogenmengen zu legalisieren, ist meiner Ansicht nach ein Schritt in die falsche Richtung. ({7}) Ich meine, neben einer nötigen schärferen EG-harmonisierten Gesetzgebung und einer stärker zu fördernden Aufklärung zu diesem Thema muß in zunehmendem Maße an die Eigenverantwortlichkeit und das solidarische Verhalten eines jeden einzelnen appelliert werden. Der passive oder aktive Konsum von Alkohol, Nikotin und Drogen durch Kinder kann wirkungsvoll allein nicht durch noch so strenge Gesetze und Verordnungen eingeschränkt werden, wenn nicht dazu begleitend, insbesondere in Elternhaus und Schule, durch gelebtes Vorbild Motivationen zu umwelt- und damit gesundheitsbewußtem Verhalten erzeugt werden. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Gerhart Baum.

Gerhart Rudolf Baum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000111, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich halte das Thema, über das wir diskutieren, für ein wichtiges Thema, Herr Kollege Lennartz - damit wir uns darüber nicht streiten. Aber es hier zum Gegenstand eines politischen Schlagabtausches zu machen, nach der primitiven Formel: „Wenn wir handeln würden, wäre das alles in Ordnung, und die Probleme liegen nur darin begründet, daß die Bundesregierung Defizite ihrer Politik aufzuweisen hat", also die SPD als Anwalt der Kinder, das ist zu einfach. ({0}) Ich möchte überhaupt nichts verharmlosen. Ich habe sehr eingehend Ihren Antrag gelesen. Die Problemskizze ist in Ordnung, und vieles ist so, auch wenn wir genaue Ursachenzusammenhänge leider nicht kennen. ({1}) - Es gibt Untersuchungen; es gibt eine Fülle von Untersuchungen. Es gibt auch Universitäten in unserem Land, es gibt Wissenschaftler, es gibt Aufträge, die die Bundesregierung erteilt hat. - Solche einfachen Ursachenzusammenhänge, hier das mögliche Versagen der Bundesregierung und dort die Erkrankung, so etwas gibt es nicht. Ihr Antrag ist auch ziemlich hilflos. Er ist so allgemein. Da steht: Die spezifischen Belange der Kinder müssen im medizinischen Bereich besser berücksichtigt werden. Okay, jeder ist dafür. Aber es stellt sich doch die Frage: Wie? Wo? Was macht man im einzelnen? ({2}) Weiter heißt es: Die Darstellung von Gewalt in Film und Fernsehen ist zügig abzubauen. Da stellt sich die Frage: Was ist Gewalt? Welche Wirkungen hat Gewalt auf Kinder? Wer baut das zügig ab? Wir haben Art. 5 des Grundgesetzes, Meinungsfreiheit. Zu diesem Antrag kann man sagen: Na gut, vielem stimme ich zu. Aber was soll praktisch, konkret an Politik daraus gerinnen? Es kommt noch hinzu: Das ist ein Querschnittsthema. Sie sprechen im Grunde alle Bereiche des Umweltschutzes an, die natürlich Einwirkungen auf Kinder wie auch auf Erwachsene haben, auf Kinder in besonderer Weise. Ich finde, das sind an manchen Stellen allgemeine Zielvorstellungen. Irgendein Assistent der Fraktion hat eine Fleißarbeit geleistet, und das wird nun hier vorgelegt. ({3}) - Ich möchte nicht mißverstanden werden: Es ist ein wichtiges Thema. Aber tun Sie nicht so, als hätten Sie den Schlüssel für die Lösung der Probleme in der Hand! Den haben Sie ebensowenig wie andere. ({4}) - Ich lese doch Ihren Antrag. Damit können Sie doch keine Politik machen. Das können Sie doch nicht einmal in eine Regierungserklärung hineinschreiben, wenn Sie in die Verlegenheit kommen sollten, eine abgeben zu müssen. ({5}) Ich finde, daß die Sorge über zunehmende umweltbedingte Erkrankungen der Atemwege - das hat der Vorredner ja gesagt - berechtigt ist, daß es eine ganze Reihe von Stoffen gibt, die sehr negative Wirkungen haben. Ich habe immer mehr den Eindruck, daß sich im Laufe der Jahre, auch wenn wir die Umwelteinflüsse, die Umweltschädigungen abgebaut haben, im Körperimmunsystem Wirkungen zeigen, die sich auch auf nächste Generationen fortsetzen werden. Es kommt an einigen Stellen jetzt zum Ausdruck, daß sich durch die Belastungen der früheren Jahre etwas verändert hat, daß sich jetzt in unserer Gesundheitsstruktur, in der Struktur des Körpers - ich kann das nicht medizinisch fassen - etwas verändert. Diese Befürchtungen konkretisieren sich an einigen Stellen. Beispielsweise erweitert sich das Wissen über das Immunsystem, über Schädigungen des Immunsystems. Die Schulmedizin ist oft hilflos und wird angefeindet. Deshalb finde ich beispielsweise das, was Sie hier in Ziffer 20 sagen, wichtig: Die vertragsärztlichen Leistungen der Kassen für den vorsorgenden Gesundheitsschutz für Kinder müssen so geregelt werden, daß eine Abdeckung der Behandlungskosten chronischer Krankheiten und der Stärkung des Immunsystems gewährleistet wird. Das ist eine Forderung, mit der ich etwas anfangen kann. ({6}) - Ja, natürlich, wenn ich damit etwas anfangen kann, unterstütze ich das auch. Ich stehe mit dem Kollegen Müller aus der SPD-Fraktion in enger Verbindung, um in einer bestimmten Sphäre etwas zu tun, wo die Schulmedizin neue Therapien bekämpft. - Wir haben eine starke Zunahme allergischer Krankheiten; das ist besorgniserregend. Also, daß die Gesamtsituation, auch wenn ich sie nicht dramatisieren möchte, doch ein ernstes Problem ist, daran besteht unsererseits kein Zweifel. Wir haben wirksamen Umweltschutz zu betreiben. Da ist vieles geschehen. Vieles ist zu spät gemacht worden. Der Kollege hat schon aufgeführt, was wir hier in den letzten Jahren geleistet haben. Es gibt aber auch Defizite im Vollzug, um das deutlich zu sagen. Hier sind die Länder angesprochen. Ich will hier kein Schwarzer-Peter-Spiel betreiben, aber: Verantwortlich sind alle. Verantwortlich ist der Bund, sind die Länder und nicht zuletzt auch wir selber, die Familien, durch die Art, wie wir auf unsere Kinder einwirken, wie wir sie erziehen, welche Umweltgefahren wir selbst ihnen bereiten, indem wir arglos mit Alkohol, mit Nikotin umgehen. All dies ist eine Einwirkung, auf die wir selbst Einfluß haben. Wir brauchen nicht bei allem nach dem Staat zu rufen. Dringend ist auch die Reduzierung des Benzolgehalts im Benzin. Ich habe Ihnen, Herr Kollege Lennartz, da schon zugestimmt. Hier hat Herr Töpfer unsere volle Unterstützung, eine EG-weite Regelung, die überfällig ist, zu erreichen. Der Forderung nach einer Ozonverordnung habe ich schon in einem Zwischenruf widersprochen. Sie ist aus unserer Sicht durch die Verordnung über Immissionswerte erledigt. Ihre Forderung nach Absenkung der Grenzwerte ist mir zu pauschal. Das ist eines der schwierigsten Themen im Umweltschutz: Wo sind die Grenzwerte anzusiedeln? Es ist seit Jahren unsere Philosophie, im Umweltschutz Grenzwerte nach dem Vorsorgeprinzip festzulegen. Wir werden das tun. Es gibt Angriffe auf das Ordnungsrecht, auf die Grenzwertpolitik. Ich habe heute eine Rede von Herrn Rexrodt bei der Eröffnung der Entsorga in Köln gehört. Er hat sich ausdrücklich zu der Politik bekannt, gerade im Bereich der Gesundheitsgefährdung an vorsorgenden Grenzwerten festzuhalten. Wenn wir das tun, liegen wir unterhalb der Grenzen, ab denen Gefahren denkbar sind. Aber wir wissen eben nicht alles. Es bleiben große Unsicherheiten. Es kommt darauf an, dieses Schutzniveau zu erhalten. Es gibt einige aktuelle Probleme, bei denen ich die Bundesregierung auffordere, einer Abschwächung zu widerstehen. Es geht beispielsweise um die Grenzwerte für Pflanzenschutzmittel im Trinkwasser bei der EG. Hier sind gefährliche Abschwächungstendenzen sichtbar. Ich kann die Bundesregierung nur auffordern, hier nicht mitzumachen, und will sie in ihrer Position bestärken. Auch bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln dürfen keine Abstriche am geltenden deutschen Schutzniveau gemacht werden. Ich bedauere, daß wir in dieser Legislaturperiode kein Bodenschutzgesetz auf den Tisch bekommen haben. Hier hätten wir Kriterien festlegen können, die einen wesentlichen Einfluß auch auf die Umwelteinwirkung gehabt hätten. Aber alles in allem, meine Damen und Herren: Wir verharmlosen nichts; wir vernachlässigen das Thema nicht. Wir lassen uns von Ihnen nicht vorwerfen, daß wir nicht ähnlich sorgenvoll wie Sie die Situation sehen. Wir tun das, was in unseren Kräften steht. Wir werden über den Antrag miteinander reden, aber, Herr Kollege Lennartz, nicht in dieser einfachen Polemik, die Sie hier eingeführt haben. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende SPD-Antrag greift ein äußerst wichtiges Thema auf, das in diesem Hause schon mehrfach beraten wurde. Ich glaube, es gehört in die Reihe der Probleme, an denen sich die Politiker und Politikerinnen messen lassen müssen, inwieweit sie tatsächlich für die Zukunft Sorge tragen. Ich muß sagen: Ich bin absolut erstaunt darüber, wie die Herren von der Regierungskoalition hier auftreten. Bereits vor einem Jahr haben wir über große Anfragen diskutiert. Sie haben zur Zeit die Regierungsmacht. Dann werfen Sie doch jetzt auch nicht dem Antrag vor, er sei zu allgemein. Sie haben nichts vorgelegt, überhaupt nichts! ({0}) Und dann kommen wieder solche allgemeinen Sprüche über das Rauchen und ähnliche Sachen. Außerdem heben Sie auch noch auf Drogen ab. Bei 40 000 Alkoholtoten im Jahr frage ich mich, warum es immer noch - auch während Kindersendungen - Werbung für Alkohol gibt, warum es immer noch - auch im Kino - Werbung für das Rauchen gibt. Ich muß sagen: Ich finde es entsetzlich. Sie appellieren hier, und dabei stehen überall Zigarettenautomaten herum. Ich glaube, unsere Aufgabe ist, zu entscheiden, was wir als Politikerinnen und Politiker leisten können, und nicht immer nur Appelle an den privaten Bereich zu richten und damit die Verantwortung abzuschieben. Wenn man sich die Entwicklung der Diskussion dieses Themas hier im Hause vergegenwärtigt, wird man finden, daß es erschreckend ist, wie wenig Aufmerksamkeit es in politisch-praktischem Handeln von Ihrer Seite her tatsächlich gefunden hat. Es sind genügend Anträge eingebracht worden, mit denen man hätte handeln können. Zwar mag der einfache Hinweis darauf, daß es Zusammenhänge gibt, die nicht einfach nur monokausal zu erklären sind, und daß deshalb alles sehr schwer nachzuweisen ist, richtig sein. Aber erstens sollten wir prinzipiell in dieser Beziehung lieber übervorsichtig sein; denn wir erleben Prozesse, die eine andere Sprache sprechen, nämlich daß die Gefährdungen sehr hoch sind. Zweitens meine ich, gerade dieser Zustand sollte die Regierung und die Koalition veranlassen, tatsächlich auf dem Forschungsgebiet wesentlich mehr zu tun als das, was Sie hier aufgezählt haben, Herr Dr. Kahl. Ich muß sagen: Betrachtet man die Situation der Disziplin Umwelthygiene und Umweltmedizin - zwei Bereiche, die wirklich in Forschung und Lehre an den Hochschulen und an den außeruniversitären Einrichtungen eine Rolle spielen -, so ist der Zustand einfach äußerst unbefriedigend. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, was die Entscheidung des Gesundheitsministers Seehofer, das Wasser-, Boden- und Lufthygiene-Institut vom Bundesgesundheitsamt und damit auch aus einem Bereich, der unmittelbar auf den Gesundheitsschutz orientiert ist, in die Zuständigkeit des Umweltministeriums zu verlagern, bringen soll. Ich persönlich halte das für eine wissenschafts- und gesundheitspolitisch äußerst kenntnislose und unsensible Entscheidung. ({1}) In den neuen Bundesländern hat eine kurzsichtige und gelegentlich geradezu blindwütige Anpassungspolitik an die Wissenschafts- und Hochschulstrukturen der alten Länder dazu geführt, daß viele einschlägige, seit langem etablierte selbständige Institute entweder vollständig aufgelöst, abgewickelt oder unter Verlust ihrer Eigenständigkeit zumindest drastisch verkleinert wurden. Daß ein spezielles Institut für die Hygiene des Kindes- und Jugendalters als eine nachgeordnete Einrichtung des Gesundheitsministeriums der DDR nicht überlebt hat, versteht sich da schon fast am Rande. Auch vor diesem Hintergrund begrüße ich es ausdrücklich, daß mit dem vorliegenden Antrag nicht nur Normen, Gesetze, Verbote und Genehmigungsvorbehalte oder Auflagen gefordert werden, sondern daß es ganz vorrangig auch um verstärkte Vorbeugung und Entwicklung von Forschung, Forschungsprogrammen und Forschungskapazitäten geht. Kinder reagieren nun einmal nicht nur empfindlicher auf Umweltfaktoren, sie sind ihnen zugleich anders und vor allem tendenziell stärker exponiert ausgesetzt. Das begründet den Bedarf an einer speziell auf ihre Probleme ausgerichteten Forschung. Hierzu sollten - ich nenne nur einige Beispiele - gehören: epidemiologische Querschnitts- und Längsschnittsuntersuchungen zur Aufklärung des Verhältnisses zwischen Umweltfaktoren und Krankheitshäufigkeiten, die Dosis-Wirkungs-Beziehungen von Schadstoffen speziell im Hinblick auf den kindlichen Organismus und sein Immunsystem, aber auch der Einfluß der Umweltsituation auf Psyche und Verhaltensweisen der Kinder. Andererseits steht natürlich im Vordergrund, schon heute praktisch all das zu tun, was in bezug auf emissions- und abfallärmere Verfahren und Erzeugnisse möglich ist. Dazu gehören bekanntlich Einsparungen von Energie, rationellere Energieerzeugung, Verkehrsgestaltung, Gewässerschutz , Trinkwasserqualität, aktive Lärmvermeidung, aber auch passiver Lärmschutz, qualitativ hochwertige und nicht oder gering belastete Nahrungsmittel bis hin zur Muttermilch. Für besonders wichtig halte ich es auch - und ich habe mich gefreut, daß das in dem Antrag Berücksichtigung gefunden hat -, die Rolle der Kinderärzte, aber auch das Gewicht und die Stellung der Kinderheilkunde als wissenschaftlicher und praktischer Disziplin zu stärken. Gerade die Kinderärzte können und müssen bei der Erkennung, Bewertung und Vermeidung von Umweltbelastungen für Kinder ein zunehmend gewichtiges, erfahrungsmäßig und wissenschaftlich untermauertes Wort mitreden. Wenn heute verantwortungsbewußt entschieden werden soll - und dies ist dringend geboten, denke ich -, dann muß der Bundestag im Sinne des Antrages der SPD die Bundesregierung verpflichten, die genannten Maßnahmen tatsächlich auch gesetzgeberisch zu untermauern. Aus diesem Grunde findet der Antrag der SPD die volle Unterstützung der PDS/ Linke Liste. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unsere Kollegin Vera Wollenberger.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich war einigermaßen erstaunt über die Redebeiträge der Herren aus der Regierungskoalition. Ich möchte nicht wiederholen, was meine Kollegin Frau Höll schon sehr richtig gesagt hat. Aber eines, Herr Baum, möchte ich doch noch anmerken. Wenn man wie ich in einer kleinen Gruppe die verschiedensten Debattenbeiträge in diesem Saal an einem Tag verfolgt, dann wundert es mich schon, daß heute während der Debatte um die Ereignisse in Magdeburg ein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion in lautstarker Weise und sehr nachdrücklich die Abschaffung und das Verbot der Gewalt im Fernsehen fordert und Sie hier der SPD vorwerfen, daß sie in ihrem Antrag das Verbot von Gewalt fordert, um dann zu fragen: Ja, welche Gewalt eigentlich und wie? Dann frage ich mich: Wie einheitlich ist denn die Politik dieser Koalition, und was geht da schief? Ich finde, es ist wirklich an der Zeit, daß Sie sich über die Grundsätze der Politik, die Sie verfolgen wollen, einig werden. Aber wahrscheinlich ist das gar nicht mehr nötig, weil wir es im Herbst - hoffentlich - mit einer anderen Koalition zu tun haben. ({0}) Wenn den geschätzten Kollegen der Regierungskoalition die Situation schon so unklar ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, Ihnen einmal zu Gehör zu bringen, was unsere Kinder zu dieser Situation zu sagen haben: Wir wollen sehr strenge Gesetze gegen die Zerstörung der Natur. Jeder, der die Umwelt verschmutzt, sollte hohe Strafen zahlen müssen. Wir wollen, daß Atomkraftwerke gestoppt werden. Wir wollen nicht durch Abgase krank werden. ({1}) Wir wollen nicht, daß unsere Welt im Müll ertrinkt. Das sind die Worte aus dem Appell für eine gesunde Umwelt von über 600 000 Kindern des Kindergipfels 1992 in Rio. Ich finde, man sollte die Worte dieser Kinder einmal ernst nehmen und sich nicht darüber mokieren, Herr Kollege Baum. Das finde ich völlig unangebracht. ({2}) Bundesumweltminister Töpfer, der seit Montag den Vorsitz der UN-Kommission zur Umsetzung der Beschlüsse von Rio hat, täte gut daran, auf die Stimme der Kinder zu hören, wenn Sie das schon nicht tun wollen. In kaum einem Bereich zeigt die Umweltverschmutzung und -zerstörung derart katastrophale und dramatische Folgen wie bei der Entwicklung der Gesundheit unserer Kinder. Die Wohlstandsgesellschaft zerstört nicht allein die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen. Unsere demokratische Gesellschaft, die sich auf Menschenrechte und Humanität beruft, vergiftet, verstümmelt und tötet bereits heute ihre eigenen Kinder. Es sind nicht nur die spektakulären Katastrophen wie Tschernobyl, Hoechst, Pflanzenschutzgifte in Babynahrung oder Kinder ohne Hände, die uns zum Handeln zwingen. Weitaus dramatischer ist die alltägliche Vergiftung der Kinder durch eine nicht mehr überschaubare Anzahl von Schadstoffen. Der ökologische Ausnahmezustand ist für unsere Kinder in diesem Land längst Normalzustand geworden. Ich denke, wir sollten uns damit nicht abfinden. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, daß bereits alle Neugeborenen in unserem Land schadstoffbelastet auf die Welt kommen, daß über eine Million Kinder von Neurodermitis gequält werden, daß Millionen Kinder unter Bronchitis, Pseudokrupp oder Asthma leiden und daß Leukämie und andere durch Umweltgifte hervorgerufene bösartige Krebsarten mittlerweile zu den häufigsten Todesursachen der Kinder in Deutschland gehören. Die Verletzung ökologischer Kinderrechte ist eine neue Form weltweiter Menschenrechtsverletzungen. Für mich ist dieses unverantwortliche Handeln gegen die eigenen Kinder eine der größten Tragödien dieses Jahrhunderts. Die Untätigkeit und das verharmlosende Gerede dazu, wie wir es auch heute wieder gehört haben, ist unerträglich. Es muß sofort gehandelt werden, um unsere Kinder vor weit schlimmeren Belastungen und Gefahren zu schützen. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte bereits vor genau einem Jahr einen Entschließungsantrag zur Notwendigkeit von ökologischen Kinderrechten im Bundestag eingebracht, verbunden mit einem ganzen Katalog von konkreten Vorschlägen und Forderungen zur Eindämmung der aktuellen Gefährdungen und Schädigungen der Kinder. Seitdem haben die politisch Verantwortlichen - das sind immer noch Sie von der Regierungskoalition - nicht reagiert. Die Bundesregierung ignoriert die Vorschläge und dramatischen Appelle aus Medizin, Wissenschaft und auch hier im Bundestag auf fahrlässige Weise. Angesichts von jährlich 50 000 neu produzierten Chemikalien in der Bundesrepublik ist die Flut der chemischen Substanzen durch eine drastische Verschärfung der Zulassungsbestimmungen und das Verbot der Produktion von krebserregenden Stoffen unverzüglich einzudämmen. Die Grenzwerte von Schadstoffhöchstmengen sind drastisch zu reduzieren. Die Festsetzung der zumutbaren Höchstmengen muß sich strikt am kindlichen, noch wachsendem Organismus orientieren. Es sind flächendeckende Emissions- und Immissionskataster einzurichten und freier Zugang für BürVera Wollenberger gerinnen und Bürger zu allen relevanten Meßdaten von Behörden und Industrie zu gewährleisten. Dringend geboten sind Maßnahmen zur Förderung der umweltmedizinischen Forschung und Lehre. Aber wann wird endlich das seit langem geforderte Forschungsprogramm Kind, Gesundheit und Umwelt aufgelegt? Zu alldem und vielen anderen Punkten haben wir zahlreiche konkrete und realisierbare Vorschläge gemacht. Auch der heute vorliegende Antrag hat unsere Forderung zur Durchsetzung ökologischer Kinderrechte aufgegriffen und um einige wichtige Punkte ergänzt. Darum kann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit vollem Herzen diesen Antrag unterstützen. Ich kann allerdings nicht umhin, daran zu zweifeln, ob die SPD im Falle eines Regierungswechsels tatsächlich für die Umsetzung der gestellten Forderungen sorgen würde. ({3}) Die Diskussion um den Ökologieteil ihres Regierungsprogramms läßt vielmehr vermuten, daß auch die SPD nicht wirklich zu einem konsequenten Umdenken und zu tiefgreifenden, unbequemen und einschränkenden Veränderungen zugunsten der Umwelt und der Gesundheit der Kinder bereit ist. ({4}) In der Verkehrs-, Energie- und Industriepolitik ist keine Abkehr vom alten, umweltzerstörenden Denken zu erkennen. Wie ernst es den Sozialdemokraten ist, können Sie am Freitag dieser Woche zeigen, wenn es darum geht, daß die A-Länder zum Kreislaufwirtschaftsgesetz und zur Atomgesetznovelle Stellung nehmen müssen. Im Sinne der Kinder wünsche ich den Umweltpolitikern der Sozialdemokraten hier im Bundestag, daß sie die heute geäußerten Positionen in ihrer eigenen Partei durchsetzen. Ich schließe mich dem Appell eines Mädchens aus Deutschland an, das in Rio sagte: Wenn ihr es unterlaßt, die richtigen Entscheidungen zu treffen, sind wir alle in Gefahr. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Dorothea Szwed.

