Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich Ihnen folgendes mitteilen:
Der Kollege Joachim Graf von Schönburg-Glauchau feiert heute seinen 65. Geburtstag. Ich spreche ihm im Namen des Hauses die herzlichsten Glückwünsche aus.
({0})
Die Fraktion der F.D.P. teilt mit, daß der Kollege Wolfgang Mischnick auf seinen Sitz als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß verzichtet. Als Nachfolgerin wird die Kollegin Dr. Gisela Babel vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin Dr. Gisela Babel als ordentliches Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
8. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes - Drucksachen 12/5775, 12/6100, 12/6493, 12/6732 -
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
9. a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzese zur Änderung des Europawahlgesetzes - Drucksache 12/6621 -
- Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes - Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger - Drucksachen 12/6115, 12/6733 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({2}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitz-Mitgliedstaat - Drucksachen 12/6459, 12/6733 10. Beratung des Antrags des 3. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes: Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 3. Untersuchungsausschusses - Drucksache 12/6749 11. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 138 zu Petitionen - Drucksache 12/6738 12. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 139 zu Petitionen - Drucksache 12/6739 13. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 140 zu Petitionen - Drucksache 12/6740 14. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konrad Elmer, Susanne Rahardt-Vahldieck, Dr. Christoph Schnittler und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3}) - Drucksache 12/6708 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es erforderlich ist, abgewichen werden. Besteht auch damit Einverständnis? - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({4}) zu dem Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes ({5})
- Drucksachen 12/5775, 12/6100, 12/6493, 12/6732 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Peter Struck
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Wird das Wort zu Erklärungen gewünscht?
({6})
Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 12/6732? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 9a und 9 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes
- Drucksache 12/6621 - ({7})
Vizepräsident Hans Klein
- Zweite und dritte Beratung des von der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes - Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger
- Drucksache 12/6115 - ({8})
Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({9})
- Drucksache 12/6733 Berichterstattung:
Abgeordnete Gerd Wartenberg ({10})
Franz Heinrich Krey
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({11}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates fiber die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Wohnsitz-Mitgliedstaat
- Drucksachen 12/6459, 12/6733 Berichterstattung:
Abgeordnete Gerd Wartenberg ({12})
Franz Heinrich Krey
Zum interfraktionellen Gesetzentwurf zur Änderung des Europawahlgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD - Drucksache 12/6744 - vor.
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Europawahlgesetzes, Drucksachen 12/6621 und 12/6733, Buchstabe a der Beschlußempfehlung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte alle Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen gedenken, sich von ihren Plätzen zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Es ist beantragt worden, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6744 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, den Rechtsausschuß sowie an den EG-Ausschuß zu überweisen. Besteht damit Einverständnis? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/6733 empfiehlt der Innenausschuß, den Gesetzentwurf der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/6115 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe c wird empfohlen, die Unterrichtung durch das Europäische Parlament auf Drucksache 12/6459 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Innenausschuß die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung des Antrags des 3. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes
Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 3. Untersuchungsausschusses
- Drucksache 12/6749 Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen wieder gleich zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag des 3. Untersuchungsausschusses auf Drucksache 12/6749? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 11 bis 13 auf:
ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
- Drucksache 12/6738 ZP12 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 139 zu Petitionen
- Drucksache 12/6739 ZP13 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 140 zu Petitionen
- Drucksache 12/6740 -
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die drei Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17a bis f und Zusatzpunkt 14 auf:
Vizepräsident Hans Klein
17. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({16})
- Drucksache 13/6633 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({17})
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Innenausschuß
b) Beratung des Berichts der Gemeinsamen Verfassungskommission
gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages - Drucksachen 12/1590, 12/1670 - und Beschluß des Bundesrates - Drucksache 741/91 ({18}) - Drucksache 12/6000 Überweisungsvorschlag: ({19})
c) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
- Drucksache 12/6323 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({20})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Heuer, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Annahme einer neuen Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes
- Drucksache 12/6570 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({21})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verfassungsreform
- Drucksache 13/6686 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({22})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß gem. § 96 GO
f) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchführung eines Verfassungsreferendums nach Artikel 146 des Grundgesetzes
- Drucksache 12/6716 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({23})
Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
Innenausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP14 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Konrad Elmer, Susanne Rahardt-Vahldieck, Dr. Christoph Schnittler und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({24})
- Drucksache 12/6708 Überweisung svorschlag:
Rechtsausschuß ({25})
Innenausschuuß
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile unserem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der heutigen Debatte nimmt dieses Haus seine Beratungen vor allem zu dem interfraktionellen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes auf. Dieser Entwurf beruht auf den Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission, die sie nach fast zweijähriger Tätigkeit am 28. Oktober 1993 einstimmig verabschiedet hat. Der Gesetzentwurf entspricht in der Sache einem vom Bundesrat ebenfalls einstimmig beschlossenen Gesetzesantrag des Landes Rheinland-Pfalz, mit dem eine Initiative des Bundesrates zur Aufnahme der von der Gemeinsamen Verfassungskommission beschlossenen Empfehlungen in das Grundgesetz eingeleitet ist.
Mit diesem Verfahren zur Novellierung des Grundgesetzes kommt eine verfassungspolitische Entwicklung zum Abschluß, die im Zusammenhang mit der deutschen Einigung mit dem Auftrag aus Art. 5 des Einigungsvertrages begonnen hat. Damit sind unsere parlamentarischen Beratungen in den weiter andauernden, vielschichtigen Prozeß der inneren Einigung Deutschlands eingebunden.
Mit der Einsetzung und Konstituierung der Gemeinsamen Verfassungskommission haben Bundestag und Bundesrat buchstäblich organisatorisches Neuland für die Vorbereitung ihrer verfassungspolitischen Entscheidungen betreten. Diese Kommission ist die erste beider Häuser, die im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens das Grundgesetz im Hinblick auf die Notwendigkeit von Änderungen zu prüfen und erforderlichenfalls entsprechende Empfehlungen vorzulegen hatte. Damit war sie in der Tat eine neue Institution für die Verfassungsreform. Deshalb seien auch ihrer Zusammensetzung, ihrem Auftrag, ihrem Selbstverständnis sowie dem Verlauf ihrer Beratungen und Abstimmungen einige 'Bemerkungen gewidmet, in denen auch ein Stück neuerer deutscher Parlaments-und neuerer deutscher Verfassungsgeschichte zum Ausdruck kommt.
Grundlage unserer Beratungen sind die Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zum Grundrechtsteil, zu den Staatszielen und zu dem weiten Feld der Staatsorganisation. Die Kommission hatte den Auftrag, die mit der Einigung Deutschlands und der Verwirklichung der Europäischen Union erforderlich werdenden Grundgesetzänderungen zu beraten und als Empfehlung an Bundestag und Bundesrat zu beschließen. Darüber hinaus sah sie es in ständiger Praxis auch als ihre Aufgabe an, in der politischen Diskussion aktuell gewordene Fragen im Hinblick auf gegebenenfalls notwendige Verfassungsänderungen zu prüfen. Schließlich hat die Kommission das Recht für sich in Anspruch genommen, zu eingeleiteten Verfahren der Verfassungsänderung im allgemeinen Gesetzgebungsverfahren ihr Votum abzugeben.
Nicht Auftrag der Kommission war es dagegen - dies möchte ich deutlich auch an dieser Stelle sagen -, eine Totalrevision des Grundgesetzes oder ähnliches zu unternehmen. Schon Art. 5 des Einigungsvertrages war insoweit eindeutig. Selbst wenn der eine oder andere entgegengesetzte Hoffnungen oder Erwartungen gehegt haben mag - das Grundgesetz ist die beste Verfassung der deutschen Geschichte. Es verdient die eigene Bewahrung und Bestätigung, wohlgemerkt: eingeschlossen den Willen zur Reform dort und soweit, wo bzw. wie dies definitiv notwendig ist.
({0})
Auftrag und Selbstverständnis der Kommission spiegelten sich auch in dem - ich darf es so nennen - Fleiß der Kommission wider. In 26 Sitzungen, 9 Anhörungen, zum Teil gemeinsam mit dem Rechtsausschuß und dem Innenausschuß des Bundestages, hat die Kommission etwa die Hälfte der Grundgesetzartikel auf ihre Reformbedürftigkeit hin überprüft. Hierzu wurden insgesamt 95 Änderungsanträge gestellt und 119 Arbeitsunterlagen eingebracht.
In den Beratungen der Kommission wurde auf ihrem - gelegentlich natürlich auch mit eminenter verfassungspolitischer Spannung geladenen - Weg zu einer Entscheidung unter den Aspekten von Einvernehmlichkeit, Kompromiß, aber auch Kontroverse ein Quartett unterschiedlicher Verfassungsmaterien buchstäblich stimmenmäßig hörbar.
Es gab erstens Beratungsgegenstände, deren einvernehmliche Ausgangspositionen in den Beratungen
ohne Schwierigkeiten zu konsensualen Kommissionsempfehlungen gebracht werden konnten; zweitens - davon abzuschichten - Materien, bei denen bei anfänglich kontroversen Positionen Bewegungen deutlich aufeinander zu und im Ergebnis Kommissionsempfehlungen mehrheitlich möglich waren; drittens streitige Positionen, die kontrovers geblieben sind und auch in den Kommissionsberatungen, in den Berichterstattergesprächen, in den Anhörungen nicht zur Einigung geführt werden konnten; und last not least viertens Bereiche, in denen nach eingehender Diskussion Übereinstimmung darüber bestand, daß es keiner Änderungen, keiner Reformempfehlungen bedarf, das Grundgesetz sich also entsprechend bewährt hat.
In den Beratungen und Abstimmungen der Kommission, im Spannungsfeld von Einvernehmlichkeit, Kompromiß und Kontroverse wird eine wesentliche Aufgabe deutlich, die die Kommission meines Erachtens überzeugend gemeistert hat: Neben der Erarbeitung von Sachempfehlungen mußte die Kommission die jeweiligen Ausgangspositionen im Hinblick auf die Möglichkeit konsensualer Entscheidungen prüfen und gegebenenfalls Alternativen verfassungsrechtlicher Kompromißfindung zwischen den politischen Kräften der Fraktionen sowie zwischen Bund und Ländern entwickeln.
Exakt in diesem Punkt einer nach den Möglichkeiten eines Verfassungskonsenses differenzierten Berichterstattung der Kommission an ihre beiden Auftraggeber Bundestag und Bundesrat liegt ein wesentliches Moment verfassungspolitischer Bedeutung der Kommission, ihrer Beratungen und auch des Ihnen heute vorgelegten Berichts. Dies wird - hierauf möchte ich mit Nachdruck aufmerksam machen - von der politischen und der publizistischen Kritik häufig entweder gar nicht oder allenfalls unzureichend gewürdigt, ja, wenn überhaupt zur Kenntnis genommen.
Die in der Gemeinsamen Verfassungskommission durch Art. 5 des Einigungsvertrages und durch die Einsetzungsbeschlüsse vorgegebenen Verfassungsmaterien der europäischen Einigung und der bundesstaatlichen Ordnung waren ihre verfassungspolitisch und verfassungsrechtlich bedeutsamsten Beratungsgegenstände. Ihre Behandlung in der Kommission stand unter dem Signal nahezu durchgehender Einvernehmlichkeit aller politischen Kräfte.
Dieser prinzipielle Verfassungskonsens unter den Fraktionen sowie zwischen Bund und Ländern muß, wie ich denke, als ein Zeichen eines auch übergreifenden verfassungspolitischen Willens gewürdigt werden, nämlich die deutschen und europäischen Herausforderungen an die Reform unserer Verfassung nach Möglichkeit einvernehmlich zu beantworten. Hier ist ein Stück verfassungspolitischer Gemeinsamkeit sichtbar geworden, auf das - bei allen Kontroversen auf anderen Feldern, bei allen Kontroversen naturgemäß auch im Detail - die Kommission und ihre Mitglieder, wie ich denke, auch etwas stolz sein können.
Es gab aber auch Beratungsgegenstände, bei denen die Entwicklung kontroverser Ausgangspositionen hin zu konsensualen Kommissionempfehlungen
schwer war. Doch die Kommission ist bei der verfassungsrechtlichen Verankerung beispielsweise der Staatszielbestimmung Umweltschutz - nach vielen Mühen - den Weg zum Verfassungskompromiß erfolgreich gegangen. Ähnliches gilt namentlich für den Ausbau der Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern.
In den beiden weiteren großen Komplexen - einmal der Frage nach der Ergänzungsbedürftigkeit unseres Systems repräsentativer Demokratie um Elemente unmittelbarer Demokratie wie Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid, und auf der anderen Seite der Frage nach der Aufnahme zusätzlicher sozialpolitischer Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz - sind die Positionen, wie man vermutlich auch kaum anders erwarten konnte, trotz intensiver Beratungen kontrovers geblieben.
Nach meiner persönlichen Auffassung zu Recht. Denn hier geht es in beiden Bereichen um grundlegende Fragen der Verfassungsstruktur, es geht um grundlegende Fragen der demokratischen Struktur unserer Verfassung, und es geht ganz wesentlich auch darum, ob und inwieweit man in das Grundgesetz sozialpolitisch konkrete Programmatiken über das Allgemeinverbindliche und in seiner Offenheit wie Normativität erfolgreiche Sozialstaatsprinzip hinaus aufnehmen will. Meine persönliche Auffassung in dieser Frage ist immer die gewesen, daß es nicht zweckmäßig ist, hier mit weiteren sozialpolitischen Staatszielbestimmungen zu operieren.
Meine Damen und Herren, der Erfolg der Kommission kann nicht allein - auch das möchte ich unterstreichen - an der Zahl der Empfehlungen für konkrete Grundgesetzänderungen gemessen werden. Dazu war ein großer Teil der verfassungspolitischen Ausgangspositionen zu unterschiedlich. Viel wichtiger aber ist nach meiner Auffassung der geführte Verfassungsdiskurs als solcher. Das Grundgesetz ist eine gute, es ist eine stabile, es ist eine bewahrenswerte Ordnung.
({1})
Nur wer diese Ordnung mehr oder weniger total in Frage stellen will - bis hin zur Forderung nach einer überhaupt neuen Verfassung -, kann die hier quantitativ begrenzte Zahl mit Zweidrittelmehrheit beschlossener Änderungsempfehlungen beklagen oder gar als Manko empfinden.
Aber selbst für solche Kritiker muß gelten: Verfassungsrecht und Verfassungspolitik sind mehr als alles andere notwendige Konsenspolitik. Und wo sich kein - entsprechend mehrheitlich geforderter - Änderungsbedarf konsensmäßig nachgewiesen sieht, dort bleibt es ebenso notwendig beim gegebenen, beim geltenden und insoweit auch konsensual legitimierten Verfassungsrecht.
Doch unabhängig hiervon: Der Wert der Kommissionsarbeit liegt jedenfalls in der intensiven Überprüfung der verfassungsrechtlichen Regelungen und ihrer Ergänzungsbedürftigkeit insgesamt. Die Gemeinsame Verfassungskommission hat das Grundgesetz in offener, in fairer Diskussion einem kritischen Verfassungsdiskurs unterzogen, wie es dies in vergleichbarer Form seit den Beratungen des Parlamentarischen Rates nicht gegeben hat.
An diesem Verfassungsdiskurs beteiligten sich nicht allein die Kommissionsmitglieder und ihre Ratgeber, sondern auch die Öffentlichkeit. Von Beginn ihrer Tätigkeit an wurde die Kommission von Eingaben verfassungspolitischen Inhalts, von Bitten, Auskunftsersuchen und Anregungen zum Stand der Beratungen begleitet. In Individualeingaben und gleichlautenden Masseneingaben haben sich etwa 800 000 Bürger - meine Damen und Herren, 800 000 Bürger! -, Institutionen, Organisationen und Personen an die Kommission gewandt und ihr Interesse an den hier aufgeworfenen Verfassungsfragen zum Ausdruck gebracht.
({2})
Ich denke, daß es gerechtfertigt ist, all diesen Bürgerinnen und Bürgern auch von dieser Stelle aus für ihr Engagement und Interesse zu danken.
({3})
Mit den Kommissionsempfehlungen sind auch gewisse Vorentscheidungen für das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet. Wegen der Unabhängigkeit der Gesetzgebungsorgane und ihrer Mitglieder entfalten naturgemäß die Empfehlungen der Kommission keine rechtlich bindenden Wirkungen. Als Verfassungsvorgaben mit der Dignität einer Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission sind sie aber auch keine Quantité négligeable.
Die Gemeinsame Verfassungskommission hat mit ihren Empfehlungen solide Arbeit in der Sache und in der Konsensfindung geleistet und um die Verfassungskompromisse zum Teil hart, ja, manchmal sehr hart gerungen.
Zum Schluß sei mir als Vorsitzendem der Gemeinsamen Verfassungskommission ein Wort des Dankes gestattet. Der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission ist das große Werk vieler. Hinsichtlich seiner Bedeutung als inhaltliche Grundlage auch über das Gesetzgebungsverfahren hinaus zeichnet sich schon heute ein deutliches, notwendigerweise auch kontroverses Echo in Wissenschaft und Publizistik ab.
Vor diesem Hintergrund ist zunächst den unmittelbar Beteiligten zu danken. Meine Kolleginnen und Kollegen in der Gemeinsamen Verfassungskommission haben mit Sachkunde und Tatkraft das Werk der Grundgesetzreform für Bundestag und Bundesrat vorbereitet. Dabei verdienen naturgemäß die Obleute als die Steuermänner der Kommission in zum Teil widrigen Fahrwassern besondere Hervorhebung.
({4})
Dasselbe gilt für die Berichterstatter, die manchmal schwer begehbare Pfade zum Verfassungskompromiß zu finden hatten.
Mein ganz persönlicher Dank gilt darüber hinaus und vor allem meinem lieben - wenn ich so sagen darf - Konvorsitzenden, dem Hamburger Bürgermei18090
ster Voscherau. Ich freue mich, daß er heute hier ist.
({5})
Ihnen, lieber Herr Voscherau, möchte ich für die Offenheit, die Fairneß und - ich darf wohl auch sagen - freundschaftliche Kollegialität danken, in der wir zwei Jahre lang gemeinsam diesen Weg gehen durften.
Mein weiterer Dank gebührt den Sachverständigen, die uns ihr Expertenwissen und ihre Bewertungen in den Anhörungen zur Verfügung stellten. Beides hat im Bericht seinen Niederschlag gefunden.
Den Mitgliedern der Bundesregierung gebührt der Dank für die Übermittlung ihrer verfassungspolitischen Vorstellungen, ihren Beamten, vor allem aus den beiden Verfassungsministerien, für die Einbringung vielfach notwendigen Detailwissens.
Gleicher Dank gebührt den Beamten der Landesregierungen und den Mitarbeitern der Fraktionen.
Schließlich dankt die Gemeinsame Verfassungskommission ihrem Sekretariat.
({6})
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben durch ein wirklich unermüdliches Engagement der Kommission die notwendigen organisatorischen, administrativen und inhaltlichen Hilfestellungen gegeben, ohne die die zeit- und sachgerechte Erfüllung unseres Auftrages nicht möglich gewesen wäre.
Vor diesem Hintergrund wünsche ich, daß unsere gemeinsamen Beratungen und Entscheidungen in Bundestag und Bundesrat einen Beitrag auch zu jenem Verfassungspatriotismus leisten möchten, der die Geschichte der Bundesrepublik als des ersten soliden und stabilen demokratischen Rechtsstaats in der deutschen Geschichte so maßgebend geprägt hat und dessen freiheitlich-demokratisches Wertebewußtsein auch die friedliche und freiheitliche Revolution im früher anderen Teil Deutschlands mitgeprägt hat.
Verfassungspatriotismus unter dem Grundgesetz heißt ein Stück deutscher Identität in der Nachkriegszeit.
Ich bin sicher, daß das überprüfte und reformierte Grundgesetz, im gleichen Geiste und vom gleichen Verfassungspatriotismus getragen wie bisher, eine würdige und erfolgreiche Verfassung auch für das vereinte Deutschland ist bzw. bleiben wird.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Hans-Jochen Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Vorlagen, die wir heute in der ersten Lesung behandeln, stellen in der Flut unserer normalen Tagesordnungspunkte eine Besonderheit dar. Zum erstenmal seit Gründung der Bundesrepublik beschäftigt sich nämlich der Deutsche Bundestag nicht mit einer speziellen Verfassungsänderung, sondern mit der Frage, in welchem Umfang das Grundgesetz insgesamt der Erneuerung bedarf, um unserem Gemeinwesen auch in Zukunft den erforderlichen Dienst zu leisten.
Wir beschäftigen uns also mit zentralen Problemen unseres Zusammenlebens und unserer Daseinsordnung - eine Tatsache, die die Besetzung des Hauses für den Außenstehenden nicht ohne weiteres vermuten läßt.
({0})
Denn das ist die Aufgabe der Verfassung: die Leitprinzipien zu bestimmen, nach denen in unserem Gemeinwesen Macht ausgeübt wird und sich die politische Einheit aus der Vielzahl der wirkenden Kräfte immer aufs neue bilden soll. In diesem Sinn stellt sie zugleich die rechtliche Grundordnung dar, die dem politischen Prozeß nicht nur einen Rahmen geben, sondern ihm auch die Richtung weisen muß. Nur auf diese Weise kann die Verfassung dazu beitragen, daß die Bürgerinnen und Bürger das Gemeinwesen als ihren Staat erkennen, sich in ihm wiederfinden und sich in das Gemeinwesen eingliedern können.
Das Grundgesetz ist dieser Aufgabe - da stimme ich mit Herrn Kollegen Scholz überein - in der Vergangenheit in hohem Maße gerecht geworden. Dies auch deshalb, weil es an den geistigen, sozialen, politischen und ökonomischen Entwicklungsstand seiner Entstehungszeit anknüpfte, wichtige Kräfte und Tendenzen dieser Jahre in sich aufnahm und aus den Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte, insbesondere aus denen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die richtigen Konsequenzen zog, aber auch weil in den 50er und 60er Jahren einzelne Anpassungen in langen und gründlichen Diskussionsprozessen unternommen wurden, von denen ich nur die Wehrverfassung und die Notstandsverfassung erwähne.
Nicht von ungefähr hat sich im Laufe der Jahre im Zusammenhang mit der wachsenden Akzeptanz des Grundgesetzes der Begriff des Verfassungspatriotismus entwickelt. In diesem Sinne stimme ich ausdrücklich denen zu - auch meinem Vorredner -, die das Grundgesetz als die beste Verfassung bezeichnen, die wir Deutschen bislang in unserer Geschichte gehabt haben.
({1})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns gerade bei dieser Gelegenheit auch dankbar an die Väter und Mütter des Grundgesetzes erinnern. Wenn ich dabei Thomas Dehler, Theodor Heuss, Wilhelm Laforet, Hermann von Mangoldt, Carlo Schmid, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Georg-August Zinn stellvertretend für alle anderen namentlich nenne, dann deshalb, weil sie das GrundDr. Hans-Jochen Vogel
Besetz in besonderer Weise beeinflußt und geprägt haben.
({2})
Bestimmte Prinzipien und Elemente des Grundgesetzes können gemäß Art. 79 Abs. 3 nicht zur Disposition gestellt werden: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen als oberstes Konstitutionsprinzip der verfassungsmäßigen Ordnung, die unmittelbare Geltung der Grundrechte, die Prinzipien der Republik und der Demokratie des sozialen Rechtsstaates und des Bundesstaates sowie - eine ganz entscheidende Neuerung des Grundgesetzes - ein wirksames System verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Das würde für uns selbst dann gelten, wenn es um eine völlige Neukonstituierung ginge.
Diese Prinzipien will aber niemand in Frage stellen. Es geht vielmehr darum, den gravierenden Änderungen Rechnung zu tragen, die sich seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes vollzogen haben, und zwar den objektiven Veränderungen ebenso wie den Fortschritten unseres Erkenntnisstandes und unserer Einsichten.
Zu Recht sagt Konrad Hesse, einer der anerkanntesten Verfassungsrechtslehrer unserer Republik - der übrigens vor wenigen Tagen seinen 75. Geburtstag feierte -, folgendes:
Wo die Verfassung den geistigen, sozialen, politischen oder ökonomischen Entwicklungsstand ihrer Zeit ignoriert, fehlt ihr der unerläßliche Keim ihrer Lebenskraft, und sie vermag nicht zu erreichen, daß der Zustand, den sie im Widerspruch zu diesem Entwicklungsstand normiert, eintritt.
Weiter sagt Hesse:
Die Lebens- und Wirkungskraft der Verfassung beruht darauf, daß sie sich mit den spontanen Kräften und lebendigen Tendenzen der Zeit zu verbinden vermag, daß sie diese Kräfte zur Entfaltung bringt und einander zuordnet.
Genau das wollen wir. Wir wollen verhindern, daß unsere Verfassung in wichtigen Bereichen den Keim ihrer Lebenskraft verliert. Wir wollen, daß sie sich auch in Zukunft mit den lebendigen Kräften unserer Zeit verbindet; denn nur so kann unsere Verfassung ihre zentrale Funktion auch über die Jahrhundert-und Jahrtausendwende hinweg erfüllen.
({3})
Die Notwendigkeit einer solchen Erneuerung haben übrigens für eine besonders einschneidende Änderung der politischen Gegebenheiten schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes vorausgesehen, nämlich für den Fall der deutschen Einigung. Darum haben sie in Art. 146 des Grundgesetzes, der ausdrücklich auch dann gelten sollte, wenn die staatliche Einigung, wie geschehen, nach Art. 23 zustande kommt, bestimmt:
Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an
dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt,
die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Der Einigungsvertrag hat den Grundgedanken dieses Artikels aufrechterhalten. Er hat in seinem Art. 5 das festgelegt, was Herr Kollege Scholz hier bereits ausgeführt hat.
Bei der Bewältigung dieser Aufgabe standen sich nun von vornherein die Positionen der konservativen Kräfte des Verharrens und die Positionen reformerischer Kräfte der Erneuerung gegenüber. Die konservativen Kräfte verneinen, daß es fundamentale Änderungen objektiver oder subjektiver Art gegeben habe, und lehnen die meisten Erneuerungsvorschläge ab.
({4})
Die staatliche Einigung, so sagen sie, habe nur den räumlichen Geltungsbereich des Grundgesetzes erweitert. Deshalb bestehe Änderungsbedarf lediglich für die von der ehemaligen DDR überkommenen Strukturen in den neuen Bundesländern. Sie seien, möglichst auf Punkt und Komma, den Regelungen in der ehemaligen Bundesrepublik anzupassen. In der alten Bundesrepublik könne alles so bleiben, wie es war; wer ändere, erhöhe nur die Unsicherheit.
({5}) Soweit die konservative Position.
Wir sehen demgegenüber in der staatlichen Einigung, meine Damen und Herren, mehr als eine räumliche Ausdehnung unseres Gemeinwesens. Die staatliche Einigung hat für uns nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Konsequenzen. Sie verlangt deshalb auf der Grundlage des Grundgesetzes eine bewußte Gestaltung der neuen Gemeinsamkeit. Wir treten daher für die Erneuerung unserer Verfassung ein. Wir wissen, daß auch das Bewahrenswerte nur durch Reformen gesichert und erhalten werden kann.
({6})
Wer sich ängstlich dem Neuen verschließt, wer die Entwicklung treiben läßt und darauf verzichtet, sie vorausschauend zu gestalten, der trägt dazu bei, daß die Parteiverdrossenheit alsbald in eine Demokratieverdrossenheit übergeht und die Fundamente unseres Gemeinwesens erfassen könnte.
({7})
- Abwarten! Wer zuletzt argumentiert, argumentiert am besten.
({8})
- Also, wenigstens ist das Haus jetzt wach geworden; das ist eine erfreuliche Erscheinung.
({9})
Diese Gegensätze sind schon bei der Frage hervorgetreten, in welchem Verfahren Änderungsvorschläge erarbeitet und in Kraft gesetzt werden sollen. Nach unserem Vorschlag hätte die reformierte Verfas18092
sung im Einklang mit dem Grundgedanken des Art. 146 von einem Verfassungsrat erarbeitet und dann durch Volksentscheid in Kraft gesetzt werden sollen.
({10})
Dieser Vorschlag ist an der konservativen Mehrheit gescheitert. Ich glaube, damit ist eine große Chance vertan worden, nämlich die Chance, die bewußtseinsmäßige Einigung der Deutschen, das Zueinanderfinden in der neuen Bundesrepublik durch die gemeinsame Arbeit und Erneuerung des Grundgesetzes zu fördern.
({11})
Das hätte den Landsleuten in den neuen Bundesländern das mitunter bedrückende Gefühl genommen, sie seien nur zu einer fix und fertigen, seinerzeit ohne ihre Mitwirkung zustande gekommenen und nahezu unveränderlichen Ordnung hinzugetreten, der sie sich auf Punkt und Komma anzupassen hätten. Und es hätte uns in den alten Bundesländern deutlicher zu Bewußtsein gebracht, daß der Einigungsprozeß auch uns kein einfaches „Weiter so!" erlaubt, sondern die Bereitschaft verlangt, auch uns selbstverständlich Erscheinendes auf den Prüfstand zu nehmen und notfalls zu ändern.
({12})
Unabhängig davon halte ich es für einen bedrükkenden Vorgang, wie sehr nicht nur hier die Kräfte der Bürgerbewegung, die in der letzten Phase so Entscheidendes zur Überwindung des erstarrten DDR- Systems beigetragen haben, jedenfalls auf der Bundesebene an den Rand der politischen Einflußnahme gedrängt wurden und zum Gegenstand schon fast routinemäßiger Belehrungen und Ermahnungen durch die etablierteren Kräfte geworden sind. Ich fürchte, hier ist mit einem Erneuerungspotential, das uns durch eine glückliche Entwicklung zugewachsen ist, verständnislos, um nicht zu sagen: leichtfertig, umgegangen worden.
({13})
Die identitätsstiftende Wirkung einer gemeinsamen Arbeit an der erneuerten Verfassung wäre übrigens durch eine gemeinsame Abstimmung der Deutschen in Ost und West noch erheblich verstärkt worden. Die konservative Mehrheit hat das nicht gewollt. Zustande gekommen ist eine Gemeinsame Kommission, der bei 64 Mitgliedern leider nur elf ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR angehörten und für deren Vorschläge eine Zweidrittelmehrheit erforderlich war. Mit dem, was in dieser Kommission die Zweidrittelmehrheit erreicht hat, und dem, was unterhalb dieser Mehrheit geblieben ist, uns aber unverändert wichtig erscheint, haben wir uns heute zu beschäftigen.
Die Ergebnisse der Kommission bleiben - das ist kein Geheimnis - deutlich hinter dem zurück, was wir als die Notwendigkeiten der Zeit ansehen. Dennoch besteht kein Anlaß, das, was in den interfraktionellen Entwurf Eingang gefunden hat, gering zu schätzen. Vielmehr besteht Anlaß, all denen zu danken, die daran mitgewirkt haben: Berichterstatterinnen und Berichterstattern, Obleuten und insbesondere den beiden Herren Vorsitzenden, Herrn Kollegen Scholz und Herrn Kollegen Voscherau.
({14})
Dieser Dank schließt die Arbeit an dem neuen, bereits in Kraft getretenen Europaartikel mit ein. Ohne diesen Artikel wäre der Ausgang des Karlsruher Verfahrens zu den Verträgen von Maastricht ungewiß und zumindest mit hohem Risiko belastet geblieben.
({15})
Die Kommission hat hier im deutschen und europäischen Interesse geleistet, wozu die Bundesregierung infolge ihrer inneren Meinungsverschiedenheiten nicht imstande war.
({16})
- Es hat dazu keinen einzigen Formulierungsvorschlag der Bundesregierung gegeben, und selbst in Ihrem Bereich ist das, was ich hier gesagt habe, in viel deutlicherer und kräftigerer Form immer wieder vorgetragen worden.
Zu danken ist nicht minder den 800 000 Bürgerinnen und Bürgern, die sich an die Kommission gewandt und ihre Arbeit auf diese Weise befruchtet haben.
({17})
Was die interfraktionellen Vorschläge angeht, begrüßen wir ausdrücklich, daß nunmehr drei Staatsziele in die Verfassung aufgenommen werden sollen, nämlich die Frauenförderung einschließlich der Beseitigung bestehender Nachteile - Beseitigung bestehender Nachteile! -, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Achtung der Identität ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten.
Natürlich hätten wir uns manche Formulierungen einfacher und auch eindeutiger gewünscht. So hätte für den Schutz der Umwelt, meine Damen und Herren, durchaus der einfache Satz ausgereicht: „Auch in Verantwortung für die kommenden Generationen schützt der Staat die natürlichen Grundlagen des Lebens." Das hätte völlig gereicht.
({18})
Denn daß Gesetze nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung ergehen können und daß Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind, steht ohnehin in Art. 20 und hätte nicht wiederholt werden müssen.
Aber es war uns wichtiger, den Umweltschutz nach fast zehnjähriger streitiger Diskussion nun endlich im Grundgesetz zu verankern. Dahinter mußten Gesichtspunkte der Verfassungsästhetik zurücktreten. Und ich danke ausdrücklich den Kolleginnen und Kollegen aus der Union, die dazu beigetragen haben, daß die 43 Stimmen Mehrheit dafür schließlich erreicht wurden.
({19})
Von dem Staatsziel der Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung und Beseitigung von bestehenden Nachteilen erwarten wir einen ähnlichen Effekt, wie er seinerzeit von dem von Elisabeth Selbert erkämpften Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" ausging. Mit der Pflicht des Staates, auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken, wird zumindest die bisherige verfassungsgerichtliche Judikatur zur Zulässigkeit kompensatorischer Maßnahmen festgeschrieben. Aus unserer Sicht ist indes eine Auslegung, zu diesem Zweck sei auch künftig nur zulässig, was bisher schon geltendes Verfassungsrecht war, schwerlich vereinbar. Frau Kollegin Mascher wird dazu noch näher Stellung nehmen.
Wir begrüßen ebenso die Verbesserungen, die zugunsten der Gesetzgebungskompetenz der Lander und hinsichtlich des Neugliederungsverfahrens erreicht worden sind. Sicher sind sie nicht spektakulärer Natur -
Herr Kollege Dr. Vogel, der Kollege Dr. Seifert würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Aber gern.
Herr Kollege Vogel, da Sie hier so ausdrücklich und so positiv die Nachteilsausgleichsmöglichkeit für bestehende Nachteile von Frauen erwähnen: Wie stehen Sie denn persönlich dazu, daß in die Verfassung eigentlich aufgenommen werden müßte, daß auch bestehende Nachteile für Menschen mit Behinderungen, verfassungsrechtlich geschützt, ausgeglichen werden müßten?
Herr Kollege Seifert, darf ich Ihnen die Lektüre unseres Gesetzentwurfes empfehlen. Sie finden dort schon auf den ersten Seiten einen konkreten Vorschlag, den ich Ihnen noch näher erläutern werde.
({0})
Sicher, so sagte ich, sind die Verbesserungen zugunsten der Gesetzgebungskompetenz der Länder nicht spektakulärer Natur, aber sie korrigieren erstmals den jahrzehntelangen Trend zur immer stärkeren Konzentration der Rechtsetzungsbefugnisse auf der Bundesebene. Das beweist, daß die Lebenskraft des Föderalismus keineswegs erschöpft ist.
Sorgen sind in diesem Zusammenhang darüber geäußert worden, ob durch die Neuregelung die
Einheitlichkeit der beruflichen Bildung gefährdet werde. Diese Sorge kann jedoch ausgeräumt werden. Keine Seite leitet aus der Neufassung des Art. 72 eine Einschränkung der Bundeszuständigkeit auf diesem Gebiet ab. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen hat das kürzlich noch einmal in einem Schreiben ausdrücklich betont.
Bedeutsam erscheint außerdem die Klarstellung, daß die Selbstverwaltungsgarantie künftig auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung umfaßt.
So erfreulich diese Ergebnisse auch sind - hinter dem, was nach unserer Meinung jetzt zur Erneuerung des Grundgesetzes notwendig ist, bleiben sie deutlich zurück. Insbesondere lassen sie die Chance ungenutzt, verfassungspolitische Impulse aus den neuen Bundesländern aufzugreifen und zu realisieren.
Dies gilt vor allem für die Einführung der unmittelbaren Bürgerbeteiligung und die Aufnahme weiterer konkreter Staatsziele. Alle neuen Bundesländer haben die unmittelbare Bürgerbeteiligung, also Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid, in ihre Verfassungen aufgenommen. Sechs der elf alten Bundesländer kennen diese Institute schon lange, teilweise seit Jahrzehnten. Weitere drei, nämlich das Saarland, Schleswig-Holstein und Niedersachsen, haben diese Institute in den letzten Jahren, vor allem auf Betreiben der Opposition-und das ist ja in allen drei Ländern die Union -, eingeführt. Auch die meisten europäischen Staaten praktizieren diese Art von Bürgerbeteiligung, zumindest in wichtigen Fragen.
Mir ist unbegreiflich, meine Damen und Herren von der Union, warum Sie sich weigern, die hier brachliegenden Reserven an Mitwirkungsbereitschaft und Engagement in Anspruch zu nehmen und zu mobilisieren.
({1})
Hier liegt doch eine Möglichkeit, dem um sich greifenden Ohnmachtsgefühl der Bürgerinnen und Bürger entgegenzuwirken. Warum wollen Sie diese Möglichkeit ungenutzt lassen? Was Sie bisher vorgebracht haben, läuft im Ergebnis darauf hinaus, daß Sie unserem Volk eine vernünftige Handhabung dieser Möglichkeiten nicht zutrauen.
({2})
Anders ist das nicht zu erklären. Und ich kann nicht erkennen, warum Sie eigentlich unser Volk für weniger reif halten als Nachbarvölker wie Frankreich, Spanien und die meisten nordischen Länder.
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Dazu noch eine aktuelle Bemerkung. Wir alle beklagen, daß sich zwischen dem öffentlichen Bewußtsein und dem europäischen Einigungsprozeß eine Kluft aufgetan hat. Ich bin sicher: Diese Kluft wäre weniger tief, wenn unser Volk - so wie beispielsweise die Franzosen - über die Europäische Union in einem Referendum hätte entscheiden kön18094
nen. Dabei wäre mir nicht bange gewesen, daß am Ende einer intensiven, ja leidenschaftlichen Diskussion auch bei uns ein mehrheitliches Ja zustande gekommen wäre, aber dann eben erst nach einer solchen Diskussion und als eigene Entscheidung
({4})
und nicht als ein Vorgang, den viele - und die Kritik geht ja fast in alle Richtungen - als eine Entscheidung über ihre Köpfe hinweg empfunden haben mit der Folge, daß sich die Kluft, von der ich sprach, eher erweitert hat und daß sich an dieser Kluft Leute zu schaffen machen, die es mit Europa weiß Gott nicht gut meinen - und mit uns auch nicht.
({5})
Ähnliches gilt für die Aufnahme der Verpflichtung des Staates, sich für die Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse, also für einen hohen Beschäftigungsstand, für eine angemessene Versorgung mit menschenwürdigem Wohnraum und den Schutz des Wohnrechts von Mietern, für soziale Sicherheit sowie für den Schutz und die Förderung des Zugangs zur Bildung und zum kulturellen Leben, einzusetzen. Diese vier Ziele würden anschaulich machen, wozu der Staat da ist. Sie würden ins Bewußtsein heben, daß es sich bei der Befriedigung dieser Grundbedürfnisse nicht um automatisch eintretende Ergebnisse des freien Spiels der Kräfte handelt, sondern daß die Erfüllung durch politische Rahmensetzungen und Entscheidungen immer aufs neue gesichert werden muß. Haben Sie dagegen wirklich etwas einzuwenden?
Sogar der Präsident des Bundesverfassungsgerichts sagt: Gerade weil das Grundgesetz die Organisation des Staates bis ins Detail regelt, wäre es gut, wenn auch gesagt würde - und zwar in einer anschaulichen Form -, warum und wofür dieses Staatswesen eigentlich da ist. - Das hat nichts mit einklagbarem Recht zu tun; aber das heißt, daß die Verfassung die fundamentalen Lebensbedürfnisse in ihrem Text anspricht und zur Zielsetzung der Politik macht.
({6})
- Dann setzen Sie sich mit Herrn Herzog auseinander!
({7})
Und wiederum: Alle neuen Bundesländer haben diese vier Staatsziele in ihren neuen Verfassungen verankert. Warum geben Sie denen, die diese neuen Verfassungen geschaffen haben, eigentlich zu verstehen, daß Sie das für eine Art Überschwang Unerfahrener halten, die sich noch nicht so gut auskennen? Vielleicht ist es ja auch umgekehrt. Vielleicht sind die Verfassungsgeber in den neuen Bundesländern die Erfahreneren, weil sie inzwischen noch besser wissen, was beispielsweise Arbeit, Wohnung und soziale Sicherheit für den einzelnen und für die Gemeinschaft bedeuten.
