Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Lassen Sie mich bitte vor Eintritt in die Tagesordnung zwei Anmerkungen machen. Der Ältestenrat hat sich gestern über den Schaden berichten lassen, den das Hochwasser an Gebäuden des Deutschen Bundestages verursacht hat. Der Schaden hält sich glücklicherweise in engeren Grenzen, als dies Schilderungen in einzelnen Medien zunächst vermuten ließen.
Daß Schäden abgewehrt oder vermieden sowie Mobiliar und Akten rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden konnten, ist dem wirklich beispielhaften Einsatz von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Bundestages und von Angehörigen des Bundesgrenzschutzes zu verdanken.
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Dies wurde im Ältestenrat besonders gewürdigt. Ich spreche den Beteiligten am Hochwassereinsatz Dank und Anerkennung namens des ganzen Hauses aus.
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Erlauben Sie mir bitte eine zweite, in diesem Hohen Hause allerdings ungewöhnliche Anmerkung. Sie betrifft aber ein ungewöhnliches Datum und einen ungewöhnlichen Kollegen. Helmut Esters ist am 15. Januar 1969 als Nachrücker zum erstenmal in den Deutschen Bundestag gekommen und begeht mithin morgen sein 25jähriges Abgeordnetenjubiläum.
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Ich weiß, meine Damen und Herren, wir feiern hier normalerweise keine Dienstjubiläen. Es gibt vier weitere Kollegen, die dem Hause ebenfalls bereits in der 8. Legislaturperiode angehören, und zwei, Wolfgang Mischnick und Hermann Schwörer, die schon zehnmal in das Parlament gewählt wurden. Wann jedoch findet am Vortag eines solchen Datums eine Plenarsitzung statt?
Lieber Kollege Helmut Esters, namens des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen zu diesem Jahrestag. Es ist auch das ganze Haus, dessen Respekt und Zuneigung Sie sich durch Ihre unbeirrbar sachbezogene Arbeit vor allem als der für die Finanzen des Deutschen Bundestages zuständige Haushälter und durch Ihre stets frohgemute Kollegialität erworben haben.
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 e auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({4}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 1993
- Drucksachen 12/4652, 12/6336 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Engelbert Nelle Günter Rixe
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({5}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Empfehlung des Rates über den Zugang zur beruflichen Weiterbildung
- Drucksachen 12/4555 Nr. 2.22, 12/4930 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner Dr. Peter Eckhardt
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Evelin Fischer ({6}), Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sicherung eines auswahlfähigen, qualifizierten Ausbildungsplatzangebotes für alle Jugendlichen in den neuen Ländern
- Drucksache 12/5495 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris Odendahl, Günter Rixe, Dr. Ulrich Böhme ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vizepräsident Hans Klein
Bericht über die Erfahrungen mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Berufsbildungsförderungsgesetzes
- Drucksache 12/5783 -
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Günter Rixe, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Verbesserung der Qualität der außerbetrieblichen Ausbildung in den neuen Bundesländern
- Drucksache 12/5831 Zum Berufsbildungsbericht 1993 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminister Dr. Ortleb das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Berufsbildungsbericht 1993 wurden die in der Entschließung des Deutschen Bundestages zum vorangegangenen Bericht aufgeführten Forderungen aufgegriffen. Die Bundesregierung ist dabei, entsprechende Maßnahmen umzusetzen oder Konzepte zu entwickeln. So wurde z. B. im Rahmen der bildungspolitischen Spitzengespräche eine Arbeitsgruppe Berufliche Bildung eingesetzt, an der Bund, Länder, Wirtschaft und Gewerkschaften beteiligt sind. Sie soll sehr rasch konkrete Maßnahmen vorschlagen, mit denen die Attraktivität der beruflichen Bildung in den nächsten Jahren gesteigert werden kann.
Die Schwerpunkte des Berichts 1993 bleiben aktuell. Auch 1993 wurde erreicht, daß jeder Jugendliche in den neuen Ländern, der dies wünschte, einen Ausbildungsplatz erhalten konnte. Hierfür war erneut ein besonderes Engagement notwendig, für das ich allen Beteiligten danke.
Es ist damit gelungen, das betriebliche Ausbildungsangebot in den neuen Ländern weiter zu steigern. Insbesondere hat hier das Handwerk einen beachtenswerten Beitrag geleistet.
Unterstützt durch die Gemeinschaftsinitiative Ost zur Finanzierung außerbetrieblicher Ausbildungsplätze konnte ein Ausgleich von Angebot und Nachfrage erreicht werden. Außerbetriebliche Ausbildung bleibt dabei aber ein Notbehelf, ist die Ausnahme.
Es muß auch künftig alles daran gesetzt werden, betriebliche Ausbildungsplätze in ausreichendem Umfang anzubieten; denn das ist Kern und Wesen des dualen Systems der beruflichen Bildung.
({0})
Zugleich werden wir in den neuen Ländern den qualitativen Anpassungsprozeß der beruflichen Bildung weiter voranbringen, z. B. durch den Aufbau eines Netzes überbetrieblicher Berufsbildungsstätten
und die Qualifizierung des Personals in der beruflichen Bildung.
In den alten Ländern zeichnet sich ein Trendwechsel auf dem Ausbildungsstellenmarkt ab. Das Ausbildungsplatzangebot ist stärker zurückgegangen als die Ausbildungsplatznachfrage. Mit 114 angebotenen Plätzen pro 100 Bewerber ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ungünstiger geworden; es ist aber im Vergleich zur Situation im Osten Deutschlands natürlich besser.
Es wurden erheblich weniger neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, insbesondere im Bereich Industrie und Handel. Erstmals seit einigen Jahren sind vereinzelt wieder regionale Angebotsengpässe festzustellen.
Die schwierige Wirtschaftslage der letzten Zeit hat in den Betrieben zu einer Änderung des Ausbildungsverhaltens geführt. Die betriebliche Berufsausbildung wird stärker in die kurzfristigen Kostenüberlegungen einbezogen. Dies gilt vor allem für den großindustriellen Wirtschaftsbereich. Vor einer Fortsetzung dieses Trends kann nicht deutlich genug gewarnt werden. Auf dem Spiel steht ein entscheidender Wettbewerbsvorteil, den in diesem Falle die Wirtschaft selbst gefährdet.
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Alle Prognosen zur Entwicklung des Qualifikationsbedarfs des Beschäftigungssystems zeigen: Wir müssen den Anteil der ungelernten Arbeitskräfte weiter deutlich verringern und den hohen Anteil der qualifizierten Fachkräfte weiter steigern. Eine Bemerkung: Das soll auch im Zusammenhang damit gesehen werden, daß Arbeitslosigkeit insbesondere bei den ungelernten Kräften anzutreffen ist.
Die gegenwärtigen Änderungen im Bildungsverhalten der Jugendlichen und im Ausbildungsverhalten der Betriebe führen seit Ende der 80er Jahre zu einer rückläufigen Beteiligung am dualen System. Dies signalisiert dringenden Handlungsbedarf. Die Tätigkeiten für Fachkräfte müssen attraktiver werden; denn die Beteiligung an der beruflichen Bildung wird vor allem und insbesondere von den Berufs- und Lebenschancen beeinflußt, die sie vermittelt.
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Hier eröffnet sich in erster Linie eine Aufgabe der Wirtschaft.
Aber auch die Berufsbildung selbst braucht mehr Attraktivität. Wenn der notwendige Fachkräftenachwuchs auch in Zukunft gewonnen werden soll, müssen wir unterschiedliche Neigungen, Fähigkeiten und Begabungen in der Berufsbildung differenzierter fördern und die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung glaubwürdig herstellen.
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Mein Haus hat ein Handlungskonzept entwickelt, um den Anteil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Berufsausbildung weiter zu senken. Darüber hinaus muß bei Neuordnungsarbeiten und, soweit erforderlich, bei der Entwicklung neuer AusBundesminister Dr. Rainer Ortleb
bildungsberufe darauf geachtet werden, daß ein breites Spektrum von Berufen mit konkreten und dauerhaften Arbeitsmarktchancen für diese Zielgruppe zugänglich ist und ein Scheitern in der Berufsausbildung verhindert wird.
Durch die Entwicklung von Zusatzqualifikationen, die ausbildungsbegleitend oder im direkten Anschluß an die Ausbildung vermittelt werden, müssen wir zugleich die Berufsausbildung für diejenigen leistungsstärkeren Jugendlichen attraktiver machen, die zunehmend in Gymnasium und Studium die chancenreichere Alternative sehen. Dabei sollte z. B. auch an neue zusammenhängende und überschaubare berufliche Bildungswege gedacht werden, die ausbildungsbegleitende Zusatzqualifizierung und Aufstiegsfortbildung inhaltlich und zeitlich verzahnen und so den Zugang zu attraktiven mittleren Berufspositionen eröffnen.
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Die Forderung nach Gleichwertigkeit beruflicher Bildung als wichtiges Kriterium für Chancengleichheit und Attraktivität bleibt auf der Tagesordnung. Universitäten und Fachhochschulen müssen für beruflich Qualifizierte ohne Abitur mehr als bisher geöffnet werden. Dazu sind schwer zu überwindende, sachlich nicht gerechtfertigte bildungsrechtliche Zugangsbarrieren abzubauen und neue Zugangswege zu schaffen, z. B. über ausbildungsergänzende Zusatzqualifizierung und durch die fachgebundene Berechtigung zum Hochschulstudium
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für Meister, Techniker und Absolventen von anderen, vergleichbar anspruchsvollen beruflichen Aufstiegsfortbildungen. Mir hat dazu die gestrige Antrittsrede des neugewählten Präsidenten der Kultusministerkonferenz, Herrn Kollegen Zehetmair, sehr wohlgetan.
Gleichwertigkeit und Attraktivität sind allerdings nicht nur eine Frage zusätzlicher formaler Berechtigungen. Die entscheidende „Nagelprobe" für die Glaubwürdigkeit der bildungspolitischen Forderungen nach Gleichwertigkeit und mehr Attraktivität ist vielmehr, daß Betriebe und Verwaltungen leistungsbereiten und weiterbildungsaktiven beruflich ausgebildeten Fachkräften Entwicklungschancen bieten, die denen der Absolventen anderer Bildungswege vergleichbar sind. Es soll deshalb auch vermehrt Fortbildung angeboten werden, die solchen Fachkräften über berufliche Weiterbildung den Einstieg in Führungsebenen öffnet, die sonst traditionell von Hochschulabsolventen eingenommen werden.
Bei solchen Entwicklungen kann auch die erfolgreich begonnene Begabtenförderung berufliche Bildung, mit der wir die berufliche Weiterbildung besonders begabter Absolventen einer dualen Berufsausbildung substantiell fördern, eine wichtige Rolle spielen. Dies ist ein bedeutsames Element der Gleichwertigkeit und Attraktivität, dessen schrittweiser Ausbau angestrebt werden sollte.
Eine dringliche Aufgabe ist ferner, die „Europatauglichkeit " der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu verbessern. Ganz besonders wird es darauf ankommen, Fremdsprachen auch in der beruflichen Bildung stärker zu verankern.
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Wir haben hierzu ein erstes Konzept erarbeitet. Auch dies ist nicht zuletzt ein wichtiger Beitrag zur Steigerung der Attraktivität beruflicher Bildung.
Die Schlüsselrolle der beruflichen Weiterbildung für die Zukunft des Standorts Deutschland und zur Steigerung der Attraktivität der Fachkräfteberufe ist unumstritten. Grundlage muß dabei die marktwirtschaftliche Organisation der Weiterbildung bleiben, die sich auch in der historisch einmaligen Umbruchsituation in den neuen Ländern im großen und ganzen bewährt hat. Ich will hier nicht verleugnen, daß es Mängel gab und daß es Weiterbildungshaie gab, aber im großen und ganzen hat es sich bewährt. Es ist aber auch deutlich geworden, daß zusätzliche Anstrengungen notwendig sind. Ich will hier nur den Ausbau der Weiterbildungsberatung, die Sicherung der Weiterbildungsqualität und die Bedeutung der Weiterbildung am Arbeitsplatz und im Arbeitsprozeß als wichtige Stichworte nennen.
Schließlich sind wir durch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche in den mittel- und osteuropäischen Staaten dringend aufgefordert, die damit verbundenen Chancen durch geeignete Hilfen, auch in der beruflichen Bildung, wahrzunehmen. Wir dürfen im Interesse der weiteren Entwicklung Osteuropas, aber auch im eigenen Interesse die Erwartungen dieser Länder nicht enttäuschen. Den vielen Initiativen, die hier bereits erfolgreich wirken konnten, sei an dieser Stelle gedankt.
Insgesamt bestätigt der Berufsbildungsbericht 1993 die unveränderte Bedeutung des dualen Berufsbildungssystems für den Standort Deutschland.
Ich danke Ihnen.
({7})
Herr Kollege Engelbert Nelle, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte zum Berufsbildungsbericht zwei Vorbemerkungen machen. Erstens. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten diesen Bericht wie in den letzten Jahren im Berichtsjahr selbst verabschiedet.
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Es hat nicht am Ausschuß gelegen. Er hatte seine Schulaufgaben gemacht. Wir haben die Beratungen rechtzeitig abgeschlossen.
Eine zweite Vorbemerkung. Ich bin mir nicht im klaren, ob wir in den nächsten Jahren noch Berufsbildungsberichte alter Prägung vorgelegt bekommen. Denn wenn wir in diesem Jahr den Vorschlägen der Verfassungskommission folgen und die Bundeskom17562
petenzen nach Art. 72 und 75 Nr. 1 des Grundgesetzes einschränkten,
({1})
bedeutete dies die Aufgabe der Bundeshoheit beim Berufsbildungsrecht und beim Hochschulrecht. Ich meine, damit würden wir dem Standort Deutschland einen Bärendienst erweisen. Wir würden in bildungspolitische Kleinstaaterei zurückfallen und somit das in der ganzen Welt hochgelobte einheitliche duale System zerschlagen.
({2})
Ich appelliere daher an alle Verantwortlichen in Bundestag und Bundesrat, denen die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland wirklich am Herzen liegt, die Rechtseinheit und Rechtsklarheit in der beruflichen Bildung nicht durch unsinnige Verfassungsänderungen zu gefährden.
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Bei der Einbringung des Berufsbildungsberichts 1993 habe ich nachhaltig auf das Auseinanderklaffen zwischen den Ergebnissen des Bildungssystems und den Anforderungen des Beschäftigungssystems aufmerksam gemacht. Von der Tendenz her hat sich seitdem nichts geändert. Falls diese Entwicklung nicht gestoppt wird, hat dies verheerende Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland. Unsere Hochschulen quellen weiter über. Inzwischen legen mehr als 31 % eines Jahrgangs die Reifeprüfung ab und erhalten so die Hochschulberechtigung. Fast 1,9 Millionen Studenten füllen die Hochschulen und sitzen auf nur 900 000 vorhandenen Studienplätzen. Der Kollaps ist also vorprogrammiert.
Dagegen sinkt die Zahl der Lehrlinge weiter. Wir hatten 1984 in den alten Bundesländern noch 705 000 Ausbildungsverträge. Im Jahr 1992 - darüber berichten wir heute - hatten wir dort noch 499 000, und wenn die Information stimmt, wird der Berufsbildungsbericht 1994 von einer weiteren Senkung, nämlich auf etwa 470 000 Ausbildungsverträge, sprechen. Über die Probleme in den neuen Ländern wird nachher ein anderer Kollege sprechen.
Dagegen blieben im Jahr 1992 150 000 Ausbildungsplätze unbesetzt. Einer Hochrechnung auf das Jahr 2010 zufolge wird der Bedarf an Fachkräften rund zwei Drittel der Erwerbstätigen ausmachen. Das bedeutet konkret: Der derzeitig erreichte Anteil an Absolventen des Berufsbildungssystems muß auf langfristige Sicht zumindest konstant gehalten, wenn nicht gar gesteigert werden. Einem Gutachten der Bildungsplaner in der BLK zufolge, das allerdings unter Verschluß ist, werden im Jahr 20101,5 Millionen Facharbeiter fehlen. Das wundert sicherlich nicht, wenn einer Umfrage zufolge 53 % aller Eltern für ihr Kind das Abitur wünschen. 1960 waren es 9 %, 1975 15%.
Wir haben also realistischerweise davon auszugehen, daß der Trend zu höheren Abschlüssen anhalten wird. Diese Bildungspräferenz, die auch in den neuen Ländern zu beobachten ist, hat nachhaltige Auswirkungen für die Berufsausbildung. Staat und Wirtschaft
sind gefordert, alle Nachwuchsreserven auszuschöpfen und für eine rasche und nachhaltige Attraktivität der Berufsbildung zu sorgen.
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Mit Sorge beobachten wir bei den Betrieben einen gewissen Rückzug aus der Berufsausbildung. Frau Kollegin Odendahl hat in der Haushaltsdebatte bereits darauf hingewiesen. Das bewährte leistungsfähige System der Berufsausbildung in der Verantwortung der Wirtschaft steht und fällt aber mit dem solidarischen Engagement aller ausbildungsfähigen Betriebe.
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Sollten sich immer mehr Unternehmen aus der gemeinsamen Ausbildungsverantwortung verabschieden und darauf spekulieren, ihren Facharbeiterbedarf kostengünstiger auf dem Arbeitsmarkt zu dekken, muß diesen Unternehmen gesagt werden, daß ihre Rechnung nicht aufgehen kann.
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Sie vergessen nämlich den indirekten Nutzen der Ausbildung durch Einsparung der Personalkosten an anderer Stelle. Die Auszubildenden wachsen nämlich zum Mitarbeiter mit hoher Betriebsidentifikation heran. Die mehrjährige Ausbildungsphase erlaubt, die Fähigkeiten und Stärken des Auszubildenden und späteren Mitarbeiters sicher einzuschätzen und seinen Einsatz langfristig zu planen. Die Ausbildung erspart darüber hinaus Kosten bei der Personalbeschaffung und -einarbeitung. Fehlbesetzungen können vermieden werden.
Ausbildung im Betrieb ist also keine Leistung ohne Gegenwert, die in Zeiten konjunktureller Flaute zur Disposition steht, sondern ein kostengünstiges Instrument zur Nachwuchssicherung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Ich kann die Unternehmen nur warnen: Wenn sich immer mehr Unternehmen aus der Ausbildung zurückziehen, wird dies erneut Wasser auf die Mühlen derer bedeuten, die schon immer die Absicht hatten, die Berufsausbildung zu verschulen.
({7})
Wir fordern dagegen eine Ausbildungsoffensive, die mit der seit langem geforderten Steigerung der von mir soeben schon genannten Attraktivität einhergeht.
Die duale Berufsausbildung attraktiver zu machen bedeutet im einzelnen:
Erstens. Größere Differenzierung der Ausbildungsangebote nach den individuellen Neigungen, Fähigkeiten und dem Leistungsvermögen des einzelnen. Den mehr praktisch begabten Jugendlichen muß durch Weiter- und Neuentwicklung praxisorientierter Berufsbilder und Ausbildungsordnungen die Chance einer Berufsausbildung gegeben werden.
Zweitens. Die Realisierung von Gleichheit beruflicher und allgemeiner Bildung. Der Berufsschulabschluß muß endlich dem Realschulabschluß gleichEngelbert Nelle
wertig sein. Der Meister-, Techniker- und vergleichbare Fortbildungsabschluß muß grundsätzlich eine fachgebundene Hochschulreife vermitteln.
Drittens. Den weiteren Ausbau der Begabtenförderung. Vom Umfang her müssen die Maßnahmen künftig der Begabtenförderung hochbegabter Studierender entsprechen. 1993 konnten 3 200 neue Stipendiaten in die Bundesförderung aufgenommen werden. Da der Haushalt 1994 eine, wenn auch kleine, Erhöhung auf 28 Millionen DM vorsieht, wird es eine weitere Steigerung geben können. Hier sind wir endlich auf dem richtigen Weg.
Viertens. Die ständige Fortschreibung der Berufsbilder und Ausbildungsordnungen.
Fünftens. Flexiblere Regelungen für die tarifliche Eingruppierung und Laufbahnregelung in Wirtschaft und Verwaltung. Den nicht akademisch ausgebildeten Mitarbeitern müssen leistungsorientierte Aufstiegschancen geboten werden. Nicht der akademische Titel, sondern der Einsatz am Arbeitsplatz und die Leistung müssen Gradmesser für Entlohnung und Aufstieg im Betrieb sein.
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Sechstens. Ausbau der Alternativen zum Studium. Ich wünschte mir ein flächendeckendes Netz von integrierten Ausbildungsgängen, bei dem betriebliche Ausbildung und Studium miteinander verbunden werden. Beispielhaft ist hier die Berufsakademie in Baden-Württemberg.
({9})
Siebtens. Bessere materielle Ausgestaltung der Berufsschulen und Fortbildung der Lehrer an berufsbildenden Schulen.
Achtens. Weitere Förderung der Modernisierung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten, die sich zu einem unverzichtbaren Strukturbestandteil im System der dualen Ausbildung entwickelt haben.
Neuntens. Die Weiterbildung der Ausbilder in den Betrieben. Mit dem einmaligen Ablegen einer Prüfung nach AEVO ist es nicht getan.
Zehntens. Aufnahme einer Fremdsprache in die Ausbildung, im Betrieb wie in der Berufsschule.
Dieser Katalog zur Attraktivitätssteigerung könnte noch beliebig ergänzt werden.
Das alles macht aber nur Sinn und wird bei der Berufsfindung junger Menschen mit berücksichtigt werden, wenn alle an der dualen Berufsausbildung Beteiligten in einer gemeinsamen Informationskampagne dies jungen Menschen überzeugend vermitteln, wenn diese sich für eine duale Ausbildung oder ein akademisches Studium entscheiden. Jedenfalls müssen die berufliche Bildung und die Berufsperspektiven der Fachkräfte so attraktiv gestaltet werden, daß die berufliche Bildung im Wettbewerb der Bildungswege eine gleichwertige Alternative wird.
Mir geht es darum, daß unserem dualen System kein Akzeptanzverlust dadurch droht, daß ihm das Image einer nachrangigen Qualifikation mit vermeintlich eingeschränkten Perspektiven gegeben wird.
Leider haben wir in diesem Jahr eine gemeinsame Beschlußempfehlung nicht erreicht. Darum bitte ich, der Beschlußempfehlung des Ausschusses, wie sie vorliegt, zuzustimmen.
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Das Wort hat der Kollege Günter Rixe.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vorweg, lieber Kollege Engelbert Nelle: Phantastisch, ich fand Ihre Rede gut. Wenn wir so weitermachen, kommen wir im Punkt berufliche Bildung ein Stück weiter.
({0})
Ich begrüße, daß wir uns heute vormittag mit der längsten Bildungsdebatte in dieser Legislaturperiode, nämlich zwei Stunden, für die Fragen der Qualifizierung von jungen Menschen Zeit nehmen.
Bedauerlich ist aber - ich muß gleich wieder etwas Wasser in den Wein gießen -, daß dies erst so spät in der Amtszeit dieser Bundesregierung geschieht, daß eine längere Debatte erst am Ende der Legislaturperiode stattfindet.
({1})
- Okay.
Dabei ist doch eine gute Qualifizierung ein wichtiger Standortvorteil für die Bundesrepublik Deutschland.
Bedauerlich ist - da schließe ich mich meinem Vorredner Nelle an -, daß wir erst heute, im Januar 1994, den Berufsbildungsbericht 1993 diskutieren. Wir wissen nicht, warum das so ist. Ich möchte dem Herrn Minister heute morgen für die Zukunft viel Gesundheit wünschen. Wir freuen uns, daß Sie wieder gesund unter uns sind.
({2})
Trotzdem hätten wir, denke ich, den Berufsbildungsbericht auch schon im November oder im Dezember, wie vorgesehen, hier diskutieren sollen. Ich meine, das Bildungsministerium hat Fachleute genug, um uns zu unterrichten. Aber gut, es ist nun einmal so.
In der Debatte zur Einbringung des Berufsbildungsberichts 1993, am 30. April letzten Jahres, habe ich darauf hingewiesen, daß dieser Berufsbildungsbericht 1993 die Zustimmung der SPD wohl nicht bekommen wird. Die Entschließung vom 6. November 1992 wurde nicht berücksichtigt. In dem damaligen Parlamentsbeschluß, den wir ja fast einstimmig beschlossen haben, wurde die qualitative Verbesserung der Berufsausbildung als vorrangig angesehen.
Ich nenne nur drei Punkte: die berufliche Förderung von Frauen, die Beibehaltung der Förderung von Begabten und Lernschwachen - den letzten Punkt
möchte ich noch einmal ganz besonders betonen - sowie die besondere Förderung von ausländischen Jugendlichen.
Ferner wurde unter der Überschrift „Qualitätsverbesserung der beruflichen Bildung" auch die Modernisierung der Berufsschulen in den neuen und in den alten Bundesländern unter Einschluß der qualifizierten Aus- und Fortbildung der Berufsschullehrer angesprochen.
Diese Punkte wurden als Kritik am damaligen Berufsbildungsbericht und als Auftrag an die Bundesregierung für 1993, Herr Minister, von diesem Parlament beschlossen. Die Bundesregierung ist diesen Aufforderungen trotz mehrfacher Mahnungen von uns im Berufsbildungsbericht 1993 nicht nachgekommen. Sie hat sich nicht um die in der Entschließung genannten Problemfelder, Fragen und Prioritäten gekümmert. Sie hat sich weder ernsthaft um die Lösung der Ausbildungsplatzprobleme der Jugendlichen in den neuen Ländern gekümmert noch um die Verbesserung der Attraktivität der beruflichen Bildung, auch nicht um die Qualitätsprobleme.
({3})
- Ich komme gleich noch dazu.
Der Berufsbildungsbericht 1993 dokumentiert, daß die Bundesregierung in den vom Parlament angesprochenen Handlungsfeldern nichts getan hat. Dieser Bericht enthält dazu nämlich keine Aussagen, und er zeigt keine bildungspolitischen Lösungen auf.
Deshalb können wir diesem Berufsbildungsbericht auch nicht zustimmen, und deswegen haben wir eine eigene Entschließung vorgelegt.
({4})
Wir werden aber in diesem Jahr 1994 den vielen jungen Menschen im Lande und denen, die für die Berufsausbildung zuständig sind, die Probleme, die den Menschen unter den Nägeln brennen, klarmachen. Wir werden den Menschen im Jahre 1994 deutlich sagen müssen, wir alle, was wir tun wollen und welches Maß an Verantwortungsbewußtsein für die jungen Menschen wir haben.
Wir haben angesichts der Mißachtung der Entschließung von 1992 heute einen Antrag eingebracht, der die damals angesprochenen Probleme aufgreift und von der Bundesregierung jetzt Handlungen einfordert. Das soll für den Berufsbildungsbericht 1994 festgeschrieben werden. Dieser Antrag sollte nicht überwiesen, sondern heute abgestimmt werden, damit ein Handlungsauftrag an die Bundesregierung besteht. Ich will auf einige Punkte unseres Entschließungsantrags eingehen, nicht auf alle; denn er liegt ja vor.
Erstens. Wir werden eine Schwerpunktsetzung für die Attraktivität in der Berufsbildungspolitik vornehmen. Einer dieser Schwerpunkte sind die Tendenzen in der Industrie, sich aus Kostengründen der Ausbildungsverantwortung zu entziehen. Die Wirtschaftskrise wird auch von noch florierenden Unternehmen dazu benutzt, ganze Ausbildungsteile stillzulegen. Wir haben das eben von unserem Kollegen Engelbert
Nelle schon gehört. Ich fordere von dieser Stelle ganz deutlich z. B. die Telekom auf, weiter auszubilden und nicht nur in den fünf neuen Ländern 700 Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen und in den alten Bundesländern überhaupt keine. Wir müssen sie auffordern, dies rückgängig zu machen.
({5})
Der Rückgang der Zahl der Ausbildungsplätze in der Industrie ist im letzten Jahr, 1993, schon 10 % gewesen; das muß gebremst werden. Ein derartiges Verhalten stößt die berufliche Bildung in eine schwere Krise. Solch ein Verhalten ist zu mißbilligen.
Der Staat und die Bundesregierung haben die Aufgabe, die Wirtschaft an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu erinnern, wonach der Wirtschaft die Verantwortung für die Ausbildung des beruflichen Nachwuchses zukommt.
({6})
Wenn die Wirtschaft trotz ihrer Versprechungen gegenüber dem Bundeskanzler dies nicht tut, ist seitens der Politik über die Staatsrolle bei der Sicherung der Ausbildung und der Zukunftschancen der Jugendlichen neu nachzudenken, hier im Parlament.
Zweitens. Auch in diesem Jahr sind die Notlage der Ausbildungsplatzsuchenden in den neuen Bundesländern und die damit verbundene Aufgabe, für ein ausreichendes Angebot im dualen System zu sorgen, wieder aktuell. Ich frage an dieser Stelle den Minister: Wie hat denn das 10 000-Plätze-Sonderprogramm vom August letzten Jahres gegriffen?
({7})
Wie, wo, wieviel und in welchen Ausbildungsbereichen sind denn die 10 000 Plätze geschaffen worden? Wir würden das gerne in einer der nächsten Sitzungen des Bildungsausschusses einmal hören.
({8})
Es gibt Gerüchte, daß nun in der Tat die 10 000 Plätze nicht im dualen System untergebracht worden sind, weil es sehr spät war, weil viele Jugendliche schon in den unterschiedlichsten Schulformen der fünf neuen Länder untergekommen waren und nicht wieder zurückgeholt worden sind.
Ein weiteres Schwergewicht muß auf die Entwicklung eines Angebots an überbetrieblichen Ausbildungsstätten in den neuen Ländern gelegt werden. Dort leiden nämlich die Klein- und Mittelbetriebe immer noch unter dem nicht in Gang kommenden Wirtschaftsaufschwung. Damit diese Betriebe ihre Ausbildungsfähigkeit und Ausbildungsbereitschaft behalten, müssen mehr Angebote für überbetriebliche Ausbildungsstätten geschaffen werden. Dieser Haushaltstitel darf nicht gekürzt werden, wie im Jahre 1994, sondern er muß angehoben werden.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, immer wieder müssen wir darauf hinweisen, daß es keine Darstellung über die Wirksamkeit der von Bund und Ländern in den neuen Bundesländern ergriffenen Maßnahmen
zur Schaffung von betrieblichen, überbetrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen unter Qualitätsmerkmalen gibt. Dies sollte der Berufsbildungsbericht 1994 aufnehmen.
Das Berufsbildungsgesetz aus dem Jahre 1969 muß modernisiert werden,
({9})
und es muß dabei einerseits die Entwicklungen aufnehmen, die in der Berufsbildung stattgefunden haben, sowie andererseits den Anforderungen der Zukunft gerecht werden. Der Berufsbildungsbericht 1994 soll dazu den Stand der Überlegungen der Bundesregierung und aller an der beruflichen Bildung Beteiligten aufzeigen. Von besonderem Interesse ist hierbei z. B. die Frage der Realisierung eines Rechtsanspruchs aller auf Berufsausbildung oder auch die Frage, wie ökologische Kompetenzen als zwingender Bestandteil in allen Ausbildungsordnungen zu verankern sind.
In diesem Zusammenhang und für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit bedeutsam ist ferner die Frage, wie eine über die berufsbezogene Qualifizierung hinausgehende, zur Entwicklung der Persönlichkeit beitragende Ausbildung gesetzlich verankert werden kann, eventuell durch die Neudefinition der Rolle des Lernortes Berufsschule.
({10})
Denn es ist doch klar, daß nur der vielfältig Qualifizierte in der zukünftigen Internationalität Erfolgschancen hat. Dies schafft zudem Aufstiegsmöglichkeiten für den beruflich Qualifizierten und bringt uns ein Stück weiter auf dem Wege zur Herstellung der Gleichwertigkeit von Hochschulabsolventen und den Absolventen der beruflichen Bildung.
Kollege Nelle hat eben einen Satz gesagt, den ich gern wiederholen will: Auch eine Fremdsprache müßte in den Ausbildungsordnungen der beruflichen Bildung langfristig verankert werden. Dazu ist es notwendig, dem Lernort Berufsschule mehr Gewicht in der beruflichen Bildung zu geben.
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- Das habe ich schon damals in meiner Einbringungsrede gesagt.
Lassen Sie mich nun zum Schluß noch sagen: Es reicht nicht, wenn der Bundeskanzler ein sogenanntes bildungspolitisches Forum einberuft, bei dem nur die Gründung einer Arbeitsgruppe herauskommt, die darüber nachdenken soll, wie die Nachwuchsprobleme im Handwerk beseitigt werden können. Nach Einschätzung der für die Berufsbildung Verantwortlichen war diese Veranstaltung in der Tat ein Flop. Ich fordere alle auf, hier weiter nachzudenken. Dies war mir zuwenig.
Diese Aktion hat ebenso wie der Berufsbildungsbericht 1993 gezeigt: Die Verbesserung der Attraktivität und der Qualität der beruflichen Bildung wird von dieser Bundesregierung etwas vernachlässigt.
Ich fordere Sie auf, mehr zu tun, und hoffe, daß in den Berufsbildungsbericht 1994 - die ersten Auszüge des Berufsbildungsberichts kennt man ja schon; man hört schon, was drinstehen soll - mehr hineingeschrieben wird. Wir fordern Sie wirklich auf, Herr Minister, das, was wir im Entschließungsantrag für 1993 im Bildungsausschuß einstimmig beschlossen haben
Herr Kollege Rixe, Sie sind ein gutes Stück über die Zeit.