Dorothea Szwed (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002295, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem von meiner Vorrednerin ein negatives Bild gezeichnet worden ist, muß man dieses, glaube ich, dringend etwas aufhellen. Auch das, was man hier an Zahlenmaterial von sich gegeben hat, widerspricht wirklich der Realität. Ich kann darüber berichten, daß wir im Kreis Neuwied, wo ich herkomme - ich bin erst seit kurzer Zeit im Bundestag -, im letzten Monat eine Untersuchung von 2 000 Schulneulingen abgeschlossen haben, die dieses Jahr eingeschult werden. Da gab es so gut wie keine in irgendeiner Form im Zusammenhang mit Umweltbelastungen stehenden Angaben über Krankheiten. Das ist überhaupt ein Punkt, den wir den Kollegen der SPD einmal klarmachen müßten: den Unterschied zwischen Seuchen, Hygiene und dementsprechenden Krankheiten. ({0}) Wir alle wollen gesunde Kinder und wünschen, daß die Gesundheit unserer Kinder ihrer Definition als „Zustand eines vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und Freiseins von Krankheit" entspricht. Für die Verwirklichung der Rechte der Kinder und für ihre Gesundheit sind wir alle verantwortlich und gefordert. Die Hauptverantwortung liegt jedoch bei den Eltern, den Ärzten und den Lehrern. ({1}) Auch die Mitwirkung aller Jugendlichen und Erwachsenen beim Umweltschutz und die Verwirklichung und Einhaltung der bereits vorhandenen Umweltschutzgesetze und -verordnnugen - hören Sie gut zu! - sind Voraussetzung einer besseren Lebensbasis für die Zukunft unserer Kinder. ({2}) Der Kollege von der SPD hat gerade von einem Gutachten aus dem Jahr 1987 gesprochen. Ich habe an meinem Sitzplatz einige Unterlagen von 1990, 1991, 1992 und 1993 liegen. Es sind viele Untersuchungen mit Werten und Daten, die ich Ihnen gern zur Verfügung stellen kann. ({3}) - Vielleicht lassen Sie mich jetzt einmal bitte ausreden; wir können das hinterher noch vervollständigen. Täglich melden die Medien - hören Sie gut zu - Verseuchungen unserer Umwelt. Was ist damit eigentlich gemeint? Nach medizinischer Sichtweise ist eine Seuche ein gehäuftes Auftreten von Krankheiten, verursacht durch krankmachende Keime wie Bakterien und Viren, die von Mensch zu Mensch übertragen werden. Für viele dieser Krankheiten, beispielsweise Tuberkulose oder Typhus, besteht nach dem Bundesseuchengesetz Meldepflicht bei den zuständigen Gesundheitsämtern. Diese ermitteln und treffen entsprechende Entscheidungen zur Eindämmung der Infektionskrankheiten. Durch wesentlich bessere Allgemeinhygiene sowie intensive Lebensmittelkontrolle konnte die Anzahl dieser schweren Infektionskrankheiten, der Seuchen, deutlich vermindert werden. ({4}) - Darüber müssen Sie reden, wenn Sie über Kinderkrankheiten reden. Das ist nämlich der Punkt. Da haben Sie dringenden Aufklärungsbedarf. ({5}) Diese Seuchen haben wir jedoch in der Bundesrepublik Deutschland praktisch fest im Griff. Was verstehen wir unter dem Schlagwort Verseuchung unserer Umwelt, das durch die Medien geht, insbesondere unter Verseuchung der Spielplätze und unserer nächsten Umgebung wie Kindergärten und Wohnungen? Der Begriff Seuche wird von vielen fälschlicherweise auf die mögliche Schädigung der Gesundheit durch verschiedene Umweltfaktoren der Luft, des Wassers, der Nahrung, der Wohnung, des Arbeitsplatzes übertragen, die auf uns einwirken. Es sind Einflüsse, denen wir, ohne uns ausreichend schützen zu können, praktisch zwangsweise ausgesetzt sind. Bei den Schadstoffen handelt es sich um Chemikalien, wie z. B. Formaldehyd, die bei der Herstellung von Möbeln, Holzprodukten, Textilien und in der Medizin seit Jahrzehnten in großem Umfang aus Unwissenheit verwendet wurden. Bleirohre, seit 100 Jahren für Wasserleitungen verwendet, sind heute noch in Großstädten in alten Hausleitungen vorhanden. Mit Blei und Cadmium verarbeitete Autobatterien und Batterien finden im Haushalt tagtäglich Verwendung. Der Nitratanstieg im Trinkwasser durch Überdüngung der Felder in den Wasserschutzgebieten betrifft jeden von uns; das ist klar. Weiter sind zu nennen der Schadstoffausstoß der Autos, das Ausgasen von Lösemitteln aus Innenraumfarbanstrichen usw. Diese Aufzählung kann noch durch ein Vielfaches verlängert werden. Zweifellos wissen wir inzwischen seit Jahrzehnten von der schädigenden Wirkung dieser Stoffe auf uns Menschen und vor allen Dingen auf unsere Kinder. ({6}) - Ich mußte Sie ja erst einmal aufklären. - Die Bundesregierung hat dies erkannt und versucht, durch eine Unzahl von Vorschriften und Empfehlungen eine Minimierung der schädigenden Wirkung dieser Stoffe zu erreichen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({7}) Eine allgemeine Meldepflicht für Schadstoffeinwirkungen im privaten Bereich für Kinder und Erwachsene existiert nicht. Eine Differenzierung scheint mir in der Praxis auch sehr schwierig zu sein. Wir wissen, daß es inzwischen in unserer Umwelt unzählige Umweltfaktoren gibt, die mindestens für einen Teil unserer Bevölkerung gesundheitliche Schädigungen bewirken können. Die steigende Zahl der Allergien zeigt dies. Ich denke, wir alle wissen, daß die „Empfindlichkeit" individuell sehr unterschiedlich ist. Dennoch bin ich mir sicher, daß die Bundesregierung auch in Zukunft alles daransetzen wird, diese umweltschädigenden Einflüsse in den Griff zu bekommen. ({8}) Nicht zuletzt ist dies jedoch auch eine Frage des Standes der jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({9}) Aber auch der einzelne Bürger ist gefragt. Der Gesundheitsschutz und die Verantwortung für unsere Kinder beginnen bei der Schwangerschaft. Auch das müssen Sie sich anhören. Die werdende Mutter sollte durch eine ärztlich festgelegte Vorsorgeuntersuchung, durch die im Mutterschutzgesetz vorgesehenen Maßnahmen und ihr persönliches Verhalten für einen möglichst guten Schwangerschaftsverlauf sorgen. Auch hier hat der Gesetzgeber Vorsorge getroffen. Rauchen, Alkohol oder Medikamenteneinnahme obliegen jedoch ihrer persönlichen Verantwortung. Praktisch alle Ärzte, besonders die Kinderärzte, sind seit Jahren bemüht - da gibt es Gespräche, vor allem auf kommunaler Ebene und auf Länderebene; denn dort muß etwas passieren -, ({10}) Erkrankungen, die durch Schadstoffeinwirkungen verursacht sind, zu erkennen. Das Bundesgesundheitsamt - damit komme ich zu dem, was ich eben bereits erwähnte - unterrichtet seit vielen Jahren ({11}) - Sie müßten das mal lesen - wöchentlich durch seinen Pressedienst die Bevölkerung und ist bemüht, besonders allen Ärzten Informationen über Medikamentennebenwirkungen zukommen zu lassen. Darüber hinaus ist jeder Arzt aufgerufen, patientenanonym Arzneimittelnebenwirkungen zu melden. Jeweils jährlich werden die Informationsschriften nochmals gesammelt veröffentlicht. In der Monatszeitschrift des öffentlichen Gesundheitswesens finden wir praktisch in jedem Heft mindestens eine wissenschaftliche Arbeit, durch die Erkenntnisse über mögliche schädigende Umwelteinflüsse, besonders auf den kindlichen Organismus, veröffentlicht werden. Darüber hinaus veröffentlicht das Bundesgesundheitsamt im umweltmedizinischen Informationsdienst Beiträge des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, zunächst seiner Mitarbeiter und in der Folgezeit auch aus dem allgemein klinisch-diagnostischen Bereich. Ihre in den 18 Punkten geforderten Maßnahmen entsprechen den bereits laufenden Maßnahmen, die die einzelnen Bundesländer, auch in gemeinsamer Absprache, schon durchführen. Der jüngste Babykost-Skandal ist meines Erachtens ein Beweis dafür, daß unsere von der Bundesregierung eingeführten Kontrollmechanismen funktionieren, wenn auch die Verwaltungswege sicherlich in vielen Bereichen verkürzt werden sollten, damit ein schnelleres Eingreifen möglich ist. Vielen Dank. ({12}) Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, die Frau Kollegin Szwed ist erst seit acht Wochen im Bundestag. Das war ihre erste Rede. Wir können sie hier nicht für alles verantwortlich machen, was wir versäumt haben. Zu der Rede will ich meinen Glückwunsch aussprechen, zumal Frau Kollegin Szwed auch noch eine gelernte Personalrätin ist. Nun hat das Wort unser Herr Kollege Horst Peter.