({8})
Ihr Nein kann für das Zusammenwachsen jedenfalls nicht förderlich sein. Wer argumentiert - das haben wir in der Kommission gehört -, in den Länderverfassungen schade derartiges nicht, weil die Länder auf diesem Gebiet ohnehin kaum Zuständigkeiten besäßen und auch dem sogenannten „Ernstfallrisiko" nicht ausgesetzt seien, der erscheint mir als ein verkappter Zentralist und streift schon die Grenze zum Verfassungszynismus, wenn es den geben sollte.
({9})
Was unsere weiteren Vorschläge auf diesem Gebiet angeht, muß ich ebenfalls einige Fragen an Sie richten.
Da geht es zunächst um die Präambel. Hier sind die meisten Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion mit der großen Mehrheit der Verfassungskommission darin einig, daß es bei der Wendung bleiben soll, wonach sich das deutsche Volk seine Verfassung auch in „Verantwortung vor Gott" gegeben hat. Diese Formulierung ist 1949 in das Grundgesetz aufgenommen worden, weil die Väter und Mütter des Grundgesetzes, zu denen nicht nur Christen, sondern auch ausgesprochene Atheisten gehörten, unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrer Verbrechen eindringlich daran erinnern wollten, daß der Mensch nicht allmächtig und nicht die letzte Instanz ist, daß ihm Schranken gesetzt sind, die in der Zeit zwischen 1933 und 1945 in schrecklicher Weise durchbrochen wurden.
({10})
Eine solche Selbsterinnerung an die Grenzen menschlichen Tuns und an die Fehlbarkeit von Menschen steht uns auch im Jahre 1994 gut an. Sie jetzt zu tilgen würde auch das Mißverständnis befördern, wir bedürften einer solchen Mahnung nicht mehr, wir seien gegen solche Entwicklungen ein für allemal gefeit. Das sind wir nicht!
({11})
- Es gab doch Anträge, Herr Hirsch, in der Gemeinsamen Verfassungskommission.
({12})
- Entschuldigung, ich bitte um Nachsicht. Es gab Anträge, insbesondere auch von einem Mann, den ich persönlich hoch schätze, der ordinierter Geistlicher seiner Kirche ist. Damit muß man sich doch ernsthaft auseinandersetzen; darüber kann man doch nicht einfach hinweggehen.
({13})
Herr Kollege Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Aber gern.
Herr Kollege Vogel, stimmen Sie zu, daß die Erhaltung der Wendung „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den
Menschen", was die Fraktionen dieses Hauses angeht, nur in Teilen Ihrer Fraktion umstritten war?
({0})
Herr Kollege Hirsch, ich befleißige mich im allgemeinen einer sehr präzisen Ausdrucksweise. Ich habe gesagt: Der Standpunkt, den ich vortrage, ist der Standpunkt der großen Mehrheit der Verfassungskommission und auch der großen Mehrheit meiner eigenen Fraktion. - Daraus ergibt sich, daß es - von mir respektiert, aber nicht geteilt - auch einige gegenteilige Stimmen gibt, die sich der Meinung des Herrn Ullmann angeschlossen haben.
({0})
- Der Zuruf „ Schulmeister!" galt ausnahmsweise nicht mir, oder?
({1})
Aber nun zu den Fragen: Wir wollen in der Präambel das Ziel verankern, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden. Was stört Sie daran eigentlich? Das wäre doch noch einmal eine Chance - Herr Genscher hat sie auch ganz besonders betont -, auf die Deutschen in den neuen Bundesländern zuzugehen und ihnen zu zeigen, wie ernst wir gerade diese Aufgabe nehmen. Warum nutzen wir eigentlich nicht gemeinsam diese Chance? Wollen Sie nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre wirklich an dem Einwand festhalten, diese Aufgabe sei schon sehr bald erledigt und gehöre deshalb nicht in die Verfassung? Das kann doch nicht ernsthaft gemeint sein.
Mit dem Wegfall der jahrzehntelangen Souveränitätsbeschränkung ist die Rolle des staatlich geeinten Deutschlands in der Welt neu zu bestimmen. Dies kann seinen verfassungsrechtlichen Niederschlag doch nicht allein in der - heute nicht zu diskutierenden - Entscheidung darüber finden, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Auftrag künftig die Bundeswehr außerhalb von Bündnisverpflichtungen eingesetzt werden kann. Wir sehen da andere Prioritäten.
Deshalb wollen wir in der Präambel den Willen unseres Volkes bekunden, der Gerechtigkeit und der Solidarität in der einen Welt zu dienen. Das ist ein Begriff, der aus dem konziliaren Prozeß hervorgegangen ist. Einer Ihrer Sprecher - er ist anwesend und gerade am Telefon - hat in der Kommission den Begriff der „einen Welt" für typisch kommunistisch erklärt. Das war wohl eine Einzelmeinung.
({2})
Aber warum sind Sie eigentlich dagegen? Im Entwurf Ihres neuen Grundsatzprogramms verwenden Sie auf diesen Begriff und seine Erläuterung 15 Zeilen. Warum sträuben Sie sich dann dagegen, die von uns vorgeschlagenen, mit Ihrem Grundsatzprogramm
übereinstimmenden 15 Worte in die Präambel aufzunehmen?
({3})
Daß es sich um eine zentrale Aussage darüber handelt, wie die Bundesrepublik ihre Rolle in der Welt versteht, ist doch gar nicht zu bestreiten.
Ein weiteres Kapitel ist die Konkretisierung der Friedensstaatlichkeit der Bundesrepublik. Wir wollen das Verbot von Massenvernichtungswaffen, also von Atomwaffen, biologischen Waffen und chemischen Waffen, in der Verfassung festschreiben, weil es bisher nur in Verträgen normiert ist. Aber Verträge können auslaufen - etwa der Nichtweiterverbreitungsvertrag steht jetzt vor einer Klippe, was seine Verlängerung angeht - oder ihre Verbindlichkeit verlieren. Warum sagen wir dann eigentlich nicht in der Verfassung klipp und klar, daß die Bundesrepublik solche Waffen nicht herstellen, nicht besitzen und als Bundesrepublik auch nicht anwenden will? Ich kann nicht verstehen, warum das Schwierigkeiten macht.
({4})
Wir wissen heute besser als vor einigen Jahren, daß Rüstungsexporte eine wichtige Ursache für Spannungen und blutige Konflikte vor allem in der Dritten Welt darstellen. UNO-Truppen haben es in der Regel mit der Bedrohung durch Waffen zu tun, die vorher - insbesondere aus europäischen Staaten - dorthin exportiert worden sind. Deshalb fordern wir, die Beschränkung der Rüstungsexporte in die Verfassung aufzunehmen. Das wäre ein weltweites Signal, das gerade uns in Anbetracht der Geschichte gut anstünde.
({5})
Schwer begreiflich ist weiter, warum Sie der Gewährung des kommunalen Wahlrechts an Nicht-EG-Ausländer widersprechen. Dies wäre ein substantieller Schritt zur Integration von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die überwiegend seit langem in unserer Mitte leben und die gleichen Pflichten erfüllen wie wir
({6})
oder die EG-Ausländer.
({7})
Ich lade Sie in meinen Wahlkreis in Neukölln ein, und dann werde ich gern zuhören, wie Sie einem Türken erklären - und dort leben 30 000! -, daß ein Ire oder Portugiese nach kurzer Zeit einen Stadtrat oder einen Gemeinderat wählen kann, er aber nicht, obwohl er hier geboren ist und schon 30 Jahre bei uns lebt.
({8})
Der Hinweis auf die Einbürgerungsmöglichkeit verfängt jedenfalls so lange nicht, wie grundsätzlich am Verbot der Doppelstaatsangehörigkeit festgehalten wird.
({9})
Außerdem, Herr Zwischenrufer, verlangen Sie doch von Portugiesen, Iren oder Griechen die Einbürgerung auch nicht als Voraussetzung für das kommunale Wahlrecht.
({10})
- Ich weiß nicht, ob Sie schlecht geschlafen haben. Ich kenne Sie eigentlich viel liebenswürdiger, und ich kenne Sie auch viel näher bei der Sache. Die Türkei will ja in die Europäische Union. Wollen Sie daraus ableiten, daß man die Türkei jetzt rasch in die Europäische Union aufnehmen muß, damit hier lebende Türken dasselbe Recht haben wie andere EG-Ausländer? Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst!
({11})
Herr Kollege Vogel, der Herr Kollege Irmer würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Aber gerne.
Vielen Dank. - Herr Kollege Vogel, in aller Liebenswürdigkeit möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht auch erkennen, daß es einen Unterschied macht, ob jemand, ein Ausländer, Bürger der Europäischen Union ist oder ob er einem Land angehört, das nicht der Europäischen Union angehört. Würden Sie mir nicht zustimmen, daß dadurch, daß die Unionsbürgerschaft im Maastricht-Vertrag verankert worden ist, hier eine neue Rechtskategorie entstanden ist, die auch für uns verbindlich ist; ganz unabhängig von der Frage, welche Länder Interesse haben, der Europäischen Union eines Tages beizutreten, und bei welchen sich dieser Wunsch wird verwirklichen lassen?
({0})
Herr Irmer, herzlichen Dank.
Erstens. Zur rechtlichen Seite würde ich sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Maastricht-Entscheidung - ich sage: leider - die Bedeutung der europäischen Bürgerschaft, des europäischen Bürgerrechts relativiert. Es auf eine Ebene mit der Staatsangehörigkeit zu heben ist dadurch unmöglich geworden.
Zweitens. Ich gebe zu: Ich sehe es weniger, gerade als Jurist, von der juristischen Seite. Ich sehe es von der Seite der Menschen, von der Seite der 30 000
Türken, die in meinem Wahlkreis leben. Von der Seite sehe ich es.
({0})
Ein sensibler Punkt bleibt ferner, was in unserer Verfassung über das Verhältnis zu den in unserer Mitte lebenden Minderheiten ausgesagt werden soll. Daß der Staat die Identität ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten achten soll, hat als Staatsziel - auch aus Ihrem Bereich - die Zustimmung so vieler Kolleginnen und Kollegen gefunden, daß die Zweidrittelmehrheit erreicht wurde. Ob dies allerdings für die besonderen Probleme der Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit ausreicht und ob hier nicht über die Achtung hinausgehende Schutz- und Förderungsmaßnahmen notwendig erscheinen, sollte in den Ausschußberatungen noch einmal erörtert werden. Vielleicht könnten so auch die von einzelnen von Ihnen neuerdings geäußerten Bedenken entkräftet werden, weil noch deutlicher würde, was gemeint und was nicht gemeint ist.
Zu einem weiteren Punkt, nämlich der Verankerung der Begriffe „Mitmenschlichkeit" und „Gemeinsinn" in der Verfassung, die ein interfraktioneller Gruppenantrag fordert, werden sich Kollege Elmer und auch Kollegin Rahardt-Vahldieck sicher noch gesondert äußern. Ich unterstütze dieses Begehren, und ich halte es für ein Stück sehr erfreulichen Parlamentarismus, wie durch Beharrlichkeit die Zahl derer, die dieses Anliegen unterstützen, immer breiter geworden ist. Es ist erfreulich, daß das interfraktionell noch möglich ist.
({1})
Bleibt in diesem Bereich der Vorschlag, den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu ergänzen. Ich meine unsere Forderung, einen Satz aus der brandenburgischen Verfassung zu übernehmen, nämlich den Satz „Tiere werden als Lebewesen geachtet". Das würde nicht dem Tierschutz im Detail Verfassungsrang verleihen, aber es würde den Rang des Tieres als eines Mitgeschöpfes deutlich machen und künftig eine Abwägung zwischen der Achtung des Tieres als Lebewesen und anderen Verfassungsgütern erfordern und erst möglich machen. Ich bitte Sie noch einmal, zu erwägen, ob eine solche Regelung nicht die Grenzen, die menschlichem Tun gesetzt sind, deutlicher und damit unsere gesellschaftliche Realität wieder ein Stück menschlicher machen würde.
({2})
Ein weiteres Feld ist der Grundrechtsbereich und unser Zusammenleben in Familie und Gesellschaft. Auch hier hat sich in den letzten Jahrzehnten ein vertieftes Verständnis entwickelt, und auch hier gibt es Impulse aus den neuen Bundesländern, die wir aufgreifen sollten.
Ein solcher Impuls ist die ausdrückliche Bekräftigung des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundrechts auf Privatheit und Datenschutz oder auf - in der Fachsprache - informationelle Selbstbestimmung. Alle neuen Bundesländer haben
dieses Recht unter dem Eindruck des menschenverachtenden Umgangs der sogenannten Staatssicherheit, selbst mit intimsten Details aus der Privatsphäre, ausdrücklich in ihre Verfassungen aufgenommen. Warum weigern Sie sich denn, das auch auf Bundesebene zu tun? Wäre es nicht ein Zeichen des Aufeinander-Zugehen-Wollens, wenn unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern wenigstens diese Antwort auf ein besonders bedrükkendes Kapitel ihrer eigenen Geschichte künftig auch in der gemeinsamen Verfassung fänden?
({3})
Ganz frei - ohne jede Vergleichung - von Mißbrauchsgefahr sind wir j a nun in den alten Bundesländern auch nicht gewesen.
({4})
Im familiären Bereich haben wir - und auch dafür gibt es Vorbilder in den Verfassungen der neuen Bundesländer - vorgeschlagen, der Tatsache Beachtung zu schenken, daß es in der Bundesrepublik millionenfach auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften gibt, die ohne standesamtliche Beurkundung familiäre Funktionen des Füreinander-Einstehens und des Füreinander-Sorgens, insbesondere auch für Kinder, erfüllen. Der Staat darf unseres Erachtens diese Gemeinschaften gerade auch um der Kinder willen, die in solchen Gemeinschaften leben, nicht länger mit Schweigen übergehen. Zu Recht hat auch das Bundesverfassungsgericht bereits gerügt, daß der Staat - also wir - bislang diese Gemeinschaften der Ehe gleichstellt, wo ihm das finanziell vorteilhaft erscheint, die so Verbundenen aber als alleinstehende Einzelpersonen behandelt, wo ihm dies Geld einbringt oder erspart.
Frau Kollegin Mascher wird sich dazu im einzelnen äußern. Sie wird dabei auch unsere Vorschläge zur Verbesserung der Rechtsstellung und der Förderung der Kinder und zur Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf erläutern. In diesem Punkt haben wir übrigens einen Gedanken aufgegriffen, dem das Karlsruher Gericht in seinem jüngsten Urteil über den Schutz des vorgeburtlichen Lebens besondere Bedeutung beimißt, nämlich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß wenigstens in dieser Frage Ihre bisherige Ablehnung nicht das letzte Wort ist.
({5})
Diese Hoffnung hege ich noch für zwei weitere Vorschläge, bei denen es um ausdrückliche Diskriminierungsverbote geht, einmal um das Verbot, Menschen wegen ihrer sexuellen Identität zu diskriminieren. Die Vorurteile auf diesem Gebiet haben tiefe Wurzeln. Noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts haben diese Vorurteile zu schrecklichen Exzessen geführt, an denen Zehntausende in schrecklicher Weise zugrundegegangen sind. Erst Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war der Bewußtseinswandel soweit fortgeschritten, daß die zentrale Strafbestimmung aufgehoben wurde. Ich frage: Ist es nicht hoch an der Zeit, diesen Wandlungsprozeß hin zu mehr Toleranz und zu Offenheit - ich erinnere auch an die Diskussion gerade in der evangelischen Kirche, in den Synoden - durch eine Verfassungsnorm ein Stück weiter voranzubringen?
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Zum anderen - und jetzt erbitte ich die spezielle Aufmerksamkeit des Herrn Kollegen Seifert - meine ich das Diskriminierungsverbot für Behinderte. Es ist nach unserer Auffassung angesichts der fortdauernden Benachteilung der Behinderten unabweisbar. Sie selbst denken doch daran, ein solches Verbot in einem einfachen Gesetz zu normieren. Das reicht aber nicht aus. Die grundsätzliche Entscheidung, daß Behinderte nicht schlechtergestellt werden dürfen als Nichtbehinderte, muß nach unserer Meinung in der Verfassung selbst getroffen werden,
({7})
und zwar schon wegen der Ausstrahlungswirkung, die von einer solchen prinzipiellen Wertentscheidung in alle Rechtsbereiche und auch das gesellschaftliche Umfeld ausgehen würde.
Und wieder muß ich Sie fragen, warum Sie einer solchen Norm in den Verfassungen der neuen Bundesländer überall teils zugestimmt, sie teils gefordert haben, sie auf Bundesebene aber ablehnen. Sie können doch nicht im Ernst behaupten, daß die Sorge für die Behinderten nur Landesangelegenheit, nicht aber eine Bundesangelegenheit sei.
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Ich habe eingangs dargetan, daß sich in den zwischen uns streitigen Fragen - und das ist ja keine völlig neue Erkenntnis - die konservativen Kräfte, die eher verharren wollen, und die reformerischen Kräfte der Erneuerung gegenüberstehen. So sieht das auch ein Mann aus Ihren Reihen, ein Mann der zehn Jahre lang Hauptabteilungsleiter im Konrad-Adenauer-Haus war und später einige Zeit bei Herrn Ministerpräsident Teufel in Stuttgart die Grundsatzabteilung des baden-württembergischen Staatsministeriums leitete. Er - es handelt sich um Herrn Dr. Dettling - schrieb vor vier Wochen in der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament" u. a. - und er muß ja die Sachlage einigermaßen beurteilen können -:
Die CDU hat sich immer weiter aus der Gesellschaft entfernt . . .
Ausgerechnet in einer Zeit, in der die traditionellen Milieus immer mehr abschmelzen, hat sie sich wie verzweifelt an deren letzten Reste geklammert. Selten zuvor, schon gar nicht in ihrer Erfolgsgeschichte, hat sich die CDU eine derartige Binnenorientierung geleistet - und die Gesellschaft darüber hinaus aus dem Blickfeld verloren. Wer in sich wandelnden Zeiten trotzig den gesellschaftlichen Status quo ante verteidigt,
der ist längst auf der Flucht aus der gesellschaftlichen Mitte.
({9})
- Sie lesen uns dann ein Zitat von eigenen Leuten in umgekehrter Richtung vor.
({10})
- Aber ich bitte Sie, ich weiß doch, mit welch anspruchslosen Bemerkungen ich Sie erheitern kann.
({11})
Und weiter schreibt Herr Dettling - er war zehn Jahre als Hauptabteilungsleiter tätig -:
Die CDU hat die Fähigkeit verloren, sich ebenso selbstbewußt wie wertengagiert auf neue Fragen und Entwicklungen einzulassen; verloren hat sie ihr Urvertrauen in die eigene Sache wie in die Gesellschaft. Die politische und soziale Umwelt wird von ihr nicht mehr als Raum und Aufgabe erlebt, die es zu gestalten gilt, sondern eher als Hinterhalt, aus dem allerlei Gefahren drohen, gegen die man sich möglichst geschlossen und entschlossen zur Wehr setzen muß. Die CDU ist mißtrauisch und sie ist autistisch geworden. Unfähig, sich kommunikativ und konstruktiv auf Kritik und andere Meinungen einzulassen, kann sie auch nicht in einer solchen Auseinandersetzung wachsen.
Verehrte Anwesende, eindringlicher könnte ich es auch nicht sagen.
({12})
Außerdem - damit komme ich zum Schluß -: in der bisherigen Verfassungsdiskussion haben sich alle Beteiligten immer wieder auf die Väter und Mütter des Grundgesetzes berufen - übereinstimmend. Das ist gut so. Aber niemand sollte vergessen, daß das Grundgesetz nicht nur das Ergebnis einer klaren Absage an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, sondern auch das Ergebnis bewußter und einschneidender verfassungspolitischer Reformen im Vergleich zur deutschen Verfassungsentwicklung vor 1933 war. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren keine ängstlichen Verteidiger des Status quo ante der Weimarer Zeit oder noch weiter zurück, sondern sie waren entschiedene und mutige Reformer, und zwar durch alle Fraktionen hindurch. Gerade darauf beruht nämlich auch der Erfolg des Grundgesetzes.
({13})
Ich bin sicher, die Väter und Mütter des Grundgesetzes stünden auch heute nicht an der Seite der Ängstlichen, sondern an der Seite derer, die mit Augenmaß erneuern und gerade dadurch das Bewahrenswerte sichern wollen. Wir sollten ihrem Beispiel folgen.
({14})
Herr Kollege Detlef Kleinert, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die deutsche Einigung, an die niemand mehr glauben wollte, war eine sehr große Sache.
({0})
Die deutsche Einigung hat uns unter anderem auch aufgegeben: Es waren nicht alle, die sich an dieser Stelle heiter zeigen, vom ersten Augenblick so davon überzeugt. Das war mein Gefühl.
({1})
Sie hat uns unter anderem aufgegeben, das an unserem Grundgesetz zu tun, was im Hinblick auf die deutsche Einigung notwendig ist. Dieser Aufgabe hat sich die Verfassungskommission mit Mühe, mit beachtlichen Beiträgen von allen Seiten unterzogen, und sie ist zu dem Ergebnis gekommen, daß sehr viel nicht bewegt werden soll. Das ist die Überzeugung, die ich hier vertrete.
({2})
Das bedeutet überhaupt nicht, lieber Herr Kollege Dr. Vogel, daß man in einer ganz neuen Einteilung der Welt sagen kann: Die einen sind die Konservativen - Konservative sind sowieso nicht geneigt, etwas zu ändern -, und wir sind die Fortschrittlichen, Aufgeschlossenen, Zukunftszugewandten, und deshalb werden wir hier noch einige Artikel zusätzlich applizieren, woran uns andere leider gehindert haben.
Gut 200 Jahre besteht jetzt die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die, wenn ich es richtig sehe, erste wirklich moderne aus dem Volkswillen, aus dem Willen zur Unabhängigkeit und zur persönlichen Freiheit geborene Verfassung. An dieser Verfassung ist in ihrem Grundsatz, in ihrem Aufbau in diesen 200 Jahren nichts geändert worden, sondern man hat sich allmählich durch Amendments, durch Zusätze, weiterentwickelt.
Wir haben später angefangen, aber nicht so spät, als daß von 1949 bis 1993 ein so enormer Nachholbedarf an Handeln im Zusammenhang mit Verfassungssätzen entstanden wäre. Die Paulskirchenversammlung war eine Versammlung von Menschen, die einen wirklichen Umbruch wollten in einer Welt des Absolutismus, in einer Welt, die dem Bürger kaum Freiheiten gelassen hat. Sie hat einen grundsätzlich neuen Anfang gemacht. Diese Paulskirchenversammlung ist gestaltet worden - damit wir von dieser Idee: einerseits konservativ, anderseits sozialdemokratisch, letzteres obendrein auch noch gleich Fortschritt, wegkommen - von liberalen Menschen. Ich behaupte überhaupt nicht, daß der Liberalismus ausgerechnet in der F.D.P. monopolisiert ist. Ich sehe auf allen Seiten dieses Hauses liberale Menschen, die in der Tradition
Detlef Kleinert ({3})
der Pauslkirchenversammlung stehen. Diese sollten allerdings geschichtlich etwas tiefer und etwas weiter denken, als zu glauben, der von den Menschen in der DDR gewollte Beitritt zu unserer Republik und zu unserem Grundgesetz sei der Grund, eine neue Verfassung zu gestalten.
Die Geschichte unserer Verfassung von der Paulskirche über Weimar mit den zusätzlichen starken sozialen Komponenten gegenüber der ersten bürgerlichen Befreiung in der Paulskirche und dann über das Grundgesetz bis zum heutigen Tage ist soviel bedeutender und soviel schwerwiegender, daß man nicht verstehen kann, warum nun das Grundgesetz, das am Ende dieser sich über eine verhältnismäßig kurze Zeit erstreckenden Reihe steht, aus einem wenn auch noch so bedeutenden Anlaß wie der deutschen Einigung auf einmal völlig überholt, geändert und in einigen Grundsätzen verändert werden müßte.
Es wäre urweise, es wäre respektlos gegenüber unserer Geschichte, wenn wir aus diesem Anlaß solche Folgerungen zögen
({4})
und uns den Leistungen unserer Verfassungsväter von der Paulskirche über Weimar und das Grundgesetz entziehen wollten, uns davon abwenden wollten. Ich glaube, in diesen Zusammenhang muß man die Bemühungen der Verfassungskommission, die aufmerksame und aufgeschlossene Prüfung, bei der allerdings nur weniges einer Zweidrittelmehrheit für fähig befunden worden ist, um heute hier eingebracht zu werden, einordnen. Das ist unser wesentlicher Punkt.
Wir wissen, wer in der Paulskirche gewesen ist, welche bedeutenden Menschen sich dort bemüht haben. Wir wissen auch, was von wem von allen Seiten des Hauses an der Weimarer Verfassung in einer sehr schweren Stunde, in der das Deutsche Reich im Bolschewismus sehr gut hätte untergehen können, aber gerettet worden ist, nicht zuletzt durch Sozialdemokraten - damit ich das auch deutlich genug sage! -, geleistet worden ist.
Wir wissen, daß sich nach der größten Niederlage und - was schwerer wiegt - nach der größten Schande unserer Geschichte, nach dem Zusammenbruch des sogenannten Dritten Reiches die Väter und Mütter des Grundgesetzes in einer Weise herausgefordert fühlten, das Schicksal unserer Nation neu zu gestalten, die unserer Zeit trotz des großen Ereignisses der Wiedervereinigung nicht gegeben ist. Wer sich damals im Parlamentarischen Rat und später im ersten Deutschen Bundestag versammelt hat, der hat auf alle kleinlichen Karriereüberlegungen verzichtet; der hatte nur ein Ziel: sich nach der Schande, die über unser Vaterland gekommen ist, am Aufbau und an der Wiedererrichtung eines Staatswesens zu beteiligen, auf das wir alle stolz sein können. Das ist die große Leistung bei der Schaffung des Grundgesetzes gewesen.
({5})
Das sind Frauen und Männer gewesen, mit denen ich mich jedenfalls nicht so ohne weiteres vom Ausgangspunkt, vom persönlichen Schicksal und von der persönlichen Entwicklung her vergleichen möchte.
Weil das so war, ist es nicht konservatives Beharrungsvermögen und Einfallslosigkeit, sondern Respekt vor der Einbettung unserer Verfassung in eine lange geschichtliche Tradition bürgerlicher, liberaler und auch sozialdemokratischer Bestrebungen, die uns dazu bringt, mit diesem Grundgesetz sehr behutsam umzugehen.
({6})
Das ist das, was wir versucht haben. Das ist unser Ziel gewesen, und dazu stehen wir.
Bei den grundsätzlichen Fragen, bei dem, was man deshalb dann auch die Grundrechte oder - der Streit über den wirklichen Unterschied zwischen den Worten ist ja nach wie vor sehr lebendig - Staatsziele nennt, gibt es Auseinandersetzungen, die hier wohl am schwersten wiegen. Über viele fachlich wichtige Fragen unseres Staatsaufbaus - auf Einzelheiten werde ich vielleicht noch kurz zu sprechen kommen-haben wir uns ja verständigt, aber in der Frage der Grundrechte und der Staatsziele sind wir auseinander. Das wollen wir hier auch nicht irgendwie vertuschen. Wir sind nun einmal der Meinung, daß das, was in historisch noch bedeutsameren Zeiten als unserer Zeit entstanden ist, was errungen worden ist, Bestand haben sollte und daß wir gerade im Bereich der Grundrechte nicht darüber hinausgehen sollten.
({7})
Das hat in der heutigen Zeit, meine sehr verehrten Damen und Herren, leider eine schlicht praktische und aktuelle Komponente. Herr Schmude war so liebenswürdig, mir einen Artikel zu schreiben zu dem Thema -
Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmude?
Ich habe Sie, sehr geehrter Herr Kollege Schmude, gerade erwähnt und wollte Sie zitieren. Das ist ein sehr ungeschickter Augenblick, sich sozusagen selbst zu unterbrechen.
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Darin stimme ich Ihnen zu und würde gern erst das Zitat abwarten - Herr Präsident, wenn Sie einverstanden sind -, bevor ich meine Frage stelle.
Herr Schmude, ich wollte die Überschrift, die Sie gewählt haben, zitieren. - Herr Schmude hat geschrieben „Keine Angst vor Roben" und hat unter dieser einleuchtenden Überschrift seine Erwägungen dazu dargestellt, warum die Rechtsfortbildung durch Richter nicht etwas Furchterregendes und unser System Verwirrendes sein muß, sondern etwas sehr Nützliches und Weiterführendes sein kann - eine Ansicht, die ich nicht unbedingt teile.
Wenn das schon so ist, Herr Kleinert: Sind Sie dann nicht doch der Ansicht, daß Sie es sich mit Ihrem Lobpreis für die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei gleichzeitiger Absage an Fortschreibung bestimmter Grundregeln des Grundgesetzes sehr bequem machen und alle die Einsichten ignorieren, die man 1949 gar nicht haben konnte, die man aber, wenn sie vorgelegen hätten, mit Sicherheit berücksichtigt hätte?
Ich gebe Ihnen da in einem Teil recht. Aber ich beabsichtige jetzt, in der mir noch verbliebenen Zeit darzulegen, in welchem Bereich ich Ihnen nicht recht gebe.
Nachdem sich Herr Wolfgramm gestern abend veranlaßt gesehen hat, Herbert Wehner zu zitieren, möchte ich das gleiche wiederholen. Ich finde, in diesen Tagen ist es geboten, Herbert Wehner hier mit Respekt zu zitieren.
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Von ihm wollte ich in diesem Zusammenhang zitieren: „Wir sind nicht hier, um es bequem zu haben." Das nehme ich für mich allerdings auch in Anspruch. Ich könnte es bequemer haben, Herr Schmude.
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Wenn ein neues Bewußtsein der Bürger in unserem Lande für ihr Verhältnis zu unserer Umwelt entstanden ist - das ist in den letzten 40 Jahren in dramatischer Weise geschehen -, dann ist auch die Zeit gekommen, dieser Tatsache in dem einleitenden Kapitel unserer Verfassung Rechnung zu tragen und diesen neu erkannten, obwohl schon immer bestehenden Zusammenhang zwischen dem Menschen und seiner Umwelt mit an den Beginn unserer Verfassung zu setzen. Auch deshalb sind wir dafür. Daß es sich hier um eine aus lauter Angst vor Roben sehr verknautsche Formulierung handelt, will ich Herrn Vogel gern zugestehen.
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Ich hoffe, daß unsere Vereinbarung, in dem ganz normalen, wiederum unbequemen Weg der weiteren Beratung dieses Gesetzes über die Einzelheiten noch einmal zu reden, dazu führt, daß auch die Sprache etwas besser wird.
Weil ich gerade bei der Sprache bin: Es gab in dieser Woche einen immerhin ganzseitigen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland", in dem dargelegt wurde, daß die Verfassungskommission ihre Aufgabe verfehlt hätte, verfaßt von Herrn Professor Dr. Kloepfer, vorher nicht gehört.
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Die Quintessenz der Darlegungen von Herrn Professor Dr. Kloepfer lautet, man hätte bei dieser Gelegenheit kursumsteuernde Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung betreiben müssen. Wer so etwas zu Papier bringt, der soll sich nicht darüber beklagen, daß in der Verfassungskommission nur
Politiker gesessen haben. Diese Art von Sprachgelehrten hätten uns auch nicht weitergeholfen.
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Wir haben uns bemüht, das Notwendige zu tun. Die Kollegen werden im weiteren Verlauf der Debatte auf Einzelheiten zu sprechen kommen. Mir lag wie während der gesamten Beratungen der Verfassungskommission sehr daran, heute vormittag noch einmal deutlich zu machen, daß wir weder konservativ, geschweige denn sozialdemokratisch und deshalb auch nicht besonders fortschrittlich, sondern schlichtweg liberal sind, im Interesse des einzelnen, seine Freiheit zu wahren und nicht womöglich noch durch die Verfassung aus lauter Fürsorge für den armen mündigen Bürger Bestimmungen zu schaffen, die dazu führen, daß er sich nicht mehr drehen und wenden kann, ohne daß irgendeine Behörde ihn dabei beaufsichtigt. Das ist nicht unsere Vorstellung von Verfassung.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Uwe-Jens Heuer.
Herr Präsident! Liebe Verfassungsfreundinnen und Verfassungsfreunde! Die Bundesrepublik Deutschland steht - darin sind wir sicherlich einig - vor historischen Richtungsentscheidungen.
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Eine der Fragen in diesem Zusammenhang ist die nach der Grundlage der deutschen Einheit.
Wie auch immer wir die letzten Jahre bewerten: Es steht offenbar fest, daß die innere Einheit Deutschlands nicht hergestellt wurde. Immerhin 30 Mitglieder der Verfassungskommission haben am 1. Juli 1993 gefordert, die Wertung „in dem Bestreben, die innere Einheit Deutschlands zu vollenden" in die Präambel aufzunehmen. Auch die Gegner dieser Forderung gingen davon aus, daß dieses Problem erst mittelfristig zu lösen sei. Herr Scholz sprach heute von einem „vielschichtigen Prozeß der inneren Einigung Deutschlands".
Was aber soll denn nun die Grundlage dieser inneren Einheit sein? Es bieten sich nach meiner Meinung grundsätzlich zwei Wege der Neukonstituierung Deutschlands an, nämlich, kurz gesagt: der nationalistische Weg oder der Dialog um eine neue Verfassungsordnung.
Durch eine glückliche Fügung sind am 29. Januar in der „FAZ" einerseits und in der „Frankfurter Rundschau" andererseits beide Positionen deutlich gemacht worden. Heinz Budes Artikel über die Neuerfindung der Bundesrepublik stellt Gesellschaft und Nation gegenüber. Er schreibt, die bisherige Bundesrepublik sei eine offene Gesellschaft gewesen ohne großen Sinn und ohne Ernstfall. Damit wir wissen, was Ernstfall ist, definiert er als nationalen Merksatz: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein. " Soweit die nationale NeukonstituDr. Uwe-Jens Heuer
ierung à la „FAZ", der Stimme der gebildeten Rechten. In die gleiche Rubrik gehört die Wehner-BrandtDebatte, die ja von der selben Zeitung angeschoben wurde.
Was die Verfassung betrifft, so hat sich just am gleichen Günter Grass gegen den Nationalismus auf den Verfassungspatriotismus berufen. Es heißt hier, die deutschen Patrioten setzten auf Verfassung, der ganze Vormärz ging um Verfassung. Viele Staatsrechtler wie Ulrich K. Preuß oder Hans-Peter Schneider gehen gerade von der Rolle der Verfassung zur Konstituierung des Volkes aus.
Preuß schreibt:
Wir Deutschen sind dabei, uns nach innen und nach außen als politisches Gemeinwesen neu zu konstituieren, wir mögen das wahrhaben oder nicht. So sollten wir denn auch die aufgeklärte Form politischer Selbstkonstitution wählen - die der Verfassungsgebung. ({1})
Herr Scholz und Herr Vogel haben heute hier schon von Verfassungspatriotismus gesprochen. Aber welche Verfassung soll denn jetzt das Volk konstituieren? Die Ostdeutschen kannten - ich glaube, daß Sie mir da zustimmen werden -, als sie dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitraten, dieses nicht. Was sie heute kennenlernen, ist ein Zerrbild des Rechtsstaates vom Rentenstrafrecht bis zur politischen Strafverfolgung. Auch in Westdeutschland gibt es eine tiefgreifende Politikverdrossenheit, die notwendig auch das Verhältnis zum Grundgesetz in Mitleidenschaft zieht.
Eine wirkliche Verfassungsdiskussion täte not. Da reicht nicht eine Diskussion über die Empfehlungen der Verfassungskommission, in denen Grass eine Farce und eine Beleidigung des Grundgesetzes sieht. Erforderlich ist eine Diskussion - das jedenfalls war unsere Überzeugung - über eine neue Verfassung, die in einem Volksentscheid endet.
Das kann ein Weg sein, den Ostdeutschen Rechtsstaatlichkeit erfahrbar zu machen, aber auch ein Weg, das Klima in Westdeutschland zu ändern. Sie können mir eine Überschätzung der Verfassung vorwerfen; aber das ist ein Vorwurf, den ein Jurist gern auf sich nehmen sollte. Dabei geht es nicht um eine Abwertung des Grundgesetzes, aber die beste Verteidigung des Grundgesetzes ist seine Erneuerung, und der beste Verfassungsschutz ist der Verfassungspatriotismus des Volkes.
Die bisherige parlamentarische Verfassungsdebatte hat das nicht geleistet. Den wenigen Verfassungsverbesserungen kann man sicherlich zustimmen - ich möchte auch das Positive unterstreichen, was hier über das Klima in der Kommission gesagt wurde -, aber dem tatsächlichen Reformbedarf und den darüber hinausgehenden Verfassungserwartungen entsprechen sie in keiner Weise.
Wir sehen in der Weigerung, das Recht des deutschen Volkes auf Verfassungsgebung nach dem Jahrhundertereignis der staatlichen Vereinigung Deutschlands anzuerkennen, eine prinzipiell falsche und grundgesetzwidrige Weichenstellung. Herr Kleinert hat hier gesagt, es sei respektlos, wenn man das Grundgesetz ändere.
({2})
Ich darf Sie, Herr Kollege Heuer, für einen Moment unterbrechen. - Es gibt auch die Möglichkeit, erstens außerhalb ein Gespräch zu führen, zweitens sich neben seinen Gesprächspartner zu setzen.
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Das zwingt einen nicht, dem Redner den Rücken zuzukehren.
Bitte sprechen Sie weiter.
Danke schön.
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Herr Kleinert sagte hier, es sei respektlos gegenüber den - allerdings nur vier - Müttern und den Vätern des Grundgesetzes, wenn wir an ihrem Werk ernsthafte Korrekturen vornehmen. Ich meine, daß er sich irrt. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten eine andere Meinung über die Dauer des Grundgesetzes. Schauen Sie in die Protokolle des Parlamentarischen Rates oder in ihre Zusammenfassung im „Jahrbuch des öffentlichen Rechts", Neue Folge von 1951.
Dort wurden ganz unzweideutig zwei Dinge klargestellt: Die Geltungsdauer des Grundgesetzes wird an ein fest umrissenes Kriterium gebunden, nämlich an das Kriterium, „dem staatlichen Leben für eine Übergangsperiode eine neue Ordnung zu geben". Man ging ohne Frage davon aus, daß das Grundgesetz außer Kraft trete, „wenn das ganze deutsche Volk wiedervereinigt sei" ({1}). Es war unzweideutig, daß das deutsche Volk dann nach Art. 146 diese neue Verfassung durch eine „gesamtdeutsche Nationalversammlung" und in „freier Selbstbestimmung" beschließen werde.
Der selbstgesetzte Zweck der Verfassungsgebung von 1949 erledigte sich mit dem 3. Oktober 1990. Auch das Bundesverfassungsgericht sprach ganz in diesem Sinne in seiner Entscheidung vom 17. August 1956 vom „Ablauf der Geltungsdauer des Grundgesetzes nach Art. 146 Grundgesetz" ({2}).
Ein anderes Subjekt der Verfassungsgebung als 1948/49 war mit der staatlichen Vereinigung Deutschlands zur Ausübung der Pouvoir constituant berufen. Art. 146 sieht nun einmal für diesen Fall die Verfassungsgebung in freier Entscheidung durch das souveräne Volk vor.
Deswegen sehen wir in der Einsetzung der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht etwa eine halbherzige Verwirklichung, sondern eben eine Verweigerung des Respekts vor den Müttern und Vätern des Grundgesetzes. Nur die F.D.P. hat damals gegen den Art. 146 gestimmt; Sie wissen das. Die anderen Parteien waren der Meinung: Dann gibt es eine neue Aufgabenstellung, dann muß das Volk beschließen.
Ich meine, daß diese Verweigerung letztlich die Ursache ist für all die gravierenden Verfassungsprobleme, von denen wir auch nach der Verabschiedung der Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission stehen werden.
Ich zähle dazu vor allem die Kluft zwischen den Verfassungserwartungen der Bevölkerung bzw. von relevanten Gruppen von Bürgerinnen und Bürgern und den demokratischen und sozialen Defiziten unserer Verfassungsordnung.
Herr Kleinert, Sie haben gesagt, es ginge nicht um Fürsorge für die Bürger. In diesem Land haben die Bürger unterschiedliche Interessen, und nicht alle Interessen werden von Ihrer Partei vertreten. Es gibt Menschen, die brauchen Fürsorge; das ist wirklich wahr. Andere brauchen sie vielleicht nicht in diesem Maße. Aber Sie müssen die soziale Spaltung der Gesellschaft sehen. Die Verfassung muß dazu beitragen, auch diesen sozialen Spannungen Rechnung zu tragen und vor allem die unterstützen, die der Fürsorge bedürfen. Ich meine, das ist eine wichtige Fragestellung. Deswegen brauchen wir nicht weniger Sozialstaat, sondern mehr.