- ich bin fertig -, in diesem Berufsbildungsbericht aufzunehmen und niederzuschreiben und nicht so zu tun, als wenn dieses Parlament Beschlüsse nicht ernst nähme.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Dirk Hansen, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung will auch ich mir erlauben. Ich möchte mich an Sie, Herr Minister, wenden und meiner Freude Ausdruck verleihen - gravitätisch formuliert -, daß Sie wieder da sind, gesund sind und insofern wir in Ihrer Gegenwart den Berufsbildungsbericht 1993 wirklich lächerliche 14 Tage nach Ende des Jahres 1993, also durchaus aktuell, nach dessen Einführung durch Sie hier gemeinsam diskutieren können. Es ist sehr gut, daß wir das in Gegenwart des verantwortlichen Ministers tun.
Ich freue mich natürlich auch, daß sein Parlamentarischer Staatssekretär ebenfalls die Gelegenheit ergreift, sein parlamentarisches Dasein zu dokumentieren, selbst wenn er hier auf der Regierungsbank lauscht.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das deutsche duale System nimmt immer noch einen Spitzenplatz im internationalen Vergleich ein, weil fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten durch Praxisnähe und unmittelbare Erfahrungen in der Arbeitswelt verknüpft werden. Die Absolventen der betrieblichen Berufsausbildung sind sofort einsatzfähig, weil sie voll qualifiziert sind. Das Bildungs- und Beschäftigungssystem sind eng verkoppelt. Darin liegt die eigentliche Stärke des dualen Systems.
Aber unterhalb dieser durchaus allgemein akzeptierten Einschätzung, denke ich, sind doch Alarmzeichen unübersehbar. Das duale System leidet an zunehmender Auszehrung. Immer weniger Jugendliche beginnen eine Lehre. Die Schere zwischen der Zahl deutscher Studenten, inzwischen 1,9 Millionen, und der Lehrlinge, 1,7 Millionen, öffnet sich immer weiter. Das hat nicht nur mit der Zahl der Studienanfänger zu tun, sondern - das weiß ich sehr wohl - natürlich auch mit den langen oder zu langen Studienzeiten.
Mehr als eine halbe Million Nachwuchskräfte weniger als Mitte der 80er Jahre gehen heute den Weg der beruflichen Bildung. Nie studierten in Deutschland mehr Studenten als in diesem Wintersemester.
Sorge muß auch die Tatsache bereiten, daß in Zeiten der wirtschaftlichen Rezession viele Betriebe keine Lehrlinge mehr ausbilden wollen; Herr Nelle und Herr Rixe haben zu Recht darauf verwiesen. Dies geschieht nicht nur aus Kostengründen, sondern auch, weil vielfach befürchtet wird, daß, wie etwa jetzt in Niedersachsen mit der Einführung des zweiten Berufsschultages, die Auszubildenden nicht mehr genügend Zeit im Betrieb selber verbringen können und damit das bisherige Verhältnis von Theorie und Praxis aus dem Gleichgewicht gerät.
Als Bildungspolitiker müssen wir alle Beteiligten darauf hinweisen, daß die Lehrlinge von heute die Fachkräfte von morgen sind
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und daß sich manche Betriebe und Branchen schon heute beklagen, nicht mehr genügend Nachwuchs zu bekommen. Also, Ausbildung tut not. Die Verpflichtung der Wirtschaft muß nicht nur eingefordert, sondern auch eingehalten werden.
Trotz aller Unkenrufe von links im letzten halben Jahr im Wiederholungstäterfall ist es der Wirtschaft und dieser Bundesregierung durch den Einsatz dieses Bundesbildungsministers wiederum gelungen, so gut wie allen Jugendlichen in den neuen Bundesländern einen Ausbildungsplatz zu vermitteln.
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Das besagt nicht, daß die präzisere statistische Kenntnis davon, wo im einzelnen diese 10 000 angebotenen Plätze angenommen worden sind, uns demnächst nicht beschäftigen dürfte. Zusätzliche Ausbildungsplätze in Wirtschaft und Verwaltung sowie in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten konnten den Start in die Berufsausbildung ermöglichen.
So erfolgreich diese Anstrengungen im vergangenen Jahr im Osten waren, so sehr werden aber auch die strukturellen Defizite des Lehrstellenmarktes in Deutschland insgesamt deutlich. Der Run in die Büroberufe und in die kaufmännische Ausbildung seitens der Lehrstellenbewerber kontrastiert mit einem Überhang an Lehrstellenangeboten in Bauberufen und im Metallbereich.
Die Defizite im Westen sind also nicht nur quantitativ, sondern auch strukturell deutlich. Wenn auf einen nicht vermittelten Bewerber rein rechnerisch fünf Ausbildungsplätze entfallen, so macht dies die Auszehrung des dualen Systems deutlich.
Der Berufsbildungsbericht 1993 analysiert, wie ich finde, in klarer Weise Qualitäten und Quantitäten. Er dokumentiert die erfolgreichen Anstrengungen aller an der Berufsbildung Beteiligten. Zugleich werden aber die notwendigen Bedingungen angesprochen, die notwendig sind, um das duale System attraktiver zu gestalten.
Wir Liberalen betonen das Postulat stärkerer Differenzierung, einer verbesserten Durchlässigkeit im gesamten Bildungssystem, einer abgestimmten Zusammenarbeit von Betrieben und Berufsschulen, d. h.
auch der Errichtung eines gesamtdeutschen Netzes überbetrieblicher Berufsbildungsstätten, und schließlich einer gleichrangigen finanziellen und personellen Ausstattung von Berufsschulen im Vergleich mit allgemeinbildenden Schulen.
Aber ich gestatte mir auch, den Berufsbildungsbericht 1993 zu zitieren, wenn er darauf hinweist, es sei bekannt, daß wesentliche Ursachen für die Nichtaufnahme oder den nicht erfolgreichen Abschluß einer Berufsausbildung vor dem Verlassen der allgemeinbildenden Schulen liegen. Kurz, die Schule, nicht die berufliche Bildung ist das Problem.
Die berufliche Bildung darf keine Sackgasse von Karriere und persönlicher Entfaltung sein. Sie muß die Optionen aller individuellen Entwicklungen in einem marktwirtschaftlich geprägten Arbeitsmarkt anbieten. Politik und Wirtschaft müssen wieder mehr zusammenwirken. Das Bildungsforum war ein Anfang. Konsens über Ziele und konzertiertes Handeln sind nötig. Vielleicht schafft es die zitierte Arbeitsgruppe, dafür Hinweise zu geben.
Dabei erscheint mir ganz wesentlich, daß keine Zersplitterung der bisher bundeseinheitlichen beruflichen Bildung stattfindet.
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Ich bin sehr dankbar, daß Herr Nelle deutlich darauf hingewiesen hat. Die Gefahren, die aus den bisherigen Erwägungen der Verfassungskommission hierzu drohen, sind unübersehbar. Dem muß Einhalt geboten werden.
Auch mit Blick auf den Bildungsraum Europa unterstreichen die Liberalen die Stellungnahme des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung, in der auf eine ungeschmälerte Verantwortung von Bund, Ländern und Sozialpartnern verwiesen wird.
Das Subsidiaritätsprinzip, das in Maastricht ausdrücklich vereinbart wurde, muß streng beachtet werden. Hier gilt gewissermaßen die abgewandelte neue Formel „partnership in vocational training". Wenn wir in Europa auf diesem Gebiet - fremdsprachenorientiert - gemeinsam, bei aller Eigenständigkeit der nationalen Bildungssysteme, mehr erreichen, ist der Abstimmungsprozeß erfolgreich zu bewältigen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Zusammenhang zwischen Wirtschaftsstandort und Beruf sausbildung ist hier viel gesagt worden. Ich kann nichts Besseres hinzufügen und möchte deshalb meine Zeit nutzen, um auf einen Aspekt aufmerksam zu machen, der Sie bestimmt genauso beschäftigt und den auszusprechen wir als Parlamentarier Verantwortung haben.
Wenn wir irber Berufsausbildung reden, sprechen wir über Menschen. Natürlich kann man mit Zahlen
vieles belegen. Sie als Bundesminister hatten natürlich das Recht, zu sagen, was die Bundesregierung alles geleistet hat, wieviel sie bei der Berufsausbildung geleistet hat. Die Opposition hat die Pflicht, auf das zu verweisen, was sich hinter diesen Zahlen auch noch verbirgt. Hinter diesen Zahlen verbergen sich Menschenschicksale. Jeder weiß, daß mit einer Berufsentscheidung eine Entscheidung für ein Menschenleben getroffen wird.
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Ich verweise deshalb darauf, weil weder der Berufsbildungsbericht noch die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage auf solche Fragen ausreichend Antwort gegeben haben. Ich sehe mit Sorge, daß z. B. die Brandenburger Ministerin Hildebrandt in der „Berliner Zeitung" mitteilt, daß nur gut die Hälfte der 23 000 Schulabgänger des Landes einen Platz in der betrieblichen Berufsausbildung abbekommen haben. Den 360 Lehrstellensuchenden der offiziellen Statistik seien 6 000 hinzuzurechnen, die in anderen Rubriken verschwunden sind.
Mecklenburg-Vorpommern meldet, daß inzwischen jeder dritte Lehrstellenbewerber sein Heil im Westen sucht. Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes ging die Zahl der 15- bis 25jährigen in Ostdeutschland um 500 000, das sind 20 %, zurück. Es ist vielleicht gut, daß sie einen Ausbildungsplatz in Westdeutschland gefunden haben. Aber vergessen wir bitte nicht, daß die Anzahl derer, die zurückkommen werden,
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gering ist und daß eine Struktur entsteht, die in 10, 20 Jahren von viel komplizierteren Problemen geprägt sein wird.
Lassen Sie mich ein paar - leider trockene - Zahlen verwenden, die alle Statistiken von Einrichtungen des Bundes entnommen worden sind, also nachgeordneten Einrichtungen des Bundesministeriums, die weder in Ihrem Bericht noch in der Antwort der Bundesregierung benutzt werden.
Das erste Problem, das ich ansprechen möchte, betrifft die kumulative Lehrstellenbilanz Ost seit 1990. Für 100 Bewerber um eine betriebliche Ausbildungsstelle standen 199143 Stellen, 1992 54 und 1993 58 Stellen zur Verfügung. Es ist also ein Wachstum zu verzeichnen. Nach Berechnungen des BIBB müssen in jeder Region 112,5 Stellen pro 100 Bewerber angeboten werden, um von einem einigermaßen ausreichenden Angebot sprechen zu können. In Westdeutschland wurde das 1991 und 1992 mit jeweils 121 pro 100 Bewerber gut erreicht. In östlichen Grenzbezirken, aber auch in ländlichen Gebieten und monostrukturierten Regionen Ostdeutschlands kamen auf eine Stelle dagegen durchschnittlich drei bis vier Bewerber. Rechnet man zusammen, so stellt man fest, daß die Differenz zu einem ausreichenden Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland 1991 139 000, 1992 102 000 und 1993 98 000 Plätze beträgt.
Ich weise noch einmal darauf hin, daß ich nur von den betrieblichen Ausbildungsplätzen rede und bei den eben genannten Zahlen eine Relation von 112 Ausbildungsplätzen pro 100 Bewerber zugrunde gelegt habe. Ich will auch die Defizite der einzelnen Jahre nicht addieren, da nicht zu ermitteln war, welche Altnachfrage in den jeweils neuen Jahreszahlen enthalten ist.
Eine andere Rechnung zeigt aber: Nach dem Arbeitsmarktmonitor vom November 1992 waren 185 000 Jugendliche in den neuen Bundesländern, verteilt auf vier Lehrjahre, in einer betrieblichen Ausbildung. In der DDR waren es 1988 385 000 und 1989 345 000, verteilt auf zwei bis drei Lehrjahre. Die durchschnittliche Differenz beträgt also 180 000 Auszubildende. Davon könnte noch die Zahl der Jugendlichen abgezogen werden, die im Westen einen Ausbildungsplatz gefunden haben: nach der Statistik 45 000. Auch wenn noch 35 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze abgezogen werden, bleibt ein Fehl von Ausbildungsplätzen in der Größenordnung von immerhin 100 000.
Gegenrechnungen wie etwa der stärkere Drang zum Abitur ändern daran kaum etwas. Denn inzwischen ist ja auch bekannt, daß der Drang zum Abitur wesentlich auf fehlende Lehrstellen zurückzuführen ist, d. h. es besteht die Gefahr, daß das Abitur in vielen Fällen zur Eintrittskarte für eine angestrebte Berufsausbildung wird.
Schließlich kommt man auch auf eine Größenordnung von mehr als 100 000 fehlenden Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland, wenn man durchrechnet, was es wohl bedeuten mag, daß sich in den westdeutschen Ländern immerhin mehr als 75 % der 16- bis 19jährigen in einer beruflichen Ausbildung befinden, in den ostdeutschen Ländern aber leider weit weniger als 50 %.
Eine zweite Frage, auf die ich noch kurz eingehen möchte und auf die die Bundesregierung in ihrem Bericht keine Antwort gegeben hat, ist die nach dem jährlichen Bewerberschwund in Ostdeutschland. So wurden 1993 zum Berichtsmonat September 145 000 Bewerber gezählt. Für diese Bewerber standen knapp 84 000 betriebliche Ausbildungsplätze, rund 8 700 in überbetrieblichen Einrichtungen und 4 500 außerbetriebliche im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative Ost zur Verfügung. Die Differenz zwischen Bewerbern und Plätzen beträgt knapp 50 000. In den offiziellen Verlautbarungen tauchen dann aber nur noch knapp 3 000 unvermittelte Bewerber auf, die mit rund 2 000 unbesetzten Stellen verrechnet werden. Etwa 1 000 Lehrstellensuchende bleiben übrig, die auch schon noch irgendwie untergebracht werden. Das Problem scheint gelöst zu sein.
Inzwischen ist aber mit ausreichender Sicherheit festgestellt worden, daß der Bewerberschwund fast ausschließlich darauf zurückzuführen ist, daß eben keine Lehrstellen da sind und die Arbeitsämter auch kaum welche in Aussicht stellen können. Rund ein Drittel der Bewerber taucht auf diese Weise in den Herbststatistiken nicht mehr als unvermittelte Bewerber auf. Die Interpretation ist dann, sie hätten sich eben anders entschieden.
Wie diese freie Entscheidung zustande kommt, zeigt auch folgende Bewerber-Stellen-Relation in verschiedenen Ausbildungsberufen. 610 Bewerbun17568
gen auf 100 Stellen bei Hotelfachmann/-fachfrau, 369 Bewerbungen auf 100 Stellen bei Bankkaufmann/ -kauffrau, 390 zu 100 bei Datenverarbeitungskaufmann/-frau, 300 zu 100 bei Rechtsanwaltsgehilfen/ -gehilfinnen. Dabei ist die Konzessionsbereitschaft der ostdeutschen Jugendlichen auch in dieser Frage hoch; denn nur 50 % können von sich sagen, daß sie sich in einer Ausbildung befinden, die sie gewollt haben.
Zur Lehrstellensituation und zum Lehrstellenfrust in Ostdeutschland gehört schließlich auch, daß nur etwas mehr als die Hälfte nach Abschluß der Lehre vom ausbildenden Betrieb übernommen wird. 1992 waren es 54 %.
Meine Damen und Herren, Sie entschuldigen bitte, daß ich Sie mit Zahlen konfrontiert habe, die Sie vielleicht schon irgendwo gelesen haben. Ich weiß, daß es für eine parlamentarische Rede nicht gerade glücklich ist, so viele Zahlen zu benutzen. Aber hinter jeder einzelnen Zahl steckt ein Mensch.
Und hinter jeder Zahl - ich habe ausschließlich Zahlen Ostdeutschlands benutzt - steckt die Frage der Zukunft Ostdeutschlands. Wird sich dort ein Wirtschaftsstandort entwickeln oder nicht? Insofern möchte ich sagen, daß wir, so wie ich Ihre positive Bilanz respektiere, Herr Bundesminister, als Parlament auf dieser Strecke noch viel gemeinsam zu arbeiten haben.
Ich danke Ihnen.
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Herr Kollege Dr. Rainer Jork, ich erteile Ihnen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Reflexion zum Berufsbildungsbericht 1993 muß aus meiner Sicht im gesamten Bildungssystem nachdrücklich, unkonventionell und innovativ gedacht, geplant und gehandelt werden, um den aktuellen und zukünftigen Bedürfnissen in Deutschland im Arbeits- und Sozialbereich zu entsprechen.
Die allgemeine Arbeitslosigkeit und im besonderen die Lehrstellensituation in den neuen Bundesländern sind als an sich bekannte Problemfeldüberlagerungen ungewöhnlich kompliziert. Das galt 1993 und wird 1994 ebenso sein. Die Problemfelder sind einerseits organisatorischer Natur, gekennzeichnet durch die allgemeine Rezession, eine besondere Strukturkrise sowie den Vorgang der Ost-West-Anpassung, der aus meiner Sicht leider oft nicht als mehrseitiger Prozeß verstanden wird. Darum wird allgemein meist reagiert, nicht agiert.
Andererseits bereiten das Vakuum im Wertegefüge des Westens und der Zusammenbruch zentral vorgegebener Struktur- und Wertegefüge im Osten Neuorientierungszwänge zutiefst mentaler Natur, vor allem für die Jugendlichen. Ein Überangebot fragwürdiger Informationen und Werte macht Entscheidungen komplizierter.
1993 konnte den Lehrstellenbewerbern in den neuen Bundesländern schließlich ein zahlenmäßig ausreichendes Bildungsangebot unterbreitet werden. Im Namen vieler Betroffener möchte ich hier all denen, die daran beteiligt waren, sehr herzlich danken.
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So trat eben nicht ein, was unter Ausnutzung zentralistisch geprägter Erwartungshaltungen für die Opposition verkaufsfähig werden sollte: ein vielfach herbeigeredeter Ausbildungsnotstand.
Trotzdem war und ist die Lehrstellensitutation in den neuen Bundesländern kompliziert und ernst. Das betrifft u. a. neben der rechnerischen Bilanz der Ausbildungsstellen deren Qualität, den Anteil des Lehrstellenangebotes für Mädchen, regionale Unterschiede, die unterschiedliche Nachfrage in Berufsgruppen sowie überzogene Forderungen auf Schulabschlußnoten in verschiedenen Berufen.
Am 23. Juli 1993 unterbreiteten wir Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion aus den neuen Bundesländern im Bundeskanzleramt auf der Grundlage einer aktuellen Situationsrecherche, die ich im Kontakt mit den zuständigen Ministerien aller neuen Bundesländer erarbeitet hatte, einen Maßnahmenkatalog als Vorschlag. Auch dessen Umsetzung führte schließlich mit dazu, daß jeder Bewerber eine Lehrstelle erhielt.
Ich meine, Herr Rixe, daß wir uns gemeinsam mit der Bundesregierung sehr ernsthaft bemüht haben, und möchte, bezogen auf Ihre Bemerkungen hinsichtlich des Datums der Erstellung des Berufsbildungsberichtes, in den die Situation so noch nicht einging, hinweisen.
Grundlage für das gute Gesamtergebnis war die unbeirrte Strategie des Bundeskanzlers, der der Bereitstellung von Lehrstellen „absolute Priorität bei allen Aktivitäten" gab und selbst wiederholt betonte, daß die erste Begegnung der Jugendlichen in den neuen Bundesländern mit der Freiheit nicht die Arbeitslosigkeit sein darf. Darum gilt dem Bundeskanzler mein besonderer Dank.
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In Anbetracht der ursächlichen Verantwortung der Wirtschaft - wir sprachen schon davon - für die Lehrstellen und der sich stark ändernden Arbeitsmarktsituation ist die Entscheidung für Länder und Bund zu angemessenem Umfang und rechtem Zeitpunkt staatlicher Hilfe sehr kompliziert.
Für den Interessenten im dualen Berufsbildungssystem ist die Suche nach einer Lehrstelle ein Wettlauf zwischen der eigenen Entscheidung, verfügbaren betrieblichen Ausbildungsplätzen und dem durch ein brauchbares Zeugnis belegten Schulabschluß. Dabei muß er vorausdenken, ob der Berufswunsch nach drei Jahren Lehrzeit wohl auch in einen Arbeitsplatz münden wird. Dies ist eine Frage, die der zukünftige Lehrling nur schwer beantworten kann.
Für den Betrachter der Problemlage handelt es sich bei der Forderung staatlichen Eingriffs zur Lehrstellenbereitstellung um eine mehrdimensionale dynamische Optimierung. Dies ist überaus kompliziert, wie
auch der SPD-Antrag vom 20. Oktober 1993 erkennen läßt, der in offensichtlichem Zusammenhang mit Drucksache 12/5495 steht. Hier wird vom Bund gefordert, „besonders auf die Frage einzugehen, wie Eigenanstrengungen der Betriebe nicht konterkariert, sondern gestärkt und wie Attentismus vermieden werden kann".
Es geht also darum, möglichst verbindlich, meßbar und allgemeingültig zu sagen, womit, wie und wann genau die richtige Hilfe durch den Bund angesetzt werden muß, und das, obwohl es sich um eine Grundaufgabe der Wirtschaft handelt und die Situation in den einzelnen Bereichen der Wirtschaft und in den Regionen bekanntermaßen sehr unterschiedlich und zeitlich veränderlich ist.
Neulich las ich in der Eisenbahn einen Satz, den ich der SPD nicht vorenthalten möchte:
Wer hindert uns eigentlich daran, das zu tun, was wir von anderen erwarten?
Die geforderte Optimierung betrifft vor allem die Wahrnehmung der Eigenverantwortung von Betrieben - sofern sie in den neuen Bundesländern vorhanden sind -, die Entscheidungsmöglichkeit und -bereitschaft der Jugendlichen zu Berufen, Ausbildungsort und -weg, die Sicherung zukunftsträchtiger und qualitativ hochwertiger Ausbildungsplätze, die Funktionsfähigkeit der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und letztlich den verantwortungsbewußten Umgang mit Steuermitteln.
Eine grundsätzliche Lösung mit allseits befriedigendem Ergebnis ist nur mit einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt möglich.
Natürlich: Das letzte Risiko der rechtzeitigen und angemessenen Einflußnahme trägt die Bundesregierung, in Verantwortung um eine wohlbedachte Finanzierung und Währungsstabilität, aber auch um die zukünftige Funktionsfähigkeit.
Daß und in welchem Maße Landesprogramme hierbei wesentlich mithelfen, habe ich in diesem Hohen Hause am Beispiel von Sachsen bereits früher beschrieben.
Ich möchte deutlich sagen, daß die Bereitstellung von hinsichtlich Anzahl und Qualität ausreichenden Lehrstellen ein partnerschaftliches Anliegen und erst zuletzt eine Aufgabe des Bundes ist. Da können keinesfalls außerbetriebliche Ausbildungseinrichtungen, durch den Bund finanziert, gar als Konkurrenzeinrichtung für betriebliche und überbetriebliche Einrichtungen installiert werden. Ich sage dies unter direktem Bezug auf den SPD-Antrag auf Drucksache 12/5831, der uns hier vorliegt.
Wenn letztlich erst mit einem gut funktionierenden Arbeitsmarkt auch hinsichtlich Quantität und Qualität ausreichend Lehrstellen bereitstehen werden, muß die Frage nach dem zukünftigen deutschen Produktionsspektrum gestellt und beantwortet werden. Es sind Methoden zur Überwindung der schlechten Strukturierung auf dem deutschen Arbeitsmarkt in Relation zu Europa und dem Weltmarkt gefragt. Nur durch Innovationen kann der historisch begründete Anspruch auf Wohlstand und sozialen Ausgleich auch in Zukunft gerechtfertigt werden. Diesem
Anspruch ist nicht in Konkurrenz zu Billiglohn- und Schwellenländern zu entsprechen. Innovation auf hohem Niveau wird nicht mit Durchschnitt und Mittelmäßigkeit, sondern durch elitäre Leistungen erreicht. Die deutsche Industrie benötigt Eliten, die durch Forderung und Förderung, ein entsprechendes Selbstverständnis und Leistungsbereitschaft entstehen. Ich beziehe mich dabei direkt auf den Forschungsbericht, der gestern in diesem Haus diskutiert wurde.
Es ist eine Zukunftsfrage auch für Benachteiligte, Begabte so zu fördern, daß sie im Berufsleben überdurchschnittlich gefordert werden können, also zur Innovation in ihrem Arbeitsbereich beitragen.
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International muß eine neue Arbeitsteilung entstehen, die auf der Innovationsfähigkeit der deutschen Produkte und Technologien sowie einem modernen Bildungs- und Forschungssystem fußt. Strukturpolitische Strategien mit interdisziplinären und interministeriellen Schlußfolgerungen sind gefragt.
In diesem Sinne ist auch mit der Standortdiskussion der bestehende Gerechtigkeitsmangel zwischen der beruflichen und der akademischen Bildung unkonventionell zu diskutieren und zu beseitigen. Als Ingenieur fällt es mir ohnehin schwer, zu begreifen, wieso akademische Bildung im Unterschied zur beruflichen Bildung formuliert wird. Ich jedenfalls sah meine Hochschulausbildung primär als Berufsvorbereitung.
Im Sinne des Wirtschaftsstandortes Deutschland hat das Bildungssystem zuerst hochqualifizierte und motivierte Arbeitskräfte in Relation zum Bedarf mit angemessenen Eigenschaften bereit- und eine frühzeitige direkte Koppelung von Ausbildung mit Praxis und/ oder Forschung herzustellen.
Ich frage mich, was man unter sozialer Gleichberechtigung und Gerechtigkeit versteht, wenn man bei Lehrlingen die Berufsentscheidung im Alter von 16 bis 19 Jahren abfragt, die Lehrzeit verbindlich festlegt, danach zu Recht Arbeit erwartet und Meisterlehrgänge selbst finanzieren läßt, während bei Studenten, die doch besonders intelligent und damit auch zu fordern sind, Schnupperstudium und Studienfachwechsel akzeptiert werden, Abbrüche und durchschnittliche Abschlußalter von etwa 29 Jahren als normal hingenommen werden und Studienkostenbeteiligungen bei selbstverschuldeter Studienzeitverlängerung abgelehnt werden.
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Ich sage dies auch im Bewußtsein, daß es zwar eine Menge Studentenverbände, aber wohl keine Lehrlingsverbände gibt.
Im Berufsbildungsbericht wird die Weiterbildung als notwendige Ergänzung beruflicher Ausbildung beschrieben. Dies gilt in gleicher Weise für die akademische Berufsbildung und ist meines Erachtens auch unter dem Blickwinkel neu zu begreifen, daß in einigen Jahren das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland bei etwa 50 Jahren liegen wird. Der in der Wirtschaft Deutschlands erforderliche Inno17570
vationsschub kann dann aber nicht allein von den jungen Wissenschaftlern kommen. Das System der Weiterbildung ist also so zu gestalten, daß die Arbeitskräfte in bestimmten Zeitabständen auf den aktuellen Wissensstand in ihrem Fachgebiet gebracht werden und damit die geforderte Innovationskraft aufbringen und darstellen.
Die entsprechende Lösungssuche muß von allen Partnern als Zwang empfunden werden. Mitverantwortung im Sinne guter Industrietradition ist gefragt. Dazu gehört für mich auch, daß die Meisterausbildung ähnlich dem BAföG-Modell gefördert und über die Effizienz des Studiums nicht nur nachgedacht wird.
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Ich sehe im vorgelegten Berufsbildungsbericht eine gute Situationsbeschreibung, auf deren Grundlage partnerschaftlich auch neue Wege zur Problemlösung gesucht und gefunden werden können.
Danke.
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Herr Kollege Stephan Hilsberg, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Günter Rixe für das Maß an Realitätsbewußtsein sehr dankbar, das er hier gezeigt hat. Insbesondere was die Selbstkritik betrifft, daß wir den Bericht erst heute - für meine Begriffe zu spät - diskutieren können, kann ich ihm nur zustimmen.
Die Erfinder des Berufsbildungsberichts waren davon ausgegangen, daß er eine Vorlage liefern sollte, um so schnell wie möglich Fehler auszumerzen und Weichen neu zu stellen. Man kann Weichen aber nicht neu stellen, wenn der Zug schon durchgefahren ist.
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Es ist eine Fülle von neuen Problemen hinzugekommen.
Der Berufsbildungsbericht 1993 beschäftigt sich mit dem Zeitraum Herbst 1991 bis Herbst 1992. Wir haben jetzt das Jahr 1994. Der neue Bericht liegt bereits vor. Es lohnt überhaupt nicht mehr, über den Schnee von gestern zu reden. Wir müssen die neuen Probleme sehen.
Bei der Bestandsaufnahme im Ausbildungssektor sticht immer noch der Unterschied Ost-West besonders ins Auge, auch wenn natürlich nicht verhehlt werden kann, daß sich auch im Westen die Zeiten erheblich geändert haben und den Jugendlichen hier der Wind ins Gesicht zu blasen beginnt. Trotzdem haben wir Qualitätsunterschiede zwischen Ost und West.
Die Situation im Osten ist nach wie vor durch zu knappe Lehrstellen gekennzeichnet. Die Jugendlichen sind gezwungen zu pendeln. Manchen droht die Arbeitslosigkeit, oder sie müssen noch ein Jahr Schule anhängen. Auch das Notabitur wird hier gewählt, ein Abitur nicht aus freien Stücken, sondern weil keine
andere Möglichkeit zur Verfügung steht. Besonders traurig daran ist, daß die Mädchen von diesem Problem in besonderer Weise betroffen sind.
Das, was uns das Grundgesetz vorschreibt, worum wir uns hier besonders zu kümmern haben, nämlich die freie Wahl des Ausbildungsplatzes, die sogenannte Lehrstellenfreiheit, ist im Osten nicht vorhanden. Dies ist im Bewußtsein der ostdeutschen Jugendlichen sehr stark präsent. Das ist einer der wesentlichen Gründe für die Schieflagen, die zwischen Ost und West nach wie vor herrschen. Die Jugendlichen im Osten fühlen sich wie in einer Zwangsjacke. Gerade sie, die für die Verhältnisse, die wir jetzt haben, am wenigsten können und die die Verantwortung überhaupt nicht zu tragen haben, haben sie auszubaden.
Ich halte es für wichtig, nach wie vor und gerade auch jetzt zu sagen, daß in erster Linie die SED für die Verhältnisse, die wir hier haben, verantwortlich zu machen ist, und mit ihr auch die PDS.
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Das sage ich aus aktuellem Anlaß. Aber ich mache hier einen Unterschied zwischen der Partei und den Mitgliedern der PDS.
Auch Sie, Herr Keller, haben hier nur eine Bestandsaufnahme der Probleme vorgelegt. Aber wo sind denn Ihre Ansätze für eine Veränderung, für eine Verbesserung der Situation? Ich habe einen Antrag diesbezüglich von Ihnen noch nicht gesehen. Andere Anträge aber, die von der PDS vorgelegt werden, lassen noch nicht erkennen, daß man mit den alten Konzepten, die zum Ruin der DDR geführt haben, wirklich gebrochen hat. Nach wie vor wird übersubventioniert, nach wie vor werden Ziele anvisiert, deren Finanzierung in keiner Weise gesichert ist. Wenn Sie wieder in die Verantwortung kämen, wäre zu befürchten,
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daß ein ganz ähnliches Desaster eintreten würde, wie wir es gemeinsam in der DDR erlebt haben. Das sind die Ursachen für die großen und wahnsinnig schwierigen Probleme,
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die wir zur Zeit in Gesamtdeutschland erleben.
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- Ja, wissen Sie, eine Note können Sie geben, wem Sie wollen. Das steht Ihnen selbstverständlich frei. Für jemanden wie mich ist es neu, daß man Verantwortlichkeiten tatsächlich richtig ansprechen kann. Das war zu DDR-Zeiten nicht möglich. Ich bin sehr froh,
daß es jetzt möglich ist, dieses Problem noch einmal genauer anzusprechen.
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Was wir im Osten zu bewältigen haben, ist der völlige Bankrott des Konzepts des realen Sozialismus, an dessen Utopie Sie nach wie vor festhalten.
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Deshalb können Sie überhaupt nicht zu der Realität verpflichteten Problemlösungen kommen, und wie Sie hier heute gezeigt haben, bemühen Sie sich auch überhaupt nicht mehr darum. Darum muß die Auseinandersetzung gehen, und wenn wir darüber streiten können, dann bin ich gern dazu bereit.
Das hat mit Wahlkampf überhaupt nichts zu tun, sondern damit, auf die wirklichen Probleme hinzuweisen, die ja nicht meine, sondern Ihre sind und auch die Probleme der Wähler, die die PDS im Osten Deutschlands nach wie vor wählen.
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Sie profitieren doch von dem Schaden, den Sie selber angerichtet haben!
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- Darauf kann ich getrost verzichten.
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- Also, ich bedanke mich geradezu für die Vorlage, die Sie mir hier an dieser Stelle geliefert haben.
Herr Hilsberg, darf ich Sie für einen Satz unterbrechen? - Herr Kollege Keller, bei uns sagt man ja zu „Noten" auch „Zensuren", und in der Verfassung steht: Eine Zensur findet nicht statt.
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Bitte, fahren Sie fort.
Das haben Sie aber so nicht gesagt! Ein schwaches Argument, Herr Keller!