Horst Peter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001693, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedaure, Herr Dr. Menzel, daß nicht Sie gesprochen haben, sondern daß Herr Baum als renommierter Umweltpolitiker hier eine Stippvisite gegeben und im Vorbeigehen gesagt hat, die SPD habe einen flüchtigen Antrag vorgelegt. Auf diese Weise durfte derjenige, der von der Materie Ahnung hat, nicht sprechen. Das finde ich nicht gut. Daß hier einfach im Vorbeigehen unvorbereitet etwas abgetan wird, wird daran deutlich, daß all diejenigen, die sich mit der Frage beschäftigt haben, wissen, daß unser heutiger Antrag eine Vorgeschichte hat. Am Anfang stand eine sehr ausführliche Petition von Eltern, deren Kinder umweltgeschädigt sind und die vergeblich versuchen, diese Schädigungen in unserem Gesundheitssystem sozusagen an die zuständige Stelle zu bringen. Das war die Vorgeschichte. Auf Grund dieser Vorgeschichte hat die SPD-Bundestagsfraktion in Kooperation mit den Betroffenen, u. a. auch diesen Petenten, mit den Kinderärzten - und dabei, Herr Kollege Kahl, durchaus auch mit den Kinderärzten, die an dem kinder- und umweltmedizinischen Netzwerk in Osnabrück arbeiten, was ich als eine vernünftige Sache ansehe und wo auch Steuermittel des Bundes in vernünftiger Form eingesetzt werden - eine Große Anfrage eingebracht, um überhaupt einmal etwas Licht in das Dunkel zu bringen und etwas über die tatsächliche Situation der Umweltauswirkungen auf den kindlichen Organismus zu erfahren. Das war der Ansatz. Nach einjähriger Arbeit haben wir die Antwort auf diese Anfrage bekommen. Diese einjährige Arbeit war sinnvoll; das Bundesgesundheitsministerium hat Ihnen, Herr Dr. Kahl, den vermeintlichen Erfolgskatalog aufgeschrieben. Ich gehe einmal davon aus: Eine ganze Menge der Dinge, die Sie genannt haben, ist eine unmittelbare Auswirkung der langst überfälligen Großen Anfrage, die wir eingebracht haben. Es gab zum gleichen Thema ja auch eine Anfrage vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Das sei einmal zum Rahmen gesagt. Wenn man dann sagt - wie es der Kollege Baum getan hat -, das sei ein allgemein dahinformulierter Antrag, so kann ich nur sagen: Das ist nicht die Auseinandersetzung, die der Ernsthaftigkeit dieses Themas angemessen ist. ({0}) Herr Dr. Kahl, ich an Ihrer Stelle hätte mich wirklich kritisch mit der Zerschlagung des Bundesgesundheitsamtes auseinandergesetzt. ({1}) Ich möchte hier jetzt nicht eine neue Diskussion darüber führen, daß hier eine falsche Richtungsentscheidung getroffen worden ist. Aber ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, daß die CDU die einzige gewesen ist, die meinte, das Institut für Wasser-, Boden und Lufthygiene gehöre in die Zuständigkeit des Bundesumweltministeriums. Alle Wissenschaftler, vor allem diejenigen, die in diesem Institut die Arbeit gemacht haben und machen, beklagen, daß ein wesentlicher Teil ihrer Forschungsarbeit, die auf die enge Beziehung zwischen Umweltbelastungen und gesundheitlichen Auswirkungen in den drei Medien Wasser, Boden, Luft ausgerichtet ist, durch die Umorganisation in unverantwortlicher Weise organisatorisch behindert worden ist und daß es für die Kunden auf Länder- und kommunaler Ebene, die diese Informationen, diese Forschungsergebnisse benötigen, sehr viel schwieriger geworden ist, hier in einer sinnvollen Form Umwelterkrankungen und Umweltbelastungen, auch mit dem Ansatz des öffentlichen Gesundheitsdienstes, tatsächlich in Beziehung setzen zu können. Sie sollten, wenn Sie in dieser Frage engagiert sind, Bundesminister Seehofer nicht bei dieser falschen Richtungsentscheidung unterstützen, sondern sie sollten versuchen, bei dieser Umorganisation der gesundheitspolitischen Vernunft nachträglich doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist richtig, daß es in dem Bereich der Gesundheitspolitik neue Krankheitsspektren gibt. Dabei reden Sie meistens von den Multimorbiditäten im Alter. Das Problem, daß die chronischen Erkrankungen, vor allen Dingen der Atemwege, der Haut, Allergien - etwa Neurodermitis -, zunehmend Kinder und Jugendliche betreffen, macht deutlich, daß wir bei den chronischen Erkankungen wahrscheinlich erst die Spitze eines Eisberges haben. In dem Zusammenhang bereitet es tatsächlich große Sorge, daß dieser Anstieg von Kinderkrankheiten festzustellen ist. Dabei - und da besteht ja Übereinstimmung - gilt es, Defizite zunächst einmal zu benennen und dann nach einer Strategie zu suchen, wie solche Defizite in eine geschlossene Konzeption eingebaut werden, wie wir es mit dem umfassenden Forschungsprogramm „Kind, Gesundheit, Umwelt" vorhaben, das übrigens, Frau Kollegin Wollenberger - wo ist sie denn? -, im Regierungsprogramm der Sozialdemokratischen Partei festgeschrieben ist. Sie wollen ja irgendwann einmal als Koalitionspartner zur Verfügung stehen. Da würde ich Ihnen empfehlen, zunächst einmal unsere Programmatik zu lesen, an der man sich erfolgreich abarbeiten könnte, ehe da Papiertiger aufgebaut werden. Horst Peter ({2}) Die Defizite, die Zusammenhänge sind bis heute zu wenig erforscht. Die Bundesregierung hat diese Erkenntnis schon eine ganze Zeit. Aber es ist offensichtlich nicht das interessenbesetzte Gebiet, auf dem bisher große gesundheitspolitische Aktivitäten ausgelöst worden sind. An dieser Stelle pflegt der Kollege Hoffacker nach den Ländern zu fragen. Ich muß sagen, daß da das Land Nordrhein-Westfalen eine ganze Menge an Vorreiterarbeit geleistet hat und daß das Institut für Umwelthygiene in Düsseldorf eben eine vorbildliche Rolle in diesem Zusammenhang spielt. ({3}) Da könnte sich die Bundesregierung an der einen oder anderen Stelle etwas abgucken. Daß das System der Grenzwerte nicht mehr stimmt, das hat ja auch der Umweltpolitiker Baum erkannt. Aber wenn er das jetzt auf die gesundheitspolitische Situation bezieht und sich vor Augen hält, daß sich diese Grenzwerte an einem 30jährigen, 1,75 m großen, 70 kg schweren und gesunden Arbeitnehmer orientieren, dann sollte er einmal darüber nachdenken, ob der viel empfindlichere kindliche Organismus nicht tatsächlich anderer Grenzwerte bedarf. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort ja völlig richtig gesagt, daß das bisherige Konzept angesichts der Belastungen des kindlichen Organismus letztlich nicht aufrechtzuerhalten ist. ({4}) - Ich hätte da Übertoleranzen, Herr Kollege Urbaniak, anzubieten. Vor allen Dingen die immer häufiger auftretenden Immundefekte - das Alarmsignal dafür, daß der menschliche Organismus aus dem Gleichgewicht geraten ist, daß der Schutz vor äußeren Eingriffen, vor Viren, Allergien und Bakterien, nicht mehr funktioniert - und die Tatsache, daß das neue Krankheitsspektrum immer mehr Komplexerkrankungen enthält, machen es in der Tat erforderlich, Ernst zu machen mit präventiver Gesundheitspolitik, und zwar nicht nur im Bereich des Verhaltens - das ist auch wichtig -, sondern auch in der Arbeitswelt und in der Lebenswelt. Wir sind ja diejenigen, die auch den Arbeitsschutz besser geregelt haben wollen, während Sie wahrscheinlich ein Arbeitsschutzgesetz noch nicht einmal über die Runden bringen. Das muß in dem Zusammenhang ja auch einmal gesagt werden. ({5}) Herr Dr. Kahl hat dann ja noch gesagt, wir müßten loben, was die Bundesregierung im Bereich des Sozialgesetzbuchs V gemacht hat. Also, so viel ist das nicht. Wir haben gemeinsam § 20 des SGB V mit dem präventiven Ansatz verbessert. Aber ich kann jetzt schon, wo man sieht, was denn tatsächlich in präventive Leistungen der Krankenkassen geflossen ist, sagen: Da muß eine schnelle Novelle her, damit tatsächlich auch die Krankenkassen verpflichtet sind, mehr für Prävention auszugeben. Ich würde in dem Zusammenhang auch darüber nachdenken, ob die Erprobungsregeln für Prävention gegenüber diesen besonderen Krankheiten und Gefährdungen für Kinder ausweiten könnte. Das würde ich übrigens für eine sinnvollere GKV-Anpassung halten als das, was Sie jetzt gemacht haben, wo Sie die durcheinandergebrachten Interessenstrukturen der vielen Nutznießer des Gesundheitssystems wieder in Ordnung bringen wollen. Es ist also keineswegs so, daß dieser Antrag so aus der Hüfte geschossen wäre wie die Auflösung des Bundesgesundheitsamtes. Da ist eine vernünftige Vorbereitung gelaufen. Deshalb bitte ich Sie, diesen Antrag im Rahmen der weiteren Beratungen zu unterstützen. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl, das Wort.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000155

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ehe ich in das eigentliche Thema einsteige, bleibt mir doch nichts anderes übrig, als nach den teilweise polemischen Ausführungen von Herrn Peter etwas sachlich richtigzustellen. Herr Peter, wir haben im Ausschuß doch wohl ausführlich darüber diskutiert, daß es wenig Sinn macht, wenn das Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene, welches zu 80 % reine Umweltfragen bearbeitet, praktisch unter unserer Dienstaufsicht bleibt. ({0}) Die Fragen, die den Gesundheitsbereich betreffen, werden - das haben wir Ihnen oft genug gesagt - auch weiterhin von unserem Gesundheitsministerium im Rahmen der Fachaufsicht bearbeitet werden. Meine Damen und Herren, wir hatten in den letzten Monaten mehrfach die Gelegenheit, über ein Thema zu sprechen, das im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig ist. Es geht um eine saubere und gesunde Umwelt als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern. Wie sensibel die Öffentlichkeit reagiert, wenn der Eindruck entstanden ist, daß diese Schutzpflicht vernachlässigt wird, haben wir vor einigen Wochen im Zusammenhang mit den Babynahrungsmitteln noch einmal deutlich erfahren. Nicht nur für die Politik heißt das: Auch in Zukunft kann es keine Abstriche vom Schutz dieser Lebensvoraussetzungen geben. Diese Aufgabe darf auch dann nicht vernachlässigt werden, wenn andere Probleme scheinbar größer sind. Wer diese Aufgabe nur als eine lästige Pflicht versteht, die viel Geld kostet, darf sich nicht wundern, wenn er sehr schnell im Kreuzfeuer der Kritik steht. Und nicht nur das: Wer sich hier seiner Verantwortung entzieht, verliert auch das Recht, andere an ihre Verantwortung in diesem Bereich zu erinnern. ({1}) - Es ist immer ganz interessant, daß man sich immer dann unterhält, wenn man nicht hören will, was man nicht wissen will, und dann, wenn man denkt, man hat etwas zu sagen, dazwischenspricht, Herr Schmidt. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung geht in ihrer Gesundheitspolitik von einem Umweltbegriff aus, der die gesamte Lebenswelt des Menschen betrifft. Es geht nicht nur darum, physikalischchemische Umwelteinflüsse soweit wie möglich zu reduzieren. ({2}) Es geht genauso um die sozialen Lebensbedingungen und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Es geht selbstverständlich auch um die Eigenverantwortung des Menschen für seine Gesundheit. Ich kann mir vorstellen, daß es jetzt auf den Oppostionsbänken etwas unruhig wird, weil ich das gesagt habe, denn wenn wir von Eigenverantwortung der Bürger sprechen, wird uns nicht selten unterstellt, die Verantwortung für die Gesundheit privatisieren zu wollen. ({3}) - Davon kann gar keine Rede sein, lieber Herr Lennartz. Aber niemand kann die Augen davor verschließen, daß es Lebensgewohnheiten gibt, die alles andere als gesundheitsfördernd sind. Wir haben es heute mehrfach gehört. Es ist eine Tatsache, daß Rauchen erhebliche Gesundheitsschäden hervorrufen kann. Dafür brauchen wir keine neuen Untersuchungen. Wer schützt denn die Kinder, die zu Hause bei den Eltern vom Passivrauchen betroffen sind und jetzt nicht geschützt werden? ({4}) Es ist eben auch eine Tatsache, daß sich manche Ernährungsgewohnheiten später bitter rächen können. Das bestätigt Ihnen jeder Arzt, der die Folgen eines ungesunden Ernährungsverhaltens behandelt. Jeder weiß, daß es eine ganze Reihe von täglichen Lebensgewohnheiten gibt, die der Gesundheit keinen guten Dienst erweisen. Auch deshalb ist es ein Ziel unserer Gesundheitspolitik, noch mehr als in der Vergangenheit präventiv tätig zu werden. Wir brauchen eine stärkere Ausrichtung unseres Gesundheitswesens auf den vorbeugenden Gesundheitsschutz. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß die Menschen daran eben aus Überzeugung mitarbeiten müssen, sonst gehen alle Bemühungen ins Leere. ({5}) Ich bin nicht so pessimistisch wie viele andere, die glauben, daß man die Lebensgewohnheiten der Menschen nicht verändern kann. Ich setze dabei auf Aufklärung, Bildung und Erziehung. Es ist ein legitimes Mittel der Politik, Einsichten auch z. B. über das Portemonnaie zu befördern, wenn das notwendig ist. ({6}) - Vielleicht hören Sie erst einmal bis zum Ende zu! - Es ist jetzt eine Aufgabe aller Beteiligten im Gesundheitswesen, sich Gedanken darüber zu machen, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Meine Damen und Herren, die Stärkung des Präventionsgedankens in der Gesundheitspolitik ist die eine Aufgabe. Die andere Aufgabe besteht darin, die Menschen vor schädlichen Umwelteinflüssen zu schützen. Natürlich ist das nicht leicht, denn es ist nach wie vor umstritten, wie groß die Zahl von Erkrankungen ist, die direkt oder indirekt auf Umweltbeeinflussungen zurückzuführen sind. Es ist bedauerlich, daß diese Tatsache manchmal dazu führt, Probleme entweder zu verharmlosen oder genau das Gegenteil davon zu machen, nämlich das Schreckgespenst einer unaufhaltsamen Vergiftung unserer Bevölkerung an die Wand zu malen. Beides ist verantwortungslos. Weder eine Politik der Verniedlichung von Problemen noch apokalyptische Endzeitstimmungen nutzen den Menschen. ({7}) Es kommt vielmehr darauf an, rechtzeitig zu handeln, um mögliche Gefahrenquellen so schnell wie möglich zu schließen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Das heißt, präventive Maßnahmen müssen bereits dann in Angriff genommen werden, wenn der begründete Verdacht auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Umweltbeeinflussung und Gesundheitsgefährdung besteht. Sie müssen schon zugeben, Herr Lennartz, man kann nicht dort Einfluß nehmen, wo man die Ursachen praktisch überhaupt nicht kennt. ({8}) Zu den Präventionsaufgaben gehört auch die Unterstützung der Forschung - sehen Sie einmal, bei den entscheidenden Sätzen hören Sie gar nicht zu! - bei ihrer Suche nach den Zusammenhängen. Die Bundesregierung fördert z. B. seit Jahren zahlreiche Forschungsvorhaben, um allergische Erkrankungen besser in den Griff zu bekommen. Seit 1987 - das scheint Ihnen offensichtlich entgangen zu sein - sind über 60 Millionen DM allein für diesen Bereich zur Verfügung gestellt worden. Einen wichtigen Schwerpunkt bildet dabei die Verbesserung der Gesundheitsvorsorge und Früherkennung für allergie- und asthmakranke Kinder und Jugendliche. Meine Damen und Herren, selbstverständlich gibt es auch in anderen Bereichen noch Wissensdefizite, die so rasch wie möglich beseitigt werden müssen, um zu weiteren Fortschritten zu kommen. Gerade in den letzten Monaten und Wochen haben Schlagzeilen z. B. über Fehlbildungen bei Kindern für viel Unruhe gesorgt. Das lag auch daran, daß solche Fehlbildun19684 gen nicht nach verbindlichen Maßstäben registriert werden. ({9}) - Das ist eben Aufgabe der Länder, Herr Lennartz, das dürfen Sie nicht immer verschweigen. Sie sind dafür zuständig, Umweltregister einzurichten, die eine wertvolle Hilfe für eine umweltmedizinische Forschung sein können. ({10}) Jetzt komme ich auf ein ganz wichtiges Thema, Herr Lennartz. Sie wollen komischerweise immer nur das hören, was Sie bei Ihren SPD-Kollegen selbst praktisch vertreten können. Ich nenne das Krebsregister. Die Länder können auch auf diesem Gebiet beweisen, wie ernst sie es mit dem vorbeugenden Gesundheitsschutz eigentlich meinen. ({11}) Dabei meine ich das Krebsregistergesetz. Es gibt doch keinen vernünftigen Grund dafür, diesem Gesetz weitere Stolpersteine in den Weg zu legen. Wer jetzt diese Blockadepolitik fortsetzt, muß sich vor den Menschen verantworten, für die das Krebsregistergesetz nämlich wichtig ist. ({12}) - Ich rege mich gar nicht auf, Herr Peter. - Sie wissen, daß mit diesem Gesetz eine so vollständige Erfassung der Erkrankungsfälle erreicht werden kann, daß Auffälligkeiten in der regionalen Verteilung schnell erkannt, Hypothesen über die Ursachen entwickelt und die epidemiologischen Forschungen mit besseren Erfolgsaussichten durchgeführt werden können. Herr Lennartz, ich akzeptiere ja Ihren Ruf nach mehr Forschungsmitteln. Aber genauso verlange ich von Ihnen, daß Sie zu Ihren SPD-Kollegen in den Ländern gehen und sagen: Stimmt dem Krebsregistergesetz zu, und stellt die erforderlichen Mittel bereit! Wir sind auch bereit, unseren Teil dazuzutun. ({13}) Es kommt nicht immer vor, daß die Politik den Erkenntnisgewinn der Wissenschaft fördert. Hier, meine Damen und Herren, haben Sie einmal die Chance, genau das zu tun. Deshalb appelliere ich auch heute noch einmal an Sie, großen Worten auch große Taten folgen zu lassen, denn je länger die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Grundlagen verhindert wird, desto schwerer wird es, denen zu helfen, für die wir ein hohes Maß an Verantwortung tragen. Die Bundesregierung hat zu den zahlreichen weiteren Fragen im Zusammenhang mit dem Thema „Kindergesundheit und Umwelt" in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion der SPD ausführlich Stellung genommen. Sie hat den aktuellen Sachstand erschöpfend dargestellt. Wir haben auch sehr deutlich gesagt, wo es Probleme gibt, für die noch keine geeigneten Lösungen vorhanden sind. Deshalb ist es selbstverständlich, den Dialog über die richtigen Schritte weiterzuführen. Entscheidend ist aber nach meiner Auffassung, daß wir den eingeschlagenen Weg einer präventiven Gesundheits- und Umweltpolitik gemeinsam konsequent weiterverfolgen und daß alle Beteiligten - ich sage noch einmal: alle Beteiligten, Herr Peter, auch die Länder - dazu ihren Beitrag leisten: der Staat, indem er die richtigen Rahmenbedingungen setzt, und jeder einzelne durch seine verantwortungsbewußte Mitarbeit. Wenn wir auf diesem Weg fortfahren, ist eine saubere und gesunde Umwelt für unsere Kinder keine Utopie, sondern ein realistisches Ziel. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 12/6833 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung dabei soll jedoch entgegen dem Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung beim Auschuß für Gesundheit liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Berichts des Petitionsausschusses ({0}) Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahr 1993 - Drucksache 12/7396 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich möchte noch darauf hinweisen, daß ich es sehr gut finde, daß die Regierungsbank zu dieser Stunde und zu diesem Tagesordnungspunkt so dicht besetzt ist. ({1}) Nunmehr eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Gero Pfennig.

