Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet.
Ich komme zunächst zu den Vormitteilungen: Die Fraktion der SPD hat mitgeteilt, daß der Abgeordnete Gerhard Neumann ({0}) als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ausscheidet. Als seine Nachfolgerin wird die Abgeordnete Dr. Christine Lucyga vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Kollegin Dr. Christine Lucyga als stellvertretendes Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf Bindig, Volker Neumann ({1}), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Deutschlands menschenrechtliche Aufgabe in der Welt starken - Drucksache 12/6383 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Walter Franz Altherr, Dr. Wolf Bauer, Hans-Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1993 „Erfolg der Menschenrechtskonferenz" - Drucksache 12/6384 3. Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr ({2}) - Drucksachen 12/6284, 12/6393 4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Ersetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes durch ein Altschuldenübemahme-Gesetz - Drucksachen 12/5677, 12/... 5. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({4})
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rechtsakt vom 25. März 1993 zur Änderung des Protokolls über die Satzung der Europäischen Investitionsbank - Drucksachen 12/5941, 12/6300, 12/6397 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({5}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Fünfundachtzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 12/5656, 12/6316 -
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({6}) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Neunundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 12/5554,12/6317 -
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 132 zu Petitionen - Drucksache 12/6388 -
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 133 zu Petitionen - Drucksache 12/6389 -
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 134 zu Petitionen - Drucksache 12/6390 Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit es bei einzelnen Punkten der Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich ist, abgewichen werden.
Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 3 a bis c, die Menschenrechtsdebatte, erst nach Tagesordnungspunkt 7 aufzurufen.
Außerdem sollen die Tagesordnungspunkte 3 d, 19d und 20a abgesetzt werden.
Die Punkte ohne Aussprache werden im Anschluß an die Fragestunde aufgerufen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Dann haben wir es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({7}) zu der Verordnung des Bundesministeriums für Wirtschaft
Zustimmungsbedürftige Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz für das Jahr 1994
- Drucksachen 12/6242, 12/6368 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Beckmann
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt unser Kollege Abgeordneter Heinrich Seesing.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat beschlossen, der Erhöhung des sogenannten Kohlepfennigs von 7,5 auf 8,5 % zuzustimmen. Es gab und gibt in der Fraktion erhebliche Zweifel, ob das konjunkturpolitisch ein richtiges Signal sei. Schon in ihrem Beschluß über die „Energiepolitischen Leitlinien" vom 25. Mai hat sie voller Sorge auf diese Problematik hingewiesen und zunächst geraten, von einer Erhöhung abzusehen. Wenn CDU und CSU jetzt dennoch der Verordnung der Bundesregierung zustimmen, so gibt es dafür sehr gewichtige Gründe:
Erstens. Im Verstromungsfonds ist schon jetzt ein Defizit von 4,8 Milliarden DM aufgelaufen. Würde der Kohlepfennig nicht erhöht, müßte für Ende 1995 mit einem Defizit von rund 5,8 Milliarden DM gerechnet werden. Auch solche defizitären Entwicklungen könnten falsche Signale sein. Wir haben alle gemeinsam davon gesprochen, daß ein Ansteigen der Verschuldung, wo immer möglich, verhindert werden muß. Das gilt auch für die Sondervermögen des Bundes. Allerdings ist auch eine Abwicklung des Defizits des Verstromungsfonds bis Ende 1995 nicht möglich. Dann hätte der Kohlepfennig eine ganz andere Dimension erhalten müssen.
Zweitens. Die Erhöhung des Kohlepfennigs für 1994 ist in eine längerfristige Strategie eingebunden. Im Januar wird der Bundestag in erster Lesung ein Gesetz zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und zur Änderung des Atomgesetzes beraten. Für meine Fraktion ist es wichtig, die Vorhaben und die Möglichkeiten dieses Gesetzes mit der heutigen Entscheidung als eine Einheit anzusehen.
Darüber hinaus ist für uns die Steinkohle aus deutscher Förderung nur dann vertretbar, wenn der in Deutschland bestehende Energieträgermix von Braunkohle, Kernenergie, Steinkohle, Mineralöl, Erdgas und erneuerbaren Energien langfristig und voll erhalten bleibt. Durch das schon angesprochene Artikelgesetz werden zunächst die Mittel für den Verstromungsfonds im Jahre 1995 gesichert werden müssen. Es ist das letzte Jahr der Laufzeit des Dritten Verstromungsgesetzes. Der Fonds wird am Ende wahrscheinlich ein Defizit von etwa 4,3 Milliarden DM aufweisen. Ich halte es für nicht vertretbar, daß dieses Defizit im Jahre 1995 über den Kohlepfennig abgebaut wird. Der Kohlepfennig müßte dann nämlich etwa 12 % betragen. Deswegen muß durch Gesetz die Abwicklung geregelt werden.
Nach 1995 muß es zu einer Neuregelung der Steinkohlefinanzierung kommen. Die Koalition hat
sich für das Jahr 1996 auf eine Übergangsregelung festgelegt. Dabei sollen den Bergbauunternehmen bis zu 7,5 Milliarden DM zufließen, um damit etwa 37,5 Millionen t in Deutschland geförderte Steinkohle zu Weltmarktpreisen anbieten zu können. Das entspricht den Vereinbarungen vom 11. November 1991, wobei ich daran erinnere, daß die Energieversorgungsunternehmen zugesagt haben, eine entsprechende Menge zu verstromen, wenn denn der Preis stimmt.
Das Problem der Finanzierung für 1996 wird sicher noch einige Fragen aufwerfen, die beantwortet werden müssen. Meine Fraktion wünscht z. B., daß ein sprunghafter Anstieg der Strompreise in den jungen Bundesländern vermieden wird.
Es ist nach unserer Auffassung richtig, daß ab 1997 auch die Finanzierung des Steinkohleabsatzes im Zusammenhang mit der Verstromung auf eine neue Basis gestellt wird. In den Jahren 1997 bis 2000 sollen den Bergbauunternehmen Finanzfonds von insgesamt 7 Milliarden DM pro Jahr zur Verfügung gestellt werden. Es gibt durchaus noch ein Interesse daran, Förderkapazitäten für deutsche Steinkohle zu sichern. Die Unternehmen dürften in der Lage sein, 35 Millionen t Steinkohle für die Verstromung zu liefern. Darüber hinaus sollen aber auch Kraftwerke beliefert werden, bei denen neben Elektrizität als Koppelprodukt Wärme für Produktionsprozesse oder Heizzwecke erzeugt wird. Wir erwarten aber, daß das Gesetz so gestaltet wird, daß die Bergbauunternehmen auch die Möglichkeit erhalten, z. B. strukturverändernde Maßnahmen oder die Erschließung neuer Absatzmärkte voranzutreiben.
({0})
Auch für die Jahre 2001 bis 2005 ist noch eine Anschlußregelung gesetzlich festzulegen, wobei nach unserer Auffassung aber die Finanzplafonds zurückgeführt werden müssen. Ich erinnere an die Vorstellungen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder, der diese Degression bereits ab dem Jahr 1997 vorschlug.
Für meine Fraktion ist es aber nicht vorstellbar, daß diese hohen Beträge für die deutsche Steinkohle bereitgestellt werden, ohne daß die friedliche Nutzung der Kernenergie langfristig gesichert wird. Ihre Kostengünstigkeit und ihr Rang im Abbau der CO2Belastung der Erdatmosphäre sind Elemente, um den Einsatz der teuren deutschen Steinkohle überhaupt vertretbar zu machen. Über Jahre hinweg war der Konsens Kohle/Kernenergie gemeinsame Haltung von drei Fraktionen dieses Hauses, getragen von den Parteien. Hätte nicht die SPD 1986 diesen Konsens einseitig aufgekündigt, gäbe es wahrscheinlich die heutigen Schwierigkeiten um beide Energieträger nicht. Es muß deutlich gesagt werden, daß die Nutzung der Kernenergie angesichts der volkswirtschaftlichen Belastungen durch den Einsatz der deutschen Steinkohle zur Sicherung der Stromversorgung auch für die Zukunft eine besondere Bedeutung hat. Es gilt, bestehende Kostennachteile möglichst zu vermindern und so die Wettbewerbschancen des Standortes Deutschland zu verbessern.
Die Erhöhung des Kohlepfennigs paßt eigentlich nicht dazu.
({1})
Aber da es andere wichtige Gründe dafür gibt, stimmen CDU und CSU dieser Erhöhung zu. In den ersten Monaten des nächsten Jahres werden wir uns dann über viele andere Fragen der Energieversorgung zu unterhalten und möglichst zu einigen haben. Die Steinkohle spielt auch dann wieder eine wichtige Rolle.
Man kann nur zurufen: Glück auf!
({2})
Als nächster spricht der Abgeordnete Volker Jung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundeswirtschaftsminister Rexrodt hat am 29. April dieses Jahres auf einer Kundgebung der IG Bergbau erklärt - das möchte ich gern wörtlich zitieren, obwohl er nicht hier ist -:
Die Bundesregierung steht ohne Abstriche zu den Vereinbarungen der Kohlerunde von 1991 .. . Wir halten daran fest, langfristig 50 Millionen Tonnen Kohleabsatz an die Elektrizitätswirtschaft und die Stahlindustrie mit Beihilfen zu stützen ... Wir haben in der Kohlerunde 1991 das Mengengerüst dafür bis zum Jahr 2005 verabredet ... Die Bundesregierung steht dazu ... Ich sage Ihnen, ... daß es eine Anschlußregelung zur Kohleverstromung in 1993 geben wird . . .
So der Bundeswirtschaftsminister wörtlich vor mehreren zehntausend Bergleuten.
Er wehrt sich immer dagegen, daß wir von „Wortbruch" sprechen. Die Bergleute, die diese Worte aus dem Mund des Bundeswirtschaftsministers gehört haben, wählen da ganz andere Ausdrücke, die aber hier als unparlamentarisch nicht zugelassen wären. Wie dem auch sei: Die Tatsache, daß Sie diese Worte nicht einlösen, können Sie heute nicht mehr aus der Welt schaffen.
Sie betonen immer wieder, daß wir in den Konsensgesprächen verabredet haben, über alle Bereiche der Energiepolitik zu sprechen - über Kohle, Kernenergie und Energiesparen. Das ist zweifellos richtig. Das hat niemand von uns in Frage gestellt. Aber Sie werden niemandem weismachen wollen, daß wir überhaupt in die Verhandlungen gegangen wären, wenn wir auch nur geahnt hätten, daß Sie diese Gespräche dazu benutzen, um sich Ihren Verpflichtungen aus der Kohlerunde von 1991 zu entziehen,
({0})
die Sie nämlich eingegangen sind, als hierzulande noch kein Mensch an Energiekonsensgespräche gedacht hat.
Sie werden auch niemandem weismachen können, daß die Konsensgespräche im Frühjahr dieses Jahres
auch nur einen einzigen Tag weitergegangen wären, wenn die Worte, die der Bundeswirtschaftsminister in Bochum gesprochen und in den Konsensgesprächen wiederholt hat, nicht als allseits akzeptierte Verhandlungsgrundlage betrachtet worden wären. Es ging seinerzeit nicht darum, ob, sondern lediglich darum, wie das vereinbarte Mengengerüst finanziert werden soll. Dazu hat der Bundeswirtschaftsminister sogar eine Kohlefinanzierungssteuer zugesagt. Aber er hat sich damit in der Bundesregierung und in der Regierungskoalition nicht durchsetzen können.
({1})
Erst dann sind einige Strategen von Ihnen auf die Idee gekommen, die Finanzierung der Steinkohleverstromung von unserer Zustimmung zur weiteren Nutzung der Kernenergie abhängig zu machen. Ich sage Ihnen: Auch an diesem Junktim sind die Konsensgespräche gescheitert.
Meine Damen und Herren, heute steht lediglich die Anhebung des Kohlepfennigs von 7,5 % auf 8,5 % für das Jahr 1994 zur Entscheidung. Wir Sozialdemokraten stimmen dieser Anhebung zu - dies schon deswegen, weil wir der Verordnung eine Mehrheit im Bundestag verschaffen wollen, nachdem nämlich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Wirtschaftsausschuß gezeigt hat, daß sie in dieser Frage gespalten ist.
({2})
- Herr Seesing, ich glaube, das zu erwähnen hätte zu Ihrer Darstellung dazugehört. - Das heißt mit anderen Worten: In der größten Fraktion dieses Hauses gibt es noch nicht einmal einen Konsens darüber, ob man den heimischen Steinkohlebergbau mittelfristig zurückführt oder ob man ihn sehenden Auges unmittelbar in eine existenzbedrohende Krise stürzt.
({3})
Denn wenn der Verordnungsentwurf heute scheitern würde, dann wäre der Bundeswirtschaftsminister aus eigener Kompetenz nur noch in der Lage, den Kohlepfennig für das nächste Jahr auf 4,5 % festzusetzen. Dann könnten neben den 5 Milliarden DM Schulden, die der Verstromungsfonds vor sich herschiebt, weitere 2 Milliarden DM an Ausgleichsforderungen der Elektrizitätswirtschaft im nächsten Jahr nicht bezahlt werden. Das müßte das gesamte System zum Zusammenbruch bringen.
Meine Damen und Herren, ich erspare es mir an dieser Stelle, auf die verlorengegangene Regierungsfähigkeit der Koalition hinzuweisen. Ich denke, das wird heute in der Presse wirksamer gemacht. Off en-sichtlich merkt der Bundeskanzler gar nicht mehr, wie er von seinen eigenen Leuten in den Wortbruch getrieben wird. Ich möchte nur ganz nüchtern feststellen: Die Bundesregierung weigert sich, eine der Mengenvereinbarung entsprechende Finanzierungsregelung auf den Tisch zu legen. Das sogenannte Artikelgesetz wird dem nicht gerecht.
Mit diesem Gesetz verkehrt die Bundesregierung die Vereinbarung der Kohlerunde in ihr Gegenteil,
Volker Jung ({4})
denn jetzt will sie einen Finanzplafond festlegen und die Fördermengen des Steinkohlebergbaus vom Preisrisiko, vom Wechselkurs- und Inflationsrisiko abhängig machen. Für die Zeit nach 1996 haben Sie im Grunde nur Absichtserklärungen zu bieten, die deklamatorischen Charakter haben, aber keine Selbstverpflichtung beinhalten. Für die Zeit nach dem Jahr 2000 haben Sie beschlossen, die Finanzierung degressiv zu gestalten. Bei unveränderten Preisrelationen zwischen Importkohle und heimischer Steinkohle bedeutet dies, daß Sie den deutschen Steinkohlebergbau in wenigen Jahren zum Erliegen bringen. Damit verweigern Sie die notwendigen Rahmenbedingungen, die für eine langfristige Planungssicherheit im Bergbau unerläßlich sind.
Alle anderen an der Kohlerunde Beteiligten haben ihre Verpflichtungen eingehalten. Der Bergbau hat sich den ökonomischen Notwendigkeiten einer Anpassung der Kapazitäten in der Vergangenheit nie entzogen. In der letzten Kohlerunde wurde vereinbart, den Absatz deutscher Steinkohle von 63 Millionen t im Jahr 1991 schrittweise bis zum Jahr 2000 auf 50 Millionen t zu verringern und bis zum Jahr 2005 auf diesem Niveau zu halten. Die Bergleute und ihre Gewerkschaft haben diesem Kompromiß aber nur deswegen zugestimmt, weil die Bundesregierung verbindlich zugesagt hat, rechtzeitig eine tragfähige Finanzierungsregelung für das vereinbarte Förderkonzept vorzulegen.
Meine Damen und Herren, deshalb hat die SPDBundestagsfraktion jetzt einen Gesetzentwurf über die weitere Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Elektrizitätswirtschaft und zur Einführung einer Energiesteuer in den Bundestag eingebracht - wenn Sie so wollen, ein alternatives Artikelgesetz. Mit unserem Gesetzentwurf wird eine langfristige Perspektive für die Steinkohleverstromung bis zum Jahr 2005 aufgezeigt.
Eine Erhöhung der Energiesteuer ist zur ökologischen Modernisierung unserer Industriegesellschaft, aus Gründen des Klimaschutzes, der Ressourcenschonung und des effektiven Einsatzes von Energie ohnehin unerläßlich, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern in der ganzen Europäischen Gemeinschaft, ja sogar weltweit.
Wir haben mit Bedauern zur Kenntnis genommen, daß das Projekt einer einheitlichen europäischen Energiesteuer in Brüsseljetzt auf Eis gelegt ist. Darum schlagen wir im Vorgriff und als Vorleistung eine nationale Energiesteuer vor.
Wir wollen aus dem Aufkommen nicht nur die vereinbarten Mengen westdeutscher Steinkohle finanzieren, sondern die Effizienzverbesserung der ostdeutschen Braunkohle und die Rekultivierung der Braunkohlenreviere langfristig absichern sowie ein Programm zur Energieeinsparung und zur Förderung erneuerbarer Energietechniken auflegen.
Meine Damen und Herren, die Kohlepolitik der Bundesregierung ist also ein Scherbenhaufen. Ich frage Sie: Glauben Sie im Ernst, Sie könnten mit Ihrem verunglückten Artikelgesetz Vertrauen bei den an der Kohlerunde Beteiligten zurückgewinnen?
({5})
Glauben Sie wirklich, Sie könnten mit Ihren Novellierungsvorschlägen zum Atomgesetz, die nur mit den Stimmen der Regierungskoalition verabschiedet werden, auch nur ein einziges Energieversorgungsunternehmen dazu bewegen, ein neues Kernkraftwerk zu bauen? - Ich denke, das glauben Sie selber nicht.
Darum appelliere ich an Sie: Kehren Sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Schlagen Sie eine tragfähige Finanzierung der Steinkohleverstromung vor. Dazu könnte unser Gesetzentwurf einen Anhaltspunkt bieten. Reden Sie nicht nur über Energieeinsparen, sondern lassen Sie sich auf eine ernsthafte Diskussion ein. Das wird ohne eine höhere Energiebesteuerung nicht gelingen.