Bei der CDU ist in den letzten drei Jahren zwar erkennbar gewesen, daß das Problembewußtsein vorhanden war, aber mehr als Krisenmanagement ist nicht betrieben worden. Man vertraute auf die Kräfte des Marktes, die im Osten Deutschlands so nicht vorhanden waren. Zukunftweisende Konzepte haben Sie leider nicht vorgelegt. Die Volkskammer hatte den Weg gewiesen. Wir sind glücklich darüber gewesen, daß wir das Instrument § 40c Abs. 4 überhaupt zur Verfügung hatten. Es wurde ein zusätzliches angebotsorientiertes Lehrstellenangebot geschaffen. Das
war deswegen wahnsinnig wichtig, weil hier keine Restriktionen bezüglich der Wahl des Berufs in einer sowieso sehr schwierigen Situation auferlegt wurden. In deren Schatten hätte sich das duale System hervorragend entwickeln können.
Aber die Politik des letzten Jahres - insbesondere die der Bundesregierung - zeigte, daß man bemüht war, dieses Programm so stark wie möglich auszudünnen. Es kam zu einer Überhitzung der vorhandenen Kapazität an Lehrstellen. Das Angebot wurde nicht qualitativ erweitert, sondern lediglich quantitativ. Dadurch kam es nur zum Angebot von neuen Lehrstellen, die in die Arbeitslosigkeit geführt haben.
Wir haben im letzten Sommer einen Antrag eingebracht, der es ermöglicht hätte, diesem Problem abzuhelfen. Insgesamt lagen mehrere Anträge vor. Wir können sie erst heute behandeln. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen Sie sie blockiert haben, so daß wir sie nicht diskutieren konnten. Genutzt hat das insgesamt nichts. Sie, die Koalitionsparteien und die Regierung, können vielleicht vor den Anträgen davonlaufen; vor den Problemen werden Sie nicht davonlaufen können.
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Das Programm „Lehrstelleninitiative Ost" der Bundesregierung kam zu spät. Von den 10 000 Plätzen konnten nur 7 000 besetzt werden, weil die Jugendlichen inzwischen andere Wege gesucht haben. Frau Ministerin Hildebrandt aus Brandenburg hat völlig zu Recht darauf verwiesen, daß es zusätzlich 6 000 Jugendliche gibt, die völlig versackt sind, die entweder in die Arbeitslosigkeit gegangen sind oder in den Westen oder nochmals eine Schule besucht haben. Das wird ein zusätzliches Problem im kommenden Jahr sein. Die Masse an Problemen steigt; sie sinkt leider nicht.
Die Pendlerproblematik steht nach wie vor im Raum. Die Jugendlichen, die für sich selber keine andere Wahl sehen, als eine Lehrstelle im Westen anzunehmen, weisen nach allem, was wir wissen, eine viel zu hohe Abbrecherquote auf. Wo sind die sozial begleitenden und Unterstützungsmaßnahmen dafür, daß sie diese Ausbildung zu Ende führen können? Vor allen Dingen: Welche Möglichkeit wird ihnen geboten, anschließend nach Ostdeutschland zurückzukommen?
Ein weiterer Punkt muß hier angesprochen werden. Es fehlen nach wie vor Ausbildungsplätze im Handwerk, weil es vor allen Dingen an Handwerksbetrieben fehlt, die die Träger solcher Ausbildungsplätze sein können. Also wäre es notwendig, ein Programm stärker zu unterstützen, das die Selbständigkeit von Handwerkern fördert. Aber das Meisterprogramm, das hierzu von der Bundesregierung vorgelegt wurde, ist eher zurückgefahren worden. Wir müssen es ausbauen, um die Träger zu stärken, die ausbilden können.
Der Reformbedarf ist groß. Er wird auf dem Gebiet der Ausbildung und der beruflichen Bildung immer erkennbarer. Wenn man Betriebe im Osten wie im Westen - wo, das spielt überhaupt keine Rolle - besucht, stellt man immer mehr fest, daß sich der Qualifikationsbedarf erheblich geändert hat. Zum
Teil sind zur Zeit Doppelqualifikationen notwendig. Es stellt sich die Frage, ob das herkömmliche duale System dem überhaupt noch Rechnung trägt. Wer hier immerfort von Attraktivität spricht und die Entscheidung der Jugendlichen, Abitur zu machen und auf die Hochschule zu gehen, anscheinend als etwas Negatives sieht, der begreift die Motivationslage der Jugendlichen nicht, die diesen Weg einschlagen. Es ist doch nicht falsch, wenn man auf Grund des Genusses höherer Bildung - es ist erfreulich, daß das heutzutage im Gegensatz zu vor zwanzig Jahren möglich ist - plötzlich ganz andere Perspektiven hat und Wünsche erfüllbar werden, die man früher so nicht haben konnte.
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- Es ist ein Unterschied, ob man aus freien Stücken Abitur macht, weil man von Anfang an die höhere Bildung haben will, oder deshalb, weil man das als Notvariante nutzt, weil die Perspektive sonst Arbeitslosigkeit heißt. Das ist in der Tat ein großer Unterschied.
Wenn es um die Attraktivität geht, muß ich mir die Jugendlichen vorstellen, die die freie Wahl haben. Es liegt nicht allein am Geld, daß die Jugendlichen Abitur und Hochschulbildung bevorzugen. Es ist in der Tat nur möglich, die berufliche Bildung attraktiver zu machen, wenn der allgemeinbildende Teil verstärkt wird.
Herr Kollege Hilsberg, Ihre Redezeit ist schon ein gutes Stück überschritten. Bitte einen letzten Satz!
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Der Reformbedarf ist so groß, daß eine erhebliche Kraftanstrengung notwendig sein wird. Ich habe den Eindruck, die jetzige Bundesregierung schafft das nicht. Deshalb brauchen wir einen Wechsel.
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Ich erteile der Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink das Wort.
Herr Präsident! Meine Herren, meine Damen! Für die Lebenschancen des einzelnen und die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft gewinnt die berufliche Bildung eine immer größere Bedeutung. Das haben wir heute schon öfter gehört.
Diese Bedeutung läßt sich auch im Berufsbildungsbericht 1993 nachvollziehen. Nehmen wir die Lehrstellenbilanz als Beispiel. Die Lehrstellenmärkte in Ost- und Westdeutschland befanden sich bisher im Ungleichgewicht. Die Lage im Osten war von einem Defizit an Lehrstellenangeboten geprägt, die Lage im Westen von einem Mangel an Lehrstellenbewerbern.
Das Gesamtergebnis der Berufsbildungstatistik für das Jahr 1993/94 sieht so aus: Fast alle Lehrstellenbewerber haben einen Ausbildungsplatz gefunden. In ganz Deutschland waren Ende September von insgesamt 570 000 Bewerbern und Bewerberinnen nur 3 % noch nicht vermittelt. Das sind natürlich 3 % zu viel.
570 000 Ausbildungsverträge: Das sind 4 % weniger neue Ausbildungsverhältnisse als 1992. In Industrie und Handel ist die Zahl der Ausbildungsverträge nach einem Minus von 11 % 1992 im letzten Jahr erneut um 10 % zurückgegangen, d. h. es waren fast 25 % weniger als im Jahr 1991.
Während sich vor allem durch das starke Engagement des Handwerks in den neuen Ländern eine Stabilisierung des Ausbildungsstellenmarktes abzeichnet - der Herr Minister hat auch davon gesprochen; es gibt eine Zunahme von 32 % in den neuen Bundesländern -, mehren sich im Westen die Anzeichen für einen Rückzug insbesondere der Industrie aus der Ausbildung. Ich sage das noch einmal ganz deutlich: ein Rückzug der Industrie aus der Ausbildung.
Dieser Trend ist von uns nicht zu akzeptieren.
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Industrie und Handel dürfen sich in der gegenwärtigen schwierigen wirtschaftlichen Lage einfach nicht an kurzfristigen Kosten-Nutzen-Überlegungen orientieren.
Ein anderes Faktum: 1992 gab es 500 000 junge Menschen mit Facharbeiter-, Gesellen- oder Gehilfenbrief und 150 000 Hochschulabsolventen und Hochschulabsolventinnen. Das Verhältnis der Zahl der Gesellen zu der der Hochschulabsolventen war also 3 :1. Anfang der 80er Jahre war das Verhältnis 6 :1 und in den 70er Jahren sogar 12 : 1.
Wir müssen uns angesichts der Entwicklung fragen, ob es für Wirtschaft und Gesellschaft gerade im Hinblick auf die Sicherung des Standorts Deutschland zukunftsträchtig ist, wenn in vielleicht fünf Jahren ein Lehrling, der seinen Berufsabschluß erreicht hat, einem Hochschulabsolventen gegenübersteht.
Im Berufsbildungsbericht 1993 stellt die Bundesregierung fest, daß die Weiterentwicklung der Berufsausbildung ebenso notwendig wie die Verwirklichung der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung sei. Davon haben heute schon alle gesprochen, ich möchte das auch weiterführen.
Was ist also der Stand der Dinge? Auf einer Fachtagung des BMBW im September 1993 in Dortmund zu genau dieser Frage wurde deutlich, daß die Forderung nach Gleichwertigkeit der beiden Bildungswege im Gegensatz zu früher jetzt auch mit einer breiten Unterstützung aus der Wirtschaft rechnen kann. Die Kehrtwendung in der Wirtschaft läßt sich mit dem drohenden oder schon vorhandenen Facharbeitermangel erklären.
Die sachliche Begründung für die Forderung liefern fünf wissenschaftliche Gutachten, die das BMBW in Auftrag gegeben hatte. Leider sind der interessierten
Öffentlichkeit diese Gutachten unbekannt. Ich sage das deutlich an die Adresse des BMBW.
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Das Ergebnis dieser Gutachten möchte ich vorweg nennen: Die Ausbildung in den neugeordneten Ausbildungsberufen und in der beruflichen Weiterbildung besitzt eine so hohe Qualität, daß sie zu weiterführenden Bildungsgängen und selbst zu einem fachgebundenen Hochschulstudium berechtigen sollte.
Insbesondere in den letzten Jahren hat die Wirtschaft ihre Bildungsinvestitionen enorm gesteigert. Inzwischen investiert sie mit rund 40 Milliarden DM für die Berufsausbildung und gut 40 Milliarden DM für die Weiterbildung fast ebensoviel wie der Staat in das gesamte Bildungswesen.
Die besondere Bedeutung des betrieblichen Ausbildungssystems wird auch im quantitativen Vergleich deutlich: Rund 70 % aller Jugendlichen mit und ohne Abitur absolvieren eine Ausbildung im dualen System. Die betriebliche Ausbildung ist für die Jugendlichen somit der wichtigste berufliche Qualifizierungsweg.
Rund zwei Drittel der beruflichen Weiterbildung findet in den Betrieben und den Bildungseinrichtungen der Wirtschaft statt. Nur durch ein Bündel von Maßnahmen, von Information und Beratung bis hin zur Anerkennung von Berechtigungen, zum Ausbau der Weiterbildung und zu einer veränderten Bewertung im Beschäftigungssystem kann die bisherige einseitige Orientierung des Beschäftigungssystems an im Schul- und Hochschulwesen erworbenen Berechtigungen überwunden werden. Hier sind neben der Bildungspolitik ebenso Wirtschaft und öffentlicher Dienst gefragt, die mit den Arbeitsbedingungen sowie den Karriere- und Einkommenschancen die Hauptfaktoren der Attraktivität von Bildungs- und Berufswegen bestimmen.
Die Berufsperspektiven der Fachkräfte müssen so attraktiv sein, daß die berufliche Bildung im Wettbewerb der Bildungswege zu einer gleichwertigen Alternative wird. Ein Meisterbrief, Techniker- oder vergleichbarer Fortbildungsabschluß sollte in geeigneter Weise zu einem Besuch einer Hochschule berechtigen. Grundlegendes Prinzip muß sein, daß der Zugang zu den unterschiedlichen Bildungsebenen nach den Kriterien von Leistung, Begabung und individuellem Interesse erfolgt.
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Diese Weichenstellung muß aber bereits im Bildungssystem selbst und nicht erst im Beschäftigungssystem erfolgen. Dadurch kann auch die zu hohe Zahl der Studienabbrecher reduziert werden. Der Hochschulzugang für Berufstätige muß über leistungsbezogene, fachgebundene Auswahlverfahren der Hochschulen erfolgen.
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Ob nun bundeseinheitlich oder weiterhin landeseinheitlich geregelt: Es muß die gegenseitige Anerkennung gewährleistet sein, die in Deutschland bis heute noch nicht da ist. Und das ist das Entscheidende: die gegenseitige Anerkennung; ob bundeseinheitlich oder landeseinheitlich, ist nicht das Problem. Dieser Hochschulzugang für Berufstätige darf aber nicht die Gleichstellung von Berufsabschlüssen mit Schulabschlüssen voraussetzen.
Fazit: Um die Wettbewerbsfähigkeit der beruflichen Bildung gegenüber Schule und Hochschule zu erhöhen, bedarf es eines Bündels abgestimmter bildungspolitischer, arbeitsmarktpolitischer und tarifpolitischer Maßnahmen. Hierzu zählt insbesondere die Beschreibung beruflicher Karrierewege durch aufeinander abgestimmte Ausbildungs- und Weiterbildungskonzepte. Über ein System von Ausbildungs- und Fortbildungsabschlüssen muß beruflicher Aufstieg und die Befähigung zur Aufnahme eines Studiums erreichbar sein.
Hierzu muß das Angebot an vielseitig verwendbaren Weiterbildungsbausteinen erhöht werden, die beruflichen Aufstieg, höhere Qualifizierung und höheres Einkommen ermöglichen. Die durch berufliche Qualifizierung erreichbaren Arbeitsplätze müssen in bezug auf Arbeitsplatzsicherheit, Abwechselungsreichtum und Entlohnung den Bedingungen an den Arbeitsplätzen angenähert werden, die über schulische bzw. akademische Bildungswege erreicht werden.
Zum Schluß will ich noch auf eine Initiative aufmerksam machen, die die Industrie- und Handelskammern zur Zeit starten: Mit dem Motto „Karriere mit Lehre" werben sie für den Nachwuchs in der betrieblichen Ausbildung. Immer mehr Unternehmer erkennen, welches Führungspotential ihnen in den betrieblich ausgebildeten Mitarbeitern zur Verfügung steht.
Doch mancher Entscheidungsträger meint immer noch, daß Studierte die besseren Voraussetzungen für Führungsaufgaben mitbrächten. Deshalb muß die berufliche Weiterbildung der betrieblich Ausgebildeten noch stärker in die Personalentwicklungskonzepte der Betriebe integriert werden, so daß diese durch die betriebliche Ausbildung und eine entsprechende Weiterbildung tatsächlich Karriere mit Lehre machen können.
Leistung im Beruf muß das ausschlaggebende Kriterium sein, nicht der formale Bildungsabschluß und die damit verbundenen Bildungsberechtigungen.
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Wir, meine Damen und Herren, wir Politiker und Politikerinnen, müssen dafür sorgen, daß der Entwicklungsstand, den die berufliche Bildung inzwischen erreicht hat, wie ich dargestellt habe, auch mit der gesellschaftlichen Wertschätzung in Einklang gebracht wird. Das ist derzeit das Hauptproblem.
Vielen Dank.
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Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Ramsauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen, liebe Kollegen! Wenn ich das Thema der heutigen Debatte nun einmal aus dem Blickwinkel der Wirtschaftspolitik und auch etwas aus dem Blickwinkel der Arbeits- und Sozialpolitik betrachte, so liegen darin eine ganze Reihe bemerkenswerter Aspekte; denn die positiven wie auch die negativen Früchte der Bildungspolitik landen früher oder später auf dem Arbeitsmarkt bzw. bei der Wirtschaft.
Deshalb will ich mit einem Bekenntnis beginnen: Ich glaube, die Wirtschaft hat in den vergangenen 30 Jahren die Bildungspolitik vernachlässigt und sie viel zu sehr den reinen Bildungspolitikern überlassen.
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Als in den 60er Jahren von Dahrendorf, von Picht und von der immer noch sehr rüstigen, fleißigen und rastlosen ehemaligen Kollegin Hamm-Brücher die deutsche Bildungskatastrophe ausgerufen wurde,
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hat sich die Wirtschaft nicht darum geschert, zu welch verrückten Auswüchsen die falschen Schlußfolgerungen aus dieser Proklamation der Bildungskatastrophe langfristig geführt haben.
Die Bildungspolitik hat sich verselbständigt, und das Bildungssystem produziert leider Gottes schon in erheblichem Ausmaß am Bedarf der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes vorbei.
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Derzeit wird viel über den Wirtschaftsstandort Deutschland gesprochen, auch von Vorrednern.
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Dabei ist auch als wichtiger Standortfaktor zu nennen, ob sich unser Bildungssystem wirklich am langfristigen und an dem an Zukunftsmärkten ausgerichteten Bedarf der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes orientiert oder ob alle auch noch so weltfremden Studienwünsche unbedingt erfüllt werden müssen, die dann am Arbeitsmarkt oft keine Chance haben und bei denen die Arbeitsmarktpolitik quasi als Reparaturbetrieb herhalten muß, der sie für die strukturellen Verwerfungen des Bildungssystems aber auf gar keinen Fall sein kann.
Herr Kollege Ramsauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhlwein? - Ich bewundere, wie jemand einen so langen Satz formulieren kann.
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Das konnte ein Thomas Mann. Ich komme einfach nicht dazwischen.
Herr Präsident, in dieser Hinsicht habe ich einiges von Ihnen gelernt.
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Aber Sie gestatten die Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Ramsauer, ist Ihnen, nachdem wir Ihre Darstellung der Geschichte der Bildungspolitik der Bundesrepublik gehört haben, vielleicht in Erinnerung, daß in einer großen Koalition, die unsere Parteien gemeinsam verantwortet haben, 1969 bereits ein sehr zukunftsbezogenes gemeinsames Berufsbildungsgesetz geschaffen wurde, das gerade den Bereich, von dem Sie sprechen, neu geregelt und auf neue Füße gestellt hat, und ist Ihnen vielleicht in Erinnerung, daß es in der sozialliberalen Koalition einen Bundesbildungsminister Helmut Rohde gab, der gerade die berufliche Bildung zum Schwerpunkt seiner Arbeit gemacht hat, und ist Ihnen vielleicht in Erinnerung, daß ein Öffnungsbeschluß, der 1977 zwischen dem Bundeskanzler Helmut Schmidt und den Ministerpräsidenten der Länder vereinbart wurde, sowohl die Öffnung der Hochschulen als auch die Forderung nach einem Ausbildungsplatz für alle enthalten hat, und würden Sie jetzt immer noch behaupten, daß in den vergangenen 20 Jahren nur Hochschulpolitik gemacht worden wäre?
Herr Kollege Ramsauer, ich nehme die Bemerkung über die Länge Ihres Satzes zurück und übertrage sie auf den Kollegen Kuhlwein.
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Herr Präsident, ich stelle daraufhin fest, daß es sich um vier Zwischenfragen gehandelt hat, die ich alle vier mit einem klaren Ja beantworten kann. All dies ist mir in Erinnerung, aber ich kann trotzdem nicht umhin festzustellen, wie die Entwicklungen tatsächlich sind. Wenn beispielsweise in meinem Wahlkreis ein diplomierter Ozeanologe zu mir kommt und erwartet, daß er in diesem von Bergen und zugegebenermaßen über 30 Seen wunderschön geprägten Wahlkreis eine Beschäftigungsgarantie vom Abgeordneten bekommt, dann kann ich nur sagen: Außer beim Sporttauchen gibt es für Tiefseeforscher und diplomierte Ozeanologen keine Chance, auf diesem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. So habe ich auch noch für meinen Wahlkreis und seinen Fremdenverkehr Werbung gemacht. Aber ich möchte damit nur sagen, lieber Herr Kollege, daß wir uns die tatsächlichen Entwicklungen ansehen müssen.
Genau an dein Punkt kann ich gleich in meiner Rede fortfahren: Jeder achte Akademiker läßt sich nur mit einem erheblichen Nachqualifizierungsaufwand am Arbeitsmarkt unterbringen.
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- Es ist leider Gottes so. Im Jahr 1992 - für 1993 sind diese Zahlen noch nicht verfügbar - nahmen beispielsweise fast 22 000 westdeutsche Hochschulabsolventen an Maßnahmen für Fortbildung und Umschulung teil. Es ist geradezu pervers und eigentlich der Arbeitsmarktpolitik und ihren Beitragszahlern, den Arbeitnehmern wie den Arbeitgebern, nicht zumutbar, wenn Hochschulabsolventen von zum Teil weltfremden Studiengängen erst auf Kosten der BunDr. Peter Ramsauer
desanstalt für Arbeit arbeitsmarktpolitisch behandelt werden müssen
({1})
oder sich Umschulungsmaßnahmen unterziehen müssen,
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um für den Arbeitsmarkt tauglich gemacht zu werden. Ich halte dies für verkehrt.
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Ich möchte deshalb die Feststellung in der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zum Berufsbildungsbericht 1993 ausdrücklich unterstreichen, daß die Bildungspolitik in einem engen Zusammenhang mit der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik steht und daß sie einen entscheidenden Beitrag zur Sicherung des Standorts Deutschland leistet und damit die Zukunftschancen der jungen Generation sichern muß.
Lassen Sie mich dazu aber noch einige weitere Zahlen nennen. Im Jahr 1992 waren knapp zwei Drittel der arbeitslosen Erwerbspersonen mit einem Hochschul- oder Fachhochschuldiplom jünger als 40 Jahre. Probleme im besten Alter, muß man hier wohl sagen. Bei den Wirtschaftswissenschaftlern z. B. bewarben sich 892 um je 100 amtlich gemeldete Stellen. Zum Vergleich: 1991 waren es erst 560. Bei den Sozialwissenschaftlern bewarben sich rein rechnerisch sogar 2 563 um je 100 offene Stellen. Auf der anderen Seite rechnen die Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft vor, daß - mit erheblicher Dunkelziffer - derzeit knapp 100 000 Lehrplätze in Deutschland unbesetzt sind, 12 000 davon allein in den neuen Bundesländern.
Um so bedenklicher stimmt es, daß 1991 - bei sich tendenziell weiter öffnender Schere - die Zahl der Studenten in Deutschland erstmals die Zahl der Lehrlinge überschritten hat. Im Wintersemester 1992/93 drängelten sich schon 1,83 Millionen Studenten in den Hörsälen, während sich gleichzeitig nur 1,67 Millionen Jugendliche als Lehrlinge auf ihre berufliche Zukunft vorbereiteten. Herr Minister Ortleb, Sie haben das vorhin so schön vornehm formuliert. Sie haben von einer zurückgehenden Beteiligung am dualen System gesprochen. Ich sage, wir haben immer weniger Lehrlinge. Das ist das Problem. Ich frage mich als Praktiker beispielsweise, wer in Deutschland auf Baustellen noch tatsächlich bauen soll, wenn es, was die Zahlen vorhersagen, in absehbarer Zeit mehr planende Architekten als Maurer gibt.
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-Auch das wäre ein gutes, ein tagesaktuelles Thema. - Dann soll sich ja niemand darüber aufregen, wenn die deutsche Wirtschaft und gerade auch die Bauwirtschaft immer mehr Anleihen auf ausländischen Arbeitsmärkten nimmt, siehe die Problematik der Werkvertragsarbeitnehmer.
Deshalb kann ich nur dringend in Erinnerung rufen, was der Berufsbildungsbericht 1993 ausweist, daß nämlich
... auch im Jahre 2010 der Bedarf an Fachkräften aus der beruflichen Bildung rund zwei Drittel der Erwerbstätigen betragen wird, wobei der Bedarf an Meister- und Technikerqualifikationen überdurchschnittlich wachsen dürfte.
Aus diesem Grund, aber auch deshalb, weil ich einer der wenigen gelernten Handwerksmeister in diesem Hohen Hause bin - neben z. B. Ihnen, Herr Rixe -, begrüße ich es ausdrücklich, daß nach der ursprünglich geplanten vollständigen Streichung der Meisterprüfungsförderung bzw. der Aufstiegsfortbildung nach dem AFG nun eine Ersatzlösung gefunden worden ist, mit der auch Meisterprüfungskurse im Handwerk durch die Vergabe von stark zinsverbilligten Darlehen gefördert werden. Mit diesem Förderprogramm, das zunächst auf fünf Jahre angelegt ist und ein Volumen von 600 Millionen DM pro Jahr hat, können wir aber auch etwas in Richtung Existenzgründungen und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze tun.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nach diesen wirtschafts- und arbeitsmarktbezogenen Aspekten aber auch noch eine eher renten- oder sozialpolitische Anmerkung im Zusammenhang mit den langen Studienzeiten machen. Ich halte es für eine generell fatale Entwicklung, wenn durch ein immer höheres Erwerbseintritts- und ein immer geringeres Erwerbsaustrittsalter die Zahl der Leistungserbringer immer weiter verringert und die Zahl der Empfänger von Transferleistungen - dazu zähle ich auch die Empfänger von Bildungsleistungen - immer weiter erhöht wird. Das Bild von Deutschland als dem Land mit den ältesten Studenten und den jüngsten Rentnern ist bekannt. Das kann aber auf Dauer nicht gutgehen. Ich frage mich auch, ob es sich ältere Menschen so ohne weiteres gefallen lassen, wenn wir von ihnen verlangen, immer länger zu arbeiten, bevor sie in Rente gehen können, während immer mehr leistungsfähige junge Leute immer länger studieren. Hinzu kommt, daß wir hinsichtlich der langen Studiendauer die jungen Menschen für den europaweiten Wettbewerb um qualifizierte Arbeitsplätze fit machen müssen.
Aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Sicht ist es durchweg zu begrüßen, daß die Beschlußempfehlung des Bildungsausschusses zum Berufsbildungsbericht die berufliche Bildung als Schwerpunkt künftiger Bildungspolitik hervorhebt. Es kann beispielsweise nicht angestrengt genug daran gearbeitet werden, die Attraktivität des dualen Systems im Bewußtsein der Öffentlichkeit noch sehr viel positiver zu verankern.
Wenn immer gefordert wird, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung zu forcieren, dann - und da weiche ich vielleicht von einigen Kollegen auch im eigenen Lager ab - halte ich es nicht für den unbedingt richtigen Weg, mehr oder weniger bedingungslos die Hochschulen zu öffnen und noch weiter zu vermassen.
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Denn ich glaube: Dieses Land, die Wirtschaft und auch diese Gesellschaft, braucht Stätten der Elitebildung, und wenn wir die Universitäten weiter vermassen, verlieren die Universitäten ihre Aufgabe auch der Elitebildung. Wenn Sie mit Personalchefs großer Unternehmen reden, dann sagen diese: Wir können unseren Spitzennachwuchsbedarf immer weniger von Universitäten decken.
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Das führt dazu, daß sich solche Industrien ihre Spitzenleute auf eigenen Elitebildungsstätten gegen teures Geld heranziehen.
Auch der Kollege Jork hat davon gesprochen: Wenn von Gleichwertigkeit allgemeiner und beruflicher Bildung geredet wird, dann wirkt es um so hohler, wenn letztlich dann doch zuwenig dazu getan wird, um die weiterhin substantiellen Unterschiede hinsichtlich der Behandlung von Studenten und Meisterschülern auf Grund der Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz einerseits bzw. dem Arbeitsförderungsgesetz andererseits zugunsten der Meisterschüler abzubauen. Einige Beispiele dafür:
Beträgt die Dauer der Förderung bei Meisterschülern maximal 24 Monate, kann die Höchstdauer für Studenten bis zu 12 Semester betragen. Oder: Während nach dem BAföG eine Kostenanpassung der Fördersätze alle zwei Jahre erfolgt, ist eine solche Kostenanpassung bei Meisteranwärtern nicht vorgesehen. Und ein weiterer von vielen Unterschieden: Die nach dem BAföG Antragsberechtigten haben bis zu ihrer Förderung in der Regel keine Steuer- und Abgabenleistungen erbracht. Geförderte Meisterschüler haben jedoch zuvor bereits beitrags- und steuerpflichtige Tätigkeiten ausgeübt. Oder: Studiengebühren für Hoch- und Fachhochschulabsolventen fallen nur in unwesentlichem Umfang an. Hingegen werden von Meisterschülern in der Regel Teilnahmekosten für Bildungsmaßnahmen in ganz erheblichem Umfang gefordert.
Man könnte die Aufzählung beliebig fortsetzen. Ich möchte aber mit diesen wenigen Beispielen sagen und fordern, daß die Förderungen von Studenten einerseits und Meisterschülern andererseits so oder so einander substantiell angenähert werden müssen, wenn wir Politiker es mit der Gleichwertigkeit beider Bildungsrichtungen wirklich ernst meinen.
Ich danke Ihnen.
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Frau Kollegin Christa Lörcher, Sie haben, wenn ich es recht weiß, zum erstenmal in diesem Hohen Hause das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frauen sind mehr als die Hälfte unserer Bevölkerung. Frauen sind etwa die Hälfte der in unseren Schulen Lernenden, Frauen haben inzwischen in unserem allgemeinbildenden Schulsystem die gleichen Chancen wie Männer. Wie ist ihre
Situation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung? Von Ihnen, Herr Minister, habe ich dazu nicht viel gehört.
Der Frauenanteil in der betrieblichen Ausbildung liegt seit Jahren bei etwa 40 %. Im Jahre 1991 betrug er laut Berufsbildungsbericht in Gesamtdeutschland 41,6 %. In den westlichen Bundesländern war er deutlich höher als in den östlichen. Das trifft - es ist mehrfach angesprochen worden - die Frauen im Osten besonders hart. Denn sie waren sowohl eine Ausbildung wie auch einen Arbeitsplatz gewöhnt.
Mehr als die Hälfte der weiblichen Auszubildenden - rund 55 % - konzentrierten sich auf zehn Berufe. Die häufigsten davon im Westen: Arzthelferin, Kauffrau im Einzelhandel, Friseurin, Büro- und Industriekauffrau. Im Osten ist die Situation etwas anders. Gastronomieberufe, wie z. B. Köchin, waren dort 1991 unter den zehn häufigsten Berufen noch vertreten.
Zum Vergleich: Bei den männlichen Auszubildenden waren gut 38 % in den zehn am häufigsten gewählten Berufen vertreten, angeführt von Kraftfahrzeugmechaniker und Elektroinstallateur im Westen. Im Osten waren es Industriemechaniker, Maurer und dann erst Kraftfahrzeugmechaniker.
Besonders hohe Anteile von Frauen fanden sich in den Bereichen Hauswirtschaft und freie Berufe, über 95 %.
Recht ausgewogen war das Geschlechterverhältnis im öffentlichen Dienst und bei Industrie und Handel; der Frauenanteil lag zwischen 40 und 50 %. Zwischen 25 und 35 % betrug der Frauenanteil in der Landwirtschaft und im Handwerk.
Der Anteil junger Frauen in männlich dominierten Berufen blieb von 1990 auf 1991 fast konstant bei rund 9 %; auf je elf Auszubildende kamen also eine Frau und zehn Männer. Entsprechende Zahlen über Männer in weiblich dominierten Berufen, wie z. B. Arzthelferin oder Diätassistentin, wären ebenfalls wichtig.
Auch in der Weiterbildung liegt der Anteil der Frauen unter dem der Männer, vor allem in der beruflichen, weniger in der allgemeinen Weiterbildung.
Unterschiedlich sind zum Teil auch die Motive für Weiterbildung. Beide Geschlechter halten Anpassungsweiterbildung für wichtig. Beruflich aufsteigen zu können ist dagegen laut Berufsbildungsbericht für Frauen weniger wichtig als für Männer. Nur jede fünfte Frau, aber etwa jeder dritte Mann macht Weiterbildung mit dem Ziel des beruflichen Aufstiegs.
Daß hier Rahmenbedingungen, z. B. die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf, eine Rolle spielen - fehlende Kindergartenplätze sind an erster Stelle zu nennen -, ist bekannt, wird aber leider nicht genügend berücksichtigt und auch erst recht nicht genügend verändert.
Wie ist die Situation ausländischer Jugendlicher? Die schulische Situation hat sich in rund zehn Jahren deutlich verbessert. Der Anteil der ausländischen Jugendlichen mit Hochschulreife und mit mittlerem Abschluß ist wesentlich gestiegen, und zwar auf das
Doppelte bzw. etwa das Anderthalbfache, allerdings auf einem immer noch recht niedrigen Niveau. Der Anteil derjenigen mit Hauptschulabschluß blieb fast gleich bei etwas über 40 %. Aber immer noch rund 20 % der jungen Ausländer und Ausländerinnen verlassen die Hauptschule ohne Abschluß, während es bei den deutschen Jugendlichen nur 6 % sind. Beide Zahlen sind viel zu hoch.
Erstaunlich gering ist aber - trotz erhöhter Sprachkompetenz und gestiegener Schulbildung - die Ausbildungsbeteiligung ausländischer Jugendlicher. Mit rund 37 % betrug sie im Jahre 1991 nur etwa die Hälfte derjenigen von deutschen Jugendlichen. Diese betrug etwa 70 %. Auch bei den Auszubildenden mit ausländischer Staatsbürgerschaft sind junge Männer mit rund 60 % weit stärker vertreten als junge Frauen mit rund 40 %.
Eine positive Einstellung zu ausländischen Auszubildenden hat inzwischen erfreulicherweise besonders das Handwerk. Es ist heute mehrfach angesprochen worden.