Dr. Gero Pfennig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine lieben Zuhörer von der Bundeswehr auf der Tribüne! Ich nehme an, Herr Präsident, die Regierung weiß schon, warum die Regierungsbank so gut besetzt ist; denn jedes der Häuser, die dort vertreten sind, ist ja in den letzten vier Jahren - notgedrungen oder auch nicht - im Petitionsausschuß mehrfach aufgetreten. Ich möchte als erstes, bevor ich etwas über die Grundlinien und Schwerpunkte der Arbeit im Jahre 1993 sage, aus einer Eingabe eines Bürgers zitieren, der sich durch Bestimmungen des Rentenreformgesetzes 1992 benachteiligt gefühlt hat. Er schrieb an den Petitionsausschuß: Ich habe meine Ersatzzeiten als Kriegsgefangener in der UdSSR verbracht. Ich bin von den Sowjets viermal zum Tode verurteilt worden. Ich bin nach elf Jahren als invalider Krüppel nach Hause gekommen! Ich habe elf Jahre meines Lebens opfern müssen! Und dafür bestraft mich der Deutsche Bundestag mit einem monatlichen Rentenabzug von fast 1 000 DM! Darüber müssen Sie reden! Ich habe mich sehr eingehend mit dieser Petition beschäftigt. Tatsächlich hätte der zitierte Rentner sage und schreibe monatlich 953,95 Mark mehr Rente erhalten, wenn er 1991 - und nicht erst im Jahre 1992 - das 65. Lebensjahr und damit das Rentenalter erreicht hätte. Wie ist es dazu gekommen? Der Schreiber gehörte zur letzten Generation von Kriegsteilnehmern, die zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr zum Ende des Zweiten Weltkrieges noch eingesetzt wurden, nachfolgend langjährig in Kriegsgefangenschaft gerieten und anschließend wegen Krankheit längere Zeiten der Arbeitsunfähigkeit hatten. Es leben noch einige Bürger, die dieses Schicksal erlitten haben, ohne schon seit 1991 im Rentenalter zu sein. Nach dem Rentenreformgesetz 1992 gilt das Prinzip der Gesamtleistungsbewertung, mit dem die beitragsbezogene Rentenleistung wieder in den Vordergrund gestellt wird, und das ist vom Grundsatz her richtig. Wendet man aber die Neuregelung auf Bürger an, von denen man glaubt, daß die Neuregelung sie gar nicht mehr treffen kann, weil sie entweder verstorben oder schon in Rente sind, dann führt dies zu groben Ungerechtigkeiten. Hier ist bei der Gesetzgebung ganz eindeutig ein Fehler unterlaufen: Die Fallgruppe ist schlichtweg übersehen worden. Leider wollte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung diesen Fehler nicht eingestehen und sperrte sich gegen die notwendige Korrektur, als die Petitionen der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen wurden. Deshalb mußte die Korrektur gegen den Widerstand der Ministerialbürokratie parlamentarisch durchgesetzt werden. Der Stichtag für diesen Personenkreis der Kriegsteilnehmer soll jetzt auf den 31. Dezember 1996 verlegt werden. Dem hat das Ministerium nunmehr im Prinzip zugestimmt. Der Petitionsausschuß wird in diesem Fall nicht lockerlassen, bis die Sache noch in dieser Legislaturperiode gesetzlich positiv geregelt ist. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, an diesem Fall werden die Grundlinien der Arbeit des Ausschusses deutlich, die sich durch langjährige Praxis herausgebildet haben. Der Fall bestätigt, wenn es auch auf den ersten Blick nicht so einsichtig sein mag, die Haltung des Ausschusses zu Stichtagsregelungen. Wir haben stets die Auffassung vertreten: Stichtagsregelungen müssen sein. Sie bringen zwangsläufig gewisse Härten mit sich. Diese werden durch Verschiebung des Stichtages in der Regel nicht besser, weil dann anderswo Härten auftreten. Auch im genannten Fall haben wir nichts gegen das Vorhandensein einer Stichtagsregelung gehabt. Nur, durch die von uns geforderte Verschiebung des Stichtages werden die vom BMA nicht vorhergesehenen Einzelfallhärten insgesamt vermieden, ohne daß in anderen Fällen Härten auftreten. Dies war also der klassische Fall, wo man durch eine Petition helfen konnte. Der Fall zeigt auch, daß sich der Ausschuß nicht mit einer Prüfung begnügt, ob geltendes Recht korrekt angewandt wurde; dies war hier zweifellos der Fall. Der Ausschuß hat vielmehr als Anwalt des Bürgers bei Beschwerden stets auch im Blickfeld, ob geltendes Recht sinnvollerweise geändert werden sollte, ob der Gesetzgeber vielleicht einen Fehler gemacht hat. Ich habe schon in früheren Zeiten gesagt: Auch wir sind, genausowenig wie die Exekutive, vor Fehlern gefeit. Die Haltung des BMA in diesem Fall steht exemplarisch für eine gelegentlich sichtbar werdende Tendenz innerhalb einzelner Bundesministerien, sich ausschließlich an formalen Kriterien und Grundsätzen zu orientieren. Solchen Tendenzen müssen wir auch in Zukunft energisch entgegentreten. Bislang - ich hoffe, das bleibt auch so - haben gerade in solchen Fällen unterschiedliche politische Auffassungen im Ausschuß nahezu keine Rolle gespielt. Schließlich zeigt der Fall, daß der Ausschuß trotz insgesamt gestiegener Arbeitsbelastung nach wie vor in der Lage ist, inhaltliche Schwerpunkte zu setzen und verhältnismäßig schnell Lösungsansätze zu entwickeln. Ich bin überzeugt, daß der Ausschuß dies auch in Zukunft kann. Schwerpunktsetzen heißt natürlich nicht, daß wir uns mit den an uns herangetragenen Einzelproblemen nicht mehr zurechtfinden. Wir befassen uns sehr gründlich mit ihnen, ohne uns dabei etwa als allerletzte Gerichtsinstanz zu verstehen. Der Petitionsausschuß prüft in jedem einzelnen Fall, ob das Anliegen von der Sache her berechtigt ist. Im Jahre 1993 haben wir den Bürgerinnen und Bürgern in 20 % der Fälle definitiv mitteilen müssen, daß ihrem Anliegen nicht entsprochen werden kann. Umgekehrt haben sich übrigens 10 % aller Fälle einfach dadurch erledigt, daß ein Petitionsverfahren stattfand und die Exekutive von sich selbst aus ihre Entscheidung revidierte. Seit Jahren hat der Ausschuß ein besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt, in welchem Umfang Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüsse des Parlaments von der Regierung befolgt werden. Im vergangenen Jahr habe ich harte Kritik an der Regierung geübt, weil über 50 Erwägungsbeschlüsse noch nicht erledigt waren. Das ist inzwischen besser geworden: Im Jahre 1993 waren es insgesamt nur noch 25 Fälle. Berücksichtigungsbeschlüsse wurden 1993 in insgesamt sechs Fällen nicht befolgt. Überwiegend war feststellbar, daß die Bundesregierung die Möglichkeiten einer Abhilfe meist sorgfältig und intensiv geprüft hat. Der Ausschuß darf diesen Bereich in Zukunft trotz dieser positiven Anzeichen keinesfalls vernachlässigen. Es geht darum, dem Willen des Parlaments Geltung zu verschaffen. Lassen sie mich etwas zu der Zahl der Eingaben sagen. Wir hatten 1993 20 000 Eingaben, Massenpetitionen eingerechnet, von fast 200 000 Bürgerinnen und Bürgern. Einen Schwerpunkt bildeten die Petitionen zur Überleitung der Renten und Anwartschaften im Gebiet der neuen Bundesländer. Hier hat der Ausschuß seinen Einfluß auch gegenüber anderen Ausschüssen des Parlaments geltend gemacht. Das in Kraft getretene Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz hat in vielen Fällen den Wünschen des Petitionsausschusses Rechnung getragen. Ich nenne beispielhaft die Anhebung der Zahlbetragsgrenze bei sogenannten früheren Intelligenzrenten auf 2 700 DM. Vereinigungsbedingtes Dauerthema im Ausschuß waren auch Eingaben zu Vermögensfragen und Forderungen nach strafrechtlicher, beruflicher und verwaltungsrechtlicher Rehabilitierung. Insgesamt kann man sagen, daß wir seit der Wiedervereinigung permanent Eingabezahlen von über 20 000 pro Jahr hatten. Einschließlich 1994 werden wir damit in dieser Wahlperiode wohl auf 80 000 bis 100 000 Petitionen kommen. Das Petitionsrecht hat im vereinten Deutschland offensichtlich eine noch wichtigere Rolle bekommen. Der Ausschuß ist ständig bemüht, die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger nicht zu enttäuschen. Neben den vereinigungsbedingten Themen standen 1993 Beschwerden über überhöhte Fernmelderechnungen, über die Schließung von Postämtern sowie Forderungen zur Pflegeversicherung und zur Sparpolitik der Bundesregierung im Vordergrund. Dazu gingen zahlreiche Massen- und Sammelpetitionen ein, auch zu Fragen des Asylrechts. Der Ausschuß hat sich wiederholt und nachdrücklich für die Fälle behinderter Menschen und für deren Belange eingesetzt. Der Jahresbericht 1993 enthält mehrere Beispiele aus verschiedenen Rechtsgebieten, u. a. zu dem berühmt-berüchtigten Flensburger Urteil, wo die Kürzung eines Reisepreises verlangt werden konnte, weil eine Gruppe Schwer- und Schwerstbehinderter während der Mahlzeiten im Hotel zu sehen war. Wir haben als Ausschuß auf eine Änderung der Rechtslage gedrängt, damit solche Urteile in Zukunft nicht mehr möglich sind, und haben heute mit der Bundesjustizministerin erörtert, ob möglicherweise eine Novellierung des Reisevertragsrechts dafür der richtige Weg ist. ({1}) Viele Bürgerinnen und Bürger wandten sich auch mit Vorschlägen zur Verfassungsreform an den Ausschuß. Solange die Gemeinsame Verfassungskommission bestand, hat der Petitionsausschuß die Verfahren in aller Regel an das Plenum abgegeben mit der Empfehlung, die Petitionen der Kommission zuzuleiten. Er hat alle an ihn selbst gerichteten Eingaben inzwischen ausnahmslos entschieden. Die unmittelbar an die Gemeinsame Verfassungskommission gerichteten Eingaben wurden von dieser in eigener Zuständigkeit behandelt. Meine Damen und Herren, ich danke den Kolleginnen und Kollegen im Petitionsausschuß sehr herzlich für die in den fast vier Jahren dieser Wahlperiode zugunsten der Bürgerinnen und Bürger geleistete Arbeit. Wir hatten aus meiner Sicht eine sehr angenehme Zusammenarbeit. Sie war bei allen politischen Meinungsverschiedenheiten von dem Bestreben nach Kooperation geprägt. Danken möchte ich auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Ausschußdienst, die durch ihre Einsatzbereitschaft zur Erfüllung unserer Aufgaben wesentlich beigetragen haben. Ich versichere allen Bürgerinnen und Bürgern, daß sich der Ausschuß auch in Zukunft mit großer Sorgfalt um ihre Anliegen kümmern wird. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Horst Peter. ({0}) - Aber zu einem anderen Thema.

Horst Peter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001693, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne ebenfalls mit einem Zitat, allerdings mit einem anderen. Ich zitiere einen Änderungsantrag der SPD zur Verfassungsdebatte, und zwar zu Art. 45 c, mit dem wir den Bestimmungen fiber den Petitionsausschuß einen Absatz 2 hinzufügen möchten. Dieser Absatz 2 soll lauten: Der Petitionsausschuß hat bei Masseneingaben, die von mindestens 50 000 Stimmberechtigten unterzeichnet sind, die Pflicht, Petenten oder ihre Vertreter anzuhören. Masseneingaben werden gemeinsam mit dem Bericht des Petitionsausschusses im Bundestag und in seinen Ausschüssen beraten. Bei Aufnahme dieser Bestimmung in das Grundgesetz wäre eine wichtige Etappe zur Weiterentwicklung des Petitionsrechts erfolgreich beschritten. Seit der Debatte um den Jahresbericht des Petitionsausschusses 1982 ist die politische Kontroverse, ob das Petitionsrecht im Kern das Recht auf Vortragen eines persönlichen Beschwers an die Volksvertretung oder auch Mittel direktdemokratischer Meinungsbekundung mit dem Ziel, auf die politische Willensbildung des Staates unmittelbar einzuwirken, ist auf der Tagesordnung des Bundestages. Ich habe damals zum Jahresbericht 1982 gesagt - gestatten Sie mir, daß ich mich selbst zitiere; es ist das letzte Mal, daß ich zu einem Jahresbericht spreche -: Der Bericht schlägt vor zu prüfen, ob eine Änderung der Geschäftsordnung angeregt werden soll. Ich meine, daß in eine solche Diskussion auch die Frage einbezogen werden müßte, welche geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten bestehen oder geschaffen werden müßten, wichtige Fragen, die in Massenpetitionen angesprochen werden, auch im Bundestag direkt diskutieren zu lassen. Seit 1983 haben die Bürgerinnen und Bürger immer bewußter dem individuellen Grundrecht des Art. 17 des Grundgesetzes durch den Grundrechtsgebrauch eine kollektive Dimension hinzugefügt. In gleichem Horst Peter ({0}) Maße nahm auch die Bereitschaft des Ausschusses zu, die Politisierung des Petitionsrechtes zu akzeptieren. Das kommt in den Grundsätzen des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden zum Ausdruck, insbesondere auch in dem Vorschlag zur abschließenden Erledigung, „die Petition den Fraktionen des Bundestages zur Kenntnis zu geben, weil sie als Anregung für eine parlamentarische Initiative geeignet erscheint" . Hier wird eine Brücke zum parlamentarischen Willensbildungsprozeß geschlagen, dessen Träger die Fraktionen sind. Es ist Sache der Fraktionen selbst, ob sie den Dialog mit dem Petenten aufgreifen und in eigene politische Initiativen umsetzen. Leider macht der Petitionsausschuß, durch die Bindung an einen Mehrheitsbeschluß des Ausschusses begründet, von dem ihm zustehenden Recht, Petenten oder Sachverständige anzuhören, praktisch keinen Gebrauch. Eine an bestimmte Bedingungen geknüpfte Anhörungspflicht kann ein wichtiger Schritt des Parlaments in Richtung auf einen direkteren Zugang zu den Bürgern darstellen. Die Entscheidung zur Anhörung wird mit dem Antrag zur Ergänzung des Grundgesetzes auf eine rechtlich sichere Basis gestellt. Den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern einer Sammel- oder Massenpetition wird bewußt gemacht, daß ihr Begehren in einer der kollektiven Form entsprechenden Weise behandelt wird. Ich bin der Überzeugung - oder hoffe zumindest -, daß die Mitglieder des Petitionsausschusses in ihren Fraktionen für die Annahme der Verfassungsänderung eintreten. Unterhalb der Verfassungsergänzung wäre eine Änderung des Befugnisgesetzes angezeigt, die Anwendung der Instrumente des Befugnisgesetzes, zumindest das Recht, Petenten und Sachverständige anzuhören, zu einem Minderheitenrecht auszugestalten. Beide Veränderungsvorschläge sind auch Beiträge zur Parlamentsreform. Über ein weiterentwikkeltes Petitionsrecht und den parlamentarischen Umgang damit kann das Parlament ein Zeichen für mehr Bürgerbeteiligung und gegen Politikverdrossenheit setzen. Zum parlamentarischen Umgang mit dem Petitionsrecht: Zunächst schließe ich mich dem Dank des Vorsitzenden an den Ausschußdienst an. Ich danke ebenfalls allen Mitgliedern des Ausschusses, die als Berichterstatter jeweils von dem Grundverständnis ausgehen, sich des Anliegens der Petenten anzunehmen. Es gibt viele Beispiele, daß - bis hin zu Gesetzesänderungen - parteiübergreifend votiert wird. Ein Beispiel hat der Vorsitzende genannt. Zu bedauern ist, daß dann auf der nächsten Stufe oft die Mechanismen der Koalitionsvereinbarung oder das Prinzip der Exekutive - „da könnte ja jeder kommen, das haben wir schon immer anders gemacht" - manchen Berücksichtigungs- oder Erwägungsbeschluß nicht erfüllen und manche Hoffnung von Petenten in Enttäuschung, Resignation oder auch Aggression umschlagen lassen. Hier bietet das Votum „den Fraktionen zur Kenntnis" die Chance für die einzelnen Fraktionen, den Dialog weiterzuführen und berechtigte Vorschläge von Petenten aufzugreifen. Ich nenne ein Beispiel, den gesundheitlichen Arbeits- und Umweltschutz. Auch im Berichtsjahr gab es wieder zahlreiche Petitionen zu den gesundheitlichen Folgen von Schadstoffbelastungen im Arbeitsprozeß und zu ihrer sozialversicherungsrechtlichen Anerkennung sowie zu Belastungen durch Schadstoffe in der Lebenswelt und zu ihrem entschädigungsrechtlichen Ausgleich. All diesen Petitionen ist gemeinsam: die Langwierigkeit des Verfahrens - die Anliegen erstrecken sich auch im Petitionsausschuß manchmal über Jahre, kommen dann allerdings manchmal auch zu Erfolgen, wenn wir an einem Strick in eine Richtung ziehen -; die Schwierigkeiten der Beweislast, wer denn der Verursacher von Schädigungen ist; die unbefriedigende Gutachterpraxis in a11 den Bereichen, wo medizinische Gutachter eingesetzt sind; schließlich die Unterlegenheit des einzelnen Petenten, wenn er den Rechtsweg beschreitet. Das ist eine echte DavidGoliath-Situation: Wer kann sich schon gegen BASF und Hoechst vor Gericht durchsetzen? Die SPD-Arbeitsgruppe Petitionen hat im Verfolg des Votums „Fraktionen zur Kenntnis" eine Anhörung von Petenten und Sachverständigen, sowohl Toxikologen als auch Epidemiologen sowie Fachanwälten und Vertretern der Sozialversicherung, durchgeführt. Die Ergebnisse der Anhörung sind dann eingebracht worden in die Diskussion der SPD-Fraktion zur Reform des Arbeitsschutzes, zur Reform des Berufskrankheitenrechts mit Beweislasterleichterung für Geschädigte und zu unseren Absichten, den Zugang von Geschädigten zum Recht zu verbessern und die Stellung im Verfahren zu stärken. ({1}) Ganz aktuell diskutieren wir in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Sozialversicherungsträger, die nach § 116 SGB X Ansprüche von Geschädigten auf sich überleiten können und nach § 76 SGB IV den RegreB durchsetzen müssen, zur konsequenteren Wahrnehmung dieser Aufgaben gebracht