Ich habe mir nie Illusionen über das Gesamtunternehmen Gemeinsame Verfassungskommission gemacht. Deshalb konnte ich auch nicht enttäuscht werden, wie dies Herrn Ullmann geschehen ist. Die Gemeinsame Verfassungskommission war Ausdruck des politischen Übergewichts der konservativen Kräfte; auch ich habe keine Scheu, dieses Wort zu gebrauchen.
Wenn der Weg zu den Verfassungserwartungen der Bürgerinnen und Bürger nicht geöffnet wird, so werden die ungelösten Verfassungsprobleme uns eines Tages mehr beschäftigen, als vielen lieb und angenehm ist.
Ich möchte noch auf ein weiteres Problem unserer Debatte eingehen. Es geht um das Spiel mit verteilten Rollen, das in der Verfassungsfrage betrieben wurde. Einerseits gab es die Gemeinsame Verfassungskommission, die sich mit der Frage von Grundgesetzänderungen und -ergänzungen beschäftigte. Andererseits sind viele Gesetzesprojekte an der Verfassungskommission vorbeigegangen. Die bürgerfreundlichen Verfassungsänderungen wurden in der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Entscheidung gebracht. Alle für den Bürger bedrohlichen Verfassungsänderungen wurden einzeln in Absprachen der großen Parteien über die normalen parlamentarischen Hürden gebracht.
Ein Antrag von mir in der Gemeinsamen Verfassungskommission, über die Einengung des Asylrechts abzustimmen, wurde mit fragwürdigen Geschäftsordnungstricks verhindert. Die Legitimierung des Einsatzes der Bundeswehr im Ausland vollzieht sich außerhalb der GVK, gleichfalls die Privatisierung von Bundesbahn und Bundespost. Dasselbe wird für den großen Lauschangriff, für Fragen der Legitimierung des Einsatzes der Bundeswehr im Innern und anderes gelten.
Wir hatten damit eine recht scharf konturierte Trennung der Verfassungsdebatte. Die bürgerfreundlichen Themen wurden in der Gemeinsamen Verfassungskommission behandelt - die GVK war also gewissermaßen eine Art Mr. Jekyll -, und alle auf die Anpassung an deutsches Großmachtstreben und an das konservative Konzept vom starken, sich aus der sozialen Verantwortung zurückziehenden Staat abzielenden Projekte liefen nebenher.
Das Behutsame, was hier Herr Kleinert angesprochen hat, bezog sich auf diese Änderungen eben nicht. Die Gemeinsame Verfassungskommission war behutsam, aber viele andere Änderungen sind mit großer Schärfe vorgenommen worden. Dr. Hyde trat nur hin und wieder in Erscheinung; aber dann kam es zu raschen, weitreichenden und gefährlichen Entscheidungen.
Es entstand so immer mehr der Eindruck, daß ernsthafte Gefahren für die Verfassungsordnung gerade von Kreisen der legitimen Staatsgewalt ausgegangen sind. Auch dies ist eine Konsequenz des Fehlens einer wirklich komplexen Verfassungsdebatte.
Lassen Sie mich mit folgendem schließen: Ich war mir bewußt, daß in der DDR die Verfassungsfragen keinen hohen Rang hatten. Aber ich muß sagen: Die Tatsache, daß eine so wichtige Debatte wie diese so schwach besetzt ist, und die Tatsache, daß eine so wichtige Debatte über die Verfassung, immerhin das Grundgesetz unseres Landes, nicht durch das Fernsehen übertragen wird, zeigen nach meiner Ansicht, daß es auch hier Kräfte gibt, die diesen Fragen keine so große Bedeutung beimessen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Forderung nach gemeinsamer Selbstbestimmung aller Deutschen, nach der Einmütigkeit einer freien Entscheidung für die gemeinsame Demokratie aller Länder der Bundesrepublik Deutschland ist nicht erfüllt. Sie ist nicht erfüllt, obwohl sie seit dem 23. Mai 1949 gegolten hat und seit dem 3. Oktober 1990 zur Verwirklichung anstand.
Die Einheit Deutschlands ist nicht vollendet; denn sie ist noch immer nicht demokratisch vollzogen, wie das Grundgesetz es von Anbeginn verlangt hat und wie es gerade von der Bevölkerung der DDR seit dem 17. Juni 1953 wieder und wieder gefordert worden ist, wann immer es die Möglichkeit gab, diesen Willen zu artikulieren.
Wir haben das Grundgesetz, das seit dem 3. Oktober 1990 überall in der Bundesrepublik gilt. Ich habe mich bereits Mitte Mai 1990 in der Volkskammer der DDR dafür eingesetzt, daß dieses Grundgesetz möglichst bald in der ehemaligen DDR in Kraft gesetzt werden möge. Aber wir haben noch immer nicht die gemeinDr. Wolfgang Ullmann
same Verfassung, die dieses jetzt geltende Grundgesetz als Basis der deutschen Einheit voraussetzt.
Unsere Demokratie ist unvollendet und defizitär, nicht nur, weil wir keine Verfassung im Sinne von Art. 146 des Grundgesetzes haben. Unser Land ist auch ein Gebiet gespaltener Geltung des Grundgesetzes. Das Grundgesetz gilt in den Ländern des sogenannten Beitrittsgebietes. Aber es gilt dort mit erheblichen Modifikationen, nämlich mit denen, die in Art. 4 des Einigungsvertrages zusammengefaßt sind und die sich in erheblichen Rechtsbesonderheiten der Anhänge des Einigungsvertrages auswirken. Dazu kommen die meist völlig in den Hintergrund gedrängten Eingriffe in persönliche Rechte, die der Staatsvertrag über die Währungsunion gegenüber Bürgern und Bürgerinnen der DDR vornahm.
Die Folgen dieser Gespaltenheit unserer Verfassungssituation nehmen wir auf allen Ebenen unserer Staatsorganisation wahr. Obwohl die Volkskammer durch ihr Kommunalvermögensgesetz bemüht war, für die Kommunalautonomie als Basis unserer föderalen Demokratie eine feste wirtschaftliche Grundlage zu schaffen, wurde dies durch den Einigungsvertrag weitgehend außer Kraft gesetzt. Das damals ebenfalls angestrebte Ländervermögensgesetz im Vorfeld der Neuerrichtung der Ostländer kam gar nicht erst zustande. Die gemeinsame Verfassungskommission hat nicht einmal einen Anlauf zu der unabhängig vom Vereinigungsprozeß anstehenden Reform der Finanzverfassung unternommen.
Nicht weniger tiefgreifend sind die Auswirkungen dieser Gespaltenheit im Bereich der Persönlichkeitsund Grundrechte der Bevölkerung der ehemaligen DDR. In aller Munde ist die Art und Weise, wie die Eigentumsgarantie des Art. 14 zugunsten der Alteigentümer ausgelegt wurde und während der SED- Herrschaft entstandene Eigentumsverhältnisse unter die generelle Vermutung des unredlichen Erwerbes gestellt wurden. Erst in den letzten Etappen der Eigentums- und Entschädigungsgesetzgebung hat sich hier ein Wandel zu mehr Gerechtigkeit angebahnt.
Das Grundproblem aber bleibt. Gegen den Treuhandentwurf des Runden Tisches, der bei der fälligen Privatisierung des Volkseigentums Anteile für eben dieses Volk für den in 40 Jahren SED-Wirtschaft entzogenen Anteil am Bruttosozialprodukt vorsah, wurde diese Forderung bei der Währungsunion auf eine Kann-Bestimmung herabgestuft und ist mittlerweile durch die enormen Verluste einer Privatisierung hinter dem Rücken - oder soll ich lieber sagen: auf dem Rücken? - des Volkes vollends zunichte geworden. Wo bleibt da die Eigentumsgarantie des Art. 14?
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Ganz ähnlich ist dies in zwei anderen Fällen.
Was nach dem Ende der Naziherrschaft sorgfältig und mit gutem Grund vermieden wurde, das widerfährt zahlreichen Rentnern in der ehemaligen DDR: Ihnen werden Renten gekürzt. Nicht weil sie Menschenrechte verletzt, Rechtsbeugungen begangen oder mit dem MfS zusammengearbeitet hätten, einzig und allein weil sie bestimmte Berufe ausgeübt haben, werden sie im Rentenrecht diskriminiert und damit auch die ihnen zustehenden Eigentumsrechte verkürzt.
Auch den noch immer nicht beendeten Streit um § 218 rechne ich hierzu. Die Frauen in den Ostländern mußten es hinnehmen, daß die von ihnen seit Jahrzehnten erreichte Freiheit und Selbstbestimmung von einem herrschsüchtigen Patriarchalismus kriminalisiert wurde und sie erneut unter dem Vorwand des Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes unter eine lebens- und kinderfeindliche Kuratel gestellt wurden. Als ob nicht ein einziger Blick in die Geburtenstatistiken der DDR zeigt, daß das ungeborene Leben am wirksamsten nicht durch Memminger Prozesse, sondern durch die selbstbestimmte Verantwortung und Gewissensfreiheit der Frau geschützt wird.
({1})
Die schwerwiegendste und umfassendste Rechtsminderung für eine Bevölkerung, die erstmalig in der deutschen Geschichte aus eigener Initiative und auf friedlichem Wege eine politisch und moralisch diskreditierte Diktatur zu Fall gebracht hat, besteht aber in der Verweigerung des Gebrauches der verfassunggebenden Gewalt durch dieses Volk selbst.
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In der Gemeinsamen Verfassungskommission war es sogar möglich, diesem Volk, der Basis und dem Inhalt unserer Demokratie, die verfassunggebende Gewalt kurzerhand abzuerkennen. „Eine Volksabstimmung könne der Legitimation des Grundgesetzes ... nichts Wesentliches mehr hinzufügen." So heißt es auf Seite 111 des Kommissionsberichtes.
Was ist das für ein Demokratieverständnis, meine Damen und Herren, dem die Stimme des Volkes als etwas Unwesentliches gilt?
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Spätestens hier wird offenbar, in welchem Ausmaß das in der alten Präambel und in Art. 146 niedergelegte Demokratiebekenntnis von denjenigen verlassen worden ist, die sich aus Angst um eigene Machtpositionen so sehr der Demokratieverdrossenheit ergeben haben, daß sie bei dem Wort „Demokratie" nur die Schmähworte „Straße" und „Populismus" zu assoziieren vermögen.
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Diejenigen, die auf der Straße „Wir sind das Volk!" gerufen und sich damit allerdings als der Populus bekannt haben, müssen hierüber ganz anders denken. Sie können jetzt nur warnend ihre Stimme erheben. Wird denn von diesen Demokratieverweigerem gar nicht bemerkt, daß sie, indem sie den vom Grundgesetz geforderten, die deutsche Einheit konstituierenden Akt mit allen Mitteln zu verhindern versuchen, denjenigen die Definitionsmacht über Wesen und Inhalt unserer nationalen Einheit zuspielen, für die „Nation" nicht ein Grundwort der Demo18104
kratie ist, nämlich der Begriff für das Subjekt, von dem allein legitime Staatsgewalt ausgehen kann, sondern ein Schlagwort der gewalttätigen Abgrenzung, des blinden Willens zur undemokratisch angestrebten und antidemokratisch instrumentalisierten Macht? Wie anders läßt es sich erklären als aus einem grundsätzlichen Verkennen aller Zeichen der Zeit, wenn immer wieder die Meinung ausgesprochen wird, die Rückkehr zum autoritären Denken sei es, die - unter eifriger Beschwörung nur höchst nebulos bestimmter Werte - uns aus der offenkundigen Krise von Demokratie und Gesellschaft herausführen könne?
Meine Damen und Herren, ich will hier abbrechen und dann in der zweiten Runde auf die Einzelvorschläge eingehen, bei deren Beachtung man tatsächlich erfolgverheißende Schritte aus dieser Krise heraus tun könnte.
Danke schön.
({5})
Herr Kollege Dr. Friedrich Jahn, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn heute die verfassungsändernden Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission interfraktionell als Paket in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden, so hat dies den Zweck, die parlamentarische Beratung über alle Vorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommission zu eröffnen. Das ist gut so. Dieser Verfahrensweg bedeutet keine inhaltliche Vorabzustimmung zum Gesamtpaket der Vorschläge. Die einzelnen Vorschläge werden je für sich in den Ausschüssen und im Plenum zu beraten sein.
Die wichtigsten Änderungs- bzw. Reformempfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission betrafen den Themenkomplex Grundgesetz und Europa. Art. 23 des Grundgesetzes ist bereits geltendes Recht. Wie gut wir beraten waren, den europäischen Integrationsprozeß auf eine grundsätzlich neue verfassungsrechtliche Grundlage zu stellen - nicht zuletzt auf Vorschlag von Professor Scholz -, hat das Urteil zu Maastricht gezeigt. Wie ein roter Faden zieht sich der neue Art. 23 des Grundgesetzes durch die Urteilsbegründung.
Herr Kollege Vogel, ich gehe noch einen Schritt weiter in der Vermutung, ohne den neuen Art. 23 des Grundgesetzes wäre das Maastricht-Urteil wohl anders, und zwar zu Lasten Europas ausgefallen.
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Daß dies nicht geschehen ist, ist ein Verdienst der gemeinsamen Arbeit in der Verfassungskommission.
Ein weiterer Schwerpunkt ist die Überprüfung der Gesetzgebungskompetenzen. Herr Professor von Stetten wird sich hiermit im Laufe der Debatte beschäftigen.
Die vorgeschlagene Beschränkung im Hochschulrecht ist vielfach diskutiert worden. Es wurde immer wieder gefragt, was das im einzelnen bedeutet. Ich will die Antwort geben. Der Vorschlag, der hier auf dem Tisch liegt, würde zu folgendem Ergebnis führen: Der Bund verliert die Rahmenkompetenz zur Regelung von Struktur und Aufgaben der Hochschulen, die Kompetenz für Forschung, für Mitgliedschaft und Mitwirkung in der Hochschulselbstverwaltung, für Organisation und Verwaltung der Hochschulen und für die staatliche Anerkennung von Hochschuleinrichtungen. Die Länderforderungen gingen viel weiter. Sie wollten das Hochschulrecht vollständig in Länderkompetenz übernehmen. Die Einigung erfolgte auf der Grundlage einer bereits von der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates vorgeschlagenen Empfehlung.
Gegen die Einschränkung der Rahmenkompetenz des Bundes werden folgende Einwände erhoben - und das in letzter Zeit immer stärker -: Erstens. Die deutsche Hochschullandschaft entwickele sich auseinander. Zweitens. Die Anerkennung von Hochschulabschlüssen werde gefährdet. Drittens. Die deutschen Hochschulen verlören ihre Europafähigkeit. Viertens. Es wäre damit zu rechnen, daß die Diskussionen und Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre über die Ausgestaltung der universitären Selbstverwaltungsstrukturen erneut aufbrechen würden und Lehre und Forschung erschweren könnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, all diese Einwände müssen im anstehenden Gesetzgebungsverfahren noch einmal eingehend beraten werden. In der Bundestagsfraktion der CDU/CSU ist dieser Vorschlag der Verfassungskommission stark problematisiert worden.
Ein weiteres Kapitel sind die Neuregelungen zur Neugliederung der Lander. Künftig soll auch durch Staatsvertrag Länderneugliederung erfolgen können, allerdings immer an die Zustimmung des Bundes gebunden, wenn auch nicht in Gesetzesform, so doch aber in Form eines Parlamentsbeschlusses. Herr Staatsminister Heitmann wird näher darauf eingehen.
Eine weitere Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission betrifft die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung. Art. 28 Abs. 2 soll dahin ergänzt werden, daß die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung umfaßt, und damit soll der Aspekt der finanziellen Eigenverantwortung der Kommunen stärker als bisher im Verfassungstext zum Ausdruck kommen.
Ich komme zum Staatsziel Umweltschutz. Meine Damen und Herren, in den Beratungen bestand von Anfang an ein parteiübergreifender Konsens, daß es verfassungspolitisch wünschenswert sei, den Umweltschutz im Grundgesetz zu verankern. Reformüberlegungen dauern seit mehreren Legislaturperioden an, und es ist nunmehr gelungen, eine Formulierung zu finden, die den Umweltschutz in die Gesamtheit der verfassungsmäßigen Ordnung einbettet.
Dem Gesetzgeber ist damit verwehrt, den Umweltschutz isoliert zu interpretieren. Die Verfassung fordert den stetigen Schutz, Güter- und InteressenausDr. Friedrich-Adolf Jahn ({1})
gleich zwischen Umweltschutzinteressen einerseits und sonstigen, beispielsweise Wirtschaftsinteressen, andererseits. Verfassungspolitisch wird damit das Signal gesetzt, daß der Umweltschutz innerhalb der Verfassungsordnung keine Vorrangstellung genießt, sondern in Gleichordnung mit anderen Staatszielen steht. Ich halte dies nach reiflicher Abwägung des Pro und Kontra für einen Kompromiß, an dem wir festhalten sollten.
Ich komme zum Staatsziel Minderheitenschutz. Die Formulierung kennen Sie: „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten." Die Formulierung ist seinerzeit von der Mehrheit der CDU/CSU-Ausschußmitglieder abgelehnt worden, und zwar mit folgender Begründung: Die Verpflichtung des Staates zur Achtung der Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten würde uns bei den Integrationsbemühungen gegenüber Ausländern immer entgegengehalten.
Beispielsweise läßt sich aus der Pflicht zur Achtung der sprachlichen Identität ableiten, daß die Kinder der hier lebenden Ausländergruppen nicht mehr zum Besuch der deutschsprachigen Schule verpflichtet wären, sondern ihnen zumindest ein zweisprachiger Schulunterricht angeboten werden müßte.
({2})
Weiter wird die vorgeschlagene Formulierung als Auftrag zu voraussetzungslosen Einbürgerungen und zur generellen Gestattung von doppelter Staatsangehörigkeit verstanden. Dies, meine Damen und Herren, ist mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht zu machen.
({3})
Das Problem besteht darin, daß der Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission sich nicht auf Minderheiten mit deutscher Staatsangehörigkeit beschränkt.
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Umfaßt werden auch ausländische Minderheiten. Einen solchen Minderheitenbegriff, wie Sie von der sozialdemokratischen Fraktion ihn vertreten, lehnen wir ab. Wir müssen in den Beratungen zu einer ausgewogeneren Lösung kommen. Ein Minderheitenschutz, der sich auf die traditionell in geschlossenen Siedlungsgebieten ansässigen nationalen Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit bezieht, ist bekanntlich von der SPD in den Beratungen abgelehnt worden.
Herr Kollege Dr. Jahn, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Professor Heuer?
Selbstverständlich, wenn es auf meine Redezeit nicht angerechnet wird.
Selbstverständlich nicht, Herr Kollege.
Herr Jahn, was sagen Sie denn dazu, daß es sich hier zweifellos um die größte Minderheit handelt und daß wir uns in der Verfassungskommission - darauf ist ja aufmerksam gemacht worden - alle darüber im klaren waren, daß das Problem der Stellung dieser Minderheit, vornehmlich der jetzt schon viele Jahre hier ansässigen Türken, einer Regelung bedarf? Ich hatte den Eindruck, daß in der Verfassungskommission Konsens darüber bestand, daß gerade diese Frage einer Regelung bedarf.
({0})
Herr Professor Heuer, ich darf darauf antworten. Zunächst einmal haben wir erst aus dem Bericht der Kommission deutlich den Standpunkt der Sozialdemokraten erfahren, daß auch diejenigen, die nicht deutsche Staatsangehörige sind, umfaßt werden sollen. In dieser Deutlichkeit ist das zu dem Zeitpunkt, als wir darüber abgestimmt haben, nicht erkennbar gewesen.
Ein Zweites. Ich stelle eine Frage an die Sozialdemokraten. Ich habe hier ein Protokoll des Europarates, Parlamentarische Versammlung vom 28. Januar 1993. Da ist der Minderheitenbegriff definiert worden. Da heißt es:
Zum Zwecke dieser Konvention bezeichnet der Ausdruck „nationale Minderheit" eine Gruppe von Personen in einem Staate, die im Hoheitsgebiet dieses Staates ansässig und dessen Staatsbürger sind.
({0})
Ich habe mir sagen lassen, daß die Sozialdemokraten im Europarat sich für eine solche Lösung ausgesprochen hätten. Das ist natürlich etwas völlig anderes als das, was Sie hier vertreten. Diesen Widerspruch hätten wir gerne - wenn möglich, noch in der heutigen Debatte - aufgeklärt.
({1})
Danke, ich möchte jetzt fortfahren.
({2})
- Ich habe Ihnen jetzt geantwortet, und ich möchte jetzt fortfahren!
Entschuldigung, es steht dem Redner frei zu antworten, was er antworten will. Es ist an sich nicht üblich nachzufassen, es sei denn, Sie wollen eine neue Frage stellen. Dann müssen Sie sich melden, und der Redner muß es zulassen.
Ich möchte jetzt fortfahren, Herr Präsident.
Aber es würden gern - darauf muß ich Sie hinweisen - der Kollege Wolfgang Börnsen und der Kollege Schmude noch je eine Frage stellen wollen.
Herr Kollege Börnsen.
Danke, Herr Kollege.
Sie wissen, ich komme aus einer Landschaft in der Bundesrepublik, in der es noch eine große Minderheit der Dänen und Friesen gibt, und ich würde gerne nachfragen wollen, ob ich Sie richtig verstanden habe, daß Sie grundsätzlich für einen Minderheitenschutz bei regional eingrenzbaren Minderheiten eintreten.
Ich möchte Sie auch fragen, welche Möglichkeiten es gibt, in der Verfassung eine Formulierung zu finden, die angemessen auf die Bedeutung dieser Minderheiten genauso wie auf die Bedeutung der Sorben reagiert.
Herr Kollege Börnsen, wir sind uns einig, daß wir nicht über die Minderheitenrechte individueller Art sprechen, sondern nur über die Minderheitenrechte für Gruppen. Dafür sind nach der Struktur des Grundgesetzes in erster Linie die Länder zuständig.
Die jeweiligen Länder haben in ihren Landesverfassungen für die Dänen, Friesen und Sorben eine Regelung getroffen; das ist ihre Kompetenz. Rein rechtlich bedarf es einer zusätzlichen Aufnahme in das Grundgesetz nicht. Es ist aber eine verfassungspolitische Frage, ob man das nicht doch tun soll, und dieser Frage stellen wir uns in den Ausschußberatungen.
({0})
Herr Kollege Schmude, gleiches Recht für alle.
Vielen Dank, Herr Jahn. - Ich frage Sie: Kann es denn wahr sein, daß Sie erst aus dem schriftlichen Bericht etwas über die Tragweite dieser Klausel und ihre Anwendung auch auf ausländische Minderheiten erfahren haben?
Kann es wahr sein, daß die Meinung der Sozialdemokraten über diese Klausel ihr Bild nachträglich verändert, nachdem wir doch in der Gemeinsamen Verfassungskommission in diesem Zusammenhang auch über den Satz abgestimmt haben, der den Minderheiten deutscher Nationalität galt, so daß jeder Mensch und jeder Zuhörer wissen mußte, in dem einen Satz geht es um alle, in dem anderen Satz geht es um die Deutschen? Und den zweiten Satz haben Sie abgelehnt. Das haben Sie alles nicht bemerkt?
({0})
Herr Kollege Schmude, die Formulierungen im Abschlußbericht sind auf ausdrücklichen Wunsch der Sozialdemokraten nochmals und sogar zweimal geändert worden, und in dieser Deutlichkeit, wie sie es dort zum Ausdruck gebracht haben, war das bei Ihnen vor der entscheidenden Abstimmung in der Verfassungskommission nicht zu entnehmen.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf weiter fortfahren. Ich komme zu Art. 3. Hier haben wir uns geeinigt, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Frau Kollegin Rahardt-Vahldieck wird das weiter begründen. Ich plädiere dafür, daß wir hier nicht mehr aufschlüsseln, denn dies ist ein mühsamer Kompromiß, der in zäher Kleinarbeit im Einvernehmen mit den Frauen zustande gekommen ist, und es ist, wie gesagt, ein tragbarer Kompromiß.
Meine Damen und Herren, wir haben aber nicht nur den interfraktionellen Antrag hier heute auf dem Tisch, sondern auch den Antrag der SPD, wo das, was abgelehnt worden war, noch einmal wieder zusammengefaßt worden ist.
Meine Damen und Herren, diese Wünsche gehen an die Struktur dieses Grundgesetzes - Plebiszite einerseits, Staatsziele andererseits. Zu den Staatszielen wird Dr. Reinartz noch sprechen und insgesamt hierzu Herr Kollege Friedrich.
Nun hat sich Herr Vogel eben aus wichtigem Grund entschuldigt; aber das kann mir nicht verwehren, etwas zu seiner Rede zu sagen.
({1})
Ich hatte teilweise den Eindruck, daß wir hier Wahlkampf in der Verfassungsdebatte hatten und daß die deutsche Verfassung hier aus der Vogelperspektive im Zickzackkurs beleuchtet worden ist. Vogelperspektive kann gut sein, muß aber nicht immer gut sein.
Herr Vogel hat gesagt: Es ist die beste Verfassung aller Zeiten. Der nächste Satz: massive Kritik. Dann wieder ein Schwenk: das Signal, dem interfraktionellen Entwurf zuzustimmen. Dann umgekehrt: Das alles aber reicht noch nicht aus. Dann die Vereinnahmung der Mütter und Väter des Grundgesetzes für Ihren eigenen Entwurf. Dann Art. 146: Nein beim interfraktionellen Gesetzentwurf; dann aber für Ihren Entwurf wieder Ja zu Art. 146.
({2})
Meine Damen und Herren, Sie können diesen Zickzackkurs im Lichte der Öffentlichkeit nicht durchhalten. Ich sage, daß die Männer und Frauen des Grundgesetzes, wenn sie heute noch lebten und hier säßen, nicht zu ihrem eigenen Entwurf zurückkehren würden, sondern den Gedanken der Bewahrung der Verfassung in den Mittelpunkt der Erwägungen stellen würden.
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Plebiszite - ein Lieblingsthema, populär. Die Jugend fragt: Warum nicht? Wenn ihr in Bonn die Probleme schon nicht löst, laßt sie uns im Volksentscheid lösen. - Aber, meine Damen und Herren, die Weimarer Verfassung hat uns gezeigt, wohin Plebiszite führen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren gut beraten, daß sie sich zur repräsentativen Demokratie bekannten.
Wir sind aus mehreren Gründen nach wie vor gegen Volksentscheide:
Dr. Friedrich-Adolf Jahn ({4})
Erstens. Beim Volksentscheid können sie nur Ja oder Nein abstimmen. Aber die einzelnen Gesetzesmaterien sind viel zu komplex, als daß man nur mit Ja oder Nein abstimmen könnte.
({5})
Der Kompromiß, der ein wesentlicher Punkt der demokratischen Beratungen ist, würde ad absurdum geführt.
({6})
Zweitens. Beim Plebiszit findet der Föderalismus qua Bundesrat nicht statt.
Drittens. Beim Plebiszit entscheiden interessierte Minderheiten.
({7})
Die sagen dann, was die Mehrheit zu tun hat.
Viertens. Beim Plebiszit - ich überspitze etwas - entscheiden die Medien, weil sie in ganz bestimmter Zeit auf ein bestimmtes Ergebnis hinwirken.
({8})
Fünftens. Beim Plebiszit haben wir die Emotion sehr nahe bei uns. Wir wissen, daß man im Plebiszit - denken wir an ein schweres Verbrechen - sehr schnell zur Todesstrafe kommen könnte. Ich sage aktuell, meine Damen und Herren: Hätten wir das Asylrecht zur Volksabstimmung gestellt, hätten wir nicht das bekommen, was wir gemeinsam hier im Deutschen Bundestag erarbeitet haben.
({9})
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission haben ihre Arbeit vor allem unter dem Leitgedanken gesehen, daß die Wertorientierungen und Wertentscheidungen des Grundgesetzes nicht verlorengehen, daß sie nicht zu einem tagespolitischen Zeitgeist führen dürfen.
Unter diesem Gesichtspunkt haben wir in der Verfassungskommission durchgesetzt, daß der besondere Schutz in Art. 6 Abs. 1, der Ehe und Familie verbürgt, unangetastet bleibt. Der Antrag der SPD auf Gleichstellung von Ehe und Nichtehe hat sich in der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht durchsetzen können.
({10})
Er wird auch im jetzt anlaufenden Gesetzgebungsverfahren keinen Erfolg haben. Der besondere Schutz von Ehe und Familie ist als grundlegende Wertentscheidung unserer Verfassung für die CDU/CSU nicht disponibel.
({11})
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal klarstellen: Die geltende Regelung des Art. 6 Abs. 1 bedeutet keine Diskriminierung anderer Lebensgemeinschaften und anderer Lebensformen. Wer in anderen Lebensgemeinschaften außerhalb der Ehe
leben möchte, hat dazu bereits jetzt die umfassende Freiheit; und er wird darin auch grundrechtlich geschützt, nämlich über das allgemeine Grundrecht des Art. 2 Abs. 1, wonach jeder seine Persönlichkeit frei entfalten kann.
Herr Abgeordneter Jahn, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert zuzulassen?
Jawohl.
Bitte schön.
Herr Kollege Jahn, da Sie jetzt hier sozusagen verbindlich verkünden, daß für die CDU/CSU die Frage nichtehelicher Gemeinschaften nicht disponibel ist, frage ich Sie, ob Sie das mit dem gerade vorher von Ihnen Gesagten vereinbaren können; denn die CDU/CSU ist doch zweifellos eine Minderheit in Deutschland.
({0})
- Zumindest hat sie nicht mehr als 50 %. - Können Sie das damit vereinbaren, so daß Sie jetzt schon sagen: Wir werden das verhindern. Damit sagen Sie sozusagen von vornherein: Wir sind nicht bereit, auf Diskussionen und Argumente einzugehen.
Herr Kollege Seifert, die Argumente haben wir längst geprüft, und wir haben sie auch abgewogen. Das ist demokratische Pflicht. Aber das Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Grundgesetzes ist Ihnen bekannt. Dazu brauchen Sie Zweidrittelmehrheiten, und Zweidrittelmehrheiten im deutschen Parlament sind gegen die CDU/CSU nicht herbeizuführen. So einfach ist die Rechnung.
({0})
Meine Damen und Herren, ich komme zur Präambel: An dem Wertefundament des Grundgesetzes rühren die Anträge von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/Linke Liste, Gott aus der Präambel unseres Grundgesetzes zu streichen. Herr Kollege Vogel hat heute dazu Stellung genommen.
Die Bezugnahme auf Gott in der Präambel bedeutet nicht etwa eine Verpflichtung des einzelnen auf das Christentum. Sie charakterisiert die Bundesrepublik auch nicht als christlichen Staat. Eine solche Deutung verböte sich schon im Hinblick auf die in Art. 4 unseres Grundgesetzes verbürgte individuelle und kollektive Glaubensfreiheit. Die Bezugnahme auf Gott in der Präambel beinhaltet zunächst die Erinnerung daran, daß sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von dieser Diktatur mit ihrer menschenverachtenden Ideologie distanzieren wollten. Sie wollten deutlich machen, daß der Mensch nicht die letzte Instanz sei. Das hat auch heute noch Gültigkeit.
({1})
Die Verantwortung vor Gott ist zugleich eine Absage an einen relativistischen Gesetzespositivis18108
Dr. Friedrich-Adolf Jahn ({2})
mus, der alles als Recht und damit auch als rechtmäßig ansieht, was als Gesetz beschlossen ist. Damit sollte das Grundverständnis der Mitglieder des Parlamentarischen Rates dokumentiert werden, daß es überstaatliche Normen und Werte gibt, über die auch der Verfassungsgesetzgeber nicht verfügen kann. Dieses Grundverständnis der Männer und Frauen des Grundgesetzes bleibt aktuell, und wir sollten dieses Vermächtnis nicht einem atheistischen Zeitgeist opfern.
({3})
Was den Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn angeht, sage ich ganz offen: Juristisch besteht kein Handlungsbedarf zur Aufnahme in das Grundgesetz. Aber ob man es rechtspolitisch tun sollte, dieser Gedanke ist aufgeworfen worden, und wir werden ihn in der Bundestagsfraktion noch abschließend klären. Das heißt, Pro und Kontra bedürfen noch einer sorgfältigen Abwägung in den anstehenden Beratungen. Frau Kollegin Rahardt-Vahldieck, die heute noch zu diesem Antrag sprechen wird, wird dazu ihre positive Stellungnahme kundtun.
Meine Damen und Herren, was die demokratische Legitimation des Grundgesetzes angeht, möchte ich in aller Kürze sagen: Durch ihren Beitritt zum Grundgesetz, entschieden durch das erste frei gewählte Parlament der ehemaligen DDR, haben die Bürger der ehemaligen DDR diese Verfassung, das Grundgesetz, zu der ihren gemacht. Damit ist das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung bereits heute hinreichend legitimiert.
Wenn Hans-Jochen Vogel in der Pressemitteilung der SPD vom 19. Januar darauf hinweist, daß das Grundgesetz nach Erreichung der staatlichen Einheit zur Verfassung für das geeinte Deutschland „weiterentwickelt" werden müsse, so können wir dem nicht folgen. Unser Grundgesetz ist bereits die Verfassung für das geeinte Deutschland.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Der verfassungspolitische Ertrag der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission darf nicht allein nach der Zahl der Änderungsanträge beurteilt werden, auf die wir uns geeinigt haben.
({4})
Der wesentliche Ertrag dieser Arbeit liegt vielmehr in der grundsätzlichen Bestätigung des geltenden Verfassungsrechts.
({5})
Wir haben die Mehrzahl der Vorschriften des Grundgesetzes einer eingehenden inhaltlichen Prüfung unterzogen, und dieser Überprüfungsprozeß hat zu relativ wenigen und moderaten Änderungsvorschlägen geführt. Die Verfassungskommission hat damit zugleich das Grundgesetz im ganzen bestätigt. Stabilität und Kontinuität des Grundgesetzes bleiben unangetastet. Stabilität und Kontinuität des Grundgesetzes sind aber auch nötig angesichts der Turbulenzen, die der Prozeß der inneren Einheit und der Prozeß der europäischen Integration auslösen. Wo vieles in Bewegung ist, sollten wenigstens die rechtlichen
Rahmenbedingungen des staatlichen Handels unangetastet bleiben.
Die aufs Ganze gesehen moderaten Ergänzungsvorschläge bestätigen den Ausgangspunkt der CDU/ CSU-Mitglieder in der Gemeinsamen Verfassungskommission, daß sich das Grundgesetz in den über 40 Jahren seines Bestehens bewährt hat. Das Grundgesetz schafft einen ausgewogenen Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten, Eigentum und Sozialbindung, Freiheit und Gemeinschaftsfähigkeit. Es ist Grundlage des Lebens in Sicherheit und Freiheit. Es hat den wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik und damit den Wohlstand seiner Bürger gefördert und gleichzeitig den sozialen Ausgleich gewährleistet.
Wie Herr Vogel stelle auch ich fest - allerdings mit einer anderen Schlußfolgerung -: Nie gab es auf deutschem Boden eine freiheitlichere und eine rechtsstaatlichere Ordnung.
Meine Damen und Herren, die Vorschläge der Verfassungskommission sind mehr als ein Schritt in die richtige Richtung. Im Gegensatz zur SPD sind wir der Auffassung, daß die Empfehlungen dem Änderungsbedarf des Grundgesetzes bereits hinreichend Rechnung tragen. Von daher bestand für uns von Anfang an kein Anlaß für eine Totalrevision des Grundgesetzes oder gar für die Schaffung einer neuen Verfassung. Deshalb haben wir in der Gemeinsamen Verfassungskommission auch nicht eine Einrichtung der Verfassungsgebung oder einen mehr oder weniger neuen Parlamentarischen Rat gesehen. Wir brauchen keine neue Bundesverfassung à la SPD; denn wir sind in guter Verfassung mit unserer Verfassung.
({6})
Deshalb sollten wir den Grundkonsens darüber erzielen, daß sich Verfassungsfragen nicht für Wahlkampftaktik und parteipolitische Polemik eignen. Der interfraktionelle Gesetzentwurf - durchaus ein Werk mit zeitgeschichtlichem Anspruch - verdient über Parteigrenzen hinweg weitgehend Konsens in einer bewegten Zeit, um Frieden und Freiheit auf Dauer zu gewährleisten.
({7})
Das Wort hat nunmehr der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Herr Dr. Henning Voscherau.
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Zum erstenmal seit Bestehen des Grundgesetzes haben der Deutsche Bundestag und der Bundesrat eine Gemeinsame Verfassungskommission, eine paritätische Kommission zur Beratung der Verfassungsgrundlagen unserer staatlichen Einheit eingesetzt.
Andererseits: Seit 1949 hatten wir zum erstenmal den glücklichen Anlaß zu einer solchen Besonderheit, nämlich die Wiedererlangung der staatlichen Einheit und den Auftrag des Einigungsvertrages, den Sie alle kennen.
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({1})
Als derjenige der beiden Vorsitzenden der Gemeinsamen Verfassungskommission, der den Vorsitz namens des Bundesrates zu führen hatte, möchte ich meinerseits zu Beginn sehr herzlich den Mitgliedern des Deutschen Bundestages danken, die sich der Arbeit in der Gemeinsamen Verfassungskommission unterzogen haben und sachkundig und sehr unkompliziert die Zusammenarbeit in diesem etwas ungewöhnlichen Gremium von ihrer Seite aus sichergestellt hatten.
Gleichzeitig richtet sich der Dank, ebenso wie mein Mitvorsitzender Professor Scholz ihn schon ausgedrückt hat, an alle 64 Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission für ihre engagierte Arbeit über zwei Jahre. Der Dank richtet sich an die Mitarbeiter des Sekretariats
({2})
und nicht zuletzt an diejenigen Mitarbeiter, die als unsere geheimen Helfer für die Abfassung des Entwurfs dieses umfänglichen Berichts verantwortlich zeichnen.
({3})
Einer von Ihnen ist, glaube ich, anwesend.
Ihnen, lieber Herr Scholz, möchte ich auch meinerseits herzlich danken. Wir haben sehr gut zusammengearbeitet, und vielleicht hat diese persönlich sehr gute Zusammenarbeit ein bißchen auch geholfen, die Arbeit der Verfassungskommission über die Hürden zu bringen.
Meine Damen und Herren, das Ergebnis der Arbeit nach mehr als zwei Jahren muß sich messen lassen an der Aufgabe zu Beginn der wiedererlangten staatlichen Einheit, für die Aufgabe der inneren Einigung als Prozeß eine Verfassungsgrundlage zu schaffen, die in Ost und West von den Bürgerinnen und Bürgern des geeinten Landes gleichermaßen als ihre Verfassung angenommen werden kann.
Vor dem Hintergrund dieses Maßstabes erfahren die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission und das Ergebnis Kritik. Wir haben darüber heute schon gehört, vielfach in den Zeitungen gelesen, und es ist bereits in der bisherigen Debatte überdeutlich geworden, daß dies auf sehr unterschiedlichen Sichtweisen beruht.
Nun möchte ich dem entgegenhalten, daß die Arbeit einer Gemeinsamen Verfassungskommission den eigentlichen Prozeß der inneren Einigung im deutschen Volk naturgemäß nicht ersetzen kann. Allerdings ist die Frage legitim, ob es möglich gewesen wäre, in diesem Verfassungsdiskurs einen intensiveren Beitrag zu dem Einigungsprozeß zu leisten, als es der Kommission möglich gewesen ist.
Die Frage, ob eine Verfassungsdiskussion in einem Verfassungsrat, für den ich mehrfach, auch noch während der Arbeit der Verfassungskommission eingetreten bin, einen größeren Beitrag zur inneren
Einigung des deutschen Volkes hätte leisten können, beantworte ich auch heute noch mit Ja.
Die unterschiedlichen Zielvorstellungen bei der Bildung des Kompromisses „Gemeinsame Verfassungskommission von Deutschem Bundestag und Bundesrat" sind während der gesamten Dauer der Arbeit bestehengeblieben. Dies hat die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission geprägt, es hat sie teilweise beeinträchtigt. Das ist nichts, was man den Mitgliedern der Gemeinsamen Verfassungskommission anlasten kann; das beruht auf dem Grunddissens bei Gelegenheit der Gründung dieses Gremiums.
Es ist auch kein Geheimnis, daß in der alltäglichen Arbeit über die zwei Jahre die Arbeitsabläufe der Gemeinsamen Verfassungskommission gelegentlich von manch schwierigen und zeitaufwendigen Rückkopplungen in die Fraktionen hinein gekennzeichnet waren. Das hat die Arbeitsabläufe nicht immer erleichtert.
Aber immerhin: Gekennzeichnet war die Arbeit von der Notwendigkeit, sich zu einigen; denn es war immer eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Keine Beschlußempfehlung, die nicht die Hürde der Zweidrittelmehrheit passiert hätte! So konnte keine Bank etwas gegen die andere durchsetzen, der Bundesrat nicht und die Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht, keine parteipolitische Farbe gegen die andere.