({6})
Dann werden wir auch bereit sein, meine Damen und
Herren, über die Ansatzpunkte weiter zu diskutieren,
die wir in den Konsensgesprächen gefunden haben.
Ich danke Ihnen.
({7})
Als nächstem erteile ich das Wort unserem Kollegen Klaus Beckmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Jung, ich bin nicht sehr davon überzeugt, daß Sie mit Ihrer Rede, die Sie gerade dargeboten haben, der deutschen Kohle und den deutschen Bergleuten neue Freunde gewonnen haben;
({0})
denn daß es sehr schwierig ist, für die Interessen der Kohlereviere Verbündete zu finden, haben wir in den letzten Wochen und Monaten zur Genüge erlebt.
Lassen Sie mich hinzufügen: Die Konsensgespräche sind nicht wegen der Kohlefrage vorläufig gescheitert. Das wissen Sie genausogut wie ich.
({1})
Wir beiden haben von der ersten bis zur letzten Stunde an ihnen teilgenommen und wissen: Sie sind gescheitert, weil sich Ihre nach vorne gerichteten und klugen Kollegen Ministerpräsident Schröder und Staatsminister Clement mit ihren Konzepten im Präsidium der Sozialdemokratischen Partei am 25. Oktober nicht haben durchsetzen können. Das ist doch der Punkt.
({2})
Wenn in dieser Sache der Herr Ministerpräsident Eichel z. B. dem Ministerpräsidenten Schröder vorwirft, er habe Gummi im Kreuz, und dieser repliziert, dann habe der andere Stroh im Kopf, darf man doch auch einmal anmerken, daß das nicht die richtigen Verbündeten für eine tragfähige Energiepolitik in diesem Hause sind.
({3})
Ob das aber tatsächlich so ist, wie die beiden Ministerpräsidenten voneinander behaupten, wage ich
nicht zu beurteilen. Mir fehlen die notwendigen Insiderkenntnisse und Erfahrungen. Das können diese Herren besser beurteilen.
Mit der vorliegenden Verordnung hat die Koalition in einem ersten Schritt ihren Beschluß vom 19. Oktober 1993 eingelöst und ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt, für die Jahre 1993 und 1994 den Einsatz der westdeutschen Steinkohle über eine wirtschaftlich tragfähige und notwendige Erhöhung des Kohlepfennigs zu sichern. Ich weiß, daß es nicht allen meinen Kollegen leichtgefallen ist, dieser moderaten Erhöhung zuzustimmen. Insofern haben Sie mit dem recht, Herr Kollege Jung, was Sie über die Meinungsbildung in den einzelnen Fraktionen gesagt haben. Der Kollege Seesing hat ja auch gar keinen Hehl daraus gemacht. In meiner Fraktion war es ähnlich.
Als um so erfreulicher bewerte ich das einstimmige Ergebnis im Wirtschaftsausschuß. Diese Entscheidung ist aber nur ein Teilschritt im Rahmen einer zukunftsweisenden Energiepolitik, die, eingebettet in einen Energiebinnenmarkt, auf einem gesunden Energiemix beruht. Zu diesem Energiemix gehört natürlich auch die Kernenergie.
Mit dem Energieartikelgesetz, das gestern im Kabinett beraten wurde und in den Bundestag eingebracht werden wird, hat die Bundesregierung die Rahmendaten für eine zukünftige Energiepolitik festgelegt. Eckpfeiler des Gesetzes sind die Kohleverstromung und der zukünftige Einsatz der Kernenergie. Energiesparen und der verstärkte Einsatz von regenerativen Energien werden ebenso berücksichtigt wie die weitere Finanzierung der Altlasten der ostdeutschen Braunkohle. Davon habe ich in Ihrem Beitrag, Herr Kollege Jung, allerdings nichts gehört.
({4})
Der Bergbau hat erkannt, daß ihm durch das Artikelgesetz Chancen eröffnet werden. Ich begrüße diese Haltung ausdrücklich und bin zuversichtlich, daß er es verstehen wird, seine unternehmerischen Kräfte zu mobilisieren und sich den neuen Anforderungen zu stellen. Zukünftig wird der Verkaufsbereich, wie in allen Branchen üblich, eine der wesentlichen unternehmerischen Aufgaben übernehmen und so dafür Sorge tragen, daß die in der Kohlerunde zugesicherten Verstromungsmengen auch im Markt abgesetzt werden können.
Die F.D.P. begrüßt, daß sich die Unterstützung der westdeutschen Steinkohle nicht länger an Mengen orientiert, sondern zukünftig an einen festen Finanzplafond von 7,5 Milliarden DM geknüpft ist. Im Jahre 1996 wird den Bergbauunternehmen ein Plafond in dieser Höhe zur Verfügung gestellt, für den Zeitraum 1997 bis 2000 erhalten sie Finanzplafonds in Höhe von 7 Milliarden DM.
Erinnern wir uns doch: Die Bewilligung von Milliarden D-Mark für den Bergbau war in der Vergangenheit oft nicht mehr als eine Routineangelegenheit in diesem Hause. Kritische Anmerkungen meiner Fraktion, aber auch des Bundeswirtschaftsministers zur Vergabepraxis sind bei den Kollegen in der CDU/ CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion, aber auch innerhalb der Bundesregierung allzuoft auf taube Ohren
gestoßen. Daß das nicht länger so ist, ist durchaus erfreulich. Endlich haben auch Sie erkannt, daß staatliche Bezuschussungen kein Faß ohne Boden sein dürfen.
Deutschland hat eine Neuorientierung auch in der Energiepolitik nötig. Wie wir alle wissen, stehen heute die finanziellen Spielräume vergangener Jahre nicht mehr zur Verfügung. Jetzt gilt es, dem Bergbau eine unternehmerische Zukunft zu sichern.
Vielen Dank.
({5})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz, auch Kohlepfennig genannt, wird ja nicht direkt, wie vielfach draußen bei der Bevölkerung angenommen, an den Bergbau gezahlt, sondern hauptsächlich an die gewiß nicht gerade notleidende Elektrizitätswirtschaft, damit sie die heimische Steinkohle in der Elektrizitätserzeugung einsetzt.
Sie könnte vielleicht auch den Mehraufwand für den Einsatz heimischer Steinkohle aus der eigenen Tasche bezahlen, zumindest stehen Riesengewinne an. Trotz Rezession stieg beispielsweise bei RWE das Ergebnis aus gewöhnlicher Geschäftstätigkeit vor Steuern von 675,6 Millionen DM auf über 1 Milliarde DM. Doch Solidarbeiträge und Nullrunden werden in schlechten Zeiten nur von den kleinen Leuten verlangt. Die Gewinne der Großkonzerne sind heilig.
Wer meint, durch hohe Gewinne der Elektrizitätswirtschaft würden Arbeitsplätze geschaffen und gesichert, sieht sich getäuscht: RWE kauft sich verstärkt in die Kohleförderung der USA ein, und die VEBA erwarb kürzlich Anteile an der schwedischen Sydkraft.
Die PDS/Linke Liste im Bundestag unterstützt den gesamtgesellschaftlich sinnvollen Einsatz heimischer Steinkohle. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Ergebnis der Kohlerunde von 1991 einzuhalten. Importkohle ist keine Alternative. Die zur Zeit niedrigen Weltmarktpreise werden auf Kosten von Menschen und Umwelt und durch Dumping erzielt. Selbst die Internationale Energie-Agentur deutete vorsichtig an, daß sich die Preissituation auf den Weltenergiemärkten ab Mitte des Jahrzehnts drastisch ändern könnte, wodurch sich der Stützungsbedarf für die heimische Steinkohle verringern würde.
Zur Sicherung der Förderung und im Interesse der Menschen in den Steinkohlerevieren wird die PDS/ Linke Liste der Erhöhung der Ausgleichsabgabe aber zustimmen. Gleichwohl sind wir der Ansicht, daß die finanzielle Sicherung der Steinkohleförderung anders, und zwar durch eine Energieabgabe auf den Energieverbrauch, geregelt werden muß. Selbstverständlich müßten aus der Energieabgabe auch Maßnahmen zur effizienten Energienutzung, zur Nutzung regenerativer Energiequellen und ein Anschlußkonzept für die Braunkohle in Ostdeutschland finanziert werden.
Dr. Fritz Schumann ({0})
Die Erhebung des Kohlepfennigs in Ostdeutschland halten wir allerdings für völlig unsinnig. Dort wird Steinkohle aus heimischer Förderung praktisch nicht eingesetzt, sondern Importsteinkohle, was wir im allgemeinen für keine gute Idee halten. Und was die Strompreise in Ostdeutschland anbelangt, so sind sie ohnehin schon hoch genug und zum Teil höher, insbesondere in der gewerblichen Wirtschaft, als in den alten Bundesländern.
Danke schön.
({1})
Als nächster spricht Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Debatte über den Verordnungsentwurf verführt natürlich dazu, insgesamt gleich auch über das nächste Gesetz in diesem Zusammenhang zu reden, das erst gestern im Kabinett beschlossen worden ist, und natürlich auch über den Energiekonsens, der eigentlich Grundlage auch schon dieses Verordnungsentwurfs sein müßte. Insofern, Herr Kollege Jung, möchte ich Sie eigentlich auffordern, mit dazu beizutragen - entsprechend auch Ihrer persönlichen Überzeugung, wie wir ja wissen -, daß in Ihrer Fraktion und in den Bundesländern, die daran ein besonderes Interesse haben müßten, dieser Konsens wieder herbeigeführt wird als eine Geschäftsgrundlage für die nicht gerade leichten Finanzierungsfragen, die sich jetzt mit diesem Verordnungsentwurf, aber auch vor allem in den nächsten Jahren stellen.
Mit dem jetzigen Vorschlag werden wir sicherstellen können, daß der Verstromungsfonds seinen Zahlungsverpflichtungen im kommenden Jahr nachkommen kann und das Defizit von zur Zeit schon etwas mehr als 5 Milliarden DM nicht weiter ansteigt. Die anhaltend niedrigen Ölpreise haben in den letzten Jahren zu erhöhten Ausgleichsansprüchen der Kraftwerkswirtschaft geführt. Deshalb konnte das Defizit des Verstromungsfonds trotz aller Stabilisierungsmaßnahmen nicht beseitigt werden.
Im kommenden Wirtschaftsjahr werden auf den Verstromungsfonds voraussichtlich Ansprüche in Höhe von etwa 6 Milliarden DM zukommen. Dem stehen dann Einnahmen aus dem Kohlepfennig in etwa gleicher Höhe von 6 Milliarden DM gegenüber, wenn wir diesen Verordnungsentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, beschließen.
Die Anhebung um einen Prozentpunkt ist gesamtwirtschaftlich vertretbar, wenngleich es natürlich besser gewesen wäre, wir wären in der Lage, eine zusätzliche Kostenbelastung zu vermeiden. Aber die Alternative wäre nur eine Erhöhung des Defizits gewesen. Das hätte gesamtwirtschaftlich betrachtet die gleiche Wirkung gehabt.
Wir glauben, daß die Erhöhung des Kohlepfennigs vertretbar ist; denn sie bedeutet für einen VierPersonen-Haushalt eine Mehrbelastung von 9 DM im Jahr, und für die Industrie verteuert sich der Strom um durchschnittlich 0,16 Pfennig je Kilowattstunde. Deshalb sollte man die Folgen auch nicht dramatisieren.
Der Gesetzentwurf, der in den kommenden Monaten in Bundesrat und Bundestag zu behandeln sein wird und der die langfristigen Fragen betrifft, sieht zur Lösung der finanziellen Probleme des jetzigen Verstromungsfonds eine Festlegung des Kohlepfennigs auch 1995 auf 8,5 % zur Vermeidung eines weiteren Defizitanstiegs vor, so daß wir eine gleichbleibende Belastung haben. Es wird eine Erweiterung des Kreditrahmens für den Verstromungsfonds auf bis zu 6 Milliarden DM erforderlich sein, um die Bedienung der bestehenden Verbindlichkeiten aus Kreditverträgen sowie von Zuschußansprüchen von Unternehmen der Kraftwirtschaft zu ermöglichen.
Zur Steinkohleverstromung ab 1996 wird - das ist von den Vorrednern schon erwähnt worden - das System umgestellt werden. Zuschußempfänger sollen dann nicht mehr die Energieversorgungsunternehmen sein, sondern der Bergbau direkt. Für 1996 erfolgt dann erstmals die Plafondierung auf 7,5 Milliarden DM. Herr Kollege Jung, wenn ich richtig zugehört habe, haben Sie zur Frage der Umstellung auf Plafondierung nichts gesagt. Ich denke, daß das ein richtiger Schritt ist. Auch Sie sollten sich wirklich dazu durchringen, diese auf mehr Wirtschaftlichkeit gerichtete Umstellung zu begrüßen und nicht einfach nur zu verschweigen.
({0})
Als Finanzierungsinstrument ist für 1996 dann noch einmal der Kohlepfennig vorgesehen. Wir werden für den Zeitraum von 1997 bis 2000 zur Finanzierung des Finanzplafonds von dann 7 Milliarden DM rechtzeitig über eine neue Finanzierung zu entscheiden haben. Ich würde es, Herr Kollege Jung, für falsch halten, wenn man heute entscheiden würde, mit welchem Finanzierungsweg man das Jahr 1997 beschreiten will. Es mag sein, daß eine wie auch immer geartete Energiesteuer an Stelle eines Kohlepfennigs oder auch eines modifizierten Kohlepfennigs die bessere Lösung ist.
Aber noch in dieser Legislaturperiode, so wie Sie es mit Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen, über eine Regelung entscheiden hieße, die Bemühungen auf europäischer Ebene zu einer europäischen Regelung zu erschweren. Wir haben drei Jahre Gelegenheit, unsere Bemühungen auf der europäischen Ebene fortzusetzen. Ich beurteile es, auch nach Gesprächen auf europäischer Ebene, nicht so skeptisch wie Sie, daß es nicht doch möglich sein sollte, hier eine Regelung zu finden. Dann ist ein nationaler Vorgriff eher negativ. Man müßte ihn nach einer europäischen Regelung vermutlich ändern. Nach allem, was bisher auf europäischer Ebene diskutiert wird, ist das j eden-falls nicht mit dem vereinbar, was Sie an reiner Outputsteuer vorlegen wollen.
Das Artikelgesetz sieht vor, daß die Finanzierung der Steinkohleverstromung für den Zeitraum 2001 bis 2005 noch rechtzeitig festgelegt werden soll. Dabei wollen wir auch die Finanzplafonds weiter zurückführen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was wir anstreben, ist ein Kompromiß.
Ich finde, in einer solchen wichtigen Frage, in der es um Milliardenbeträge geht, müssen wir die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge berücksichtigen. Wir können auch im Hinblick auf unsere Überlegungen über den Standort Deutschland die Finanzierung eines Bereiches, in dem nicht gerade Innovationen hervorgerufen werden, heute nicht einfach auf lange Frist festschreiben. Wir wissen, daß wir gleichzeitig gefordert sind, unsere Kräfte zur Entwicklung neuer Technologien mit neuen Möglichkeiten und neuen Wachstumschancen zu bündeln. Auch unter diesem Gesichtspunkt sollten Sie die Möglichkeiten, die mit dem Artikelgesetz eröffnet werden, als einen Kompromiß betrachten, der allerdings auch voraussetzt, daß Sie Ihrerseits zum Konsens bei Kohleverstromung und Kernenergie, der jahrelang auch in diesem Hause bestanden hat, zurückkehren.
Danke sehr.
({1})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zur Verordnung über den Prozentsatz der Ausgleichsabgabe nach dem Dritten Verstromungsgesetz, Drucksachen 12/6242 und 12/6368. Der Ausschuß empfiehlt, der Verordnung der Bundesregierung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung bei vier Enthaltungen bei der CDU/CSU und einer Enthaltung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts Wismar West-Wismar Ost der Bundesautobahn A 20 Lübeck-Bundesgrenze ({0})
- Drucksache 12/5001 (Erste Beratung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({1})
- Drucksache 12/6371 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Gibtner Reinhold Hiller ({2}) Dr. Klaus Röhl
Rudolf Meinl
Manfred Schell
Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die beiden Gruppen jeweils 5 Minuten erhalten sollen. Gibt es Widerspruch? - Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege Horst Gibtner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 30. Juni dieses
Jahres hat die Mehrheit dieses Hohen Hauses mit dem Vierten Gesetz zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes auch den Bedarf für die sogenannte Küstenautobahn, die A 20, festgestellt. Der Bundesrat hat zugestimmt. Das Gesetz ist in Kraft. Diese Küstenautobahn gehört zu den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit. Es kann keinen Zweifel geben, daß sie notwendig ist und daß sie gebaut wird.
Bei der Linienbestimmung für die A 20 ergab sich in Höhe der Hafenstadt Wismar eine stadtnahe Trasse, die die Funktion einer unmittelbaren Umfahrung für den Fernverkehr übernehmen kann und dafür vordringlich fertiggestellt werden muß. Selbst die nach dem Beschleunigungsgesetz erreichbaren verhältnismäßig kurzen Planungszeiten sind für die dort herrschenden Verhältnisse noch unerträglich lang. Deshalb hat die Bundesregierung ein Investitionsmaßnahmengesetz für den Autobahnabschnitt Wismar West-Wismar Ost vorgesehen.
Meine Damen und Herren, durch das Stadtzentrum von Wismar führen die beiden Bundesstraßen 105 und 106. Der Verkehr hat zu einer unzumutbaren Belastung für die Bürger geführt. Schon heute fahren täglich ca. 30 000 Fahrzeuge durch die Stadt bzw. verstopfen die Hauptstraßenzüge. Insgesamt fahren 100 000 Fahrzeuge im gesamten Radialverkehr von und nach Wismar. Davon sind 25 %, in Spitzenzeiten bis zu 47 % Durchgangsverkehr, darunter überwiegend schwere Lastkraftwagen. Dies wird zumindest bei sachlicher und realistischer Betrachtung in den nächsten Jahren noch schlimmer werden.