({0})
Etwa jeder zehnte Ausbildungsplatz dort wurde im Jahre 1991 von ausländischen Jugendlichen eingenommen.
Die recht hohe Quote vorzeitig gelöster Ausbildungsverträge im Handwerk West läßt sich sicher durch zusätzliche sozialpädagogische Qualifikationen der Ausbilder und Ausbilderinnen noch verringern. Bei Industrie und Handel war es etwa jeder 15. Ausbildungsplatz, der mit ausländischen Jugendlichen besetzt war, im öffentlichen Dienst dagegen lag die Quote im Jahre 1991 nur bei 2,4 %. Hier ist also großer Aufklärungs- und Handlungsbedarf.
Ein paar Sätze noch zur Ausbildung im Gesundheitswesen. Der Bereich Gesundheit verbraucht rund ein Zehntel unseres gesamten Bruttosozialprodukts, - 300 Milliarden DM von etwa 3 Billionen -, ist also ein wesentlicher Faktor für die Wirtschaft und die Menschen in unserem Land.
Den Berufen in diesem Bereich wird eine Spalte, also eine halbe Seite des Berufsbildungsberichts 1993 gewidmet. Damit wird der steigenden Bedeutung und den veränderten Anforderungen in diesen Berufen, z. B. durch den zunehmenden Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft, in keiner Weise Rechnung getragen.
Qualifizierung und Ausbildungsbereitschaft in diesem Bereich können Konsequenzen für die Gesundheit und das Wohlbefinden jedes einzelnen von uns haben. Die Qualität dieser Ausbildungen und die Nachwuchsförderung für diese Berufe müssen für uns hohe Priorität haben. Dabei kommt Berufen mit Kompetenz in Aufklärung, Information, Beratung über die eigene Gesundheit und den Umgang mit ihr sowie der Entwicklung von Fähigkeiten für Hilfe zur Selbsthilfe immer größere Bedeutung zu. Den steigenden Kosten im Gesundheitswesen können wir nicht durch immer
neue Umverteilungen, sondern vor allem durch ein anderes Gesundheitsverhalten entgegenwirken.
({1})
Der Berufsbildungsbericht 1993 enthält viele und wichtige Daten. Aber andere wichtige Daten fehlen, siehe Gesundheitswesen. Es gibt Aussagen, gerade im Bereich der Frauen und der ausländischen Jugendlichen, die nichtssagend, unpräzise, zum Teil auch diskriminierend sind. Dazu drei Beispiele.
Das erste:
Einige Berufe wurden jedoch von mehr jungen Frauen gewählt als früher.
Das steht auf Seite 55. Oder:
Vor dem Hintergrund des für die neunziger Jahre für viele Bereiche zu erwartenden Fach- und Führungskräftemangels wird es für die Unternehmen immer notwendiger werden, sich bei der Personalgewinnung nicht länger nur auf das männliche Potential zu beschränken.
Das steht auf Seite 137.
Das dritte Beispiel. Zur Zukunftsorientierung junger Migranten steht auf Seite 69 zu lesen:
Von allen bisher analysierten Faktoren besteht zwischen der Bleibeorientierung und der Lebenszufriedenheit in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der stärkste Zusammenhang ... Die entscheidenden Voraussetzungen sind allerdings die emotionale Hinwendung und Identifikation mit der Bundesrepublik.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich sind entscheidende Voraussetzungen für ein demokratisches Zusammenleben bei uns die Wahrung der Menschenwürde und der Unverletzlichkeit der Person für alle bei uns lebenden Menschen und die Verwirklichung der Chancengleichheit in Schule, Beruf und Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Religion und anderen Merkmalen.
Im Berufsbildungsbericht 1993 fehlen konkrete Angaben, welche Mittel für Frauenförderung in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung bereitgestellt werden und welche Konzepte zu ihrer Verwirklichung nötig sind. Es fehlen konkrete Angaben, welche Mittel und Konzepte eingesetzt werden, um ausländischen Jugendlichen die gleichen Chancen zu geben, wie diese Chancen verwirklicht werden können, sowie Angaben über Mittel und Konzepte, um Vorurteile und Ausländerfeindlichkeit abzubauen. Es fehlen Daten und Rahmenbedingungen wie z. B. die Berufe im Gesundheitswesen strukturiert und die Ausbildungen qualifizierter werden können. Einige dieser Berufe - z. B. Altenpflege, Heilerziehungspflege - sind noch nicht einmal bundeseinheitlich geregelt, andere, trotz Novellierung und intensiver Bemühungen von unserer Seite, nicht in das Berufsbildungsgesetz einbezogen, Beispiel: Diätassistentin. Ob das
wohl daran liegt, daß dies vorwiegend von Frauen ausgeübte Berufe sind?
Zukunftsorientierte Ausbildungsplätze in genügender Zahl, Qualität bei Ausbildungsstellen und Ausbildungspersonal, gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen und ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in allen Berufsbereichen - dazu sind große intellektuelle und finanzielle Anstrengungen nötig.
Frau Kollegin Lörcher, Sie sind ein gutes Stück über Ihre Redezeit hinaus.
Gut, ich würde gern noch einen Schlußsatz sagen.
Selbstverständlich.
Unsere Zukunft liegt in der Hand unserer Kinder und Jugendlichen. Für ihre demokratische Grundhaltung, für ihre beruflichen und sozialen Qualifikationen müssen wir mehr tun als bisher. Das will die SPD.
Herzlichen Dank.
({0})
Es ist nicht so leicht, sich mit der Redezeit zurechtzufinden. Das war ja auch Ihre erste Rede; aber auch der eine oder andere Kollege bedarf der Erinnerung: Wenn das gelbe Licht aufleuchtet, dann haben Sie noch eine Minute, und wenn das rote Licht aufleuchtet, ist die Redezeit eigentlich vorbei.
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Ich erteile das Wort der Kollegin Maria Eichhorn.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bildung ist ein lebenslanger Prozeß. Ausbildung allein reicht heute kaum noch aus, um im Erwerbsleben bestehen zu können. Berufliche Qualifikationen müssen im Laufe des Berufslebens aktualisiert und weiterentwickelt werden. Weiterbildung hat daher im Rahmen der beruflichen Bildung einen hohen Stellenwert. Deswegen werde ich heute auf diese Weiterbildung besonders eingehen.
Ich habe bereits in den Debatten zu mehreren Berufsbildungsberichten, Herr Kollege Rixe und Frau Kollegin Lörcher, das Thema Frauen und Ausbildung besonders angesprochen; daher heute nur einen Satz dazu. Ich gestehe durchaus ein, daß es in diesem Bereich noch Defizite gibt. Aber man darf auch nicht übersehen, daß sich gerade in den letzten Jahren im Ausbildungsbereich der Frauen sehr viel Positives entwickelt hat.
Technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen verlangen die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen. Lebenslanges Lernen ist Herausforderung und Chance zur Erhaltung und Verbesserung der persönlichen Perspektiven. Lebenslanges Lernen
heißt, geeignete Situationen im Beruf und in der Freizeit als Lernchance zu nutzen.
({0})
Frau Kollegin, darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Ich wollte nur sagen: Solche Randunterhaltungen sind - bei entsprechender Lautstärke - auch dann zu hören, wenn sie in Plattdeutsch geführt werden.
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Nicht nur aus persönlichen, sondern auch aus ökonomischen Gründen ist Weiterbildung für den einzelnen eine Investition in die Zukunft.
({0})
Die Bedeutung der beruflichen Weiterbildung der Mitarbeiter schlägt sich zunehmend in erhöhten Mittelansätzen in den Betrieben nieder. Berufliche Weiterbildung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den beruflichen Qualifikationen. Sie dient der Vertiefung sowie dem Erwerb neuer beruflicher Fähigkeiten und ist damit auch Voraussetzung für den beruflichen Aufstieg. Berufliche Weiterbildung braucht den direkten Kontakt zur betrieblichen Praxis und geschieht daher überwiegend in Betrieben und Einrichtungen der Wirtschaft.
Seit 1979 läßt das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in dreijährigem Abstand eine repräsentative Befragung zum Weiterbildungsverhalten durchführen. Die neuesten Zahlen beziehen sich auf das Jahr 1991, in dem sich die Erfassung erstmals auf das Bundesgebiet nach der Wiedervereinigung erstreckte. 1991 haben 37 % der Deutschen im Alter von 19 bis 64 Jahren an Maßnahmen zur Weiterbildung teilgenommen. Dies ist der höchste Stand seit Beginn der Trendanalyse im Jahre 1979. Damals wurde eine Teilnahmequote von 23 % ermittelt.
Auch im Vergleich zu 1988 ist die Weiterbildungsbeteiligung leicht angestiegen. In den neuen Bundesländern waren die Bürger 1991 etwas weiterbildungsaktiver als in den alten Ländern.
Im Unterschied zur allgemeinen Weiterbildung ist bei der beruflichen Weiterbildung ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Befragt nach der Wichtigkeit, erklärten weit über 90 % aller Befragten, die berufliche Weiterbildung von Erwerbstätigen sei sehr wichtig oder wichtig.
Die Einschätzung des eigenen Bedarfs an beruflicher Weiterbildung stimmt jedoch damit nicht immer überein. Dabei ist ein Zusammenhang mit der Vorbildung zu erkennen. Je höher die Qualifikation, desto größer ist die Bereitschaft, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen. So nehmen Erwerbstätige mit Hochschulabschluß vier- bis fünfmal so oft an Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung teil wie Ungelernte.
Im Bereich Industrie und Handel lag die Zahl der Teilnehmer an Weiterbildungsprüfungen 1991 bei rund 75 000. Dabei entfielen auf den kaufmännischen
Bereich über zwei Drittel, auf den gewerblich-technischen Bereich knapp ein Drittel der Teilnehmer.
Bei den Meisterprüfungen im Handwerk ist die Teilnehmerzahl seit 1980 kontinuierlich angestiegen. Sie erreichte 1991 die Zahl von rund 59 000.
Bei Fortbildungsprüfungen im Handwerk wurden über 16 000 Teilnehmer registriert.
Die Förderung der Meisterausbildung erfolgt in Zukunft über das Bundesministerium für Wirtschaft und ist weiterhin gesichert. Langfristig müssen wir jedoch unter dem Gesichtspunkt der Gleichwertigkeit von beruflicher und allgemeiner Bildung für eine gerechtere Neuregelung der Ausbildungsförderung sorgen. Es geht nicht an, daß Studenten selbstverständlich BAföG, teilweise als Zuschuß, erhalten, während angehende Meister höchstenfalls mit Darlehen gefördert werden. Ich kann hier die Ausführungen von Kollegen Ramsauer nur unterstreichen.
({1})
Die Anzahl der Absolventen einer Umschulung stieg in den Jahren 1987 bis 1989 an, ging seit 1990 zurück und betrug 1991 rund 32 000.
Frauen beteiligen sich seltener an Weiterbildung als Männer. Die Teilnahmequote lag bundesweit für Männer bei 39 %, für Frauen bei 35 %. Beim längerfristigen Vergleich fällt jedoch auf, daß sich die Beteiligung von Männern und Frauen kontinuierlich immer mehr annähert.
Meine Damen und Herren, warum sind Frauen an Weiterbildung weniger beteiligt? Grund ist die unterschiedliche Lebenssituation. Erwerbstätige nehmen häufiger an Weiterbildung teil als Nichterwerbstätige. Bundesweit ist etwa die Hälfte der Frauen zwischen 19 und 64 Jahren erwerbstätig, bei den Männern dagegen sind es drei Viertel. Im Gegensatz dazu nehmen Frauen häufiger an allgemeiner Weiterbildung teil als Männer. Dies ist sicher auf familienfreundlichere Angebote zurückzuführen.
Bei einer Befragung stellte sich klar heraus, daß die zeitliche Unvereinbarkeit von Haushaltsführung, Kinderbetreuung und Weiterbildung für Frauen mit Kindern ein erhebliches Weiterbildungshindernis darstellt. Daher fordere ich die Wirtschaft auf, vermehrt familienfreundliche Weiterbildung, möglichst mit Kinderbetreuung, anzubieten, um auch Frauen mit kleinen Kindern Weiterbildung zu ermöglichen.
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Insgesamt fällt auf, daß die Unterschiede bei der Weiterbildungsbeteiligung von Männern und Frauen in den neuen Bundesländern geringer sind. Dies ist darauf zurückzuführen, daß dort die Erwerbstätigkeit von Frauen höher ist und die Unterschiede hinsichtlich des Berufsabschlusses und der beruflichen Stellung zwischen Männern und Frauen geringer sind.
Meine Damen und Herren, am Schluß der heutigen Debatte haben wir über eine Empfehlung des Europäischen Rates über den Zugang zur beruflichen Weiterbildung abzustimmen. Ein wesentliches Kriterium bei der Vorgabe von Zielen und Empfehlungen für die Berufsbildungspolitik der Europäischen
Gemeinschaft muß die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips sein. Der Vertrag über die Europäische Union bestimmt ausführlich Zuständigkeiten der Gemeinschaft im Bereich der Berufsbildung.
Deshalb haben wir im Ausschuß bekräftigt - und ich betone es hier nochmals ausdrücklich -, daß die berufliche Weiterbildung vor allem in der Verantwortung der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer liegt. Dem Staat kommt damit nur eine subsidiäre Rolle zu.
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An dieser Stelle bedanke ich mich bei den Trägern der beruflichen Weiterbildung für ihre hervorragende Arbeit. Insbesondere seit den achtziger Jahren haben Kammern und Verbände ein umfangreiches Weiterbildungsangebot entwickelt. Aus den schmalen Programmbroschüren von einst sind dicke Bildungskataloge geworden. So gaben bei einer Umfrage unter 1 500 Betrieben in meiner Heimatregion mehr als 55 % der Firmen an, daß ihre Mitarbeiter regelmäßig an Seminaren und Kursen der Kammern teilnehmen.
Die 13 Einzelempfehlungen des Kommissionsvorschlages enthalten eine Vielzahl konkreter, in ihren Kostenwirkungen nicht abzuschätzender Maßnahmen. Nach geltendem EG-Recht kann die Gemeinschaft jedoch nur allgemeine Grundsätze für eine gemeinsame Berufsbildungspolitik aufstellen. Nach dem Vertrag von Maastricht sind die Mitgliedstaaten für Inhalt und Gestaltung der beruflichen Bildung selbst verantwortlich. Deshalb fordern wir in der Beschlußempfehlung die Bundesregierung auf, in den Beratungen im Rat der EG auf eine rechtlich unverbindliche Empfehlung der Gemeinschaft hinzuwirken, die nicht in die Berufsbildungssysteme der Mitgliedstaaten eingreift.
Technischer Fortschritt, wirtschaftlicher und sozialer Wandel und der sich verschärfende Wettbewerb lassen die Bedeutung der beruflichen Weiterbildung weiter steigen. Weiterbildung ist eine Zukunftsaufgabe, der sich jeder einzelne, jeder Betrieb, die gesamte Wirtschaft und die Gesellschaft stellen müssen. Im Mittelpunkt der beruflichen Weiterbildung stehen die Anforderungen der Betriebe und der Arbeitswelt. Deshalb kann berufliche Weiterbildung ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie praxisnah und flexibel auf sich ändernde Anforderungen reagieren kann. Daher benötigt sie entsprechende Freiräume. Unsere Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, daß diese Freiräume auch im gemeinsamen Europäischen Binnenmarkt erhalten bleiben.
Ich bitte Sie daher, der Beschlußempfehlung des Ausschusses zur Empfehlung des Rates zuzustimmen.
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Herr Kollege Dr. Peter Eckardt, Sie haben in dieser Debatte das letzte Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch diese heute zu Ende gehende Debatte über den Berufsbildungsbe17580
richt 1993 hat deutlich gemacht, was die Redner meiner Fraktion schon zu den Berufsbildungsberichten 1991 und 1992 gesagt haben: Die Jahre der liberal-konservativen Regierung waren keine Jahre der bildungspolitischen Innovation.
Der Kollege Hansen hat natürlich die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, auf die niedersächsische Schulpolitik hinzuweisen und den zweiten Berufsschultag zu kritisieren. Wenn es ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Praxis geben soll, dann muß man dazu sagen, daß ein Verhältnis von 2:3 natürlich immer noch nicht ausgewogen ist. Da man die Neuerung durch ein schulisches Berufsgrundbildungsjahr mit hohem Theorieanteil teilweise wieder korrigiert hat, ist das, so denke ich, schon der richtige Weg, auf dem man fortschreiten sollte.
Den Vorsprung, den unser Land in der Bildungspolitik der 70er Jahre gehabt hat und der damals sinnfälligerweise durch eine vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosenquote und die Neuordnung der Metall- und Elektroberufe gekennzeichnet war, ist in den letzten Jahren geschwunden, politisch verspielt worden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hansen?
Ja, natürlich.
Herr Kollege Eckardt, weil Sie mich angesprochen haben, möchte ich fragen: Teilen Sie nicht die Auffassung und die Sorgen der niedersächsischen Wirtschaft, gerade auch der heute hier immer wieder zitierten Handwerksbetriebe, daß bei fünf Arbeitstagen - genau genommen nur viereinhalb, wenn man dies auf die tägliche Arbeitszeit bezieht - zwei Berufsschultage dazu führen, daß die von uns allen, über Fraktionsgrenzen hinaus gelobte Verknüpfung von betrieblicher, d. h. praxisnaher Ausbildung und der theoretischen Ausbildung in der Schule - unabhängig davon, wie das organisiert ist, in Blockunterricht oder nicht - zunehmend verringert wird, weil sich die Auszubildenden maximal drei, meistens aber nur zweieinhalb Tage im Betrieb befinden? Deshalb wird gerade im Handwerk gesagt, die Ausbildung könne dann nicht mehr den bisherigen Standard halten, weil die qualifizierte Praxisnähe vernachlässigt wird.
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Herr Kollege Hansen, wenn Sie das aus der Interessenlage eines Handwerksmeisters betrachten, der den Auszubildenden eine möglichst lange Zeit in der Woche im Betrieb haben möchte, damit er für ihn Arbeiten leisten kann, dann haben Sie recht.
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Wenn es aber um ein definiertes Interesse dieses Arbeitnehmers geht, möglichst theoretisch und praktisch hochqualifiziert ausgebildet zu werden, dann, so denke ich, ist in allen Berufen, die hohe Theorieanteile haben, auch denen des Handwerks, ein zweiter Berufsschultag - übrigens mit Zustimmung der
Handwerker und der Gewerkschaften eingeführt - unabdingbar notwendig. Auf ihn kann eigentlich nicht verzichtet werden. Das gilt auch für die Berufe, von denen man herkömmlicherweise denkt, daß hohe Theorieteile im traditionellen Sinne nicht notwendig gewesen wären.
({1})
Herr Abgeordneter Hansen, zu einer weiteren Zwischenfrage. Bitte schön.
Herr Kollege Eckardt, eine Zusatzfrage. Darf ich den ersten Teil Ihrer Antwort so verstehen, daß Sie suggerieren wollten, daß gerade in Handwerksbetrieben Lehrlinge nicht ausgebildet, sondern ausgenutzt werden?
({0})
Es gibt Handwerksbetriebe, Herr Kollege Hansen, die ich Ihnen zeigen kann, wo das so ist, und es gibt eine Menge Handwerksbetriebe, wo das nicht so ist. Wie alles im Leben muß man das sehr differenziert betrachten.
Es wird, glaube ich, gesellschaftspolitisch und auch wirtschaftspolitisch in Deutschland Zeit, die berufliche Bildung an die technologischen Veränderungen der 80er und 90er Jahre anzupassen, sie europäisch konkurrenzfähig zu machen und ihr den bildungspolitischen Stellenwert zu verschaffen, der die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland ausmacht.
Dabei betrachten wir Erstausbildung und Weiterbildung als eine Einheit. Ich lobe ausdrücklich die von der CDU/CSU-Fraktion artikulierte Meinung, was die von uns allen gewünschte Meisterausbildung und deren Finanzierung durch das AFG betrifft.
Herr Kollege Ramsauer, was Ihren Ozeanologen auf der Zugspitze betrifft:
({0})
Es geht ja nicht um die Zugspitze und den Ozeanographen und daß der studiert hat, es geht vielmehr darum, was er studiert hat. Wenn Sie z. B. wissen, wie es zu Studienentscheidungen kommt, so wissen Sie auch, daß da die Defizite liegen, wenn Sie das Studium nicht reglementieren wollen, nämlich im Mangel an ausreichender Beratung und auch in mangelnder Flexibilität. Daher kommt es, daß dieser junge Kollege dann gerade bei Ihnen in der Gegend versucht, einen Arbeitsplatz zu finden.
Zu einigen Tatbeständen und Entwicklungen der Berufsbildung will ich aus Sicht meiner Fraktion zusammenfassend ein paar Punkte sagen.
Erstens. Die Zahl der Industriebetriebe, die ausbilden, geht seit Jahren zurück. Dies gilt auch für die modernen Metall- und Elektroberufe, die vor Jahren mit viel politischer Mühe und pädagogischer Anstrengung neu geordnet wurden und zu ihrer Zeit als sehr
zukunftsträchtig galten. Diese Entwicklung muß mit Hilfe aller Verantwortlichen endlich und bald rückgängig gemacht werden.
({1})
Zweitens. Die Zahl der Ausbildungsabbrecher, besonders im Handwerk, ist erschreckend hoch. Ebenso erschreckend ist die Zahl derer, die keine Berufsausbildung beginnen oder erfolgreich abschließen. Durch Verstärkung der sozialpädagogischen Begleitmaßnahmen und finanziellen Hilfen für Benachteiligte muß hier und in Zukunft noch mehr getan werden als bisher.
({2})
Drittens. Die Berufswahl vieler Jugendlicher wird von den Befähigten und Beauftragten nicht in der Weise unterstützt, wie es zur Berufsvorbereitung, zur vorberuflichen Bildung oder zur beruflichen Nachqualifizierung, besonders für lernbeeinträchtigte Jugendliche, notwendig wäre. Wir mahnen eine bessere Zusammenarbeit von Schule, Hochschule, Berufsberatung und Sozialpädagogik an. Fehlentscheidungen in der Berufswahl - das gilt übrigens auch für ein Hochschulstudium - hinterlassen Schicksale und vergeuden finanzielle Ressourcen.
Viertens. Der Qualifikationsbedarf und die Qualifikationsstruktur der Arbeitsplätze und Arbeitsprozesse haben sich in den letzten zehn Jahren im mittleren Bereich der Produktion und der Dienstleistungen so verbessert, daß qualifizierte Facharbeiter mit Absolventen von Fachschulen und Fachhochschulen konkurrieren müssen und dies auch vielfach können.
Die für die Wirtschaft bisher kostenfreie Ausbildung an den Fachschulen und Fachhochschulen schafft einen vermeintlichen Konkurrenzvorsprung, der unter anderen Vorzeichen erneut die Frage nach der Finanzierung der beruflichen Bildung als öffentliche Aufgabe stellt, wenn einige Betriebe nicht für ihren eigenen Qualifikationsbedarf sorgen, sondern von der Gesellschaft oder von den anderen Betrieben gut ausgebildete Fachkräfte einstellen.
Fünftens. Der von interessierten Gruppen immer wieder diskutierte Konflikt, zu hohe Studentenzahlen und zu geringe Zahl der Auszubildenden, sollte endlich beendet werden.
Das duale System der Berufsausbildung beruht auf der Ausbildungswilligkeit und der Ausbildungsmöglichkeit der Einzelbetriebe und auch auf dem freien Willen und der Motivation der Jugendlichen und der Erwachsenen, sich ausbilden zu lassen oder zu studieren oder beides hintereinander zu versuchen. Bei dieser Wahlfreiheit sollte es auch in Zukunft bleiben. Dies gebietet bereits das Grundgesetz.
Sechstens. Die technologische Entwicklung wie auch Veränderungen der Arbeitsorganisation in Deutschland waren in den letzten Jahren so umwälzend und so innovativ, daß die Modernisierung und Attraktivitätssteigerung der Berufsausbildung dringend diesem Prozeß angepaßt werden muß. Dies gilt
für die Ausstattung der Berufsschulen und der Ausbildungswerkstätten gleichermaßen.
Herr Minister, da Sie lesenswerte Vorschläge zur Struktur- und Inhaltsverbesserung des Medizinstudiums geschrieben haben, würde ich es für sinnvoll halten, daß Sie ähnliches auch über gewerbliche Berufe und deren Inhalt und Struktur sagen, um hier deutlich zu machen, daß es nicht nur um eine quantitative, sondern auch um eine qualitative Veränderung der Berufsausbildung in Struktur und Inhalt geht.
Für uns Sozialdemokraten hat Bildungspolitik - das ist kein Geheimnis - einen zentralen politischen Stellenwert, den wir nicht nur sprachlich deutlich machen wollen. Berufliche Bildung ist das Mittel für die Menschen, die durch Arbeit ihr Leben gestalten, und für die Rentabilität der Betriebe, mit dem in einem hochindustrialisierten Land Wohlstand und Frieden garantiert wird. Wir vermissen im Berufsbildungsbericht 1993 hierzu eine politische Perspektive.
Wenn ich den Entwurf zum Berufsbildungsbericht 1994 richtig gelesen habe, Herr Minister, stelle ich fest, daß dort einige Worte zu dem von mir 1993 kritisierten Mangel stehen. Ich hoffe sehr, daß im Prozeß der Abstimmung Ihres Hauses diese Sätze dann auch stehenbleiben und nicht in geänderter Form dem Ausschuß und dem Parlament vorgelegt werden.
({3})
- Ja, da gibt es zwischen einem Entwurf und dem, was nachher dem Parlament vorgelegt wird, immer Veränderungen. Wenn Sie das aufmerksam lesen, Herr Kollege, werden Sie sehen, warum und aus welchen Gründen solche Unterschiede zustande gekommen sind. Das Kabinett ist dann immer eine Art letzte Hürde, wo sprachliche Feinheiten in Richtung der augenblicklich geltenden Ideologie korrigiert werden. Ich hoffe, daß das im 94er Bericht nicht so geschieht, sondern daß der Entwurf so bleibt.
Ich möchte meinen Schlußsatz benutzen, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesinstituts für Berufsbildung in Berlin und in Bonn zu danken. Ohne deren wissenschaftliche Arbeit wären wir in Deutschland z. B. im Bereich der Berufsbildung nicht in der Lage, diesen Bereich so differenziert zu diskutieren, wie das hier geschehen ist.
({4})
Worauf es mir aber besonders ankommt, ist: Wir müssen aus dem Material des BIBB auch, Herr Staatssekretär, die richtigen Konsequenzen ziehen. Wie Sie wissen, hapert es daran bei einigen manchmal.
Danke schön.
({5})
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache und kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst einmal über die Beschlußempfehlung des
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zum Berufsbildungsbericht 1993.
Dieser Bericht liegt Ihnen auf den Drucksachen 12/4652 und 12/6336 vor. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD. Dieser Entschließungsantrag liegt Ihnen auf der Drucksache 12/6545 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft zum Vorschlag der EG über den Zugang zur beruflichen Weiterbildung ab. Sie liegt Ihnen auf der Drucksache 12/4930 vor. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? ({0})
Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Stimme der Abgeordneten Frau Dr. Enkelmann angenommen worden.
({1})
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/5495, 12/5783 und 12/5831 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Andere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({2}), Dietrich Austermann, Heinz-Günter Bargfrede, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Carl Ewen, Arne Börnsen ({3}), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Lisa Peters, Dr. Michaela Blunk ({4}), Günther Bredehorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. sowie des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Situation der Niederdeutschen Sprache *) - Drucksachen 12/5355, 12/6073 -
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer dreiviertel Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Meine Damen und Herren, die Redner zu diesem Tagesordnungspunkt haben mir mitgeteilt, daß sie ihre Beiträge zum Teil in Niederdeutsch sprechen möchten. Ich möchte mich für die Abweichung von unserer Regel einsetzen - normalerweise erfolgen die Beratungen in Hochdeutsch -, weil es sich beim Niederdeutschen nicht um einen Dialekt, sondern um
*) Hochdeutsche Fassung aller Redebeiträge zu Tagesordnungspunkt 12 siehe Anlage 3.
eine historisch gewachsene Einzelsprache im deutschen Sprachraum handelt.
({5})
Ich möchte darauf hinweisen, daß sichergestellt ist, daß die Redebeiträge dem Stenographischen Dienst in hochdeutscher Sprache zur Verfügung gestellt werden.
({6})
Auch möchte ich darauf hinweisen, daß das Ganze nicht ganz so ungewöhnlich ist, wie es der eine oder andere meint; denn es hat einmal den Abgeordneten Kreuzeder gegeben, der seine Redebeiträge im Plenum ausschließlich in seinem heimatlichen Dialekt abgegeben hat,
({7})
und somit der Stenographische Dienst daran gewöhnt ist, auch ungewöhnliche Redebeiträge richtig zu erfassen.
({8})
Meine Damen und Herren, ich selber bin Sauerländer und komme aus einer Gegend, wo angeblich die größten Dickköppe sitzen: Wat se welt, dat welt se. Deswegen will ich, daß das so geschieht, möchte aber trotzdem die Zustimmung des Hauses einholen, daß Sie mit diesem Verfahren einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall.
({9})
Dann können wir mit der Debatte beginnen. Ich erteile zunächst einmal dem Staatsminister Helmut Schäfer das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Leive Damens un Herrens! - Ich habe geübt. - Leive nedderdüütsche Landslüüt! Die niederdeutsche Sprache verfügt über einen reichen literarischen Fundus. Mit „Ut de Franzosentied" oder „Onkel Bräsig" von Fritz Reuter, „Kaspar Ohm un Ick" von John Brinkmann oder „Burkävers" - ich übersetze, Herr Präsident: Maikäfer - von Rudolf Tarnow möchte ich stellvertretend nur einige Beispiele nennen. Die niederdeutsche Sprache ist Teil des europäischen Kulturerbes, Teil der einzigartigen kulturellen Vielfalt Europas, die wir schützen und fördern wollen.
({0})
In der föderal verfaßten Bundesrepublik Deutschland sind es die Länder, die entsprechend ihrer Kulturhoheit auf regionaler Ebene Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung von Sprachen ergreifen, die regional von der Amtssprache Deutsch abweichen. Die Bundesregierung begrüßt diese Anstrengungen der Länder zur Erhaltung der sprachlich-kulturellen Vielfalt unseres Landes. Die norddeutschen Länder bemühen sich um den Schutz und die Förderung namentlich von Niederdeutsch, Friesisch und Dänisch. Im europäischen Vergleich wird deutlich, daß unsere Länder Vorbildliches leisten. Die HandlungsStaatsminister Helmut Schäfer
möglichkeiten der Bundesregierung dagegen sind angesichts der Länderkompetenzen eng begrenzt.
Unsere niederdeutschen Landsleute sind zu Recht bemüht, die Schutz- und Fördermöglichkeiten ihrer Sprache zu verbessern. Bei ihrer Suche sind sie auf die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen gestoßen und fordern eine Anmeldung von Niederdeutsch zu Teil III dieser Charta. Ganz wie bei Wilhelm Busch:
Max un Moritz harm wat raaken,
Klattern stracks rop op'n Daaken.
Ich hoffe, es war richtig, Herr Kollege.
({1})
- Das war der Hamburger Teil. Niederdeutsch ist ja, wie ich feststelle, wiederum in sich sehr mannigfaltig.
Für die Bundesregierung und die anderen Unterzeichnerstaaten ist die Charta ein Element eines umfassenderen Minderheitenschutzsystems im Rahmen des Europarates, so wie es die Parlamentarische Versammlung des Europarates in ihrer Empfehlung 1201 betreffend Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention vorgezeichnet hat. Der Deutsche Bundestag hat sich dieser Empfehlung ausdrücklich angeschlossen. In diesem größeren europapolitischen Zusammenhang muß auch die Charta gesehen werden.
Im Kontext eines internationalen Minderheitenschutzsystems soll die Sprachencharta die Lebensbedingungen der nationalen Minderheiten in ihren jeweiligen Wohnsitzstaaten verbessern helfen. Das Verbot der Diskriminierung und die Verbesserung der Möglichkeiten, Minderheitensprachen auch gebrauchen zu dürfen, sollen das identitätsstiftende Kommunikationsmittel schützen, das für das Überleben nationaler Minderheiten von entscheidender, von zentraler Bedeutung ist.
({2})
Die Bundesregierung denkt dabei auch an die deutschsprachigen Minderheiten in Mittel- und Osteuropa.
Die Charta macht in ihrer Definition keinen Unterschied zwischen Regional- und Minderheitensprachen. Das Adjektiv „Regional-" in der Definition sollte einigen anderen Mitgliedstaaten des Europarates den Beitritt zur Charta erleichtern. Ich brauche das hier nicht zu erläutern. Die Bezeichnung verdeckt also den im Europarat bestehenden Dissens über den Begriff der Minderheit.
Die für Regional- oder Minderheitensprachen einheitliche Definition der Charta lautet - ich zitiere -:
... der Ausdruck „Regional- oder Minderheitensprachen" bezeichnet Sprachen,
- die herkömmlicherweise in einem bestimmten
Gebiet eines Staates von Angehörigen dieses
Staates gebraucht werden, die eine Gruppe bilden, deren Zahl kleiner ist als die der übrigen Bevölkerung des Staates und
- die sich von der Amtssprache dieses Staates unterscheiden.
Damit wird deutlich, daß diese Sprachen als identitätsstiftendes Attribut von Minderheiten verstanden werden.