So lag in der gestellten Aufgabe, durch die Verfassungsdiskussion einen Beitrag zur Einigung statt einen polarisierenden Beitrag zu leisten, wohl auch Weisheit, die Weisheit des Grundgesetzes.
Die gemeinsame Arbeit ist um so mehr zu würdigen, als wir immerhin 23 Artikel geändert oder hinzugefügt haben. In dieser Zahl verbirgt sich eine große Zahl von Einzeländerungen und -ergänzungen. Fast die Hälfte der Artikel des Grundgesetzes wurde überprüft. Daran läßt sich umgekehrt auch ablesen, daß viele Beratungsgegenstände, die am Ende die Zweidrittelmehrheit nicht erreichen konnten, dennoch - häufig stattliche - absolute Mehrheiten erhalten haben. Darüber wird ja heute und in der Ausschußarbeit noch beraten werden.
Quantität allein, meine Damen und Herren, sagt nicht viel. Der Ertrag der Arbeit der Kommission kann nicht allein nach der Zahl der Änderungen beurteilt werden. Man sollte ausdrücklich bekennen, daß in vielem, was am Ende nicht geändert worden ist, auch eine Bestätigung der Qualität unseres geltenden Grundgesetzes liegt.
Worin liegt qualitativ der wesentliche Ertrag der Kommissionsarbeit? Sie werden es mir nachsehen, wenn ich dies auf einige Beispiele beschränke, und zwar naturgemäß aus der Sicht des Bundesrates und der Länder. Von meiner Seite aus sind insbesondere drei Punkte zu nennen: Art. 23, der neue Europaartikel, Art. 72 mit den Annexänderungen in den nachfolgenden Artikeln, also die Neuregelung des Gesetzgebungsverfahrens und der Kompetenzen von Bund und Ländern, aber auch Art. 29, die Bestimmung über die Neugliederung des Bundesgebiets.
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({4})
Sehen Sie es einem Vertreter der Länderseite nach, wenn er gerade in diesem Hause darauf aufmerksam macht, daß es die Gemeinsame Verfassungskommission und nicht zuletzt die Länder waren - nicht etwa die Bundesregierung -, die den neuen Europaartikel prägten, die die Reföderalisierung der Bundesrepublik ein gutes Stück vorangebracht und Bewegung in den - lassen Sie es mich sagen - toten Art. 29 gebracht haben.
Es soll nicht verschwiegen werden, daß den Ländern die Gunst der Umstände, nämlich der Termindruck, der auf der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht ruhte, zugute gekommen ist. Teilweise haben die Länder diese Gunst zu nutzen gewußt. Wer allerding die Ergebnisse der Verfassungskommission des Bundesrates gesehen hat, weiß, daß es auf der Seite des Bundesrates und der Länder nicht nur Begeisterung über das Ergebnis gibt. Dennoch: Ich stehe nachdrücklich dazu, daß es richtig war, die Aufgaben und die Funktion des Bundes in allen drei genannten Punkten zu respektieren und zu wahren. Der Prozeß der Konsensbildung zeigt das auch, insbesondere wenn man die Ausgangsposition der Länder mit dem Endprodukt vergleicht.
Art. 23 Abs 2 und 3 würdigt die Rolle des Bundestages. Die Abs. 5 und 6 sprechen ausdrücklich von der Wahrung der gesamtstaatlichen Verantwortung des Bundes. Die Länder haben also nicht darauf beharrt, ihre Vorstellungen durchzusetzen. Das gilt auch für Art. 72. Die Länder haben schließlich auch die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes für die Gliederung des Bundesgebiets bei der Neufassung des Art. 29 am Ende anerkannt.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist mit diesen Änderungen, besonders mit denjenigen zu Art. 72, immerhin gelungen - erstmals seit 1949, kann man sagen -, die schleichende Aushöhlung des bündischen Prinzips unseres Grundgesetzes, das immerhin zu den Unantastbarkeiten gehört, ein Stück zu korrigieren. Lassen Sie mich hier darauf hinweisen, daß das Ausmaß der Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Deutschen Bundestag und den Bundesrat - das sei ausdrücklich hinzugefügt - zu Lasten der Landtage ein Stück Aushöhlung demokratischer alltäglicher Wirklichkeit in den Ländern mit sich gebracht hat. Das haben wir hier etwas korrigiert.
Herr Dr. Voscherau, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Waldburg-Zeil zuzulassen?
- Bitte schön.
Herr Regierender Bürgermeister, sehen Sie die Gefahr, daß durch die Änderung des Art. 72 z. B. die Regelung der Ausbildungsberufe nun durch die Länder wahrgenommen würde, was bedeuten würde, daß bei 376 Ausbildungsberufen das jeweils 16mal anders erfolgen könnte, bzw. sehen Sie eine Möglichkeit, ohne das Gesamtpaket des Art. 72 anzutasten, dieses,
was von den Ländern eigentlich nicht gewollt ist, auszuschließen?
Präsident des Senats Dr. Hennig Voscherau ({0}): Herr Abgeordneter, zu diesem Punkt hat Herr Dr. Vogel in seinem Eingangsbeitrag schon sehr nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Einheitlichkeit der Berufsbildung durch diese Änderung nicht ausgehöhlt werden soll. Er hat sich seinerseits auf eine schriftliche Klarstellung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau für die Seite der Länder bezogen. Dem ist, so glaube ich, nichts hinzuzufügen.
({1})
Lassen Sie mich von seiten des Bundesrates und der Länder ausdrücklich hervorheben: Aus unserer Sicht ist die Handlungsfreiheit des Zentralstaates unverändert gewährleistet. Es liegt mir daran, das zu sagen, weil während der Diskussion über Art. 23 innerhalb des Deutschen Bundestages und sogar von seiten unseres Staatsoberhauptes Kritik und mahnende Hinweise die Regel waren.
Die Feststellung hat ihre nachhaltigste Bestätigung in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Europäische Union erhalten. Wenn die Europäische Union um Haaresbreite an der Bundesrepublik Deutschland und in Karlsruhe nicht gescheitert ist, so ist das ein Verdienst des neuen Europaartikels und damit ein Verdienst der Gemeinsamen Verfassungskommission.
({2})
Erst dieser Artikel hat es dem Bundesverfassungsgericht ermöglicht, den Vertrag von Maastricht passieren zu lassen. Die Gemeinsame Verfassungskommission kann sich also zugute halten, Maastricht ratifizierbar gemacht zu haben. Das Bundesverfassungsgericht hat die Struktursicherungsklausel, um die wir wirklich monatelang mühselig gerungen haben, anerkannt und sie noch zugespitzt.
Die größte politische Diskrepanz zwischen Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission und eingebrachten Vorschlägen - vielleicht muß man auch sagen: das größte Maß an Enttäuschung in der Bevölkerung - hat es fraglos im Bereich der Grundrechte und Staatsziele gegeben, meine Damen und Herren. Erfolg hatten lediglich die Themen tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen - Frauenrechte in die Verfassung -, Umweltschutz und Achtung der Identität von Minderheiten. Diese drei Erfolge sind ein geringer Ertrag angesichts des Umfangs der gesamten Diskussion und auch angesichts der 800 000 Eingaben aus der Bevölkerung.
Ich denke, daß man an dieser Stelle eines hinzufügen muß, und zwar an die Adresse der CDU/CSU- Fraktion. Ich und die sozialdemokratischen Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission standen nicht allein mit der Auffassung, daß es ein unerhörter Vorgang war, in welcher Weise die VerabPräsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({3}) schiedung der ersten Fassung des Staatsziels Umweltschutz auf der Grundlage des Vorschlags Scholz durch eine direkte Intervention der Fraktionsführung der CDU/CSU torpediert worden ist.
({4})
Als einem der beiden Vorsitzenden ist es mir nicht entgangen, daß zwei Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission, die der CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestags angehörten, infolge dieser Intervention an der entscheidenden Sitzung nicht teilnahmen. Das hat das Ergebnis verändert.
Ich halte dies für einen bemerkenswerten Vorgang im Hinblick auf das freie Mandat, hinsichtlich dessen man allenfalls etwas milder urteilen kann, als es ja Herrn Professor Scholz, Herrn Jahn und den Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU am Ende dann doch gelungen ist, eine konsensuale Fassung in Kompromißform in die Zweidrittelempfehlungen einzubringen. Dafür bin ich ausdrücklich dankbar.
Den außerordentlich intensiven Beratungen der Kommission über zahllose Vorschläge zur Änderung von Grundrechten und Staatszielen wird man nicht voll gerecht, wenn man dies ausschließlich zuspitzt auf die drei positiven Voten. Eine ganze Reihe von Vorschlägen haben Mehrheiten erzielt, wenn auch nicht von zwei Dritteln, manche sehr stattliche absolute Mehrheiten. Nennen will ich Vorschläge zur Änderung der Präambel, zur Mitmenschlichkeit, zum Datenschutz, zum Kriegsdienst, zur sexuellen Identität, zum Diskriminierungsverbot für Behinderte und zu Art. 6.
Eine ansehnliche Zahl von Vorschlägen zu Staatszielen hat relative Mehrheiten erhalten: Wohnen, Arbeit, soziale Sicherheit, Bildung, Kultur, Tierschutz.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich nach den gründlichen Ausführungen von Herrn Abgeordneten Dr. Vogel dazu meinerseits auf drei kurze Bemerkungen beschränken.
Erstens. Was hätte denn eigentlich wirklich gegen eine griffige und vorsichtige Differenzierung des im Grundgesetz doch ohnehin vorhandenen Sozialstaatsgebots gesprochen, zumal in Formulierungen, die auf leere Versprechungen in der Verfassung ausdrücklich verzichteten? Eines sei konzediert: Leere Versprechungen und hohle Worte gehören nicht in eine Verfassung.
({5})
Dies haben unsere Vorschläge aber auch vermieden.
Zweitens. Was hätte gegen die vorsichtige Formulierung zum Tierschutz gesprochen, auf einem Gebiet, auf das sich die wohl größte Zahl hochengagierter Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern aus der gesamten Bundesrepublik richtete?
Drittens. Herr Kleinert war so freundlich, Herbert Wehner zu zitieren. Nun wissen Sie, daß Herbert
Wehner Ehrenbürger der Freien und Hansestadt Hamburg war. Ich denke, es ist in diesen Tagen gut, wenn man darauf noch einmal ausdrücklich, und zwar mit Stolz, hinweist.
({6})
Andererseits, lieber Herr Kleinert, finde ich nicht, daß es richtig wäre, wenn ein Zitat von Herbert Wehner auf Sie beschränkt bliebe; deswegen will ich auch eines bringen. Herbert Wehner hat immer gesagt - diese Bemerkung richtet sich mehr an die Adresse meiner Parteifreundinnen und Parteifreunde -: Aussprechen, was ist. Deswegen möchte ich zum Thema der plebiszitären Elemente aussprechen, daß die mahnenden Erinnerungen an die schlechten Erfahrungen am Ende der Weimarer Republik und zu Beginn der Nazizeit auch in der SPD noch wach sind.
({7})
Aber - ({8})
- Verehrter Herr Abgeordneter Dr. Vogel, ich komme ja jetzt zu dem Aber.
({9})
Aber sollten wir, wir Westdeutschen, nach mehr als 40 Jahren guter Erfahrungen mit gelebter Demokratie nicht das Selbstbewußtsein haben,
({10})
in vorsichtiger Form die Möglichkeit der Einfügung plebiszitärer Elemente in unsere Verfassung doch zu erwägen,
({11})
und zwar, um die Austrocknung des Funktionierens gelebter Demokratie im Alltag zu vermeiden? Und ist diese Austrocknung denn nicht doch eine der Haupttriebfeder dessen, was man heute so allgemein Politikverdrossenheit nennt?
({12})
Meine Damen und Herren, ich halte es nicht für einen Zufall, daß uns im Bereich der Grundrechte und der Staatsziele die Einigung auf Empfehlungen besonders schwer gefallen ist. An kaum einer anderen Materie entzünden sich unterschiedliche grundsätzliche Politikverständnisse so leicht, auch an keiner anderen Materie unterschiedliches Vorverständnis von der Funktion von Verfassungen. Solche Auffassungen haben ihre Grundlagen in Verfassungstraditionen, in der Geschichte unterschiedlicher Länder, in unterschiedlichen Weltanschauungen, in unterschiedlichen Grundsatzprogrammen. Deswegen denke ich, daß sich die unterschiedlichen Positionen, die die Parteien in der Gemeinsamen Verfassungskommission zu Grundrechten und Staatszielen eingenommen haben, besonders als Maßstab für die Bürge18112
Präsident des Senats Dr. Henning Voscherau ({13})
rinnen und Bürger eignen, wenn es darum geht, sich ein Urteil zu bilden über das Ergebnis und ebenso über die Positionen, die die einzelnen politischen Gruppierungen, Kräfte und Parteien dazu eingenommen haben.
Insofern lohnt sich die Debatte auch heute, und sie lohnt sich ebenfalls in den kommenden Monaten. Das hat aus meiner Sicht nicht unbedingt etwas mit Wahlkampf zu tun, wenn man die Diskussion zur Sache führt, und das - das hat die Arbeit gezeigt - ist uns allen doch möglich.
Ich möchte also insgesamt saldierend sagen: Das Ergebnis läßt sich sehen. Es erfüllt nicht alle Wünsche. Aber Politik ist die Kunst des Möglichen.
({14})
Dies ist das, was gemeinsam möglich war. Vielleicht kommt noch etwas hinzu; denn es sind weitere Anträge gestellt worden.
Ich möchte aber doch dringend darum bitten, meine Damen und Herren: Was am Ende beschlossen wird und was der Deutsche Bundestag und der Bundesrat als die neue Fassung des Grundgesetzes verabschiedet haben werden, das sollte von uns allen als Grundlage für die Arbeit der kommenden Jahre bei der Vollendung der deutschen Einheit angenommen werden. Wer dies nämlich nicht tut und an der verabschiedeten Fassung mit dem Argument, sie sei unzureichend, danach noch weiter herumkrittelt, muß sich die Frage stellen, ob das nicht etwas Delegitimierendes hat. Wenn der Satz, daß das Grundgesetz die beste Verfassung ist, die es in Deutschland je gegeben hat, von allen ernst gemeint ist - ich meine ihn ernst -, dann muß man sich mit delegitimierenden Debatten vorsehen.
({15})
Was Erfolg und Nichterfolg der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission betrifft, so muß man davon ausgehen, daß wir die innere Einigung nicht ersetzen konnten. Das war nicht die Aufgabe. Ich selbst halte an meiner nüchternen Voraussage aus dem Jahre 1990 fest: Die Einheit der Köpfe und Herzen der Deutschen, das dauert 40 Jahre.
Zur Gestaltung der inneren Einigung konnte die Verfassungskommission also nur einen begrenzten Beitrag leisten. In Anbetracht der Größe der vor uns stehenden Aufgabe der deutschen Einigung müssen wir davon ausgehen, daß auch der kommenden Generation noch große Leistungen abgefordert werden. Deswegen halte ich das Ergebnis der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht für das letzte Wort, auch wenn die Mitglieder sachkundig und sachgerecht gearbeitet haben.
Nach Abschluß des erfolgreichen Aufbaus der östlichen Länder, nach dem Umzug nach Berlin mag sich das Interesse der Deutschen wieder neu Verfassungsfragen zuwenden. Es mag dann einen Verfassungskonvent, einen Verfassungsrat geben, der sich des Art. 146 des Grundgesetzes, also der Frage der Verfassungsgebung durch das Volk, neu annimmt und der sich der Verfassung des geeinten Deutschland dann mit freierem Rücken neu annimmt, im Rahmen der Europäischen Union. Zuversicht und langer Atem müssen sein, gerade in Verfassungsfragen.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Heuer hat am Anfang seiner Ausführungen die beschränkte öffentliche Aufmerksamkeit beklagt. Herr Kollege, wenn die vorführbaren Künste der Artisten begrenzt sind, bleibt das Zirkuszelt leer. Darüber helfen auch die edelsten Erklärungen über Selbstbeschränkungen nicht hinweg. Das ist so.
({0})
- Ich habe Ihren Zuruf leider nicht verstehen können.
({1})
- Ich glaube, Herr Kollege, daß Sie sich da täuschen. Es geht ja nicht nur um die Übertragung dieser lichtvollen Debatte. Sie müssen auch daran denken, daß die Sitzungen der Verfassungskommission öffentlich waren und daß auch dort bis auf wenige Ausnahmen, die in der Tat einer besonderen Erwähnung bedürfen, die öffentliche Anteilnahme beschränkt war.
Art. 5 des Einigungsvertrages beauftragt die gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland, wie es heißt, zu prüfen, ob Art. 146 des Grundgesetzes und in seinem Rahmen eine Volksabstimmung anwendbar sei. Das ist die Frage, ob die Wiedervereinigung Deutschlands allein ein Beitritt der neuen Bundesländer nach Art. 23 des Grundgesetzes ist oder ob der Zeitpunkt gekommen wäre, in dem nach dem Wortlaut des Art. 146 des Grundgesetzes das deutsche Volk aufgerufen wird, in freier Entscheidung eine Verfassung zu beschließen. Das ist nicht nur Geschichtsbetrachtung aus dem Jahr 1949, als man keinen neuen Staat schaffen wollte, sondern ein Provisorium, als die Länder Behelfsheime der deutschen Existenz waren, wie Heuss formulierte, als man die Verfassung eben deswegen nur „Grundgesetz" nannte und als man die Vorstellung hatte, daß bei einer Verfassungsgesetzgebung selbstverständlich das Volk unmittelbar über seine Verfassung, über den „contrat social", entscheiden müsse.
Aber am Ende unserer Arbeit haben wir über Art. 146 des Grundgesetzes überhaupt nicht ernsthaft verhandelt, sondern nur noch die Frage gestellt, ob denn das bescheidene Volumen unserer Ergebnisse eine Volksabstimmung rechtfertige oder nicht. Es wurde dazu kein Antrag gestellt und keine Empfehlung beschlossen.
Das ist eine harte Selbstkritik an unserer eigenen Arbeit. Es ist aber nicht nur Kritik, sondern das Eingeständnis der beschränkten Möglichkeiten der Kommission. Es gibt keine Zweidrittelmehrheit für eine Totalrevision der Verfassung. Es gibt keine Zweidrittelmehrheit für einen grundlegenden Umbau etwa in Richtung auf eine plebiszitäre Demokratie. Es gibt keine Zweidrittelmehrheit für eine wesentliche Veränderung des Grundrechtskatalogs oder der Staatszielbestimmungen. Ich habe den Eindruck, daß es auch keine Zweidrittelmehrheit für die Einsicht gibt, daß die Wiedervereinigung Deutschlands mehr sein müsse als nur die Aufnahme von 15 Millionen Verwandten und einigen Quadratkilometern Land in einen ansonsten unveränderten Staatsverband. Es gibt keine Zweidrittelmehrheit für die Erkenntnis, daß wir eine elementare Veränderung unserer geschichtlichen und politischen Situation erleben, daß es unsere nicht nur. rechtliche Aufgabe ist, die Einheit Deutschlands zu vollenden, und daß wir in Europa einen geschichtlichen Einschnitt erleben, der allenfalls mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges vergleichbar ist.
Es hat uns außerordentlich irritiert, daß der Vorschlag keine Mehrheit gefunden hat, die Wiederherstellung der inneren Einheit Deutschlands als Staatsziel in die Präambel unserer Verfassung aufzunehmen.
({2})
Wir bewältigen den historischen Augenblick nicht mit einer wirklichen Bilanz. Es ist kein Neuanfang. Es ist im Kern die Bewahrung des Erreichten unter veränderten Umständen. Das muß nicht falsch sein; aber man muß das aussprechen. Ich denke, daß unsere Debatte offener und vielfältiger verlaufen würde, wenn wir uns in der Kommission nicht die Selbstbeschränkung auferlegt hätten, daß nur solche Vorschläge akzeptiert werden, die dort eine Zweidrittelmehrheit finden.
({3})
Es ist richtig, daß der ganz überwiegende Teil der Bevölkerung mit der Verfassung zufrieden ist, und es ist richtig, daß die Bevölkerung der neuen Bundesländer jedenfalls die wesentlichen Verfassungsregeln akzeptiert. Aber was hindert uns dann eigentlich daran, diese vorausgesetzte Grundübereinstimmung durch eine Volksabstimmung, die ja mit der Bundestagswahl verbunden werden könnte, bestätigen zu lassen? Es wäre doch nicht schlecht, wenn wir in diesem Punkt gemeinsam um die Zustimmung der Bevölkerung werben würden.
({4})
Eine Verfassung ist ein Gesetz, aber sie kennzeichnet auch die Verfassung, in der sich eine Gesellschaft befindet. In Kernbereichen entsprechen die Vorschläge der Kommission den Änderungen oder dem Wandel im Selbstverständnis unserer Gesellschaft seit 1949. Wir wollen eine gleichberechtigte Gesellschaft. Darum unterstützen wir den Vorschlag, daß der Staat die Gleichberechtigung aktiv herbeiführen und auf
die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirken muß.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der sich der Mensch nicht mehr als Herr, sondern als Teil der Natur begreift. Darum war die Aufnahme des Staatsziels Umweltschutz wirklich überfällig, auch die Loslösung dieses Ziels von der Vorstellung, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei und daß nur das erhaltenswert sei, was ihm nützt. Die vorgeschlagene Formel - über die etwas verschlungene Entstehungsgeschichte ist ja hier berichtet worden - läßt die Angst erkennen, daß eigentlich politische Entscheidungen von den Gerichten getroffen werden könnten. Trotz dieser AngstKlausel ist die Aufnahme des Staatsziels richtig und wichtig.
Ich bedauere in diesem Zusammenhang außerordentlich, daß die ausdrückliche Erwähnung des Tierschutzes in der Kommission zwar eine absolute, aber keine Zweidrittelmehrheit gefunden hat. Wir haben zu diesem Bereich immerhin 170 000 Zuschriften bekommen, und zwar nicht nur standardisierte. Wir sollten uns darum bemühen - das ist ja ein Teil des Antrags der SPD, aber in einer Formel, die nicht die größte Zustimmung gefunden hatte -, eine interfraktionelle Übereinstimmung zur Aufnahme einer Tierschutzklausel in unsere Verfassung zustande zu bringen.
({5})
Der Mensch ist nicht mehr das Maß aller Dinge.
({6})
Von besonderer Bedeutung ist auch die vorgeschlagene Bestimmung für einen Art. 20b: „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten. " Um diese Formel haben wir wirklich gerungen. Der Schutz von Minderheiten ist nicht nur ein elementares rechtsstaatliches Gebot, sondern die einzige Grundlage, auf der in Zukunft der Frieden gesichert werden kann.
({7})
Der größte Teil der militärischen Auseinandersetzungen in unserer Welt sind ethnische, sind Minderheitenauseinandersetzungen, sind Minderheitenprobleme. Wir können die internationale Achtung von Minderheiten nicht fordern, wenn wir diese im nationalen Bereich nicht selbst zu wahren bereit sind.
({8})
Es geht hier nicht, Herr Kollege Jahn - ich weiß nicht, ob er noch anwesend ist -, um eine opulente Ausländerpolitik mit verfassungsrechtlichen Mitteln, sondern um die Achtung von Eigenheiten, die nicht als Belästigung, sondern als Bereicherung empfunden werden sollten, und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen deutschen Menschen oder um einen
Menschen mit einer anderen Staatsangehörigkeit handelt.
({9})
Ich persönlich bedauere, daß wir keine Übereinstimmung für einen ausdrücklichen Schutz der Privatheit des einzelnen gefunden haben. Die Mißachtung der Privatsphäre ist ein Kennzeichen totalitärer Staaten.
({10})
Es gibt auch keinen ernsthaften Zweifel daran, daß die moderne Informationstechnik diesen persönlichen Freiheitsraum unmerklich immer weiter einengt. Ich bin sicher, daß sich die Eltern der Verfassung dazu ausdrücklich geäußert hätten, wenn sie die Entwicklung der Technologie in diesem Bereich gekannt hätten.
Der Streit um die sozialen Staatsziele Arbeiten und Wohnen entschärft sich nach meiner Überzeugung, wenn man sich die für uns verbindlichen Regeln der Sozialcharta der Vereinten Nationen, die ja rechtlich Staatsziele sind, ansieht. Aber man muß die Sorge verstehen, daß Verfassungstitel zusätzlich geschaffen würden, die Hoffnungen erwecken, ohne sie erfüllen zu können.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu den sogenannten plebiszitären Elementen machen. Alle Landesverfassungen zeigen, daß plebiszitäre Elemente und parlamentarische Demokratie keine absoluten Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig unterstützen können. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, daß unsere Verfassung de facto, in der politischen Wirklichkeit, plebiszitäre Elemente enthält.
Auf der anderen Seite enthalten plebiszitäre Entscheidungen erhebliche Probleme: den Verzicht auf Kompromisse, die Reduzierung der Fragen auf Gegensätze, letzten Endes die nichtprofessionelle Entscheidung immer schwieriger werdender Sachverhalte.
Ich war von der Anhörung und der Offenheit der Sachverständigen gegenüber der Aufnahme solcher Elemente in unsere Verfassung überrascht. Trotzdem sehe ich keine Mehrheit für derartige Regelungen.
Aber die Parteien dürfen sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Massivität ihres Auftretens, ihre finanziellen Erfordernisse, ihr massiver Einfluß auf personelle Entscheidungen sehr viel zur Politikverdrossenheit beigetragen haben. Darum ist das politische Problem, was immer wir verfassungsrechtlich dazu sagen, ungelöst und die Debatte nicht beendet.
Werte Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie sich einen Augenblick klarmachen, wie viele Verfassungsänderungen wir auch unabhängig von der Verfassungskommission verhandelt haben, dann liegt eine Gefahr nicht in der Erstarrung unserer politischen Verhältnisse, sondern darin, daß wir uns viel zu
leicht über die Grenzen unserer Verfassung hinwegsetzen wollen.
({11})
Bei der Verfassung geht es nicht nur darum, ob technisch eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat erreicht wird. Die Verfassung markiert den Grundkonsens einer Gesellschaft. Sie ist die Magna Charta der politischen Minderheit, die nur deswegen akzeptieren kann, eine Minderheit zu sein, weil die Verfassung ihr die Möglichkeit garantiert, eine Mehrheit zu werden, und weil die Verfassung ihr unentziehbare Rechte garantiert.
Darum lassen Sie uns Verfassungsänderungen nur mit großer Zurückhaltung beschließen und nur da, wo wir uns von ihrer Notwendigkeit gemeinsam überzeugt haben. Die Beschränkung der Verfassungskommission auf wenige Punkte muß dann kein Nachteil sein, wenn wir damit eine politische Grundübereinstimmung erhalten, daß nämlich unsere Verfassung kein Abreißkalender ist, sondern nur dann zur Disposition steht, wenn Not gewendet werden muß.
({12})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Professor Dr. Heuer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Verfassungsfreundinnen und Verfassungsfreunde! Meiner Argumentation zur Lage im Jahre 1949 und zu dem nach meiner Ansicht weiter bestehenden Verfassungsauftrag ist von seiten der CDU/CSU nicht widersprochen worden. Herr Hirsch hat sich eher vielleicht resigniert zustimmend geäußert, wenn ich das richtig verstanden habe.
Die These von Herrn Jahn lief darauf hinaus: Es hat sich alles bewährt und muß so bleiben. Auch das wurde in der Kommission oft gesagt. Die Bürger der DDR kannten diesen Satz Erich Honeckers, daß alles sich bewährt habe, bis zum Überdruß.
({0})
Von Erich Honecker wurde dann wenigstens hinzugefügt: Das Erreichte ist nicht das Erreichbare.
Wir meinen also, es geht tatsächlich um eine Diskussion über eine wirkliche Erneuerung unserer Verfassungsordnung. Unser Entwurf sieht sich dabei durchaus in der Tradition des Grundgesetzes, aber eben auch in der Tradition des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches und des Kuratoriumsentwurfs für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder. Er folgt in vielem den strukturellen Lösungen und den Detailregelungen der neuen Verfassung für das Land Brandenburg, stützt sich auf Vorschläge des DGB, der Frauenverbände, von Demokratieinitiativen, des Kuratoriums der ostdeutschen Verbände, von Wohlfahrtsverbänden, Behindertenorganisationen und der Friedensbewegung. Wir wollten, daß die Notwendigkeit und Möglichkeit einer grundlegenden Verfassungserneuerung für jede Bürgerin und jeden
Bürger nachvollziehbar waren, und wandten uns gegen die Politik der Verweigerung einer erneuten Verfassungsgebung.
Worin sehen wir diesen grundlegenden Reformbedarf? Ich kann nur auf wenige Punkte, die ich für besonders wichtig halte, hinweisen.
Zum einen sind das die Fragen einer friedenspolitischen Verfassungsreform, die sowohl die vor sich gehende Anpassung der Militär- und Außenpolitik an großdeutsches Vormachtstreben beendet als auch das Friedensprinzip, wie es im Grundgesetz bereits verankert ist, weiter konkretisiert und ausbaut.
Wir sehen nach wie vor die historische, politischmoralische und rechtliche Verantwortung Deutschlands für die Aggressionen, Völkermorde und Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges. Wir halten es deshalb für notwendig, daß die Bundesrepublik Deutschland strikt zu einem Höchstmaß an militärischer Selbstbeschränkung im Rahmen der Landesverteidigung verpflichtet wird, einschließlich der Pflicht zur Reduzierung der Rüstungsproduktion, zur Umstellung der Bundeswehr auf Angriffsunfähigkeit, zur Verstaatlichung der Rüstungsindustrie und zum Verbot von Rüstungsexporten.
Wir sehen es weiterhin als eine notwendige Konsequenz aus den Erfahrungen der Demokratiebewegung in der DDR im Jahre 1989 wie auch der Demokratiebewegung in der Bundesrepublik an, daß unser Entwurf für eine neue deutsche Verfassung von einem neuen Demokratiebegriff ausgeht, der das Volk nicht nur als Quelle, sondern als Träger der Macht und zugleich als Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger definiert.
({1})
Wir haben deswegen das Demokratieprinzip und andere demokratische Grundsätze an den Anfang der Verfassung gestellt und treten für vielfältige Formen der unmittelbaren Demokratie ein.
Heute hat in dieser Diskussion Herr Jahn erneut gegen das Plebiszit die Erfahrungen von Weimar heraufbeschworen. Herr Voscherau hat sich ihm in gewisser Weise angeschlossen, wenn ich ihn recht verstanden habe. Aber diese Erfahrungen von Weimar haben damit überhaupt nichts zu tun; das haben wir schon in der Kommission diskutiert. Es gab in Weimar keine einzige erfolgreiche Entscheidung dieser Art. Der Volksentscheid über Fürstenenteignung, der bekanntlich von Kommunisten, Sozialdemokraten und vielen Bürgerlichen unterstützt wurde, hätte diese Weimarer Republik gestärkt und nicht geschwächt, wenn er denn erfolgreich gewesen wäre.
Volksentscheide sind nach meiner Ansicht auch ein wichtiges Mittel zur Verstärkung der Rationalität der Diskussionen. Die Behauptung von der Emotionalität geht doch ins Leere. Auch die Wahlen sind emotional, und die Medien spielen dort ebenfalls eine Rolle. Ein Volksentscheid würde gerade durch deutliche Fragestellungen mehr dazu beitragen, inhaltliche Diskussionen - und nicht nur Diskussionen um Personen
und wer mehr ins Fernsehen paßt bzw. wer nicht - heraufzubeschwören. Das halte ich für eine ganz wichtige Frage im Zusammenhang mit der Kräftigung des Selbstbewußtseins des Volkes, seiner Einsicht in die Probleme und seiner Intelligenz. Ich halte das deswegen für ein wichtiges Mittel, die Demokratie zu stärken.
Herr Abgeordneter, würden Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hirsch beantworten?
Aber gerne.
Herr Kollege, sehen Sie nicht den Unterschied zu den Wahlen, der darin besteht, daß bei Wahlen der Gesamtbereich der Politik - Sachen und Personen - zur Disposition steht, während sich bei einem Volksentscheid die Frage auf eine konkrete Interessenfrage mit ja oder nein zuspitzen muß?
({0})
Ich sehe diesen Unterschied; aber ich bin der Meinung, daß gerade der Volksentscheid, in dem bestimmte Sachfragen zur Diskussion gestellt werden, das Volk in die Verantwortung bringt. In der DDR wurde ich gefragt: Wie erreichen wir es, daß sich die Bürger als Eigentümer des Volkseigentums fühlen? Ich habe darauf geantwortet: Nur, indem sie Eigentümer sind. Das Volk fühlt sich nur dann als Herr der Gesellschaft - und das heißt ja Demokratie -, wenn es selbst entscheidet. Dazu sind Volksentscheide nach meiner Meinung ein wichtiges Mittel.
Im dritten Jahr nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands stehen wir Ostdeutschen vor der Situation, daß bislang selbstverständliche Rechte, wie das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf selbstbestimmte Schwangerschaft und auf soziale Sicherheit, nicht mehr existieren. Es waren auch, wie Sie wissen, nur vier ostdeutsche Bundestagsabgeordnete Mitglieder der GVK.
In ganz Deutschland verschärfen sich die sozialen Konflikte, wachsen Armut und Obdachlosigkeit. Wir meinen also, daß das Defizit an konkreten sozialen Grundrechten und Staatszielen behoben werden muß, daß wir eindeutige verfassungsrechtliche Barrieren gegen die Mißachtung elementarer Alltagssorgen der Bürgerinnen und Bürger in Gesamtdeutschland brauchen.
Bislang hat im Rahmen der Verfassungsdebatte keine ernsthafte Diskussion um unsere Wirtschaftsverfassung stattgefunden. Wir halten auch dies für notwendig. Das grundgesetzliche Demokratieprinzip findet kaum Anwendung auf die Sphäre der Wirtschaft.
Kaum in einer anderen Frage ist die Kluft zwischen der gegenwärtigen Verfassungslage und den Verfas18116
sungserfordernissen so groß wie hinsichtlich der Vollendung der Einheit Deutschlands; Herr Hirsch hat das eben noch einmal sehr deutlich und unterstützenswert gesagt. Die Unfähigkeit zur Bewältigung dieses Problems wurde daran deutlich, daß man in der Gemeinsamen Verfassungskommission nicht bereit war, die Feststellung zu streichen, daß die Einheit vollendet sei. Die Einheit ist nicht vollendet; das wissen wir alle.
Deshalb haben wir eine ganze Reihe von Regelungen vorgesehen, um den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konflikten zwischen Ost- und Westdeutschland adäquate verfassungsrechtliche Bewegungs- und Lösungsformen zu geben. Dazu gehören Ergänzungen der Finanzverfassung ebenso wie die Toleranzregelung des Art. 160, den ich bereits als Art. 116b in die Kommission eingebracht habe. Das ist eine Regelung, die nur das für die Ostdeutschen einfordert, was für die Saarländer nach dem Gesetz über die Eingliederung des Saarlandes vom 23. Dezember 1956 selbstverständlich war, nämlich die Absage an Ausgrenzung und politische Diskriminierung in Ostdeutschland allein wegen der politischen Haltung zur DDR.
Selbst der zu Münster und Osnabrück beschlossene Vertrag des Westfälischen Friedens zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges vom 14. Oktober 1648 enthielt eine sogar noch viel weitergehende Klausel, die bestimmte, daß in Ewigkeit alle „Tätlichkeiten" gänzlich „getilgt" sind. Gegenüber Ostdeutschland jedoch wird der 40jährige Kalte Krieg nicht beendet, sondern fortgesetzt.
In der Gemeinsamen Verfassungskommission wurde dieser Antrag mit Empörung und mit Ausdrükken wie „ungeheuerlich" zurückgewiesen. Daran wird für mich deutlich, wie weit hier viele vom politischen Denken der Ostdeutschen entfernt sind und wie man mit Klischees aus der Zeit des Kalten Krieges darüber hinweggeht, daß es in Ostdeutschland zu massenweisen politischen Diskriminierungen gegenüber Menschen gekommen ist und immer wieder kommt, die keinerlei Menschenrechtsverletzungen begangen haben, allein wegen ihrer politischen Haltung zur DDR.
Wir haben in der Gemeinsamen Verfassungskommission ebenfalls eine eigenständige parlamentarische Vertretung zur Wahrung der ostdeutschen Interessen vorgesehen. Dieser Antrag erhielt nur meine eigene Stimme. In Ostdeutschland aber haben sich in Meinungsumfragen über 70 % der befragten Bürgerinnen und Bürger für eine derartige ostdeutsche Vertretung ausgesprochen.
Zu den gravierenden ungelösten Problemen zähle ich noch eine Reihe weiterer, die ich hier nur nennen möchte:
Es geht um die Abwehr der Gefährdung der biologischen Zusammenhänge, und es geht um das Grundrecht auf Gleichberechtigung der Frauen. Es ist verbessert worden; ich bin aber der Meinung, daß auch dort nicht genug geschehen ist.
Wir sind der Meinung, daß den 4 Millionen hier ständig lebenden Ausländerinnen und Ausländern
die gleichen Rechte zugestanden werden müssen wie den anderen Bürgerinnen und Bürgern.
Auch sind wir der Meinung, daß Regelungen für Behinderte und für Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung getroffen werden müssen. Das war in der Verfassungskommission nicht mehrheitsfähig. Wir sollten diese Frage in unserer Diskussion noch einmal aufgreifen.
Beseitigt werden muß endlich die auf geltendes Verfassungsrecht gestützte arbeitsrechtliche Schlechterstellung für etwa 1 Million Arbeiter und Angestellte von Einrichtungen der evangelischen und der katholischen Kirche.
Die Zeit reicht nicht, um alle Fragen anzusprechen, die hier behandelt werden müßten. Wir sehen natürlich das gegenwärtige politische Kräfteverhältnis und wissen, seitdem wir Karl Marx gelesen haben, daß Änderungen der Verfassungsordnung nur als Ergebnis von Veränderungen im politischen Kräfteverhältnis, nicht als überraschendes Ergebnis spontaner Sinnesänderungen der politischen Akteure eines Landes möglich sind.
Wir werden unsere konkreten Vorschläge einbringen. Wir meinen, daß diese Debatte nicht zu Ende ist. In der Bevölkerung wird es wachsende Mehrheiten für grundlegende Verfassungsreformen im Sinne unseres Entwurfs geben.
Ein letztes Wort: Es wird im Osten immer schwerer - ich muß Ihnen das versichern, vor allem denjenigen, die den Osten weniger kennen -, von Rechtsstaatlichkeit zu sprechen. In den Versammlungen der Einwohner gibt es mehr und mehr Antworten des Holmes und der Verzweiflung, wenn man von der Rechtsstaatlichkeit dieses Landes spricht.
({0})
- Nein, darum geht es mir nicht. Es geht mir nicht um Erinnerungen an früher, sondern darum, was heute in Ostdeutschland geschehen soll.
({1})
Ich bitte Sie also, ernsthaft darüber nachzudenken. Überprüfen Sie Ihre Verweigerungshaltung zur verfassungsmäßigen Gleichstellung der Bürger Ostdeutschlands!
({2})
Gehen Sie von Ihrer Position „Ihr habt das Grundgesetz bekommen" - sie haben es in verschlechterter Form, mit vielen Ausnahmeregelungen, bekommen - „und damit basta! " ab! Damit helfen Sie nicht den Ostdeutschen. Damit bewältigen Sie nicht die Integration Deutschlands, die Ihr und auch mein Ziel ist. Auf diesem Weg wird es nicht gehen. Ich bitte Sie: Denken Sie nach!
({3})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da es jetzt um Einzelheiten geht, will ich zunächst zwei Kollegen ansprechen: zuerst Herrn Heuer, in der Hoffnung, daß ich im Gegensatz zu Karl Marx immerhin noch die Chance habe, ihn zu überzeugen. Herr Heuer hat sich auf den Verfassungsentwurf des Runden Tisches und den Kuratoriumsentwurf bezogen. In der Tat zeigt der Verfassungsentwurf der PDS textliche Übereinstimmungen mit beiden. Aber, Herr Heuer, konnte Ihnen entgehen, daß Sie in drei ganz wesentlichen Punkten beide Verfassungsentwürfe verlassen haben, nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geist nach?
Das erste ist, daß Sie das Bekenntnis zur Menschenwürde von Art. 1 GG auf den Art. 12 GG versetzt haben. Das ist nicht nur eine formale Eigentümlichkeit. Vielmehr - das betrifft schon den zweiten Punkt - haben Sie damit, wie dies schon in der Verfassung der DDR 1968 der Fall war, die Staatsgrundsätze vor Menschen- und Bürgerrecht gestellt. Ich denke, das ist in einer deutschen Verfassung nicht mehr möglich.