Beim Ortstermin der Berichterstatter in Wismar am 15. November beschworen uns die gewählten Vertreter der Stadt Wismar, der betroffenen Gemeinden, der Landkreise und der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern, alles für einen schnellen Bau der A 20, vor allem des Abschnittes Wismar West-Wismar Ost, zu tun. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dazu bereit.
Wie nicht anders zu erwarten, gibt es auch Gegner des Projektes, die sich in den bekannten Umweltverbänden und in einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen haben. Aber die wenigsten ihrer Mitglieder sind Bewohner der betroffenen Städte und Gemeinden. Ihre Anhängerschaft dürfte kaum über die Zahl ihrer Mitglieder hinausgehen. Aber ihre Argumente, die sind um so gewichtiger. Sie richten sich gegen das Auto an sich, gegen den Bau von Straßen im allgemeinen und natürlich gegen den Bau dieser Autobahn im besonderen.
({0})
Die Argumentation von Autobahngegnern wird mir völlig unverständlich, wenn sie alternativ den Ausbau der bestehenden Fernstraßen fordern. Die meisten sind baumbestandene Alleen mit zahllosen Ortsdurchfahrten. Selbst ein Laie kann sich ausmalen, daß eine nach allen Regeln der Kunst trassierte neue Autobahn geringere Eingriffe in den Naturhaushalt und weniger Belastungen für die Menschen verursacht. Aber Auswirkungen hat der Bau eines neuen Verkehrsweges selbstverständlich.
Die Berichterstatter des Verkehrsausschusses, des Bauausschusses, des Rechtsausschusses und des Umweltausschusses konnten sich davon überzeugen, daß der Plan für den zu genehmigenden Autobahnabschnitt durch die DEGES, die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, sehr sorgfältig ausgearbeitet wurde, daß alle Stellungnahmen Betroffener gründlich erörtert und weitgehend berücksichtigt wurden und daß die Ausgleichsmaßnahmen mit den zuständigen Behörden abgestimmt sind. Alle vier Bundestagsausschüsse empfehlen deshalb mehrheitlich, dem Plan zuzustimmen.
Besonders wichtig erscheint mir dabei das Votum der Umweltpolitiker der Regierungskoalition, die selbstverständlich darauf geachtet haben, daß nicht mehr als nötig in die Natur eingegriffen wird. Aber sie sehen die Notwendigkeit für den Bau des Autobahnabschnittes und geben ihm den Vorrang.
Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, daß es über die Zulässigkeit von Investitionsmaßnahmengesetzen Meinungsverschiedenheiten gibt. Aber diese Frage wird wie bei jeder Gesetzgebung durch das Abstimmungsergebnis im Parlament entschieden werden. Meine Fraktion ist der Überzeugung, daß wir als Gesetzgeber zur Abwendung einer Notsituation den Plan für den Bau eines Verkehrsweges genehmigen können und sogar müssen, wie es schon für die Eisenbahn-Südumfahrung Stendal geschehen ist.
Im vorliegenden Fall besteht die Notsituation in den katastrophalen Verkehrsverhältnissen in dieser Region, insbesondere in der Stadt Wismar, für deren Behebung das Investitionsmaßnahmengesetz gegenüber einem beschleunigten Planfeststellungsverfahren einen Zeitgewinn von ca. eineinhalb Jahren ermöglicht. Deshalb hat die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern einem solchen Verfahren ausdrücklich zugestimmt.
Es ist für mich vollkommen logisch, für die Südumfahrung der Stadt Wismar einen Bauabschnitt der ohnehin geplanten Autobahn zeitlich vorzuziehen. Da sich die westlich und östlich angrenzenden Autobahnabschnitte noch in der Planung befinden, war es notwendig, die Linienführung in einem größeren Bereich zu untersuchen. Der Gesetzentwurf enthält deshalb alle notwendigen Aussagen zur Linienbestimmung zwischen Rehna und Neukloster. Daraus geht unbestritten hervor, daß für den Mittelabschnitt zwischen den Anschlußstellen Wismar West und Wismar Ost Planungssicherheit hinsichtlich der Linienführung besteht. Nur dieser Mittelabschnitt von ca. 10 km Länge ist Gegenstand der Genehmigung durch das Investitionsmaßnahmengesetz.
Meine Damen und Herren, wir werden vermutlich noch hören, daß eine denkbare Verfassungsklage den beabsichtigten Zeitgewinn gegenüber einem herkömmlichen Planungsverfahren zunichte machen könnte. Ich möchte jedoch diejenigen sehen, die die Wismarer Verkehrsverhältnisse nicht als Notsituation einzustufen bereit sind. Sie sollten dazu gezwungen werden, lebenslänglich an den Durchgangsstraßen von Wismar zu wohnen.
({1})
Wir werden auch hören, man sollte den Verkehr möglichst ganz vermeiden und den Rest auf die Schiene verlagern. Ich möchte diejenigen sehen, die auf den Wohlstand und die Annehmlichkeiten des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu verzichten bereit sind. Jeder weiß, daß das Auto als Transportmittel und auch als Produkt unserer Wirtschaft zu unserem heutigen Lebensniveau erheblich beiträgt. Wer das bezweifelt, sollte einmal versuchen, ausgerechnet in Mecklenburg-Vorpommern mehrere Jahre ohne Auto auszukommen. Wohlgemerkt: Auch seine Versorgung dürfte nicht mit dem Auto stattfinden.
({2})
- Gewiß, das war in früheren Jahrhunderten möglich. Aber weil die Menschen so nicht mehr weiterleben wollten, haben sie das Auto erfunden.
({3})
Wir werden möglicherweise auch hören: Dann sollte man zumindest keine neuen Straßen bauen. Denn neue Straßen würden nur zusätzlichen Autoverkehr induzieren. Eine Autobahn würde Mecklenburg-Vorpommern schaden.
Meine Damen und Herren, ich möchte die Autobahn irgendwo in der Welt sehen, die nicht zugleich eine Erschließungsfunktion für die Region hat. Denn wozu sonst erhalten Autobahnen Anschlußstellen?
Richtig ist allerdings, daß nicht ausschließlich Straßen gebaut werden sollten. Deswegen bauen wir nahezu parallel zur A 20 das Verkehrsprojekt Nr. 1, die Schienenverbindung Lübeck-Rostock-Stralsund.
Meine Damen und Herren, die Bundesautobahn A 20 gehört zu den vordringlichen Verkehrsprojekten in den neuen Bundesländern. Wir haben die Absicht, die kürzesten Planungs- und Bauzeiten für die neuen Verkehrswege zu gewährleisten.
({4})
Wir setzen damit zugleich die Arbeit des vorigen Bundesverkehrsministers, Professor Günther Krause, fort, für die Menschen in den neuen Bundesländern.
({5})
Die Bürger von Wismar sollen besonders schnell etwas davon haben.
Deswegen empfehle ich für meine Fraktion die Zustimmung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf.
({6})
Als nächster spricht der Kollege Reinhold Hiller.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die SPD setzt sich für den zügigen Ausbau der A 20, wie ihn die überwiegende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Mecklenburg-Vorpommern fordert, ein.
({0})
Bereits bei der Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplanes haben wir dazu klare Aussagen
Reinhold Hiller ({1})
gemacht. Der Bau der A 20 ist Teil eines Gesamtkonzepts zum verkehrlichen und wirtschaftlichen Zusammenwachsen des Ostseeraumes, der weit über die vorpommersche-polnische Grenze bis an baltische Staaten hinausreicht, die ihre Freiheit wiedergewonnen haben.
Die Bundesregierung setzt die Politik der einseitigen Bevorzugung der Straße gegenüber der Schiene, die schon in den alten Bundesländern gescheitert ist, auch bei der Herstellung der notwendigen Infrastruktur in den neuen Bundesländern fort,
({2})
anders als Bundesverkehrsminister Krause, der in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. November 1992 großspurig verkündet hat:
Also wird der Schienenweg von Lübeck nach Stralsund natürlich zweispurig ausgebaut,
({3})
wie das Bundeskabinett es schon im Frühjahr 1991 beschlossen hat.
Tatsache ist: Trotz pompöser Grundsteinlegung im Februar dieses Jahres wird mit den Bauarbeiten zwischen Lübeck und Bad Kleinen wohl erst Anfang 1994 ernsthaft begonnen werden, und das noch nicht einmal durchgängig zweigleisig. Diese Politik ist eine Fehlanzeige. Herr Kollege Gibtner, insofern liegen Sie nicht ganz richtig, wenn Sie als Begründung für die A 20 den parallelen Ausbau der Schienenverbindung anführen.
({4})
Die Energie hätte stärker auf den Ausbau der Eisenbahn gerichtet sein müssen, wie es den Bürgerinnen und Bürgern von Mecklenburg-Vorpommern immer wieder erzählt worden ist.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Bewohner der Gemeinden entlang der alten OstWest-Straßen und der neuen Schleichwege werden Tag und Nacht durch den stetig wachsenden Verkehr in ihrer Lebensqualität erheblich belastet.
Herr Hiller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gibtner?
Gerne.
Lieber Herr Kollege Hiller, sollten Ihre Bemerkungen zum Bau der Eisenbahnstrecke Lübeck-Rostock-Stralsund - „Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nummer 1" - eine Kritik an der Bundesregierung und den Regierungsfraktionen bedeuten, daß sie nicht auch dafür ein Investitionsmaßnahmengesetz vorgesehen haben? Die langen Planungszeiten bedingen, daß dort von einem späteren Baubeginn auszugehen ist.
Herr Kollege Gibtner, das ist nicht mein Punkt. Mein Punkt ist ein
anderer: Sie ziehen im Osten durch die Lande, machen Versprechungen, die Sie nicht einhalten können, und anschließend wundern Sie sich, daß die Bürgerinnen und Bürger sauer sind.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Günther Krause?
Ja; bitte.
Herr Kollege, ich möchte Sie fragen, ob Ihre Zustimmung, die Sie vor wenigen Tagen zur Bahnreform und damit auch für den Ausbau von Strecken in ein-, zwei-, dreioder viergleisiger Form gegeben haben, nicht auch aus betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Gründen erfolgte und nicht nur aus Gründen ideologisierter Schienenpolitik. Insofern bitte ich Sie, Ihre Aussage zu korrigieren, daß im Bundesverkehrswegeplan die Zweigleisigkeit erhalten bleibt, in den Wirtschaftsplänen aber nur der in den nächsten Jahren zu erwartende Aufwand für den eingleisigen Ausbau vorgesehen ist. Ist dies nicht eine korrekte Darstellung des Sachverhalts? Ihre Darstellung könnte in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, daß wir vom Bundesverkehrswegeplan abrücken.
Darauf will ich Ihnen gern antworten. Erstens hoffe ich mit Ihnen, daß es in Zukunft gelingt, die Bahn bei der Verkehrsplanung zu bevorzugen.
Zweitens zitiere ich noch einmal, was Sie hier im Deutschen Bundestag gesagt haben:
Also wird der Schienenweg von Lübeck nach Stralsund natürlich zweispurig ausgebaut, wie das Bundeskabinett es schon im Februar 1991 beschlossen hat.
Das ist für mich die entscheidende Aussage. Diese Aussage, Herr Kollege Krause, hat in der Region viele Hoffnungen geweckt, die inzwischen durch andere Aussagen enttäuscht worden sind. Das ist der Punkt.
({0})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Krause?
Bitte.
Herr Krause.
Herr Kollege, ist es korrekt, daß der Bundesverkehrswegeplan bis zum Jahr 2012 den Ausbau der zweispurigen Strecke ermöglicht, aber natürlich nicht im Jahr 1995 an allen Stellen der Kommunismus zweigleisig bewältigt werden kann?
Dies ist korrekt. Aber Sie hätten den Bürgerinnen und Bürgern die Zeitangaben sofort erklären müssen und nicht von „blühenden Landschaften" sprechen dürfen, wie es
Reinhold Hiller ({0})
bei Ihrer Politik üblich ist, weil die Bürger und Bürgerinnen denken, daß dies sofort möglich ist.
({1})
Dieser Ansatz der Politik ist auch in der Verkehrspolitik gescheitert.
Jetzt will ich fortfahren, wenn es keine weiteren Zwischenfragen gibt. Bei den Besuchen in Mecklenburg-Vorpommern - ich komme aus Lübeck und kenne die Region ziemlich genau - stelle ich fest, daß die Straßen überlastet sind und daß zunehmend auch eine Verlagerung des Lkw-Verkehrs auf Schleichwege stattfindet, die zu unzumutbaren Belastungen der Bürgerinnen und Bürger dort führen. Deshalb ist es ganz klar, daß die Bürgermeister von Schwerin und Wismar, die Landräte von Wismar-Land und Grevesmühlen sowie die Vertretung sämtlicher betroffener Gemeinden zu Recht fordern, daß eine zügige Entlastung durch eine Bündelung des Verkehrs auf der neuen A 20 stattfinden kann.
Meine Fraktion unterstützt diese Forderung ebenso wie die in Rede stehende Umgehung Wismar und die Anbindung der A 241 an die A 20. Dazu hat die SPD einen Antrag vorgelegt. Ich würde mich sehr freuen, wenn es ein Ergebnis des Besuches der Berichterstatter vor Ort wäre, daß auch die Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen unserem Antrag zustimmen könnten; denn dadurch würde ein Fehler in der Planung nachträglich korrigiert.
Meine Damen und Herren, mit dem Investitionsmaßnahmengesetz hat die Bundesregierung einen Weg beschritten, der nicht dem Interesse der Sache dient. Die Ankündigungen des ehemaligen Bundesministers für Verkehr, das Investitionsmaßnahmengesetz sei ein Beschleunigungsinstrument zum Aufbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern, hat sich als Seifenblase entpuppt. Ich verweise auf die grundsätzlichen und verfassungsrechtlichen Bedenken, die insbesondere meine Kollegin Dr. Wetzel im Zusammenhang mit der Eisenbahnumgehung Stendal geäußert hat. Allein bei der Verkündung des Gesetzes für Stendal sind monatelange Verzögerungen eingetreten.
({2})
Dies läßt auch für Wismar nichts Gutes erwarten. Für etwaige Verzögerungen trägt damit die Koalition die Verantwortung.
Die beauftragte Planungsfirma DEGES hat eine Trasse gefunden, die auch nach meiner Ansicht eine hohe Plausibilität aufweist. Sie hat gute Arbeit geleistet; nicht sie ist zu kritisieren, sondern der Auftraggeber, und das ist die Bundesregierung,
({3})
die es versäumt hat, einen gleichzeitigen Planungsauftrag für die Anbindung der A 241 und die Westtangente Wismar zu erteilen.
({4})
Dies ist zu Recht bei den Bürgern und Bürgerinnen vor
Ort in Wismar auf Unverständnis gestoßen. Dies
könnte geheilt werden, wenn unser Antrag heute eine Mehrheit fände.
Abschließend möchte ich bemerken, daß die SPD seit langem die Durchsetzung der Planung von Vorhaben zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur durch sogenannte Investitionsmaßnahmengesetze ablehnt. Die grundsätzliche Kritik an Investitionsmaßnahmengesetzen ist anscheinend inzwischen von der Bundesregierung in dankenswerter Weise aufgegriffen worden. Die übrigen Teilabschnitte sollen bereits jetzt ohne Investitionsmaßnahmengesetz in einem normalen Verfahren gebaut werden.
({5})
Wenn die Informationen stimmen, hat die Bundesregierung auch das Investitionsmaßnahmengesetz A 15 zurückgezogen.
({6}) - A 14; Entschuldigung.
Anscheinend aus ideologischen Gründen weigert sich die Bundesregierung, für den verkehrsmäßig besonders belasteten Raum Wismar gleichzeitig ein normales Planungsverfahren einzuleiten, um alle späteren Risiken einer Verzögerung auszuschalten.
Ich glaube, daß die Bürgerinnen und Bürger in Mecklenburg-Vorpommern recht haben, wenn sie mit Unverständnis auf das von der Regierung gewählte Verfahren reagieren.
Herr Hiller, gestatten Sie eine erneute Zwischenfrage des Abgeordneten Gibtner?
Ja; bitte.
Herr Kollege Hiller, trauen Sie sich selber als Abgeordneter, der dem Gesetzgeber angehört, nicht zu, daß wir uns mit dieser Gesetzesinitiative durchsetz en? Oder hoffen Sie, wenn zwei verschiedene Planungsverfahren gleichzeitig eingeleitet werden, auf einen unterschiedlichen Ausgang dieser beiden Verfahren?
Ich hoffe nicht auf einen unterschiedlichen Ausgang der Verfahren. Ich bedauere, daß es zu einem Streit über das Verfahren gekommen ist und daß eine Ersatzdiskussion über diese Maßnahme stattfindet.
Es wäre besser gewesen, man hätte den Bürgerinnen und Bürgern von vornherein mit einem normalen Verfahren reinen Wein eingeschenkt; denn dann hätte man ihnen auch sagen müssen - das wird bei Ihnen gar nicht anders sein -, daß mit einer Linderung der schlimmen Verhältnisse vor Ort erst um die Jahrtausendwende zu rechnen sein wird. Auch das gehört zu einer ehrlichen Diskussion vor Ort. Die CDU ist immer noch dabei, dort große Illusionen zu verbreiten.
({0})
Meine Damen und Herren, die Bürgerinnen und Bürger wollen keine Ersatzdiskussion. Sie wollen wissen, wer ihre Forderungen umsetzt und wie sie
Reinhold Hiller ({1})
umgesetzt werden. Das ist das Entscheidende. Sie haben die Nase voll von Versprechungen, die nicht eingehalten werden.
Ich habe es eben schon im Hinblick auf Ihre Frage gesagt: Die A 20 wird vor der Jahrtausendwende nicht fertig werden. Diese Wahrheit kann nicht durch Aktionismus und Ideologie vertuscht werden. Diejenigen, die dieses ständig versuchen, werden von den Wählern bestraft werden.