Wir sind uns alle einig in der Einschätzung des Niederdeutschen als eines bedeutenden Kulturgutes. Ich hoffe, wir können uns ebenso einig sein über die Feststellung, daß diejenigen, die das Niederdeutsche lieben, pflegen, sprechen, sich dadurch nicht als Minderheit in Deutschland identifizieren wollen. Also, leive nedderdüütsche Landslüüt, lat de Kark inn Dörp!
Bei der Unterzeichnung der Charta durch die Bundesrepublik Deutschland bestand folgerichtig zwischen der Bundesregierung und der Ständigen Vertragskommission der Länder Einvernehmen darüber, daß nur Dänisch und Sorbisch als echte Minderheitensprachen zu Teil III der Charta anzumelden seien.
Ungeachtet der von mir vorgetragenen grundsätzlichen Bedenken hat sich die Bundesregierung frühzeitig bereit erklärt, dem Wunsch der Konferenz Norddeutschland zu entsprechen und Niederdeutsch zu Teil II der Charta anzumelden.
({3})
Mit diesem politischen Signal will die Bundesregierung international im Rahmen des Europarates deutlich zur Geltung bringen, welchen hohen Stellenwert sie der niederdeutschen Sprache als wertvollem Teil unseres kulturellen Erbes beimißt.
In ihrer Antwort auf die Große Anfrage zur Situation der niederdeutschen Sprache hat die Bundesregierung aber auch versucht - und das ist ja der Punkt, der meine niederdeutschen Kollegen hier besonders berührt - folgendes deutlich zu machen: Eine endgültige Entscheidung darüber, welche Sprachen neben Dänisch und Sorbisch zu Teil III der Charta angemeldet werden sollen, wird die Bundesregierung erst dann fällen können, wenn hierzu ein abgestimmtes Votum der Lander vorliegt.
({4})
Denn es sind die Länder und ihre Bürger, die mögliche Kosten eines solchen Verfahrens - ich darf das hier sehr deutlich sagen - zu tragen haben werden, da es die Länder sind, die die sprachliche und kulturelle Vielfalt im Rahmen ihrer Verantwortung zu schützen und zu fördern haben.
Herr Minister, bevor Sie das Rednerpult verlassen: Da ist noch der Wunsch nach einer Zwischenfrage. Sind Sie bereit, dieselbe zu beantworten?
Es war mir klar, daß man mich jetzt hier in Verlegenheit bringt, denn sie wird auf niederdeutsch kommen. Bitte schön, Herr Kollege Richter.
({0})
Herr Abgeordneter Richter.
Herr Stootsminister, Se hebbt ja över de Kompetenzen wat seggt, und Se hebbt recht, dat geiht Bund und de Länder an, und dat möten wi tosamen maken. Und Se sölben, Se hebbt dat ja bannig good makt, und ick weet, dat dat gar nich so einfach is.
Aber könnt Se mi seggen: Gift dat överhaupt Mitglieder von de Bundsregeern - und, wenn ja, wiveel möcht dat sinn -, de plattdüiltsch snacken könnt?
({0})
Also, lieber Herr Kollege, ich habe es voll verstanden. Ich habe mich bisher noch nicht umgehört - das muß man hier ja sagen -, wer in der Bundesregierung plattdütsch spricht, welcher Minister, welcher Staatsminister oder Staatssekretär. Der Kollege Ortleb hätte sicherlich, da er ja,wenn ich recht sehe, aus Rostock kommt, zumindest ein Verständnis für eine „zweite Fremdsprache", muß ich ja jetzt sagen. Ich meine, Herr Kollege, wir sollten kommenden Btmdeskanzlern empfehlen, Wert darauf zu legen, daß diese wichtige Gruppe in allen zukünftigen Bundeskabinetten entsprechend vertreten sein soll.
Vielen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, bevor ich dem Abgeordneten Börnsen das Wort erteile, möchte ich von Ihnen eine Zustimmung einholen. Die Damen und Herren Antragsteller haben, wie sich das für ein ordentliches Beratungsverfahren gehört, einen Entschließungsantrag ausgearbeitet. Aber sie haben sich - das ist ein unordentliches Verfahren - so intensiv mit der Sache beschäftigt, daß sie übersehen haben, die Zustimmung ihrer jeweiligen Fraktionen einzuholen. Ich möchte sozusagen unter Umgehung des Rituals bei Ihnen vorab die Zustimmung einholen, daß ich Sie am Ende der Debatte frage, ob der vorgesehene Entschließungsantrag an den Innenausschuß überwiesen werden kann. Wenn diese Zustimmung vorliegt und die Verhandlungen in Niederdeutsch oder Platt geführt werden sollen, stellt die Verwaltung selbstverständlich sicher, daß Dolmetscher vorhanden sind. Unter dieser Prämisse werde ich den Antrag - mit Ihrer Zustimmung, wie ich hoffe - zur Abstimmung bringen.
Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Wolfgang Börnsen das Wort.
Verehrte Boos von uns Parlament! Leeve Fruunsliiiid und Mannslaild! Hebben de egenlich in Bonn nix anners to doon, as över Platt in Platt to snaken? Gifft dat nich wat, wat veel wichtiger is für uns Minschen, för Freeden, Seekerheit un Arbeit to sorgen? Ick glöv, dat dröppt to. Aver nich alleen. Ick finn, we hebb uns ok tun de Kulturängste von de Minschen to kiimmern.
({0})
Nee! Mehr as 50 000 Minschen twischen Glücksburg un Greifswald hebben in de letzten 15 Monaten
dür ehr Ünnerschrift fordert: Nedderdiiiitsch mutt in Deel III vun de Europacharta för Regional- un Minderheitenspraaken.
Un wiel mi dat een wichtige Anliegen nich nur för uns all, sonnern ok för de Regierung is, will ick dat noch mol op hochdüütsch seggen - dat geiht um de regionale Identität -: Die über 50 000 Bürgerinnen und Bürger unseres Landes befürchten, daß ihre Heimatsprache langfristig verlorengeht, daß Niederdeutsch für Kinder und Enkel keine Zukunft mehr hat, daß sie ein Stück Halt gebende Lebenssicherheit verlieren. Denn Moderspraak is: to Huus sien, een Barg von Seekerheit hebben, een Stück Heimat beholen.
({1})
Diese Besorgnis um den Verlust von regionaler Identität nimmt in einem größer und einheitlicher werdenden Europa zu. Die großen Sprachen wie Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch sind gesichert. Awer wat is mit de lütten? Mehr als 30 verschiedene Regionalsprachen werden in den 27 Europaratsstaaten gesprochen, eine farbige Vielfalt. Sie zu achten, zu sichern und zu fördern ist Absicht des Europarates.
Wir haben erkannt, welcher Sprengsatz in Minderheiten, auch nur sprachlicher Art, stecken kann, wenn nicht konfliktmindernde Maßnahmen ergriffen werden. So ist z. B. der Sprachenstreit zwischen Wallonen und Flamen bis heute nicht gänzlich ausgestanden.
Wir beobachten mit Besorgnis, daß die modernen Massenmedien, voran das Fernsehen, regionale Sprachinseln austrocknen, wir damit an Vielfalt verlieren.
({2})
Wir wissen, daß dieser Reichtum unseres Kontinents seine Kulturfarbigkeit ist. Sie ist schöpferisch, kreativ, anregend und kritikfördernd.
Die Europäische Sprachencharta will gleiches Recht für alle. Sie will dazu eine europarechtliche Absicherung der lütten, der kleinen Sprachen. Dat is good so, un wi schulln „ja" seggen darto.
Un dat is ok de Stäh, wo de Lüüd fünsch wurn sünd. Uns Butenminister - de Staatsminister is jo hier - hett secht: „Sorbisch un Dänisch, de will ik wohl bedenken för Deel III, awer mit Nedderdüütsch und Freesch, nee, dat kann nix warn."
De Freesen darbohm an de Nordseeküst sünn mit 7 000 Laid veel to wenig, und de Nedderdtititschen mit acht Millionen, nee, de sünn uns to veel.
({3})
Aber grundsätzlich - und nun kommt die Sprache der Diplomaten - sei er dafür, so schrieb er.
Grundsätzlich aufgeschlossen zeigen sich auch die sieben betroffenen Länder, in denen Niederdeutsch gesprochen wird, von Vorpommern bis hin zu Nordrhein-Westfalen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ferdi Tillmann aus dem Sauerland zu beantworten?
Gerne, Herr Präsident, wenn dat nich op mien Tiet angerechnet ward.
Heer Präsidente, draw iek an düser Stelle mol ne Tüskerfroge stellen? Iek denke, dat draw iek, und danke uch daför.
Laiwe Kollege Börnsen, könn Ey mey bestätigen, dat use Siuerländske Platt un äuk dat Münsterländske Platt en wichtigen Däil von der Niederduitsken Sproke sind un äuk säu viel weet sind, dat se unbedingt un op jäiden Fall in däin Däil drai van düeser Europacharta kummen maitet, un häw iek net recht, wenn iek op usen siuerländske Dichter Grimme verwaite, dai saggte: „Bai ehrlik Plattduisk kuiert, met diäm deil ik det leste Stück Braud."?
({0})
Ferdi, ick find, dat hest Du ganz fein mokt. Ick will ok seggen: Mit Di will ick ok mien letztes Stück Brot deeln
Aber richtig ist schon: Das münsterländische und auch das sauerländische Platt sind ganz kernige und urgesteinsartige Mundarten der großen niederdeutschen Sprache, die - das darf ich noch einmal sagen; der Präsident hat das vorhin ja auch deutlich gemacht - eine historisch gewachsene Einzelsprache und eben kein Dialekt ist, auch wenn mancher aus Schwaben, Hessen, Sachsen oder Bayern vielleicht sagt: Na ja, eigentlich gehören wir auch hierhin.
({0})
Die Abgeordnete Frau Blank hat ebenfalls den Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Präsident, als Fränkin bin ich natürlich bemüht, dieser Debatte zu folgen. Ich habe, nachdem ich sie bisher sprachlich und inhaltlich verstanden habe, die Bitte, daß auch die Zwischenfragen in Hochdeutsch gestellt werden, damit auch ich der Debatte folgen kann. Denn sonst gibt es Schwierigkeiten. Den Kollegen Börnsen verstehe ich gerade noch, aber das Niederdeutsch des Kollegen Tillmann war schwer zu verstehen. Vielleicht geht es anderen Kollegen ebenso.
Frau Abgeordnete, zunächst einmal wird der Abgeordnete Börnsen antworten, vermutlich in Hochdeutsch. Im übrigen: Wie ich den Abgeordneten Ferdi Tillmann kenne, stellt er sich gerne als Dolmetscher zur Verfügung.
Herr Abgeordneter Börnsen.
Obwohl unsere Kollegin aus Franken kommt, finde ich es ganz toll, daß sie sagt, ich möchte dabeisein. Das ist auch nicht selbstverständlich.
({0})
Unser Kollege Ferdi Tillmann hat in seinem Platt gefragt, ob es nicht richtig ist, auch das sauerländische und münsteraner Platt im Rahmen dieser Sprachencharta europarechtlich abzusichern. Da kann ich
Ihnen nur zustimmen, weil beide Teile Mundarten der großen plattdeutschen Sprache sind. Das ist, wie gesagt, eben kein Dialekt, sondern eine historisch gewachsene Einzelsprache.
Ich möchte gerne fortfahren und darauf aufmerksam machen, daß es vor allem die Furcht vor zusätzlichen Finanzmitteln war, die auch die Bundesländer ein bißchen haben zögern und zaudern lassen. Die Bundesregierung selbst hatte lange Zeit auch sehr viel Verständnis dafür. Aber gerade weil man sich zurückgehalten hat, wurden die plattdeutsch Sprechenden so richtig grimmig, grantig, gräsig und kamen richtig in die Puschen. Denn 50 000 Unterschriften, das ist schon etwas. De hebben ok secht: Düvel man ook, uns Spraak dörf nich kopfheister Bahn.
Viele verkennen bei uns, daß wir eine Renaissance der Regionalsprachen erleben, und zwar in ganz Europa. Niederdeutsch gehört dazu. In der Hansezeit war das Niederdeutsche nebenbei die größte Handels-, Amts- und Arbeitssprache im gesamten nordeuropäischen Raum. Von dieser Weltsprache hat sich das Niederdeutsche in Norddeutschland weitgehend zu einer Zweitsprache zurückentwickelt.
8 Millionen Menschen sprechen es noch, aber, wie gesagt, Niederdeutsch ist eine eigenständige Sprache mit vielen Mundarten - Ferdi Tillmann hat das ja eben beispielhaft gezeigt -: De een snaken, de annern praan, de drütten küren oder kadadöten sogor.
({1})
Das Niederdeutsche ist vor allen Dingen in der Nachkriegszeit mit den vielen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen zu einer Zweitsprache geworden. Es ist dazu gekommen, daß das Hochdeutsche Vorrang bekam. Aber das andere ist parallel weitergelaufen.
Menschen, die mehrsprachig aufwachsen, sind nachgewiesenermaßen viel eher bereit, noch weitere Sprachen zu lernen. Mehrsprachigkeit ist eine Voraussetzung für internationales Denken, wichtig für Verständigung und Verständnis. Sie macht aufgeschlossen für andere Kulturen und deren Besonderheiten. Sprachenvielfalt ist wichtiger Ausgangspunkt für ein Europa, in dem Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit nicht länger auf dem Vormarsch sein sollen.
({2})
Un een, de plattdüütsch snaken kann, is nu lang keen Döösbaddel.
({3})
Doch - das will ich kritisch anmerken - Minderheiten- und Regionalsprachen können auch Anderssprachige ausgrenzen. Und wenn sie zusätzlich ideologisiert werden, radikalisieren sie die Menschen und entfremden sie. Auch setzen sie ihre Zukunft aufs Spiel, wenn allein auf das Originelle, Romantische, Museale Wert gelegt wird, wenn man bei Herz und Schmerz, Gemüt und Großvaterflair bleibt und nicht bereit ist, Phantasie und Kreativität zu beweisen, Lebendigkeit für eine Sprache zu sichern.
Schließlich benötigt auch eine Regional- und Minderheitensprache Achtung und Anerkennung sowie eine institutionelle Begleitung, um so den sprachli17586
Wolfgang Börnsen ({4})
chen Wildwuchs, der mit der Zeit entsteht, einzudämmen. Darüber hinaus benötigt eine solche Sprache eine Förderung, die konsequent bei der jungen Generation beginnt und alle Kulturbereiche umfaßt.
Marks Müüs: Een Moderspraak, de nich mit de Tied geiht, verleert an Form, Format und Faszination.
Das Niederdeutsche - das hat der Staatsminister schon gesagt - ist ein Kulturgut ersten Ranges. Wenn jetzt - was sich bei der Macht der Medien abzeichnet - das Generationsstaffelholz an diese Fernsehgeneration nicht weitergegeben wird, geht auch ein Stück Kulturvielfalt in unserem Land verloren.
Unsere geschichtlichen Erfahrungen sollten uns davor bewahren, auf die verabsolutierende Gleichsetzung von Nationalstaat und Sprache zu setzen, die das 19. Jahrhundert prägte. Krieg, Chaos und Konflikte waren die Folge davon.
Minderheitensprachgruppen sind keine Fremdkörper, sondern eher eine kulturelle Bereicherung und Belebung. Diese Erfahrung machen wir - Hans Wiesen ist ja hier - täglich im Norden Schleswig-Holsteins, wo sich der dänische Bevölkerungsanteil aktiv am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben beteiligt.
Ein Europa der Regionen muß auch Raum für Sprachenvielfalt sichern.
({5})
In die Charta „On regional or minority languages in Europe" gehört auch die Regionalsprache Niederdeutsch. Mit Elan und anhaltender Energie haben seit Monaten Gilden und Folkloregruppen, Vereine und Verbände, das Institut für Niederdeutsche Sprache in Bremen, viele aufrechte Bürgerinnen und Bürger und Bünde um einen Platz für ihre Muttersprache in einem neuen Europa gestritten. Im Verband mit vielen engagierten Kollegen in Bonn haben sie letzten Endes Wirkung erzielt.
Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben jetzt mitgeteilt, daß die 35 erforderlichen Kriterien für die Anerkennung in ihren Bundesländern bereits erfüllt sind. Bremen prüft noch, Hamburg macht mit, wenn die Großen mitmachen. NRW sagt ja. Drei Antworten stehen noch aus.
Jetzt, Herr Staatsminister, muß die Bundesregierung Farbe bekennen.
({6})
Herr Abgeordneter Börnsen, der Abgeordnete Ferdi Tillmann aus dem Sauerland möchte noch einmal eine Tüskerfroge stellen.
Bitte.
Herr Präsident, draw iek düsse Froge up plattduitsk stellen, auk wenn meine kure Kollegin Blank dat beanstand' hätt? lek bin gerne bereit, ehr dat to übersetten. - Iek sai un höre kainen Widerspruch. Dorum darf iek op platt frogen.
Kollege Börnsen, bo Ey gerade van der Regierunge spreket, also van Bonn kuiert: Is et net in Bonn auk säu, as use Dichter Grimme, däin iek all zitäirt hewwe, saggte - iek zitiere nu -:
Hy stieket Geld.
Bat Huiser, bat Huiser! bat Trappen derfüar! Doch fehlte an allen de Nyendüähr.
- Denken Sie an den Schürmann-Bau. Bat Lui, bat Luie! - do kriemelt de Stroten Van Affendaren un Affekoten,
Van Kackelaters und Registraters,
Van Richters und Schrywers und andern Pankraters;
Un alles sau fyne, sau stoots binoh,
As' wan ik des Sundags no'r Haumisse goh;"
Un maitet siek, Kollege Börnsen, düese „Schrywers un Pankraters" niu nit footens intensiv ümme düese quere Sake kümmern?
({0})
Ick dacht, Ferdi, du süllst dat noch översetten.
({0})
Ferdi Tillmann hat schon recht: Es geht jetzt darum, daß sich eben auch die Verwaltung, die Bürokraten, die Schreiber - das ist ernst gemeint - darum bemühen, dieser Forderung der großen niederdeutschen Gemeinde zu entsprechen. Dafür bin ich auch, und dafür sind die 90 Kollegen, die diese überfraktionelle Initiative unterstützen.
Ick finn, nu kann man de Knütt dörhaun. Dor bitt keen Muus de Faden of - ok de Regierung kömmt da nich an vorbie -: Nedderdüütsch hört in de Charta för de Spraaken.
Danke.
({1})
Nun hat der Abgeordnete Carl Ewen das Wort.
Hooggeachte Präsident! Leve Leden van dit Hoge Huus! Wi proten - un ick hör to de Proters, obwohl dat allwedder gefährlich is, wenn man dat seggen deit; denn een Proter in Nedderdütsk is een, der rundum snaden deit, der keen Ehrlichkeit hett - vandaag over de Antwoord, de de Regeren uns mit Schrieven von d' 4. November 1993 to weten geven hett. Mennigeen, de dat lesen hett un sien of hör Verstand daarbi neet in Huus laten hett, de is up 't Enn heel dörnanner: Up de een Kant seggt de Regeren, Nedderdütsk is keen Regional- of Minderheitenspraak, un'n paar Rieg wieder: „Die Eigenständigkeit wird anerkannt. "
Man daar kummt dat heel nich up an. Well nalesen deit, wat in de Präambel seggt word, denn heet dat daar in de darde Block, dat jede Minske dat Recht hett, in Huus, also privat, un ok daar, waar annern dat ok hören könnt, also öffentlich, sien Taal to proten. Dat steiht schreven in de Internationale Overeenkummst
over den Rechten van Börgers in den Vereente Nationen.
Wi proten so faak over „multikulturelle Vielfalt" . Wi sölen seker griechisch danzen, engelsk proten, an Spaßmakeree ut de Nederlanden uns Freid finnen, Wien ut Italien drinken of Aquavit ut Dänemark, un up dat Enn wunnern wi uns, wen uns de hele Budel spanisch vörkummen deit.
({0})
In de Präambel steiht in de seßde Block, dat Schuul un Hülp för den Spraken, de neet al Lü proten, en gode Bidrag is för den Gemeenskupp in Europa. Wolfgang Börnsen hett dat up hoogdütsk fein verklort, dann bruk ick dat nich to översetten. Daarum menen wi van de SPD mit all de annern Makers, de dat ünnerschreben hebben, dat Nedderdütsk in dat Kapitel III van de Charta hört. De Germanisten sühn sük eenig, dat Nedderdütsk en egen Spraak för sük is un keen Dialekt van't Hoogdütsk. Wenn dat anners weer, kennen de Stenographen dat man all so upschrieven, wat wi hier seggen, un brukten keen Hülp von uns. Denn wenn de Bayern hier proten, dat kannst mennigmaal ok bald nich verstahn, aber se meent alltid, dat is hoogdütsk
({1})
Wer noch an Karl Kisslinger denken deit oder an Schorsch Bamberg, de weet, dat wi dat mennigmaal nich verstohn hebbt.
({2})
Dat wem keen Franken, dat wern Bayern, Frau Blank.
Ich darf auf hochdeutsch einfügen: Finanzminister Swieter aus dem niedersächsischen Kabinett hat mitgeteilt, daß die Landesregierung die Förderung der niederdeutschen Sprache als einen wesentlichen Bestandteil der Literaturförderung betrachtet, aber auch der Förderung der Kultur und Heimatpflege. Dabei gilt die Losung: Platt, aber nicht flach.
Die niedersächsische Landesregierung hat die niederdeutsche Sprache verstärkt gefördert, so daß die verlangten 35 konkreten Voraussetzungen des Teils III der Charta bereits erfüllt sind. Sie strebt deshalb die Aufnahme des Niederdeutschen in diesen Teil an.
({3})
Der Minister führt an: Bei der „Ostfriesischen Landschaft" z. B. fördert das Land ein Pilotprojekt an Schulen. 25 ostfriesische Schulen aller Typen und Stufen sind hierbei vertreten. Außerdem wird das Niederdeutsche im Schulbereich im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften, Vorlesewettbewerben sowie in der Lehrerfortbildung gefördert. Die Herausgabe von niederdeutschen Wörterbüchern wird mit Forschungsmitteln unterstützt. An den Universitäten in Göttingen und Oldenburg wird Niederdeutsch gefördert, ebenso an den Einrichtungen der Erwachsenenbildung und durch die Aktivitäten der niederdeutschen Bühnen. Dem Institut für niederdeutsche Sprache in Bremen wächst bei der Entwicklung von länderübergreifenden Projekten eine zentrale Rolle zu.
Ik meen, dat is wichtig för uns, dat wi nich alleen stohnt.
({4})
Nu will ik seggen: De Regeren sull sük'n Stöt geven, nochmaal mit Neddersassen, Sleswig-Holsteen un all de armer Staaten proten. Un dann ran damit, geevt Jo 'n Stöt, mellt dat an för Kapitel III. Anners seggen de Lü noch: An disse Regeren kannst keen Farv an kriegen.
({5})
Das Wort hat nun die Abgeordnete Lisa Peters aus Buxtehude.
Herr Präsident! Min leeve Mannslüüd un Froonslüüd! Hüüt snackt wi platt, un ick will ok fast alles op platt seggen. Ick nehm an, Frau Blank, Se nehm mi dat nich ganz so üvel.
Wenn mi dat hüüt vör dree Johr einer vertelt har, dat ick noch mal de Gelegenheit har, in Düütschen Bundesdag so ganz offiziell platt snacken to können, un mi de Präsident ok noch offiziell dat Wurt erdeelt, denn har ick dacht, dat is jo gor nich möglich. Da har ick echt jede Wett gegen holn.
Nu is dat sowiet. De Bundesregierung het uns Grode Anfrog to de Sok von dat Plattdüütsche beantwurt. Un stellt Jo vör, uns so wichtigen Geschäftsführers - se speelen een ganz grode Rull hier in Bonn; hebb ick ja schnell markt ({0})
- jo, do mutt man sick god mit holn - hebbt uns sogor ganze dreeviertel Stunn geben, mihr nich. Deshalb mutt ick jetzt een beten schneller snacken.
Uns Kollegen un ok de Froonslüüd hier in Bundes-dag mutt ick dorümm um „mildernde Umständ" bitten - Frau Blank, dat hebb ick all extra don -, dat Ji mi viellicht nich immer verstohn. Ober dat is gor nich so slecht; denn dat, wat man nich verstohn deit, doför mutt man sick nich rechtfertigen. So is dat eenfach.
({1})
Plattdüütsch - oder Nedderdüütsch, wi dat so ganz offiziell heet - is mien Muttersprok. Ick denk meistens plattdüütsch, to Huus snackt wi platt. Un hier in Bonn muss ick mi dat nich mol afgewöhnen. Hier snack ick ok mit all de, de ick so kenn, platt.
Nu wür jo ganz schnell klor - dat hebbt einige vorher seggt -, dat se sick in de Europäische Gemeinschaft - hüüt heet dat jo EU - öber de Sproken ünnerholn harn, un se harm wat ganz Fastes afmokt. Se wulln de Regional- und Minderheitensproken besonders schützen. In März 1988 hätt de Ständige Konferenz de Europäische Charta för de Regional-und Minderheitensproken besloten. Dor heet dat in de Präambel, de Vörspann - dat mutt ick op hochdüütsch seggen, weil dat so scheun is; mol seihe, ob ick dat richtig afliest krieg -:
({2})
In Anbetracht dessen, daß das Recht der Bevölkerung, sich in ihrem privaten und gesellschaftli17588
chen Leben in ihren Regional- und Minderheitensprachen auszudrücken, ein unantastbares Recht in Übereinstimmung mit den in der Internationalen Vereinbarung der Vereinten Nationen über die bürgerlichen und politischen Rechte, in der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats sowie in der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa enthaltenen Grundsätze darstellt ...
Ich glaube, das ist wichtig für alle hochdeutsch Sprechenden. Carl Ewen har dat eben all erwähnt.
({3})
Mi dücht eenfach, beter kann man dat öberhaupt nich seggen. Dat mutt man nich unbedingt in Hochdüütsch öbersetten, hebb ick ober doon.
De Hochdüütschen, de hier im Sool sitt, de brukt öberhaupt keen Angst hebben, dat wi se irgendwie verdrängt. Deshalb könnt de Mannslüüd und de Froonslüüd, de in Sool sund - ober hüüt sind nich ganz so veel dovon hier -, ihren Dialekt ruhig wedder snacken. Un de ut de Freistooten könnt hier auch wedder ganz selbstbewußt sitten.
Uns Bundesregeerung wür sick tämlich schnell mit den Regeerungen ut Schleswig-Hulsteen und Brannenborg eenig: Friesisch, Dänisch und Sorbisch schull in de Charta, Deel III, anmellt warn. Ober Plattdüütsch? Nee. Is dat öberhaupt een Sprok?, hebbt se seggt. Hier müssen wi erst Bewiese söken, Frünn gewinnen un düchtig bohrn. Dat hebbt wi jo ok schafft.
Dat Godachten von Professor Menke seggt ganz klor, Plattdüütsch is een eegene Sprok. Dor bit keen Muus een Foden af. Dat is eenfach so.
({4})
8 bis 10 Millionen Minschen snackt platt. Dormit is dat 'n Regionalsprok, wi de Charta dat vörschrifft. Deshalb mutt uns Bundesregeerung nich op de Minnerheiten rumhaun. Dat is wat von güstern.
Mit uns Kollegen und Kolleginnen köm wi ok schnell to Putt. Ruckzuck harm wi de ganzen Ünnerschriften hebbt. Dormit stünn de Grode Anfrog. Een „Grode" müß dat schon ween, sonst harm wi hier hüüt nich doröber snacken kunnt. Een Lütte Anfrog, de wür all längst irgendwo in de Akten verschwunden.
({5})
In all de Bundeslänner, wo platt snackt ward, harm wi schnell Frünn funnen. Ok de Landdagsfrakschonen in de Flächenlänner hebbt uns düchtig Kolben. Se hebbt Andräg stellt, se hebbt ganz dumm frogt - ick frei mi, dat hier hüüt so veel ut de Länner sitt -, un se hebbt dat op denn Punkt bröcht. Un erst de eenfachen Lüüd öberall in Lann - dat is hier seggt worn -, de hebbt seggt: Plattdüütsch mutt blieben, un wi stoht dorto. Dat mutt erholn warn.
Se hebbt an de Ministerpräsidenten schreeben. Ick hebb mi seggen loten: Schröder in Hannober hett sick noch een por Waschkörb köpen muss, domit he öberhaupt de veelen Breef irgendwo opbewohrn kunnt. Sonst war he domit gor nich klorkömmt.
Doför möcht ick mi öberhaupt bedanken: bie de veelen Minschen, de uns eenfach schrieven hebbt.
({6})
Dat zeigt mol, dat disse Scheune, warme Sprok bi de Minschen in Norddüütschland een ganz Broten Wert hett.
Plattdüütsch, domit kannst fast allns seggen, wat du denkst. Du kannst de Minschen ganz schlecht beleidigen.
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- Is so. - Ok wenn du dat ganz düütlich seggst, denn is dat noch immer so. Un weil dat ok so blieven schull, deshalb meinen wi, dat „uns Sprok" in de Europäische Charta, Deel III, opnohm warn mutt. Do givt dat nix anners. Hier geiht dat nur noch grode ut, un do sund wi uns ok alle einig.
In Deel III hebbt se ganz veel rinschreben. Bestimmungen nennt se dat. 35 mußt du dorvon inholn - ick meen de Länner. Alle twee Johr möt se sick in Europarot melln, een richtigen Bericht afgeben, dormit dat ok alles nich vergeten ward.
Mien Heimatland Nedersachsen kann dat, seggt uns toständige Ministerin. Un Heide Simonis - dat is all seggt worn - in Hulsteen hett ok all afnickt un will tostimmen. De Bürgermeister in Hamborg meent, he kann dor nich so ganz mitholn. 31 Punkte, de kriegt he ok tosamen. Ober - so hett he seggt; mien Vörredner hett dat ok all seggt - wenn de Flächenstooten dat meent, dann mokt wi dat mit.
Frau Abgeordnete Peters, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage. Sind Sie bereit, diese zu beantworten?
Ja, wenn se ut Mecklenburg-Vorpommern kommt.
Ick heff hüüt morgen extra miene Heimatfarben antreckt: witt un blau.
Leeve Kollegin, man künnt in dat Nedderdüütsche so manches seggen, wat man in dat Hochdüütsche nich seggen kann. Da gevt dat 'n beten wat in dat Negative. Awer nu fräg ick Se, ob Se mi dor tostimmen könnt: Mien lütten, seuten Schietbüddel, dat is sowat Seutes, und dat künnst nich op hochdeutsch seggen, awer dat künnst als grode Leivesbezeugung för den Allerleevsten seggen. Stimmen Se mi dor to?
Dor kann ick ganz un gor tostimmen. Ober ob ick dat hüüt to Herrn Schäfer seggen würd, dat würd ick mi noch mol öberleggen. Dor mutt he uns erst noch wat anners seggen.
({0})
Auch der Abgeordnete Manfred Richter aus Bremerhaven möchte noch eine Zwischenfrage stellen.
Ja, de Bremer mööt sick ok noch mol melln.
Frau Peters, könnt Se mi tostimmen, dat dat so is, dat een in
Manfred Richter ({0})
Norddüütschland Plattdüütsch eenfach brukt un dat dat düütlich ward an de lütte Geschicht von de dree olln Lüüd, de am Sündag vor de Kark sitt, as dat Auto vorfährt mit'n Hamburger Kennzeichen un de Frog stellt ward: Können Sie mir sagen, wo es hier nach Itzehoe geht? De seggt nix. Un da seggt de Fahrer: Excuse me, can you tell me the way to Itzhoe? De seggt nix. Un da seggt de Fahrer: Excusez, la direction pour Itzehoe, s'il vous plaît? Un de seggt nix.
Na, de gevt Gas un föhrt. Viertelstünn loter seggt de een to de annern: Dat wass 'n klooken Kerl, de konnt dree Sproken. Da seggt de anner: Un wat hett 'm dat nützt?
({1})
Herr Richter, un die Frog wür, ob ick ok meenen do, dat wi dor, wo wi wohnen deit, nämlich in Bremerhoben un in Buxtehude, ohne Plattdüütsch gor nich utkommen. Dat mein ick. Dat kann ick noch all in de Antwort mit ringeben; ick konnt dat nich mit opschreben, sonst wür dat to lang worden.
Ick bün seit 20 Johrn in de Kommunalpolitik un ok in de Personalausschüsse. Dor hett sick mol rumsnackt: Im Kreis Stade und in der Stadt Buxtehude kannst Du Dich nur bewerben, wenn Du Plattdeutsch kannst; danach fragt Lisa Peters immer. Ick will nur, dat de Lüüd, de wi bi uns in de Gemeinde, in de Stadt und in Kreis anstellt, nich ins Ungewisse loopt. Deshalb is dat ganz richtig, dat se dat mindestens verstohn deit.
({0})
De Bundesregeerung hett jo ihr Interesse bekundt und hett dor ok grod mitwirkt. Se hett ganz klor seggt:
Die Bundesregierung hat an der Ausarbeitung der Charta im Interesse ihrer Bemühungen um die Wahrung des europäischen kulturellen Erbes und eines wirksamen Menschenrechts- und Minderheitenschutzes im Rahmen des Europarates aktiv mitgewirkt.
So wiet, so god.