({0})
Der zweite Punkt betrifft das Übergewicht der Exekutive, das an mehreren Stellen erkennbar ist. Sie wissen das besser als ich; ich will meine Zeit darauf nicht verschwenden. Es wundert mich nur, daß Ihnen das, unter Berufung auf den Runden Tisch und den Kuratoriumsentwurf, passiert ist.
Das dritte, das ich ansprechen wollte, steht nun wahrlich nicht in einem der beiden Entwürfe. Es bezieht sich auf die Ostkammer: Gerade wenn man mit solchem Nachdruck für die Vollendung der Einheit Deutschlands eintritt, kann man doch nicht einen Vorschlag machen, der die Spaltung auch noch ins Parlament hineinträgt.
({1})
In diesen drei Punkten stimmen, so denke ich, beide Verfassungsentwürfe nicht mit dem Ihrigen überein.
Entschuldigung, Herr Abgeordneter Ullmann, Professor Heuer will gerne eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich. - Bitte, Herr Heuer.
Herr Ullmann, ich möchte fragen, ob Sie meine Antwort dahin gehend teilen - ({0})
Wenn Sie auf den Knopf dort drücken und sich gedulden, bis es dauerhaft rot leuchtet,
({0}) dann funktioniert es.
Herr Ullmann, das mit dem Übergewicht der Exekutive verstehe ich nicht. Darüber müßten wir dann einzeln reden. Aber Sie haben weiter gesagt, unser Problem sei, wir hätten einen ersten Teil vorgeschaltet, der sozusagen den Staat verkörpert. Wir haben gemeint, die Frage der Volkssouveränität und der Staatsbürgerschaft vorschalten zu müssen. Ich glaube, inhaltlich ergeben sich aus dieser Tatsache keine Unterschiede. Aber darüber kann man reden. Wenn es uns gelänge, hätte ich nichts dagegen, unsere Entwürfe gemeinsam einzubringen. Wir sollten vielleicht lieber beide gemeinsam versuchen, die übrigen von unseren Verfassungsentwürfen zu überzeugen. Das ist für mich keine Grundfrage. Aber ich sage noch einmal: Wir haben die Frage der Volkssouveränität und der Staatsbürgerschaft vorgeschaltet, nicht den Staat. Das bitte ich Sie doch zu berücksichtigen.
Nun hatte ich Ihnen eigentlich das Wort zu einer Frage gegeben, Herr Professor, und nicht zu einer Kurzintervention. Wenn Sie jetzt noch so freundlich wären, die Antwort entgegenzunehmen, auch in der gebührenden Form,
({0})
dann bleiben wir in der Ordnung des Hauses. Bitte schön, Herr Dr. Ullmann.
Herr Präsident, wenn Sie mir erlaubten, die potentielle Frage zu beantworten, und das nicht auf meine Zeit anrechneten
Das tue ich gerne.
-, dann würde ich folgendes sagen: Herr Heuer, natürlich ist das mit dem ersten Teil inhaltlich richtig. Dennoch erhalte ich meine Frage und meine Kritik aufrecht; denn in Ihrem Begründungstext steht ausdrücklich, eine Verfassung sei die Verständigung einer Gesellschaft über ihre Staatsform. Diese Staatstheorie sehe ich auch im Vorschalten dieses ersten Teiles. Das ist der Differenzpunkt. - Danke schön, Herr Präsident.
Meine zweite persönliche Anrede richtet sich an den Kollegen Dr. Jahn. Er hat vorhin folgendermaßen argumentiert - merkwürdigerweise sekundiert von Herrn Professor Briefs -: Das deutsche Volk ist in seiner Mehrheit für die Einführung der Todesstrafe. Und darum ist die CDU/CSU gegen Plebiszite! Das ist doch eine ungeheuerliche Diffamierung des deutschen Volkes, dem anzugehören ich die Ehre habe, Herr Jahn.
({0})
Dagegen muß ich mich nun als deutscher Abgeordneter in aller Form verwahren.
Noch etwas zorniger und auch enttäuschter, Herr Dr. Jahn, verwahre ich mich dagegen, daß Sie mich zum Sprecher eines „atheistischen Zeitgeistes" gemacht haben. Sie wissen doch genausogut wie der Kollege Dr. Vogel, daß ich das nicht bin, sondern daß ich ein evangelischer Christ bin, dem es mit der Gewissensfreiheit Ernst ist. Und zur Gewissensfreiheit gehört für mich natürlich auch die Gewissensfreiheit des Atheisten.
Aber diese Ihre Argumentation zeigt doch, auf wie gefährliches Gelände man gerät, wenn man meint, der Demokratie durch eine Restauration autoritären Denkens aufhelfen zu müssen. Das kann doch gar nicht gelingen.
Lassen Sie mich das nun an drei Punkten erläutern.
Herr Dr. Ullmann, ehe Sie das tun, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß zwei Wünsche nach Zwischenfragen vorliegen, einmal von Herrn Dr. Adolf Jahn und einmal von dem Abgeordneten Krause ({0}). Sind Sie bereit, diese Fragen zu beantworten?
Selbstverständlich.
Zunächst Herr Dr. Jahn.
Herr Kollege Ullmann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich nicht behauptet habe, die Mehrheit des deutschen Volkes sei für die Todesstrafe, daß ich lediglich zum Ausdruck gebracht habe, daß es unter ganz bestimmten Umständen bei einem Plebiszit dazu kommen könnte? Dies ist ein qualitativer Unterschied.
Das zweite, das ich daran anschließen möchte, ist: Ich habe Sie heute, als ich über die Präambel sprach, nicht mit Namen genannt und habe Sie deshalb auch nicht als Vertreter eines atheistischen Zeitgeistes bezeichnet. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.
Herr Kollege Dr. Jahn, ich nehme das in beiden Fällen gerne und mit Beruhigung zur Kenntnis.
Abgeordneter Dr. Krause ({0}).
Herr Dr. Ullmann, wie bewerten Sie die Gleichrangigkeit in Art. 20 Abs. 2, der besagt, daß die Staatsgewalt vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird? Sind Sie mit mir und anderen der Meinung, daß, wenn es Recht ist, durch Verfassungsgericht und Verfassungsschutz zu verfolgen, wer gegen Wahlen ist, dasselbe dann auch gegenüber denen erfolgen müßte, die sich gegen das Volksrecht der Abstimmungen gemäß Art. 20 Abs. 2 aussprechen?
Herr Kollege Krause, mir ist Ihre Frage nicht ganz verständlich. Das kann an mir liegen. Ich weiß nicht, wer in diesem Lande gegen Wahlen ist. Ich glaube nicht, daß es solche Leute gibt.
Ich bin mit Ihnen möglicherweise einer Meinung, daß es an der Zeit ist klarzustellen, was das Grundgesetz denn eigentlich mit „Abstimmungen" meint. Das ist eine tiefe Unklarheit, und sie zu beseitigen, haben wir wie auch die SPD unsere Anträge zu Volksbegehren, Volksinitiative und Volksentscheid gestellt.
Ich wollte an drei Punkten klarmachen, warum ich der Meinung bin, daß eine Restauration autoritären Denkens unserer Demokratie nicht aufhilft: in der Ökologie, in bezug auf die sozialen Rechte und vor allen Dingen in bezug auf die Demokratie.
Das erste, die Ökologie. Natürlich, meine Damen und Herren, ist es ein erheblicher Fortschritt, daß sich die Kommission auf einen Formulierungsvorschlag zum Umweltschutz geeinigt hat. Über den Wortlaut denke ich genauso wie Herr Dr. Vogel; aber ich werde dem Vorschlag natürlich zustimmen. Nur, wenn Sie dann in der Kommissionsdrucksache und in der Begründung dazu schreiben, beim Umweltschutz handele es sich um ein existentielles, langfristiges Interesse des Menschen, habe ich freilich die große Sorge, daß diese Staatszielbestimmung eine von denen werden könnte, die niemals wirksam werden, weil genau diese Orientierung auf langfristige Interessen des Menschen unsere lebendige Umwelt an den Rand der Vernichtung bringt. Deswegen halte ich es nach wie vor - wie es in unserem Antrag auch gesagt ist - für unerläßlich, daß man sich dazu durchringt, endlich zu sagen, daß man diese Lebensgrundlagen um ihrer selbst willen schützen muß. Ich denke, mittlerweile ist das auch ein ziemlich weitgehender Konsens hinsichtlich des Tierschutzes. Es gibt 144 349 Eingaben zu dieser Sache, und ich denke, dem müßten wir endlich Rechnung tragen.
Ähnlich steht es bei der Frage der sozialen Rechte. Wenn sie selbst in der abgeschwächten Form der Staatszielbestimmung keinen Eingang in das Reformkonzept der Kommission finden konnten, dann zeigt das die grundsätzliche Nichtbereitschaft einer autoritär-antidemokratischen Technokratie, ihr Ausbeutungskonzept, das keinerlei sinnvolle Zukunftsperspektiven mehr eröffnet, zu einer Kultur transformieren zu lassen, in der das Leben das Wichtigste im Leben ist und darum der Heteronomie von Vermarktungszwängen eben nicht unterworfen werden darf.
Nun noch ein Schlußwort zu dem Verhältnis des Christentums zu unserer Gesellschaft. Warum muß man das in einer Verfassungsdebatte eigentlich thematisieren? Deswegen, meine Damen und Herren - und der Gesprächsnachgang mit dem Kollegen Dr. Jahn hat das eigentlich noch einmal unterstrichen -: Ich bin bedrückt, Herr Dr. Vogel, nicht über das, was Sie heute zu dem Thema der Präambel gesagt haben, aber ich bin trotzdem bedrückt über den blamablen Verlauf, den diese Debatte im Ganzen genommen hat. Blamabel finde ich schon, daß es nicht gelungen ist, immer wieder klarzumachen: Wer über die Berufung auf Gott redet, der redet über etwas anderes als über Gott selbst.
Das zweite, was ich nun in aller Form blamabel finde, ist, daß mir mit der größten Selbstverständlichkeit und Selbstgewißheit immer wieder gesagt worden ist: Bei dieser Formulierung der Berufung auf Gott in unserer Präambel kommt es ja gar nicht darauf an, ob man an Gott glaubt oder nicht; es handelt sich da nur um irgendeinen Transzendenzbezug.
Ich als evangelischer Christ habe jedenfalls in meinem Katechismus gelernt, daß wir es nicht für eine gute Sache halten, ohne Glauben über Gott zu reden, sondern daß das jedenfalls immer im Bereich des zweiten Gebots, des nichtsnutzigen und gefährlichen Redens über Gott, sich bewegt. Es ist ein Verstoß gegen das zweite Gebot. Und nun muß ich doch einmal als Theologe reden: Es ist der heidnische Gottesbegriff der politischen Theologie, der hier in unsere Debatte eingedrungen ist, und das halte ich in aller Form für blamabel. Daß damals, 1949, so formuliert wurde, das kann ich gut verstehen, aber diese Art der Debatte im Jahre 1992 und 1993 finde ich in aller Form blamabel.
({0})
Denn - und das ist mein Grund dafür - die Demokratie läßt sich eben nicht auf eine vordemokratische Zivilreligion, sondern allein auf die Freiheit begründen, auf die uneingeschränkte Freiheit des Glaubens und Gewissens wie am Anfang unserer demokratischen Epoche in Nordamerika und in Frankreich.
Meine Damen und Herren, die Vollendung der Einheit Deutschlands als Vollzug der seit 1949 geforderten demokratischen Verfassungsgebung liegt immer noch vor uns. Ich halte es für keinen Zufall, daß es die Bürgerbewegungen - wahrlich nicht nur die in der DDR, sondern auch anderswo, in der Bundesrepublik und in anderen Ländern - gewesen sind, die diesen Freiheitsimpuls lebendig gemacht haben, 1989 und schon davor.
Es ist mir doch eine Genugtuung, daß wenigstens eine der großen demokratischen Parteien uns teilweise dabei unterstützt und damit einen Beleg dafür geliefert hat, daß es möglich ist, daß Parteiendemokratie und Bürger- und Bürgerinnendemokratie kooperieren können und nicht Opposition gegeneinander sind.
({1})
Solange wir, meine Damen und Herren, uns verweigern, den Art. 146 anzuwenden, wie es unser Antrag vorsieht, wird es bei dem bleiben, was vorhin schon angeklungen ist: Die Verfassungswirklichkeit wird weiter dem Verfassungstext davonlaufen. Ich kann als Politiker und Demokrat nur sagen: Dann muß es eben so sein. Die Bürger und Bürgerinnen werden sich nicht hindern lassen, zu Runden Tischen und Ökologischen Räten zusammenzutreten, ob sie in der Verfassung stehen oder nicht.
Ich kann nur damit schließen, daß ich allen, die an dem dicken Bericht mitgearbeitet haben, vor allen Dingen den unermüdlichen Mitarbeitern des Sekretariats der Verfassungskommission, meinen aufrichtigen Dank ausspreche. Sie haben ein unbestechliches Dokument dieser Debatte geliefert und damit ein Dokument dafür, daß die Lage der Demokratie in
deutschen Landen jetzt einzig und allein vom Engagement der Bürger und Bürgerinnen abhängt.
({2})
Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich das Haus darüber informieren, daß die Fraktionen vorschlagen, die Tagesordnung um einen Punkt zu erweitern: Es handelt sich um die Eidesleistung eines Bundesministers. Ich hoffe, daß das Haus damit einverstanden ist. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich möchte Sie jetzt über den Sachstand informieren. Wir haben Wortmeldungen vorliegen, die eine Debattenzeit bis 14.15 Uhr oder 14.20 Uhr in Anspruch nehmen. Mir wird signalisiert, daß die Eidesleistung vermutlich erst um 14.30 Uhr, also etwas später, stattfinden wird. Da ich aber ohnehin nicht gewillt war, in einer Verfassungsdebatte nach Minuten und Sekunden zu rechnen, sondern die Möglichkeit eröffnen will, die Debatte recht offenzulassen, möchte ich Sie, Herr Dr. Vogel, jetzt nicht auffordern, zu filibustern. Ich will signalisieren, daß die Redner Zeit haben, ihre Beiträge in aller Ruhe vorzutragen.
Dies vorausgeschickt, möchte ich dem Staatsminister des Freistaates Sachsen, Herrn Steffen Heitmann, das Wort erteilen.
Staatsminister Steffen Heitmann ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In letzter Zeit kann man immer wieder lesen oder hören - auch heute hier im Hause wurde es deutlich - von der „historischen Chance" der Gemeinsamen Verfassungskommission, die vertan worden sei, von der „historischen Dimension" der deutschen Einigung, der die Gemeinsame Verfassungskommission nicht gerecht geworden sei.
({1})
Dabei wird dann meistens auf die vielen Änderungsvorschläge verwiesen, die gemacht worden sind, gegenüber den wenigen Änderungen, die dann die notwendige Zweidrittelmehrheit gefunden haben.
Damit wird dreierlei suggeriert:
Erstens. Der historischen Dimension der deutschen Wiedervereinigung müsse erst noch verfassungsrechtlich Ausdruck gegeben werden.
Zweitens. Die Gemeinsame Verfassungskommission habe den Auftrag gehabt, das Grundgesetz grundsätzlich zu überarbeiten.
Drittens. Die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission könne nur dann erfolgreich gewesen sein, wenn möglichst viele Änderungen zum Abschluß gebracht worden seien.
Alle drei Behauptungen sind nach meiner Überzeugung falsch.
Zur ersten Behauptung: Tatsache ist, daß wir mit der deutschen Wiedervereinigung ein Geschehen historischer Dimension erlebt haben. Unverdient haben wir eine wunderbare Chance bekommen. Daß wir sie in einer welthistorischen Sekunde ergreifen konnten,
Staatsminister Steffen Heitmann ({2})
lag u. a. daran, daß das Grundgesetz in großer Weisheit das verfassungsrechtliche Instrumentarium - nämlich Art. 23 oder auch Art. 146 - für eine solche Situation bereithielt.
({3})
Das Grundgesetz liegt dem historischen Ereignis der Wiedervereinigung zugrunde. Es muß ihm nicht erst nachgestaltet werden.
Zur zweiten Behauptung, zum Auftrag der grundsätzlichen Überarbeitung: Die deutsche Einigung ist vollzogen worden durch den freiwilligen Beitritt der DDR zum Grundgesetz nach Art. 23. Das war umstritten, ohne Zweifel; aber der Verlauf des Einigungsprozesses beweist, daß dieser Beitritt von der überwiegenden Mehrheit der Ostbürger gewollt wurde. Damit ist das Grundgesetz demokratisch legitimiert, Herr Dr. Ullmann.
({4})
Die Delegitimierung wird meines Erachtens herbeigeredet. Wir wollten das Grundgesetz, und wir wollten es nicht deshalb, um als erstes daran herumzumäkeln und herumzubasteln,
({5})
sondern um uns unter seinem Dach einzurichten.
Der Auftrag des Art. 5 des Einigungsvertrages war im wesentlichen von politischen Kräften des Westens formuliert. Er ist meines Erachtens über Gebühr ausgeweitet worden, und bei den Diskussionen in der Gemeinsamen Verfassungskommission hatte ich jedenfalls manchmal den Eindruck, daß der Anlaß der deutschen Einheit lediglich das Vehikel war, um alte westdeutsche Verfassungsdebatten erneut aufnehmen zu können.
({6})
Herr Staatsminister, der Abgeordnete Dr. Ullmann würde Ihnen gern eine Frage stellen.
Staatsminister Steffen Heitmann ({0}): Ich würde gern weiter ausführen. Wir haben uns oft genug gestritten.
({1})
Zur dritten Behauptung: Es ist keine Frage, in unserem Lande besteht ein gewaltiger Erneuerungsbedarf. Die Wiedervereinigung hat uns dies ganz neu sehen lassen. Durch den Ost-West-Gegensatz und durch das immer relativierende negative Gegenüber des Ostens konnten die Defizite der alt gewordenen Demokratie im Westen verdrängt werden. Das ist jetzt vorbei. Aber gerade weil das so ist, weil wir in einer Zeit des Wandels leben, dürfen wir nicht leichtfertig die Grundlage unseres Gemeinwesens verändern.
Rainer Kunze hat in einem Gedicht - „Blickpunkt" hat er es genannt - folgendes gesagt:
Frau nicht
die möbel verrücken
Wer
im Kopf
umräumt dessen
schreibtisch muß
feststehen.
Der Gemeinsamen Verfassungskommission ist es im wesentlichen gelungen, den Schreibtisch fest stehen zu lassen, und das sehe ich als ihren größten Erfolg an.
({2})
Lassen Sie mich noch zwei Dinge besonders ansprechen: Die Arbeit in der Kommission hat in für mich beunruhigender Weise zutage treten lassen, daß zwischen den politischen Kräften nur noch ein schmaler Konsens im Grundverständnis unserer Verfassung besteht. Das Grundgesetz trägt von seiner Anlage her einen juristisch-pragmatischen Charakter mit in aller Regel justitiablen Bestimmungen. Leider ist nicht mehr selbstverständlich, daß es dabei bleiben soll. Zunehmend wird gefordert, daß Sätze politischprogrammatischen Charakters Aufnahme finden sollen. Die Diskussion um die Staatsziele, wie sie auch heute wieder geführt worden ist, zeigt das am deutlichsten. Ohne genau zu wissen, was sie am Ende als Verfassungstext bewirken, verändern sie den juristisch-pragmatischen Charakter.
Wenn man sich auf diesen Weg begibt, ohne ihn eigentlich zu wollen, dann kommt man - und da stimme ich mit Ihnen, Herr Dr. Vogel und Herr Dr. Ullmann, überein - zu solchen hypertrophen Formulierungen, wie sie das Staatsziel Umweltschutz erfahren hat. Ich befürchte, daß dies ein Formelkompromiß geworden ist.
Hinzu kommt die irrige Auffassung, Defizite in der Wertordnung unseres Gemeinwesens könnten dadurch beseitigt oder gemildert werden, daß man sie von Verfassungs wegen einfordert.
Eine solche Auffassung liegt nach meiner Überzeugung z. B. dem mit viel Initiative von Herrn Elmer verfolgten Antrag zugrunde:
Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.
Wer wäre nicht für Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn?! Schließlich spüren wir die zunehmenden Defizite bei diesen Grundtugenden in unserer Gesellschaft. Was aber bewirkt der Satz in unserer Verfassung? Es macht mich ratlos, wenn mir selbst ausgewiesene Fachleute des Verfassungsrechts sagen: Ein solcher Satz schadet nicht. - Nach meiner Überzeugung dürfen wir in unsere Verfassung nicht schreiben, was nicht schadet, sondern allenfalls, was notwendig ist und was nützt.
({3})
Mich beunruhigt der Verlust eines klaren gemeinsamen Verfassungsverständnisses. Auch dies ist ein Grund, nur das Notwendige zu ändern.
Herr Staatsminister, Entschuldigung, wenn ich Sie noch einmal unterbreche. Der Abgeordnete Dr. Elmer hatte den Wunsch, eine Frage zu stellen.
Staatsminister Steffen Heitmann ({0}): Ich würde gerne fortfahren. Mit Herrn Elmer habe ich mich schon oft genug auseinandergesetzt.
({1})
- Vielleicht ist das möglich. Ich bin aber auch gleich fertig.
Schließlich: Einer der wichtigsten Änderungsvorschläge ist für mich - und da geht es nun wirklich um den juristisch-pragmatischen Charakter unseres Grundgesetzes - die Änderung des Art. 29. Herr Dr. Voscherau ist darauf auch schon eingegangen. Es ist bisher ein Neugliederungsverhinderungsartikel. Die Erleichterung der Länderneugliederung ist eine aus der Wiedervereinigung erwachsene Folge, die bisher überhaupt nicht genügend im Blick ist. Ich bin fest davon überzeugt: 16 Länder sind zuviel.
({2})
Nicht nur finanziell können wir uns das auf Dauer nicht leisten. Auch die notwendige Kooperation und Abstimmung zwischen 16 Ländern, zwischen dem Bund und den Ländern und zunehmend auch im Zusammenhang mit der Europäischen Union eind in einem Maße erschwert, daß der Föderalismus von innen heraus ausgehöhlt zu werden droht.
({3})
- Sachsen auch.
Ich bin sehr dankbar, daß wir zu der einstimmig angenommenen Empfehlung gekommen sind. Sie wird aber in Zukunft nicht ausreichen. Wenn wir uns einen Neugliederungsauftrag nicht selbst setzen, dann wird er uns aufgezwungen werden.
({4})
- Die Mehrheit hat mich bisher daran gehindert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Gemeinsame Verfassungskommission hat einen Auftrag des Einigungsvertrags erfüllt. Wir sollten ihre Arbeit weder überhöhen noch nachträglich verklären, sondern rasch die notwendigen Änderungen beschließen und dann die Debatte um unser Grundgesetz abschließen.
({5})
Sie führt nach meinem Eindruck eher zu einer Delegitimierung unserer Verfassung im Bewußtsein der Bevölkerung als zu einer Befestigung.
Die Bevölkerung erwartet von uns nicht eine Verfassungsdebatte - darüber bin ich sicher - und schöne Worte in der Verfassung, sondern Klarheit und Wahrheit im politischen Reden und Handeln. Das ist nach meiner Überzeugung der eigentliche Erneuerungsbedarf in unserem Vaterland.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren, ich sehe mich leider genötigt, angesichts dessen, was von Herrn Staatsminister Heitmann über Delegitimation und Mäkelei gesagt worden ist, zum zweiten Mal etwas klarzustellen.
Erstens. Ich habe heute früh schon gesagt: Ich habe mich Mitte Mai 1990 in der frei gewählten Volkskammer dafür eingesetzt, dieses Grundgesetz so schnell wie möglich in der ehemaligen DDR in Kraft zu setzen.
Zweitens. Ich habe mich als Mitglied des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder eingesetzt und dafür, einen Verfassungsentwurf auf alle Fälle und unter allen Umständen auf der Basis des Grundgesetzes zu entwerfen.
Drittens. Ich verwahre mich dagegen, Änderungsanträge zum Grundgesetz als Mäkelei einzustufen.
({0})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Ulrike Mascher.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! „Jetzt oder nie: Frauenrechte in die Verfassung! "
({0})
Das war ein Signal für viele Frauen, sich in die Verfassungsdiskussion einzumischen, die durch den Einigungsprozeß angestoßen wurde, auch wenn das offensichtlich einem Kollegen hier nicht paßt, daß Frauen sich so engagiert haben.
Schon frühzeitig hatten die Frauen gemeinsam über ihre Vorstellungen und Erwartungen an eine Verfassung für ein Deutschland ohne Mauern nachgedacht. Bereits im April 1990 erschien der Aufruf: „Frauen in bester Verfassung", im September wurde dann in der Paulskirche das „Frankfurter Frauenmanifest" verabschiedet, der Frauenpolitische Runde Tisch legte seine Vorschläge vor, und von der SPD und den GRÜNEN kamen die ersten Formulierungen zur Ergänzung und zur Neufassung von Art. 3 und Art. 6 GG.
Zu kaum einem Thema der Verfassungsdebatte hat es eine so breite und intensive Diskussion der Frauen
- und auch einiger Männer - in Ostdeutschland wie in Westdeutschland gegeben. Unsere Arbeit in der Gemeinsamen Verfassungskommission ist von immer neuen Fraueninitiativen begleitet worden. So hat z. B. der Deutsche Frauenrat, der immerhin 11 Millionen Frauen in seinen Mitgliedsverbänden organisiert, eine eigene Anhörung zu seinen Forderungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission durchgesetzt.
Der bundesweite Zusammenschluß der kommunalen Frauenbüros hat die Forderungen vieler Frauen in großen Körben - in Erinnerung an Elisabeth Selberts Waschkörbe - den beiden Vorsitzenden der Gemeinsamen Verfassungskommission überreicht.
Mit einer bundesweiten Plakataktion haben vor einem Jahr viele bekannte Frauen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen und Arbeitsfeldern
- ich sehe einige auch hier auf beiden Seiten des Hauses sitzen - ihrer Forderung noch einmal Ausdruck verliehen: „Jetzt oder nie: Frauenrechte in die Verfassung! "
Über 80 000 Frauen - vielleicht waren auch einige Männer dabei - haben sich in Briefen und Postkarten mit der Forderung nach wirklicher Gleichstellung und nach der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit an die Gemeinsame Verfassungskommission gewandt.
Viele Frauen hatten erkannt, daß eine Verfassung nichts Abstraktes ist, in höheren juristischen Sphären angesiedelt, sondern durchaus alltagstauglich ihre Forderungen nach Ausbildung und Beruf, nach Beteiligung und partnerschaftlicher Arbeitsteilung unterstützen und voranbringen kann.
Nach dem Frauenkonvent auf Frauenchiemsee im Sommer 1992 gab es eine große Übereinstimmung vieler Frauen aus einem ganz breiten politischen Spektrum für drei zentrale Forderungen: erstens die Ergänzung des Art. 3 GG:
Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Der Staat ist verpflichtet zur Gleichstellung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen. Zum Ausgleich bestehender Ungleichheiten sind Maßnahmen zur Förderung von Frauen zulässig.
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Zweitens die Ergänzung des Art. 6 GG:
Wer in häuslicher Gemeinschaft Kinder erzieht oder notwendige Pflege leistet, ist durch die staatliche Ordnung zu schützen und zu fördern. Der Staat schafft die Möglichkeit für Frauen und Männer, Familienaufgaben mit Erwerbstätigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben zu vereinbaren.
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- Nein, das hat bisher erhebliche Schwierigkeiten gemacht. Wenn sich das noch nicht bis zu Ihnen durchgesprochen hat, dann bedaure ich das sehr.
Drittens: In einer neuen Verfassung mit hoher Aussagekraft und Symbolwert ist die weibliche und die männliche Sprachform zu verwenden. Dies kann nicht durch sogenannte neutrale Formulierungen ersetzt werden.
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Und es gab das Versprechen: Über alle parteipolitischen und ideologischen Grenzen hinweg werden wir Frauen für unsere Forderungen mutig und phantasievoll kämpfen.
Was ist daraus geworden? Heute liegt Ihnen ein gemeinsamer Gesetzentwurf vor, der eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 - des Gleichberechtigungsartikels - vorsieht. Ich danke allen Mitgliedern in der Gemeinsamen Verfassungskommission, insbesondere den Kolleginnen, die dazu beigetragen haben, daß wir die millimeterweise Annäherung unterschiedlicher Standpunkte erreicht haben. Ich weiß, wie schwierig das war. Ich erwarte auch, daß diese Ergänzung im Bundestag und im Bundesrat die notwendige Zweidrittelmehrheit findet.
Aber ich verrate ja auch kein Geheimnis, wenn ich sage: Den großen Jubel hat diese Ergänzung bei vielen Frauen, die sich seit 1990 für eine Konkretisierung des Gleichberechtigungsgrundsatzes durch einen Gleichstellungsauftrag engagiert haben, nicht ausgelöst. Aber wir sehen die neue Qualität, die diese Ergänzung bringt:
Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
Die aktive Formulierung „Der Staat fördert" ist ein verbindlicher Auftrag, in der Lebensrealität die notwendigen Veränderungen durchzusetzen. Daß Veränderungen notwendig sind, ist, glaube ich, ein breiter Konsens zumindest bei Frauen, aber auch bei vielen Männern.
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Wir wollen endlich die faktische Gleichberechtigung von Frauen und Männern schaffen. Es geht also nicht mehr um die Herstellung gleicher Rechte für Frauen - hier ist viel erreicht worden -, sondern es geht ausdrücklich darum, diesen gleichen Rechten für Frauen in der Wirklichkeit zum Durchbruch zu verhelfen.
Gesetzgeber, Regierung und Verwaltung dürfen also nicht mehr abwarten, wann und ob ein Verfassungsgerichtsurteil sie zu meist zögerlichem Handeln zwingt, sondern sie sind zu eigenem Handeln aufgefordert. Ihr Handeln wird sich daran messen, ob es auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Das heißt, in unserer Verfassung wird anerkannt: Es gibt Nachteile bei der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung, Nachteile zu Lasten der Frauen. Diese Nachteile sollen nicht abgebaut, abgeschwächt oder abgemildert, sondern sie sollen beseitigt werden. Eine ganz klare Zielvorgabe.
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Die Erkenntnis, daß dieses Ziel nicht mit freundlichen Appellen erreicht werden kann, hat jetzt nach schmerzlichen Erfahrungen auch Teile der CDU und sogar der CSU erreicht. Eine bayerische Staatssekretärin denkt bereits öffentlich über die Notwendigkeit von Quoten nach.
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- Es ist Frau Stamm, um das eindeutig festzumachen.
Um es noch einmal zu sagen: Wenn die SPD von Quoten als Instrument zum Abbau von Benachteiligungen spricht, dann geht es um leistungsbezogene oder leistungsabhängige Quoten. Es geht uns darum, endlich die informellen Männerquoten zu knacken, auch wenn Ihnen das vielleicht nicht so sehr gefällt.
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Das Geschlechtsmerkmal „weiblich" soll in Zukunft kein Nachteil mehr sein. Das jüngste Urteil des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichts hat dazu in wünschenswerter Deutlichkeit Stellung bezogen.
Die gemeinsam eingebrachte Ergänzung des Art. 3 „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin" hat zwar nicht mehr die sprachliche Kraft der Formulierung von Elisabeth Selbert: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Aber zusammengefügt werden beide Teile, der Gleichberechtigungsauftrag und die Nachteilsbeseitigung, der Sache der Frauen nützen.
Mir fällt auf, daß von der Ästhetik der Sprache des Grundgesetzes und der Notwendigkeit von Klarheit und Kargheit immer dann die Rede ist, wenn es um die Rechte von Frauen geht. Ich denke nur an den Art. 23 oder an das Monstrum, das wir jetzt als Art. 16a in der Verfassung haben: Dagegen ist das, was wir zur Ergänzung des Art. 3 formuliert haben, präzise, schlank und elegant.
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Leider haben wir bei unseren Vorschlägen für eine Änderung des Art. 6 nur eine sehr eingeschränkte Bereitschaft bei der CDU/CSU gefunden, sich überhaupt auf dieses Thema einzulassen. Weder die veränderte gesellschaftliche Realität noch die Ausführungen der überwiegenden Mehrheit der Sachverständigen, noch die Forderungen und Vorschläge von verschiedenen Familienverbänden haben an der Position der CDU/CSU etwas geändert: Eine Ergänzung des Grundgesetzes ist hier nicht erforderlich und nicht wünschenswert.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der CDU, glauben Sie wirklich, Sie können die Realität, daß immer mehr Menschen nicht mehr in traditionellen Ehe- und Familienmustern leben, einfach ausblenden? Halten Sie es wirklich für richtig, dem Zusammenleben von Menschen, die z. B. als gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft nach unserem
Recht nicht heiraten können, Schutz und Anerkennung auch in der Verfassung zu versagen? Halten Sie es angesichts der Lebenssituation von Familien mit Kindern oder von Familien mit Pflegebedürftigen nicht für angemessen, den Staat in unserer Verfassung zur Förderung dieser Familien zu verpflichten? Das wäre ein sinnvoller Beitrag zum Jahr der Familie.
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Die vielen Eingaben an die Verfassungskommission, aber auch die Stellungnahmen von kirchlichen Frauenverbänden, von Gewerkschaften und vielen Frauengruppen machen deutlich, wie wichtig die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit und der Teilnahme am öffentlichen Leben für viele Menschen ist. Irmgard Jalowy, die Vorsitzende des Deutschen Frauenrates, hat am 26. Januar 1994 diese Forderung noch einmal eindringlich an alle Fraktionen gerichtet.
Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zu § 218 StGB eine besondere Verpflichtung des Staates formuliert. Ich zitiere: „Der Schutzauftrag für Ehe und Familie ... und die Gleichstellung von Mann und Frau in der Teilhabe am Arbeitsleben ... verpflichten den Staat und insbesondere den Gesetzgeber, Grundlagen dafür zu schaffen, daß Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit aufeinander abgestimmt werden können und die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt. "
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- Ja, das stammt vom Bundesverfassungsgericht.
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Die CDU/CSU hat bei der Debatte in der Gemeinsamen Verfassungskommission zwar anerkannt, daß es hier für sie Diskussionsbedarf gibt. Ich erinnere mich an eine diesbezügliche Erklärung von Herrn Jahn. Irgendwelche Ergebnisse dieser Diskussion für die Verfassungsdebatte kann ich aber - ich sage hoffnungsvoll: bisher - leider nicht erkennen. Deswegen möchte ich noch einmal feststellen: Die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit ist eine der Grundvoraussetzungen für einen gleichberechtigten Zugang von Männern und Frauen zu einer Berufstätigkeit. Die von der SPD vorgeschlagene Ergänzung des Art. 6 des Grundgesetzes ist also auch eine notwendige Unterstützung des Gleichberechtigungsauftrags des Art. 3.
Ein Weiteres: Für die Frauen in der ehemaligen DDR war die Vereinbarkeit von Beruf und Familie trotz großer Belastungen ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Es könnte ein positiver Beitrag zum Einigungsprozeß sein, dieses Selbstverständnis der Frauen aus den neuen Bundesländern in unserer gemeinsamen Verfassung aufzugreifen und damit auch ihren Hoffnungen und Erwartungen in einem gemeinsamen Verfassungsprozeß Raum zu geben.
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Besonders unbefriedigend und unverständlich ist es für die SPD, daß unsere Vorschläge zur Aufnahme
spezieller Kinderrechte in die Verfassung am entschlossenen Nein der CDU/CDU gescheitert sind. Es ist uns bei diesem Komplex darum gegangen, die Rechte von Kindern, wie sie von der Verfassungsrechtsprechung präzisiert worden sind, schlank und elegant in den Text der Verfassung aufzunehmen.
Wir wollen deutlich machen, daß auch Kinder in unserer Verfassung eigene Grundrechte haben. Kinder sind das schwächste Glied in unserer Gesellschaft. Sie haben leider keine starke Lobby.
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Deswegen brauchen wir eigene Kinderrechte in unserer Verfassung.
Warum lehnen Sie es eigentlich ab, in der Verfassung eindeutig und unmißverständlich festzuschreiben: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen",
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und zwar angesichts zunehmender Gewalt in Deutschland? Die Zahlen sind bedrückend: Jährlich werden bei uns etwa 100 Kinder zu Tode geprügelt, über 300 000 Jungen und Mädchen erleiden durch körperliche Züchtigung schwere körperliche und seelische Schäden.
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- Das sind Zahlen des Kinderschutzbundes; die habe ich nicht erfunden.
Für uns ist eine Ächtung von Gewalt gegen Kinder ein wichtiger Beitrag zum Schutz von Kindern. Wir machen uns auch hier keine Illusion über die Wirkung von Verfassungsrechten, und wir wollen damit auch keine falschen Hoffnungen wecken. Aber wenn unser Grundgesetz politische Leitprinzipien für die Entwicklung unserer Gesellschaft gibt, ist solch eine Orientierung zur Gewaltlosigkeit gegenüber Kindern in unserer Verfassung geboten.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen: die Sprache unserer Verfassung. Es war für die CDU, die CSU und auch die F.D.P. leider nicht zu akzeptieren, unser Grundgesetz in einer geschlechtergerechten Sprache zu formulieren.
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Eine Verfassung, die ein Gleichberechtigungsgebot enthält, sollte selbst gleichberechtigt formuliert sein. Immerhin: Es gab 31 Stimmen in der Gemeinsamen Verfassungskommission für solch eine sprachliche Erneuerung des Grundgesetzes;
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eine Mehrheit, aber keine Zweidrittelmehrheit.
Ich möchte diejenigen Mitglieder des Bundestags, die nicht in der Gemeinsamen Verfassungskommission waren, darauf aufmerksam machen, daß es Verfassungen von Ländern gibt - z. B. Schleswig-Holstein - die in einer solchen geschlechtergerechten Sprache geschrieben sind. Es ist kein sprachliches
Monstrum, sondern es ist durchaus praktikabel und handhabbar.
Ich bin häufig gefragt worden, ob bei den Beratungen im Bundestag und im Bundesrat noch etwas bewegt werden kann. Nach den Erfahrungen, daß die Einmischung und die vielfältigen Aktionen der Frauen zu Art. 3 in der Verfassungskommission bestimmt etwas bewegt haben, bin ich nicht ganz hoffnungslos. Vielleicht bewegen ja der Frauenprotest und der Frauenstreik im März hier in Bonn und an vielen anderen Orten in Deutschland die Verfassungsdebatte noch einmal im Interesse der Frauen.
Nun noch ein kleiner Hinweis für diejenigen, die damit Schwierigkeiten haben: Schon 1776 hat Abigail Smith nach der Unabhängigkeitserklärung der USA geschrieben: Sollte in der neuen Verfassung den Frauen nicht besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, so sind sie zur Revolte bereit. Ich hoffe, daß es dazu nicht kommen muß,
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sondern daß wir mehr Frauenrechte in die Verfassung bekommen. Jetzt oder nie - das ist unsere Chance.
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Gerhard Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einleitend der Kollegin Mascher vorschlagen, den historischen Rückblick auf die Durchsetzung der Frauenrechte um eine Anmerkung zu ergänzen. Ich habe immer die Schweiz vor Augen, Frau Kollegin. Da hätten Sie auch sagen können: Gott sei Dank hatten wir in Deutschland keine Volksentscheide; sonst wären wie in der Schweiz jahrzehntelang die Männer bewaffnet mit alten Degen zur Abstimmung gegangen und hätten den Frauen das Wahlrecht verweigert.
Herr Kollege Vogel, es ist nicht unbedingt immer so, daß ein Staat mit Volksentscheiden, Volksbegehren besonders fortschrittlich ist. Manchmal sind die Abgeordneten reformfreudiger als die Bürgerinnen und Bürger.
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Ich möchte mich jetzt aber dem Antrag der SPD, die Ergebnisse der Verfassungskommission nachzubessern, etwas systematischer zuwenden.
Der erste Satz hat mich geradezu begeistert. Dort steht nämlich unter dem Stichwort „Problem", daß wir in den Jahrzehnten der Existenz der alten Bundesrepublik Deutschland mit unserer Verfassung eigentlich kein Problem hatten, jedenfalls kein ernsthaftes. Sie haben dort niedergelegt, was wir auch immer wiederholt haben: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat sich bewährt.
Ich habe allerdings erhebliche Probleme, den Zusammenhang herzustellen, wenn Sie auf der Seite 7 dann formulieren - es ist etwas versteckt, aber doch
sehr deutlich -: Wir fordern eine umfassende Verfassungsreform. Dazwischen muß intellektuell einiges passiert sein; denn mit der Logik kann man die beiden Sätze ja nicht sofort miteinander verbinden.