Ich fasse zusammen. Die SPD will die A 20. Sie will ein normales, schnelles Verfahren.
({2})
Sie will die Westtangente Wismar und die gleichzeitige Anbindung der A 20 an die A 241. Wenn Sie dieses auch wollen, können Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen.
Schönen Dank.
({3})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Klaus Röhl ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Autobahn A 20 von Lübeck über Wismar, Rostock und weiter in Richtung Stettin bis hin zur Autobahn A 11 ist eines der sieben Straßenbauvorhaben im Rahmen der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit. Das gemeinsame Ziel aller dieser Verkehrsvorhaben ist es, die verheerenden Folgen der Spaltung Deutschlands auf dem Gebiet der Infrastruktur zu überwinden.
Auch das Verkehrsprojekt Deutsche Einheit Nr. 10 ist eine unerlässliche Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung in unserem nördlichen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Es ist eine überaus bedeutende Prämisse für die Anhebung der Lebensbedingungen der Menschen in diesem Bundesland.
Der Autobahn A 20 kommt darüber hinaus noch die Aufgabe zu, in den Dörfern und Städten längs der Bundesstraßen 105 und 96 lebende Menschen von der unerträglichen Belastung des ihre Gemeinden durchfahrenden Kraft- und Schwerlastverkehrs zu entlasten.
Das besonders vordringliche Teilstück dieser Autobahn ist der Abschnitt Wismar Ost-Wismar West. Diese überaus große Vordringlichkeit ist auch der Grund für die Anwendung eines Investitionsmaßnahmengesetzes für dieses Projekt. Durch die Arbeitsweise mit einem Investitionsmaßnahmengesetz konnte eine Planungszeitverkürzung gegenüber dem üblichen Verfahren um etwa eineinhalb Jahre erreicht werden. Das ist ein Fakt.
({0})
- Das ist Fakt!
Dieses Investitionsmaßnahmengesetz wurde am 9. September 1993 in erster Lesung im Bundestag eingebracht und an den Verkehrsausschuß des Bundestages zur weiteren Bearbeitung überwiesen. Die von den Fraktionen benannten Berichterstatter haben zusammen mit den im Verkehrsausschuß vertretenen Mitgliedern ihrer Fraktionen den Gesetzentwurf in zügiger und exakter Arbeit eingehend geprüft. In mehreren Berichterstatterrunden wurden zusammen mit den Vertretern des Bundesministeriums für Verkehr, denen wir für die Mitarbeit danken, und der DEGES, denen wir auch danken, alle Fakten und Probleme kritisch erörtert und beurteilt.
Weiterhin erfolgte eine Besichtigung der geplanten Trassenführung vor Ort. Dabei wurden neben dem generellen Verlauf der Trasse alle besonders empfindlichen Punkte eingehend in Augenschein genommen, die vorgesehenen Lösungen vorgestellt und geprüft. Durch detaillierte Befragung und Meinungsanhörung der demokratisch gewählten Vertreter der betroffenen Gebietskörperschaften, d. h. der betroffenen Gemeinden, der Vertreter der Landkreise, der Stadt Wismar, einschließlich der Vertreter der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern, der einspruchsberechtigten Verbände und der Bürgerinitiativen pro und contra A 20 verschafften wir uns vor Ort ein umfassendes Bild von der Meinung der Betroffenen. Wir konnten dabei feststellen, daß die Zahl der zustimmenden Erklärungen die der ablehnenden Erklärungen weit übertraf. Alle Vertreter dieser Gebietskörperschaften, vom Dorf bis zur Landesregierung einschließlich der Bürgerinitiative pro A 20, haben dem Projekt zugestimmt und seine schnelle Ausführung gefordert. Allein die Naturschutzverbände und die Bürgerinitiative contra A 20 haben sich gegen das Projekt ausgesprochen, wobei nochmals festgestellt werden muß, daß es mehr Zustimmung als Ablehnung gegenüber diesem Projekt gab und daß die Erwartungen der Bevölkerung nach der entlastenden Lösung hochgespannt waren und auch weiter hochgespannt sind.
Der Verkehrsausschuß hat sich dann in seinen Beratungen mit den verschiedenen Abwägungsproblemen auf der Grundlage des Gesetzentwurfes, der alle Probleme eingehend darstellt, gründlich auseinandergesetzt. Eine besondere Rolle spielten dabei die Einzeleinwendungen von Trägern öffentlicher Belange und von Dritten. Zu allen Sachkomplexen fanden Einzelabstimmungen statt, die alle mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. positiv im Sinne des Investitionsmaßnahmengesetzes entschieden wurden. Über alle Paragraphen des Gesetzes wurde einzeln abgestimmt, wobei das Votum in jedem einzelnen Fall positiv ausfiel. In der Schlußabstimmung hat der Ausschuß für Verkehr dem Gesetzentwurf als Ganzem einschließlich der Anlagen 1 bis 12 mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zugestimmt.
Für die Fraktion der F.D.P. erkläre ich hier, daß wir dem Gesetzentwurf mit aller Entschiedenheit zustimmen. Wir halten die Anwendung eines Investitionsmaßnahmengesetzes für verfassungsrechtlich zulässig. Das hatten wir schon erörtert.
({1})
Wir sind weiterhin der Meinung, daß der Bau der Autobahn A 20 und damit des Abschnittes Wismar West-Wismar Ost dringend erforderlich ist, um die notwendige wirtschaftliche Entwicklung dieser Region zu gewährleisten und gleichzeitig der dort lebenden Bevölkerung die notwendige Entlastung zu bringen.
Wir fordern alle anderen Fraktionen auf, sich diesem Anliegen nicht zu verschließen und dem Maßnahmengesetz zuzustimmen. Tun Sie Ihre Pflicht.
({2})
Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es Ihnen gleich am Anfang anzukündigen: Wir werden heute noch öfter das Vergnügen miteinander haben - ich sicher mit dem Versuch, Ihnen ins Gewissen zu reden, und Sie mit dem Versuch, standhaft an mir vorbeizuhören.
Mit dem Investitionsmaßnahmengesetz zur A 20 wird zum zweitenmal der Bundestag als Planfeststellungsbehörde mißbraucht. Die Legislative nimmt schlichtweg Aufgaben der Exekutive wahr. Ein solches Verfahren halten wir nach wie vor für undemokratisch und für verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Das haben bereits zahlreiche Sachverständige bei der Anhörung zur Südumfahrung Stendal überzeugend bestätigt.
({0})
Auch wenn Sie das hier sicher nur ungern zugeben würden, meine Damen und Herren von der CDU/CSU und F.D.P., haben Sie nicht umsonst beim geplanten Investitionsmaßnahmengesetz zur A 14 offensichtlich vor allem deshalb kalte Füße bekommen, weil das Land Hessen entschiedenen Widerstand angekündigt hat.
({1})
- Nach dem Gesetz sind rechtliche Schritte zu erwarten. Das ist doch völlig klar.
Die SPD hat den Entschließungsantrag eingebracht, parallel zum Investitionsmaßnahmengesetz zur A 20 ein normales Verfahren nach geltendem Planungsrecht durchzuführen. Warum, muß ich hier die SPD fragen, soll „parallel" geplant werden und nicht „an Stelle"? Vielleicht gehen Sie auch einfach davon aus, daß diese Beschleunigungsgesetze letztlich ohnehin viel länger dauern werden als herkömmliche Verfahren. Ich meine, man sollte generell auf diese Art Planbeschleunigung, die doch eher eine Planungsverzögerung darstellt, verzichten.
Übrigens dauert es Monate, ehe dieses kiloschwere Paket über die Südumfahrung Stendal überhaupt geschrieben und Korrektur gelesen ist, geschweige denn, daß es überhaupt bestätigt ist.
({2})
- Aber natürlich, sehr gründlich.
Weiter heißt es im SPD-Antrag: Der Deutsche Bundestag unterstützt den schnellen Bau der A 20 in Mecklenburg-Vorpommern.
Dem kann die PDS/Linke Liste allerdings nicht zustimmen. Ich möchte mich vielmehr dem Beirat für Natur und Umwelt, immerhin ein unabhängiges Beratungsorgan des Umweltministers des Landes Mecklenburg-Vorpommern, anschließen, der die Position vertritt, daß für eine zukunftsorientierte und umweltfreundliche Lösung der Verkehrsprobleme des Landes Mecklenburg-Vorpommern eine generelle Verkehrskonzeption notwendig sei, in der alle Lösungsmöglichkeiten Berücksichtigung finden, also auch der Bahn- und der Schiffsverkehr sowie ein eventuell dreistreifiger Ausbau der Bundesfernstraße 105. Dieses Regionalkonzept fehlt nach wie vor.
Entgegen der im Planfeststellungsverfahren gesetzlich geforderten Variantenabwägung einschließlich einer Analyse zur verkehrlichen Notwendigkeit einer Straßenbaumaßnahme gibt sich die Koalition mit der Entscheidungsvorlage vom grünen Tisch zufrieden.
Als besonders niederträchtig empfinde ich allerdings Ihr Spiel mit den Zukunftssorgen der Menschen in Mecklenburg. Ich habe bei meinen Besuchen dort sehr deutlich gespürt, daß viele große Hoffnungen in den Bau der A 20 setzen. Arbeitsplätze und wirtschaftlicher Aufschwung werden ihnen versprochen. Bleiben aber wird ein weiter zunehmender Trend der Abwanderung von Arbeitskräften in Richtung Westen. Arbeitsplätze werden lediglich an Imbißbuden und Tankstellen entstehen.
({3})
- „Immerhin", es ist aber traurig, daß Sie das sagen.
Die Forderungen des Beirates für Natur und Umwelt aber werden in den Wind geschlagen. So sollte zur schnellen Lösung der für die Wirtschaftsentwicklung des Landes wichtigen aktuellen Straßenverkehrsprobleme im Sinne der Stützung des lokalen Verkehrsnetzes der Ausbau der Bundesstraßen und der Stadtumgehung Vorrang vor allen anderen straßenbautechnischen Lösungen haben. Hier aber geht es nicht nur um die so dringend notwendige Ortsumgehung von Wismar.
Die Konzipierung der Ost-West-Trasse als Autobahn ist weder verkehrstechnisch begründbar noch als lokale wirtschaftsfördernde Maßnahme finanzierbar. Die mehr als 3 Milliarden DM, welche für dieses Projekt vorgesehen sind, sollten wahrlich eine bessere Verwendung finden. Der Beirat für Natur und Umwelt des Umweltministeriums in Mecklenburg-Vorpommern bestätigt also die Position der Kritiker an dieser Ostseeautobahn. Die A 20 wird lediglich zur Stärkung Kfz-abhängiger Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen, nicht zur Lösung regionaler und wirtschaftlicher Probleme beitragen. Die PDS/Linke Liste wird daher dieses Projekt ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Als nächster spricht der Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es stimmt: Viele Menschen in Mecklenburg-Vorpommern wollen, daß die Küstenautobahn A 20 gebaut wird. Doch es handelt sich bei ihnen nicht etwa um besonders passionierte Autofahrer, nein, diese Bürger sind in vielen Fällen einfach nur arbeitslos. Sie erhoffen sich von der Autobahn u. a. die Ansiedlung westeuropäischer Unternehmen in Norddeutschland. Sie wollen endlich einfach nur Arbeit haben, egal wie.
Ich kann diese Menschen und auch die Not verstehen, in der sie sich nach jeder noch so kleinen Lösung für die Zukunft sehnen. Ich kann aber diejenigen nicht mehr akzeptieren, die die Existenzangst der Bürger für ihre lobbyistischen Ziele schamlos und egoistisch ausnutzen.
Meine Damen und Herren, die A 20 soll das größte Straßenverkehrsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik werden, das der Regierung zur Sicherung der eigenen angeschlagenen Glaubwürdigkeit dienen muß. Das nämlich ist es. Es geht Ihnen gar nicht um den Aufschwung Ost, sondern darum, daß es sich bei der A 20 um ein reines Prestigeobjekt der Koalition handelt. Das läßt sich leicht beweisen.
So ist die Entscheidung für das A 20-Projekt schon zu DDR-Zeiten gefallen, zu einem Zeitpunkt folglich, als weder Bedarfsanalysen noch Umweltverträglichkeitsuntersuchungen, noch Entwicklungskonzepte für den betroffenen Raum vorlagen. Die immer noch unzureichende Vorbereitung zum heute vorliegenden Maßnahmengesetz zeigt darüber hinaus deutlich, daß Sie die Beweisführung über die Sinnhaftigkeit der Küstenautobahn nie ernsthaft in Erwägung gezogen haben.
So sind die gesetzlich vorgeschriebenen BiotopKartierungen für den vorliegenden Abschnitt der A 20 ausgesprochen oberflächlich durchgeführt worden. Den Fachverbänden, die Sie so angreifen, blieben wohl aus Sorge, sie könnten in den Projekten noch viel zu viele Ungereimtheiten entdecken, ganze zwei Wochen, um tausende Seiten von Planungsunterlagen zu überprüfen.
Der Verkehrsminister hat zudem bereits vor zwei Jahren von den Kreisen eine Trassenentscheidung verlangt, ohne daß überhaupt klar war, in welchem Umfang Zerstörungen im Umwelt-, Natur- und auch im Sozialbereich auftreten könnten.
Ich werfe Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, des weiteren vor, daß Sie die Öffentlichkeit auch über die Effizienz der geplanten Geldausgaben getäuscht haben. Mit dem Geld für den Autobahnbau ließen sich auf andere Art und Weise viel mehr Langzeitarbeitsplätze schaffen und dies auch weit vor der geplanten Fertigstellung des Straßenprojekts erst zu Beginn des kommenden Jahrtausends.
Es stimmt, auch in den alten Ländern hat der Autobahnbau die wirtschaftliche Entwicklung von Städten beschleunigt. Erstaunlicherweise handelt es sich dabei jedoch immer um die Städte am Anfang und am Ende einer Trasse, in diesem Falle ganz konkret um Lübeck und Stettin. Entlang eines Korridors um die Autobahn haben auch in den alten Ländern die
Gemeinden dagegen eher einen rückläufigen wirtschaftlichen Trend zu beklagen.
So wird mir übrigens auch der Jubel aus Schleswig-Holstein verständlich - da liegt ja schließlich Lübeck -, denn was geht die dort das Elend der dummen Ossis an?
Der Autobahnbau selbst bringt auf Grund des riesigen Automatisierungsgrades der Technik nur relativ wenig direkte Arbeitsplätze. Manch einer hofft, auf der Autobahn - wenn denn schon keine Arbeitsplätze in Mecklenburg-Vorpommern entstehen - schneller zu seiner Arbeit in den Westen zu kommen. Was für eine irrwitzige Vorstellung! Eine Wirtschaft ist krank, bei der Menschen bis zu 300 km zu ihrem Arbeitsort benötigen. Die Trennung von Familien bringt zusätzliches Leid und Entbehrung.
Meine Damen und Herren, die Koalitionsparteien haben in den Ausschüssen nicht nur gegen jede ökologische, sondern auch gegen jede wirtschaftliche Vernunft den Bau des ersten Abschnitts der A 20 beschlossen. Bis auf die vom Verkehrsminister in Auftrag gegebene Untersuchung haben alle unabhängigen Gutachten und Erhebungen gezeigt, daß die A 20 die teuerste Lösung für das Aufgreifen des wachsenden Verkehrs ist. Der Ausbau vorhandener Bundesstraßen und der Bau von Umgehungsstraßen bleiben dagegen schneller und kostengünstiger umsetzbar.
Bisher wurde den GRÜNEN ja immer ideologisch beeinflußtes Denken und Handeln vorgeworfen. Aber die Zeiten haben sich offensichtlich geändert. Statt dessen sind Sie es heute, die sich in ideologischer Autofahrerreinkultur auf Kosten der Steuerzahler zum Krösus der Nation aufschwingen.
({0})
Die Koalition hat der Bevölkerung keine Chance gegeben, auch die gravierenden Nachteile ihrer Betonlösung zu erkennen. Aus Angst vor dem Verlust von Wählerstimmen waren Sie wieder einmal zu feige, den Menschen die Wahrheit zu sagen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die mit ihnen verbundenen Bürgerinitiativen und Verbände werden alle rechtlichen Mittel einsetzen, um das irrationale Projekt zu verhindern. Wir werden darüber hinaus intensive Aufklärungsarbeit für eine ökologische Verkehrspolitik leisten. Unsere Lösungen - übrigens auch mit dem Autoverkehr - sind besser. Aber auch nach den nächsten Wahlen läßt sich, glaube ich, noch einiges vom Schlimmsten verhindern.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter in dieser Aussprache ergreift der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir behandeln heute hier einen Gesetzentwurf, von dem ich
sagen möchte, daß man ihn bei sorgfältiger Betrachtungsweise kaum ablehnen kann. Deswegen bin ich auch davon überzeugt, daß er hier im Bundestag eine eindrucksvolle Zustimmung bekommen wird.
({0})
Denn es ist nun einmal unverzichtbare Voraussetzung zur Erreichung gleichwertiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet, daß wir zu einem unverzüglichen Ausbau und zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern kommen.
({1})
Es ist ja Ziel dieses Gesetzentwurfes, unverzüglich dazu zu kommen.
Mit den 17 sogenannten Verkehrsprojekten Deutsche Einheit, die eine Schlüsselfunktion für das Zusammenwachsen Deutschlands und den wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern haben, hat die Bundesregierung schnell und nachhaltig gehandelt.
({2})
Die Koordinierung aller Aufgaben für die Planung und die schlüsselfertige Erstellung der sieben Straßenbauprojekte Deutsche Einheit in den neuen Bundesländern wurden dabei der im Oktober 1991 eigens gegründeten Planungsgesellschaft DEGES übertragen.