Mi dücht - un dat dücht uns sicher alln -, jetzt schall se man kräftig wieter mitwirken, Herr Schäfer, un ok uns Regionalsprok Plattdüütsch mit anmelln, wenn se Sorbisch, Friesisch und Dänisch anmellt - för Deel III. Wat anners gifft dat öberhaupt nich.
({1})
Sonst möt wi dat Utwärtige Amt oder den Binnenminister - dor schull dat jo nu hinkommen, hebbt Börnsen mi seggt - noch mol angeihn. Denn möt wi dor noch mol optreten mit de 10 Millionen Minschen un ton grode Demonstraschon opmarschieren - richtig friedlich, versteiht sick. Ich glöv, de Ünnerstützung kriegt wi. Dor komm so veel Lüüd nach Bonn, de hebbt Ji hier noch gor nich seihn.
Wi möt nu eenfach wedder plattdüütsch snacken. Dor hebbt alle een Anspruch op. In de Grundschool mut dat möglich wern. Wer dat studeern will, de mut dat könn. Un op dat Rothus mutt man dat ok noch av und to snacken.
De Artikel VIII in de Charta beschäftigt sick mit de Zeitungen - dor boben sund hüüt jo fürchterlich veel Medien. Dor steiht ganz scheun in, dat de sick ok mol um uns kümmern schalln. Dat hett ok schon Carl Ewen - oder wür dat Börnsen - seggt. Se schüllt sick ok mol um uns kümmern un nicht nur limmer um de Groden. Dat se dat hüüt dot, dat is schon wichtig.
({2})
Wie möt dat allns ünnerstützen.
De rode Lamp is all wedder hier. Deshalb kann ick mi egentlich nur noch bedanken un dat annere eenfach vergeeten. Ick bedank mi ganz düütlich bi Börnsen, de as Ackergaul richtig scheun vörobgangen is, ober ok bi min Frakschon, wo de meisten jo Hochdüütsche sünd, de uns so positiv annomm hefft.
Ick wünsch mi - ick glöv, dat dörf ick hier seggen -, dat wi noch ganz veele Johrn plattdüütsch snacken könnt un Manfred Richter ünnen in Woterwark plattdüütsch singen künnt, dat möglichst 'n Masse dorhin kommt un tohört. Ick wünsch mi, dat Ji alle wedder mitmokt un allns ünnerstützt, wat wi in diese Richtung ünnernehmen. Ick glöv, dat dot wi för uns all.
Scheun Dank.
({3})
Voraussetzung, Frau Abgeordnete Peters, für diesen Ihren Wunsch ist ja, daß ich den Entschließungsantrag von Ihnen auch schriftlich bekomme, der das bewegen soll; denn sonst kann ich nachher nicht darüber abstimmen lassen.
({0})
- Dann bin ich beruhigt.
Dann erteile ich nunmehr dem Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei des Landes Schleswig-Holstein, Hans Wiesen, das Wort.
Minister Hans Wiesen ({1}): Leeve Herr Vörsitter! - Deit mi leed, aver bi us kennt wi in dat Plattdüütsche de Präsidenten nich so recht, deswegen is dat nur de Vörsitter nu. - Leeve Fruunslüüd un leeve Mannslüüd! „Wi mööten de Lüüd mehr up dat Muul kieken." Dat hett ja al Luther wußt, un de weer nich mal en Plattdüütschen. Mi dücht, wi schullt de Minschen ook de Gelegenheit geben, dat se in de Ämter und wo immer se sick äußern wüllt, ook in ihrer Heimatspraak, dat Plattdüütsche, sick uutdrücken könnt. Vor allen Dingen ook bi de Amtsstuben, bi de Amtsohrn schull disse Spraak ook nutzt waarn konnt. Se könnt uns denn wedder seggen, wat is ehr Möösahl un ehr Plaag, wat is ehr Freud un Wünsche, und se könnt us weder seggen, wat se wüllt.
Mi dücht, dat up dat Muul kieken un de Lüüd tohöm, dat deit wi alldaags nie genooch, und da könnt wi noch en bitten wat tooleggen. De plattdüütsche Spraak, de macht den Toogang to de Minschen lichter. Dat markt se vielleicht ook an de Atmosphär
Minister Hans Wiesen ({2})
von disse Diskussion hier. Dat is en fründlich Spraak.
({3})
Nu mocht ick mi hartlich bedanken för disse Gelegenheit, hier de Minderheetenspraaken to diskutieren un vorantobrengen. Un hölpt se met un sorgt se daför, dat wi nich nur dat Plattdüütsche und dat Däänsche, sondern ook dat Friesische, wat up ehren Spraak „Freesche" het, in de Charta kriecht, all drei Spraaken, un dat Sorbsche doto, in de Afdeelung III von de Charta. Dat is mi ganz wichtig.
({4})
Herr Minister, der Abgeordnete Koppelin möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit? - Bitte.
Leve Kollech Hans Wiesen, nun häv ik og en Frock an Se. - In SchleswigHolsteen is de Landesregierung jo bös achterran, dat wi de Gleichstellung von Mannslüt un von Frunslüt bekomt. Wat säch de Regierung dorto, da Kollech Börnsen von Nedderdüütsch als „Moderspraak" schnackt hät? Vader is doch og wichti, wenn dat um uns Nedderdüütsch geiht.
({0})
Minister Hans Wiesen ({1}): Leve Herr Koppelin, wi geiht do bi de Gliekstellung in de Spraak al so wiet: Wenn ick als Burerminister mal dat Word „de Strohballen" nimm, denn seeg ick glieks doto „de Strohballerina", dat dat son bitten uutwogen is.
({2})
Denn hebbt wi nokieken in Schleswig-Holstein. Un ick freu mi - de Wolfgang Börnsen het dat al erwähnt -, dat wi all de 35 Punkte, die erfüllt wärn mööt för de Charta, Afdeelung III, in Schleswig-Holstein tosammen hebbt. Dat heißt, bi us kann dat losgoon. Ick bet de Bundsregierung ganz hartlich, denn den Wech ook fritomoaken. Dat wär ganz goot so.
„An Anfang weer dat Word." Dat steit ja all bi Johannis, Kap. een, Vers een. Un dit Word, dat weer ja mit Sicherheit nich nur in Hochdüütsch gsprooken, sondern ook in Plattdüütsch oder Sorbisch oder Freesch oder Dänisch. Un de Herr dor booben de het dat wiss annahmen. Un worum schöllt wi dat up de Erde nich? Denn mookt wi dat ook. Wi mögen unsere Landslüüd versikkern: Jüm könnt in jüms Tung in jams Ort us verklikkern, worum dat geihn soll. Dat will wi versickern. Mi dücht, dat is en goot Möchlichkeit, nu disse Tosammenarbeit ook ton Erfolch to bringen.
Vi ville vaere Dem yderst taknemmelig. - Dat weer Dänisch und hett: Wir wären Ihnen sehr dankbar.
Wees sü gödj än dou dat for Us. - Dat weer Freesch un hett: Bitte, tun Sie uns diesen Gefallen.
Ick dörf vellicht in disse Tosammenhang erinnern an dat Kopenhagener Protokoll, an die alte Landessatzung von Schleswig-Holstein - beide Dokumente aus dem Jahr 1949 -, an die Bonn/Kopenhagener Erklärung von 1955, nach denen bei uns im Grenzgebiet die Minderheitenfragen - das sagen viele, glaube ich, zu Recht - vorbildlich gelöst worden sind, auch einschließlich des Rechts auf die eigene Sprache, ob es Dänisch oder Friesisch oder Deutsch oder Plattdeutsch ist.
({3})
Das ist eine gute Grundlage zum Zusammenleben. Dat sali ook so blieven. Dat sall de dänischen un düütschspraakigen Lüüd gliekermaßen frommen.
Uns Freesen ahne Westküst - binnen- und butenlands - pleegt 'ne ole Traditschon; dat sund mannig, Wolfgang Börnsen, tein-, fofteinduusend Minschen. In de Ssentrum disser Traditschon steiht de Spraak. En olen Küssenschützer as ick, de weet: We nich will dieken, de mutt wieken. - Oversett in disse Saak heet dat vellicht: Tomindsten chartamäßig in Afdeelung III affedern, dat Freesche ook.
({4})
Dann geef dat vellicht ook son bitten sanftere Strietkultur in de Bundestag, Herr Präsident, wenn da öfter maal ne plattdüütsche Diskussion maakt ward.
In min Brotberuf as Buernminister mit Tooständigkeiten för de Verbruukers, de Forsten un de Fischerie warr ick dag för dag op Platt anschreeben, ansprooken, midunder ook ansprungen: fründli, vergnöögt, fröhli, teils ook mal begehrli, in goode wi in harte Tiden.
Wat wöer dat schoin, dücht mi as Buernminister, wenn de ganzen komplizierten Regelungen von der EG un ook von de Bundesregierung op Platt översett warm schullen.
({5})
Dann gung dat riddig schoin liek un nich so kringelig dorto, dann kunn man dat ook beter verstohn. Dat wöer fiep so.
({6})
- Wi moakt ja nich so 'n kringeligen Krom.
Bilöftig: Da harr ick vergangene Week so 'n lütt 'Problem mit dem fröheren Kolleg Karl Eigen. Dat weer en ganz eegenortig Problem. Dat weer eegenortigerweise op hochdüütsch. Deswegen ist dat schiefgohn. Nu hett he avers mehr Tid. He is nu nich mehr Präsident. Nu ward he vellicht af un too maal wat too 'n Höögen läsen, up plattdüütsch. Denn, dücht mi, geiht dat wedder beter.
De Europäische Charta, Afdeelung III, mutt jedenfalls dringli optaakelt warm am de kloren, de verständlichen un de fründlichen Spraaken vun de Menschen, de in uns' Land wohnen und leven. Un dat is eben dat Dänische, dat Friesische un dat Platt oder Neederdüütsche. Jedenfalls ut de Sicht von Schleswig-Holstein schull dat so warm.
Minister Hans Wiesen ({7})
Dann hoop wi ook, dat dat ook vun de jüngere Generation wedder sprooken ward, ick segg mal, egal ob in de School, in de Amtsstube, in de Kark - in de Kroog sowieso. Mi dücht, dann hebt wi wat för unser Lüüd doon, ook so 'n bet 'n wat för dat Hart, wat do am lichtesten Millen doot, wenn de Minschen sick in ehr Mudderspraak unnerhollen kunnen. Denn föhlt se sick wohl. Dat is de wichtigste Opdrag, den wi all tohoop hebben.
Ick bedank mi, dat Se so artig toohört hebbt.
({8})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Angela Stachowa.
Waženy knjes prezident! Česćeni přitomnii! Nažel njeje w našej skupince žadyn zapóslanc, kiž wobknj eži tutu rjanu, dotal hiio nimale hodžinu slyšanu rěe hike rjenšeje kónčiny Němskeje.
Njedriwojcy toho chcu so tola wuprejić ke predležacym Wulkim naprašowanju.
Jedna so tu tola wo rée, we kotrej z nam spisowaćelj o kae Klaus Groth, Friedrich Wilhelm Grimme a njezapomnity Fritz Reuter swoje wumiłske twórby darichu. A rée, kotraž méješe za eas Hanse najwietši wuznam, nic jenož ale tež jako nošer kultury.
Meine Damen und Herren, heute wird hier im Bundestag plattdeutsch gesprochen. Ich habe mir allerdings erlaubt, Ihnen diese meine eigene Minderheitensprache vorzustellen. Dabei bin ich mir sicher, daß nur ein Bruchteil der Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine der Sprachen, die hier gesprochen wurden, vollständig versteht.
Sollte es Usus werden, daß jedes Mitglied des Deutschen Bundestages in den Plenarsitzungen in seiner Regional- bzw. Minderheitensprache oder in anderen Sprachen als der üblichen Amtssprache auftritt, dann werden unsere Sitzungen sicherlich farbenfroher, kurzweiliger, lebendiger, aber auch noch erheblich länger.
Meine Damen und Herren, „die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache", hat Wilhelm von Humboldt einmal geäußert. Jede Sprache verbindet Menschen miteinander, birgt in sich Geschichte, Traditionen und ist Teil der gesamten Kultur, ob in Europa oder der ganzen Welt. Schon allein aus diesem Grunde müßten jede Sprache und auch jeder Dialekt Schutz und möglichst breite Förderung erfahren.
Jedes Verschwinden einer Sprache betrachte ich als einen Schritt auf dem Wege der kulturellen Verarmung der Völker.
({0})
Natürlich können Sprachen nicht per Gesetz und auch nicht künstlich erhalten werden, aber ein zu leichtfertiger Umgang mit noch vorhandenen Sprachen und Dialekten beschleunigt nur ihren Verfall.
Die seit dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen internationalen Instrumentarien haben auf dem Gebiet der Menschenrechte und damit auch für nationale Minderheiten und Volksgruppen viel Positives gebracht. Wenigstens in der Theorie; denn die praktische Verwirklichung der überaus zahlreichen unverbindlichen Erklärungen blieb oft aus. Übrig blieben viele internationale Deklarationen.
Die vorliegende Charta bietet erneut die Möglichkeit, auf einem ganz bestimmten Gebiet der Menschenrechte einen Schritt weiter zu gehen, aber eben nur die Möglichkeit. Die Arbeit zur Durchsetzung dieser Charta liegt im Inneren eines jeden Staates, in der Umsetzung von Prinzipien in eine entsprechende Gesetzgebung und in dem Willen, Regional- und Minderheitensprachen nicht nur gegen Diskriminierung zu verteidigen, sondern auch tatsächlich zu schützen und zu fördern.
Bund und Länder sollten hier Hand in Hand wirken, von der ideellen bis hin zur finanziellen Förderung. Dabei geht es nicht nur um die sogenannten anerkannten Regional- und Minderheitensprachen Dänisch, Sorbisch und - davon gehe ich aus - auch Friesisch, sondern um die gesamte Vielfalt der deutschen Sprache und Kultur. Es geht hier um unsere Geschichte und unsere Gegenwart, um unser Verhältnis zur kulturellen Vielfalt und zum europäischen Kulturleben. Ein zu engstirniges Herangehen ist in diesen Fragen fehl am Platze.
Ich persönlich befürworte die Zuordnung der niederdeutschen Sprache zum Teil II der Charta der Regional- und Minderheitensprachen, denn auch seriöse Sprachwissenschaftler sprechen dem Niederdeutschen eine besondere Stellung zu. Ich würde mir aber zugleich wünschen, daß Bundesregierung und Landesregierungen generell dem Erhalt und dem Schutz der Dialekte der deutschen Sprache - ungeachtet internationaler Abkommen - größte Aufmerksamkeit widmen.
Zum Abschluß noch eine Bemerkung. Bisher hat - wie in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage festgestellt wird - noch kein Unterzeichnerstaat diese Charta ratifiziert. Ich hoffe, dies möge kein Grund für die Bundesregierung sein, die Ratifizierung in Deutschland unnötig lange hinauszuzögern.
({1})
Vieles muß zwar gründlich vorbereitet und in nationale Gesetzgebung transformiert werden; aber ich glaube, es stände der Bundesregierung gut zu Gesicht, wenigstens in diesem Fall als leuchtendes Vorbild voranzugehen und sehr bald den Ratifizierungsprozeß in die Wege zu leiten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Klaus-Dieter Feige das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich meinen Redebeitrag jetzt nicht
in unserer so wohlklingenden niederdeutschen Sprache halte,
({0})
so werten Sie das bitte nicht als Mißachtung dieser Debatte. Aber es ist nichts schlimmer, als wenn einer so tut, als ob er es kann und das gar nicht beherrscht.
({1})
Ich sehe meine Unfähigkeit in diesem Sinne sogar ausdrücklich als ein Argument dafür, dem Anliegen der 90 Abgeordneten des Bundestages zu entsprechen und die plattdeutsche Sprache in den Teil III der „Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen" zu übernehmen.
({2})
In der ehemaligen DDR gab es nur unzureichende Möglichkeiten, die niederdeutsche Sprache aktiv zu erlernen. Diese Chance hatten aber offensichtlich auch in den alten Bundesländern nur wenige jüngere Menschen. Und nur weil mich die Neugier trieb, die Menschen im Norden Deutschlands zu begreifen, die schon vor der DDR-Gründung bei uns gelebt haben und wußten, wie es früher einmal bei uns war, bin ich heute zumindest in der Lage, die niederdeutsche Sprache wenigstens weitgehend in Wort und Schrift zu verstehen. So ist das Anliegen, bedrohte Sprachen vor dem Aussterben zu bewahren, für mich nicht weniger als das Bewahren von Geschichte, gemeinsamer Geschichte eines zusammengehörenden Norddeutschlands.
Vielleicht liegen hier auch die Ursachen für die weitgehende „offizielle" Vernachlässigung dieses Kulturgutes durch die ehemalige Staatsführung in der DDR; diese Erinnerung paßte nicht gut zur deutschdeutschen Zweistaatlichkeit. Andererseits hatte man sich wohl auch im vorwendlichen Niedersachsen und Schleswig-Holstein irgendwie damit abgefunden, daß es zwei niederdeutsche Regionen gibt - aber heute einmal Schwamm darüber! Wichtig ist in diesem Sinne wohl nur, daß sich aus zwei unterkritischen Massen endlich wieder ein gemeinsamer Sprachraum herausgebildet hat, in dem die Chance besteht, den Untergang einer der bedeutendsten mitteleuropäischen Sprachen zu verhindern.
({3})
Aber weit ab davon sind wir wahrlich nicht mehr.
Es stimmt, die Umsetzung der Charta kostet auch Geld. Das kostet die Korrektur von Fehlern in der Vergangenheit immer. Doch wenn wir nicht Vollstrecker dieser historischen Fehler sein wollen, dann gehört die niederdeutsche Sprache ohne Wenn und Aber in die Gruppe von Regionalsprachen des Teiles III der Europäischen Charta. Andernfalls verdrängen wir ein wichtiges Kapitel norddeutscher Geschichte aus dem Bewußtsein der Bevölkerung.
In Mecklenburg-Vorpommern ist das Plattdeutsche heute vor allem noch bei den älteren Menschen in der Landwirtschaft lebendig geblieben. Auch bei den Fischern und Werftarbeitern an der Küste ist Platt gebräuchlich. Gerade von den Werftarbeitern in Warnemünde habe ich gelernt, daß Niederdeutsch auch sehr viel mit Demokratie zu tun hat. Und ich glaube, manch einer von ihnen hat im Herbst 1989 auch an die Worte Fritz Reuters nach durchstandener Festungshaft aus „Ut mine Festungstid" gedacht:
Äwer Du büst fri! Du kannst Bahn, wohen Du willst! De Welt steiht Di apen! - Jä, äwer wecke Weg is de rechte?
({4})
Ich glaube, dieses Bewußtsein war in den Köpfen der Menschen wichtig, um sich in Norddeutschland die Demokratie zurückzuholen.
Aber, meine Damen und Herren, das Niederdeutsche leistet auch einen guten Beitrag zur Überwindung von Politikverdrossenheit. Ich entdeckte in einem Gedicht von Rudolf Tarnow einen interessanten Beitrag. Tarnow, der 1867 in meiner Geburtsstadt Parchim - oder, wie man bei uns sagt, Pütt - zur Welt kam, kommentierte den damaligen Reichstagswahlkampf mit folgenden Worten:
Dor rädte körtens einer mal
In Klütz ok tau de Reichsdagwahl Un jedwerein von nah un fiern Güng hen, de Räd sick antauhürn.
Das waren noch Zeiten, meine Damen und Herren:
({5})
Stellen Sie sich vor, es ist Wahlkampf, Sie reden plattdeutsch, und alle kommen hin. Spätestens jetzt müßte auch dem letzen Kollegen in unserem Plenum hier klar sein: Ein Europa der Regionen ohne die niederdeutsche Sprache ist mit uns nicht zu machen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit - und tschüß.
({6})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Heinz-Günter Bargfrede.
Herr Präsident! Leve Froonslüüd! Leve Mannslüüd! Ick bin de letzte Redner
({0})
- kummt noch eener? Oh, Entschuldigung - un kann faststellen: Wi sünd us hier vendag all tohoop ennich. Ick hey ennige Passagen eben so mitkregen. En Utenstehende kuhn den Endruck hämm, dat is hier mehr en Schovernack und dat wör nich iernst gement. Ick mein, disse Indruck dröff nich entstohn. Mit de Charta is us dat iernst. Deshalb will ick ook ruhig ennige Sätze hier in hoochdüütsch seggen.
Weshalb setzen wir uns eigentlich über alle Parteigrenzen hinweg für die Förderung der plattdeutschen Sprache ein? Ich meine, jeder von uns tut das, weil er ganz persönlich empfindet, Plattdeutsch ist für ihn ein Stück Heimat, und Plattdeutsch führt die Menschen bei uns in der Heimat zusammen. Wenn man Plattdeutsch spricht, fühlt man sich ganz anders miteinander verbunden.
Weil Plattdeutsch verbindet und zusammenführt, gibt es bei uns auf dem Lande auch immer mehr plattdeutsche Vereine und plattdeutsche Theateraufführungen. Und die plattdeutschen Theateraufführungen sind alle bis auf den letzten Platz besetzt.
Weil Plattdeutsch zusammenführt und verbindet, gibt es bei uns auch immer mehr plattdeutsche Gottesdienste. Es gibt eine Arbeitsgemeinschaft plattdeutschsprechender Pastoren. Es gibt ein plattdeutsches Liederbuch. Un de plattdeutschen Gottesdienste sünd veel betet besökt bi us up'm Lande as de hoochdüütschen.
Weil Plattdeutsch zusammenführt und verbindet, sind auch auf Plattdeutsch geführte politische Veranstaltungen ganz anders. Da gibt es keine Spur von Politikverdrossenheit, sondern da wird im Geiste gegenseitiger Achtung und gegenseitiger Anerkennung diskutiert. Un wenn ick mit mienem SPD- Kollegen Carl Ewen schnacken do auf plattdüütsch, denn is dat för mi jedesmol en ganz prima Kerl. Dat is hi sowieso, over denn noch veel mehr.
({1})
Weil Plattdeutsch verbindet und zusammenführt, ist es so großartig, daß wir jetzt nach der Wie dervereinigung mit Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zwei weitere Länder haben, in denen Plattdeutsch gesprochen wird.
({2})
So ist Plattdeutsch ein ganz wichtiges Stück Gemeinsamkeit im wiedervereinigten Deutschland.
Ich habe das ganz deutlich am 3. Oktober 1990 bei einer Festveranstaltung in Güstrow im Ernst-BarlachTheater gespürt. Da war ich als stellvertretender Landrat und habe die Partnerschaftsurkunden ausgetauscht und auch von der Arbeit unserer FreudenthalGesellschaft erzählt, die jedes Jahr einen Literaturpreis für niederdeutsche Sprache ausschreibt. 1990 waren zum ersten Mal ganz viele Einsendungen aus Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt dabei. Und fast alle diese Einsendungen haben sich mit der Zeit der Wende befaßt, mit der friedlichen Revolution. Die Freudenthal-Gesellschaft hat dann auch ein Buch herausgegeben „De Talglicht-Revoluschon", das hervorragend angekommen ist.
Bei den Vorlesungen ist dann etwas sehr deutlich geworden, und das habe ich damals im ErnstBarlach-Theater gesagt, un dat segg ick fetz mol up Plattdüütsch: „Be de Vorlesungen is düütlich worm, dat Platt in Mecklenburg un in Güstrow ungefihr genau sou is wie unser Rodenborger Platt. Sou'n Platt wie in Güstrow verstoot wi in Rodenborg fehl beter as dat Platt von de Lüüd in Wilhelmshoben oder Emden, obwohl dat ook Nedersassen sünd." Bis dahin war das eine ziemlich förmliche und steife Festveranstaltung.
Aber diese wenigen plattdeutschen Sätze haben das Eis gebrochen. Es gab riesigen Beifall, und dadurch wurde das ein richtiges Fest der Einheit.
Deshalb ist es so wunderbar, daß wir jetzt in Deutschland, so z. B. in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, auch Plattdeutsch sprechen. Es ist ein Stück Zusammengehörigkeitsgefühl in Deutschland.
Deshalb is dat so wichtig, dat ook Plattdüütsch schnackt ward: de Schleswig-Holsteiner mit de Mecklenburger und de Nedersassen mit de Sassen-Anhaltiner. Deshalb is dat ook wichtig, dat unsere Kinner Plattdüütsch schnackt, un unsere Enkel und ook unsere Urenkel schüllt noch Plattdüütsch schnacken. Und domit se dat dout, müüt wi j etz in die Charta rin, in den Deel III. Un daför loat us gemeinsam kämpfen. Un wenn wi all tohocp holt, denn schafft wi dat ook.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Janzen.
Herr Präsident! Mine Damen und Herren! Dat letzte Wort het hüüt eich de Regierung, dat letzte Wort hey ick hier.
({0})
Kort vör Wihnachten hemm wi hier tosammensiäten un uns över de Kultur in de rügen Länder unterholn. Un wenn wi uns hüüt mit de plattdüütsche Sprak befaten, dann is dat glik to Beginn von dat nige Johr schon werrer een Bidrag von uns Parlament för de Kultur. Und dat holl ick tonächst eenmal för sehr wichtig.
({1})
Leider licht de Mangel totid noch dorin, dat disse Utspraken immer irst dann tostann kommen, wenn groote Anfragen stellt worm sind. Dat kann und möt in de Tokunft anners warm.
Ik stamm ut Vörpommern, dat is eene Region, wo dat Plattdüütsche noch deep Wördeln hett. Dennoch hemm wie ok dor de Gefohr von eene schliekende Verarmung von disse Sprak. Mine Großöllem spraken limmer, mine Öllern noch häufig Platt. Mine Kinner verstahn de Sprak dorgegen bloß ingeschränkt. Besonners upn Lann bi uns und bi de Fischer ward de nederdüütsche Sprak limmer noch benutzt. Wichtig för dat Överlewen von dat Plattdüütsche sind bi uns ook de Theater. Wie hemm in Stralsund eene „plattdüütsch Späldäl" : Dat sünd Amatöre, de as Institution schon över söbentig Johr existiert und limmer noch utverköfte Vörstellungen uptowiesen hem.
Wägen de Wichtigkeit, de nederdüütsche Sprak as Kulturgaut to erhallen, mücht ick unsere Landesregierung in Schwerin von hier ut upförrern, den Andrag für de Upnahm von de nederdüütsche Sprak in den Deil III von de europäische Charta besonners to unnerstützen un dormit uck een entspräkendes
Signal, dat jetzt von de Bundesregierung utgahn is, uptogriepen.
({2})
In allen Diskussionen över Kultur spälen immer werrer de Kosten eene herutragende Rull. Ick häv den Indruck, dat de bether zögerliche Haltung von de Regierungsstellen bi Bund und Länner uck werrer dissen Gedankenhinnergrund hätt. Deshalb hier noch een Vergliek: Mit väl - Engagement und uck berechtigt - kämpfen Naturschützer um den Erholt utstarbender Planten un Tiere. Uck bi uns an de Küst givt dat sonn Bemeugen un unsere Landesregierung unnerstützt dat ook, sogor wenn Kosten dor sind. Dat is good so!
Soll dor öber nich ook de utstarbende nederdüütsche Sprak den glieken Wert hemm wie de Gesang von seltenen Vöögeln, de dat to schützen gelt?
({3})
Ick glöv nich, ob sich jemand firnen ward, de mi hier werrerspreken künnt.
Ich dank för dat Tauhuren.
({4})
Meine Damen und Herren, wir sind jetzt am Ende der Aussprache. Eine prompte Verwaltung hat dafür gesorgt, daß der eben angekündigte Entschließungsantrag inzwischen eine Drucksachennummer, nämlich 12/6579, hat. Ich will ihn kurz vorlesen:
Die Bundesregierung wird aufgefordert, Rahmen der Ratifizierung der europäischen Charta für regionale und Minderheitensprachen neben der beabsichtigten Benennung von Sorbisch, Dänisch und Friesisch auch die niederdeutsche Sprache für Teil III der Charta zu nennen.
Es wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag an den Innenausschuß zu überweisen. Ich nehme an, die niederdeutsche Übersetzung wird nachgeliefert. - Wenn das Haus damit einverstanden ist, dann darf ich den Überweisungsvorschlag als beschlossen feststellen.
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
ZP6 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({0}), Renate Blank, Dr. Dionys Jobst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Binnenschiffahrtsaufgabengesetzes
- Drucksache 12/6381 - ({1})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({2})
- Drucksache 12/6571 Berichterstattung: Abgeordneter Carl Ewen
Er liegt Ihnen auf Drucksachen 12/6381 und 12/6571 vor. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir können also gleich zur Abstimmung kommen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, bitte ich um das Handzeichen. - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Entwurf ist in zweiter Lesung einstimmig angenommen worden.
Wer dem Gesetzentwurf in
dritter Beratung
zuzustimmen gedenkt, den bitte ich, sich vom Platz zu
erheben. - Dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste
Haltung der Bundesregierung zur Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr auf Einsätze bei inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland
Ich möchte die Aussprache eröffnen. Das Wort erteile ich der Abgeordneten Frau Andrea Lederer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor gut einem Jahr sprach Bundeskanzler Kohl vom „Staatsnotstand" im Zusammenhang mit den Zahlen asylsuchender Flüchtlinge. Wir haben damals gewarnt und gesagt: Wer einen solchen Begriff einführt, der wird auch entsprechende Maßnahmen treffen wollen.
Ein Jahr später bestätigt der Vorsitzende der CDU/ CSU-Fraktion diese düstere Prognose. Er tritt eine Debatte über den Einsatz der Bundeswehr im Innern los und nennt als Einsatzort u. a. die Grenze im Osten, als Einsatzziel die militärische Bekämpfung von Zuwanderungen. - Ich hätte es übrigens für angebracht gehalten, daß Herr Dr. Schäuble heute an dieser Aktuellen Stunde teilnimmt, um seine Position zu verteidigen.
({0})
Vor genau dieser Logik warnte Gregor Gysi in der fatalen Asyldebatte vom 26. Mai des letzten Jahres. Ich will ihn zitieren:
Aus der Erfahrung der DDR ergibt sich eine weitere Lehre, die zwingender Natur ist ... Wer Mauern an den Grenzen errichtet, egal, ob sie aus Infrarotstrahlen oder aus Beton bestehen, der wird auch die Bereitschaft zum Schießen aufbringen müssen, damit solche Mauern einen Sinn machen.
Genau diese Logik nimmt ihren Lauf mit der Forderung Schäubles nach Militarisierung der inneren Sicherheit - seine Art nachzudenken, wie er es zu nennen beliebt.
Herr Schäuble behauptet, keine andere Republik als diese hier zu wollen. Mit dem neuen Vorschlag und
auch mit den bereits durchgesetzten Verfassungsänderungen verändert er jedoch das Wesen dieser Republik nachhaltig, und zwar in den zentralen Fundamenten. Die Erfahrung zeigt: Wer lange genug bohrt, der kriegt auch die dicksten Löcher ins Grundgesetz. Zur Durchsetzung der Notstandsverfassung bedurfte es einer achtjährigen Diskussion, das Asylrecht konnte nach sechs Jahren faktisch abgeschafft werden, und Auslandseinsätze der Bundeswehr dürften wohl nach einem siebenjährigen Debattenvorlauf bald legitimiert werden.
Im heutigen Interview in der „Süddeutschen Zeitung" bekräftigt Herr Schäuble noch einmal mit Nachdruck seine Forderung - ich zitiere -:
Das Thema wird so lange auf der Tagesordnung bleiben,..., bis es in dem Sinne gelöst wird, den ich vorgeschlagen habe.
Machtpolitik par excellence! Ich glaube ihm, daß er dies vorhat. Ich kann nur hoffen, daß wir ihm eine seiner härtesten Niederlagen verschaffen können.
Die Regierungskoalition springt mit dem Grundgesetz um wie mit einer einfachen Verwaltungsanordnung. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes werden mit ihrem damaligen Verständnis von Demokratie, von Menschen- und Grundrechten angesichts der Politik der Regierung heute zu Verfassungsfeinden abgestempelt.
Herr Schäuble stimuliert mit solchen Forderungen dazu, militaristischer und autoritärer Phantasie freien Lauf zu lassen. Er will offenkundig die Stahlhelmfraktion in den Reihen der CDU/CSU wiederbeleben. Ein Beispiel war schon gestern der Beitrag von Herrn Hornhues in der Debatte um den NATO-Gipfel, in dem er von den Möglichkeiten anderer Armeen im Einsatz gegen Plünderer schwärmte. Viele befürchten, daß solche Fallbeispiele auch auf Einsätze gegen Demonstranten, gegen soziale Proteste in diesem Land ausgedehnt werden.
Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, zumal wir in der Person von Herrn Schäuble jemanden haben, der es nicht unterlassen kann, zum Neujahrswechsel neue drastische Sozialkürzungen anzukündigen. Auch ich befürchte, daß sich der Einsatz im Inneren nicht nur an den Grenzen betätigen wird. Das aber wäre keine Steigerung, es wäre eine ebensolche Katastrophe wie jeglicher Einsatz gegen Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland Zuflucht suchen.
Herr Schäuble spricht in dem erwähnten Interview in der „Süddeutschen Zeitung" von Überlegungen, was man angesichts des sozialen Gefälles in Europa, wo es womöglich sehr rasch „zu ungeheuren Entladungen" kommen könne, tun könne. Was hat Herr Schäuble vor? Was hat die CDU/CSU-Fraktion vor, die laut Herrn Schäuble keine abweichende Meinung in dieser Frage hat?