werden können. Wir sind der Meinung, diese Einbeziehung der Betroffenen in den Willensbildungsprozeß lohnt sich, gibt das Gefühl, ernst genommen zu werden, ist demokratische Vertrauensarbeit. Der Ausschuß hätte die Chance, vergleichbare Erfahrungen zu machen, wenn die Mehrheit die Schwelle zu Anhörungen von Petenten und Sachverständigen überschreiten würde. Beispiel: Sachverhaltsfeststellungen bei der Beurteilung von Menschenrechtsverletzungen. Ich behaupte, die Einschätzungen des Auswärtigen Amtes zur Beurteilung der Menschenrechtssituation in anderen Ländern sind nicht immer ausreichend. Das ist ganz zurückhaltend formuliert. Deshalb wäre die Anhörung von Menschenrechtsorganisationen zur Sachverhaltsermittlung nach meiner Auffassung auch im Ausschuß unerläßlich, um die Grundlage dafür zu haben, Petitionen von Menschen, die in Not sind, besser beurteilen zu können. Das gilt für die Beurteilung der Menschenrechtssituation nach vorliegenden Petitionen für Indonesien, insbesondere Osttimor, auch im Zusammenhang mit Rüstungsexporten; für Pakistan Horst Peter ({2}) wegen der Verfolgungssituation der AhmadiyyaGlaubensgemeinschaft. Eine Anhörung von Amnesty International hätte möglicherweise dazu geführt, das Begehren des Petenten, den Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten beim Bundesministerium des Innern zur Rücknahme seiner Klage gegen einen positiven Anerkennungsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu veranlassen, durchzusetzen. Diese Einschätzung beruht auch darauf, daß die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, zuletzt im September 1993, die Verfahren an die Verwaltungsgerichte zurückweist, bei denen nicht alle Quellen zur Sachverhaltsfeststellung ausgeschöpft worden sind. Das sollten auch wir uns im Ausschuß bei der Beurteilung von Verfolgungssituationen nach meiner Auffassung zu eigen machen. Das gilt auch für die Beurteilung der Menschenrechtssituation in der Türkei wegen der angeblichen Fluchtalternative im Land, bei Kurden oder auch Jeziden, die abgeschoben werden sollen, aber auch wegen der Frage des Rüstungsexports in die Türkei. Was hätte die vorgeschlagene Verfassungsänderung zu Massenpetitionen für Auswirkungen im vergangenen Jahr gehabt? Wir hätten uns im vorgeschlagenen Verfahren mit einer Beschwerde gegen die Verschärfung des Asylrechts beschäftigen müssen, und zwar hätten wir die Petenten zu Wort kommen lassen, ihrem Begehren Stimme geben müssen. Es waren 106 668 Bürgerinnen und Bürger, die gegen die Verschärfung des Asylrechts waren. Wir hätten uns mit der Forderung nach Aufrechterhaltung des Walfangverbotes auseinandersetzen müssen. Hier waren es über 60 000 Bürgerinnen und Bürger. Wir hätten uns mit dem Protest gegen die Kürzung von Kündigungsfristen für Angestellte auf Grund des Kündigungsfristengesetzes befassen müssen. Hier waren es über 100 000 Bürgerinnen und Bürger, die gemeint haben: Ein Abbau des Kündigungsschutzrechts ist mit den Prinzipien des Sozialstaates nicht vereinbar. Im Augenblick laufen verschiedene Petitionen mit Vorschlägen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, die durchaus die Chance hätten, das Quorum von 50 000 Unterschriften ebenfalls zu erfüllen und damit die Bürgerinnen und Bürger in den politischen Dialog mit den politischen Entscheidungsträgern zu bringen und nicht ohnmächtig erleben zu müssen, was manchmal von der Regierung und den Regierungsfraktionen hier im Hause im Zusammenhang mit der Verschlechterung der sozialen Situation beschlossen wird. Hier ist beispielsweise die Initiative „Aktionsgruppe Baunatal" zu nennen. Sie möchte „Arbeitsplätze im Einklang mit Mensch und Natur" in einem Beschäftigungs- und Strukturförderungsprogramm vom Parlament durchgesetzt haben. Die Anhörungspflicht des Petitionsausschusses in diesen Fälle hätte integrierende Wirkung und eine Chance zum Dialog mit Bevölkerungsgruppen zur Folge gehabt, die sich mit der Wahrnehmung ihrer Interessen allein gelassen fühlen. Sie hätten die Chance gehabt, ihre Sache öffentlich zu machen. Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger öffentlich machen, das ist nach meiner Auffassung ein wesentlicher Bestandteil des Art. 17 des Grundgesetzes: Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen ... an die zuständigen Stellen und an die Volksvertretung zu wenden. Die Bürger erhalten durch die Möglichkeit, sich an die Volksvertretung zu wenden, die Chance der Öffentlichkeit. Für das Volk ist die Chance der Öffentlichkeit die Durchsetzungsvoraussetzung für seine Interessen. Da ist das anders als bei denen, die sich hinter versteckten Türen auch mit Geld die Durchsetzung ihrer Interessen sichern können. Öffentlich heißt: sichtbar werden. Öffentlich heißt: Druck organisieren und sich mit dem eigenen Anliegen auf die politische Tagesordnung setzen. Öffentlichkeit fehlt häufig, da Petitionen und Petitionsrecht in den Medien oft über Kuriositäten transportiert werden. Ich sage ehrlich: Es hat mich geärgert, daß die überwiegende Schlagzeile bei der Debatte des letzten Jahresberichts die Petition, den achten Wochentag einzuführen, war. Journalisten hätten viele Möglichkeiten gehabt, Dinge, die die Menschen in diesem Lande bewegen, in anderer Form an die Öffentlichkeit zu bringen. ({3}) Öffentlichkeit wird uns oft auch schwergemacht, und zwar durch Abdrängen der Beratungen des Jahresberichts an den Rand der Plenarsitzungen des Bundestages. Es ist jedes Jahr dasselbe. ({4}) Wir müssen erleben, daß wir zu einer guten Zeit angesetzt sind und daß es die Geschäftsführer unserer Fraktionen immer wieder hinkriegen, daß wir am Rande der Plenumszeit landen. Ich finde das nicht gut. Ich finde das auch nicht der Bedeutung dieses Petitionsrechts angemessen. ({5}) Deshalb möchte ich zum Abschluß einen Vorschlag zur Herstellung der Öffentlichkeit von Bürgereingaben hier dem Hause unterbreiten, in der Hoffnung, daß diesmal mehr daraus wird als aus der Anregung der Abgeordneten Christa Nickels aus dem Jahre 1990, die folgenlos geblieben war und in ähnliche Richtung zielte. Inzwischen hat sich allerdings der Problemdruck verstärkt und wird die Notwendigkeit der Parlamentsreform immer drängender, weil die Menschen am Parlamentarismus und Parlament Kritik üben. Mein Vorschlag ist: Der Deutsche Bundestag sollte einmal im Jahr einen Tag der Bürgereingaben einrichten, an dem - einmal im Jahr - die Berichte der verschiedenen Parlamentsinstitutionen diskutiert werden, die sich mit Bürgereingaben beschäftigen, die Adressaten von Bürger- und BürgerinneneingaHorst Peter ({6}) ben sind. Damit werden die Anliegen sichtbar werden und eine Stimme erhalten. Ich könnte mir vorstellen, daß an diesem Tag der Bericht des Petitionsausschusses, der Bericht des Datenschutzbeauftragten, der Bericht des Wehrbeauftragten, der Bericht der Ausländerbeauftragten und auch der Bericht der Kinderkommission auf die Tagesordnung gesetzt werden. Ich würde es begrüßen, wenn der neue Bundestag in dieser Richtung ein Zeichen setzen könnte. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Kollegin Trudi Schmidt hat mich gebeten, das Haus zu fragen, ob es damit einverstanden ist, daß die Rede von ihr zu Protokoll genommen wird.' ) - Da sich kein Widerspruch erhebt, darf ich das als beschlossen feststellen und die Abgeordnete Birgit Homburger bitten, an das Rednerpult zu kommen.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zahlen und Statistiken bedürfen ja stets der Interpretation und Bewertung. Es müssen Entwicklungen abgelesen werden können, Schlußfolgerungen für die politische Arbeit daraus gezogen werden. Der Jahresbericht 1993 des Petitionsausschusses liefert für dieses Unterfangen detaillierte Daten. Auf den ersten Blick scheint im dritten Jahr nach der Wiedervereinigung allmählich Normalität einzukehren. Die Zahl der Eingaben ist im vergangenen Jahr erstmals wieder deutlich gesunken, nachdem 1991 und 1992 ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen war. Auch die Zahl der Eingaben aus den neuen Bundesländern ist deutlich rückläufig. Dennoch ist die Arbeit des Petitionsausschusses nach wie vor sehr stark beeinflußt von speziellen Problemen aus den neuen Bundesländern. Rentenberechnungen, offene Vermögensfragen sowie auch individuelle Forderungen nach strafrechtlicher, beruflicher oder verwaltungsrechtlicher Rehabilitation sind thematische Schwerpunkte von Eingaben aus den neuen Bundesländern. Dies macht meines Erachtens deutlich, daß wir nicht allein auf die zahlenmäßige Entwicklung der Eingaben schauen dürfen, sondern vielmehr auch anschauen müssen, welche Themen und Inhalte diese Petitionen haben. Es ist ein ausgesprochen hilf- und lehrreiches Unternehmen, sich diese Themen einmal anzuschauen, weil, so gesehen, der Jahresbericht des Petitionsausschusses auch ein Spiegelbild politischer und gesellschaftlicher Probleme in diesem Land ist. Hinter den allermeisten Petitionen - so meine Erfahrung aus der Ausschußarbeit - stecken eben ganz persönliche, individuelle Schicksale. Dies beginnt bei scheinbar banalen Fällen wie offensichtlich überhöhten Telefonrechnungen und reicht über praktische Probleme wie die Schließung von Postämtern bis hin zu dickeren Brettern, die hier in Bonn gebohrt werden, z. B. die vielfältigen Auswirkungen der Sparpolitik oder auch das Grundrecht auf politisches Asyl. Positiv stimmt mich die Tatsache, daß sich viele Bürgerinnen ') Anlage 2 und Bürger mit der Verfassungswirklichkeit ihres Landes auseinandersetzen und ihre Vorschläge eben nicht nur an die gemeinsame Verfassungskommission, sondern auch an den Petitionsausschuß des Bundestages gerichtet haben. Freilich mag die Qualität der Eingaben recht unterschiedlich sein. Aber allein die Tatsache, daß sich jemand die Mühe macht, sich mit diesen schwierigen Fragen auseinanderzusetzen und eine Eingabe zu formulieren, zeigt doch aus meiner Sicht, daß die vielbeklagte Politikverdrossenheit zu einem Teil herbeigeredet worden ist. ({0}) Nicht etwa Rückzug und Lethargie sind gefragt, sondern eben Initiative und Ideen, um Mängel und Mißstände zu beheben. Ich denke, letzteres ist es, was die Petenten aufbringen. Wie wir uns damit auseinandersetzen, scheint mir nicht unwichtig zu sein. Wenn der Petitionsausschuß in seinem Jahresbericht kritisch anmerkt, daß sich Ministerien bei der Auseinandersetzung mit Petitionen gelegentlich allein an formaljuristischen Kriterien orientieren, dann ist dies nach meiner Meinung eben der falsche Weg, und der Vorsitzende hat das vorhin schon angesprochen. Unerfreulicherweise ist es daher nötig, daß der Petitionsausschuß in seiner täglichen Arbeit immer wieder Ministerien und ihrem Apparat ins Gedächtnis rufen muß, daß sie es bei Petitionen nicht mit einem abstrakten, anonymen Fall oder Vorgang zu tun haben, sondern mit Bürgern, mit Menschen und ihren ganz persönlichen Problemen und Anliegen. ({1}) Ich denke, auch der sorgfältige Umgang damit gehört zur politischen Kultur in diesem Land. Wie steht es um das politische Gewicht des Petitionsausschusses? Hier - auch das hat der Herr Vorsitzende unseres Ausschusses bereits angeführt - gibt es eine erfreuliche Entwicklung. Während beim Jahresbericht 1992 die Bundesregierung noch in 50 Fällen nicht dem Erwägungsbeschluß des Petitionsausschusses bzw. des Parlaments gefolgt war, waren es im Jahre 1993 gerade noch 25 Fälle, die aus unserer Sicht unbefriedigend ausgegangen sind, weil sie eben trotz Erwägungsbeschluß keine Berücksichtigung fanden. Ohne Zweifel also eine positive Tendenz, wenngleich ich auch ausdrücklich betonen will, daß jede zur Erwägung überwiesene Petition, die unberücksichtigt bleibt, eine zuviel ist. Offensichtlich müssen wir hier nicht nur Öffentlichkeitsarbeit, sondern vor allem auch Überzeugungsarbeit leisten. Ich denke, schließlich überweist der Deutsche Bundestag der Bundesregierung Eingaben nicht, weil man ihr Ärger oder Arbeit verursachen will, sondern weil er Abhilfe für notwendig hält. Aus der Fülle der Eingaben will ich jetzt also einige Fälle herausgreifen. Mit das größte Echo - auch das ist heute abend schon angesprochen worden - fand in der Öffentlichkeit das sogenannte Flensburger Urteil. Stein des Anstoßes war ein Urteil des Amtsgerichtes, wonach der Anblick Schwerstbehinderter während der Mahlzeiten in einem Hotel zur Minderung des Reisepreises berechtigt. Behinderte hatten daraufhin berechtigterweise die Befürchtung geäußert, daß ihnen zukünftig zunehmend der Zugang zu Hotels und Gaststätten oder anderen Erholungsstätten verwehrt werde, weil die Inhaber Regreßansprüchen anderer Reisender aus dem Weg gehen wollen. Der Ausschuß und der Deutsche Bundestag insgesamt haben im Sinne der Behinderten entschieden, die Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen mit dem Ziel, daß das Reisevertragsrecht geändert wird. Außerdem wurde die Eingabe auch allen Fraktionen des Bundestages zur Kenntnis gegeben. Weil das Bundesministerium der Justiz unsere Ansicht zwar teilt, allerdings den Lösungsansatz für undurchführbar hält, kommt es nun darauf an, die Petition nicht aus den Augen zu verlieren und die Bundesregierung bei der Suche nach einer Lösung in die Pflicht zu nehmen. Denn Beschlüsse allein sind wenig wert, wenn sie nicht in die Tat umgesetzt werden. ({2}) Recht langwierig war auch der Fall eines Diplombetriebswirts. Anhand seines individuellen Anliegens konnte die Handwerksordnung von Ballast befreit werden, was nunmehr allen Diplombetriebswirten zugute kommt, die eine Meisterprüfung im Handwerk ablegen wollen. Sie können sich nämlich künftig ebenso wie staatlich geprüfte Techniker oder Diplomingenieure auf Antrag von der Prüfung der wirtschaftlichen und rechtlichen Kenntnisse befreien lassen, womit bewiesen wäre, daß sich auch im Petitionsausschuß eine erfolgreiche Politik für den Mittelstand machen läßt, vorausgesetzt, man hat genügend Ausdauer. ({3}) Gelegentlich ist aber nicht nur Ausdauer vonnöten, sondern auch Schnelligkeit. Ich erinnere mich an eine Petition einer Bürgerinitiative aus Baden-Württemberg, die sich vor kurzem aus Gründen des Naturschutzes gegen den Bau einer Autobahnraststätte gewandt hatte. Wirklich ärgerlich an diesem Fall war, daß kurz vor einer Entscheidung des Ausschusses vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Nachforschungen der Berichterstatter dieser Petition hatten nämlich ergeben, daß die Straßenbauverwaltung kurz vor der Beratung im Petitionsausschuß das fragliche Waldstück schlicht abholzen ließ, somit blieb nichts anderes übrig, als das Verfahren abzuschließen. Mehrere Petitionen, darunter eine Massenpetition mit 60 000 Unterschriften, hatten das Ziel, das Verbot des kommerziellen Walfangs aufrechtzuerhalten. Diese Petition ist nicht nur der Bundesregierung als Material in Verbindung mit einer Berichtspflicht überwiesen worden, sondern wegen ihres grundsätzlichen Anliegens auch dem Europäischen Parlament zugeleitet worden. Was mir persönlich große Sorgen bereitet, sind die Eingaben zum Ausländer- und Asylrecht, speziell im Hinblick auf den geänderten Art. 16a des Grundgesetzes. Mit den Zuständigkeiten im Asylrecht, die bislang den Ländern oblagen und nun auf den Bund übergegangen sind, gehen die entsprechenden Petitionen nun zunehmend auch beim Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages ein. Ich bedaure in dem Zusammenhang vor allem, daß der Ausschuß auf Grund geltenden Rechts nur vergleichsweise geringe Möglichkeiten hat, betroffenen Petenten zu helfen. Es gibt fast keine Möglichkeiten, Härtefallregelungen zu erreichen. In manchen Fällen kann man immerhin schon als Erfolg verbuchen, daß Asylbewerber nicht schon abgeschoben worden sind, bevor über ihre Petition überhaupt entschieden worden ist. Ich denke, daß diese Entwicklung Anlaß geben sollte, sich zu überlegen, wie man - weil es zukünftig verstärkt auch auf den Petitionsausschuß zukommen wird - mit diesen Petitionen umgehen will und welche Möglichkeiten man hat, entweder das Verfahren beim Petitionsausschuß zu beschleunigen oder aber zu erreichen, daß nicht vorher abgeschoben wird, sondern daß man diese Petition wirklich vernünftig behandeln kann. Ich persönlich empfinde es nämlich als unbefriedigend, wenn man in Kürze versuchen muß, eine sehr schwer zu begutachtende Situation zu erfassen, und schließlich auch zu entscheiden. ({4}) Zum Schluß möchte ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß für eine - wie ich finde - ausgesprochen kollegiale und gute Zusammenarbeit bedanken, die auch der Ausschußvorsitzende bereits hervorgehoben hat. Ich denke, diese Art der Zusammenarbeit ist besonders erfreulich, weil es bei diesen Petitionen vielfach um persönliche Schicksale geht, bei denen man wirklich versuchen sollte, über Parteigrenzen hinweg zu helfen. Das gelingt auf Grund dieser Zusammenarbeit. Mein Dank geht auch an die Mitarbeiter des Sekretariats des Petitionsausschusses, die sich wirklich in sehr eindrucksvoller Weise immer wieder für die einzelnen Petitionen einsetzen und sie uns mit wahnsinnigem