Ich habe genau nachgelesen. Die SPD spricht von tiefgreifenden Veränderungen seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Unter der Überschrift „Was hat sich verändert?" nennen Sie als erstes den Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie, den Wegfall des Ost-West-Gegensatzes. Diese Begründung kann mich nicht überzeugen. Wenn ich das richtig sehe und das hier einmal in der Sprache des Sports wiedergeben darf, ist es ja so: Eine Mannschaft hat verloren, und Sie schlagen vor, daß die andere Mannschaft, die gewonnen hat, die Mannschaftsaufstellung beim nächsten Spiel grundlegend verändert. Das, Herr Kollege Vogel, ist nicht überzeugend.
Dann kommt unter der Überschrift „Was hat sich seitdem konkret verändert?" der zweite Hinweis: Die deutsche Einigung hat stattgefunden. Das ist richtig. In diesem Zusammenhang haben vor allem der Kollege Ullmann und seine politischen Freunde in der Vergangenheit immer wieder vorgetragen, man müsse Errungenschaften der früheren DDR in diese neue Bundesrepublik hineinretten und in der Verfassung verankern. Es ist etwas dürftig geworden, was inzwischen als Errungenschaft konkret benannt wird.
Herr Kollege Ullmann, ich kann es nicht ganz verstehen, daß Sie als Theologe in dem Zusammenhang heute an diesem Pult beklagt haben, daß man das Recht auf bequeme Abtreibung bei uns jetzt nicht mehr wahrnehmen kann. Ich bin Ihrer Meinung, daß das Strafrecht nur begrenzt etwas hilft. Aber daß uns ein Theologe so etwas vorträgt, da staune ich schon.
Herr Abgeordneter Dr. Friedrich, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ullmann zu beantworten?
Ja.
Bitte schön, Herr Dr. Ullmann.
Herr Kollege Friedrich, können Sie mir bitte sagen, wo ich in meiner Rede von „bequemer Abtreibung" gesprochen habe? Ich habe vom Schutz des ungeborenen Lebens gesprochen, und zwar vom wirksamen, nicht vom phrasenhaften Schutz des ungeborenen Lebens.
Herr Kollege Ullmann, wir müssen im Protokoll nachschauen. Ich habe es natürlich noch nicht vor mir liegen. Auf jeden Fall haben Sie einleitend vom Freiheitsrecht der Frau gesprochen. Das ist für Sie besonders wichtig. Da unterscheiden wir uns.
Herr Dr. Friedrich, Herr Abgeordneter Professor Heuer wollte auch eine Frage stellen. - Bitte schön.
Stimmen Sie mir nicht zu, daß der Ausdruck „bequeme Abtreibung" eine Beleidigung der Frauen ist?
Nein. Ich habe das nicht von mir aus als Ziel formuliert, sondern ich habe so eine Äußerung eines Kollegen zusammengefaßt, die ich kritisiere.
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- Wir wollen jetzt doch keine Abtreibungsdebatte führen.
Das hängt davon ab, ob Herr Dr. Friedrich bereit ist, sie zu beantworten.
Eine letzte Frage. Dies ist ja nicht das zentrale Thema der Verfassungsdebatte.
Es ist Ihr gutes Recht.
Bitte schön, Herr Dr. Heuer.
Wenn Sie sich je mit einer Frau unterhalten haben, die sich dem unterzogen hat, dann stellen Sie fest, daß das für jede Frau ein schmerzhafter Prozeß war. Halten Sie es nicht doch für eine Niedertracht, den Ausdruck „bequeme Abtreibung" überhaupt zu verwenden?
Herr Kollege Heuer, ich darf wiederholen, daß ich eine Formulierung eines Kollegen zusammengefaßt und kritisiert habe.
({0})
Dafür können Sie mich nicht kritisieren.
Die SPD schreibt in ihrer Begründung der Anträge jetzt nicht mehr, wir müßten Errungenschaften der früheren DDR in unseren Staat hineinnehmen und verfassungsrechtlich verankern. Sie passen sich der neuen Lage und unseren Erkenntnissen etwas an. Die SPD formuliert jetzt, wir müßten die verfassungspolitischen Konsequenzen, die die Menschen in den neuen Bundesländern in deren neuen Verfassungen gezogen haben, in das Grundgesetz übernehmen. Das ist eine etwas andere Begründung.
({1})
Wenn ich mir, Herr Kollege Vogel, Ihre Anträge ganz konkret anschaue, dann stelle ich allerdings fest, daß das, was Sie konkret beantragen, das ist, was auf Ihren Parteitagen seit etwa zehn bis 15 Jahren beschlossen wurde. Da Sie damals nicht mit der deutschen Einheit gerechnet haben, stelle ich einen besonderen inneren Zusammenhang nicht fest. Ich stelle auch nicht fest, daß die Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern sozusagen Erfahrungen der Vergangenheit in ihre Verfassungen aufgenommen haben. Sie haben vielmehr Hoffnungen zum Ausdruck gebracht, Hoffnungen, daß man
eine zugegebenermaßen schlimme Situation mit einigen Verfassungssätzen relativ schnell ändern kann.
Insofern ist die Situation die gleiche wie bei uns in Bayern. Auch da gab es - allerdings zu einem anderen Zeitpunkt: nach der Katastrophe, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - die Notwendigkeit, eine neue Verfassung zu formulieren. Die Menschen neigen nach einer solchen Katastrophe offensichtlich dazu, zu glauben, mit Verfassungsrecht kann man die Wirklichkeit schnell ändern, wenn man nur alles Schöne und Gute, was man sich so erwünscht und ersehnt, in die Verfassung hineinschreibt und darin festlegt. Das können wir in der bayerischen Verfassung nachlesen. Ich habe aber schon in der Verfassungskommission darauf aufmerksam gemacht, daß diese Kapitel der bayerischen Verfassung in den Schulen häufiger zitiert werden als in den Gerichtssälen.
Herr Abgeordneter Dr. Friedrich, Herr Abgeordneter Dr. Schmude möchte Ihnen gern eine Frage stellen.
Bitte sehr.
Herr Friedrich, indem ich einen Teil dessen, was Sie sagen, durchaus verstehe und akzeptiere, frage ich aber doch, ob Sie mit diesem pauschalen Verriß dessen, was in die Länderverfassungen aufgenommen worden ist, nicht doch eine überhebliche Stellungnahme und eine Abwertung der Länderverfassungen ausdrücken. Ist Ihnen eigentlich nicht bewußt, daß Sie da in einer recht abwertenden und diffamierenden Weise über die Verfassungsgeber der Länder reden?
({0})
Herr Kollege, ich meine, daß das, was in Bayern gemacht worden ist, und das, was der Kollege Vogel ja immer wieder zu Recht aus den Verfassungen der neuen Bundesländer zitiert hat, psychologisch erklärbar ist. Diffamieren möchte ich das nicht. Es ist eben - darauf möchte ich jetzt ohnehin zu sprechen kommen - ein ganz anderes Verfassungsverständnis, eine ganz andere Konzeption von Verfassung. Die Frage ist, ob wir unsere Verfassungskonzeption grundlegend ändern wollen.
Ich komme jetzt eh zu meinem vorbereiteten Text. Deshalb darf ich Sie bitten, sich wieder zu setzen.
({0})
Was ist denn die Konzeption unseres Grundgesetzes? Die Konzeption unseres Grundgesetzes ist, daß wir darin Institutionen beschreiben, daß wir diesen Zuständigkeiten zuweisen und daß wir Verfahren für den politischen Entscheidungsprozeß beschreiben. Es ist noch ein Zweites: Wir zeigen auf, wo auch demokratische Mehrheiten Freiheitsrechte des einzelnen zu respektieren haben.
Das ist eine - so kann man fast sagen - schlanke Verfassung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß man darauf verzichtet, durch Staatsziele, durch Programmsätze das Ergebnis politischer Entscheidungsprozesse zu steuern. Wir wollen am Konzept dieser schlanken Verfassung festhalten. Das ist also nicht eine negative Bewertung dessen, was andere gemacht haben. Wir glauben bloß, daß die genannte Grundgesetzkonzepbon beibehalten werden sollte.
Wir machen nur ganz wenige Ausnahmen; der Kollege Jahn hat schon das Staatsziel Umweltschutz erwähnt. Man kann auch erklären, warum wir bei diesem Punkt eine Ausnahme machen. Wir haben als Ergebnis der industriellen Revolution gelernt - ich möchte das jetzt nicht im einzelnen ausführen -, daß Marktwirtschaft, freier Wettbewerb in der Wirtschaft einen sozialen Rahmen brauchen, damit das Ganze menschenverträglich ist. Und wir haben in den letzten 20 Jahren, 30 Jahren festgestellt, daß wir auch einen ökologischen Rahmen für freies Wirtschaften brauchen. Das ist eine grundlegende Aussage. Dieses spezielle Staatsziel quasi als Ergänzung des Sozialstaatsprinzips in die Verfassung hineinzuschreiben ist deshalb sinnvoll.
Die SPD schlägt nun vor -jetzt komme ich zu einem konkreten Nachbesserungsvorschlag -, auch den Tierschutz in diesem Zusammenhang in der Verfassung zu verankern. Ich will offen bekennen, daß wir mit dem, was wir bisher formuliert haben, nicht völlig glücklich sind. Wer den Bericht der Verfassungskommission nachliest, der wird darin im einzelnen aufgeführt finden, daß es zweifelhaft ist, ob wir durch unsere jetzige Formulierung des Staatsziels Umweltschutz alle Aspekte des Tierschutzes erfaßt haben.
Wir haben ja überlegt, wie man das besser machen kann. Beim Staatsziel Umweltschutz gab es keine konkreten anderen Vorschläge. Wir haben in unserer Fraktion einmal darüber nachgedacht - ich glaube, auch der Kollege Schmude hat das getan -, ob man die Präambel ergänzen sollte - dazu wären wir wahrscheinlich immer noch bereit -, indem man dort von der „Achtung der Schöpfung" redet. Das wäre eine gewisse Klarstellung. Das haben wir dann aber nicht mehr beantragt - ich sage das offen und ehrlich -, weil die SPD dann noch vieles andere in diese Präambel hätte hineinschreiben wollen. Angesichts dessen haben wir gesagt: Dann lassen wir die Präambel lieber so, wie sie ist.
Wir sind mit den Formulierungen also nicht ganz zufrieden; da kann uns ja vielleicht noch etwas Besseres einfallen. Daraus muß man aber nicht unbedingt die Konsequenz ziehen, jetzt den Fehler zu machen, einen Aspekt des Umweltschutzes besonders zu betonen.
Ich möchte Ihnen das an einem konkreten Beispiel erläutern: In Bayern haben wir zur Zeit die Diskussion über die Frage, ob man im Interesse des Ökosystems Wald das Rotwild in stärkerem Maße abschießen müßte. Da könnte ja jemand auf die Idee kommen - ähnlich wie mein Umweltminister Gauweiler in Bayern -, Tierschutz bedeute, die Jäger dürften nicht soviel schießen. Dagegen sind alle Fachleute zu dem Ergebnis gekommen, daß das Ökosystem Wald das ist, was vorrangig schützenswürdig ist, weil der Wald
langfristig die weitere Lebensgrundlage dieser schönen Hirsche ist.
({1})
Ich kann als Umweltpolitiker nur davor warnen, die Umwelt auseinanderzudividieren und dabei einen Aspekt besonders hervorzuheben. Dann kommt es nämlich zu einer Überbetonung.
({2})
Im Bereich der Umwelt gibt es komplizierte Abhängigkeiten. Es gibt natürliche Kreisläufe. Wir sollten hier nicht einen Aspekt betonen. Ihre Lösung lehnen wir also ab.
Nebenbei darf ich noch folgendes erwähnen. Als ich bei meinem Tierschutzverein in Erlangen war, habe ich festgestellt, was die eigentlich wollen. Die wollen ganz bestimmte Vorschriften im Tierschutzgesetz für den Transport von Schlachtvieh haben. Diesen Menschen, die sich für den Tierschutz engagieren, muß man doch sagen, daß es nicht möglich ist, durch eine Verfassungsbestimmung solche Details vorzuprogrammieren.
Herr Dr. Friedrich, Herr Dr. Hirsch möchte Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. - Bitte schön.
({0})
Na, auf den Kalauer habe ich gewartet. - Herr Kollege, nachdem die Formulierung „Tiere werden im Rahmen der Gesetze vor unnötigen Leiden und Schäden geschützt" in der Verfassungskommission die Zweidrittelmehrheit nur mit zwei Stimmen verfehlt hat: Haben Sie wirklich Bedenken gegen die Aufnahme einer solchen Formulierung, und meinen Sie, daß die Rotwildjagd in Bayern dadurch Schaden nehmen würde?
Also, zunächst einmal, da Sie die bayerischen Zeitungen nicht so lesen: Die Umweltpolitiker in Bayern sind sich einig, daß mehr Wild geschossen werden muß, daß das im Interesse des Umweltschutzes ist.
Ich habe jetzt die Formulierung nicht vor mir, aber ich glaube, Herr Kollege, Sie haben nur den zweiten Satz eines konkreten Antrages zitiert. Da war so ein Obersatz mit Tierschutz. Und das ist die Betonung eines Teiles unserer natürlichen Umwelt. Wenn wir die Umwelt einmal allgemein erwähnen und dann speziell einen Aspekt, dann ist das aus meiner Sicht eine Überbetonung.
Herr Kollege, ich will die Regeln der Geschäftsordnung nicht überstrapazieren. Aber der Satz, den ich zitiert habe, ist tatsächlich ein einzelner Satz, der nicht in einem Zusammenhang mit irgendwelchen Obersätzen oder sonst was steht. Er hat in dieser Form die Zweidrittelmehrheit nur knapp verfehlt. Vielleicht haben wir Gelegenheit, darüber noch zu reden.
Also, die SPD hatte da einen Obersatz. Da habe ich die Drucksache genau in Erinnerung.
Ich möchte hier noch ein zweites Kapitel aus den SPD-Anträgen aufgreifen. Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich sehr stark mit der Macht der Verbände befaßt. Es war für uns nicht erstaunlich, daß fast jeder Verband, der sich für bedeutsam hält, an uns den Wunsch herangetragen hat, sein spezielles Verbandsanliegen an irgendeiner Stelle des Grundgesetzes zu erwähnen.
Die Vertreter von Minderheiten haben immer wieder beantragt, Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes - dort sind die Diskriminierungsverbote verankert - durch die Aufnahme weiterer Minderheiten zu ergänzen. Es ist hier von der SPD schon vorgetragen worden: Diskriminierungsverbot wegen sexueller Identität, Diskriminierungsverbot wegen Behinderung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben hier weitere Ergänzungen beantragt.
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Was den Sexualbereich betrifft, glaube ich, können wir festellen, daß Art. 1 - Menschenwürde - und die allgemeine Handlungsfreiheit uns heute hinreichend davor bewahren, daß sich der Staat in unser Sexualleben einmischt, solange wir nicht selbst Menschen, insbesondere minderjährige Kinder, unfreiwillig in dieses Sexualleben einbeziehen. Ich sehe hier, wenn ich die Landschaft beobachte, keinen Mangel an Möglichkeiten, sich sexuell auszuleben.
Was die SPD konkret beklagt, ist, daß bestimmte Menschen Opfer von Vorurteilen werden, daß sie auf Vorbehalte stoßen. Das ist allerdings etwas, was wir juristisch, mit unserer Verfassung nicht ändern können - manche übrigens auch gar nicht ändern wollen.
Die Vorstellungen von Sitte und Moral haben sich in den letzten 20 Jahren - für die Mehrheit der Menschen - grundsätzlich geändert. Wir können aber keinen Zwang ausüben, daß sich alle Mitbürgerinnen und Mitbürger diesem Wandel der Moralvorstellungen persönlich voll anschließen, ihn nachvollziehen. Und das, was an dummen Sprüchen an manchen Stammtischen geklopft wird, das ist durch Verfassung ohnehin nicht zu ändern.
Es fällt uns nicht leicht, den Vorschlag abzulehnen, das Verbot der Diskriminierung von Behinderten in die Verfassung aufzunehmen. Natürlich will man hier nicht den Eindruck erwecken, daß man für deren schweres Schicksal nichts übrig hat. Wir prüfen aber nicht immer nach dem Maßstab: „Schadet etwas?", sondern wir prüfen: „Was will man bewirken, ist etwas notwendig? "
Ich möchte ganz kurz zusammenfassen, weil ich mich mit dem Bereich der Behindertenarbeit auch beruflich jahrelang befaßt habe.
Erstens. Es ist bei uns völlig unumstritten, daß Behinderte rechtlich gleichzubehandeln sind. Es ist auch in der ganzen Diskussion in der Verfassungskommission keine einzige Rechtsnorm genannt worden, bezüglich der man aufgezeigt hat, daß sie Behinderte diskriminiert. Hätte man eine solche aufgezeigt, würden wir sie sofort ändern. Ich weiß nicht, was man
ganz konkret will, außer ein Gruppenanliegen in die Verfassung hineinzuschreiben.
({1})
- Frau Mascher, darf ich das eigentliche Problem noch ausführen? Dann bin ich gern bereit, Ihre Frage zu akzeptieren. Ich möchte nur das Kapitel Behinderte beenden.
Ich darf zum Vorherigen noch hinzufügen: Die Nachteile, die da sind, gibt es nicht auf Grund des Rechts, sondern auf Grund der Behinderungen. Das kann man durch Rechtsnormen nicht ändern. Die Medizin kann es oft nicht ändern, eine Rechtsnorm erst recht nicht.
Zweitens. Wir stellen in der Praxis fest - das ist das eigentliche Problem -, daß Behinderte mißhandelt werden, daß sie benachteiligt werden. - Übrigens kann man feststellen, wenn man die Verhältnisse wirklich kennt, daß Angehörige an dem kleinen Taschengeld, das Sozialhilfeempfänger bekommen, oft ein erstaunliches Interesse entwickeln. Gehen Sie einmal in ein Heim, wenn die alten Menschen am Anfang des Monats, wenn Taschengeld ausbezahlt wird, besucht werden. - Aber das ist doch kein Mangel kraft Rechtes. Vielmehr haben wir hier Probleme, das Recht durchzusetzen. Ich habe mich immer wieder damit befassen müssen. Es gibt X Vorschriften, wie Taschengeld zu verwalten ist usw. Das ist in der Praxis schwer durchsetzbar. Ein Vollzugsproblem können wir nicht durch Änderungen von Normen beseitigen.
Was die SPD jetzt sozusagen als Selbstverständliches beantragt, ist, wenn ich mir das genau anschaue, nicht das, was die Behindertengruppen zum Teil selber wollen. Wenn Sie sich die Resolutionen einmal genau anschauen, werden Sie feststellen, daß z. B. Körperbehinderteninitiativen gerade die besonderen Betreuungseinrichtungen für Behinderte, z. B. Heime, Behindertenwerkstätten, als eine besondere Form von Diskriminierung ansehen. Für mich ist das Ausgleich von Nachteilen. - Frau Mascher, dafür haben Sie bei den Frauenrechten gekämpft. - Ich verstehe nicht - darum sind wir auch nicht bereit, hier mitzumachen -, weshalb gerade die besonderen Hilfen, die besondere Probleme ausgleichen sollen, heute als Diskriminierung verstanden werden. - Noch ein letzter Satz, dann akzeptiere ich Zwischenfragen; dann wäre ich aber ohnehin fast am Ende, Herr Präsident. - Ich verstehe nicht, daß Behindertenorganisationen, Wohlfahrtsverbandsvertreter und Sprecher der Lebenshilfe solche Initiativen mit unterschrieben haben. Sie haben gar nicht gemerkt, daß sie die Arbeit in den von ihnen geschaffenen und gestalteten Einrichtungen kritisieren.
Herr Friedrich, die erste Zwischenfrage hat die Frau Kollegin Steen. Bitte.
Herr Kollege Friedrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Behinderung nicht ausschließt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und über die Lebensabläufe und die Lebensumfeldgestaltung selbst zu entscheiden?
Dazu, Herr Kollege, sage ich Ihnen, braucht es nicht der Betreuung in einem Heim. Ich halte es immer noch mit der Selbstbestimmung. Aber ich möchte gern Ihre Einstellung dazu hören.
Frau Kollegin, ich will Ihnen dazu gern etwas sagen, nachdem ich jahrelange Berufserfahrung habe. Wenn Sie es bei bestimmten Behinderungen dem Behinderten selber überlassen, sein Schicksal zu gestalten, dann kommt er in eine absolute Verelendungssituation hinein.
Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, daß es z. B. im Bereich der geistig Behinderten der helle Wahnsinn ist, von einer Art von Geschäftsfähigkeit auszugehen. Das dient doch nicht dem Interesse des Behinderten, sondern er ist der Ausbeutung durch seine Umwelt ausgeliefert.
Es gibt noch einen zweiten Aspekt: Bei anderen Behinderten - das wird jetzt in der Praxis konkret diskutiert; man muß auch einmal Beispiele nennen, damit man weiß, was diese theoretischen Sätze eigentlich bedeuten sollen -, z. B. bei den Körperbehinderten, geht es nicht um das Problem der Geschäftsfähigkeit. Die Körperbehinderten, auch die Schwerstkörperbehinderten, z. B. Spastiker, verlangen, daß sie nicht in Heimen, sondern rund um die Uhr in ihrer eigenen Wohnung betreut werden. Frau Kollegin, wenn Sie einmal durchrechnen, was das personell kostet, dann werden Sie Verständnis dafür haben, daß alle sozialdemokratischen Länder solche Finanzierungen der Behindertenhilfe ablehnen.
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Nein, keine Diskussionen bitte.
Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie haben das Wort zur nächsten Zwischenfrage. Bitte.
Herr Kollege Friedrich, nachdem Sie durch Beiträge darüber - über Heime, Taschengeld und was weiß ich alles -, was alles wichtig ist, unserer Ansicht nach aber nicht hierher gehört, vom Thema ablenken: Würden Sie mir und meiner Fraktion, der SPD, nicht zugestehen wollen, daß es z. B. in Anbetracht der zunehmenden Übergriffe auf Behinderte in diesem Lande - auf der Straße, in der Öffentlichkeit - ein wichtiges politisches Signal wäre, wenn wir den von uns geforderten Satz in die Verfassung aufnähmen, der heißt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden"? Nicht mehr und nicht weniger ist es, was wir fordern.
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- Das steht nicht im Grundgesetz, Herr Jahn.
Frau Kollegin, ich bin - im Gegenteil - der Überzeugung, daß wir nicht einfach nebulös mit Formulierungen arbeiten, sondern konkret untersuchen sollten: Was wollen und können wir durch Verfassung ändern? Wir haben
doch nicht eine Art Volksbildungsinstitut, in dem wir darüber diskutieren, wie wir das Bewußtsein in der Bevölkerung verändern können. Es geht um rechtlich vollziehbare Normen. Deshalb halte ich es für ausgesprochen nützlich und nicht für einen Versuch des Ablenkens vom Thema, aufzuzeigen, was diejenigen, die ganz bestimmte Verfassungsänderungen wollen, in der Praxis wollen. Ich muß dann untersuchen: Ist das Anliegen berechtigt? Ist es notwendig, die Verfassung zu ändern, um ein solches berechtigtes Anliegen durchzusetzen?
Nun lassen wir noch die dritte Zwischenfrage, die Frage der Frau Kollegin Ulrike Mascher, zu. Bitte.
Herr Friedrich, gestehen Sie den Verbänden nicht zu, sehr wohl zu wissen, was sie hier beantragt haben? Der Formulierung, die sich in Art. 3 Abs. 3 findet, wonach niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden" sollte, wollen wir anfügen: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. - Was daran „nebulös" sein soll, kann ich nicht erkennen.
Können Sie mir die Frage beantworten, wie Sie dazu kommen, zu sagen, daß Verbände wie die Lebenshilfe nicht wissen, was sie tun, wenn sie diese Forderung unterstützen? Dies insbesondere auch auf Grund des Gutachtens, das von dem Behindertenbeauftragten Regenspurger in Auftrag gegeben worden ist, das sich für eine solche Ergänzung des Grundgesetzes ausspricht.
Frau Kollegin Mascher, ich habe das Wort „nebulös" im Zusammenhang mit der Kritik erwähnt, daß es von der Sache wegführt, wenn ich Beispiele nenne. Ich halte es für ausgesprochen nützlich, generelle, abstrakte Normen an Hand von Beispielen zu disktuieren.
Alle Wohlfahrtsverbände haben diese Forderung nicht unterstützt. Ich erlaube mir aber, nachdem ich schon früher - ich tue das auch heute noch - immer wieder mit diesen Organisationen diskutiert habe, darauf hinzuweisen, daß Leute etwas unterschreiben, was auf eine Kritik an ihren eigenen Einrichtungen hinausläuft.
Herr Kollege Dr. Friedrich, noch ein paar Schlußsätze bitte.
Ich bin nach meinem Konzept ohnehin so weit, daß ich Ihnen abschließend die Warnung zurufen möchte, aus unserem Grundgesetz keinen Warenhauskatalog zu machen.
Herr Kollege Dr. Friedrich, darf ich Sie noch einmal unterbrechen. - Vielleicht trägt eine Zwischenfrage des Kollegen Scholz doch noch dazu bei, etwas aufzuklären. Bitte, Herr Kollege Scholz.
Herr Kollege Friedrich, würden Sie mit mir bei dem Problem, über das Sie soeben kontrovers mit der Opposition diskutiert haben, übereinstimmen, daß Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip jedwedem sozial Benachteiligten ein Höchstmaß an sozialer Chancengleichheit verspricht, zu realisieren durch den Gesetzgeber?
Würden Sie gleichzeitig mit mir der Meinung sein, daß das Problem, das hier im Grunde immer wieder verdrängt wird, in Wahrheit darin liegt, einen spezifischen, kollektiv-rechtlichen Gruppenschutz einzuführen, der im System unserer individualrechtlichen Grundrechtsgarantien nicht mit angelegt ist und der, wenn man eine Gruppe herausnimmt, zu Folgeproblemen führt? Ich nenne nur die Stichwörter: Kranke, Alte und Obdachlose.
Einem Professor wage ich ohnehin nicht zu widersprechen, Herr Professor Scholz.
({0})
Meine Damen und Herren, ich sprach gerade vom Warenhauskatalog. In eine ähnliche Richtung ging auch die Warnung von Herrn Professor Scholz. Wenn man das eine Anliegen aufnimmt, muß man weitere aufnehmen. Ich glaube, wir sollten gerade in dieser finanziell für unseren Staat so schwierigen Situation nicht den Eindruck erwecken, daß wir in der Lage wären, all diese Hoffnungen, die Sie mit jedem dieser Sätze erwecken, zu finanzieren. Wir als Politiker haben uns lange genug als allmächtig dargestellt. Die Bürger waren von uns enttäuscht.
({1})
Wenn wir „Warenhauskataloge" in unsere Verfassung aufnehmen, werden wir weitere Politikverdrossenheit erzeugen.
Vielen Dank.
({2})
Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Ulrich Irmer.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Meine Damen und Herren! Als wir von der F.D.P. unsere Arbeit in der Gemeinsamen Verfassungskommission aufgenommen haben, haben wir uns selbst zwei Grundsätze gestellt: Wer Änderungen an unserer Verfassung vorschlägt, trägt eine doppelte Darlegungs- und Beweislast: Er trägt - das ist der erste Grundsatz - die Darlegungs- und Beweislast dafür, daß im Grundgesetz tatsächlich eine Lücke besteht, die ausgefüllt werden muß, oder daß im Grundgesetz etwas falsch geregelt ist, das korrigiert werden muß. Der zweite Grundsatz: Wer dieses darlegt und behauptet und dann einen Vorschlag macht, wie er das Grundgesetz ändern will, der muß dann auch darlegen und beweisen, daß sein Vorschlag
geeignet ist, diesem erkannten Übelstand abzuhelfen und das Problem zu lösen.
Das ist natürlich eine sehr restriktive Einstellung gewesen. Aber wir halten sie für richtig, vor allem vor dem Hintergrund - dies wurde allgemein festgestellt -, daß es sich bei dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland um die beste Verfassung handelt, die dieses Land je gehabt hat,
({0})
und daß sich die Verfassung auch im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann.
({1})
Meine Damen und Herren, es war eben gerade ein interessanter Disput im Gange zwischen dem Kollegen Friedrich und einigen Damen und Herren, die Zwischenfragen gestellt haben. Frau Matthäus-Maier hat gesagt, daß, fände man im Grundgesetz z. B. ein Wort über die Behinderten - Frau Mascher hat von den Kindern gesprochen, dann wurden von der generellen Norm sexuell abweichende Verhaltensweisen erwähnt -, das eine positive Signalwirkung erzeuge. Frau Matthäus-Maier, eine Signalwirkung ist schön und gut. Aber wenn Sie zu viele Signale aufstellen, dann wird das einzelne überhaupt nicht mehr beachtet. Das ist so ähnlich, als wenn man über eine Landstraße fährt, auf der auf 20 Metern 20 Verkehrsschilder stehen: Das einzelne Verkehrsschild wird überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Wenn man hört, was alles vorgeschlagen wurde und welche Einzelgruppen wir im Grundgesetz besonders bedenken sollten, dann könnte man ja auch auf die - zugegebenermaßen etwas bizarre - Vorstellung verfallen, das einmal umgekehrt aufzuzäumen und eine Negativliste aufzustellen: Alle Menschen, die nicht durchschnittlich und normal sind, sondern in irgendeiner Weise von der Durchschnittsnorm abweichen, sind von dem besonderen Schutze des Staates nicht so erfaßt wie alle anderen.
Meine Damen und Herren, ich will lediglich sagen, daß sich das Grundgesetz bisher durch ein hohes Maß an Abstraktion ausgezeichnet hat.
({2})
Diese Abstraktion hatte den Zweck, möglichst alle Einzelsachverhalte zu umfassen. Ich glaube, es ist den Erzeugern des Grundgesetzes in hohem Maße gelungen, diese Abstraktion durchzusetzen. Denn wenn in ganz lapidaren Sätzen beispielsweise formuliert ist „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" oder wenn formuliert ist, wir seien ein „sozialer Rechtsstaat", dann sind doch die Gruppen, die Sie hier ansprechen, alle davon erfaßt. Und wenn Sie einzelne Gruppen besonders herausheben, werden Sie mit Sicherheit auch irgendwelche vergessen, und die genießen dann diesen besonderen Schutz nicht. Damit hätten Sie genau das Gegenteil von dem erreicht, was Sie eigentlich wollen.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herzlich gern.
Bitte, Herr Heuer.
Ich habe eine Frage an Sie. Sie sagten, es genüge die Formulierung: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. - Aber für die Behinderten genügt das nicht. Die Gleichheit vor dem Gesetz nützt doch nichts, wenn jemand benachteiligt ist. Deswegen ja die vielen Diskussionen darüber, daß die Gleichheit vor dem Gesetz, die zweifellos eine Errungenschaft ist, nicht ausreicht. Oder wie sehen Sie das?
Herr Kollege, es ist doch eine Illusion, wenn Sie unterstellen, durch einen Akt des Gesetzgebers könnten automatisch soziale Probleme gelöst werden. Das ist doch das Mißverständnis. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat - und im Reflex auch die Gesellschaft -, Behinderte zu schützen, ihnen kein Leid anzutun, sie nicht stärker zu benachteiligen, als sie durch ihr unglückliches Schicksal ohnehin benachteiligt sind. Aber das können Sie doch nicht durch einen Federstrich im Gesetz allgemein verordnen.
Ich halte es für richtig, daß wir auch bei dieser Verfassungsdiskussion an unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger appellieren, sich stärker im persönlichen Engagement, in persönlicher Aufopferung auch Benachteiligten und Behinderten in unserer Gesellschaft zuzuwenden und es ihnen zu erleichtern, ihr schweres Los zu erfragen. Aber ich halte nichts davon, hier die Illusion zu wecken, wir könnten dadurch, daß wir eine Vokabel in das Grundgesetz hineinschreiben, dieses Problem plötzlich lösen.
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Herr Kollege Irmer, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Vogel?
Ja.
Bitte, Herr Dr. Vogel.
Herr Kollege Irmer, wenn das so ist, warum haben dann die Väter und Mütter des Grundgesetzes, in deren Würdigung wir ja einig sind, die Vokabeln „Geschlecht", „Abstammung", „Rasse", „Sprache", „Heimat", „Herkunft" und „Glauben" hineingeschrieben, derentwegen niemand benachteiligt oder bevorzugt werden darf? Wenn das nur Vokabeln sind, die etwas wiederholen, was gar nicht nötig ist, weil es sowieso darinsteht, dann richtet sich Ihre Kritik im Grunde - verstehe ich das richtig? - gegen die geltende Bestimmung des Grundgesetzes.
Herr Kollege Vogel, diese Frage überrascht mich nicht als solche, sondern sie überrascht mich, weil Sie sie stellen. Sie haben vorhin in sehr eindrucksvoller Weise dargelegt, wieso es bei der Erwähnung von Gott in der Präambel bleiben sollte. Sie haben das sehr überzeugend aus der Entstehungsgeschichte erklärt, aus der Zeit, in der das Grundgesetz entstanden ist - vor dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft.
Dieser Katalog der Diskriminierungsverbote ist doch ganz deutlich als Aufzählung der Rechte erkennbar, die im Nationalsozialismus besonders schändlich mit Füßen getreten worden sind. Dies ist doch in dem Sinne kein abschließender Katalog. Ich meine, wenn wir heute alle Gruppen erwähnen, die in der Gesellschaft sozial am Rande stehen und - aus was für Gründen auch immer- nicht voll integriert sind, dann machen wir eben den Fehler, daß wir uns anmaßen, durch Verfassungsgesetzgebung, durch Deklamationen in der Verfassung, durch das Setzen von Signalen - wie Frau Matthäus-Maier vorhin gesagt hat - einen untauglichen Versuch zu unternehmen und damit vielleicht sogar davon abzulenken, daß die Gesellschaft und auch der Staat möglicherweise viel mehr für diese Gruppen tun müssen. Denn dann sagen wir: Jetzt haben wir es in die Verfassung geschrieben und können unser Gewissen damit beruhigen. Wir gehen zur Tagesordnung über, und das Problem hat sich für uns erledigt. - Und genau so ist es ja nicht.
Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Vogel?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Irmer, würden Sie bestreiten, daß die Bestimmungen, die wir heute schon in Art. 3 Abs. 3 finden, Signale waren und sind, die nicht nur auf dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, sondern auch weltweiter Erfahrungen um uns herum gelten? Würden Sie übrigens im Ernst bestreiten, daß die Behinderten von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft - zum Teil bis zur Ausrottung - mißhandelt und vernichtet worden sind, Stichwort: Euthanasie?
Ich würde auch noch bitten, zu überlegen, ob man wirklich immer „Warenhauskatalog" oder, wie Sie sagen, „alle möglichen Gruppen" sagen kann, wenn es um eine fest umrissene, 5 Millionen Menschen umfassende Gruppe, nämlich die Behinderten, geht.
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Herr Kollege Vogel, wir mißverstehen uns. Ich will natürlich nicht bestreiten, daß diese Diskriminierungsverbote, die hier aufgelistet sind, auch Probleme ansprechen, die es weltweit gibt. Selbstverständlich haben Sie da recht.
Ich frage mich nur, was geschieht, wenn wir jetzt z. B. die Behinderten gesondert aufnehmen. Sie sind im übrigen, was das Gesetz angeht, durch den Abs. 1 des Art. 3 erfaßt, nämlich: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Das gilt übrigens auch für die Kinder.
Ich weiß nicht, weshalb die Behinderten, die im Nationalsozialismus besonders schwer verfolgt worden sind, hier nicht erwähnt worden sind; ich war nicht dabei in Herrenchiemsee, ich weiß es nicht. Aber wenn wir heute sagen, wir wollen zusätzliche Diskriminierungsverbote hier einführen, die im Grunde
unnötig sind, weil das Diskriminierungsverbot ja allgemein da ist und im übrigen das Sozialstaatsprinzip besteht, dann frage ich mich: Wo fangen wir an, und wo hören wir auf? Da gibt es natürlich sehr berechtigte Anliegen.
Herr Kollege Vogel, unterstellen Sie doch bitte hier niemandem, daß er nicht ein tiefes Interesse daran hätte, die bestehenden Benachteiligungen der Behinderten so weit auszugleichen, wie es angesichts der naturgegebenen Verhältnisse nur eben möglich ist. Ganz können wir es ja gar nicht ausgleichen.
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- Entschuldigen Sie, wenn ich hier drei Fragen gestellt bekomme, habe ich doch wohl die Möglichkeit, darauf auch zu antworten.
Ich wollte ja noch weiter antworten, indem ich sage, daß Sie dann auch das ernst nehmen müssen, was Frau Mascher gesagt hat. Dann müssen Sie die Kinder auch hineinnehmen, und dann müssen Sie möglicherweise, wie gesagt, andere benachteiligte Gruppen, die ich jetzt hier gar nicht aufzählen kann - vielleicht, weil sie mir einfach nicht einfallen -, die es aber ohne Zweifel gibt, auch alle hier in den Katalog mit aufnehmen.
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- „Kinder", habe ich gesagt, ja.
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- „Alte".
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- „Kranke". - Ja, Herr Hirsch gibt mir hier die Stichworte. Da gibt es ja sicher noch jede Menge anderer Gruppen.
Herr Kollege Vogel, das ist doch klar: Wir tun das doch nicht aus Hartherzigkeit, daß wir das nicht gern in die Verfassung hineinschreiben möchten, sondern wir tun es deshalb, weil wir erstens keine falschen Hoffnungen wecken wollen und weil wir zweitens sagen, daß das Grundgesetz in seiner jetzigen Form so formuliert ist, daß es dieser ganzen Ausführungen in den Einzelheiten nicht bedarf.
Wir kommen ja immer mehr von dem Abstraktionsprinzip weg, und das führt dann auch - dazu möchte ich dann auch in einem anderen Zusammenhang ein Wort sagen - dazu, daß die Verfassungsästhetik wie überhaupt die Gesetzgebungsästhetik in unserer Gesetzgebung nun wirklich in einem Maße zu kurz kommt, daß einem schon manchmal grausen kann.
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Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hitschler?
Gerne, ja.
Bitte.
Herr Kollege Irmer, ich möchte es nicht ins Lächerliche ziehen, aber ich will es auf den Punkt bringen.
Müßte man bei diesem Verfassungsverständnis, das hier offensichtlich zugrunde liegt, dann nicht nur sozial benachteiligte Gruppen aufnehmen, sondern auch andere Gruppen, die in unserer Gesellschaft im Alltagsleben in gewisser Weise benachteiligt sind, beispielsweise Linkshänder und Brillenträger?
({0})
Herr Kollege, das wäre folgerichtig. Man könnte da in die einzelnen Verästelungen gehen, und dann könnte jemand kommen und sagen, daß das dann auch die Kleinwüchsigen oder die Glatzköpfigen sind.
({0})
- Ich will das wirklich nicht ins Lächerliche ziehen, Herr Kollege Vogel. Ich habe doch wohl deutlich gemacht, daß es uns hier wirklich um die Abstraktion der Rechtsordnung geht. Und es besteht in der Tat die Gefahr, wenn Sie einzelne erwähnen, andere aber nicht, daß dann daraus der falsche Schluß gezogen werden könnte, als ob die anderen weniger schutzwürdig wären als diejenigen, die nun ausdrücklich genannt worden sind.
Herr Kollege Irmer, lassen Sie noch eine letzte Frage zu?
Ich stehe sowieso unter dem Eindruck, daß die Zeit uns hier nicht sonderlich drängt. Ich möchte den Gang der Verhandlungen nicht über Gebühr ausweiten; aber wenn es schon so ist, daß wir hier nachher ohnehin noch eine feierliche Handlung zu vollziehen haben, dann mache ich mir kein Gewissen daraus, die Zeit der Debatte ein wenig dadurch zu verlängern, daß ich natürlich herzlich gerne eine weitere Zwischenfrage zulasse.
Frau Kollegin Helga Otto, bitte.
Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, warum Sie - wenn Sie schon sagen, daß man die Behinderten nicht aufnehmen kann - dann nicht den Mut finden zu sagen: Wir sollten alle diese Passagen überhaupt aus der Verfassung herausstreichen, die bisher drinstehen. Mit welcher Begründung lassen Sie die einen drin und verweigern den Behinderten den Zugang zu diesen extra aufgeführten Grundrechten?
({0})
Es wäre, Frau Kollegin, in der Tat gar keine Katastrophe, wenn man diesen Katalog hier nicht formuliert hätte, als das Grundgesetz verfaßt wurde. Das wäre keine Katastrophe, weil das durch die Auffangtatbestände mit abgedeckt ist. Aber man hat es im Grundgesetz formuliert. Ich glaube, man hat es deshalb formuliert - wie Herr Kollege Vogel heute
früh ausgeführt hat -, weil man damals unter dem Eindruck der unmittelbar zurückliegenden nationalsozialistischen Vergangenheit stand. Heute besteht natürlich überhaupt kein Anlaß, diese Formulierung herauszunehmen, nachdem sie nun im Grundgesetz steht.