Schotten dicht, Schießbefehl an der Grenze, Überwachung, Repression gegen Protestierende im Innern?
({1})
Herr Schäuble will diese Republik, aber in einer zutiefst reaktionären Definition. Die Gestaltung dieser Republik in seinem Sinne führt zu einer komplett anderen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, zu einem autoritären Staat.
Mit dem Vorschlag von Herrn Schäuble ist ein neuer Stein ins Rollen gebracht. Wenn sich hier nicht alle unmißverständlich und ohne jegliche Einschränkung und Relativierung von den Absichten Herrn Schäubles öffentlich distanzieren, dann steht uns dieses Projekt ins Haus.
({2})
- Ich will Ihnen etwas sagen: Ich nenne gerade beispielsweise den Schießbefehl an der Grenze; das traf natürlich in der DDR zu. Der Unterschied ist nur folgender: Wir sind längst weg von solchen Ideen, und Sie bewegen sich gerade darauf zu.
({3})
Wer nur den geringsten Zweifel daran läßt, wer sich nicht unmißverständlich von solchen Überlegungen distanziert und wer sich nur darauf stützt, daß die Mehrheitsverhältnisse fehlen, nicht aber darauf, daß so etwas aus politischen, emanzipatorischen, moralischen und historischen Gründen nicht umgesetzt werden darf, der beteiligt sich an der geistigen Militarisierung der Innenpolitik.
In diesem Sinne hat sich der Bundeskanzler bereits mitschuldig gemacht, indem er nämlich geschwiegen hat.
Ich danke.
({4})
Herr Abgeordneter Breuer, den Ausspruch „Kollaborateur des Henkers" weise ich als unparlamentarisch zurück.
Ich erteile dem Abgeordneten Johannes Gerster das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon eine besondere Dreistigkeit, daß ausgerechnet die PDS, die letzte Nachhut des SED-Staates, an dessen Grenzen Menschen mit einer perfekten Todesmaschinerie kalt abgeknallt worden sind, es wagt, sich hier gegen Überlegungen aufzuspielen, wie in einem Rechtsstaat Grenzen gegen Kriminalität, gegen Schlepperunwesen und menschenverachtende Menschenverschleppung geschaffen werden sollen. Das ist schon unglaublich!
({0})
Dafür fehlt Ihnen jegliche moralische Berechtigung.
Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie sollten, nachdem die SED die Menschen in der früheren DDR ausgeplündert hat und die PDS hohe Kapitalien aus diesen Ausbeutermethoden besitzt, einen Hilfsfonds für die Angehörigen der über 400 an der Grenze
Johannes Gerster ({1})
erschossenen und umgebrachten Menschen einrichten.
({2})
Schaffen Sie einen Hilfsfonds und melden Sie sich dann in dieser Debatte zurück, aber nicht vorher!
({3})
Und wenn wir gerade bei den „Freundlichkeiten" sind, darf ich auch in Richtung SPD etwas sagen: Ich finde es schon schlimm, wenn Ihr Parteivorsitzender Scharping die Überlegungen, ob man die Bundeswehr etwa zur Sicherung von Grenzen einsetzen sollte, mit dem Franco-Regime und dessen Methoden in Verbindung bringt. Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß, nachdem in fast allen Rechtsstaaten, in Großbritannien, in den USA, in Östereich, in Holland, in Frankreich, die Armee natürlich zur Sicherung der inneren Sicherheit und Ordnung bei Katastrophen und anderen Dingen eingesetzt werden kann,
({4})
nachdem die Gendarmerie in Frankreich, die Carabinieri in Italien sogar Teil der Armee sind,
({5})
mit einem Bild wie „Franco-Methoden" alle westlichen Staaten beleidigt werden, daß Sie die Armeen von Großbritannien, Italien, Frankreich beleidigen?
({6})
- Sagen Sie das einmal Ihrem Herrn Scharping! Ist Ihnen eigentlich bewußt, daß Sie auch die Bundeswehr beleidigen, wenn Sie die Bundeswehr mit der Armee Spaniens zu Franco-Zeiten gleichsetzen?
({7})
Ich muß schon sagen, das war ein außenpolitischer Ausrutscher Ihres Parteivorsitzenden.
({8})
Wenn er sich auf internationalem Parkett bewegen soll, Vorsicht in bezug auf die Beleidigung befreundeter Staaten und ihrer Armeen! Halten Sie sich zurück! Das war kein guter Start.
({9})
Meine Damen, meine Herren, es gibt neue Probleme, die wir lösen müssen. Wir müssen uns vor allen Dingen an unseren östlichen Grenzen mit folgenden Dingen auseinandersetzen: erstens mit der nach wie vor erfolgenden illegalen Zuwanderung von Menschen aus wirtschaftlichen Gründen, zweitens mit der Bekämpfung der Schlepper- und Schleuserkriminalität und drittens mit der Bekämpfung der übrigen Erscheinungsformen der grenzüberschreitenden, häufig organisierten Kriminalität.
Wenn man bedenkt - und bitte merken Sie sich das, meine Damen, meine Herren von den Sozialdemokraten, sehr genau -, daß es gerade die SPDLänder sind, das Saarland, Bremen, Schleswig-Holstein, zum Teil Niedersachsen, die die Bereitschaftspolizei abgebaut haben, weswegen der Bundesgrenzschutz als Sicherheitsreserve zunehmend in den Ländern eingesetzt werden muß und für die Grenzsicherung fehlt,
({10})
dann ist es schon eine wichtige Frage, ob wir bei einer Bundeswehr mit 370 000 Mann nicht Wege suchen, um sie hilfsweise, und zwar genau mit rechtsstaatlichen Mitteln - das kann möglicherweise Gesetzesänderungen bedeuten -, einzusetzen, um Sicherheit herzustellen.
Das internationale Verbrechen, die internationale Kriminalität, internationale Banden gefährden natürlich ein ganzes Stück unserer Sicherheit. Da dies an der Gott sei Dank geöffneten Grenze zwischen Ost und West zu besonders gefährlichen Entwicklungen führt, müssen wir nach neuen Wegen suchen.
Natürlich wollen wir den grenzüberschreitenden Verkehr. Das hat also nichts mit Abschottung, sondern nur mit Überlegungen zu tun - und es ist richtig, daß sie angestellt werden, und sie müssen auch weiter betrieben werden -, ob wir in Zukunft angesichts eines vorhandenen Potentials an Sicherheitskräften und angesichts der Tatsache, daß im Polizeibereich 15 000 Stellen nicht besetzt sind und uns Polizei in der Tat fehlt, hier nicht eine Kombination möglich machen sollten, wie sie in den genannten Rechtsstaaten selbstverständlich ist - natürlich auf einer klaren rechtlichen Basis, natürlich mit einer klaren Aufgabenbegrenzung und natürlich mit einer festen Aufgabenzuweisung. Das heißt, Bundesgrenzschutz und bayerische Grenzpolizei würden mehr die klassischen Aufgaben der Polizei wahrnehmen können, wir könnten aber die Bundeswehr durchaus etwa zur Sicherung längerer Grenzabschnitte einsetzen - es ist eine grüne, eine offene Grenze -, um hier das zunehmende Überschwappen auch sehr gefährlicher Kriminalität auszuschließen.
Meine Damen, meine Herren, meine Bitte ist, ein bißchen kreativ und innovativ zu denken und vor allen Dingen nicht demagogisch etwas zu unterstellen, was kein Mensch in der CDU/CSU-Fraktion will.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Erwin Horn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will hier nicht in die politischen Auseinandersetzungen eingreifen, die aus der rheinland-pfälzischen Lokalpolitik stammen. Ich denke, das Thema ist wirklich von anderer Dimension, als eine persönliche Rivalität vor dem Bundestag austragen zu wollen.
({0})
Kein anderer Gesellschaftsbereich hat die Schwierigkeiten und Verwerfungen als Folge der deutschen Einheit so hervorragend gemeistert wie die deutsche Bundeswehr. Die Integration sich ehemals feindlich gegenüberstehender Truppen wurde reibungslos vollzogen. Die Soldaten haben darüber hinaus bei der Reduzierung ein hohes Maß an persönlichen, beruflichen und familiären Opfern gebracht. Die Organisation und Neustrukturierung der Bundeswehr wurde von den Soldaten trotz vieler Einschnitte in den persönlichen und familiären Bereich mitgestaltet und mitgetragen. Dafür gebührt unseren Soldaten Dank und Anerkennung.
({1})
Primat der Politik, meine Damen und Herren, ist für die deutsche Bundeswehr unbestritten, ja, selbstverständlich.
({2})
Aber die Soldaten können nicht zur Manipulationsmasse der Politik degradiert werden.
({3})
Was hat eigentlich Herrn Schäuble zu dieser unsinnigen Forderung bewogen, zumal er sich ausdrücklich nicht dazu äußert, an welche konkrete Krisensituation er denkt.
Welche Ziele verfolgt Herr Schäuble mit seinen Einlassungen? Will er von der katastrophalen Finanz- und Sozialpolitik dieser Bundesregierung ablenken? Will er den Grundkonsens der demokratischen Parteien rein parteitaktischen Zwecken in einem Wahlkampfjahr opfern?
({4})
Oder steht er in der Tradition der deutschen Rechten, das eigene Volk erst im Inneren zu spalten und dann eine Politik der Abenteuer durchzuführen?
({5})
- Es wird wohl noch gestattet sein, Theodor Heuss zu zitieren. - Oder beschreibt er nur den Zustand dieser Bundesregierung, die nicht fähig ist, die wirklichen Probleme zu lösen? Oder ist es ein weiteres Zeichen der totalen Konfusion dieser Regierung?
({6})
Es stellt sich zum dritten die Frage: Wen will Herr Schäuble denn eigentlich erreichen?
({7})
Die Liberalen wie Hans-Dietrich Genscher oder Justizministerin Frau Leutheusser-Schnarrenberger haben unmißverständlich nein zu diesen Plänen gesagt.
({8})
Der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, das CDU- Mitglied Lutz, widersetzt sich solchen Plänen entschieden. Nicht minder eindeutig ist die Absage des eigentlich zuständigen Ministers der Verteidigung,
Volker Rühe, gegenüber solchen Forderungen. Ich bin ihm in dieser Hinsicht ausgesprochen dankbar.
({9})
Wer die Bundeswehr im Innern einsetzen will, der will eine andere Republik und auch eine andere Bundeswehr.
({10}) Da hat er unsere Gegnerschaft.
({11})
Man kann nicht glaubwürdig den Bürgern ständig Verfassungsloyalität abfordern, aber als verantwortlicher Politiker unser Grundgesetz wie einen Abreißkalender behandeln.
({12})
Die Bundeswehr, im demokratischen Geist geformt, von Christdemokraten, von Freidemokraten und nicht zuletzt auch von Sozialdemokraten wie Fritz Erler, Helmut Schmidt und Georg Leber, hat die Prinzipien der rechtlichen Bindung an unseren Staat, der Wahrung der verfassungsmäßigen Grundsätze und der Inneren Führung zu ihrer Identität gemacht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, geben Sie dieser Bundeswehr endlich eine neue Definition des notwendigen Auftrags, und haspeln Sie hier nicht über die Grenzen des Zulässigen hinaus! Der Staatsbürger in Uniform - das ist die Identität der Bundeswehr, die sie bisher hatte -, der dem Staatsbürger in Zivil vorurteilslos begegnete, soll auch künftig Leitbild sozialdemokratischer und, wie ich denke, gesamtdemokratischer Politik sein.
({13})
Ich erteile nunmehr dem Abgeordenten Jürgen Koppelin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich mit einem Zitat beginne.
Die Bundeswehr hat eine klare Auftragslage und ausreichende Aufgaben: die Landesverteidigung und die Verteidigung des Bündnisses, zusätzlich das internationale Engagement. Damit ist die Bundeswehr voll ausgelastet. Sie wird sich auch in Zukunft auf diese Aufgaben konzentrieren. Zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Armee und Polizei sollte auch in Zukunft unterschieden werden.
Dieses Zitat, das wir als freie Demokraten voll unterstützen, stammt von Volker Rühe und ist vom 23. Dezember.
({0})
Der Einsatz der Bundeswehr kann im Inneren bei Naturkatastrophen, bei schweren Unglücksfällen oder bei einem bewaffneten Aufstand erfolgen. Dieser
Jürgen Koppeln
Einsatz erfolgt dann immer nur als Polizeikraft. So regelt das Artikel 87a unseres Grundgesetzes.
Es gibt für die F.D.P. keinen Grund, über andere Regelungen für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren nachzudenken oder solche Forderungen, wie wir sie vorhin vom Kollegen Gerster gehört haben, aufzustellen.
Wir sollten allerdings - das will ich hier auch sagen - dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU nicht das Recht absprechen, die Thematik eines Einsatzes der Bundeswehr im Inneren ansprechen zu dürfen. Das halte ich für legitim und für sein gutes Recht. Eine Zustimmung zu solchen Vorstellungen wird es von der F.D.P. nicht geben.
Für uns Freie Demokraten ist es viel notwendiger, daß wir intensiv darüber nachdenken, wie wir die Polizei in den Ländern und den Bundesgrenzschutz so stärken, daß sie die ihnen gestellten Aufgaben wahrnehmen können. Die Polizei, aber auch der Bundesgrenzschutz sind den wandelnden Verhältnissen unserer Zeit nicht angepaßt worden.
Die Ausrüstung von Polizei und BGS, die Kommunikationsmittel, die Arbeitszeit, die Arbeitsbedingungen, zum Beispiel beim BGS als Folge der Wiedervereinigung, aber auch die neuen Arten der Kriminalität haben leider bisher nicht dazu geführt, daß wir die Bedingungen für Polizei und BGS verbessert haben.
Deshalb haben wir als F.D.P. Anfang September 1993 auf unserer Klausurtagung in Nürnberg gefordert, daß die Ausrüstung der Polizei und auch des BGS gründlich modernisiert werden muß, daß beide personell verstärkt werden und daß die Polizei auf eine bessere internationale Zusammenarbeit ausgerichtet werden muß.
({1})
Es ist auch keine Lösung, die versäumten Verbesserungen dadurch auszugleichen - das will ich auch in dieser Stelle sagen -, daß vom Innenminister gefordert wird, daß 465 Bundeswehrangehörige den BGS im Grenzeinsatz unterstützen sollen. Das ist nach meiner Auffassung eine Aushöhlung unserer Verfassung.
({2})
Wer den Einsatz der Bundeswehr auch im Inneren fordert, der glaubt anscheinend, er könne unseren Bürgern die totale Sicherheit versprechen. Das ist jedoch unrealistisch. Die totale Sicherheit ist auf dem Boden unserer Verfassung überhaupt nicht erreichbar. Das Thema Innere Sicherheit ist viel zu ernst, als daß es für populistische Vereinfachungen dienen sollte.
({3})
Die weltweite Wanderungsbewegung und der internationale Terrorismus werden von uns Freien Demokraten sehr ernst genommen. Aber die Forderung, deswegen auch den Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu ermöglichen, geht - so meine ich - an der Realität vorbei. Wer solche Forderungen aufstellt, der muß anscheinend das Gefühl haben, daß demnächst
die Kosaken kämen, um ihre Pferde im Rhein zu tränken. Davon kann wirklich nicht die Rede sein.
Mich würde nicht überraschen, wenn von den gleichen Leuten
({4})
- Herr Kollege Breuer - auch noch der Wunsch nach Dienstverpflichtung käme. Das paßt doch in diesen Katalog.
Im übrigen sind die Forderungen, die der CDU/ CSU-Fraktionsvorsitzende in seinem Brief an die Mitglieder seiner Fraktion aufgestellt hat, nicht neu. Bereits bei der Debatte zur Notstandsgesetzgebung kamen solche Forderungen aus den Reihen der Union.
Die F.D.P. hat damals als Opposition diese Forderung vehement abgelehnt. Ich darf Ihnen wirklich empfehlen, die Reden zum Beispiel von Hans-Dietrich Genscher, Walter Scheel und Wolfram Dorn zur Notstandsgesetzgebung nachzulesen. Unsere Haltung war damals klar und ist auch heute klar: Die Bundeswehr ist für unsere äußere Sicherheit zuständig, Polizei und Bundesgrenzschutz für die innere Sicherheit. Daran sollten wir nicht rütteln.
Wenn jedoch die Gedanken von Herrn Schäuble dazu führen, daß wir uns in nächster Zeit verstärkt mit den Problemen und Schwierigkeiten bei BGS und Polizei befassen, wenn wir stärker als bisher die Sorgen der Bürger über Kriminalität und Mafia-Wesen ernst nehmen, und wenn wir alle, wo immer wir es können, unsere Demokratie stärken, dann hat diese Diskussion doch noch etwas Gutes gehabt.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({5})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei dem Vorschlag, Bundeswehreinheiten zur Abwehr von Massenmigrationen einzusetzen, handelt es sich um das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik. Ich will mit einer Feststellung zur Außenpolitik beginnen.
Der Tatbestand ist klar: Die öffentliche Bemerkung von Präsident Walesa, keine Macht zu haben, den Durchmarsch von Flüchtlingsmassen durch Polen in unser Land hindern zu können, signalisiert das Scheitern jener Politik der Ersetzung des Asylrechts durch ein staatliches Abschieberecht. Damit ist nun alles eingetreten, was von den Kritikern der Drittstaatenregelung immer vorausgesagt worden ist.
Mehrere Urteile dokumentieren ihre verfassungsrechtliche Bedenklichkeit; zwischen Frankreich und Deutschland kam es zu Fällen des von der Genfer Konvention verbotenen Hinundherschiebens. Wer einmal einer Abschiebehaftanstalt einen Besuch abgestattet hat - was ich sehr empfehle -, dem wird die rechtsstaatliche Bedenklichkeit des ganzen Verfahrens und des von ihm teilweise bis zum UnerträgDr. Wolfgang Ullmann
lichen verschärften Elends hilfloser Flüchtlinge bis zur Schmerzgrenze demonstriert. Und nun hat
Das Migrationsproblem wird sich trotz solcher Manipulationen im Grundrechtsbereich eher verschärfen.
Damit bin ich beim Verfassungsaspekt des vorgeschlagenen Truppeneinsatzes. Keineswegs trifft die Behauptung zu, es gebe im Grundgesetz keine ausdrückliche Regelung dieser Frage. Insofern, Herr Gerster, lief Ihre Polemik vorhin vollkommen leer. Sie hätten auch noch die deutsche Lage anführen können. Sie ist ja geregelt.
In Art. 87a Abs. 4 sind Bedingungen und Inhalt des Bundeswehreinsatzes in der von Art. 87a Abs. 2 geforderten Ausdrücklichkeit festgelegt, und zwar in der Ausdrücklichkeit für den inneren Einsatz. Es müssen in diesem Fall gegeben sein: die Unfähigkeit eines Bundeslandes, mit der eingetretenen Gefährdung allein fertig zu werden, Polizei und Bundesgrenzschutz reichen zur Hilfe nicht aus. Dann kann die Bundeswehr beim Schutz von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer eingesetzt werden.
Daß Flüchtlinge keine organisierten und militärisch bewaffneten Aufständischen sind, braucht wohl nicht eigens dargetan zu werden. Nun wird argumentiert, gerade deswegen bedürfe es ja der Grundgesetzänderung. Aber wie soll diese denn nun eigentlich lauten? Soll sie eben jene abenteuerliche Gleichsetzung von Flüchtlingen und Aufständischen vollziehen, oder soll sie Massenfluchten als Verteidigungsfall im Sinne von Art. 115 a deklarieren?
Das Grundgesetz sieht aber eine ganz andere Offenheit für Änderungen des traditionellen Verhältnisses von Außen- und Innenpolitik vor, nämlich in dem in Art. 24 beschriebenen System kollektiver Sicherheit, einer friedlichen und dauerhaften Ordnung in Europa. In diese Richtung blickt das Grundgesetz dieses Landes. Zu den grundgesetzwidrigen Konsequenzen Schäubles aber muß man kommen, wenn man in den Bereich des Art. 1 Abs. 2 so eingreift, wie es der neue Art. 16a eben getan hat.
Begründung des ganzen Vorstoßes aber ist die Schwierigkeit, zwischen Außen- und Innenpolitik zu scheiden. Mag es um sie bestellt sein wie auch immer - klar ist doch, meine Damen und Herren, daß eine Politik, die die Kraft zu solcher Scheidung nicht mehr hat, ihren Bankrott angemeldet hat.
({0})
Denn genau diese Scheidung ist der Existenzsinn des Staates, der seinen Bürgern und Bürgerinnen ein Innen zu bewahren hat, in dem sie friedlich miteinander leben können.
Ein Mitglied der Sejm-Delegation der Republik Polen, die uns die Ehre eines Besuchs gegeben hat, sagte uns gestern, mit Bitterkeit habe sie im Deutschen Bundestag von dieser Tribüne aus die heutige Stimme eines Europa gehört, dessentwegen Solidarnosc einst sich habe in Kerker werfen lassen. Wie anders als mit Bitterkeit soll man es anhören, wenn in einer der großen demokratischen Parteien öffentlich über eine Jaruzelski-Politik philosophiert wird?
({1})
Was die Bundesrepublik und ihre Nachbarvölker brauchen, das sind nicht Politiker, die nach berüchtigten Vorbildern ihre Souveränität durch die Ausrufung von Ausnahmezuständen zu definieren versuchen. Es sind vielmehr solche, die mit allen Gutwilligen an einer europäischen Lösung des Migrationsproblems zu arbeiten fähig und willig sind und die aus den deutschen Ereignissen seit 1989 vor allem eines gelernt haben: Gegen das brisante Ausmaß von Ungleichheiten hilft auch in Europa nur das, was in Deutschland 1990 angewandt werden mußte - die schnellstmögliche Vereinigung.
({2})
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister Friedrich Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß eigentlich gar nicht, ob eine Stellungnahme der Bundesregierung gewünscht wird.
({0})
Wir kennen das Ritual: Es werden die Aktuellen Stunden so formuliert, damit sie vor der Geschäftsordnung Bestand haben. Insofern muß dann die Regierung wohl reden, aber es ist mehr der öffentliche Schlagabtausch gewünscht.
({1})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat sich mit den Diskussionen, die heute hier eine Rolle spielen, bisher noch nicht befaßt. Ich möchte aber doch folgendes sagen: Es berührt einen, glaube ich, schon merkwürdig, daß, wenn jemand wie Wolfgang Schäuble, der lange Jahre ein hervorragender Innenminister war,
({2})
der von den Dingen etwas versteht und dessen demokratische Gesinnung, glaube ich, außerhalb jeden Streits ist, nach sorgfältiger Überlegung zu einem solchen Vorschlag kommt, man diesen dann nicht nur ablehnt - darüber kann man sich in der Tat unterhalten -, sondern gleich mit dem großen Hammer kommt, das erinnere an Franco, man wolle eine andere Republik und was sonst hier wortgewaltige Auslassungen gewesen sein mögen. Ich muß sagen: Es ist auch eine Ursache der Politikverdrossenheit,
wenn eine sachliche Diskussion nicht mehr möglich ist.
({3})
Deshalb bin ich Herrn Kollegen Koppelin sehr dankbar, daß er dies auf das Gleis der sachlichen Diskussion gebracht hat.
({4})
Meine Damen und Herren, richtig ist doch, daß es in vielen anderen demokratischen Staaten, auch solchen, die sozialistische Staats- und Regierungschefs haben, selbstverständlich den Einsatz der militärischen Macht auch im Inneren gibt, daß dieser je nach der Verfassungslage zulässig ist. Wir haben es doch erst dieser Tage erlebt, als wir im Fernsehen bei den Überschwemmungen die Einsätze sehen konnten. In Holland war es ganz selbstverständlich, daß die dortige Armee eingegriffen hat, und keiner hat sich darüber aufgeregt.
({5})
Das zeigt doch, daß bei entsprechenden Voraussetzungen ganz selbstverständlich ein Einsatz der Streitkräfte auch im Inneren sinnvoll ist und sein kann.
Nun ist doch Politik, Herr Kollege Horn, immer Abwägung. So ist auch hier eine Abwägung vorzunehmen. Sie mögen diese Abwägung so vornehmen und solche Antworten geben, wie Sie das heute hier getan haben. Aber wir können doch nicht leugnen, daß es in Europa grundsätzliche epochale Veränderungen gegeben hat. Wir können doch nicht auf der einen Seite verlangen, daß alles in unserem Land, in unserer Gesellschaft auf den Prüfstand muß und neu gedacht werden muß, und auf der anderen Seite im politischen Bereich alles wie gestern handhaben und immer so weitermachen. Warum sind nicht auch wir bereit, neu nachzudenken, Dinge auf den Prüfstand zu stellen? Zumindest die Diskussion darüber muß doch zulässig sein und darf nicht stigmatisiert werden, wie Sie das hier tun.
Deshalb, glaube ich, sollte man noch einmal darauf hinweisen: Es gibt schon heute, sicherlich im Wege der Amtshilfe und im Rahmen unseres Grundgesetzes, die Beteiligung von Bundeswehrangehörigen z. B. bei der Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern, die personelle Unterstützung der Gauck-Behörde in Berlin. Es gab in den neuen Bundesländern Unterstützung durch die Bundeswehr bei Landvermessungen.
Also: Auf rechtlich korrekte Weise sind Bundeswehrangehörige in den notwendigen Prozeß, den wir hier zu konstatieren haben, einbezogen worden. Nun frage ich Sie: Wissen Sie eigentlich - Kollege Wartenberg weiß es mit Sicherheit -, daß wir angesichts der Flüchtlingsbewegungen an den Grenzen heute die sogenannte Wärmebildtechnik einsetzen? Der Einsatz der Wärmebildtechnik besagt
({6})
- nun hören Sie doch erst einmal zu! -, daß wir den illegalen Grenzübergang halt nicht mit den herkömmlichen polizeilichen Mitteln verhindern können,
({7})
sondern diese Technik zusätzlich benötigen. Sie wissen es schon: Bis zu 80 % der Aufgriffe werden durch die Wärmebildtechnik ermöglicht.
Meine Damen und Herren, das zeigt doch, daß wir schon heutzutage nicht mehr in der Lage sind, dies nur durch Bundesgrenzschutzangehörige zu bewerkstelligen, sondern daß wir heute schon, damit die entsprechende Bedienung dieser komplizierten technischen Geräte erfolgt, Angehörige der Bundeswehr einsetzen.
({8})
- Dann müssen Sie sich einmal informieren. Informieren Sie sich bitte einmal, dann werden Sie das feststellen.
Nun wird zwischen dem Innenministerium und dem Verteidigungsministerium die Frage geprüft, ob und unter welchen Voraussetzungen das möglich ist. Es sind sogar Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt worden. Das zeigt doch, daß wir uns hier auf neuen Pfaden bewegen. Weil das so ist, wird auch diese Frage zu prüfen sein. Zumindest die ersten demoskopischen Umfragen - damit Sie auch das zur Kenntnis nehmen - zeigen, daß die Vorschläge des Kollegen Schäuble eine Mehrheit in der Bevölkerung finden.
({9})
Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich dazu positiv geäußert.
({10})
- Sehen Sie sich die Umfragen an! Die demoskopischen Umfragen bestätigen das.
Wir wollen hier doch nicht die üblichen Reflexe und Rituale abwickeln. Wir müssen diese Frage sorgfältig prüfen. Ich gehe davon aus, daß diese Frage auch innerhalb der Koalition diskutiert wird. Die F.D.P. hat ihre Position klargelegt. Wie das in einer Koalition üblich ist, wird sich die Koalition in ihrer Gesamtheit gewiß eine Meinung dazu bilden. Die Bundesregierung wird diesen Diskussionsprozeß sicherlich begleiten. Die Koalition und die Bundesregierung werden auch in dieser Frage eine deckungsgleiche Politik vertreten.
Meine Damen und Herren, ich jedenfalls bin der Meinung, daß sich unsere Bundeswehr und ihre Angehörigen gerade bei Notlagen im Innern in besonderer Weise engagiert haben
({11})
und daß der Dienst der Bundeswehrangehörigen sehr verdienstvoll ist. Er ist auch in der Bevölkerung anerkannt. Ich möchte namens der Bundesregierung allen Bundeswehrangehörigen für ihren großartigen
Einsatz bei vielen Notlagen im Innern ganz herzlich danken.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nunmehr Professor Dr. Rupert Scholz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte ist in unerfreulicher und, wie ich meine, kaum legitimer Form von der PDS eingeleitet worden. Die Debatte hat sich inzwischen, wie ich denke, zu einer sachlichen Auseinandersetzung um und über den außerordentlich wichtigen Anstoß, den Wolfgang Schäuble gegeben hat, entwickelt. Wir haben in der Tat zwei Fragen zu stellen. Wir haben zum einen die Frage zu stellen, was der Auftrag der Bundeswehr ist; er betrifft natürlich zunächst die äußere Sicherheit.
Wir haben zum anderen die Rechtsfrage, die vor allem von Herrn Koppelin angesprochen worden ist, zu stellen. Nicht, Herr Horn, die Verfassung als Abreißkalender; vielmehr gilt es, die Verfassung zu wahren, und die wahren wir.
Der Auftrag der Bundeswehr nach Art. 87 a des Grundgesetzes orientiert sich an der äußeren Sicherheit unseres Landes. Aber äußere Sicherheit ist ein Begriff, ein Tatbestand, der sich entscheidend gewandelt hat. Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen äußerer und innerer Sicherheit.
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Das beginnt mit Terrorismus, das kann bis zu Formen gewaltsamer Migration gehen, und das endet bei ökologischen Tatbeständen. Es ist wohl kein Zufall: Wir haben gestern hier in diesem Hause - und zwar mit großer Einigkeit - den NATO-Gipfel und seine Aussagen diskutiert. Sehen Sie sich das Kommuniqué an: Ein ganz zentraler Punkt, auf dem NATO-Gipfel mit Recht verabschiedet und heute als ein Kernpunkt äußerer Sicherheit genannt, ist der Terrorismus.
Meine Damen und Herren, Terrorismus ist nicht mehr ein innerstaatlich-polizeiliches Problem. Wir wissen, was Staatsterrorismus bedeutet. Das ist nur ein Beispiel dafür, daß wir heute nicht mehr voll zwischen einer formal äußeren und einer formal inneren Sicherheit unterscheiden können. Dem gilt es sich zu stellen. Verantwortliche Sicherheitspolitik heißt nämlich, sich an den Gefahrentatbeständen auszurichten, die da sind. Wenn z. B. Formen der inneren Sicherheit als Angriff auf unsere äußere Sicherheit instrumentiert werden, ist es eine logische Konsequenz, daß sich der Staat dem gegebenenfalls auch mit seinen Streitkräften entgegenzustellen hat. Das ist eine wesentliche Aussage, die Wolfgang Schäuble hier in die Diskussion gebracht hat.
Ein zweiter Punkt. Die Bundeswehr ist ein Teil der Bundesexekutive. Sie hat schon heute über Art. 35 des Grundgesetzes die Pflicht zur Amtshilfe. Das nehmen wir wie selbstverständlich hin, wenn es z. B. um Katastrophen geht. Herr Horn, Sie haben Helmut
Schmidt zitiert. Ich erinnere an den Innensenator Helmut Schmidt, der in einer erstaunlichen - man könnte fast sagen: als Landespolitiker damals selbstherrlichen - Weise, im Land aber hoch gefeiert, bei der Hamburger Deichkatastrophe die Bundeswehr sozusagen unter sein Kommando gestellt hat. Das war rechtswidrig. Trotzdem war es in dieser Situation richtig. Katastrophenschutz ist ein Stück innerer Sicherheit, und Katastrophenschutz ist in Extremlagen kaum zu leisten, ohne daß wir auch auf die Ressourcen unserer Streitkräfte zurückgreifen.
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- Das weiß er ganz genau. Es ist auch gut so, daß er es weiß. Aber man kann so etwas in seine Erinnerung zurückrufen.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr hat natürlich - ich wiederhole es - zunächst der äußeren Sicherheit zu dienen. Aber wo sich äußere Sicherheit und innere Sicherheit zunehmend miteinander vermischen, gilt selbstverständlich: All diesen Fragen haben wir uns unvoreingenommen mit klarer Analyse zu stellen, natürlich auch mit klarer rechtsstaatlicher Eingrenzung, gegebenenfalls eines Tages über ein Gesetz, ein Bundeswehraufgabengesetz. Deshalb ist der Anstoß, den Wolfgang Schäuble gegeben hat, nicht nur richtig, sondern er ist notwendig. Die Hektik und die Hysterie, mit der Sie hier Wolfgang Schäuble kritisieren, zeigt nichts anderes, als daß Sie nach wie vor nicht bereit sind, sich verantwortlicher, sprich: vorausschauender Sicherheitspolitik für unser Land zu stellen.
Vielen Dank.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans-Peter Kemper das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sicher hat die Kriminalität in den letzten Jahren unter der Verantwortung der Regierung, die wir heute haben, erheblich zugenommen. Noch stärker als die Kriminalität - und auch das ist typisch für diese Regierung - hat die Angst der Menschen vor Kriminalität, die Angst der Menschen vor Gewalt zugenommen. Diese Fakten werden von niemandem bestritten.