Hier ist nun die Rede von den Straßenbauvorhaben. Aber wenn man sich die Projekte Deutsche Einheit und den Bundesverkehrswegeplan zur Gänze ansieht, dann kann von einer Bevorzugung der Straße gegenüber der Bahn überhaupt nicht die Rede sein.
({3})
Meine Damen und Herren, das größte dazugehörige Neubauprogramm ist die rund 290 km lange Bundesautobahn A 20 von Lübeck bis zur Bundesgrenze bei Stettin. Als entscheidende West-OstMagistrale für Mecklenburg-Vorpommern soll sie in Verbindung mit der Verlängerung der Autobahn
A 241 von Schwerin nach Wismar sowie der vorgesehenen Rügen-Anbindung in Zukunft das Rückgrat im Straßennetz des Landes bilden und den Anschluß in Richtung Skandinavien und Osteuropa ermöglichen.
Die A 20 stellt die wirkungsvolle Hinterlandverbindung zwischen den deutschen Ostseehäfen her, zudem bindet sie über die Autobahn Berlin-Stettin den Raum Rügen-Stralsund an den Ballungsraum Berlin an. Vor allem werden mit den beiden Abschnitten Lübeck-Stralsund und Stralsund bis zur A 11 in entscheidendem Maße die Bundesstraßen B 105 und
B 96 vom jeweiligen Durchgangsverkehr entlastet.
Die Planungsarbeiten für den rund 120 km langen Westabschnitt zwischen Lübeck und Rostock begannen im Mai 1991, die für den rund 70 km langen Ostabschnitt zwischen Rostock und der Autobahn Berlin-Stettin im August 1991. Für den Ostabschnitt werden derzeit die Ergebnisse der aufwendigsten jemals durchgeführten Umweltverträglichkeitsuntersuchung zusammengestellt. Das sollte heute auch einmal mit Bedacht gesagt werden.
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Ziel ist hier die formelle Linienbestimmung durch den Bundesverkehrsminister - nach Abschluß der Abstimmungen im Land - im zweiten Quartal 1994, so daß ein erster Baubeginn im Jahre 1995 möglich sein sollte.
Wegen der außergewöhnlichen Bedeutung der A 20 und vor dem Hintergrund der problematischen Verkehrsverhältnisse auf der B 105 hat sich die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern bereits im Oktober 1991 wegen der angestrebten frühestmöglichen Verwirklichung für die Anwendung von Investitionsmaßnahmengesetzen ausgesprochen.
Rund 22 000 Kraftfahrzeuge quälen sich Tag für Tag entlang dem historischen Kern der Altstadt von Wismar. Die Prognose für das Jahr 2010 geht sogar von 33 000 Kraftfahrzeugen aus. Meine Damen und Herren, nur der rasche Bau der A 20 wird die Stadt Wismar vor dem völligen Verkehrskollaps bewahren.
({5})
Konsequenterweise ist für diesen Problembereich das vorliegende Investitionsmaßnahmengesetz erarbeitet worden. Durch außergewöhnliche Anstrengungen aller Beteiligten war es möglich, den dem Gesetz zugehörigen Plan aufzustellen, in der Region vorzustellen und mit den betroffenen Trägern öffentlicher Belange und der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahresende 1992 abzustimmen - das hat ja einen doch deutlichen und langen Vorlauf.
Im April dieses Jahres - zwei Jahre nach der Festlegung der Verkehrsprojekte Deutsche Einheit - konnte bereits das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet werden. Die Bundesregierung dankt dem Deutschen Bundestag für die intensiven Beratungen des Gesetzentwurfes, die heute mit der zweiten und dritten Lesung abgeschlossen werden.
Gemeinsam mit der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern streben wir den Baubeginn im Westabschnitt der A 20 für den Abschnitt Wismar West bis Wismar Ost im kommenden Frühjahr an.
Die entscheidende Voraussetzung für die Aufnahme der Bauarbeiten - das Investitionsmaßnahmengesetz - können wir heute beschließen. Es wäre ein wichtiger Schritt für den wirtschaftlichen Aufschwung und damit auch für das Wohl der Bürgerinnen und Bürger des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor wir zur Einzelberatung und Abstimmung kommen, möchte ich das Wort zu einer Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung dem Kollegen Dr. Ulrich Janzen erteilen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir die
Abgabe einer Erklärung zu meinem Abstimmungsverhalten bei den jetzt folgenden Abstimmungen.
Wie Sie dem Beitrag meines Kollegen Hiller entnommen haben, ist die SPD-Fraktion den vorgelegten Maßnahmengesetzen des Verkehrsministeriums aus unterschiedlichen Gründen von Anfang an mit Skepsis begegnet. Weil sich diese Skepsis als begründet erwiesen hat, wird sie auch heute dieses Maßnahmengesetz ablehnen. Schon allein der Zeitraum von der Beratung des Gesetzes im Bundeskabinett am 31. März dieses Jahres bis zum heutigen Tag unserer Debatte über das Maßnahmengesetz betreffend das Teilstück A 20 Wismar ist wegen der Dringlichkeit dieses Vorhabens nicht zu verantworten. Es kann zudem nicht Aufgabe eines Parlaments sein, technische Zusammenhänge von Investitionsmaßnahmen im Detail zu beurteilen und darüber zu entscheiden. Deshalb halte auch ich Maßnahmengesetze in der vorliegenden Form nicht für geeignet, politisch bereits getroffene Grundsatzentscheidungen noch weiter zu vertiefen.
Ich bin jedoch der Ansicht, daß wir weiter nach neuen Wegen suchen müssen, die uns die heutige Zeit abverlangt. Der Aufbau des Ostens ist nicht mit den gleichen Methoden und Tempi zu bewältigen, wie sie in den eingefahrenen Amtsstuben der alten Länder immer noch praktiziert werden.
({0})
Nein, wir brauchen neue Maßstäbe, und deshalb war dieser parlamentarische Arbeitsprozeß eine Herausforderung zum Umdenken, auch wenn wir das Klassenziel dabei nicht erreicht haben.
Noch eine zweite kurze Bemerkung: Oft, und zwar besonders von Politikern, hört man das Wort vom Zusammenbruch, wenn von den gesellschaftlichen Veränderungen in Ostdeutschland und Osteuropa gesprochen wird. Nein, was damals in Danzig auf der Werft geschehen ist, was Glasnost und Perestroika bewirkt haben und was auf den Plätzen von Leipzig, Dresden, Plauen oder Berlin im Herbst 1989 gefordert wurde, das war kein Zusammenbruch; das war ein Aufbruch. Ein kleines Element dieses Aufbruchs muß die A 20 für die unterentwickelte Region Mecklenburg-Vorpommern werden.
Weil ich diese Grundsatzfrage, über die es in der SPD Konsens gibt, höher bewerte als die berechtigte Kritik an den Mängeln, die die Maßnahmengesetze formell enthalten, werde ich der Entscheidungsvorlage heute im Interesse meines Bundeslandes und der direkt betroffenen Region zustimmen.
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, verstehen Sie diese Zustimmung aber bitte nicht gleichzeitig als Zustimmung zu Ihrer Verkehrspolitik. Das wäre ein fataler Irrtum.
({2})
Deshalb unterstütze ich auch unseren Entschließungsantrag, der keinen Widerspruch zu meiner Entscheidung darstellt.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen; wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über den Bau der Bundesautobahn A 20, Drucksache 12/5001.
Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/6371, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist somit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6379. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes ({0})
- Drucksache 12/4635 - ({1})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({2})
- Drucksache 12/6366 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Jung ({3})
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Kollege Michael Jung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich darf zunächst darauf verweisen, Frau Präsidentin, daß mir eben von der Geschäftsführung einige Minuten mehr zugestanden worden sind, als ich hier sehe.
Das Bundesfernstraßengesetz beschäftigt den Unterausschuß, der eigens dafür gebildet worden ist, seit einigen Jahren ebenso wie den Verkehrsausschuß insgesamt. Wir wollen eine Neuordnung der Betriebe an den Autobahnen, der Raststätten, der Tankstellen. Wir wollen mehr unternehmerische Freiheiten, mehr Wettbewerb, mehr Erfolg, mehr Marktabschöpfung und anderes mehr. Wir glauben, daß wir heute mit diesem Bundesfernstraßengesetz, das wir gleich verabschieden werden, einen wichtigen Schritt auf diesem Weg zur Privatisierung der früheren Gesellschaft für Nebenbetriebe zurücklegen.
({0})
Michael Jung ({1})
Wir haben bereits im Jahre 1990 im Verkehrsausschuß eine Grundlage geschaffen, indem wir damals eine mehrseitige Resolution verabschiedet haben, die nach wie vor Bestandteil unserer Arbeit und vor allen Dingen auch Grundlage unserer Entscheidung ist. Ich darf aus dieser damaligen Entscheidung zitieren, die über die Grenzen der Fraktionen hinweg getragen worden ist. Es heißt dort wie folgt:
Die Verpachtung von Nebenbetrieben, die Entscheidung über unterschiedliche Pachtmodelle sowie die wirtschaftliche Führung und administrative Betreuung des gesamten Nebenbetriebssystems erfordern eine ökonomisch handelnde marktorientierte neue Verwaltungsebene, der jedoch eine mittelstandspolitische Direktive vorzugeben ist. Dieser neuen Gesellschaft in Form einer Aktiengesellschaft ... muß autonomes Verhalten im Markt unter Beachtung gesetzlicher Rahmenbedingungen möglich sein.
Weiter heißt es:
Die GfN muß den Zugriff zu ihren wesentlichen Erfolgsfaktoren erhalten: Übertragung von Eigentums-, Planungs- und Entscheidungsrechten. Es muß auch möglich sein, die Kompetenzen des Verkehrsministeriums gegenüber der neuen künftigen GfN auf den hoheitlichen Bereich zu beschränken.
Der Aktienverkauf sollte breit gestreut werden und in einer zeitlichen Abfolge realisiert werden, die eine breite Eigentumsbildung ermöglicht. Die am Nebenbetriebssystem unmittelbar Beteiligten sollten die Möglichkeit zur Mitwirkung auf der Ebene der neuen GfN erhalten.
Dies war unsere Grundlage, und wir sind nunmehr dabei, dies auch umzusetzen. Ich weise darauf hin, daß gerade in diesen Tagen die Aktiengesellschaft gegründet worden ist. Sie bedarf noch der Eintragung ins Register, und sie bedarf dann natürlich auch der Vorbereitung, bis sie auf den Markt kommt, um dort erfolgreich arbeiten zu können.
Ich sage noch einmal eindeutig unser Ziel: mehr private Initiative und Investitionen, weniger Staat,
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stärkere Nutzung der Vorteile des Marktes, Verstärkung des privatwirtschaftlichen Engagements und Intensivierung des Wettbewerbs, und dies, meine Damen und Herren - das haben wir alle als besonders wichtig angesehen -, unter der Vorgabe der Berücksichtigung mittelständischer Existenzen, die wir weiterhin an unseren Autobahnen haben wollen.
({3})
Ich habe eben gesagt, daß wir das Tanken und Rasten an den Autobahnen attraktiver machen wollen. Wir müssen heute feststellen, daß das Potential bei weitem noch nicht ausgeschöpft wird. Das bedeutet, wir brauchen noch größere Kundennähe und zusätzlichen wirtschaftlichen Erfolg. Das Bundesfernstraßengesetz schafft jetzt die Voraussetzung, die es Privaten ermöglicht, Bundesautobahnnebenbetriebe zu bauen und zu betreiben. Diese Änderung müssen wir heute vornehmen.
Zweck der Novelle ist, Nebenbetriebe auch von Privaten und hier in erster Linie von der Gesellschaft für Nebenbetriebe, die sich jetzt in eine Aktiengesellschaft umwandelt, planen, bauen und finanzieren zu lassen, und zwar unter Beteiligung der Pächter und auf Standorten, die vom Bund und den Ländern gemeinsam festgelegt worden sind. Diejenigen, die das Recht zum Betrieb der Tank- bzw. der Rastanlage erhalten haben, müssen eine Konzessionsabgabe zahlen, die bei Verkauf von Kraftstoffen absatzbezogen, sonst umsatzbezogen ist.
Ganz wichtig ist, daß es eine Änderung gegeben hat, die auf Vorschläge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zurückzuführen ist. Dabei darf ich darauf hinweisen, Frau Präsidentin, weil wir in der Fassung des Ausschußberichtes abstimmen, daß sich dort ein Tippfehler eingeschlichen hat. Bei der Änderung muß es heißen: § 36 Verwaltungsverfahrensgesetz, nicht § 35. Ich bitte, dies entsprechend zu ändern.
Durch das, was wir jetzt hier umsetzen, ist das, was wir als Ziel nannten, auf den Weg gebracht: die Gründung der Aktiengesellschaft, die Verstärkung des Wettbewerbs unter Berücksichtigung mittelständischer Existenzen. Durch den Änderungsantrag haben wir eine Furcht, die von Pächtern, von Betroffenen geäußert worden ist, so hoffen wir, gemeinsam beseitigt. Wir haben nämlich deutlich gemacht, daß es unter dem Begriff Dritte nicht nur um die neue GfN in Form der Aktiengesellschaft gehen wird, sondern daß wir aus Gründen des Art. 3, des Art. 12 und des Art. 14 Grundgesetz hier auch andere Dritte zulassen müssen, auch wenn eindeutig der Schwerpunkt auf der neuen GfN liegen soll. Aber wir haben mit dieser Änderung, die wir eingebracht haben, deutlich gemacht, daß, wenn an andere Dritte vergeben wird, dies zu Bedingungen zu geschehen hat, die den Bedingungen gleichwertig sind, die die GfN zu erfüllen hat. Einen verzerrenden Wettbewerb, meine Damen und Herren, darf es in dieser Frage an den Autobahnen nicht geben.
({4})
Ich glaube auch, daß es wichtig ist - was wir im Unterausschuß immer postuliert haben -, die mittelständischen Strukturen zu erhalten. Ich habe die eine oder andere Kritik gehört, die Beratungen seien vielleicht etwas zu lang gewesen. Ich sage mit Nachdruck: Mir ist eine längere Beratung lieber, die zu einem optimalen Ergebnis führt, als eine andere Abfolge. Ich glaube, daß die Beratungen im Unterausschuß in dieser Form sinnvoll und notwendig waren, damit wir zu dem Ergebnis, das wir jetzt erzielt haben, kommen konnten.
Wir wollen, wie ich formuliert habe, mittelständische Strukturen erhalten. Das bedeutet aber auch, den Mittelstand zu noch mehr Leistungskraft, Effizienz und Engagement zu führen. Auch dies ist eine wichtige Aufgabe. Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind jedenfalls zuversichtlich, mit der Privatisierung der GfN und den damit verbundenen Maßnahmen zu
Michael Jung ({5})
einer Steigerung der Leistungsfähigkeit der deutschen Autobahnnebenbetriebe beizutragen.
Dies ist unser gemeinsames Ziel, und in diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu dem Vorschlag, wie er in der Ausschußformulierung jetzt vorliegt.
Vielen Dank.
({6})
Als nächster spricht der Kollege Klaus Hasenfratz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Im Zuge der gegenwärtigen Bemühungen um die Mobilisierung privaten Kapitals und den verstärkten Einsatz privaten Know-hows schlagen wir heute ein weiteres wichtiges Kapitel auf. Der vorliegende Gesetzentwurf ebnet den Weg für die Privatisierung eines der potentesten Unternehmen in der Bundesrepublik, der Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen. Die Nebenbetriebe haben im Jahr 1992 einen Umsatzerlös von 328,6 Millionen DM erwirtschaftet.
Unsere Fraktion hatte sich mit den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. in der Verkehrsausschußsitzung vom 20. Juni 1990 auf ein Positionspapier verständigt, das die Grundsätze der Privatisierung festlegt. Wir sagen ja zu diesem Vorhaben, well wir uns von der Mobilisierung privaten Kapitals einen kräftigen Schub für ein verbessertes Leistungsangebot und eine erhöhte Effizienz des Nebenbetriebssystems an unseren Autobahnen erhoffen.
Das explosiv gestiegene und immer noch steigende Verkehrswachstum, technische Umwälzungen und neue Bedürfnisse machen diese Anstrengungen dringend erforderlich. Gerade die Bundesrepublik Deutschland als Transitland Nummer eins sollte den internationalen Verkehrsteilnehmern ein Optimum an Service und Dienstleistungen an unseren Autobahnen anbieten. Also haben wir in den Ausschußberatungen dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes zugestimmt. Er gestaltet den straßen- und ordnungsrechtlichen Rahmen für eine weitere Privatisierung des Nebenbetriebssystems an den Autobahnen.
Es ist geplant, die GfN in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und den staatlichen Einfluß insoweit zu verringern, daß 49 % des Aktienkapitals Dritten angeboten wird. Das heißt, der Bund behält einen 51 %igen Anteil des Aktienpaketes.
Gleichzeitig wird eine Konzessionsabgabe eingeführt, deren Inhalt aufgrund einer Ermächtigung durch Rechtsverordnung festgesetzt wird. Schuldner der Konzessionsabgabe ist derjenige, dem das Recht auf Betrieb der Nebenbetriebe übertragen wurde. Die Höhe der Konzessionsabgabe soll sich am wirtschaftlichen Vorteil ausrichten und darf höchstens 3 Pfennig pro Liter abgegebenen Kraftstoff und höchstens 3 % von anderen Umsätzen betragen. Die gaststättenrechtlichen Vorschriften werden den besonderen Erfordernissen der Nebenbetriebe angepaßt; Sperrzeiten sollen für Nebenbetriebe nicht gelten. Vorsorgende Verkehrssicherheit bedeutet gleichzeitig, daß
in der Zeit von 0 Uhr bis 7 Uhr der Ausschank und der Verkauf von Alkohol verboten wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidende Bedeutung kommt dem § 15 Abs. 2 des Fernstraßengesetzes zu. Bisher war dem Bund der Bau von Nebenbetrieben vorbehalten. In Zukunft kann die Bauplanung und -ausführung sowie die Baufinanzierung von Dritten - grundsätzlich soll es die GfN sein; aber im Einzelfall können es auch andere, private Investoren sein - übertragen werden.