Arbeitsaufwand aufbereiten. Ohne sie könnten wir unsere Arbeit überhaupt nicht leisten. Auch die gute Vorarbeit der Mitarbeiter des Petitionsausschusses trägt dazu bei, daß der Petitionsausschuß die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger im wesentlichen sorgfältig prüft und auch mit gutem Gewissen sagen kann, daß man sich diesen Dingen annimmt. Ich denke, das ist ein wichtiges Zeichen, das wir als Parlament nach draußen geben müssen, daß die berechtigten Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, die an dieses Parlament gehen, nicht auf taube Ohren stoßen, sondern daß man sich hier wirklich sorgfältig damit beschäftigt. Auch das kann ein Stück Motivation an die Menschen in unserem Land sein, sich wieder mehr an Politik zu beteiligen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dies wird wahrscheinlich das letzte Mal sein - ähnlich wie beim Kollegen Peter -, daß ich als Abgeordneter den jährlichen Bericht des Petitionsausschusses zu kommentieren habe. Bitte erlauben Sie mir deshalb auch, eine persönliche Bilanz zu ziehen. Zunächst aber folge ich gern dem schon von meinen Vorrednern praktizierten Ritual, unseren fairen Ausschußvorsitzenden zu loben, die gute Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen zu würdigen und vor allem auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschußdienstes zu danken. Bei allen Unzulänglichkeiten hat mir die Arbeit im Petitionsausschuß wertvolle Erfahrungen gebracht, die ich nicht missen möchte. Im Ausschuß wie in vielen Gesprächen in meiner Bürgersprechstunde in Potsdam oder auch aus zahllosen Briefen habe ich viel über die drängenden Sorgen und Probleme der Bürgerinnen und Bürger erfahren. Ich bin auf viele Dinge gestoßen worden, die mir sonst verborgen geblieben wären. Ich bin dankbar für das Vertrauen der vielen, vielen Menschen, die mir geschrieben haben und die mir oft ihre privatesten und persönlichsten Wünsche, ihre Hoffnungen und Ängste anvertraut haben. Ich bedaure nur, daß meine Zeit nicht ausgereicht hat, um ihnen allen angemessen und ausführlich zu antworten. Viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe und die mir geschrieben haben, sehen sich in unserem Land einer schlimmen Kälte, Brutalität, Erniedrigung und Willkür ausgesetzt. Auch in vielen Petitionen wurde wieder deutlich, daß in nicht wenigen deutschen Amtsstuben offenbar noch immer der bürgerferne Geist gnadenloser Gesetzesinterpreten herrscht. Es bedurfte in einigen Fällen jahrelanger Hartnäckigkeit des Petitionsausschusses - Sie alle erinnern sich an solche Fälle -, um Fairneß und Gerechtigkeit gegen selbstgerechte Vorgesetzte oder Amtsleiter durchzusetzen. Im Vergleich zu den letzten Jahren haben sich weniger Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern an den Ausschuß gewandt. Manche Probleme scheinen in der Zwischenzeit gelöst. Viele Menschen haben sich in der neuen Ordnung eingerichtet. Andere aber haben resigniert. Viele meiner ostdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind enttäuscht von der demokratischen Struktur, so wie sie sie vorgefunden haben. Auch das mag dazu beigetragen haben, daß sie sich nicht mehr an den Petitionsausschuß wenden. Ich habe viele ermutigt, sich mit ihren Sorgen und Nöten an den Ausschuß zu wenden, und ich werde das auch weiterhin tun. Aber ich will nicht verschweigen, daß ich erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit des Petitionsrechts habe. Die Mängel scheinen mir vor allem strukturell bedingt. Ich kann dem Petitionsausschuß bei allem guten Willen der dort engagierten Abgeordneten und Mitarbeiter nicht den Vorwurf ersparen, daß er in seiner jetzigen Form nur ein Überdruckventil mit Verfassungsrang ist und seine Funktion in einem gut laufenden Räderwerk erfüllt, das sich selbst genügt. Ärger und Kritik, Ideen und Engagement der Bürger werden zu selten in politische und parlamentarische Kraft und Energie umgewandelt. Zu oft verpuffen sie ungenutzt als heiße Luft oder versickern zwischen sorgfältig aufgetürmten Aktenbergen. Denn das Parlament und erst recht die Regierung ziehen zu selten Konsequenzen aus den oft berechtigten Empörungen und klugen Hinweisen der Bürgerinnen und Bürger, den wertvollsten Ressourcen der Demokratie. Die Lust und der Wille der Bürgerinnen und Bürger, ihr Gemeinwesen aktiv mitzugestalten, wird fahrlässig verschwendet. Es ist daher unerläßlich, die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar in den Prozeß der Ausschußarbeit einzubinden. Der Ausschuß sollte mehr Mut aufbringen, sich direkt und, wenn nötig, auch persönlich, d. h. durch Anhörungen, mit den Petenten auseinanderzusetzen. Das wird sicherlich nicht immer erquicklich und häufig auch zeitraubend sein. Aber man sollte dies nicht dem ohnehin schon überlasteten Ausschußdienst allein überlassen. Ungehört blieb bisher auch der Vorschlag eines Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder. Danach sollte die Einbringung von Gesetzesinitiativen durch die Bürgerinnen und Bürger selbst ermöglicht werden. Der Petitionsausschuß wäre nach diesem Vorschlag verpflichtet, bei Eingaben, die von mehr als 30 000 Stimmberechtigten unterzeichnet sind, die Petenten oder ihre Vertreter anzuhören. Darüber hinaus möchte ich erneut für die Einrichtung des Amtes eines starken, weisungsunabhängigen Bürgerbeauftragten beim Deutschen Bundestag werben. Ein solcher Beauftragter, ausgestattet mit Kompetenz und ausreichendem Apparat, könnte die Effizienz des Petitionswesens steigern, die parlamentarische Kontrolle verbessern und dem Bürgerwillen besser gerecht werden. Vor allem aber wäre er dem Zwang von Fraktionen enthoben. Die mangelnde Wirkung des Petitionsausschusses ist aber nicht nur eine Folge der verkrusteten Strukturen. Gefragt sind im Ausschuß vor allem starke Persönlichkeiten, die auch den Mut haben, gegen die Mehrheit der eigenen Fraktion zu entscheiden. Der Ausschuß gilt bisweilen als Übungsfeld für Bundestagsneulinge, auf dem sie sich mit den Gepflogenheiten der Ausschußarbeit dieses Parlaments vertraut machen können. ({0}) Ich würde mir wünschen, daß das, was im Petitionsausschuß wenigstens in Ansätzen passiert, nämlich, fraktionsübergreifende Lösungen zu suchen, insgesamt im Bundestag Schule machte und daß die jungen und neuen Abgeordneten dies als positive Erfahrung in ihre Parlamentsarbeit einbringen könnten. Leider aber waren solche fraktionsübergreifenden Problemlösungen die Ausnahme. Als einziger Abgeordneter einer kleinen Oppositionsgruppe mußte ich die ernüchternde Erfahrung Konrad Weiß ({1}) machen, daß bei politisch brisanten Entscheidungen letztlich auch im Petitionsausschuß die betonierten Fraktionsstrukturen wirksam sind. Ich habe deshalb - nicht ganz ernst - vorgeschlagen, künftig im Petitionsausschuß der Opposition die Mehrheit zu geben. Jahr für Jahr, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, beklagen wir uns zu Recht, daß die Bundesregierung in vielen Fällen nur unzureichend oder gar nicht auf die Hinweise und Vorschläge des Petitionsausschusses reagiert. Aber machen wir uns nichts vor: Mit dem Parlament selbst steht es nicht viel besser. Viele unserer Kollegen nehmen die Anliegen, die Bürgerinnen und Bürger über uns an das Parlament heranbringen, entweder überhaupt nicht wahr oder zuwenig ernst. Bei vielen gilt der Ausschuß als Strafbattaillon, das nur viel Arbeit und Ärger macht, in dem aber kein parlamentarischer Lorbeer zu ernten ist. Ich wünschte mir, daß es in Zukunft als Ehrentitel gilt, von der Fraktion als Bürgerbeauftragter in den Petitionsausschuß entsandt zu werden. Den Stellenwert des Ausschusses im Parlament aufzuwerten kann aber nur gelingen, wenn der Petitionsausschuß bissiger wird und auch nach außen hin ausstrahlt. Dazu gehört eine regelmäßige Öffentlichkeitsarbeit. Vielleicht sollte der Ausschuß einmal im Vierteljahr den Kolleginnen und Kollegen im Plenum zu einer fernsehwirksamen Zeit über die aktuelle Arbeit berichten, nicht nur einmal im Jahr. Eine andere Möglichkeit wäre, bei Einwilligung der betroffenen Bürgerinnen und Bürger interessante, vom Ausschuß bearbeitete Fälle in den Medien darzustellen. Ich stelle mir gewissermaßen eine Fernsehsendung nach dem Motto „Talk im Hochhaus" oder „Mittwoch früh bei Dr. Pfennig" vor. Es ist erfreulich, daß die Bundesregierung im Berichtszeitraum den Voten des Parlaments schneller und intensiver gefolgt ist als in den Jahren zuvor. Immer noch aber werden zu viele Fälle, die der Bundestag zur Berücksichtigung übersandt hat, zu schleppend oder ablehnend bearbeitet. Daß das eine grobe Mißachtung des Parlaments ist, sagen wir Jahr für Jahr. Damit sich das ändert, sollte der Deutsche Bundestag in seiner nächsten Legislaturperiode Instrumente erarbeiten, um durch geeignete Sanktionsmittel seinen Willen durchsetzen zu können. Dies gilt auch im Verhältnis zu den Fraktionen. Auf den Punkt gebracht, meine Damen und Herren, lautet mein Fazit: Der Petitionsausschuß ist zwar im Einzelfall hilfreich, bei politischen Entscheidungen aber macht- und daher bedeutungslos. Dennoch ist der Petitionsausschuß unverzichtbar. Ebenso unverzichtbar aber ist eine tiefgreifende Reform des Petitionswesens, die weit über das hinausgehen muß, was auch in dieser Legislaturperiode wieder an kleinen Fortschritten erzielt werden konnte. Ich danke Ihnen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Ruth Fuchs das Wort.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Berichtszeitraum leistete der Petitionsausschuß zweifellos eine sehr große Arbeit. Dabei war die sachkompetente, zuverlässige und fleißige Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Grundvoraussetzung für die Arbeit der Mitglieder des Petitionsausschusses. Ich möchte mich deshalb für die erwiesene Hilfe herzlich bedanken. Aus dem Bericht wird deutlich, daß die Entscheidungen des Petitionsausschusses vielen Menschen geholfen haben, ihre persönlichen Probleme positiv zu lösen. Eine Vielzahl von Empfehlungen wird künftig Entscheidungen der Regierung und des Parlaments im Sinne der Petenten beeinflussen. Trotz dieser insgesamt guten Bilanz gibt es eine Reihe ungelöster, gesellschaftspolitisch relevanter Probleme, die genügend Anlaß zum Nachdenken und auch zur Kritik geben. Die vom Petitionsausschuß auf Grund ganz unterschiedlicher Ursachen nicht gelösten Fragen haben meines Erachtens deshalb eine besondere Bedeutung, weil es der letzte Jahresbericht dieser Legislaturperiode ist. Im Bericht wird hervorgehoben, daß auch im dritten Jahr nach der Herstellung der Einheit die Arbeit des Ausschusses ganz wesentlich von deren Auswirkungen geprägt war. Betrachtet man den Inhalt der nicht befriedigend gelösten Eingaben, so wird deutlich, daß sich an dieser Schwerpunktbildung auch im weiteren kaum etwas ändern wird. Eine methodische Frage liegt mir in diesem Zusammenhang besonders am Herzen. Die im Bericht enthaltene Statistik zeigt eine stetig steigende Zahl von Massen- und Sammelpetitionen. Diese Tatsache, aber vor allem auch die dort angesprochenen Inhalte erfordern ein neues Nachdenken zu dieser Petitionsform. In der Broschüre des Bundestages zum Petitionsrecht wird festgestellt, daß die Petition eines einzelnen nur ein individuelles Begehren beinhaltet, die Massen- und Sammelpetitionen dagegen Themen zum Inhalt haben, die die Öffentlichkeit erregen und die - meistens organisierte - Gruppen von Bürgern zum Gegenstand öffentlicher Diskussion machen wollen. Das stimmte für eine Vielzahl von Massen- und Sammelpetitionen vor allem in der Vergangenheit. Seit der Vereinigung gibt es aber einen neuen Trend, und die aus der Broschüre zitierte Feststellung verliert immer mehr ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das Besondere an den Massen- und Sammelpetitionen aus den neuen Bundesländern besteht vor allem darin, daß es sich hierbei meistens um Anliegen mit arbeits- und sozialpolitischem Charakter handelt, die spürbar die Qualität des Lebensalltags sowie die Gestaltung der Lebenszukunft der einzelnen Bürger direkt berühren. Das heißt, Einzelbegehren treten in diesen Fällen in 'einer solchen Häufigkeit auf, daß sie Formen von Massen- und Sammelpetitionen annehmen. Folglich geht es hier nicht so sehr um den Wunsch, öffentlich wichtige und interessante Themen in die politische Diskussion zu bringen, sondern um brennende soziale und arbeitspolitische Fragen, die im Interesse zu vieler Einzelpersonen einer dringenden Lösung bedürfen. Dies sind Themen wie Renten, Mieten, Eigentum, soziale Grundsicherung sowie Problemfelder, die mit der steigenden Arbeitslosigkeit aufs engste verknüpft sind. So gesehen stimmt meiner Meinung nach die Feststellung nicht ganz, die Zahl der Petitionen aus den neuen Bundesländern sei zurückgegangen, sondern unter diesem Aspekt ist sie meiner Meinung nach gestiegen. Drei Problemfelder möchte ich herausgreifen, die vom Petitionsausschuß nicht restlos geklärt werden konnten, obwohl die ersten Eingänge dazu schon vor mehreren Jahren erfolgten. Das erste Problem ist das Problem der Überleitung der Renten und Anwartschaften in den neuen Bundesländern. Wie im Bericht festgestellt wird, konnte den hierzu vorliegenden Beschwerden durch das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz nur teilweise entsprochen werden. Wir verschließen keinesfalls die Augen vor bereits vorhandenen positiven Rentenregelungen. Aber: Die von uns wiederholt angesprochenen halbherzigen, zum Teil unbefriedigenden, ja für zu viele Betroffene untragbaren Festlegungen bleiben als gesellschaftlich relevantes Problem bestehen. Die dazu in großer Zahl vorliegenden Petitionen können wir nicht vom Tisch wischen, und weitere werden folgen, denn sie betreffen die soziale Befindlichkeit Tausender Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern. ({0}) Das zweite Problem sind die vielschichtigen Eigentumsfragen in den neuen Bundesländern. Ein Abschnitt des Berichts befaßt sich mit der De-factoBestätigung der in den ostdeutschen Ländern nach dem Krieg durchgeführten Bodenreform, eine zunächst erfreuliche Tatsache. In diesem Zusammenhang möchte ich nachdrücklich betonen: Es war nicht eine „sogenannte Bodenreform", wie es im Bericht leider formuliert wird, sondern es war eine rechtsgültige Bodenreform im Interesse landarmer Bauern und Tausender Umsiedlerfamilien. ({1}) Mit der gestern in der Regierungskoalition erreichten Einigung über einen möglichen Rückkauf von einst enteignetem Land zu Billigpreisen werden die Ergebnisse der Nachkriegs-Bodenreform jedoch ausgehebelt. Die ersten Proteste aus allen politischen Parteien liegen bereits vor, Massenpetitionen gegen das geplante Gesetz sind vorprogrammiert. Ein weiteres, zum Teil noch offenes und sozial brisantes Themenfeld ist das Eigentum bzw. Nutzungsrecht an Häusern, Grundstücken und Kleingärten. Das geltende Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung" schafft hier weiterhin neue menschliche Tragödien. Auch dort, wo die Eigentumsfrage so nicht steht, bleibt trotz der Verabschiedung einiger neuer gesetzlicher Regelungen für viele ostdeutsche Familien die bange Frage nach der Bezahlbarkeit ihrer Grundstücke und Kleingärten. Ich will in diesem Zusammenhang nicht über die juristischen Feinheiten sprechen, mir aber eine grundsätzliche Feststellung erlauben. Der zu DDR-Zeiten erfolgte massenhafte Erwerb von Grundstücken oder der Wechsel von Besitzverhältnissen war nicht das Ergebnis finsterer Machenschaften des einzelnen. Der überwiegende Teil der DDR-Bürger hat seinen Kleingarten, sein Grundstück oder das Häuschen in Treu und Glauben erworben oder von den Kommunen zugewiesen bekommen. Sie haben über Jahrzehnte investiert, sich mit viel Fleiß, Entbehrungen und finanziellen Aufwendungen, ja auch mit Liebe einen ganz wesentlichen Lebensbereich geschaffen. Nun kann ihnen das direkt, über den Eigenbedarf der Alteigentümer oder über eine nicht mehr bezahlbare Pacht, verlorengehen. Anstatt zu schlichten und nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen, bestraft der Gesetzgeber den kleinen Mann für die nun einmal so und nicht anders abgelaufene deutsche Nachkriegsgeschichte. Das ist der wesentliche Kern dieses Problems. Die beim Petitionsausschuß eingehenden Bürgerbegehren werden zu Recht mit einem Seismographen für politische und soziale Befindlichkeiten der Bürger verglichen. Aus dieser Sicht abschließend folgende Bemerkung: Es liegen eine große Zahl von Massen- und Sammelpetitionen vor, die zum Handeln und Widerstand gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit auffordern, sowie solche, die sich gegen jegliche Form der Diskriminierung behinderter Menschen wenden. In beiden Fällen geht es um Grundwerte einer demokratischen Gesellschaft, um Menschlichkeit, Toleranz, Solidarität, ja auch um Nächstenliebe. Mögen diese Werte der Ausgangspunkt für all unsere Überlegungen und Entscheidungen zu den laufenden und kommenden Eingaben der Bürger sein. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Martin Göttsching das Wort.