Wir sind mit dem Grundsatz in diese Beratungen gegangen, so wenige Änderungen wie möglich vorzunehmen. Es sollte nur da geändert werden, wo eine Lücke besteht, wo zwingend etwas geändert werden muß und wo insbesondere durch die Art der Neuformulierung auch der Zweck erreicht wird, den die Antragsteller damit verfolgt haben.
Noch eine Zusatzfrage der Kollegin Helga Otto.
Mir ist das recht.
Ich muß Sie doch noch einmal fragen, ob Sie nicht der Meinung sind, daß z. B. Gewalt gegen Behinderte oder Gewalt gegen Asylanten usw. in Anbetracht der Umstände, die heute in Deutschland vorzufinden sind, ein hochaktuelles Thema sind.
Frau Kollegin, jetzt tun wir doch bitte nicht so, als ob dadurch, daß die Behinderten im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt sind, Gewalt gegen Behinderte in irgendeiner Weise rechtlich zulässig wäre. Das ist doch ein grandioser Unfug.
({0})
Es gibt Strafgesetze, durch die dieses Verhalten in hohem Maße geächtet ist.
({1})
- Herr Ullmann, es gibt auch einen Respekt vor der Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Daß hin und wieder ein Fehlurteil gefällt werden kann, ist leider unvermeidbar. Wollen Sie deshalb etwa andeuten, daß man die Unabhängigkeit der Gerichte beseitigen könnte, daß man die Gerichte weisungsgebunden macht gegenüber irgendwelchen anderen staatlichen Instanzen, damit es in jedem Falle ausgeschlossen ist, daß irgendwann ein Urteil ergeht, das wir alle für skandalös erachten? Darum geht es doch.
({2})
- Ich habe das verstanden. Aber es wird immer so getan, daß dann, wenn dieses nicht im Grundgesetz stünde, ein rechtsfreier Raum gegeben sei. Natürlich ist das nicht der Fall.
Das oberste Gebot ist ohnehin die Menschenwürde. Die gilt für Behinderte genau so wie für Kinder, genau so wie für Alte, genau so wie für Schwache - seien es körperlich oder sozial Schwache -; die Menschenwürde ist das oberste Gebot unserer Verfassungsordnung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz kurz - nachdem ich erklärt habe, daß nichts geändert werden muß - sagen, wo dringend etwas geändert
werden mußte. Das ist nämlich in den Bereichen, wo die Väter und Mütter der Verfassung seinerzeit Probleme noch gar nicht gesehen haben oder nicht sehen konnten; das ist z. B. der Bereich Umweltschutz. Auf diese ganze Problematik sind wir erst später aufmerksam geworden. Der Umweltschutz ist bisher im Grundgesetz nicht verankert. Da gibt es kein Auffanggrundrecht, da gibt es keine Auffangnorm, sondern er muß neu hineingeschrieben werden.
Dasselbe trifft im übrigen auf den Tierschutz zu. Jetzt werden Sie mich einen Zyniker schelten - das bin ich nun weiß Gott nicht -, wenn Sie sagen, ich spreche mich dagegen aus, die Behinderten im Grundgesetz ausdrücklich zu erwähnen, halte es aber durchaus für sinnvoll, den Tierschutz hier zu verankern. Er ist nämlich im Grundgesetz auch nicht vorgesehen.
({3})
-Ich habe es ja gewußt, daß Sie mir hier bösen Willen unterstellen. Lassen Sie mich doch erklären: Hier ist wirklich eine Lücke im Grundgesetz, weil die Tiere - ({4})
- Entschuldigen Sie, das ist wirklich ein schäbiger Populismus, was Sie hier betreiben. Ich erkläre hier rational, weshalb das eine nicht hinein muß, weil es längst vorgesehen ist, und weshalb das andere hinein muß, und Sie ziehen hier gleich unzulässige Vergleiche.
Meine Damen und Herren, ich bin nicht der Meinung, daß der Tierschutz durch einen allgemeinen Umweltschutzartikel ohne weiteres abgedeckt wäre. Der Unterschied zwischen Tieren und sonstigen Elementen der Umwelt ist nämlich der - so sehe ich es zumindest -, daß Tiere leidensfähig sind. Jeder, der Tiere kennt, mit Tieren zu tun hat, weiß dieses. Deshalb halte ich es für durchaus gerechtfertigt, daß wir die Formulierung, wie sie Kollege Hirsch vorgelegt hat, doch noch berücksichtigen. Sie ist ja auch nur mit einer ganz knappen Mehrheit gescheitert.
Meine Damen und Herren, ich hatte gesagt, daß ich noch ganz kurz etwas zur Verfassungsästhetik sagen wollte. Ich finde es in der Tat schlimm, wie Art. 23 und auch Art. 16a früher in den Formulierungen ausgefallen sind. Ich weiß, wenn man schwierige Materien zu regeln hat, verfällt man leicht in den Ton einer Geschäftsordnung, aber ich sehne mich eigentlich zurück nach den klassischen, prägnanten, präzisen Formulierungen unserer alten Verfassung.
Ich halte daran fest, obwohl ich in einer Abstimmung unterlegen bin, daß man über die grammatische Richtigkeit nicht mit Mehrheit abstimmen kann. Das ist aber erfolgt. Ich weise hier noch einmal darauf hin - damit mögen sich einmal Germanisten beschäftigen -, daß es in Art. 23 heißt: „Die Europäische Union, die" - und jetzt kommt das Zitat - „einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet" . Hier sind zwei Begriffe falsch miteinander in Beziehung gesetzt. Ich kann den Grundrechtsschutz nicht mit diesem Grundgesetz vergleichen. Ich kann den Grundrechtsschutz einer europäischen Verfassung mit dem Grundrechtsschutz vergleichen, den dieses Grundgesetz gewährleistet. Hier ist schlicht falsches Deutsch in den neuen Verfassungstext hineingeflossen. Ich halte das für bedauerlich.
Ich halte es für sehr erfreulich, daß die Anregung von Frau Mascher nicht aufgegriffen wurde, im Grundgesetz durchgängig diese geschlechtsneutralen Bezeichnungen zu verwenden; denn wenn wir diese Bindestrich-Unkultur auch noch in unsere Verfassung hineinschreiben, dann trägt das sicherlich wenig zur Ästhetik bei, wobei es sehr hübsch wäre, sich vorzustellen, daß wir das Wort „Bundesrat" durchgängig durch „Bundesrätin" ersetzten oder ähnliches.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum gebotenen Ernst zurückkommen. Ich möchte zwei Punkte noch kurz ansprechen. Der eine ist der neue Art. 23. Hier ist vorher vielfach von der Karlsruher Entscheidung zum Vertrag von Maastricht die Rede gewesen. Es war ja kein Zufall, daß wir die Verfassung durch diesen Artikel zum Maastrichter Vertrag ergänzt haben. Der Maastrichter Vertrag hat uns ja durchaus zweierlei beschert, nämlich einmal das Zurückdrängen der ausufernden Demokratie durch die Einführung des Subsidiaritätsprinzips und zum anderen gewisse Fortschritte bei der Demokratisierung der Europäischen Union.
Das ist bei weitem noch nicht ausreichend geschehen. Wir mahnen das an. Das muß in späteren Verhandlungen nachgebessert werden. Die Rechte des Europäischen Parlaments müssen wesentlich gestärkt werden. Aber ich sage - und das haben wir hier noch einmal ausdrücklich betont --: Das demokratische Prinzip muß sich auch in der Europäischen Union durchsetzen. Solange auf der europäischen Ebene selbst dies noch nicht ausreichend geschieht, müssen wir hier vom nationalen Parlament aus unsere Bundesregierung stärker an die Kandare nehmen, wenn sie - Wo ist sie übrigens? Ich finde das schon etwas eigenartig, daß die Bundesministerin - ({5})
- Ist sie da? Nein. Ach, Frau Staatssekretärin, ich bitte vielmals um Vergebung, ich hatte Sie bisher noch nicht gekannt.
Aber ich will es jetzt einmal generell sagen: Die Beteiligung der Bundesregierung an dieser Verfassungsdebatte finde ich etwas schandbar.
({6})
Ich möchte in diesem Zusammenhang einmal ganz klar sagen: Diejenigen, die sich jetzt hier als die großen Maastricht-Gegner aufspielen, haben etwas ganz anderes im Sinn. Sie behaupten, die Europäische Union sei unerträglich wegen Überregulierung und wegen Demokratiedefizit, und sie machen das am Maastrichter Vertrag fest. Das ist eine großer Irrtum; denn sowohl gegen die Überregulierung hat der
Vertrag von Maastricht einen wesentlichen Fortschritt gebracht, nämlich durch die Einführung des Subsidiaritätsprinzips, als auch in dem Weg hin zu mehr Demokratie durch den neuen Art. 23, in dem wir die Fehler, die in Europa noch bestehen, wenigstens teilweise dadurch auszugleichen versuchen, daß wir uns selbst hier stärker in die Pflicht nehmen, indem in Zukunft die Bundesregierung, wenn sie als Gesetzgeber in Europa tätig wird, das mit zu berücksichtigen hat, was wir ihr als Bundestag sagen, und auch das, was der Bundesrat ihr vorher ins Stammbuch schreibt. Dies ist ein wesentlicher Fortschritt.
Meine Damen und Herren, ich kann es nicht lassen, jetzt am Schluß doch noch auf ein gravierendes Problem hinzuweisen, bei dem die Verfassungskommission ohne Verschulden ihrer Mehrheit nicht weitergekommen ist. Wir haben vor wenigen Tagen wieder in der Zeitung lesen können, daß der Senat der Vereinigten Staaten von Amerika die Deutschen aufgefordert hat, endlich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß wir uns an internationalen Einsätzen unter der Verantwortung der Vereinten Nationen voll beteiligen können.
Wir drängen als Deutsche - und andere drängen uns noch mehr - auch darauf, daß wir demnächst einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bekommen, weil wir international mitwirken müssen - müssen als großes Land mit großer Verantwortung.
Es geht aber nicht, daß wir so tun, als könnten wir mitwirken, ohne daß wir auch imstande sind, unsere Pflichten in vollem Umfang zu erfüllen. Ich bedauere es sehr, daß es auch in der Verfassungskommission nicht möglich gewesen ist, dieses Problem endgültig dadurch zu bereinigen, daß der Vorschlag, den die Koalition zur Änderung der Verfassung eingereicht hat, dort angenommen worden wäre.
Ich sehe mit Lust, daß der Kollege Scholz eine Frage stellen möchte.
Herr Kollege Irmer, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Scholz?
Ja.
Bitte.
Eine sehr kurze Frage, lieber Herr Kollege Irmer. Bei alledem: Ist Ihnen - und das würde ich gerne von Ihnen beantwortet sehen - bewußt, daß es nach überwiegender deutscher Verfassungsauslegung der von Ihnen reklamierten Verfassungsänderung nicht bedarf? Stimmen Sie dem zu?
Herr Kollege Scholz, mein Respekt vor Professoren geht zwar nicht so weit wie der meines Vorredners, des Kollegen Friedrich,
({0})
ich gehe aber umgekehrt auch nicht so weit, dem
Georg Kreisler recht zu geben, der einmal gesagt hat:
„Professoren und Tenöre sind die schlimmsten Amateure. "
({1})
Ich bewege mich irgendwo im Mittelfeld zwischen diesen beiden Extremen. Aber ich muß Ihnen hier selbstverständlich recht geben. Die Mehrheit der deutschen Verfassungsrechtler ist dieser Auffassung,
({2})
und es gibt auch - Herr Kollege Scholz, das wissen Sie - in meiner Fraktion Stimmen, die sagen: Diese Verfassungsrechtler haben recht.
Nur bitte ich umgekehrt um Verständnis, daß ich es doch für notwendig halte, eine Klarstellung in der Verfassung herbeizuführen; denn da wir ja ein Rechtsstaat sind, sollte man, wenn nur irgendein Zweifel besteht, doch einer Klarstellung den Vorzug geben, anstatt sich in einer Zone zu bewegen, die sich unter Umständen irgendwann einmal als Grauzone herausstellen könnte.
Aber lassen Sie mich das noch einmal sagen - und das gehört, glaube ich, auch in eine Verfassungsdebatte hinein -: Es ist ungut, wenn Entscheidungen verfassungsrechtlicher Natur nicht mehr im Parlament getroffen werden können, sondern wenn in zu starkem Maße das Bundesverfassungsgericht hierfür herhalten muß.
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Wir sollten im Parlament wieder die Kraft finden, unsere Verfassung so zu gestalten, wie wir es für notwendig halten.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser nächster Redner ist jetzt Dr. Bertold Matthias Reinartz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich noch sehr gut erinnern an die Diskussion zu Beginn der Sitzung der Verfassungskommission, als entweder Herr Minister Bräutigam oder Frau Justizsenatorin Limbach erklärt hat, man wolle einen sehr sparsamen Umgang mit Staatszielen praktizieren, und dies sei auch gemeinsame Basis aller Überlegungen, was Staatsziele und sonstige programmatische Verlautbarungen im Grundgesetz anbelange.
Welchen Weg das dann insgesamt genommen hat, zeigt auch die heutige Debatte auf, in der ja ein wesentlicher Punkt der streitigen Diskussion die Vielzahl von Staatszielen, die Bekenntnisse programmatischer Art, die nach dem Willen einer politischen Kraft in das Grundgesetz aufgenommen werden sollen, war.
Es gibt zweifellos - und darauf ist hingewiesen worden - in einer Reihe von Verfassungen die Aufnahme sozialer und anderer Staatsziele. Das waren Verfassungen der Länder, es war die Verfassung der ehemaligen DDR wie die Weimarer VerfasDr. Bertold Reinartz
sung. Alle diese Verfassungen hatten eine Vielzahl von Staatszielen, ohne daß sie letztendlich Einwirkungen unmittelbarer Art gehabt haben. Aber ihr Vorhandensein als solches in einer Verfassung beweist sicherlich noch nicht die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit, diese dann auch in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen.
Für die Einführung von Staatszielen ist seinerzeit generell gesagt worden - ich glaube, es war Herr Abgeordneter Dr. Schmude -, daß sie eine höhere Übereinstimmung des Verfassungstextes mit der Verfassungswirklichkeit herbeiführen könnten. Vordergründig, meine ich, spricht allerdings hier bereits dagegen, daß Staatsziele ja gerade das Wünschenswerte beschreiben, also Zielvorstellungen politischer Art, Zielvorstellungen des Staates, die eben nicht mit der momentanen Wirklichkeit übereinstimmen. Gemeint sein dürfte weit eher das weitgehend übereinstimmende Empfinden der Menschen, daß es sich gerade bei sozialen Staatszielen um elementare Bedürfnisse handelt, und daraus abgeleitet heben dann nicht wenige darauf ab - und in der Verfassungskommission führte dies dann auch zur Forderung -, diese Bedürfnisse sollten als Staatsziele in das Grundgesetz aufgenommen werden.
Die Förderung von Wohnraum, das Wohnrecht von Mietern, das Besorgtsein um Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen, die Sicherung eines hohen Beschäftigungsstandes, soziale Sicherheit, gleichberechtigter Zugang aller Menschen zu Bildungseinrichtungen - diese elementaren Bedürfnisse sind in ihrer allgemeinen Anerkennung unstreitig. Diese Ziele - Ziele des politischen Handelns - sind so elementar, wie sie in der vollständigen Bedürfniserfüllung dann allerdings unerreichbar sind. Ihre Verankerung als Staatsziele birgt die Gefahr in sich, daß nicht nur einige wenige glauben, daß ihre vollständige Erreichbarkeit von Staats wegen versprochen ist. Mit dem Erkennen, daß die Erfüllung dieser sozialen Bedürfnisse in der Gesamtheit kaum erreichbar ist, daß sie nicht zu garantieren sind, mit diesem Erkennen wächst dann die Distanz zu dem Staat, der diese Ziele im Grundgesetz festschreibt und so zwangsläufig auch den Eindruck der Erreichbarkeit weckt.
Durch das Staatsziel Arbeit oder durch das Staatsziel Wohnung wird weder ein Arbeitsplatz geschaffen noch eine Wohnung errichtet, allenfalls kann der Staat dazu beitragen, daß möglicherweise solches bewirkt wird, und dann auch nur durch dirigistische Eingriffe in Rechtsgüter, die ihm nicht zur Verfügung stehen.
Es ist in diesem Zusammenhang geradezu natürlich auch die Frage zu stellen, wie denn Politiker selbst mit Staatszielen, die im Grundgesetz festgeschrieben waren, umgehen. Das Wiedervereinigungsgebot in der Präambel war wohl das wichtigste politische Staatsziel, das allen politisch Handelnden auferlegt war.
({0})
Aber haben nicht gerade auch die, die politische Verantwortung tragen, dieses Staatsziel gelegentlich aus den Augen verloren, z. B. wenn der DDR angeboten wurde, ihre Staatsbürgerschaft zu respektieren?
({1})
Wir erkennen das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf soziale Sicherung, auf Bildung als Grundelemente und auch als Eckpfeiler des politischen Handelns an. Jede Partei hat sich daran zu messen, wie erfolgreich sie ist, innerhalb der gegebenen Möglichkeiten diese Ziele zu erreichen. Deswegen ist es sicherlich gut, daß wir auch in der Verfassungskommission und weiter jetzt in der Beratung darüber streitig diskutieren, inwieweit Staatsziele in das Grundgesetz gehören. Es wird notwendig werden, auch die Bürgerschaft in diese Diskussion mit hineinzubringen, sie zu beteiligen. Ich glaube, daß durch die Beteiligung und durch eine großangelegte Diskussion sehr viel mehr Transparenz um dieses Grundgesetz entsteht, als bislang vorhanden ist.
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Die hohe Akzeptanz, die das Grundgesetz in mehr als 40jähriger Bewährung erlangt hat, würde - das ist meine persönliche Auffassung - Schaden nehmen. Die Verfassungsbestimmung in Art. 20 - dort ist festgehalten, daß die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist - hat in ihrer Ausgestaltung und Ausformung durch vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, aber gerade durch die Gesetzgebung den heutigen Staat sozialer Prägung geschaffen. Gerade die Zurückhaltung bei sozialen Staatszielen hat die Entwicklung der Sozialstaatlichkeit gefördert und eine Anpassung an neue Aufgaben erleichtert.
Lassen Sie mich schließlich darauf hinweisen, daß auch in der Diskussion in der Verfassungskommission von den Befürwortern angeführt wurde, daß Staatsziele ein Mittel seien, unseren Landsleuten in den neuen Ländern den Annäherungs- und Identifizierungsprozeß zu erleichtern. Ohne die Verankerung von Staatszielen würden die Erwartungen unserer ostdeutschen Landsleute enttäuscht. Das Gegenteil ist nach unserer Auffassung richtig. Der verheerende Umgang mit den Ressourcen dieser Erde, die Zerstörung der Umwelt in der ehemaligen DDR in einem unvorstellbarem Ausmaß lassen es kaum glaubhaft erscheinen, daß es gerade die DDR-Verfassung war, die eine besonders blumenreiche Beschreibung des Staatszieles Umweltschutz enthielt.
Um nicht mißverstanden zu werden: Das ist kein Argument gegen ein Staatsziel zur Sicherung der Umwelt. Das DDR-Verfassungsrecht - das ist allgemeiner Konsens - war in der Verfassungswirklichkeit weitgehend unverbindlich, ja, es war unbeachtlich geworden. Anders das Grundgesetz, dessen Einhaltung auch das Bundesverfassungsgericht sorgfältig überwacht. Aber die Unbeachtlichkeit von Staatszielen in der DDR-Verfassung sind ein deutlicher Hinweis darauf, meine Damen und Herren, daß sich Landsleute in den neuen Bundesländern nicht von noch so schönen Staatszielbestimmungen irreleiten lassen.
Vollbeschäftigung, ausreichender Wohnraum für jedermann und anderes bleiben als idividuelle Grundbedürfnisse aller Menschen immer Ziele und Wünsche. Sie in weitestmöglichem Umfang umzusetzen ist die Kunst der richtigen politischen Entscheidung. Als Staatsziel bleiben sie in ihrer vollständigen Erreich18136
barkeit Illusion. Deswegen besteht die Gefahr, daß die Aufnahme solcher Staatsziele in das Grundgesetz gerade für die Landsleute in den neuen Bundesländern die Identifizierung mit diesem Staat nicht erleichtert, sondern auf Grund der verheerenden Enttäuschungen erschwert.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner ist jetzt unser Kollege Dr. Konrad Elmer.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem ersten Teil möchte ich die Ergebnisse der Verfassungskommission aus ostdeutscher Sicht beleuchten und im zweiten Teil das schon mehrfach Angekündigte in Sachen Wertbegriffe, Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn.
Zum ersten sei gesagt: Wir Ostdeutsche, die wir uns nach der Wende am Runden Tisch für Verfassungsfragen viele Gedanken gemacht haben, wie eine bessere Verfassung aussehen könnte, erwarteten in der Tat, daß wir nach der Einheit in einem gleichberechtigten Dialog in einem Verfassungsrat - nennen wir es einmal so - diese Gedanken einbringen könnten und sie eine ernsthafte Chance hätten, Mehrheiten zu gewinnen. Weil unsere Väter und Mütter bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes nicht dabei sein konnten und das Grundgesetz immer ein Provisorium genannt wurde, erwarteten wir, daß nach der Einheit Deutschlands alle Seiten miteinander über die Grundlagen unseres Gemeinwesens beraten würden.
So war die Enttäuschung groß, als die Mehrheit des Deutschen Bundestages einen solchen Verfassungsrat ablehnte und das Ganze auf die Ebene eines um den Bundesrat erweiterten Ausschusses drückte. Der Beitritt nach Art. 23 war nicht der Verzicht auf die Mitgestaltung der künftigen gemeinsamen deutschen Verfassung. Es ist doch völlig abwegig, zu meinen, daß Menschen mit der Beseitigung ihrer alten Verfassung zugleich auf eine grundlegende Mitgestaltung der neuen verzichtet hätten.
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Die nächste Enttäuschung kam bei der Ausschußbesetzung. Zwar gelang es in der SPD-Fraktion von Anfang an, wenigstens zwei Ostdeutsche als ordentliche und weitere drei als stellvertretende Mitglieder in den Ausschuß zu wählen. Die beiden anderen Fraktionen dieses Hauses hielten es dagegen - jedenfalls am Anfang - nicht einmal für nötig, auch nur einen einzigen Ostdeutschen als ordentliches Mitglied in diesen Ausschuß zu berufen, die F.D.P. hatte gerade einen ostdeutschen Stellvertreter.
Bei der CDU habe ich am Anfang nicht einmal einen Stellvertreter gefunden. Erst als die Großkopfeten merkten, daß hier sowieso nicht viel passiert, durften einige nachrücken.
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- Sie können es gern nachprüfen. Ich habe es geprüft: Ein ordentliches Mitglied jedenfalls war nicht dabei, Herr von Stetten.
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- Nicht am Anfang, erst als Nachrücker.
Ich will mich damit nicht weiter aufhalten. Wir trösteten uns, es komme nicht auf die Zahl an, sondern auf die Argumente. So setzten wir uns für die Formulierung in der Präambel ein: „Vom Willen beseelt", nicht nur den „Frieden in der einen Welt, sondern auch die innere Einheit Deutschlands zu vollenden ... ", aber uns wurde die Zweidrittelmehrheit verwehrt, wenn auch nur fünf Stimmen fehlten.
Auf Grund bitterer DDR-Erfahrung war es uns wichtig, daß jedem Menschen die Bildungswege offenstehen. Warum der Satz „Der Staat schützt und fördert den Zugang eines jeden Menschen zur Bildung" nicht in diese demokratische Verfassung durfte, haben wir bis heute nicht begriffen.
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Andere leidvolle Erfahrungen ließen uns dafür eintreten, den Datenschutz, die informationelle Selbstbestimmung verfassungsrechtlich zu verankern
- wieder abgelehnt.
Unser eigentliches Hauptanliegen war aber noch ein anderes. Wir hätten gern nicht nur gewußt, was der Staat um der Freiheit seiner Bürger willen alles nicht tun darf, sondern auch, wozu er positiv verpflichtet ist. Wir hätten gern gewußt, welche materiellen Voraussetzungen vom Staat zu gewähren sind, damit die Bürgerinnen und Bürger ihre Menschenwürde auch wirklich entfalten können. Was ist die Unverletzlichkeit der Wohnung wert, wenn jemand überhaupt gar keine Wohnung hat, weil er sie nicht bezahlen kann?
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Was ist die freie Wahl des Arbeitsplatzes wert, wenn ein solcher nicht zu finden ist?
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Was bedeutet die Unverletzlichkeit der Menschenwürde ohne ein System sozialer Sicherung?
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- Kollege von Stetten, wir wollten es doch gerade besser machen als in der DDR.
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- Aber wir hatten doch nicht einmal ein Verfassungsgericht. Da ist eine Verfassung doch überhaupt nichts wert. Das wissen Sie längst. Nehmen Sie die DDR doch nicht ernster, als sie genommen werden darf!
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Deshalb wollten wir das Staatsziel Sorge für angemessenen Wohnraum, für Vollbeschäftigung und ein System sozialer Sicherheit. Wie Henning Voscherau bereits ausführte: Wir hatten das wirklich sehr behutsam formuliert. Niemand brauchte Angst zu haben um die freie Marktwirtschaft; sie wäre nur etwas sozialer geworden.
Vor allem uns Ostdeutschen hätte man bei den riesigen Belastungen im Prozeß der Einheit wenigstens hier ein paar Zukunftsängste nehmen können.
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Aber nein, statt dessen hieß es: Wir fördern doch langst den Wohnungsbau, wir bemühen uns um Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit, das muß doch nicht in die Verfassung. - Meine Damen und Herren, es ist nun einmal das Wesen einer Verfassung, daß sie die grundlegenden Dinge, die von existentieller Bedeutung sind, dem alleinigen guten Willen der Mehrheit des Parlaments entzieht, damit selbst die Mehrheit bestimmte Bedingungen der Menschenwürde mit ihren Entscheidungen nicht gefährden kann.
Hier liegt denn auch der große Strukturfehler dieser Verfassungskommission: Man kann von der Parlamentsmehrheit nur schwer erwarten, daß sie sich selbst durch weitere Verfassungsnormen in ihren Entscheidungskompetenzen einschränkt. So etwas erreicht man eben nur mit einem Verfassungsrat oder etwas Ähnlichem, in dem außer den Politikern noch andere das Sagen haben. Die Mehrheit des deutschen Volkes jedenfalls - da bin ich sehr sicher - hätte die Staatsziele Sorge für angemessenen Wohnraum, für Vollbeschäftigung und für soziale Sicherung in die Verfassung geschrieben.
Deshalb und nicht wegen sentimentaler Staatsgläubigkeit haben alle ostdeutschen Landesverfassungen, selbst der Freistaat Sachsen, und zwar unter Mitwirkung und Zustimmung des Kollegen Heitmann, soziale Staatsziele verankert.
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Damit komme ich zum entscheidenden Punkt, der uns Ostdeutschen - und nicht nur uns - in dieser Kommission verwehrt wurde: Das ist die Einführung unmittelbarer Bürgerbeteiligung, die Ermöglichung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene. - Spätestens die friedliche Revolution des Herbstes 1989 hat doch wohl gezeigt, daß das Volk bisweilen weitsichtiger, klüger und besonnener handelt, als die Regierenden vermuten.
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Warum eigentlich genießen nur wir wenigen Politiker das Recht - und das auch nur, sofern wir hier einer Mehrheit angehören -, des öfteren und eben nicht nur alle vier Jahre die Geschicke unseres Landes zu bestimmen?
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Das Mitregieren ist doch ein Menschenrecht, Herr
Kollege. Es ist daher des Menschen unwürdig, von
Entscheidungen zu drängenden Fragen der Zeit ausgeschlossen zu sein, statt sich selbst um entsprechende Mehrheiten bemühen zu können. Es ist des Menschen unwürdig, statt dessen lediglich alle vier Jahre einer Partei den Blankoscheck unterschreiben zu dürfen.
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- Aber eine Demokratie, in der die Menschen nur alle vier Jahre etwas Wesentliches mitentscheiden können, ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
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- In Amerika gibt es sehr viele
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Plebiszite,
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jedenfalls - wenn Sie einmal nachschauen, werden Sie das feststellen - in den einzelnen Staaten.
In Europa hat jedenfalls die Mehrheit der Länder solche Elemente.
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Es wäre also auch ein Beitrag zu mehr Gemeinsamkeit in der Europäischen Union, wenn wir hier endlich einen Schritt vorwärts täten.
Herr Kollege Elmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Hirsch.
Aber gern.
Bitte, Kollege Hirsch.
Herr Kollege Elmer, ich will Sie jetzt nicht dazu fragen, wie sich plebiszitäre Elemente in der Wirklichkeit der Verfassung auswirkten, sondern ich möchte Sie, wenn Sie die demokratischen Grundlagen der parlamentarischen Demokratie in Frage stellen Dr. Konrad Elmer ({0}): Nein!
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- was Sie ja mit Ihren Bemerkungen tun, fragen, ob das denn nicht nur dann gerechtfertigt wäre, wenn der Zugang zum Parlament von Anfang an auf nur wenige Menschen beschränkt wäre. Ist es nicht so, daß niemand von uns als Abgeordneter geboren ist, sondern jeder in gleicher Weise seinen eigenen Weg in ein Parlament gesucht
und gefunden hat, so daß also das entscheidende Legitimationskriterium der parlamentarischen Demokratie doch darin besteht, daß jeder die Chance hat, in ein Parlament zu kommen, und jeder Abgeordnete in dieses Parlament hineingewählt worden ist?
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Herr Kollege Hirsch, ich habe in keiner Weise die Legitimation einer repräsentativen Demokratie, wie wir sie jetzt hier haben, in Frage gestellt. Ich habe nur gemeint: Sie muß um Elemente basisdemokratischer Möglichkeiten ergänzt werden,
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weil zum Wahlzeitpunkt nicht abzusehen ist, welche wichtigen Entscheidungen die nächsten vier Jahre nötig sein werden, weil ganz wichtige existentielle Fragen zwischendurch auftauchen können, zu denen man bei der Wahl noch gar keine Vorstellung hatte. Dann ist es für die Mehrheit der Bürger unmöglich, sich hier wesentlich mit wirklicher Entscheidungsmöglichkeit einzumischen.
Das halte ich für nicht mehr auf der Höhe der Zeit, was die Demokratie angeht. Das hat nichts damit zu tun, daß die repräsentative Demokratie wichtig ist und bleiben soll.
({1})
Aber sie soll und muß um solche Elemente der Bürgerbeteiligung ergänzt werden, weil das Mitregieren nicht nur alle vier Jahre, sondern öfter möglich sein und möglich werden muß.
Ohne solche wesentlichen Elemente direkter Demokratie - das ist meine feste Überzeugung - wird das Phänomen der politischen Resignation in unserem Land nicht mehr zu beheben sein. Deshalb bin ich mir auch sicher, daß unser Wunsch in diesem Punkt auf jeden Fall bald in Erfüllung geht; denn: „Wo die Gefahr ist", - so Hölderlin - „wächst das Rettende auch". Insofern brauchen wir uns hier gar nicht so sehr in die Haare zu geraten; die Sache kommt - so oder so.
Meine Damen und Herren, nicht selten haben mich Freunde gefragt, warum ich in dieser Kommission, in der die Regierungskoalition unsere Vorschläge vom Tisch stimmt, noch mitarbeite, warum ich nicht längst, wie Dr. Ullmann, die Segel gestrichen habe.
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Ein wesentlicher Grund für mein Bleiben ist der schon erwähnte überfraktionelle Antrag zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn. Er wird inzwischen, nachdem noch soeben ein ostdeutsches Mitglied des CDU/ CSU-Fraktionsvorstands unterschrieben hat, von 351 Abgeordneten dieses Hohen Hauses unterstützt, also einer satten, absoluten Mehrheit.
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Dieser Antrag ist, wenn Sie so wollen, mein letzter Versuch, im Unternehmen Verfassungsreform doch noch einen ostdeutschen Gedanken unterzubringen, der der inneren Einheit Deutschlands dient. Denn nichts könnte die Menschen aus Ost und West in Deutschland besser zusammenbringen als etwas mehr Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn. Daß die Idee zu diesem zugegebenermaßen ungewöhnlichen verfassungsrechtlichen Grundsatz aus dem Osten kommt, zeigt vielleicht nur, wie sehr man dort beides in Deutschland zur Zeit vermißt. Daß man zu ethisch wertvollem, verantwortlichem Handeln niemanden verpflichten kann, liegt auf der Hand. Wenn jedoch das ganze deutsche Parlament dazu seine Stimme erhebt und in der gewichtigsten Urkunde unseres Landes ein, wie es der wohlbekannte Professor Isensee nennt, verfassungsethisches Signal setzt, eine Verfassungserwartung, wird das nicht ohne Wirkung bleiben.
Wenn ich in der Verfassungskommission etwas von Ihnen gelernt habe - es war im wesentlichen ein Seminar mit einem wichtigen Professor an der Spitze -, dann das, daß jedes Wort, das in die Verfassung hineinkommt, die Verfassung verändert und bei Interpretationen natürlich eine Rolle spielen kann. Es ist auch so, daß mir viele gesagt haben: Wir unterschreiben deswegen nicht, weil es doch etwas bewirken könnte, und wir haben unsere Erfahrungen mit dem Verfassungsgericht.
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- Wer das gesagt hat? Das kann ich sagen: Herr Pofalla. Er wollte erst unterschreiben, und dann hat er mir erzählt: Ich habe mich erkundigt, damit könnte doch etwas bewirkt werden, und deswegen lieber nicht.
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Das zeigt doch schon, daß die Argumentation, diese Sache kann nicht schaden, und nur deshalb machen wir mit, nicht ausreicht. Es wird etwas bewirken, und zwar etwas Positives. Das steckt in diesen Begriffen einfach drin.
Jetzt können Sie mich fragen: Was kannst du dir denn da vorstellen? Es scheint noch etwas Zeit zu sein, daß ich das hier entfalten kann.
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- Jetzt plötzlich. Alle durften länger reden. - Ich kann mir natürlich vorstellen - Sie auch -, daß es ein Impuls für das gesamte Bildungswesen wäre, diese beiden Dinge voranzubringen. Da es sich um Dinge handelt, die nicht nur mit dem Willen zusammenhängen, sondern auch die Gefühlsebene berühren, ist das eine ganz schwierige Bildungsaufgabe, die sehr viel Aufwand erfordert und bei der sehr viel mehr getan werden muß. Dies geht bis hin zu der Frage, ob wir in unserer Kultur nicht stärker die Möglichkeit von Besinnung einbauen müßten, um zu mehr Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in unserem Lande zu kommen.
Meinen Sie nicht auch, daß sich das Rechtsbewußtsein verändern würde? Glauben Sie, daß solche
Urteile, wie es sie kürzlich gegeben hat, als Leute ihr Geld für eine Urlaubsreise zurückgeklagt haben, weil ein Behinderter dabei war, noch möglich wären, wenn der Begriff Mitmenschlichkeit so zentral in unserer Verfassung stünde? Ich glaube es nicht.
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Schließlich gilt das Bürgerethos, das hier angesprochen ist, nicht nur für die Bürger draußen, sondern auch für uns in diesem Saal, für alle Politiker, für den Bundespräsidenten. Meinen Sie nicht auch, daß dies bewußtseinsprägende Auswirkungen für uns alle hätte, daß wir in Zeiten knappen Geldes wie den jetzigen beim Sparen andere Prioritäten setzen würden und nicht gerade bei der Unterstützung gemeinnütziger Vereinigungen, die Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn fördern, wie den Jugendverbänden, den Rotstift ansetzen würden? Ich meine dies schon. Deswegen sollten wir dieses hier in die Verfassung schreiben.
Eine Verfassung ist nicht nur ein Gesetz von Juristen für Juristen, sondern auch die grundlegende Verständigung einer Gesellschaft über ihre wesentlichen Werte, jene Werte, ohne die ein Gemeinwesen nicht funktionieren kann. Es kann ohne Gemeinsinn kein Staat funktionieren.
Die vielen, die unterschrieben haben, zu denen auch ich gehöre, meinen, daß diese früher selbstverständlichen Werte in einer Gesellschaft des ausufernden Individualismus, des wachsenden Egoismus und der Gewaltbereitschaft in Vergessenheit zu geraten drohen.
Herr Elmer, Ihre Redezeit ist beendet.
Oh, da bin ich ja der erste, dem das heute gesagt wird.
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Deshalb wäre es besser, diesen Werten in Zukunft einen Ort in der Verfassung zu geben, damit die Freiheit in unserem liberalen Rechtsstaat nicht mißverstanden wird als die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, ohne Rücksicht auf den Nächsten und auf das gesellschaftliche Ganze. - Leider kann ich Weiteres hierzu nicht ausführen.
Schließen möchte ich mit einem Zitat des amerikanischen Sozialpsychologen und Beraters des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, Michael Lerner. Dieser schreibt in der „Wochenpost":
Es kommt darauf an, die besseren Seiten der deutschen Kultur aufzunehmen. Besonders nach der staatlichen Einheit Deutschlands müßte man sich mit Werten der Mitmenschlichkeit an die Herzen der Menschen wenden.
Finden Sie nicht auch, das ist ein guter Rat?
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Als nächster spricht der Kollege Freiherr von Stetten.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist schon mehrfach gesagt worden, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, unsere jetzige gesamtdeutsche Verfassung, sollte nicht unnötig geändert werden, weil wir mit diesem Grundgesetz 45 Jahre lang gut gefahren sind. Dennoch kann nichts so gut sein, daß es nicht auch noch verbessert werden könnte. Unser Grundgesetz ist auch keine „heilige Kuh", die nicht angerührt werden darf. Wir haben dieses Grundgesetz in den letzten Jahrzehnten ja auch 40mal geändert, und zwar durch 145 Änderungen der Grundgesetzartikel durch Aufhebung, Ergänzung, Änderung oder Neueinführung.
Aber wir sollten - da nehme ich das Wort von Herrn Friedrich auf - keinen Warenhauskatalog - vielleicht ist das etwas despektierlich -, keine Prosa oder keine Lyrik in unsere Verfassung bringen; denn dann, meine Damen und Herren, unterliegen wir der Versuchung, alles, was wünschenswert und nett ist, hineinzuschreiben, ähnlich wie es Herr Elmer ausgeführt hat. Das Mitmenschliche ist ja sicherlich nicht schädlich, aber das steht bereits mehrfach in der Verfassung, und zwar in den Art. 1 bis 20. Die Mitmenschlichkeit, die Sozialstaatlichkeit, die Würde des Menschen, die Gleichheit - alles das ist bereits in der Verfassung aufgeführt. Wir sollten nicht der Versuchung erliegen, diesen Satz aufzunehmen; denn das würde Begehrlichkeiten wecken.
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Herr von Stetten, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege, ich stimme Ihnen im Prinzip darin zu, daß in der „Menschenwürde" alles schon drinsteckt. Aber würden Sie nicht auch zugeben können, daß dann, wenn die beiden anderen wichtigen Linien, die darin stekken, nämlich die Freiheit, die ganz weit entfaltet ist - es sind die ganzen Grundrechtsteile -, und die Gleichheit, die wir in dieser Diskussion jetzt im Blick auf die Frauenrechte noch einmal stark entfalten, so weit ausgezogen sind, eben doch ein Ungleichgewicht entsteht, daß es im Verhältnis zur Brüderlichkeit, die in der Französischen Revolution von Anfang an eine wichtige Rolle spielte, die aber in unserer Verfassung nicht so ausgeführt ist, zu einem kodifikatorischen Ungleichgewicht, wie ich das gelernt habe, kommt? Dies wollen wir hiermit ausgleichen. Wir wollen damit nicht bestreiten, daß das in der „Menschenwürde" schon drinsteckt. Könnten Sie das nicht auch so sehen?
Ich sehe es nur insoweit so, als ich meine, daß in unseren Art. 1 bis 20 bereits alles steht. Was Sie jetzt tun, ist eine Wiederholung. Letztlich ist das weiße Salbe. Wenn es drinsteht, dann schadet es nichts, aber es nützt auch nichts. Wir wollen ein klares Grundgesetz
und nicht ständig Erweiterungen dort, wo es nicht notwendig ist. Deswegen sollte es nicht hinein. Wenn es hineinkäme, Herr Elmer, dann wäre das sicherlich kein Fehler, aber es wäre weiße Salbe.
Meine Damen und Herren, ich möchte mich jetzt mit dem Auftrag aus Art. 5 des Einigungsvertrages, Stärkung des Föderalismus und damit Stärkung der Länder im Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern, beschäftigen. In Art. 30 und 70 des Grundgesetzes wird bestimmt: „Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung . . ." - „Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist Sache der Länder ... " - Das steht dort sozusagen als Urrecht der demokratischen Rechte. Dies wird jeweils nur eingeschränkt, soweit das Grundgesetz diese Gesetzgebungsbefugnis nicht dem Bunde zugesteht bzw. eine andere Regelung trifft oder zuläßt.