Nun lag uns insbesondere nichts daran, mit Hilfe dieses Gesetzes sämtlichen Großkonzernen eine Eintrittskarte für einen rücksichtslosen Wettbewerb gegenüber mittelständischen Unternehmen zu verschaffen.
({0})
Es war von Anfang an unsere glasklare Position, die Interessen des Mittelstandes zu wahren und Mißbrauch durch Konzerngiganten zu verhindern.
Ich zitiere aus dem gemeinsamen Positionspapier:
Die Neuorganisation hat sozialverträglich und mittelstandsgerecht zu erfolgen.
Weiter haben wir besonderen Wert darauf gelegt, daß die Existenz der derzeitigen Pächter angemessen berücksichtigt wird. Die jetzigen Pächter haben ein berechtigtes existentielles Interesse an der Gestaltung der Zukunft des Nebenbetriebssystems. Daher wurde ihnen von Anfang an die Möglichkeit gegeben, an der künftigen Ausgestaltung auch mitzuwirken.
Um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten, ist es unabdingbar, daß die Vertrags- und Geschäftsgrundlagen für alle Marktbeteiligten von der Sache her gleich sind. Daher haben wir in den Beratungen zu überlegen gegeben, daß die GfN beim Bau von Nebenbetrieben grundsätzlich zu beteiligen ist und sich erst bei der Durchführung Dritter bedienen kann.
Schließlich haben wir uns auf einen Konsens verständigt, der seinen Ausdruck in der Ergänzung des § 15 Abs. 2 des Änderungsgesetzes findet. Ich denke, mit der jetzt gefundenen Formulierung des § 15 sind wir auf dem richtigen Wege.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach soviel Gemeinsamkeit und Harmonie kann ich mir es jedoch nicht verkneifen, einige kritische Bemerkungen zu machen. Wir hätten nämlich mit unserem Vorhaben, möglichst schnell ein attraktives und effizientes Servicesystem auch an den Autobahnen in den neuen Bundesländern aufzubauen, sehr viel schneller in die Gänge kommen können, wenn es da nicht einige unrühmliche Vorgänge seitens der Bundesregierung bzw. der Treuhand gegeben hätte. Ich nenne hier die Stichworte: 41 Verträge, die Übernahme des Leuna/ Minol-Komplexes durch das vom französischen ElfKonzern angeführte TED-Konsortium.
Die Fakten, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind hinreichend bekannt. Fest steht, daß wir ohne den dort geleisteten Dilettantismus, was die 41 Verträge angeht, und ohne die mehr als fragwürdige Entschei17202
dung zugunsten von Elf und zu Lasten des Mittelstandes heute bereits weiter wären.
({1})
So konnte auch die überaus optimistische Einschätzung meines Kollegen Horst Friedrich nicht in Erfüllung gehen. In seiner Plenarrede vom 23. April 1993 sprach er noch hoffnungsvoll davon, daß wir zum 1. Juli 1993 endlich den Gang an die Börse abschließen könnten. Aber dieser Zeitpunkt ist längst überschritten.
Zudem möchte ich auf ein weiteres Problem zu sprechen kommen: Das Versorgungsnetz an den Bundesautobahnen in den neuen Ländern weist einen gewaltigen Nachholbedarf auf. Die Betreiber der dortigen Anlagen finden schwierigste Bedingungen vor. Der bauliche Zustand der Anlagen ist - gelinde gesagt - sehr schlecht. Ein Großteil der Anlagen muß dringend durch Neubauten ersetzt werden. Das Leistungsniveau ist also insgesamt bescheiden. Hier ist also schleunigst Abhilfe zu schaffen.
Das Gezerre zwischen BMV und BMF, Mittel in Höhe von 78 Millionen DM aus der Umsatzentgeltquote für 23 dem Bund gehörende Nebenbetriebe in Ostdeutschland zu verwenden, ist in diesem Zusammenhang mehr als ärgerlich.
({2})
In der 12. Sitzung des Unterausschusses vom 27. Mai hatten uns die Vertreter von BMF und BMV auf einen Zeitraum von zwei Wochen vertröstet. Bis dahin sollte das Problem gelöst sein. Wie nun aber gestern im Unterausschuß zu hören war, sind die Mittel vom BMF vereinnahmt worden. Um die notwendigen Instandhaltungs- und Unterhaltungsmaßnahmen für 1993 zu finanzieren, mußte die GfN in Vorlage treten. Statt der geforderten 78 Millionen DM werden jetzt höchstens 15 Millionen DM in Aussicht gestellt. Und das ist auch noch sehr, sehr vage.
Als Resümee aus unserer gemeinsamen Arbeit im Unterausschuß möchte ich abschließend festhalten, daß wir im Interesse der erfolgreichen Weiterentwicklung des Nebenbetriebssystems ein gutes Stück geleistet haben. Für die im großen und ganzen sehr kooperative Zusammenarbeit möchte ich den Kolleginnen und Kollegen hier recht herzlich danken.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als nächster spricht der Kollege Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hasenfratz, ich muß natürlich, das wirst du verstehen, das Wort „dilettantisch" in dem Zusammenhang zurückweisen. In den anderen Beurteilungen teile ich weitgehend deine Ansichten. Ich komme noch dazu. Ich erlaube mir nach wie vor auch zu sagen: Der Optimismus, den ich damals zur Schau getragen habe, war meine ehrliche Überzeugung. Es steht sogar in irgendeinem Papier der Regierung, daß dies das Zieldatum war, aber auch dazu komme ich noch.
({0})
- Ja, ein gesundes Mißtrauen ist immer vorhanden, lieber Klaus Daubertshäuser.
Liebe Kollegen, wir unterhalten uns heute über einen weiteren Schritt Privatisierung. Es ist bemerkenswert, daß das in dieser Legislaturperiode der vierte Schritt der Privatisierung und wiederum aus dem Verkehrsbereich ist. Das sollte man, glaube ich, deutlich zum Ausdruck bringen.
Wenn dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung über die Bühne gebracht worden ist, dann haben wir es geschafft, die originäre staatliche Aufgabe des Errichtens von Nebenbetrieben, also den Bau von Rastanlagen und Tankstellen, tatsächlich auch auf Dritte übertragen zu können, was in aller Regel dort vielleicht etwas eher, schneller, billiger und systemvoller geht.
Daß wirtschaftliche Verbesserungen durch Entstaatlichung kein frommer Wunsch sind, das beweisen ganz neu nicht zuletzt auch die Bemühungen der privatisierten deutschen Flugsicherung, deren Arbeit am Flughafen Frankfurt der Lufthansa durch eine drastische Reduzierung der Verspätungen mit einem zweistelligen Millionenbetrag im positiven Sinne zum Wirtschaftsergebnis beiträgt. Wenn das auch mit der GfN funktioniert, dann haben wir ganze Arbeit geleistet.
Für die F.D.P.-Fraktion kommt es bei der Privatisierung der GfN vor allen Dingen darauf an, neben der raschen Verbesserung der Infrastruktur in den ostdeutschen Bundesländern gleiche Startbedingungen für die Anbieter zu schaffen. Das System ist aber auch so, und dabei bleibe ich. Nur wenn es gelingt, auch die großen Ketten in das System an den Autobahnen einzubinden, wird auf Dauer auch der Mittelstand eine gerechte Chance haben. Im Kampf gegen die Großen, die außerhalb des Systems arbeiten, hat er keine Chance.
Wir wissen, daß viele potentielle Anbieter seit langem auf eine Chance warten und daß erhebliche Investitionen bereitstehen, aber brachliegen, weil sie wegen langatmiger Verwaltungsvorgänge nicht genutzt werden können.
An diesem Punkt setzt auch meine Kritik an der Dauer des Verfahrens an. Ich will hier weder die rechtlichen und tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Frage der sogenannten „41 Verträge", noch die aus der systemkonformen Übernahme der aus dem ElfMinolgeschäft an der Autobahn erwachsenen Probleme zu gering schätzen. Das gleiche gilt auch für das, was jetzt mit den Joint-ventures kommt und/oder was mit Vermessungsfragen, mit rechtlichen Fragen, im Zusammenhang mit der OATG, mit Bewertungsstreitigkeiten zwischen BMF und BMV von Bedeutung ist.
Trotz allem bleibe ich der Meinung, daß im Zusammenhang mit der deutschen Einheit hier eine schnelHorst Friedrich
lere Bewältigung angemessener gewesen wäre. Denn wie ist die Situation an den ostdeutschen Autobahnen? Wir haben eine Versorgung aus Mitropa-Rastanlagen, die baulich relativ bescheiden dastehen. Wir haben Kioske in unterschiedlicher Größe und Ausstattung an der Autobahn, die mit immer neuen Ergänzungslizenzen dazu beitragen, daß die Grundbedürfnisse abgedeckt werden. Sie decken aber bei weitem nicht die Ansprüche ab, die heute an einen Service-Betrieb an der Autobahn gestellt werden. All das ist Fakt. Das wird auch noch einige Zeit so sein. Denn die Verzögerung hat insgesamt die GfN nicht gerade in eine glänzende Position gebracht. Es sind schon die Quotenmittel von 78 Millionen DM, die zurückgeflossen sind, angesprochen worden.
Seit dem 1. September 1992 ist die GfN für die Mitropa-Rastanlagen zuständig. Sie muß sie aus ihren Mitteln in einen einigermaßen vernünftigen Zustand bringen, um wenigstens die Grundbedürfnisse der Sanitärbereiche zu erfüllen. Viele Mitropa-Raststätten hatten zu Beginn der deutschen Einheit noch nicht einmal eine Kläranlage.
All das zusammengenommen führt dazu, daß die Sanierung der Anlagen relativ lange dauert, daß sich die Benutzer der Autobahn zu Recht über den Zustand der Anlagen beschweren. Nach dem jetzigen Zeitplan steht der Gang der GfN an die Börse nun für 1995 an.
Ich hoffe und gehe davon aus, daß das dann auch tatsächlich im Zeitplan umgesetzt wird, um wenigstens zu diesem Zeitpunkt dem privaten Kapital tatsächlich und intensiv an der Autobahn die Chancen einzuräumen, die es verdient - wohlgemerkt: unter Schutz derer, die bereits jetzt an der Autobahn sind, die mit der GfN zusammenarbeiten.
Ich will mich daher bei allen, die sich bemüht und dazu beigetragen haben, daß es zur Verabschiedung dieses Gesetzes kommt, sehr herzlich bedanken und für die F.D.P. die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf erklären.
({1})
Als nächste spricht erneut Dr. Dagmar Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Wort am Beginn in Sachen Demokratie: Ich halte es für eine interessante, durchaus nachahmenswerte Variante, im Unterausschuß Privatisierung der Autobahnnebenbetriebe gemeinsam mit den Betroffenen - also Vertretern von GfN, DEHOGA, Tankstellen- und Raststättenpächtern - zu diskutieren, um gemeinsam zu einer Lösung zu kommen.
Oftmals bewegen wir uns doch hier wie im Elfenbeinturm: Hier wird regiert. Die Folgen scheren uns einen feuchten Kehricht.
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Die Beratungen mit den Betroffenen haben ein Stück weit dazu beigetragen, uns der Konsequenzen unseres Handelns stets bewußt zu sein - eine Anregung, meine ich, durchaus auch für andere Ausschüsse. Und: Warum nicht auch für das Plenum?
Aber zurück zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes. Vergleichen wir den Entwurf und das jetzt vorliegende Ergebnis miteinander, sind positive Entwicklungen nicht zu verkennen. So unterstützen wir durchaus das formulierte Gleichwertigkeitsgebot für jeden Dritten bei Übertragung von Bau und Betrieb von Nebenbetrieben der Autobahnen. Dieses Gebot entspricht dem vom Unterausschuß einheitlich getragenen Votum für eine mittelstandsfreundliche Politik an der Autobahn.
Wird es allerdings genügen, um mittelstandsfreundliche Politik umzusetzen? Immer wieder das Votum zu beschwören, wie es auch heute passiert, ist da wenig hilfreich. Nach wie vor bleibt die Gefahr, daß sich bei einer Übertragung des Baus an Dritte die Großen der Branche, also McDonald, Mövenpick, Van der Falk, und wie sie alle heißen, die Rosinen aus dem Kuchen picken - die angebrannten Eckstücke bleiben für die Kleinen.
({1})
Ich hoffe, die Bundesregierung steht zu ihrem Wort: An der Autobahn gibt es einen klar umrissenen Versorgungsauftrag für die, die dort unterwegs sind.
Fakt ist aber auch: Es gibt günstige und ungünstige Standorte. Will man dem Versorgungsauftrag gerecht werden, sind rein marktwirtschaftliche Instrumente danach eindeutig überfordert. Hier ist meines Erachtens das Prinzip, das auch vom Kollegen Jung vorhin formuliert worden ist, „mehr private Initiativen, weniger Staat" falsch. Der Spagat wird zuerst im Osten mit den Mitropa-Einrichtungen probiert. Eine Zusammenführung mit der GfN als haushaltsneutrale Lösung wurde angestrebt.
Jetzt aber zieht sich der Bund aus der Verantwortung für die ehemalige Mitropa zurück und gibt damit letztlich den umfassenden Versorgungsauftrag auf. Der Investitionsbedarf bei der Mitropa - auch das ist vom Kollegen Friedrich schon deutlich angesprochen worden - ist unbestritten besonders hoch. Kommt die GfN aber allein dafür auf, fährt sie weniger Gewinn ein. Einnahmeverluste aber führen zu einem Fall der Rendite. Die Chancen für die Aktien der zukünftigen AG sinken. Um dem entgegenzuwirken wird man an zahlungskräftigen Unternehmen nicht vorbeikommen, die schnell investieren können.
Der Osten wird danach zuerst zum Dorado der großen Ketten werden. Da hilft es wenig, wenn geschworen wird - wie gestern unter anderem auch im Unterausschuß wieder -: Wir werden auch den Mittelstand in den neuen Bundesländern an der Autobahn haben. Ja, aber wie denn?
Vielleicht wird das, was sich im Osten bewährt, dann beispielhaft im Westen? Sie sagen: Schwarzmalerei? Wenn laut Gesetz die Nutzung von Standortrechten befristet werden kann, gilt das wohl für alte
und neue Betriebe, für Ost und für West. Auch hier bleiben noch Fragen offen.
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Die Bundesregierung wird ihre Mittelstandsfreundlichkeit noch unter Beweis stellen müssen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Als letzter noch einmal der Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Privatisierungspolitik beschlossen - es war in der Tat im November 1990 -, die bundeseigene Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen mbH, genannt GfN, in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und 49 % der Aktien an Private zu veräußern. Ich meine, das war eine gute Entscheidung.
Hier wurde zum Ausdruck gebracht, das hätte alles ein bißchen schneller gehen können. Wenn das moniert wurde, so haben die, die das gesagt haben, recht. Ich freue mich aber auch darüber, daß wir dieses Gesetz heute, noch im Jahr 1993, verabschieden können, so daß wir dann auch die nächsten Schritte gehen können.
Wir wollen damit das Nebenbetriebssystem an den Bundesautobahnen wirtschaftlich attraktiver gestalten, also mehr Wettbewerb und größere Kundennähe bei gleichzeitig weniger Staat erreichen. Dafür muß es Privaten ermöglicht werden, Bundesautobahnnebenbetriebe zu bauen und zu betreiben. Nach dem geltenden Bundesfernstraßengesetz durfte bislang nur der Bund Nebenbetriebe an den Bundesautobahnen bauen, um sie anschließend zu verpachten. Künftig sollen Nebenbetriebe von Privaten auf vom Bund und den Ländern gemeinsam festgelegten Standorten geplant, gebaut und finanziert werden. Nicht der Staat, sondern Dritte werden in Zukunft tätig, und der Dritte soll - bis auf Einzelfälle - die GfN sein.
Damit wollen wir folgendes erreichen: Erstens. Das Nebenbetriebssystem bleibt als einheitliches System erhalten.
Zweitens. Der Sachverstand der GfN kann genutzt werden. Die GfN hat in nunmehr 42 Jahren die Nebenbetriebe finanziert und verwaltet. Sie hat dabei die Einheitlichkeit der Vertragsvergabe und die Gleichbehandlung aller Betreiber im faktischen und kartellrechtlichen Sinne gewährleistet.
Drittens. Eine öffentliche Ausschreibung der Standorte durch die öffentliche Hand und damit eine Aufblähung der Verwaltung wird vermieden, ein ganz wichtiger Punkt.
Viertens. Die Auftragsverwaltung wird nicht allgemein zum Kontrolleur der von ihr mit Dritten abgeschlossenen Konzessionsverträge bestimmt und zum Einzug der Konzessionsabgaben verpflichtet.
Zudem wird - das ist für uns alle in gleicher Weise von Bedeutung - durch die GfN gewährleistet, daß die Förderung des Mittelstands und die Verkehrspolitik des Bundes auf diesem Sektor auch weiterhin beachtet werden. Ich möchte hier nur die Versorgung der Autoreisenden rund um die Uhr nennen.
Die GfN hat sich bewährt und ist von den Pächtern erwünscht. Gerne folgen wir diesem Wunsch. Bau und Betrieb von Tank- und Rastanlagen durch andere Unternehmen als die GfN werden dadurch natürlich nicht von vornherein ausgeschlossen. Auch in diesen Fällen würde dies am derzeitigen mittelstandsfreundlichen System der GfN nichts ändern. Von den rund 800 Nebenbetrieben gehören rund 730 der GfN. Die Vergabe des einen oder anderen Betriebs an einen Dritten neben der GfN ist nicht geeignet, diese Größenverhältnisse oder gar das bestehende System zu ändern.