Martin Göttsching (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000702, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der großen Zahl von Einzelfällen und Sammeleingaben kann natürlich dieser Bericht, über den wir heute „vor vollem Haus" diskutieren, nur exemplarische Fälle behandeln und auch manche Schwerpunkte aufzeigen. Er macht natürlich deutlich, wo den Bürger der Schuh drückt und wo Hilfe verlangt wird. Kein Ausschuß in diesem Hohen Hause ist daher mehr geeignet, uns unmittelbar zu zeigen, wo wir, der Gesetzgeber also, im Regelwerk, beim Erstellen der Gesetze Fehler gemacht und Lücken gelassen haben. Vor diesem Hintergrund bedauere ich natürlich ein wenig, daß die Medien nur durch einen klickenden Fotografen vertreten sind und daß der Petitionsausschuß auch ansonsten sehr wenig Interesse in der Öffentlichkeit findet, obwohl wir uns gerade im ver19694 gangenen Jahr bemüht haben, öffentlichkeitswirksamer zu arbeiten. So wurde ein neues Faltblatt erstellt, auf dem der hohe Vorsitzende gut getroffen ist. In diesem Zusammenhang sage ich ihm Dank für seine geschickte Führung des Ausschusses. ({0}) - Sehr gut. - Aber auch bei Messen und anderen Anlässen war der Petitionsausschuß durch Mitarbeiter des Ausschußdienstes sowie durch eine ganze Anzahl von Kolleginnen und Kollegen, die in sitzungsfreien Wochen bei den entsprechenden Messen gewesen sind, vertreten. Wir befassen uns im Ausschuß ganz einfach, schlicht und ergreifend mit den großen und kleinen Sorgen der Hilfesuchenden in unserem Land. Das tun wir in 85 % der Fälle einvernehmlich zwischen den Fraktionen. Der vorliegende Bericht zeigt, daß der Ausschuß nicht immer helfen konnte. Mancher Petent mußte enttäuscht werden. Oft hat sich aber auch ein guter Rat oder das richtige Verständnis für ein vorgebrachtes Anliegen als brauchbare Hilfe erwiesen. Insgesamt, meine ich, kann der Ausschuß eine positive Bilanz ziehen. In mehr als der Hälfte aller Fälle konnte im vergangenen Jahr den Petenten durch Rat oder einen Hinweis geholfen werden. In nahezu 10 % der Fälle ist dem Anliegen der Petenten entsprochen worden. Auf einige Einzelprobleme möchte ich hinweisen. Da ist nach wie vor das, was im Zusammenhang mit der deutschen Einheit unter dem Stichwort „offene Vermögensfragen" an uns herangetragen wird, wobei ich jetzt im besonderen auf die Zeit zwischen 1945 und 1949 hinweise, für die die Rückübertragung ausdrücklich ausgeschlossen worden ist. Eine Vielzahl von Petenten hat bei uns an dieser Stelle um Hilfe nachgesucht. Tatsächlich war der Fortbestand der von der sowjetischen Besatzungsmacht durchgeführten Bodenreform nach den Verlautbarungen der Bundesregierung eine unumstößliche Bedingung der Sowjetunion für ihre Zustimmung zur deutschen Einheit. Sie wollte die unter ihrer Oberhoheit durchgeführten Maßnahmen nicht nachträglich wieder zur Disposition gestellt wissen. Die Eingaben, die wir in dieser Sache erhielten, befaßten sich natürlich damit, daß sie der Bundesregierung vorwarfen, sie, die Bundesregierung, hätte dem Bundestag und auch dem Bundesverfassungsgericht, das angerufen worden ist, nicht wahrheitsgetreu berichtet. Wir waren einer anderen Meinung und haben empfohlen, das Petitionsverfahren abzuschließen. Ein Zweites aus dem Bereich des Sozialen, wo wir eine Eingabe erhielten, daß eine Petentin für ihre Mutter und ihren Vater monatlich mehrere hundert Mark an das Sozialamt zahlen müsse. Sie selbst habe keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, sei mit 17 aus dem Haus ausgeschlossen worden, und ihre Eltern hätten ihr Vermögen in Spielbanken verloren und seien nun Sozialhilfeempfänger. Sie selbst habe sich mit mehreren tausend Mark verschuldet, und es drohe ihr, zum Sozialfall zu werden. Der Petitionsausschuß war der Auffassung, daß Fälle dieser Art geeignet seien, entsprechende Vorschriften zu überdenken; wissend, daß grundsätzlich familiäre Unterhaltspflicht nicht ersatzlos wegfallen kann. Wir haben dies der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen, nicht wissend, wie die Bundesregierung nun auf diesen Erwägungsbeschluß reagiert. Ein Letztes möchte ich sagen, obwohl ich gerne die eine Minute meines hohen Vorsitzenden, Gero Pfennig, übernommen hätte, aber das hat das Präsidium nicht gewollt: Es gibt neben den vielen ernsten Dingen auch manches Erheiternde und Kuriose im Briefkasten des Petitionsausschusses. Wenn z. B. ein Bürger eine Petition schickt und Überlegungen anstellt, den 2 700 m hohen Watzmann in die Sahara zu verlagern, und das damit begründet, daß in der Sahara dadurch saftige Wiesen entstehen könnten, und wenn dieser Petent gleichzeitig hin und her überlegt, ob er sein Anliegen als Bitte oder Beschwerde formulieren soll, dann nehmen wir dies zur Kenntnis, und die Mitarbeiter des Ausschußdienstes reagieren im gleichen Duktus, nämlich daß sie es zwar auch gerne sähen, daß in der Sahara blühende Wiesen seien, böten aber eher einen der herrenlosen Eisberge im Nordatlantik an, um dort blühende Wiesen zu erhalten. Ein Letztes: Sie wissen, meine Damen und Herren, der Dank ist dünn gesät. Friedrich Schiller läßt seinen Don Carlos nicht ohne Grund sagen: Was ist vergeßlicher als Dankbarkeit? Dessen eingedenk möchte ich den Mitarbeitern des Ausschußdienstes auch namens meiner Fraktion ganz herzlich danken, ganz besonders denjenigen, die in stiller Kleinarbeit, kontinuierlich und ohne sich in den Vordergrund zu stellen, Hervorragendes geleistet haben. Das wird von uns allen viel zu oft vergessen und verdient deshalb um so mehr, heute gewürdigt zu werden. Ich denke, daß auch gerade durch diese oft mühevolle Kleinarbeit der Ausschuß dazu beigetragen hat, Staatsverdrossenheit abzubauen und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zum Staat und zu seinen Institutionen zu festigen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Kollege Göttsching, wenn Sie gleich Ihr Protokoll zur Korrektur erhalten, dann überlegen Sie einmal, ob Sie die Worte „volles Haus" durch die Worte „volle Regierungsbank " ersetzen, denn das ist ausnahmsweise der Fall. ({0}) Ich möchte nunmehr die Abgeordnete Brigitte Lange bitten, das Wort zu ergreifen.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meinen Beitrag beginne ich mit der Darstellung des Ablaufs unserer Petitionsausschußsitzung heute morgen, die mir immer noch in den Gliedern steckt. Was wir da erlebten, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme - Gott sei Dank -, ein Lehrstück dafür, wie man weder mit einer Petition noch den Petenten - immerhin haben 11 000 unterschrieben -, noch dem Thema und auch nicht mit dem Ausschuß umgehen sollte. Die wegen einer unzureichenden Antwort ihres Hauses geladene Ministerin hatte offensichtlich nicht die Bedeutung des Begriffes „Erwägung" und den Auftrag, der damit verbunden ist, realisiert, nämlich nicht zu sagen, was nicht geht, sondern zu sagen, was geht, eine Lösung vorzuschlagen. So wiederholte sie vor unseren ungläubigen Augen und sich sträubenden Ohren in wortreichen Pirouetten, immer um den Kern des Problems herum, den bereits abgelehnten Tenor Ihrer Stellungnahme, frei nach der Maxime: Das Problem ist zwar erkannt, aber nicht vorhanden, denn erstens ist es gesetzlich geregelt, und zweitens, wenn Richter andere Auslegungen treffen, dann kann nicht sein, was nicht sein darf, weil es ja - siehe Satz 1 - gesetzlich geregelt ist. Im übrigen wurde dem Ausschuß schriftlich wie auch mündlich klargemacht, daß sein Lösungsvorschlag nichts tauge. Das zornige Murren des Ausschusses und seines Vorsitzenden war, wenn auch höflich gebremst, unüberhörbar. Wir waren weder mit der formalen Behandlung noch mit dem Sachverhalt zufrieden, ging es doch um das sogenannte Flensburger Urteil, das Frau Homburger hier bereits erläutert hat, ein Urteil, was zu Recht breite Empörung auslöste und zum Gegenstand dieser Sammelpetition mit den rund 11 000 Unterschriften wurde. Der Ausschuß stellte eindeutig klar, daß die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde uneingeschränkt auch für behinderte Mitbürgerinnen und Mitbürger gelte, und verlangt Abhilfe. Die Ministerin wird noch einmal nachdenken müssen. Die SPD-Fraktion sieht sich hingegen in ihrer Auffassung bestätigt, daß hier Regelungen in einzelnen Gesetzen nicht ausreichen. Die Ausführungen heute morgen waren ein einziges Plädoyer, wenn auch ein ungewolltes, für die Forderung unserer Fraktion nach einer Ergänzung des Art. 3 des Grundgesetzes, wie sie in der Gemeinsamen Verfassungskommission eingebracht wurde: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. So möchte ich diese Ausschußsitzung heute morgen noch einmal zum Anlaß nehmen, wie auch die Aktuelle Stunde, die wir heute erlebt haben, an die Koalitionsfraktionen eindringlich zu appellieren, dieser Grundgesetzänderung endlich zuzustimmen ({0}) und damit ein Zeichen der Solidarität zu setzen, des Miteinanders und Füreinanders, wie es uns die Behindertenverbände anbieten, gerade in dieser Zeit. Petitionen sind für uns Bitten oder Beschwerden, sind Hilferufe gegen vermeintliche oder tatsächliche Übermacht von Behörden, geben Hinweise auf realitätsfremde Verordnungen oder Gesetze, kritisieren Mißstände, vermitteln uns Denkanstöße. Das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Petitionen ist für Bürgerinnen und Bürger ein wichtiges Element demokratischer Einmischung und Beteiligung, ein mittelbares freilich. Das wird auch daran deutlich, daß sich der Petitionsausschuß als Anwalt des Volkes versteht. Anwalt des Volkes zu sein eint uns über alle Fraktionsgrenzen hinweg, wenn es um Verstöße gegen geltendes Recht, um starre oder sture Auslegung oder Handhabung geht. Froh war ich über eine gemeinsam beschlossene Empfehlung für eine Novellierung des Personenstandsrechts, die ermöglicht, totgeborene Kinder mit Namen in das Sterbebuch einzutragen und damit den trauernden Eltern zu helfen. Eine weitere Bitte dieser Eltern konnte bereits umgesetzt werden. Die seit April dieses Jahres gültige Fassung der Personenstandsverordnung ermöglicht Eltern durch eine Änderung der Abgrenzungsdefinition zwischen Fehlgeburt und Totgeburt einen erweiterten Anspruch auf Bestattung ihrer totgeborenen Kinder. Die Einmütigkeit anwaltlicher Tätigkeit zerbricht begreiflicherweise bei unterschiedlichen Auffassungen von Regierungskoalition und Opposition über Forderungen der Petenten. Wenn aber Petitionen Gradmesser für gesellschaftliche Entwicklungen, vor allen Dingen auch für Fehlentwicklungen sind, müßte, denke ich, die Mehrheit des Parlaments und die Bundesregierung nicht nur in der Frage des Behindertenrechts, sondern auch auf die offensichtlichen Mißstände im Sozialbereich anders reagieren. Dazu gab es mit Abstand die meisten Eingaben. Über 37 000 Petenten beschwerten sich in Sammelpetitionen über Einsparung, Kürzung, Verschlechterung bei Kündigungsschutz, BSHG, bei ABM, Fortbildung und Umschulung, bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe. Auch über Petitionen können Familien im internationalen Jahr der Familie weder Gerechtigkeit, schon gar nicht Förderung erwarten, weder beim Kindergeld noch beim Erziehungsgeld, weder beim BAföG noch bei der Alterssicherung für Frauen. Die anschaulich geschilderten beklemmenden Lebenswirklichkeiten in diesen Petitionen wurden sicher von allen Mitgliedern des Petitionsausschusses aufmerksam gelesen, aber die Bitten wurden gegen unser Votum mehrheitlich abgelehnt. Hier zeigt sich die Grenze der Mitwirkungsmöglichkeit von Bürgerinnen und Bürgern über Petitionen. Der oftmals von allen Mitgliedern geleistete Brückenschlag zwischen Recht und Gerechtigkeit ist hier nicht mehr leistbar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Arbeit im Petitionsausschuß hinaus, denke ich, sind wir alle, Regierungsfraktionen, auch die Regierung und die Opposition, gut beraten, wenn wir die in den Petitionen gespiegelte Wirklichkeit beachten und in unsere Entscheidungen ernsthaft prüfend einbeziehen. Zum Schluß schließe ich mich wie alle meine Vorrednerinnen - nicht weil es ein Ritual ist, sondern weil es mir wichtig ist - der Beurteilung unserer guten Zusammenarbeit im Ausschuß an. Sie ist kollegial. Ich denke, das hängt nicht zuletzt von der souveränen und fairen Verhandlungsführung von Dr. Pfennig ab, dem ich ebenso wie meinen Kolleginnen und Kollegen für die gute Zusammenarbeit und dem Ausschußdienst für seine Hilfe und Unterstützung danke. Danke. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Karlheinz Guttmacher.

Dr. Karlheinz Guttmacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000754, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der Regionalpresse bei uns hieß es: Petitionsausschuß, der Kummerkasten der Nation. Ich glaube, für die Kollegen, aber auch für die Mitarbeiter des Petitionsausschusses, die sich täglich mit kleinen Problemen unserer Menschen zu beschäftigen haben, ist da etwas dran. Auch ich sage ihnen hier im voraus den allerherzlichsten Dank für diese außerordentlich konstruktive Zusammenarbeit. Nach den Verfahrensgrundsätzen des Petitionsausschusses wurden im Jahr 1993 der Bundesregierung 19 Petitionen zur Berücksichtigung und 207 Petitionen zur Erwägung übergeben. Die Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüsse haben eine ganz besondere Bedeutung. Ein Beschluß, die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überweisen, ist ein Ersuchen des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung, dem Anliegen des Petenten zu entsprechen. Lautet der Beschluß, die Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen, so handelt es sich dabei um ein Ersuchen des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung, das Anliegen des Petenten noch einmal zu überprüfen und nach Möglichkeiten der Abhilfe zu suchen. Auf diesen zweiten Fall möchte ich mich mit einer Petition beziehen. Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft betrafen die im Berichtszeitraum eingegangenen 212 Eingaben besonders die Ablehnung von Förderungsleistungen sowie die Rückzahlung von Darlehen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Mehrere Petitionen hatten die Frage der Einkommensfreigrenzen bei der Rückzahlung von BAföGDarlehen zum Inhalt. Alleinerziehende beklagten in diesem Zusammenhang die fehlende Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten bei der Berechnung der Einkommensgrenzen. Eine sehr beeindruckende Petition, die sich gegen die Regelung des Darlehensteilerlasses wegen Kindererziehung bei der BAföG-Rückzahlung richtet, hielt der Petitionsausschuß für besonders geeignet, sie der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen. Die Petentin, alleinstehende Mutter mit drei Kindern, erhielt in der Vergangenheit ein Darlehen nach dem BAföG und anschließend einen Bescheid für die Rückzahlung dieses Darlehens. Hiergegen legte sie Widerspruch mit der Begründung ein, ihr Verdienst sei rund 1 500 DM netto, und sie sei nicht in der Lage, mit drei Kindern 200 DM im Monat für die BAföG-Rückzahlung abzuzweigen. Es sei nicht einzusehen, so meinte sie, weshalb eine Frau, die kinderlos sei, ihren Universitätsabschluß gemacht hat und ungefähr 8 000 DM verdient, ebenfalls nur 200 DM zurückzahlen müsse. Das Ergebnis der parlamentarischen Prüfung ergab: Nach § 18 des BAföG wird einem Darlehensnehmer auf Antrag das BAföG-Darlehen in Höhe der monatlichen Rückzahlungsrate erlassen, wenn dieser ein Kind bis zu 10 Jahren pflegt und erzieht und er nicht oder nur unwesentlich erwerbstätig ist. Sinn des Kinderteilerlasses nach dieser Regelung des BAföG ist es, einem Elternteil die Rückzahlung des BAföG-Darlehens für den Fall zu erleichtern, in dem er sich der Erziehung und Betreuung eines Kindes widmet und dafür die Erwerbstätigkeit aufgibt oder zumindest ganz erheblich einschränkt. Die Regelung des BAföG über den Teilerlaß wegen Kinderbetreuung wurde durch das 6. BAföG-Änderungsgesetz auf Vorschlag des Bundesrates in das Gesetz eingefügt. Dabei vermag die Regelung des Kinderteilerlasses weder die wirtschaftlichen Folgen eines Verzichtes auf die Erwerbstätigkeit noch die Beeinträchtigung von beruflichen Chancen durch eine längere Erwerbstätigkeitspause auszugleichen. Vielmehr sollte diese Norm dem Darlehensnehmer nur Anreiz sein, sich vorübergehend aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen, um sich in verstärktem Maße der Kindererziehung zu widmen. Das heißt: Nach dem Zweck der Regelung kommt es für die Inanspruchnahme des Kinderteilerlasses wesentlich auf den geringeren Umfang der Erwerbstätigkeit an. Diese Regelung führte jedoch zu einer erheblichen Benachteiligung von alleinstehenden Frauen, die zusätzlich zur Kindererziehung durch Erwerbstätigkeit den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder sichern müssen. Eine solche Frau wird gegenüber der verheirateten Mutter, deren Lebensunterhalt durch den Ehemann gesichert wird, deutlich benachteiligt. § 18 des BAföG führt dazu, daß im wesentlichen ungleiche Sachverhalte ohne eine notwendige Differenzierung gleichbehandelt werden. Das ist darauf zurückzuführen, daß bei der Einführung des eben genannten § 18 des BAföG die Rolle der Ehefrau traditionell überbewertet wurde, die neben ihrer Kinderbetreuung lediglich „unwesentlich erwerbstätig" sein durfte. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, daß die besonders schwierige Situation der alleinerziehenden Frau nicht berücksichtigt wurde. Obwohl alleinerziehende Mütter und Väter in der Gegenwart zum normalen Erscheinungsbild unserer Gesellschaft gehören, läßt das BAföG diese Elternteile, die es doppelt so schwer haben, unberücksichtigt. Der Hinweis des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, daß das Bundesausbildungsförderungsgesetz ein Massenleistungsgesetz darstelle, das notwendigerweise auf pauschalierte Regelungen wie z. B. eine einheitlich festgesetzte Rückzahlungsmindestrate angewiesen sei, ist demgegenüber nicht überzeugend. Es widerspricht sowohl dem Rechtsstaatsprinzip als auch dem Sozialstaatsprinzip, nicht auf die wirtschaftliche Situation des einzelnen Darlehensnehmers Rücksicht zu nehmen. Daher hielt der Petitionsausschuß diese Eingabe für geeignet, sie der Bundesregierung, dem BundesminiDr. Karlheinz Guttmacher sterium für Bildung und Wissenschaft, zur Erwägung zu überweisen. An dieser Stelle wäre es für die Mitglieder des Petitionsausschusses von Interesse zu wissen, daß die der Bundesregierung zur Erwägung übergebenen Petitionen zu einer Veränderung des Gesetzes und damit zur Berücksichtigung des Anliegens des Petenten führen. Auf die Zeit, die die Ministerien derzeit benötigen, um die Petitionen, die als Erwägung bzw. zur Berücksichtigung überwiesen worden sind, zu bearbeiten, hat der Vorsitzende unseres Ausschusses hingewiesen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Franz Romer.