Zur ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes gehört der relativ kleine Katalog des Art. 73, der dann ergänzt wird durch den Katalog des Art. 74 als sogenannte konkurrierende Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern. Das heißt, der Bund ist hier berechtigt, unter den Voraussetzungen des bundeseinheitlichen Bedürfnisses die Gesetzgebung zu übernehmen.
Hier hat es in der Vergangenheit Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern gegeben, weil die Länder behaupteten - und sie behaupten es noch -, daß die Verfassungswirklichkeit nicht im Einklang mit der ursprünglich von den Vätern und Müttern dieses Grundgesetzes gewünschten Verfassungslage steht. Herr Voscherau hat darauf vorhin hingewiesen.
Wenn auch die Bundesrepublik Deutschland nach dem Grundgesetz ein Bundesstaat und kein Staatenbund ist, hat dieses spezielle deutsche Bundesstaatssystem zur Zeit der Verabschiedung des Grundgesetzes den Ländern sicher mehr zugedacht, als sie in den letzten 40 Jahren durchgesetzt haben.
Zwar kann kompetenzwidriges Bundesrecht nicht kompetenzmäßiges Landesrecht brechen, aber die Formulierung in dem bisherigen Art. 72 „soweit ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht" wurde vom Bund sehr weit ausgenutzt. Das Bundesverfassungsgericht hat die Kriterien für die Bedürfnisprüfung als nur beschränkt nachprüfbar angesehen und dem Bund einen weiten politischen Ermessensspielraum zugebilligt.
In den Verhandlungen forderten die Länder daher, die Bedürfnisklausel klarer zu fassen und im Grundgesetz zu verankern, ebenso wie die Überprüfbarkeit dieser Bedürfnisfrage durch das Bundesverfassungsgericht. Beides wurde in weitem Umfang erfüllt. Die neuen Formulierungen des Art. 72, insbesondere des Abs. 2, geben den Ländern eine starke Stellung im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung.
Der Bund wird in Zukunft erheblich mehr einem Erklärungs- und Begründungszwang unterliegen, wenn er sein Gesetzgebungsrecht ausüben will. Dies ist nur dann noch möglich, wenn die Herstellung „gleichwertiger Lebensverhältnisse" oder die „Wahrung der Rechtseinheit" eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Nur sinnvolle oder nur zweckmäßige oder wünschenwerte einheitliche Regelungen werden daher nicht mehr ausreichen.
Herr von Stetten, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege, nachdem Sie heute früh die Einlassung des Kollegen Dr. Vogel und auch die des Bürgermeisters Voscherau gehört haben, die gesagt haben, daß in bezug auf die heikle Frage der Berufsbildung hier keine Absichten der Länder erkennbar seien, eine Kompetenzverlagerung vom Bund auf die Länder vorzunehmen: Was würden Sie denn den Bildungspolitikern aller Fraktionen empfehlen, die große Sorge um das hochangesehene deutsche duale Bildungssystem haben, wie sie sicherstellen können - nicht nur mit frommen Absichtserklärungen, sondern verfassungsgemäß -, diese Kompetenz auch zu behalten? Müßten Sie dann eigentlich den Art. 72 ablehnen, oder gibt es im Zuge der weiteren Beratungen eine Möglichkeit, eine andere Regelung zu finden, die das sicherstellt?
Das ist eine sicher sehr tiefschürfende Frage, vor allem deswegen, weil an sich Bildung und Kultur Ländersache sind und wir eine Kompetenz des Bundes nur in beschränktem Umfange haben. Zur Einheitlichkeit gehört sicher vieles dazu. Ob das nach dem neuen Art. 71 Abs. 2 noch so gehandhabt werden kann wie in der Vergangenheit, da habe ich meine Bedenken. Dazu werde ich nachher noch Stellung nahmen.
Aber ich weiß, Herr Professor Scholz - er erhebt sich schon - hat eine etwas andere Meinung. Ich glaube, man sollte in der Beratung näher darauf eingehen.
Eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Scholz.
Herr Kollege von Stetten, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß in dem neuen Art. 72 Abs. 2 das Tatbestandsmerkmal der Gesamtstaatlichkeit, das ganz bewußt als ein bedürfnisqualifizierendes Moment aufgenommen worden ist, gewährleistet, daß gerade in diesen Feldern, wo die Berufsausbildung in der Tat nicht dezentral, sondern zentral sein muß, bis in die europäische Dimension hinein, sich bei den Bundeszuständigkeiten, soweit sie im Rahmen der ja nicht veränderten Einzelkompetenzkataloge angesiedelt sind, keine substantiellen Veränderungen ergeben, so wie das im übrigen vorhin auch Herr Voscherau zum Ausdruck gebracht hat?
Bei der Formulierung des Art. 72 Abs. 2 gingen wir davon aus. Inzwischen wissen wir, daß ja andere Interpretationen da sind. Wir sollten in unserer Beratung im Rechtsausschuß dem noch einmal nachgehen. Sonst hätten wir den Artikel nicht so gefaßt, denn es war
nicht beabsichtigt, die Bildung und Ausbildung in einem Umfang aufzuweichen, wie es nicht verantwortbar ist.
Ich darf fortfahren. In Art. 74 wurde wenig geändert. Aufgenommen wurde unter Nr. 25 die Staatshaftung und unter Nr. 26 die künstliche Befruchtung und Transplantation von Organen und Geweben. Damit sind diese beiden wichtigen Dinge in Zukunft der Möglichkeit unterworfen, bundeseinheitlich geregelt zu werden. Dies war ein Zugeständnis der Länder, aber sicher ein sehr sinnvolles.
Das Recht der Erschließungsbeiträge wurde unter Nr. 18 herausgenommen und soll damit voll in die Hand der Länder zurückgegeben werden. Dagegen gibt es nun Proteste bei den Wohnungsbaupolitikern. Es sei aber die Frage erlaubt, warum die Lander das nicht in eigener Kompetenz genausogut oder vielleicht sogar besser durchführen können. Auch hierüber wird sicher in der Beratung noch diskutiert werden.
Art. 75, Rahmengesetzgebung, wurde - ich möchte es etwas salopp ausdrücken - zurechtgestutzt. Zunächst müssen die engen Voraussetzungen des Art. 72 vorliegen. In Art. 75 Abs. 2 wurde darüber hinaus bestimmt:
Rahmenvorschriften dürfen nur in Ausnahmefällen in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen enthalten.
Damit wurde den Wünschen der Länder weitgehend Rechnung getragen, die die großzügige Handhabung durch den Bund und seine Sucht, zuviel Einzelheiten regeln zu wollen, schon immer bemängelten.
Nicht unumstritten ist die Änderung des Art. 75 Abs. 1 Nr. 1a. Hier wurden die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens auf die Zulassung zum Studium, die Studiengänge, die Prüfungen, die Hochschulgrade und das wissenschaftliche und künstlerische Personal beschränkt. Für die einen bedeutet das einen Rückfall in den Hochschulpartikularismus, für die anderen die notwendige administrative Freiheit für Hochschulen. Kollege Jahn hat hierzu ausführlich Stellung genommen. Darüber wird sicher diskutiert werden müssen.
In Abs. 3 werden die Länder nunmehr neu verpflichtet, den Rahmen, den der Bund durch seine Gesetzgebung gesetzt hat, auszufüllen.
Auf die Verfahrensänderungen in Art. 76, 77, 80 und 87 will ich aus Zeitgründen nicht eingehen. Sie sind nicht einschneidend, und wir können mit diesen Änderungen und ohne sie leben.
Hinweisen möchte ich jedoch auf die Gefahr einer Verfahrensflut durch die Kombinationen der Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a, 125a und 72 Abs. 3. Das Bundesverfassungsgericht hat bei Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 75 entspricht, und zwar auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder - dies ist in sich schon ein Systembruch - der Volksvertretung eines Landes, also der Landtage.
Dies mag als besonderer Wunsch der Landtagspräsidenten hingenommen werden, obwohl es deswegen
nicht sinnvoller wird. Bedenken habe ich aber dagegen, daß alle Berechtigten die Vereinbarkeit der in den letzten 45 Jahren erlassenen Bundesgesetze mit den neuen Bestimmungen der Art. 72 und 75 des Grundgesetzes verfassungsgerichtlich nachprüfen lassen können. Dies können sie dann, wenn der Bund nach der Meinung der Länder seiner Pflicht, bundesgesetzliche Regelungen gemäß Art. 72 Abs. 3 aufzuheben, nicht nachkommt. Gegen die Begehrlichkeit der Länder und insbesondere der Fachministerien sollte eine Bremse eingebaut werden, damit wir nicht, wie ich immer sage, in Karlsruhe einen dritten Senat installieren müssen.
Die Verfassungskommission hat in unzähligen Sitzungen eine gute Arbeit geleistet. Ich bedanke mich insbesondere für das angenehme Klima und danke dafür besonders den Berichterstatterkollegen Dr. Penner und Herrn Kleinert. Es war in der Tat auch für mich eine sehr schöne Aufgabe, in diesem Parlament ein neues Gremium, nämlich die Verfassungskommission, mit zu begleiten.
Ich bin der Meinung, daß die mit Zweidrittelmehrheit verabschiedeten Vorschläge gut sind und hier im Hohen Hause Ihre Zustimmung finden sollten.
Danke schön.
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Als nächste spricht die Kollegin Susanne Rahardt-Vahldieck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich stehe hier vor Ihnen sozusagen zweigeteilt: Ich will mich einerseits für meine Fraktion zu Art. 3 äußern und andererseits zum Gruppenantrag zum Thema „Mitmenschlichkeit". Ich hoffe, daß Sie die Ausführungen soweit auseinanderhalten können, daß Sie wissen, wann ich wozu spreche.
Ich beginne zunächst mit der Äußerung für meine Fraktion zu Art. 3. Die Kollegin Mascher hat schon einiges zur Historie gesagt, wenn auch etwas einseitig dargestellt. Es sind nicht nur sozialdemokratische Frauen gewesen, die für die Gleichberechtigung gekämpft haben.
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Zuvor waren es schon die bürgerlichen und christlich motivierten Frauen, in diesem Hause sind es die Frauen aller Fraktionen gewesen, die sich für eine Veränderung und Ergänzung dieses Artikels eingesetzt haben.
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Wir sind übereinstimmend der Auffassung - auch die Männer dürften dies ganz überwiegend, so sage ich einmal, eingesehen haben -, daß es tatsächlich eine strukturelle Benachteiligung von Frauen gibt. Man braucht sich nur den Arbeitsmarkt anzusehen: Frauen sind überproportional arbeitslos. Frauen sind in politischen Ämtern unterproportional vertreten, in Führungsämtern und Positionen der Wirtschaft allemal. In den Gremien sind sie zu einem Prozentsatz vertreten, daß man sie häufig überhaupt nicht aufspüSusanne Rahardt-Vahldieck
ren kann, nicht einmal mit einer Lupe. Das alles kann kein Zufall sein und liegt sicherlich nicht daran, daß die jeweils einzelne Frau unfähiger wäre als der einzelne Mann.
Die strukturelle Benachteiligung ist klar und auch festgestellt worden. Diese strukturelle Benachteiligung hat sich trotz des Satzes aus dem Grundgesetz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" ergeben. Das heißt: Eine Ergänzung, eine Erweiterung, ein neuer „Push" - so sage ich einmal - war notwendig.
Ich finde, der Satz, den wir jetzt gemeinsam entwikkelt haben, trägt diesem Anliegen in ganz besonderem Maße Rechnung.
Zunächst einmal wird klargestellt, was wir wollen. Der Satz über die Gleichberechtigung ist jedenfalls zeitweise, über viele Jahre hinweg, im Sinne einer reinen Gleichheit vor dem Gesetz verstanden worden, obwohl daraus auch schon damals, 1949, ein Gleichberechtigungsgebot abgelesen wurde. Wir wollen klarmachen, daß es sich um ein tatsächliches Gleichberechtigungsgebot handelt, und fußen insoweit auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, das dies mehrfach deutlich gesagt hat. Das Bundesverfassungsgericht sieht ein Gleichberechtigungsgebot an den Staat. Dies aber müssen wir deutlich formulieren, weil es, wie natürlich immer bei der Juristerei, andere Juristen, überwiegend Herren, gibt, die das natürlich ganz anders sehen. Das heißt, wir wollen die Festschreibung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und damit ein Gleichberechtigungsgebot.
Es handelt sich aber um ein Gleichberechtigungs-, nicht um ein Gleichstellungsgebot. Frauen und Männer sind nicht gleich und wollen es auch gar nicht sein.
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Sie wollen die gleichen Rechte und die gleichberechtigten Teilhabemöglichkeiten haben. Sie wollen aber nicht gleich sein, schon gar nicht wollen sie von irgendwelchen Dritten - das können im Prinzip nur Männer sein - gleichgestellt werden. Wem denn bitte? Ich will nicht einem Mann gleichgestellt werden.
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Ich als Frau bin ich selbst und will die gleichen Rechte wahrnehmen können.
Der Satz, den wir gefunden haben, macht deutlich, daß der Staat dies zu fördern und auf die Beseitigung der vorhandenen Nachteile hinzuwirken hat. Der Staat allein kann dies nicht gewährleisten. Diese Benachteiligung gibt es in allen Bereichen: in juristischen, politischen und gesellschaftlichen. Gott sei Dank haben wir keinen Staat, der in jeden Bereich, welcher gesellschaftlichen Art er auch immer ist, so hineinregieren kann, daß er etwas gewährleisten kann. Er kann jedoch in allen Bereichen fördern und in allen Bereichen darauf hinwirken, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen.
Genau das wird durch unsere Formulierung zur Ergänzung von Art. 3 festgeschrieben. Ich glaube, damit gehen wir den allerbesten Weg.
({4}) Dies zu Art. 3.
Jetzt der Wechsel. Ich will nicht den Übergangsvorschlag des Kollegen Scholz wählen, der meinte, ich sollte unter diesen Umständen zu Mitfraulichkeit aufrufen. Ich meine vielmehr den Aufruf zu mehr Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn.
Herr Kollege Elmer hat einiges dazu gesagt. Ich weiß, daß unsere Juristen - ich sage hier wieder ganz häßlich: unsere Herren Juristen - überwiegend eine Abneigung gegen diese Passage entwickelt haben. Ich bin selbst Juristin und habe eine ganz gesunde Abneigung gegen Verfassungslyrik und hohle Sprechblasen. Ich habe mir auch lange überlegt: Soll ich mich dieser Initiative anschließen? Ich habe mich gefragt: Kann ich das vor meinem formal-juristischen Gewissen überhaupt verantworten?
Ich habe mich dazu durchgerungen, und zwar aus dem Grunde - der Kollege Elmer deutete es an -: Das Grundgesetz ist nach den Greueln der Nazizeit als ein Gesetz konzipiert worden, das überwiegend auf Abwehrrechte gegenüber dem Staat aufbaut. Sie werden feststellen, daß dies mit Art. 2 losgeht. Dort wird eine Freiheit nach der anderen aufgezählt. Die Gleichheit wird selbstverständlich auch erwähnt, völlig zu Recht. Der Gesichtspunkt der Mitmenschlichkeit und des Gemeinsinns aber wird nicht extra aufgeführt. Warum? Dies hat damals als eine Selbstverständlichkeit gegolten. Natürlich war allen Müttern und Vätern des Grundgesetzes klar: Ein Gemeinwesen kann überhaupt nur funktionieren, wenn diese Werte Grundlagen sind. Sie sind damals so grundlegend gewesen, daß man nicht davon ausgegangen ist, man brauche diese gesondert aufzuführen.
Wozu aber hat das geführt? Wir stellen doch fest, daß die Freiheitsrechte gelegentlich zu einem überbordenden Individualismus verkommen sind.
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Jeder glaubt, sich aus den Freiheitsrechten sein Recht des Stärkeren ablesen zu können, an den sozial Schwächeren vorbeizuziehen. Das hat das Grundgesetz nicht gewollt. Es ist auch mit der Menschenwürde, die in Art. 1 festgelegt ist, nicht vereinbar. Aber wir dürfen in diesem grundlegenden Gesetz, das wir für unser Staatswesen haben, nicht nur von Freiheit und Gleichheit reden und den dritten Wert - die Brüderlichkeit und alles, was damit verbunden ist - überhaupt nicht erwähnen. Gut, dieser Wert ist im Begriff der Menschenwürde natürlich irgendwie enthalten. Aber auch die Freiheit ist in der Menschenwürde irgendwie enthalten, und auch die Gleichheit ist irgendwie in der Menschenwürde enthalten. Aber diese Werte werden noch einmal ausdrücklich aufgenommen; nur, die Mitmenschlichkeit und der Gemeinsinn gehen unter. Es scheint mir notwendig zu sein, hier ein Signal zu setzen.
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Wir leben in einer Zeit des Ausnützens von Freiheitsrechten. Wir leben in einer Zeit, in der Ältere vereinsamt in ihren Wohnungen sterben und dies niemand mitbekommt, in einer Zeit der Gewalt, in einer Zeit der Ausgrenzung sozial Schwacher, in einer Zeit, in der jeder für seine Sache kämpft. Der Kollege Helmrich hat es einmal so formuliert: Es gibt in der Verfassung eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Wir sollten eine Idee entwickeln, die zu einer Sozialpflichtigkeit der Freiheit führt. - Das versuchen wir mit diesem Satz. Es wird damit natürlich keine neue Grundrechtsschranke oder so etwas ähnliches errichtet.
Um noch einmal den Kollegen Isensee zu zitieren. Herr Professor Isensee, der gerade von unseren eher konservativen Juristen so sehr geschätzt wird, hat ausdrücklich festgehalten:
Von den zahlreichen Änderungsvorschlägen, die gescheitert sind, ist es um einen schade, einen neuen Art. 2 a GG, der Unterstützung quer durch alle Fraktionen erfahren hat: „Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen". Ein solcher Satz würde ... den juridischen Charakter des Grundgesetzes nicht gefährden . . . dadurch, daß er außerrechtliche Verfassungserwartungen an die Ausübung grundrechtlicher Freiheit zur Sprache brächte: das Bürgerethos einer gemeinwohlgemäßen Ausübung der Grundrechte. Daraus ergäbe sich ein verfassungspädagogisches Signal, daß, auch wenn die liberalen Grundsätze von Haus aus „Versicherung des Egoismus" ... sind, ihre Ausübung sich nicht in Anspruchsegozentrik erschöpfen darf. Der Vorschlag nennt eine mit staatlichem Befehl und Zwang nicht erzwingbare Verfassungsvoraussetzung, aus der die Grundrechtsdemokratie lebt.
({7})
Ich meine, das ist überzeugend und juristisch durchaus haltbar und nachvollziehbar dargestellt. Ich möchte Sie alle ganz herzlich bitten, diesem Anliegen zu folgen und für die notwendige Zweidrittelmehrheit zu sorgen.
Ich danke Ihnen.
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Als nächste nun die Kollegin Erika Steinbach.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission waren einerseits von überaus höflichem und zuvorkommendem Umgang miteinander geprägt. Dadurch konnte allerdings nicht überdeckt werden, daß fundamentale Verständnisunterschiede zum Umfang der gestellten Aufgabe vorhanden waren und damit auch die Beratungen prägten.
Die SPD und andere waren durchdrungen von dem Wunsch nach einer Totalrevision des Grundgesetzes,
dem Schöpfen einer fast vollständig neuen Verfassung. Wir als CDU/CSU-Mitglieder gingen davon aus, daß wir ein gutes Grundgesetz, eine bewährte Verfassungsordnung haben und daß wir in diesem Grundgesetz nur das tatsächlich Notwendige verändern wollen. Bewährtes wollten und wollen wir bewahrt sehen.
Herr Dr. Vogel hat heute früh in seiner Rede mehrfach darauf hingewiesen, daß „die Konservativen" nicht zu Änderungen bereit seien. Ich meine, nur Toren trennen sich von Bewährtem und füllen es durch nachweislich Gescheitertes auf. Insofern sind wir sehr gerne konservativ; denn Toren möchten wir durchaus nicht sein.
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Zum Beispiel die Forderungen nach Recht auf Arbeit oder nach Recht auf Wohnung haben sich doch schon in anderen Verfassungen nicht bewährt. Sie haben sich als untauglich erwiesen. Dies gilt sowohl für die Forderung des Rechtes auf Arbeit in der Weimarer Verfassung als auch für das Recht auf Wohnung in der alten DDR-Verfassung. Die maroden Wohnungen in den neuen Bundesländern belegen noch heute deutlich, wie wenig ein solches verankertes Recht bewirkt.
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Die zig Millionen Arbeitslosen in der Weimarer Zeit haben letztendlich in die schreckliche NS-Diktatur hineingeführt, obwohl in den Verfassungen anderes Positives verankert war. Das heißt, es hat nichts geholfen, nichts genützt. Weshalb soll man nach solchen Erfahrungen Gleiches dann noch einmal verankern?
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Meine sehr geehrten Damen und Herren, einen Punkt möchte ich noch einmal ansprechen. Das Paket der Wünsche zur Änderung unserer Verfassung enthält eine Empfehlung, die harmlos und menschenfreundlich - ich will jetzt nicht sagen: mitmenschlich - klingt, die aber von ungeheurer politischer Tragweite ist.
Frau Steinbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich glaube, die Zeit ist weit vorangeschritten, so daß ich lieber durchgehend weitersprechen möchte.
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Es geht um den Schutz ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheitengruppen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, insbesondere unabhängig von der deutschen Staatsangehörigkeit. Die seitens der SPD und wohl auch von den GRÜNEN empfohlene Änderung des Grundgesetzes bedeutet, Deutschland ganz bewußt und gewollt zu einem multikulturellen Staatsgebilde umzugestalten. Die CDU/CSU-Fraktion hält diesen Weg für grundlegend falsch, und wir werden ihn nicht mitgehen.
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Wir haben uns in dieser Frage sehr eingehend miteinander beraten. Ängstlichkeit und Starrheit dürfen ein Nachdenken darüber natürlich nicht bestimmen und beeinflussen. Es muß ein kluges Abwägen sein: Was nützt unserem Lande? Was nützt unserem Volk? Was nützt dem Frieden hier im Lande?
Der Gesamtkomplex muß unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden:
Erstens. Gibt es überhaupt ein verfassungsrechtliches Defizit in Deutschland im Umgang mit Menschen ethnischer, kultureller oder sprachlicher Minderheiten?
Zweitens. Haben wir in dieser Hinsicht völkerrechtlich etwas im Grundgesetz aufzuarbeiten?
Drittens. Was wird für die Zukunft im Zusammenleben überhaupt dadurch verändert? Bewirkt eine Veränderung im Grundgesetz etwas Positives im Zusammenleben der Menschen in Deutschland?
Diese Fragen lassen sich verständlich nur beantworten, wenn wir als CDU/CSU unseren Standort für ein friedliches und freies, aber auch rücksichtsvolles Zusammenleben von Menschen hi unserem Lande bestimmen. Unser Grundgesetz schützt den einzelnen Menschen, unabhängig von seiner Rasse, unabhängig von seiner Sprache und auch von seiner Herkunft. Es wird keinerlei Unterscheidung getroffen. Gruppenrechte allerdings sind für ethnische, kulturelle und sprachliche Minderheiten im Grundgesetz nicht verankert. Auch deutsche Minderheiten wie Sorben, Friesen oder Dänen, die über die einzelnen Verfassungen ihrer Bundesländer Schutz genießen, werden im Grundgesetz nicht besonders aufgeführt.
Diese deutschen Minderheiten sind aber auch nicht Dreh- und Angelpunkt der gewünschten Grundgesetzänderung. Meine Fraktion wird darüber nachdenken, ob wir im Verlauf unserer parlamentarischen Beratung eine Formulierung zugunsten dieser drei deutschen Minderheitengruppen in ihren angestammten Siedlungsgebieten in das Grundgesetz aufnehmen werden. In der vorliegenden Änderungsfassung und Formulierung ist allerdings anderes gewollt.
Ein besonderer Schutz für Sinti und Roma wurde in der Verfassungskommission immer wieder angesprochen. Es wurde z. B. auch der Problemkreis der Türken und anderer Minderheiten genannt, selbst wenn sie möglicherweise schon deutscher Nationalität sind. Es wurde auch immer wieder deutlich hervorgehoben, daß gewollt in diese Richtung gedacht wird, daß diese Richtung gemeint ist.
Wir sind der festen Überzeugung, daß für die Zukunft unseres Landes und für ein friedliches Zusammenleben Deutscher mit zugezogenen Menschen und deren Nachkommen eines unabdingbar ist: Es muß in allererster Linie Integration gefordert werden.
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Wir müssen alles unterlassen, was einer Integration entgegensteht. Deshalb sind wir auch gegen die generelle doppelte Staatsangehörigkeit.
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Deshalb werden wir ein generelles kommunales Ausländerwahlrecht nicht einführen. Wir sind der Auffassung, daß das einer Integration nicht zuträglich ist, und insbesondere auf Dauer trennend wirkt und die Integration behindert.
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- Wir sind da unterschiedlicher Auffassung; das liegt ja ganz offen zutage, das sage ich hier auch ganz deutlich.
Verfassungsrechtliche Defizite für Menschen ethnischer, kultureller und sprachlicher Minderheiten gibt es für den einzelnen in Deutschland nicht. Ein Gruppenschutz, wie er jetzt gewünscht wird, beinhaltet eine ganz neue gesellschaftspolitische Konzeption.
Wer der Formulierung des neuen Art. 20 b zustimmt, will bewußt eine verfassungsrechtlich gesicherte multikulturelle Gesellschaft im Grundgesetz verankern. Wir als CDU/CSU wollen das nicht.
Wir wollen kein Nebeneinander weitestgehend eigenständiger Kulturen und schon gar nicht ein Nebeneinander mit staatlicher Förderung. Zur Sicherung der inneren Stabilität in Deutschland kann die Antwort nicht lauten, Minderheitengruppen speziell zu fördern und für die Erhaltung ihrer kulturellen Identität als jeweilige Gruppe auch noch staatlich Sorge zu tragen. Der Weg in eine verfassungsrechtlich geschützte Gruppenisolation Zugezogener mitten in Deutschland ist der falsche Ansatz.
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Menschen, die nach Deutschland kommen, Menschen, die unsere Gastfreundschaft und den Schutz unseres Rechtssystems genießen, müssen, wenn sie auf Dauer hier leben möchten, bereit sein, sich sprachlich und kulturell zu integrieren.
Mit Ihrem Weg, meine Damen und Herren von der SPD und den GRÜNEN, beschwören Sie neue gesellschaftspolitische Probleme erster Ordnung herauf, Sie lösen sie nicht, und Sie gießen zudem antidemokratischen Zielsetzungen neues Wasser auf die Mühlen. Das kann doch nicht im Interesse Deutschlands liegen.
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Als nächster spricht der Abgeordnete Rudolf Krause ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Verfassungsdebatte ist gelegentlich vom Recht des Volkes auf Abstimmungen gesprochen worden. Viele von uns haben sicher den Artikel im „Spiegel" Nr. 5 dieses Jahres gelesen. Dort steht: Nur noch 17 % aller Bundesbürger vertrauen Bundesregierung und Parlament.
Nun gehöre ich nicht zu denen, die dem vertrauen, was der „Spiegel" sagt, aber man sollte doch die Frage aufwerfen: Inwieweit hat dieses Parlament das moraDr. Rudolf Karl Krause ({0})
lische Recht, gegen Art. 20 Abs. 2, in dem von Wahlen und Abstimmungen die Rede ist, hier dem Volke Abstimmungen vorzuenthalten, wie sie der Art. 146 ja vorschreibt und wo es heißt:
Das Grundgesetz ... verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung ha Kraft tritt, die von den deutschem Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.
Sehr viele in Deutschland wollen so eine Volksabstimmung.
Und wenn in einem anderen Falle, z. B. zu Maastricht, der „Spiegel" schreibt, daß bereits 72 % der Bevölkerung gegen Maastricht sind, hier aber zu über 90 % Maastricht zugestimmt wurde, dann ist doch die souveräne Lösung die, daß das Volk als Souverän über eine Volksabstimmung zu diesem Widerspruch -72 % auf der einen Seite dagegen, hier aber über 90 % dafür - seine Entscheidung trifft.
Lassen Sie mich aber noch einiges zur Verfassungswirklichkeit sagen. Art. 3 Abs. 3 ist ja nicht nur ein Benachteiligungsverbot, sondern auch ein Bevorzugungsverbot. Wenn ich mir aber die Zusammensetzung von Gremien bis hin zum Verfassungsgericht ansehe, so stelle ich fest, daß hier ganz eindeutig Menschen bevorzugt sind, die politischen Parteien angehören,
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die insgesamt aber eine Minderheit in diesem Lande ausmachen.
Nun noch zu einem mir sehr wichtigen Punkt:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Was in diesem „Spiegel"-Artikel an Beleidigungen und Beschimpfungen mit dem Charakter von Volksverhetzung gegen die Bevölkerungsgruppe der Berufspolitiker gesagt wurde, ist genau dieselbe Technologie der Lüge, der Diffamierung, der Pauschalisierung, wie sie gegenüber uns Republikanern auch von einigen Vertretern dieses Hauses bisher ungestraft ausgeübt wurde.
Es schreibt „Der Spiegel":
Die häßlichen Enkel
Warum die Bürger ihre Politiker verachten
„Der Spiegel" schreibt: „Politiker - Pfui Teufel". Er gipfelt in drei Sätzen: „Politiker - Pfui Teufel; die häßlichen Enkel; Helmut Kohl, ade". Natürlich ist die SPD in diesem Artikel -
Darf ich fragen, ob Sie zur Verfassungsreform reden?
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Die SPD kommt in diesem Artikel gut weg. Aber, die Verfassungswirklichkeit ist gerade bei der Einhaltung der Menschenrechte, der Menschenwürde gegenüber jedermann viel wichtiger als einige Verfassungsänderungen, mit denen ich mich, soweit sie von der CDU und der F.D.P. hier vorgelegt wurden, durchaus einverstanden erklären kann. Das ist eine ganz andere Frage.
Ich möchte hier die Gelegenheit wahrnehmen zu sagen: Die Verfassung muß gegenüber jedermann gelten. Solange jemand nicht als schuldig von einem Gericht verurteilt ist, dürfen auch nicht Mutmaßungen gegen bestimmte Menschengruppen verallgemeinert werden. Wenn es eine Hehlerei gibt, eine staatlich geduldete Hehlerei gegen bestimmte politisch nicht erwünschte Gruppen, dann muß man sich nicht wundern, wenn diese verfassungsfeindliche -
Ich muß einen Ordnungsruf erteilen, wenn Sie von „staatlicher Hehlerei" gegen politische Gruppen sprechen.
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Ich nehme den Ordnungsruf an und entschuldige mich. Aber es handelt sich um einzelne Vertreter, die das durchaus tun, die ohne Überprüfung eines Sachverhalts Pauschalurteile aus den Zeitungen mit eigenen Worten ungeprüft weitergeben.
Ich möchte also darum bitten, den Änderungen, die hier gebracht werden, zwar zuzustimmen - es wäre unredlich zu sagen, es sei nicht gut, was dort gefordert und vorgeschlagen wird, so wenig es auch ist -, aber viel wichtiger ist, daß wir die Verfassung in all ihren Artikeln ohne Ansehen der Person gegenüber jedermann einhalten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Auf meiner Liste steht der Kollege Briefs. Ist er im Saal? - Nein *).
Dann folgt zunächst eine Kurzintervention von Herrn Hirsch. Als letzter Redner spricht dann Herr Christoph Schnittler.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Frau Steinbach hat in ihrer Rede den Sozialdemokraten und anderen vorgehalten, daß die Achtung vor ethnischen, sprachlichen und kulturellen Minderheiten ein Verstoß gegen das Demokratiegebot sei.
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Ich möchte hier betonen, daß es ein Kerninhalt liberaler Politik ist, Minderheiten zu achten, eine Politik der Integration zu betreiben, jeden Assimilationsdruck entschieden abzulehnen, und daß es ein elementarer Inhalt der Friedensfähigkeit einer Gesellschaft ist, nicht nur nach außen für den Schutz von Minderheiten zu werben, sondern als ein selbstverständliches Grundrecht auch die Minderheiten im Inland zu achten und zu wahren.
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Daß wir als Verfassungskommission hier einen entsprechenden Vorschlag ausdrücklich und gemeinsam eingebracht haben, zeigt, daß wir eine solche
s) Der Redebeitrag wurde zu Protokoll gegeben ({2})
Formulierung und einen solchen rechtlichen Inhalt der Achtung vor der Identität anderer als einen essentiellen und wesentlichen Bestandteil der Verfassungsreform betrachten, die wir hier gemeinsam eingebracht haben.
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Zur Entgegnung Frau Steinbach.
Herr Kollege Hirsch, als Sie sich zur Kurzintervention aufstellten, war ich fast sicher, daß Sie sich auf meinen Redebeitrag beziehen würden. Wir sind in gewissen Punkten, was Ausländerpolitik, Ausländerintegration anbelangt, ganz offensichtlich - das merken wir immer wieder - unterschiedlicher Auffassung, wie bestmöglich mit Problemen in diesem Lande umgegangen werden kann.
Zunächst einmal: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das gilt für jeden in diesem Staat. Die Frage ist, ob wir Gruppenrechte zulassen oder ausdrücklich sagen, daß wir besondere Gruppen achten, möglicherweise mit der Folge, daß wir in Kreuzberg türkische Straßenschilder anbringen müssen oder daß Schiller in ihrer Muttersprache die komplette Unterrichtspalette angeboten bekommen.
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- Lieber Herr Kollege Hirsch, ich bin fest davon überzeugt, daß es für dieses Land wichtig ist, daß wir einen gewissen Integrationsdruck auf die Menschen, die hierher gezogen sind, ausüben. Dieser Integrationsdruck soll dem Frieden im Lande dienen, und ich bin davon überzeugt, daß nur das unserem Lande auf Dauer auch nutzen wird.
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Als letzten Redner rufe ich den Kollegen Dr. Schnittler auf.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Mit der politischen Einheit Deutschlands ist dem Deutschen Bundestag auch die Aufgabe erwachsen, unser Grundgesetz zu überdenken und gegebenenfalls zu ändern. Er hat sich heute in dieser Debatte dieser Aufgabe mit großer Gründlichkeit und Ernsthaftigkeit gewidmet. Ich glaube, die Debatte heute gereicht diesem Parlament zur Ehre.
Außer dem fraktionellen Gesetzentwurf wird heute auch der Vorschlag zu einer Grundgesetzänderung beraten, der sich von dem erstgenannten erheblich unterscheidet, und das nicht nur inhaltlich. Dieser Vorschlag wurde von einer Gruppe von Abgeordneten eingebracht, die schon jetzt über die absolute Mehrheit in diesem Bundestag verfügt. Er wird von Abgeordneten aller Parteien, aller Gruppen, verschiedenster weltanschaulicher und politischer Orientierungen unterstützt und trägt so zu einem grundsätzlichen Konsens bei, auch wenn viele unter dem hier eingebrachten Vorschlag vielleicht etwas Abweichendes verstehen sollten. Dieser Vorschlag hat keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen, schon gar nicht hinsichtlich der Einschränkung der Grundrechte, und er wird deshalb mit Sicherheit nicht den Berg von Verfahren an deutschen Gerichten vergrößern.
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Meine Damen und Herren, Sie kennen den Vorschlag:
Jeder ist zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aufgerufen.
Juristisch gesehen, handelt es sich um eine Verfassungserwartung. Unser Grundgesetz ist ja durch eine lange liberale Tradition und durch die leidvollen Erfahrungen des NS-Regimes geprägt worden. Deshalb betont es vor allem die Grundrechte des Bürgers, die immer zunächst als Abwehrrechte gegen den Staat, als Freiheitsrechte des Individuums angesehen wurden.
Aber es ist auch ein uralter liberaler Grundsatz, daß die Wahrnehmung von Freiheitsrechten stets auch mit der Wahrnehmung von Verantwortung einhergehen muß, Verantwortung für den Mitmenschen und für das Gemeinwesen. Genau das, meine Damen und Herren, meinen wir, wenn wir Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn in unserem Grundgesetz verankern wollen.
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Man wird uns entgegenhalten, daß die Väter des Grundgesetzes weitgehend darauf verzichtet haben, solche Verfassungserwartungen zu formulieren. Das haben sie in der Tat getan; denn sie haben einen gewissen ethischen Grundkonsens unter den freien Bürgern vorausgesetzt. Ich meine, daß das nach Kriegsende auch richtig war, vielleicht vor allem deshalb, weil jeder spürte, daß der Wiederaufbau nur in gemeinsamer Anstrengung möglich sein würde.
Aber die gegenwärtige Situation ist eine andere. Wir sehen doch, daß unsere Gesellschaft immer mehr in Interessengruppen zerfällt, die immer weniger konsensfähig sind. Wir sehen doch, daß der Individualismus voranschreitet. Sein Zauberwort ist die Selbstverwirklichung. Die Folge ist ein zunehmender Verfall der Familien und individuell auch eine zunehmende Vereinsamung unzähliger Menschen.
Wir sehen, daß moralische Grundüberzeugungen an Wirkungskraft verlieren und der eigene Vorteil oft Priorität hat, und wir müssen sehen, daß Kriminalität und Gewalt immer mehr zu unserem Alltag gehören und uns zunehmend bedrohen.
Diese Entwicklung, meine Damen und Herren, hat vielfältige Ursachen, die psychologisch wie geistesgeschichtlich sehr tief liegen. Die abnehmende Bindungskraft der Religion ist wohl ein wichtiger Aspekt, und ich sage das hier, obwohl ich selbst nicht religiös gebunden bin. Ein anderer besteht ganz sicher in der zunehmenden und für meine Begriffe sehr bedenklichen Verrechtlichung aller Lebensbereiche ebenso wie in einer extensiven Auslegung des Rechts - insbesondere unserer Grundrechte - in der Rechtspraxis.
Hinzu kommen heute die wirtschaftlichen, die sozialen und die mentalen Belastungen der Einheit unseres Vaterlandes, die einfach von vielen Menschen, insbesondere im Osten, nur schwer verkraftet werden.
Meine Damen und Herren, ohne Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn kann kein Gemeinwesen bestehen. Wir sollten versuchen, dies in den Hirnen und Herzen unserer Menschen zu verankern. Natürlich, diese beiden Begriffe expressis verbis in unser Grundgesetz aufzunehmen kann nur ein Beitrag dazu sein, aber, ich meine, es ist ein Beitrag mit großer Signalwirkung. Es ist ein Appell an unsere Menschen. Es wird dem Handeln der staatlichen Einrichtungen der Parlamente und Parteien eine Richtung geben, und dies wird unseren Rechtsstaat stärken.
Ich werbe aus ganzem Herzen um Ihre Unterstützung für diesen Vorschlag.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit schließe ich die Aussprache. Ich halte noch fest, daß der Abgeordnete Ortwin Lowack eine schriftliche Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben hat.' )
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/6633, 12/6323, 12/6570, 12/6686, 12/6716 und 12/6708 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Der interfraktionelle Gesetzentwurf auf Drucksache 12/6633 soll zusätzlich dem Innenausschuß, der Gesetzentwurf der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6686 soll zusätzlich zur Mitberatung dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, dem Innenausschuß, dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie dem Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung überwiesen werden.
Der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 12/6716 soll zusätzlich zur Mitberatung dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, dem Innenausschuß und dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden.
Der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission auf Drucksache 12/6000 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der interfraktionelle Gesetzentwurf auf Drucksache 12/6633.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
*) Lag dem Stenographischen Dienst zum Zeitpunkt der Drucklegung nicht vor.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt der Tagesordnung auf:
Eidesleistung eines Bundesministers
Der Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom 4. Februar 1994 folgendes mitgeteilt:
Gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers den Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Herrn Professor Dr. Rainer Ortleb, auf seinen Antrag aus seinem Amt als Bundesminister entlassen und Herrn Professor Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann zum Bundesminister für Bildung und Wissenschaft ernannt.
Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 vorgesehenen Eid.
Herr Bundesminister Dr.-Ing. Laermann, ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten.
Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Professor Laermann, Sie haben den vom Grundgesetz geforderten Eid gesprochen. Ich möchte Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen und Ihnen für die Ausübung dieses Amtes im Namen des Hauses alles Gute wünschen.
Herzlichen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nach der Amtsübernahme durch den neuen Bundesminister von dieser Stelle aus Herrn Professor Dr. Rainer Ortleb unseren Dank aussprechen. Er hat in schwieriger Zeit die Aufgabe der Politik übernommen und rich ihr gestellt. Ich denke, es ist an uns, ihm in aller Form und aus innerster Überzeugung zu danken. Das ist auch ein Zeichen der Anerkennung seines Einsatzes für die deutsche Einheit.
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Nun können Sie gratulieren, meine Damen und Herren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Donnerstag, den 24. Februar 1994, 13 Uhr ein.
Ich schließe die Sitzung.