Auch die von einigen befürchtete Rosinenpickerei, d. h. die Übertragung guter Standorte an Nicht-GfNBewerber und das Belassen schlechter Risiken bei der GfN, wird nicht stattfinden. Bund und Länder werden gemeinsam dafür sorgen, daß es hierzu nicht kommen wird.
Das Verfahren von der Standortfestlegung bis zum Betreiben von Tank- und Rastanlagen soll wie folgt aussehen. Der Bund und das jeweilige Land legen den Standort für einen Nebenbetrieb fest. Die GfN oder in Einzelfällen ein anderer Dritter erhält den Auftrag, an diesem Standort entweder selbst zu bauen oder eines der bekannten Betreibermodelle anzuwenden. Ich möchte hinzufügen, daß ich für die Bundesregierung im Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages zugesagt habe, bei der Erarbeitung des jeweiligen Konzepts auch dem Verkehrsausschuß eine Vorlage zukommen zu lassen, so daß zusätzlich auch die Politik den notwendigen Einfluß nehmen kann, was ich persönlich sehr begrüße.
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- Das könnte sein, Herr Kollege Tillmann, aber Sie selbst wahrscheinlich nicht. - Es folgt der Abschluß eines Pachtvertrags mit dem Betreiber. Nach der Planung des Nebenbetriebs durch den Investor prüft das Land als Bauaufsichtsbehörde die Planung und erteilt die Genehmigung. Schließlich wird der Betrieb nach dem Bau und der Abnahme durch die Straßenverwaltung durch den Investor selbst oder einen Pächter aufgenommen. Der Betreiber zahlt die vom Bund geforderte Konzessionsabgabe.
Dies ist das Verfahren, und nun wird es ermöglicht. Nun kann es ab 1994 mit vollem Einsatz losgehen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, das durch Ihre Zustimmung zu ermöglichen.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Bundesfernstraßengesetzes, Drucksachen 12/4635 und 12/6366. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung einschließlich der vom Berichterstatter vorgetragenen Korrektur zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei drei Gegenstimmen der PDS/ Linke Liste angenommen.
Dritte Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der korrigierten Fassung zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei drei Gegenstimmen der PDS/Linke Liste angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 a und b sowie den Zusatzpunkt 3 auf:
7. a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({0}), Renate Blank, Dr. Dionys Jobst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Binnenschiffahrtsgeseizes
- Drucksache 12/6147 - ({1})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({2})
- Drucksache 12/6367 -
Berichterstattung: Abgeordneter Carl Ewen
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk Fischer ({3}), Renate Blank, Dr. Dionys Jobst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Ekkehard Gries, Horst Friedrich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Binnenschiffahrtsaufgabengesetzes
- Drucksache 12/6381 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr ({4}) Ausschuß für Wirtschaft
ZP3 Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung der Tarife im Güterverkehr ({5})
- Drucksache 12/6284 - ({6})
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({7})
- Drucksache 12/6393 Berichterstattung:
Abgeordneter Ferdinand Tillmann
Zum Binnenschiffahrtsgesetz liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache 12/6413 vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache ebenfalls eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Als erstes spricht die Abgeordnete Renate Blank.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich rede zu allen Punkten der Binnenschiffahrt, die heute auf der Tagesordnung stehen; denn die von CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Gesetzentwürfe und der Entschließungsantrag gehören zusammen und dienen dazu, die Binnenschiffahrt zu stärken.
Mit dem Inkrafttreten des Tarifaufhebungsgesetzes am 1. Januar 1994 wird das Binnenschiffsverkehrsgesetz aufgehoben, so daß ab diesem Zeitpunkt keine Regelung über die Höhe des Liegegeldes besteht. Die ordnungspolitischen Regeln in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union belasten den Wettbewerb zu Lasten der deutschen Binnenschiffahrt. Es ist daher dringend geboten, in das Binnenschiffahrtsgesetz Grunddaten über die Höhe eines dispositiven Liegegeldes aufzunehmen.
Zur Änderung des Binnenschiffahrtsaufgabengesetzes ist zu bemerken, daß die Bundesrepublik Deutschland bilaterale Binnenschiffahrtsabkommen mit einigen Donauanliegerstaaten und Polen abgeschlossen hat. Die Überwachung der festgesetzten Frachten und Nebenbedingungen für den Wechselverkehr ist dringend erforderlich, um z. B. auch den 50%igen Anteil des bilateralen Ladungsaufkommens für deutsche Schiffe zu sichern. Ich erwarte, daß jetzt im Verhältnis zu Polen nach Inkrafttreten des bilateralen Binnenschiffahrtsabkommens ab 1. November 1993 die Ladungsaufteilung im Verhältnis 50:50 erfolgen wird und nicht wie bisher 85:15 für Polen. Eine strikte Überwachung mit entsprechenden Maßnahmen ist allein schon im Hinblick auf die Situation der deutschen Binnenschiffahrt dringend geboten.
Am 1. Januar 1994 tritt des Tarifaufhebungsgesetz in Kraft. Mit diesem Zeitpunkt entfällt das bisherige innerdeutsche Festfrachtensystem im Güterverkehr. Dies bedeutet für die deutsche Binnenschiffahrt, die schon seit längerem von einer schlechten Ertragslage betroffen ist, große Schwierigkeiten. Für deutsche Partikuliere kommen außerdem Wettbewerbsnachteile gegenüber ausländischen Partikulieren im sozialen Bereich hinzu.
Ich verhehle nicht, daß mir persönlich ein Aussetzen des Tarifaufhebungsgesetzes sehr sympathisch und wichtig gewesen wäre, um das deutsche Binnenschiffahrtsgewerbe in der schwierigen Situation zu stärken. Ich konnte mich leider innerhalb der Koalition aus den verschiedensten Gründen nicht durchsetzen. Ich bedauere dies sehr, zumal ich glaube, daß im nächsten Jahr allein schon durch fehlende Ladung, aber dann auch durch niedrige Frachtpreise ein nicht
geringer Teil der Partikuliere wird aufgeben müssen.
Aus diesen Gründen stimme ich persönlich dem Gesetzentwurf der SPD zu.
({0})
Denn ich bin von der Richtigkeit der Aussetzung des Tarifaufhebungsgesetzes nur für die Binnenschiffahrt überzeugt.
Allerdings ist zu bemerken, meine Kollegen von der SPD, daß das Tarifaufhebungsgesetz im März dieses Jahres auch mit den Stimmen der Opposition verabschiedet und vor der Sommerpause nach dem Vermittlungsausschuß im Deutschen Bundestag einstimmig gebilligt wurde.
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Die SPD kann sich deshalb mit ihrem heutigen Gesetzentwurf nicht aus der Verantwortung stehlen.
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Leider kam erst nach der Verabschiedung im Bundestag eine einheitliche Meinung des Gewerbes zustande, die dann auch in Demonstrationen zum Ausdruck kam. Diese Demonstrationen haben massiv darauf hingewiesen und aufgezeigt, daß es für das Binnenschiffahrtsgewerbe in Europa leider noch keinen fairen Wettbewerb gibt und die Situation im deutschen Gewerbe äußerst schlecht ist. Ein fairer Wettbewerb im Binnenmarkt erfordert unabdingbar einheitliche Wettbewerbsbedingungen. Hierzu gehört im Binnenschiffsgütermarkt die Abschaffung des Tour-de-rôle-Systems. Dieses Verfahren stellt eine erhebliche Belastung für die deutsche Binnenschiffahrt dar, da das Frachtenzuteilungsverfahren und die Gewähr einer Mindestfracht den Binnenschiffahrtsunternehmen in den Niederlanden eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage bieten. Durch Mischkalkulationen im grenzüberschreitenden Verkehr werden deshalb Preisangebote unterbreitet, zu denen die deutsche Binnenschiffahrt betriebswirtschaftlich absolut nicht in der Lage ist. Auch die Zusammenhänge zwischen Tour-de-rôle-System und Kabotage sind unbestreitbar.
Deshalb meine Forderung an unseren Verkehrsminister: Sollte der deutschen Forderung nach Abschaffung des Tour-de-rôle-Systems nicht kurzfristig entsprochen werden, muß über die Dauer der Übergangsfrist bis zur Freigabe der Kabotage neu diskutiert werden. Das wird zu einer großen Aufgabe der deutschen Verkehrspolitik.
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Lassen Sie mich einige Bemerkungen zum Verkehrsträger Binnenschiffahrt machen, der sehr lange in Vergessenheit war, obwohl der Anteil der Binnenschiffahrt am binnenländischen Güterfernverkehr in Tonnenkilometern rund 25 % betrug. Ich bin der Meinung, daß eine umweltgerechte Bewältigung des wachsenden Güterverkehrs in Deutschland nicht
ohne die Binnenschiffahrt möglich ist. Wir benötigen dazu aber auch das deutsche Gewerbe.
({4})
Die Binnenschiffahrt ist für den nationalen und internationalen Verkehr ein volkswirtschaftlich unentbehrlicher Verkehrsträger. Die besonderen Eigenschaften wie hohe Verkehrssicherheit, geringer Energieverbrauch und hohe Umweltfreundlichkeit, weitgehende Nutzung natürlicher Verkehrswege und noch vorhandene Kapazitätsreserven machen die Binnenschiffahrt aus ökologischen, ökonomischen und Sicherheitsgesichtspunkten zu einem wichtigen Beförderungsmittel.
Wenn wir über die Zukunft der Binnenschiffahrt sprechen, muß man aber offen die Realität sehen. Tatsache ist nämlich, daß die Situation dieser wichtigen, mittelständisch geprägten Branche durch eine unzureichende Ertragslage und ein erhebliches Überangebot an Ladungsraum gekennzeichnet ist. Hinzu kommt die rückläufige Verkehrsentwicklung für 1993. Der rezessive Konjunkturverlauf und die Strukturkrise, insbesondere bei den für die Binnenschiffahrt wichtigen Massengütern wie Kohle und Stahl, schlagen hier voll durch.
Um die Herausforderungen angesichts dieser schlechten wirtschaftlichen Lage für die Binnenschiffahrt zu meistern, bedarf es verbesserter Wettbewerbsbedingungen, vor allem im europäischen Binnenmarkt. Es ist wichtig, auch für die Binnenschiffahrt eine europäische Marktordnung zu schaffen. Das wäre die logische Konsequenz aus der aktuellen Wirtschaftslage, der europäischen Integration und der Globalisierung und Verflechtung der Märkte zu einem Binnenmarkt. Die Zeit der nationalen Alleingänge sollte eigentlich vorbei sein. Deutschland geht mit gutem Beispiel voran. Auch unsere Nachbarstaaten in der Europäischen Union müssen im Bereich der Binnenschiffahrt ihre nationalen Alleingänge aufgeben.
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Kernaufgabe der europäischen Verkehrspolitik ist deshalb der Aufbau einer neuen Marktordnung und die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen.
Nun lassen Sie mich zu unserem Entschließungsantrag kommen. Der Antrag bewirkt leider keine sofortige Hilfe. Er stellt aber ein mittelfristiges Konzept dar. Zwei Punkte erledigen wir mit unseren Gesetzentwürfen bereits heute. In der Europäischen Union ist mit Nachdruck auf die Beseitigung des Tour-de-rôleSystems hinzuwirken, gegebenenfalls im Wege einer Klage, und zwar nicht als Untätigkeitsklage, sondern als Klage gegen einen Verstoß im Wettbewerb, da die Wahrnehmung der Kabotagerechte in einem Tourde-rôle-System davon abhängig ist, daß der Transportunternehmer an Ort und Stelle ist, wenn die Ladung vergeben wird.
Dies benachteiligt gebietsferne, d. h. an erster Stelle ausländische und insbesondere deutsche Transportunternehmen. Der Unternehmer im Tour-de-rôleSystem seinerseits kann Kabotageverkehre z. B. in Deutschland mit den Mitteln der Telekommunikation
ohne physische Präsenz über jede beliebige Distanz akquirieren. Das Tour-de-rôle-System ist deshalb eine Diskriminierung des deutschen Gewerbes.
Wie wichtig den Niederländern das Tour-de-rôleSystem ist, zeigt das Beispiel, daß ein belgischer Großverlader das System boykottieren will. Der holländische Partikulierverband will jetzt durch Gerichtsbeschluß erzwingen, daß sich der Unternehmer weiter am Tour-de-rôle-System beteiligt.
Ich sage es noch einmal: Sollte der deutschen Forderung nach Abschaffung des Tour-de-rôleSystems nicht kurzfristig - ich betone ausdrücklich: kurzfristig - entsprochen werden, muß die Übergangsfrist für die Freigabe der Kabotage in Deutschland bis zur Beseitigung des Tour-de-rôle-Systems verlängert werden.
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Wichtig ist ebenfalls, daß entsprechend den Regelungen im Straßengüterverkehr Krisenklauseln auch für die Binnenschiffahrt in das Recht der Europäischen Union aufgenommen werden. In beiden Bereichen, Straßenverkehr und Binnenschiffahrt, geht es um mittelständische Existenzen, zum Teil um Familienbetriebe. Krisenregelungen muß es deshalb auch für die Binnenschiffahrt geben.
Es besteht Einigkeit über die Verlängerung der Alt-für-neu-Regelung im Rahmen der Abwrackaktion. Diese Regelung muß nicht nur verlängert, sondern auch verschärft werden.
Die Bundesregierung muß ferner untersuchen, ob und in welchem Umfang die deutsche Binnenschiffahrt auf Grund sozialer und fiskalischer Belastungen im Wettbewerb zu den übrigen Binnenschiffahrtsländern der Europäischen Union benachteiligt ist und welche Maßnahmen zum Abbau wettbewerbsverzerrender Nachteile zu ergreifen sind.
Wir werden den vorliegenden SPD-Antrag weiter im Ausschuß behandeln, sofern er nicht durch den heutigen Entschließungsantrag seine Erledigung gefunden hat.
Ich kann nur hoffen, daß die freie Preisbildung der Binnenschiffahrt neue Chancen im Wettbewerb mit anderen Verkehrsträgern und mit den ausländischen Mitbewerbern eröffnet. Die deutsche Binnenschiffahrt ist bereit, sich einem fairen Wettbewerb in Europa zu stellen; allerdings bedarf es zu einem fairen Wettbewerb der weiteren Harmonisierung in den von mir genannten Punkten.
Als Berichterstatterin der CDU/CSU-Fraktion für die Binnenschiffahrt werde ich mich auf jeden Fall weiter bemühen, daß in Zukunft nicht nur an der Binnenschiffahrt, sondern auch mit der Binnenschiffahrt verdient werden kann, damit das deutsche Gewerbe eine Chance im europäischen Verkehrsmarkt hat; denn wir brauchen eine gesunde und leistungsfähige Binnenschiffahrt in Deutschland mit einem deutschen Gewerbe, damit die Verkehrsprobleme der nächsten Zeit zufriedenstellend gelöst werden können.
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Nun spricht der Kollege Carl Ewen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte mir gewünscht, daß die Haltung, die Frau Blank eingenommen hat, in der Koalition mehrheitsfähig gewesen wäre.
({0})
Die heute in der verbundenen Debatte zu behandelnden Gesetzentwürfe und Beschlußempfehlungen sowie der Entschließungsantrag geben Anlaß, über die Lage der Binnenschiffahrt zu beraten. Wir sind uns gewiß alle darin einig, daß der Transport von Gütern auf Flüssen und Kanälen umweltfreundlich, kostengünstig und sicher gestaltet werden kann. Über Wasserstraßen können zwei Drittel aller deutschen Großstädte erreicht werden, und mehr als 1 500 Häfen lassen eine fast flächendeckende Bedienung der Wirtschaft mit Transportleistungen über die Wasserstraße mit dem Binnenschiff zu.
1992 wurden - das ist die letzte Zahl -106 Millionen t Güter von 12 000 Beschäftigten in der deutschen Binnenschiffahrt transportiert. Zählt man die Transporte auf ausländischen Binnenschiffen hinzu, wurden 1992 sogar 233 Millionen t an Gütern transportiert. Für diese Transporte steht ein gut ausgebautes Wasserstraßensystem zur Verfügung, das gemäß den Vorgaben des Bundesverkehrswegeplans in den nächsten 20 Jahren weiter ausgebaut werden soll.
Da die Binnenschiffahrt zur Zeit über eine Kapazitätsreserve von rund 20 % oder 50 Millionen t verfügt und keine Verkehrsstaus und kein Wochenendfahrverbot kennt, müßte eigentlich bei allen Verkehrspolitikern, bei der verladenden Wirtschaft und natürlich bei den Binnenschiffern eitel Sonnenschein herrschen.
Das Gegenteil ist aber leider der Fall: Durch Schließung von Stahlwerken ist der Transport von Erz rückläufig. Eine schwache Konjunktur hat zusätzlich Einbrüche beim Transport von Baustoffen, Kohle und Futtermitteln verursacht. Genau diese Frachten aber wurden in der Vergangenheit und werden noch bis zum 31. Dezember dieses Jahres nach von Frachtenausschüssen festgesetzten Tarifen abgerechnet, wenn sie innerhalb der Bundesrepublik gefahren werden. Bei den rund 1 000 selbständigen Binnenschiffern, den sogenannten Partikulieren, wurden rund 50 bis 60 % der Einnahmen innerhalb dieses Tarifsystems erzielt. Daraus geht die Bedeutung der Festfracht für dieses mittelständische Gewerbe hervor.
Durch das von allen Parteien beschlossene Tarifaufhebungsgesetz werden mit Wirkung vom 1. Januar 1994 an die Preise für Frachttransportleistungen aller Verkehrsträger frei aushandelbar. Ab dem 1. Januar 1995 ist vorgesehen, daß in allen Staaten der Europäischen Union alle Verkehrsträger unabhängig von der am Heck geführten Flagge Transporte zu frei ausgehandelten Preisen durchführen können, d. h. es herrscht Kabotagefreiheit.