Franz Romer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der vorliegende Jahresbericht „Petitionen 1993" ist ein erneuter Beweis dafür, wie sehr der Einigungsprozeß die Lebensbedingungen der Menschen in ganz Deutschland beeinflußt. Zwar hat die Gesamtzahl nachgelassen, dennoch sind es im Verhältnis wesentlich mehr Eingaben aus den neuen Ländern, die den Ausschuß beschäftigen. Fast ein Viertel aller Petitionen aus ganz Deutschland gehörte 1993 zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, der auch einen Großteil meiner Berichterstattungen ausmachte. So manches notwendig gewordene Gesetz hat Härten mit sich gebracht, die bei der Abfassung des Gesetzes oft nicht erkennbar waren: Stichtagsregelungen, Ausschlußfristen und andere komplizierte Bestimmungen sind für den einzelnen schwer durchschaubar. Dann wird die unterschiedliche Behandlung von Fällen, die äußerlich gleich zu sein scheinen, nicht verstanden. Hier ist es wichtig, daß die Bürger die Möglichkeit haben, eine scheinbare Ungerechtigkeit durch den Petitionsausschuß prüfen zu lassen. Das heißt nicht, daß sich der Ausschuß als Einrichtung zur Kritik und Kontrolle der Behördenarbeit versteht. Die Überprüfung eines Vorgangs durch den Petitionsausschuß hilft aber den Petenten, auch rechtliche Vorschriften zu akzeptieren. Außerdem bietet sich tatsächlich die Möglichkeit, Lücken und Fehlerquellen an Hand eines konkreten Beispiels zu entdecken. So forderte z. B. eine Petition die bessere Information bei der Gründung von Unternehmen über deren Beitragspflicht gegenüber den Sozialkassen. Bei der Prüfung stellte sich heraus, daß einige Jungunternehmer sehr schlechte Erfahrungen mit plötzlichen Nachforderungen gemacht hatten. Die Petition wurde dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung als Material überwiesen, um bei der Ausarbeitung eines besseren Informationsverfahrens zu helfen. Der Petitionsausschuß, das Bundesministerium und die Bundesanstalt für Arbeit arbeiteten also zusammen, um einen verbesserten Service für den Bürger zu schaffen. Allerdings konnte es nicht Aufgabe des Petitionsausschusses sein, die Forderungen des Petenten nach Erlaß der Nachzahlung zu unterstützen. Hier gab es klare rechtliche Vorgaben, die zu erfüllen waren. Überhaupt ist die strikte Beachtung rechtlicher Vorschriften auch in menschlichen Notlagen der schwierigste Teil der Arbeit des Petitionsausschusses. Manchmal sieht man, daß Menschen auf Grund bestehender Stichtagsregelungen oder wegen Ausschlußgründen einen Nachteil erleiden. Aber der Petitionsausschuß kann hier keine Verschiebung befürworten, weil dies nur neue Problemgruppen schafft. Allerdings kann der Ausschuß manchmal besser als die vielbeschäftigten Behörden menschliche Aspekte und soziale Zwangslagen einbeziehen. Dies gelang z. B. bei einer Petition, die sich auf die Regelung bezog, dritte Söhne nicht zum Bund einzuziehen. Hier war die Anwendbarkeit der Regelung scheinbar nicht möglich, da der erste der drei Söhne nur etwas über ein Jahr Dienst getan hatte - es fehlten nur wenige Wochen bis zur Beendigung des Wehrdienstes -, bevor er anschließend in ein Priesterseminar wechselte. Die Wehrdienstzeit betrug damals 15 Monate; deshalb wurde die Wehrdienstzeit nicht angerechnet. Dieser Sohn aber hätte als zukünftiger Priester den Wehrdienst gar nicht ableisten müssen. Hier konnte der Ausschuß zum einen das Ministerium überzeugen, die Einziehung des dritten Sohnes bis zu dessen Ausbildungsende auszusetzen. Zum anderen führte die Petition zu einer noch engeren Zusammenarbeit zwischen Kreiswehrersatzämtern und Bundeswehreinheiten, um auf die Belange der Wehrdienstpflichtigen besser eingehen zu können. Die Arbeit des Ausschusses ermöglicht es also, nicht nur einen Ausgleich zwischen den Interessen des Petenten und den Ansprüchen des Staates herzustellen, sondern auch hier wieder eine Verbesserung der Dienstleistungen anzuregen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie ich schon erwähnte, kann die Aufgabe des Ausschusses nicht darin bestehen, durch Aussetzen oder Verlagerung von Ausschlußregelungen neue Unsicherheiten und Problemgruppen zu schaffen. Das führt bei den Betroffenen manchmal zur Enttäuschung, ist aber nicht zu vermeiden. Doch es gibt auch Petitionen, in denen der Ausschuß guten Gewissens trotz Rechtsvorgaben im Einzelfall ein anderes Vorgehen anregen kann. So hat ein Kraftfahrzeugmechaniker, der aus gesundheitlichen Gründen umschulen wollte, den Petitionsausschuß angerufen. Das Arbeitsamt hatte die Umschulung nicht finanziert, weil er nach dem ärztlichen Untersuchungsergebnis auch in seinem alten Beruf hätte weiterarbeiten können. Dies war korrekt und wurde vom Ausschuß nicht beanstandet. Aber man hat ihm das Arbeitslosengeld für die Zeit der Umschulungsmaßnahme verweigert, da er dem Arbeitsmarkt ja nicht zur Verfügung stand. Auch dies war formal korrekt, wurde aber vom Petitionsausschuß nicht akzeptiert. Schließlich sollte der Petent nicht auch noch dafür bestraft werden, daß er in eigener Initiative eine Umschulung begonnen hatte. Auf Grund der besonderen Umstände wurde die Petition der Bundesregierung zur Berücksichtigung des Arbeitslosengeldes überwiesen. Meine Damen und Herren, wir wollen nicht Behörden kritisieren oder geltendes Recht übergehen. Wir können aber das tun, was die Behörden auf Grund ihrer Arbeitsüberlastung gar nicht selbst erfüllen können: alle persönlichen Rahmenbedingungen gegenüber den gesetzlichen Vorschriften abwägen. Daher trägt der Petitionsausschuß auch dazu bei, daß die Demokratie in unserem Land lebendig bleibt. Die Bürger wenden sich mit ihren Bitten und Beschwerden an uns. Sie vertrauen darauf, daß ihnen der Ausschuß unvoreingenommen hilft. Das beweist, daß die Bürger mehr Vertrauen in die demokratischen Einrichtungen haben, als manche Kritiker glauben. Auch wenn wir nicht immer helfen können: Die Arbeit des Petitionsausschusses trägt dazu bei, Politikverdrossenheit wirkungsvoll zu bekämpfen. Ich bin froh, daß alle Kollegen im Ausschuß die konkrete Problemlösung in den Vordergrund stellen und die parteipolitischen Hintergründe so weit wie möglich außen vor lassen. Ich bedanke mich dafür bei allen Ausschußmitgliedern. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nunmehr hat die Abgeordnete Christel Hanewinckel das Wort.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich werde jetzt den Reigen beschließen. Im Jahresbericht des Petitionsausschusses ist ein Thema überraschend breit vertreten: überhöhte Fernmeldegebühren und, damit gekoppelt, bei Beschwerden ein ziemlich eigenartiges Reagieren der Telekom. Ich rede heute hier zu Ihnen als Mehrfachbetroffene: als Mitglied des Petitionsausschusses, wohnhaft in den neuen Ländern, als stolze Besitzerin eines Telefon- und Telefaxanschlusses und als Telekom-Geschädigte. Nach Installation eines Faxgeräts vom Deutschen Bundestag im Bürgerbüro 1991 zog die Telekom per Lastschrift, der ich nie zugestimmt hatte, von meinem Konto für vier Wochen Nutzung einen Betrag von 10 999 DM ein. Nach vielen Mühen, Telefonieren und Schreiben wurde endlich geklärt, daß das wohl nicht ganz stimmen könne, und die Summe kam zurück, bis auf 400 DM. Auch die habe ich inzwischen wieder. Für das Bürgerbüro hatte ich einen Telefonanschluß beantragt; zwei wurden gelegt. Ich reklamierte sofort. Ich bekam trotzdem Rechnungen für die Grundgebühr und Gebühren für Gespräche, die nie geführt worden sind. Seit April 1992 habe ich es schriftlich, daß ich mit dem Anschluß nichts mehr zu tun habe, bekam aber weiterhin die Rechnung. Telefonisch teilte ich mit, daß ich die Rechnungen nicht bezahle, zumal der Anschluß inzwischen abgeklemmt worden ist. Das Ganze ist nun zwei Jahre her. Vor einigen Wochen flatterte die Pfändungsandrohung für den inzwischen aufgelaufenen Betrag ins Haus. Jetzt bin ich so weit, mich an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages zu wenden, um mir wie in den Fällen, die wir in den Jahresbericht aufgenommen haben, helfen zu lassen. ({0}) Das ist eine der Auswirkungen in den neuen Ländern - etwas kurios, aber für manche Betroffene ziemlich massiv. Wir haben jetzt endlich mehr Telefone, aber damit auch die entsprechenden Probleme. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Auswirkungen der deutschen Einheit prägten auch in diesem Jahr ganz wesentlich die Arbeit des Petitionsausschusses. Die Anzahl der Petitionen aus den neuen Ländern liegt mit 367 pro einer Million Einwohner im Vergleich zu 213 pro einer Million Einwohner in den alten Bundesländern wesentlich höher. Diese Zahl macht deutlich, daß noch viel Arbeit in die deutsche Einheit investiert werden muß. Ein Hauptthema aus den neuen Ländern ist die Umbewertung der Renten bzw. die Rentenneuberechnung seit dem 1. Januar 1992. Zu diesem Zeitpunkt sollten die Renten neu berechnet werden. Aber noch heute gibt es Rentnerinnen und Rentner, die keinen gültigen Rentenbescheid haben und von einem Vorschuß leben. Denen, die den Petitionsausschuß eingeschaltet haben, konnte geholfen werden. Stellvertretend für die vielen ein Beispiel. Eine Bürgerin in Brandenburg bekommt statt der ihr zustehenden Rente nur einen Vorschuß, weil sie noch nicht endgültig errechnet ist. Aber die BfA fordert von den gezahlten Vorschüssen nach vier Monaten Vorschußzahlungen 6 300 DM als überbezahlte Rente zurück und bucht das gleich von ihrem Konto ab. Die Petentin beschwert sich. Trotz mündlicher Nachfragen bei der BfA und zweier Schreiben Anfang 1993 mit der Bitte, schneller zu reagieren, bekommt sie keine Antwort. Sie wendet sich an den Petitionsausschuß. Der Petitionsausschuß veranlaßte eine Überprüfung durch das Bundesversicherungsamt. Etwa einen Monat später berichtete das BVA, daß die Rentenberechnung zwischenzeitlich veranlaßt worden ist und die Petentin ab Mai 1993 monatlich 1 160 DM, also fast das Doppelte von dem, was sie als Vorschuß hatte, bekomme. Das, was ihr zwischenzeitlich abgezogen wurde, hat sie zurückbekommen. In diesem Fall konnte, nach einem Jahr und fünf Monaten, dem Anliegen der Petentin also voll entsprochen werden. In einem anderen Fall bekam ein Petent, der seine Rente ordnungsgemäß für Dezember 1992 beantragt hatte, nicht einmal eine Vorschußzahlung. Durch das Eingreifen des Petitionsausschusses konnte auch dieser Fall im Juli 1993 zur Zufriedenheit des Petenten gelöst werden. Darüber hinaus gibt es im Rentenrecht Regelungsbedarf bei Geschiedenenwitwenrenten und der Überleitung der Zusatz- und Versorgungssysteme derer, die vorschnell als staatsnahe oder leitende systemChristel Hanewinckel nahe Personen eingestuft worden sind. Der Deutsche Bundestag wird hier noch einiges tun müssen, um das Strafrecht aus dem Sozialrecht zu verbannen, vor allen Dingen in den Fällen, wo das gar nicht angemessen ist. ({1}) Offen ist außerdem die Frage, wie politische Haftzeiten in der DDR für die Rente anrechnungsfähig gemacht werden können. Hier steht der Gesetzgeber in der Schuld der Opfer der SED-Herrschaft. Nach wie vor ein Dauerthema - das wird es mindestens für die nächsten zehn Jahre bleiben - sind die offenen Vermögensfragen. Die Entscheidung der Regierung, Rückgabe vor Entschädigung, beschert nicht nur den Rechtsanwälten viele Mandate, sondern wird auch den Petitionsausschuß immer wieder betreffen. Tatsächlich betroffen aber sind die, die in der Zeit zwischen dem Herbst 1989 und Sommer 1990 ein Haus gekauft haben, meist das, was sie schon vorher Jahrzehnte bewohnt, bewirtschaftet und erhalten hatten. Sie werden durch die Stichtagsregelung, den 18. Oktober 1989, in den Verdacht gesetzt, unredliche Käufer zu sein. In den meisten noch offenen Fällen sind sie nicht nur redlich, sondern haben einen ordentlichen Kaufvertrag, das Grundstück ist bezahlt, aber sie haben keine Eintragung im Grundbuch. Bekanntermaßen haben die Grundbuchämter im Sommer 1990 entweder nicht gearbeitet, oder sie waren total überfordert, so daß die Eintragungen nicht fristgerecht erfolgen konnten. Für die, die heute um ihr Haus, das sie wie Adoptiveltern gepflegt und gehegt haben, bangen, stellt sich massiv die Frage der Gerechtigkeit im Rechtsstaat, vor allem dann, wenn der sogenannte Alteigentümer gar keiner ist, sondern seinen Anspruch längst bei einem Immobilienvermittler zu Geld gemacht hat. Die Frage von Recht und Gerechtigkeit stellt sich nicht nur in der vereinigten Bundesrepublik Deutschland. Sie stellt sich auch da, wo deutsche Bürger fordern, daß die Bundesregierung Menschenrechtskriterien in ihre Außenpolitik einbeziehen soll. Dazu zwei Beispiele. Ein Bürger forderte, die Bundesregierung solle aktiv und mit Sanktionen für den Schutz der Menschenrechte in Indonesien, Osttimor, eintreten. Die Fraktion der SPD hat diese Petition mit der Forderung unterstützt, Menschenrechtskriterien bei Regierungsverhandlungen über Entwicklungsprojekte Indonesien gegenüber anzuwenden. Dem konnten sich die anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag leider nicht anschließen. Ein anderer Petent fordert die Beibehaltung der Handelsbeschränkung gegen China. Die Fraktion der SPD forderte im Sinne des Petenten, an den einstimmig gefaßten Entschließungen des Deutschen Bundestages zu China im Juni 1989 festzuhalten. Mit den Stimmen der Koalition wurde dieser Antrag abgelehnt. Zum Schluß ein herzliches Dankeschön all denen, die im Ausschußdienst mit uns, den Ausschußmitgliedern, arbeiten und uns zuarbeiten. Zwei Dankeschön den Herren Ausschußvorsitzenden, dem Vorsitzenden und dem Stellvertretenden Vorsitzenden, die beide die Sitzungen mit ihrem je eigenen abgrundtiefen und erfrischenden Humor würzen. Einen besonderen Dank all denen vom Ausschußdienst, die landesweit die Arbeit des Petitionsausschusses und damit auch das demokratische Recht aller Bürgerinnen und Bürger in den Standen des Deutschen Bundestages, auf Messen und Marktplätzen bekannt und begreifbar machen. Vielen Dank. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, bevor ich die Sitzung schließe, muß ich noch einer etwas unangenehmen Pflicht nachkommen. Ausweislich des Protokolls hat die Abgeordnete Monika Brudlewsky in der Aktuellen Stunde, die sich mit den Ausschreitungen von Magdeburg beschäftigt hat, die Aktuelle Stunde als einen „Schauprozeß" bezeichnet. Ich muß das als unparlamentarisch zurückweisen. Damit sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestag auf morgen, Donnerstag, den 19. Mai 1994, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Restabend und stelle fest: Die Sitzung ist geschlossen.