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Unbestritten ist auch, daß dieser Anstieg der Kriminalität und der Anstieg dieser Gewalt mit Tätern und Tätergruppen zusammenhängen, die sich illegal in der Bundesrepublik aufhalten und die illegal in die Bundesrepublik eingereist sind. Es ist völlig klar, daß wir hier etwas tun müssen, z. B. durch die Überwachung bestimmter Grenzen, daß wir auf diese veränderten Bedingungen im Sicherheitsbereich reagieren müssen. Hierzu gehört aber nicht das von Ihnen angezettelte Law-and-order-Geschrei. Hierzu gehört auch nicht diese hektische Betriebsamkeit. Hier müssen Maßnahmen ergriffen werden, die vorher auf ihre
Wirksamkeit und vor allem auf ihre Rechtsstaatlichkeit hin überprüft worden sind.
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Ein völlig unakzeptabler Beitrag ist der Einsatz der Wärmebildgeräte durch Angehörige der Bundeswehr. Hier soll durch die Hintertür der Gerätebeschaffung der Boden für den Einsatz der Bundeswehr im Bereich der inneren Sicherheit bereitet werden. Hier werden in unzulässiger Weise die Aufgaben der inneren und der äußeren Sicherheit vermischt. Dies ist für die SPD nicht hinnehmbar, und die SPD wird hier vom BGS und von den Berufsvertretungen der Polizei nachdrücklich unterstützt.
Grenzschutz ist eine polizeiliche Aufgabe und obliegt nach dem BGS-Gesetz eindeutig dem Bundesgrenzschutz. Der Einsatz von Soldaten zu diesem Zweck ist mit unserer Verfassung nicht in Einklang zu bringen. Hierbei ist es völlig unerheblich, ob diese Soldaten im Abordnungswege oder aber im Wege der Amtshilfe tätig werden. Fakt bleibt, polizeiliche Aufgaben müssen von der Polizei wahrgenommen werden und nicht von der Bundeswehr.
Nun kenne ich ja die Argumente, die da ins Feld geführt werden, z. B. die Personalnot des BGS. Aber dazu muß ich Ihnen sagen: Bereits heute werden 55 Wärmebildgeräte durch Beamte des BGS betrieben. Und das klappt sehr gut. Jetzt sollen 50 weitere Geräte eingesetzt werden, und plötzlich fehlen die Kräfte.
Herr Minister Bohl, wir haben uns vor Ort diese Geräte natürlich angesehen, und ich bin einigermaßen erstaunt, wie hoch Sie die Lernfähigkeit des BGS einschätzen, wenn Sie meinen, daß die den Umgang damit nicht innerhalb kürzester Zeit lernen können. Die Tätigkeit besteht darin, den Ein- und Ausschalter in Betrieb zu setzen und durch diesen Gucker zu sehen, ähnlich wie bei einem Fernglas.
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Und wenn man das in zwei, drei Stunden vernünftig übt, dann geht die Sache auch klar.
Natürlich haben wir mit Personalnöten beim BGS zu kämpfen. Natürlich verlassen junge BGS-Beamte den Bundesgrenzschutz, um sich in anderen Verwaltungszweigen umzusehen. Hier rächen sich die jahrelangen Versäumnisse der Bundesregierung in diesem Bereich.
Nehmen Sie doch zur Kenntnis, daß zur Zeit noch Ausbildungslehrgänge beim BGS abgebrochen werden müssen, weil das Geld fehlt, Ausbildungslehrgänge für junge Menschen, an deren Ende eine beruflich bessere Qualifizierung, die Beförderungsmöglichkeit und eine finanzielle Besserstellung stehen.
Nehmen Sie zur Kenntnis, daß es an wichtigen technischen Materialien fehlt, daß es an Bekleidung fehlt. Und dann stellen Sie sich vor, wie die Kollegen und Beamten des BGS es empfinden, wenn plötzlich 5 Millionen für den Bundeswehreinsatz aus dem Hut gezaubert werden können.
Wer die Stellenpläne des BGS einmal mit denen der Länderpolizeien, beispielsweise mit dem Stellenplan in Nordrhein-Westfalen, vergleicht, braucht sich über Frust und Abwanderungsgelüste beim BGS nicht zu wundern.
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Bezahlen Sie die Leute vernünftig, dann bekommen Sie auch genug, und dann brauchen Sie nicht diese abstrusen Gedankenspiele mit der Bundeswehr zu vollziehen.
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- Darüber können wir gern mal diskutieren. Nordrhein-Westfalen hat die zweigeteilte Laufbahn. Da
gibt es keinen mittleren Dienst bei der Polizei mehr.
Überhaupt scheint es hier nur vordergründig um den Einsatz von Wärmebildgeräten zu gehen. Wer den jüngsten Äußerungen des CDU-Fraktionsvorsitzenden aufmerksam gefolgt ist, dem ist klargeworden, daß es hier um viel elementarere Dinge geht, nämlich um den Einsatz der Bundeswehr in den anderen Bereichen der inneren Sicherheit.
Diese Äußerungen erinnern mich an meine Tätigkeit, die ich ausgeübt habe, bevor ich in den Bundestag eingezogen bin. Da war ich Leiter der Kriminalpolizei im Münsterland. Dort hatte ich einen Kollegen aus der rechtskonservativen Ecke, der bei der Bekämpfung der Linksterroristen ständig forderte, die Polizei mit Maschinengewehren und Granatwerfern auszustatten, so als ob wir der RAF in einer offenen Feldschlacht gegenübertreten könnten.
Herr Abgeordneter Kemper, Sie haben schon deutlich überzogen.
In diese Kategorie ist auch der Vorschlag des Herrn Schäuble einzuordnen.
Schließen Sie sich dem Konzept der SPD an, dann sind Sie auf einem guten Weg.
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Aber lassen Sie diese Gedankenspiele: Bundeswehreinsatz zur inneren Sicherheit. Das dient nur der Verunsicherung.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Werner Hoyer das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute eigentlich über ein sehr interessantes Thema. Dennoch bin ich über die Diskussion zu diesem Thema ebensowenig glücklich wie über die Aktuelle Stunde; denn sinnvoll erschiene mir diese Diskussion ebenso wie die Aktuelle Stunde dann,
wenn es bei diesem Thema Entscheidungsbedarf gäbe, aber den sehe ich auf absehbare Zeit nicht. Spätestens seit der Notstandsgesetzgebung in den 60er Jahren ist Klarheit geschaffen, was den Einsatz der Bundeswehr im Inneren angeht.
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Nun hat die PDS als Nachfolgerin einer Partei, für die die Beschränkung der Armee auf die Landesverteidigung niemals eine Rolle gespielt hat, vielleicht in dieser Frage eine besondere Kompetenz. Die DDR-Machthaber hätten natürlich die Streitkräfte - sie haben es getan - ohne Bedenken gegen die eigenen Bürger eingesetzt. Aber die Aufgeregtheit über dieses Thema und die vermeintliche Sorge um die Grundfeste der Rechtsstaatlichkeit und Verfassungskonformität des Handelns der Bundeswehr können nach meiner Auffassung deutlich zurückgewiesen werden.
Es geht nicht darum, hier Denkverbote zu kreieren. Völlig veränderte Umstände - so ist zu Recht gesagt worden - können auch neue Entscheidungen verlangen. Wenn ich z. B. an die Frage des internationalen Terrorismus, den es teilweise mit staatlicher Rückendeckung gibt, denke, dann komme ich zu dem Schluß: Man muß in aller Nüchternheit und Gelassenheit über die notwendigen Vorkehrungen sprechen. Gleichwohl bleibt meine Skepsis, was die Notwendigkeit einer Veränderung unserer Verfassungslage angeht. Unsere Bürger - das ist sicher richtig - wollen ihr Land weder nach innen noch nach außen ungeschützt sehen.
Was hingegen die Hilfeleistungen der Bundeswehr in Katastrophenfällen angeht, bedarf es natürlich überhaupt keiner Veränderung. Dort leistet die Bundeswehr auch auf Grund der gegenwärtigen Rechtslage schon Vorbildliches; wir sollten das deshalb nicht zusammenrühren.
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Ich warne davor, diese Debatte mit zwei wichtigen Themenkomplexen zu vermischen. Der eine hat etwas mit den zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr zu tun. Dieses Thema müssen wir, denke ich, sehr schnell auf den Punkt bringen im Zusammenhang mit der erforderlichen Grundgesetzänderung zum Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen außerhalb des NATO-Vertragsgebiets. Ich hoffe, daß wir in dieser Frage bald zusammenkommen. Ich meine, in diesem Zusammenhang ist das Thema „mögliche Einsätze der Bundeswehr im Inneren" eher kontraproduktiv und im Hinblick auf diese notwendige Entscheidung des Deutschen Bundestages belastend.
Im übrigen hat die Bundeswehr gegenwärtig keineswegs das Problem, zuwenig Aufgaben zu haben. Die Angehörigen der Streitkräfte haben eher das Gefühl, daß die Politik ein nicht klar genug gezeichnetes Bild von den Aufgaben der Streitkräfte hat und vermittelt
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und daß die Bundeswehr angesichts der riesigen Herausforderung, die mit der Verkleinerung, der Umstrukturierung, der Umstationierung verbunden ist, mehr als genug zu tun hat. Das gilt erst recht dann, wenn in Zukunft zusätzliche Aufgaben außerhalb des NATO-Vertragsgebietes hinzukommen sollten.
Der andere Themenkomplex berührt die Frage der inneren Verfassung und des Selbstverständnisses unserer Streitkräfte einerseits und der Verbindung von Bundeswehr und Gesellschaft andererseits.
Die Bundeswehr ist in unserer Gesellschaft sehr gut verankert. Ihre Notwendigkeit und Leistung wird anerkannt, die Notwendigkeit der Wehrpflicht im wesentlichen übrigens auch. Ich möchte diesen Konsens nicht gefährdet wissen.
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Dieser Konsens beruht nicht zuletzt darauf, daß alle Bürger wissen, daß sich dieser Staat bei der Wahrnehmung seines Gewaltmonopols im Inneren der Polizei bedient und nicht der Streitkräfte.
Die erheblichen Machtmittel, die der Bürger der Bundeswehr in die Hand gibt, dienen der Abwehr von Gefahren von außen. Das ist auch im Bewußtsein und im Selbstbewußtsein der Soldaten der Bundeswehr fest verankert, nicht hingegen die Vorstellung, auch Ordnungsmacht nach innen zu sein.
Hierauf vertrauen die Bürger; hierauf beruht auch die Zustimmung der Bürger zur Landesverteidigung, zur Bundeswehr und zur Wehrpflicht. Wir sollten das hohe Vertrauen, das die Bundeswehr bei der Bevölkerung genießt - bei aller Kritik, der sie sich im demokratischen Gemeinwesen immer stellen muß -, nicht aufs Spiel setzen.
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Paul Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wolfgang Schäuble hat in einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung" heute gesagt, es gehe nicht darum, neue Aufgaben für die Bundeswehr zu schaffen. Ich stimme dem Kollegen Dr. Hoyer zu, wenn er sagt: In der Tat ist das Problem der Bundeswehr nicht, daß sie zuwenig Aufgaben hätte, sondern das Problem ist, daß die politische Klarheit über den Auftrag der Bundeswehr - wir beide wissen sehr genau, woran es liegt - auf Grund der Blockade der SPD im Hinblick auf den Beitrag der Bundeswehr zum Weltfrieden, zu den Vereinten Nationen nicht zu erhalten ist.
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- Ich bitte Sie, Herr Kollege. Wenn man hört, wie der deutsche Bundeskanzler und auch der deutsche Außenminister - das will ich an dieser Stelle einmal sagen - bei der Tagung der NATO beim NATO- Gipfel - der Außenminister hat es gestern hier noch einmal deutlich gesagt - feststellen müssen, daß sie mittlerweile nicht in allen Fragen, die die NATO angehen, voll mitreden können, dann ist das mit der Würde Deutschlands und seiner Verantwortung wirklich nicht mehr in Einklang zu bringen.
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Bei den Aufgaben der Bundeswehr steht die Landesverteidigung an erster Stelle, eng damit in Verbindung an zweiter Stelle die Bündnisverteidigung und an dritter Stelle der Beitrag zum Weltfrieden im Rahmen der Vereinten Nationen.
Zielsetzung ist dabei immer Schutz der Demokratie und der Würde des Menschen. Für uns ist es völlig selbstverständlich, daß wir im Hinblick auf Schutz von Demokratie und Würde des Menschen bei einer unabwägbaren außerordentlichen Gefahr von außen davon ausgehen, daß alle zur Verfügung stehenden staatlichen Kräfte mobilisiert werden, um diese Gefahr abzuwehren.
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Dies ist verfassungsrechtlich klar geregelt.
Genauso muß es hinsichtlich einer außerordentlichen unabwägbaren Gefahr im Innern möglich sein, darüber nachzudenken, verfassungsrechtliche Vorsorge dafür zu leisten, wie man bei Mobilisierung aller zur Verfügung stehenden Kräfte auf unabwägbare Gefahren im Innern reagieren kann. Das ist eine Frage der Gefahrenvorsorge, und Gefahrenvorsorge ist eine klassische Aufgabe des Staates, sowohl nach außen wie nach innen.
Was deutlich wird - das ist vorhin auch durch einige Kollegen meiner Fraktion klar geworden-, ist, daß wir im Innern für eine unabwägbare Gefahr und die damit notwendigerweise verbundene Gefahrenvorsorge verfassungrechtlich nicht ausreichend ausgestattet sind. Bei dem Denkanstoß von Wolfgang Schäuble geht es nicht darum, einen Anschlag auf die Verfassung zu unternehmen, sondern darum, den Anstoß zu geben, darüber nachzudenken, was dafür notwendig ist. Das ist die damit verbundene Zielsetzung. Schäuble hat heute in seinem Interview in der „Süddeutschen Zeitung" ein Beispiel geliefert.
Es ist völlig selbstverständlich, daß eine Aufgabe wie „air policing", also die Herstellung der Lufthoheit, heute von der Bundeswehr durchgeführt wird. Wie ist es denn dann, wenn ein terroristischer Angriff nicht klassisch-militärischer Art aus der Luft auf deutsches Staatsgebiet erfolgt?
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Müssen wir dann erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwarten, um eine solche Gefahr abzuwehren, oder muß dafür vorher Vorsorge getroffen
werden, Herr Kollege? Das ist eine Frage, die wir uns stellen müssen.
Ich denke, daß die Beispiele, die hier im Hinblick auf Gefahrenabwehr an der Grenze gebracht worden sind, nicht zur Diskussion geeignet sind. Ich möchte nicht, daß Bundeswehrsoldaten zur Gefahrenabwehr bei Grenzkriminalität eingesetzt werden. Da muß völlige Klarheit herrschen über eine Abgrenzung zwischen den Kräften des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr. Ich möchte nicht, daß Dunkelmänner, in welchen Uniformen auch immer, aber nicht klar abgegrenzt, dort irgendwelchen Dienst tun. Das ist Aufgabe des Grenzschutzes und nicht Aufgabe der Bundeswehr.
Aber Gefahrenvorsorge nach innen für unabwägbare Gefahren ist notwendig, und darüber muß nachgedacht werden. Das ist der Denkanstoß, den Wolfgang Schäuble gegeben hat.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Karl-Heinz Klejdzinski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Scholz hat gesagt, wir sollten hier keine Hysterie verbreiten. - Er ist leider schon weg. - Wenn gesagt wird, wir machten hier in Hysterie, muß ich fragen: Wer hat hier in Hysterie gemacht? Könnte man dies dem Herrn Bundesminister der Verteidigung vorwerfen? Könnte man es dem Außenminister vorwerfen? Könnte man es dem Vorsitzenden der CSU, Finanzminister Waigel, vorwerfen?
Wenn man es vor diesem Hintergrund reflektiert, muß man sagen, daß Herr Schäuble wahrscheinlich schnell etwas gedacht hat, was möglicherweise bei Ihnen diskutiert wird. Ich bin nicht der Meinung, daß er - vom Grundsatz her - einfach so etwas daherredet, sondern es ist wohl das Ergebnis Ihrer Überlegungen, und Sie wollten diesen Luftballon jetzt starten, um zu sehen, wie man darauf reagiert.
Für mich ist es schwer verständlich, daß er es heute in der „Süddeutschen Zeitung" noch einmal wiederholt hat, daß er im Wissen dessen, welche Diskussion in dieser Frage geführt wird, dies noch einmal bestätigt hat. Er kritisiert eine „perfektionistische Beschränkung" der Aufgaben der Armee, die im Grundgesetz festgelegt ist. Dies ist der Presse am 21. Dezember 1993 zu entnehmen gewesen. Das heißt, er kritisiert im Grunde genommen in dieser entscheidenden Frage das Grundgesetz.
Herr Breuer, Ihre Versuche in dieser Frage mit Air Police haben mich ja zu einem Schmunzeln bewegt. Wenn Sie dieses Beispiel konsequent durchdenken, wissen Sie genau, daß es nicht das Problem ist, über das wir heute hier reden, sondern daß es ein Neben-, ein Randproblem ist, das in einem Proseminar für Examinanden sicherlich interessant ist.
Die Bestandsaufnahme, die Herr Schäuble in vielen Dingen macht, ist ja gar nicht so abwegig. Darüber muß man natürlich nachdenken. Aber ob man so
nachdenken muß, wie Sie das wünschen, in dieser Richtung - indem Sie das nämlich vermischen -, das ist doch die Frage.
Einsatz der Bundeswehr allgemein im Inneren: Dieses ist doch das Reizwort, das Reizthema. Normalerweise denkt man: Wenn Schäuble das sagt, hat er sich etwas dabei gedacht. Da wir ihn kennen, da ich ihn kenne, weiß ich, daß er sich dabei etwas gedacht hat. Das ist genau das Schlimme in dieser Frage. Und es ist eben nicht so, wie Herr Pohl hier sehr staatsmännisch erklärt hat, man dürfe ja denken, und über das, woran man denke, müsse man nachdenken usw. Wir wollen durch unseren Beitrag verhindern, daß Ihr Denken in ein Gesetz einfließt, daß es einmal Gesetz wird.
Im Grundgesetz heißt es eindeutig: Streitkräfte werden zur Landesverteidigung aufgestellt. Das ist ganz klar und nicht zu widerlegen. Das Grundgesetz erlaubt bisher den Einsatz der Bundeswehr im Inneren ausschließlich zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes. Und jetzt kommt der entscheidende Satz, Herr Breuer, den ich Ihnen ins Stammbuch schreiben möchte: Sofern dafür die Kräfte von Polizei und Grenzschutz nicht ausreichen.
In Art. 87 a wird dieser Einsatz weiterhin auf den Schutz ziviler Objekte und die Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer eingeschränkt Das ist ganz klar im Grundgesetz geregelt. Ich weiß nicht, weshalb man in dieser Frage eine Diskussion lostreten will.
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- Es gibt andere Situationen, die man sich vorstellen kann, das ist richtig. Darüber wollen wir ja auch nachdenken. Aber dann wird in diesen anderen Situationen erst einmal geprüft, was nach dem Grundgesetz gegenwärtig zulässig ist. In Absprache mit den jeweiligen Länderregierungen wird dann ein Einsatz der Bundeswehr erfolgen.
Es ist doch überhaupt keine Frage, daß wir die Bundeswehr in Fragen des Hochwasserschutzes einsetzen, daß wir die Pioniere einsetzen, wenn Waldbrände sind usw. usf. Das ist doch hier gar nicht das Thema, sondern es geht darum: Was haben sich die Väter unseres Grundgesetzes gedacht, als sie damals diese Formulierung wählten?
Es wäre einfach, zu unterstellen, daß diejenigen, die heute darüber reden, kein Geschichtsbewußtsein haben. Warum ist das in das Grundgesetz hineingekommen? Es ist deswegen hineingekommen, weil ganz bestimmte Perspektiven aus der Weimarer Zeit uns heute noch bewußt sind.
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Als Lehrer sollten Sie vielleicht auch das wissen: Reichswehrminister Gustav Noske setzte Soldaten gegen streikende Arbeiter ein und befahl den
Gebrauch der Schußwaffe. Dies macht mich - um es deutlich zu sagen - heute noch betroffen.
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Insofern ist die Trennung der Aufgaben von Polizei und Bundeswehr eine bittere Lehre aus der nationalsozialistischen Vergangenheit und ein unverzichtbares Bollwerk gegen Machtmißbrauch.
Herr Abgeordneter Dr. Klejdzinski, Sie wissen, daß ich bei der Aktuellen Stunde auf den Zeitrahmen sehr zu achten habe. Ich bin schon sehr, sehr großzügig gewesen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihren Debattenbeitrag beenden könnten.
Lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung machen: Was die Bundeswehr für Aufgaben hat, ist im einzelnen eindeutig in den verteidigungspolitischen Richtlinien niedergelegt. Der Kollege Breuer und auch der Kollege Koppelin haben teilweise darauf verwiesen. Ich sage noch einmal: Diese Debatte, wie sie von dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU losgetreten wurde, ist in keiner Weise ein Beitrag, grundsätzlich mehr Vertrauen in uns Politiker zu vermitteln. Es ist ein Beitrag zur Politikverdrossenheit.
Ein letzter Satz: Unsere Soldaten haben diese Debatte in keiner Weise verdient, die Sie in einer unverantwortlichen Weise losgetreten haben.
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Herzlichen Dank.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Meinrad Belle das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Stadtrat von Schilda rauchen die Köpfe. Entschieden werden soll dort, ob mit den restlichen Haushaltsmitteln eine neue Feuerwehrspritze oder eine Orgel für die Stadtkirche gekauft wird. Heiß wogt die Diskussion hin und her. Vehement setzt sich der Bürgermeister für die Anschaffung einer neuen Feuerwehrspritze ein, aber nachts um drei beschließt letztendlich eine große Koalition ehrbarer, alteingesessener Bürger,
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der Anschaffung einer neuen Orgel den Vorzug zu geben.
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Die neue Orgel wird beschafft. Zwei Wochen nach
Einbau der neuen Orgel vernichtet ein Brand Rathaus
und Stadtkirche von Schilda. Zähneknirschend steht
der Bürgermeister vor dem in hellen Flammen stehenden Rathaus
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und sagt zu den umstehenden Stadträten: So, jetzt könnt ihr auf der neuen Orgel spielen.
Meine Damen und Herren, an diesen Schildbürgerstreich wurde ich zwangsläufig erinnert, als ich manche Berichte in den Medien zu dieser Debatte zur Kenntnis nehmen mußte. Ich habe immer gedacht, daß ein Grundkonsens aller demokratischen Parteien darüber besteht, daß die demokratisch legitimierte Bundesregierung alle erforderlichen Einrichtungen und Regelungen benötigt, um Schaden von unserem Heimatland und seinen Bürgern abzuwenden.
Nach der Wiedervereinigung und in der neuen Gesamtsituation in Europa und in der Welt ist es Aufgabe, ja Pflicht eines verantwortungsvollen Politikers, darüber nachzudenken, ob die bisherigen Regelungen in den verschiedensten Bereichen ausreichend sind. Mögliche Schwachstellen muß er aufzeigen und erkannte Probleme aufdecken. Die notwendigen Fragen müssen ohne dogmatische Scheuklappen gestellt werden. Die erforderliche Diskussion muß angeregt werden. Antworten wurden nicht vorweggenommen.
Meine Damen und Herren, die Reaktion bei einem Teil der Politiker und der Medien kann nur als hysterisch und scheinheilig bezeichnet werden.
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„Undemokratisches Verhalten", „Anschlag auf die Verfassung", „Wasser auf Mühlen der Rechtsextremisten", „mit Verzicht auf Gewaltenteilung Axt an eine der Wurzeln der freiheitlichen Demokratie legen", „mit dem Feuer spielen" - so lauten die Vorwürfe, die öffentlich erhoben wurden.
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Meine Damen und Herren, wo wird denn auf die Gewaltenteilung verzichtet?
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Sind denn Staaten wie die USA, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Großbritannien, Italien und Österreich undemokratisch? Haben sie keine demokratische Verfassung, oder werden dort Rechtsextremisten unterstützt, nur weil dort Soldaten unter strengsten Vorgaben auch im Innern eingesetzt werden können? - Diese Vorwürfe sind beleidigend; ich weise sie entschieden zurück.
Meine Damen und Herren, nach unserem Verständnis ist es verantwortliche Politik und sachgerecht, ja zwingend notwendig, zu fragen, zu hinterfragen, zu diskutieren und nach Abwägung aller sachgerechten Argumente auf dem demokratisch vorgegebenen Wege mehrheitlich zu entscheiden.
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Vielen Dank.
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerd Wartenberg.
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Ich denke gar nicht daran, mich in einer pseudofachlichen Debatte mit den Vorschlägen von Herrn Schäuble auseinanderzusetzen, und zwar aus einem einzigen Grund: Wer Wolfgang Schäuble kennt, weiß, er ist ein Zyniker aus Leidenschaft.
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Die Union hat im Moment nichts anzubieten. Also mußte mit ganz klarer Überlegung vor Weihnachten in der Lücke der politischen Diskussion irgend etwas auf die Tagesordnung gesetzt werden, was man inhaltlich-politisch überhaupt nicht zur Lösung bringen wollte. Vielmehr wurde schlichtweg um der Diskussion willen, um einer Konfrontation willen mal wieder ein Versuchsballon gestartet.
Das Schlimme daran ist, daß diese Art von Politik von allen, wie immer sie in der Sache dazu stehen, zunehmend als lästig und als unseriös angesehen wird. Das wird Politikverdrossenheit, ja auch Verachtung gegenüber Politik nur steigern. Deswegen finde ich das so schlimm, was der Herr Schäuble gemacht hat.
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Meine Damen und Herren, die Pressereaktionen von ganz rechts bis links im Spektrum der großen Zeitungen war absolut negativ, auch in der konservativen Presse absolut negativ. Überall der Hinweis: Es zeigt wohl die Schwäche der Union, daß der Fraktionsvorsitzende mit so einem Pseudo-Theater anfangen muß, die Öffentlichkeit abzulenken. Das reicht von der „Frankfurter Allgemeinen" bis sonstwohin; ich habe hier alle Zeitungskommentare. Es gab nicht einen einzigen positiven Kommentar vor Weihnachten.
Das heißt, sehr schnell haben die Leute gemerkt: Es geht nicht um die Sache. Es darf auch gar nicht um die Sache gehen! Man stelle sich vor, seine Vorschläge würden realisiert werden, und man würde plötzlich merken, daß sie in der Verbrechensbekämpfung natürlich gar nichts nutzen. Es ist natürlich schlichtweg dummes Zeug.
Mein Kollege Kemper hat deutlich gefragt: Wie stellt man sich das eigentlich vor? Die organisierte Kriminalität oder Terroristen werden in offener Feldschlacht von der Bundeswehr bekämpft? Das ist dummes Zeug.
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Gerd Wartenberg ({3})
Daß wir unsere Grenzkontrollen verbessern und verstärken müssen, ja, das ist eine Frage des Bundesgrenzschutzes. Dort fehlen 4 000 Leute. Bezahlen Sie die besser. Die Planstellen sind da. Nur, sie sind nicht besetzt, weil diese wichtige und gute Organisation, die in die Struktur unserer Verfassung ganz bewußt eingepaßt wurde, nicht ausreichend besetzt worden ist. Dann wäre das Problem, vor dem wir in der Tat stehen, gelöst.
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Aber das ist ein Problem der Regierung. Dazu muß sie nicht so ein Theater machen und keine solchen Vorschläge bringen, die natürlich die Hemmung, über unsere Verfassung an allen möglichen Punkten zu diskutieren, abbauen. Auch hier werden natürlich die Fronten problematischer. Denn wenn selbst ein Fraktionsvorsitzender einer großen Partei mal so eben über Verfassungsgrundsätze redet und sie in Frage stellt, dann werden natürlich andere Leute sehr schnell auf den Trichter kommen, das gleiche zu tun.
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Insgesamt eine verantwortungslose Diskussion, die Herr Schäuble angeregt hat! Er selbst meint sie in der Sache nicht ernst, sondern er macht es nur um des Effektes willen. Das ist etwas, was man absolut nicht akzeptieren kann, und deswegen lasse ich mich auch gar nicht auf eine Pseudo-Fachdebatte ein.
Vielen Dank.
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Als letztem Redner in der Aktuellen Stunde erteile ich dem Abgeordneten Jürgen Augustinowitz das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wartenberg, ich glaube, Sie sollten diese Debatte, die doch in weiten Bereichen sachlich geführt worden ist, nicht mit zu großen persönlichen Beleidigungen befrachten. Das hilft der Sache nicht.
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Die Unterstützung der Polizei des Bundes und der Länder durch die Bundeswehr in ungewöhnlichen Situationen ist in Deutschland sicher ein sensibles Thema, weil die Deutschen hier einfach noch nicht soweit sind, es mit der Unbefangenheit zu diskutieren, die für andere Nationen selbstverständlich ist.
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Dennoch bin ich der Überzeugung, daß der Einsatz von Streitkräften im Innern mit der gebotenen Umsicht diskutiert werden muß. Wir müssen auch Vorsorge treffen für einen möglichen Fall X, der früher oder später eintreten kann.
Wie verkrampft und paradox die Diskussion um Bundeswehreinsätze im Innern derzeit noch geführt wird, zeigt folgendes Beispiel: Als eine Hundertschaft des Bundesgrenzschutzes bei einem Einsatz außerhalb ihres Standortes in einer Kaserne der Bundeswehr übernachtete, wurde der Bundeswehr der Vorwurf gemacht, wegen dieser Amtshilfe den Bundesgrenzschutz bei einem Einsatz im Innern massiv unterstützt und damit gegen das Grundgesetz verstoßen zu haben. Dieses Beispiel zeigt, wie geradezu abenteuerlich dieser Vorwurf ist.
In allen großen Demokratien - USA, Großbritannien oder auch in unseren Nachbarstaaten Frankreich, Italien, Holland, Luxemburg - ist der Einsatz des Militärs auch im Innern unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen seit langem gängige Praxis. In Deutschland muß daher über die zu engen Fesseln des Art. 87 a des Grundgesetzes intensiv diskutiert werden. Gleichwohl bleibt eine klare Trennung zwischen Polizei und Bundeswehr notwendig. Die Soldaten der Bundeswehr können sicher sein, daß sich ihre Aufgaben auch in Zukunft nicht ändern werden.
Dem demokratischen Staat Deutschland muß der Einsatz der Bundeswehr, die - dem Primat der Politik folgend - von einer demokratisch legitimierten Regierung geführt und von den gewählten Volksvertretern kontrolliert wird, zur Abwehr von Gefahren von außen und von innen erlaubt sein. Der deutsche Staat muß mit den rechtlichen Mitteln ausgestattet werden, die erforderlich sind, um potentielle Gefahren für seine Existenz wirksam abwehren zu können.
Ich bin der Überzeugung: Für derartige Fälle müssen wir uns schon jetzt wappnen und nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.
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Ich appelliere daher insbesondere an die Kollegen von der SPD, sich diesem Thema nicht wieder ein Jahrzehnt zu verweigern, wie sie es bei der Asylfrage getan haben. Im Kern geht es in dieser Auseinandersetzung aber darum. Sie legt erneut offen, wie zwiespältig, wie erklärungsbedürftig nach wie vor die Haltung der SPD zu Staat und Bundeswehr ist.
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Hochwillkommen ist der Einsatz der Bundeswehr im Innern immer dann, wenn es um Katastrophen geht. Hier hat die Bundeswehr Großartiges geleistet.
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Das Beispiel des niederländischen Heeres ist schon genannt worden. Ich frage mich: Warum soll ein solcher Einsatz nicht auch in Deutschland möglich sein?
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Ein weiterer denkbarer Einsatz der Bundeswehr ist die Unterstützung der Grenzsicherung. Ähnliches gilt
für den Bereich des internationalen Terrorismus. Oder denken Sie an polizeiliche Großlagen. Was machen wir denn, wenn Einsatzhundertschaften von Polizei und Bundesgrenzschutz nicht mehr ausreichen? Über solche Bedrohungen der inneren Sicherheit müssen wir doch frühzeitig diskutieren.
({6})
Eine strikte Trennung von äußerer und innerer Sicherheit ist nicht mehr möglich. Daher sind auch die Begrenzungen des Aufgabenfeldes der Bundeswehr in der jetzigen Form überholt.
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Unter strengen, noch festzulegenden rechtlichen Voraussetzungen muß die Bundeswehr dem Staat in Zukunft auch bei existentiellen Bedrohungen von innen zu Schutzaufgaben zur Verfügung stehen. Welche Aufgaben der Bundeswehr dabei letztlich zugeordnet werden, muß Gegenstand der weiteren Debatte sein.
Wenn diese Diskussion von allen Beteiligten - auch von dem Kollegen Wartenberg - mit der gebotenen Sachlichkeit und ohne ideologische
Scheuklappen geführt wird, kann ein wichtiger Beitrag zur Normalisierung des staatlichen Selbstverständnisses Deutschlands geleistet werden.
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Ich fordere alle demokratischen Parteien dieses Hauses - bewußt die demokratischen Parteien dieses Hauses - auf, an dieser Aufgabe mitzuwirken.
Vielen Dank.
({9})
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Aktuellen Stunde und gleichzeitig am Ende unserer Tagesordnung.
Ich möchte nicht versäumen, die ersten Gäste am Tag der offenen Tür zu begrüßen. Ich hoffe, daß Sie interessante Eindrücke von Ihrem Besuch im Bundestag und in den Nebengebäuden sowie bei den Diskussionsveranstaltungen haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 19. Januar 1994, 13 Uhr ein.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist geschlossen.