Diese Regelungen im Tarifaufhebungsgesetz wurden von uns allen, auch von der Opposition im Deutschen Bundestag, soweit es um die SPD geht, in
der Erwartung beschlossen, daß zum 1. Januar 1994 ein freier Wettbewerb in Europa zu gleichen Wettbewerbsbedingungen im Rahmen einer europäischen Verkehrsmarktordnung gewährleistet sein sollte.
({1})
Dies war die wichtigste Voraussetzung für unsere Zustimmung zu diesem Gesetz.
Nun ist dies leider nicht der Fall: Die Niederlande, Belgien und Frankreich behalten für weitere sechs Jahre das Tour-de-rôle-System, verbunden mit einem Tarifbildungssystem, bei. Abwrackaktionen haben außer in Deutschland nicht zum Abbau von Binnenschiffskapazitäten geführt. Dem Vernehmen nach sind jetzt sogar weitere 150 Millionen Gulden für die Förderung der Binnenschiffahrt in den Niederlanden vorgesehen. Diese ungleichen Wettbewerbsbedingungen führen zur Existenzvernichtung der deutschen Binnenschiffahrt.
Ich denke, wir sollten alles daransetzen, um möglichst schnell in einem Vergleich die internationalen Wettbewerbsbedingungen aufgelistet zu bekommen, unter Einbeziehung der sozialen und fiskalischen Disparitäten, die es zweifelsfrei gibt. In den Niederlanden ist es z. B. möglich, wenn das Einkommen in einem Monat nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, zum Sozialamt zu gehen, um sich Sozialhilfe abzuholen - ich nehme unsere Begriffe dafür -, ohne daß das eigene Vermögen eingesetzt werden muß. Das ist der gravierende Unterschied. Das führt praktisch zu einer Lohnsubventionierung durch die Sozialämter. Dagegen kann der tüchtigste deutsche Binnenschiffer nicht konkurrieren. Hier müssen wir also für gleiche Wettbewerbsbedingungen kämpfen.
({2})
Die Binnenschiffer haben in Großdemonstrationen, die alle friedlich verliefen, zunächst am 29. September dieses Jahres und dann in den nachfolgenden Wochen auf ihre Lage aufmerksam gemacht. Die SPD hat durch ihren Antrag erreichen wollen, daß bis zur Schaffung von gleichen Wettbewerbsbedingungen das Inkrafttreten der für die Binnenschiffahrt geltenden Gesetze und Verordnungen im Tarifaufhebungsgesetz auf den 1. Januar 2000 verschoben wird, also auf den gleichen Zeitpunkt, zu dem auch das Tourde-rôle-System nach jetziger Kenntnis aufgehoben werden soll. Dies hätte die Binnenschiffahrt gewiß nicht aller Sorgen enthoben, aber sie hätte eine Übergangsfrist nutzen können, um sich nicht nur den konjunkturellen, sondern auch den strukturellen Veränderungen im Verkehrsmarkt anpassen zu können.
Die Koalition und die Bundesregierung haben diesen Weg nicht mitgehen wollen. Sie tragen die Verantwortung, wenn, wie von den Verbänden der Binnenschiffahrt befürchtet, einige tausend Beschäftigte und einige hundert Selbständige in der Binnenschiffahrt arbeitslos werden bzw. ihre Existenz verlieren.
({3})
Die verladende Wirtschaft ihrerseits ist schlecht beraten, wenn sie den Binnenschiffern Preise anbietet, die dem Vernehmen nach bis zu 60 % unter dem bisher Gezahlten liegen und dann zum Ruin führen werden. Wenn am Ende nur wenige Anbieter von Transportleistungen übrigbleiben, können dann von den verbleibenden Preise gefordert werden, die auch den Verladern Kopfschmerzen bereiten. Wir haben Beispiele aus anderen Gebieten, etwa aus der Naßbaggerei, wo durch Wegkonkurrieren von Mitbewerbern am Ende eine Marktmacht entstanden ist, die heute zu deutlich überhöhten Preisen führt.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, die Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses auf Drucksache 12/6393 abzulehnen und dafür dem Antrag der SPD auf Drucksache 12/6284 zuzustimmen.
({4})
Ferner bitte ich Sie, der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses auf Drucksache 12/6367 zuzustimmen. Die Regelungen über die Festsetzung von Liegegeld bei Überschreiten von Lade- und Löschzeiten werden von der SPD voll mitgetragen und gehören zu dem ganzen Bukett, das wir brauchen, um der Binnenschiffahrt faire Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen.
Wir erwarten, daß Koalition und Bundesregierung schnellstens Vorschläge unterbreiten, die die Voraussetzungen für einen fairen Wettbewerb zu gleichen Bedingungen schaffen.
Bei der Behandlung des vom Bundestag dem Verkehrsausschuß überwiesenen Antrags der SPD „Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschiffahrt" auf Drucksache 12/6221 werden wir schon in den ersten Sitzungswochen des Jahres 1994 Gelegenheit haben, die Bundesregierung zu drängen, nationale Maßnahmen durchzuführen und internationale Vereinbarungen zu treffen, die von allen Mitgliedern des Verkehrsausschusses und darüber hinaus erwartet werden, so wie Frau Blank es auf Grund des Entschließungsantrages, den Sie heute eingebracht haben, vorgetragen hat. Wir haben ihn leider erst soeben zur Kenntnis nehmen können. Da die Zielsetzung aber mit unserem Wollen übereinstimmt, sind wir einverstanden, daß dieser Entschließungsantrag nicht mehr überwiesen wird, sondern daß heute darüber abgestimmt wird. Wir werden ihm zustimmen.
Wir müssen auch in Zukunft dafür sorgen, daß auf deutschen Wasserstraßen nicht nur Binnenschiffe fahren, sondern auch eine große Anzahl Binnenschiffe mit einer deutschen Flagge am Heck. Dies sind wir unserer Volkswirtschaft und auch den Binnenschiffern schuldig. Ich hoffe auf eine positive Abstimmung.
({5})
Nun hat der Kollege Ekkehard Gries das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist eine schwierige Entscheidung, die hier zu treffen ist, was sich
schon darin äußert, daß die Telefone glühen, so daß am Ende mehr Befürworter der Entscheidung, die sich die Koalitionsmehrheit ausgedacht hat, hier sind als Gegner und ich der einzige bin, der diese Mehrheit der Koalition hier vertritt, obwohl es sich um keine F.D.P.-eigene Erfindung handelt.
Ich hoffe, Sie haben die Feinheit bemerkt, daß die Hauptrednerin des größeren Koalitionspartners eine sehr ehrenwerte Dissidentin ist. Aber, meine Damen und Herren, wir verkennen ja auch nicht, daß die Binnenschiffahrt in einer schwierigen wirtschaftlichen Situation ist, die in einigen Teilen durchaus existenzbedrohend sein kann.
Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß wir ein erhebliches Defizit im Gleichklang der Harmonisierung und der Liberalisierung im europäischen Maßstab sehen. Das trifft nicht nur für die Binnenschiffahrt, sondern auch den Güterverkehr und andere gewerbliche Bereiche zu. Das ist zu beklagen, und die Bundesregierung kann immer nur aufgefordert werden, hier mit aller Härte zu verhandeln und nicht immer nur den Musterknaben zu spielen.
Aber bei aller Schwierigkeit, die sich aus solchen Gegensätzen ergibt, bei aller Schwierigkeit, einen Interessenausgleich zwischen den Grundsatzzielen und der Betroffenheit von Teilen der Bevölkerung zu finden, darf das Ziel nicht aus den Augen gelassen werden. Das Ziel ist ein freier Markt, meine Damen und Herren. Unsere Wirtschaft wird nur in einem freien Markt leistungs- und wettbewerbsfähig sein, und die Voraussetzungen müssen wir schaffen.
({0}) Das kostet Opfer; ich bin mir völlig klar darüber.
Es kann doch so falsch nicht sein, wenn alle - außer, wie in diesem Fall, die Betroffenen -, wenn alle anderen, die Verlader, die Wirtschaft, die Sachverständigen in ihrem letzten Gutachten, vor Jahren auch die Deregulierungskommission, der Meinung sind, daß wir einen freien Preismarkt haben müssen, daß nationale Marktordnung und nationale Preisregulierung der Wirtschaft am Ende mehr schaden, als daß sie überhaupt Wachstum garantieren können.
Deshalb nützt diese lokale, nationale Preisbindung nichts. Sie schafft auch keine Ladung. Wir haben einen tiefen konjunkturellen Einbruch, weil keine Ladung vorhanden ist, und nicht, weil die Preise nicht stimmen würden; das ist natürlich auch ein Punkt, aber nicht der wichtigste.
Wir wissen - und es hat gar keinen Zweck, die Augen zu verschließen; dazu haben wir uns jetzt zu oft mit dem Thema beschäftigt und mit den Betroffenen gesprochen -, daß das Opfer erfordert. Hier muß man um Verständnis bitten. Da müssen wir nach politischen Lösungen suchen. In unserem Resolutionsentwurf sind dafür einige Lösungen aufgezeigt. Wir können aber auch keine Ungleichbehandlung, meine Damen und Herren, hinnehmen.
Wir haben in der vergangenen Woche die Bahnreform beschlossen und dabei die Tariffreiheit geschaffen. Wir haben die Tariffreiheit für den Güterkraftverkehr. Wir haben die Tariffreiheit im grenzüberschreitenden Verkehr. Wir haben die Tariffreiheit auf dem
Rhein seit 1868, seit der Mannheimer Akte. Es geht hier also um einen ganz engen sektoralen Bereich, der uns bei allen Schwierigkeiten gegenüber dem zu erreichenden Ziel nicht irremachen lassen darf.
Auch die deutschen Seehäfen haben uns sehr bedrängt - Sie wissen das alle -, daß wir an der Aufhebung der Tarife festhalten, weil sie sonst gegenüber den Rheinmündungshäfen in ein noch schlimmeres Hintertreffen kommen, und wir jeden Vorteil auch aus der Öffnung zum Osten verlieren würden, wenn wir den Seehafenhinterlandverkehr durch Tarife benachteiligen würden.
({1})
Wir haben hier noch zwei Gesetzentwürfe liegen. Carl Ewen hat eben gesagt, daß Sie dem einen zustimmen. Die Festsetzung der Liegegelder war einmal eine Forderung an uns. Jetzt erfüllen wir sie. Das wird schon gar nicht mehr gewertet - ich will das auch nicht überbewerten -, aber das ist ein Teil der Hilfe. Wir haben - das ist wichtiger, glaube ich - ein anderes Gesetz, das die Überwachung dieses - ich sage einmal - ruinösen Dumpingwettbewerbs aus den Oststaaten eingrenzen soll, daß bilaterale Schiffahrtsverträge dort, wo wir sie haben, stärker überprüft werden oder es zumindest zu einem Ausgleich der Ladung kommt und zu vernünftigen Verhandlungen kommt.
Das, was notwendig ist, hat Frau Blank hier aufgezählt. Es steht in unserem Resolutionsentwurf noch einmal. Ich glaube, das ist die Forderung nach der „tour de rôle". Das System der „tour de rôle" wird im übrigen innerhalb der Binnenschiffahrt durchaus unterschiedlich gewertet. Aber das gehört zur Redlichkeit der Diskussion. Wir sind dafür, „tour de rôle" abzuschaffen, notfalls - das haben wir gestern im Verkehrsausschuß übereinstimmend gesagt - auch dadurch, daß die Bundesregierung einmal klagt, nicht nur redet, sondern klagt, daß wir die Kabotage nicht klaglos hinnehmen, sondern - auch wenn das schwierig ist und im nachhinein verstärkt werden muß - Einigung zwischen der Abschaffung der „tour de rôle" und der Einführung der Kabotage bei uns herstellen. Wir müssen - das gilt nicht nur für die Binnenschiffahrt - sehen, daß wir diese nicht mehr faire Dumpingkonkurrenz aus den Ostblockstaaten vermeiden. Wir müssen alles tun, damit Wettbewerbsgleichheit, auch auf sozialen Gebieten, für die Binnenschiffahrt erreicht werden kann. Wir sind uns darüber im klaren - und das ist das, was gar nicht im Streit ist -, daß die Binnenschiffahrt eine der leistungsfähigsten und umweltfreundlichsten Arten der Verkehrsbewältigung ist. Wir haben ein Interesse daran, alles dafür zu tun. Das ist nicht nur so dahergeredet. Wir werden uns bemühen, das kurzfristig und nachdrücklich zu tun.
Vielen Dank.
({2})
Nun spricht Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Offensichtlich ist heute der Tag der frommen Weihnachtswün17210
sehe. Minister Wissmann gilt nicht nur im Kreise seiner Parteifreundinnen und Parteifreunde als überdurchschnittlich emsiger Minister. Das würde nicht einmal ich leugnen.
Mit seinem Festhalten am Inkrafttreten des Tarifaufhebungsgesetzes für die Binnenschiffahrt aber ist er allerdings um einiges über das Ziel hinausgeschossen. Da wird im Rahmen der europäischen Einigung liberalisiert, was das Zeug hält, und - wie im Falle der Binnenschiffahrt - ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn das Tarifaufhebungsgesetz am 1. Januar 1994 in Kraft tritt, so wie Sie das nach wie vor wollen, meine Damen und Herren aus den Koalitionsfraktionen - und hier nehme ich ausdrücklich Frau Blank aus, und ich bewundere hier Ihren Mut, daß Sie hier sozusagen als Dissidentin gesprochen haben ({0})
- Herr Kollege, das war ein Zitat; das hat vorher jemand anderes gesagt -,
({1})
dann wird insbesondere die mittelständische deutsche Binnenschiffahrt im Gegensatz zu ihrer französischen, belgischen und schweizerischen Konkurrenz einem ruinösen europäischen Wettbewerb ausgeliefert. Das kann die europäische Idee wohl nicht meinen.
Sie haben hier offenbar schon selber festgestellt, daß das Tarifaufhebungsgesetz in bezug auf die Binnenschiffahrt nicht in die Kategorie „besonders durchdacht" gehört, und wollen jetzt mit der Änderung des Binnenschiffahrtsgesetzes erneut eine gesetzliche Grundlage für die Höhe von Liegegeldern einführen. Diese Maßnahme ist uns aber leider nicht weitreichend genug. Damit die mittelständische Binnenschiffahrt nicht das erste Opfer wird, das auf das Konto des europäischen Einigungsprozesses geht: Setzen Sie das Tarifaufhebungsgesetz in den entsprechenden Paragraphen bis Ende 1999 aus!
Immerhin hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. November die Vereinbarkeit des gegenwärtigen Frachttarifsystems mit den EG-Verträgen vollauf bestätigt. Sie sollten lieber handeln und Wettbewerbsnachteile beseitigen, statt diese langfristig zu ermitteln, wie es in der Beschlußempfehlung des Ausschusses heißt. Sonst nämlich könnte es sein, daß sich die Angelegenheit von selbst erledigt, weil in der Zwischenzeit das Objekt Ihrer Ermittlungen erledigt ist, die deutsche Binnenschiffahrt nur noch auf dem Arbeitsamt anzutreffen ist.
Übrigens, als frommer Weihnachtswunsch erscheint mir auch der Entschließungsantrag der Koalition. Da wir uns aber solchen Weihnachtswünschen nicht verschließen werden und immer noch die Hoffnung haben, daß Sie es ernst meinen, werden wir diesem Entschließungsantrag zustimmen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Weitere Wortmeldungen zur Aussprache liegen mir nicht vor.
Es gibt zwei Erklärungen zur Abstimmung nach Art. 31 von den Kollegen Nolting und Kampeter, die zu Protokoll gegeben werden sollen.*) Der Kollege Krause möchte gerne eine persönliche Erklärung zur Abstimmung am Rednerpult abgeben.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einheit von Liberalisierung und Harmonisierung ist im betreffenden Fall der Binnenschiffahrt als das übriggebliebene Junktim zwischen Tarifaufhebungsgesetz und der Tour-de-rôle-Regelung seinerzeit hier im Deutschen Bundestag - im übrigen zwischen Regierungsparteien und der Opposition - verabredet worden, letztmalig erklärt sowohl durch die Vertreter der SPD als auch der CDU am 30. Juni 1993.
Insofern werde ich mein abweichendes Stimmverhalten gegenüber den Kollegen meiner Fraktion damit begründen müssen, daß ich für Kontinuität in der Binnenschiffahrt und für Arbeitsplätze in Deutschland stimmen werde.
Danke schön.
({0})
Weitere Wortmeldungen liegen jetzt nicht mehr vor.
Damit kommen wir zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf zur Änderung des Binnenschiffahrtsgesetzes auf den Drucksachen 12/6147 und 12/6367. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit bei wenigen Gegenstimmen und Stimmenthaltungen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit großer Mehrheit bei einer Gegenstimme und wenigen Stimmenthaltungen angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache 12/6413. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.
Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 7 b. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/6381 - das ist der von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachte Entwurf zur Änderung des Binnenschiffahrtsaufgabengesetzes - an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Die Federführung soll beim Aus-
*) Anlage 2
Vizepräsidentin Renate Schmidt
schuß für Verkehr liegen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 3 und damit zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Tarifaufhebungsgesetzes auf Drucksache 12/6284. Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/6393, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/6284 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf - wenn ich meine beiden Schriftführer fragen darf - in zweiter Beratung - allerdings Herr Kollege Geschäftsführer, wenn ich das diesmal sagen darf, mit knapper Mehrheit - abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 3 a bis 3 c sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:
3. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
2. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung
- Drucksache 12/6330 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hanna Wolf, Brigitte Adler, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD.
Gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen - Weltkonferenz über Menschenrechte im Juni 1993
- Drucksachen 12/4953, 12/6392 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte Freimut Duve
Ulrich Irmer
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Appell an die Regierung des Iran
- Drucksachen 12/2119, 12/5431 Berichterstattung:
Abgeordnete Heinrich Lummer Karsten D. Voigt ({2}) Dr. Olaf Feldmann
ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf Bindig, Volker Neumann ({3}), Freimut Duve, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschlands menschenrechtliche Aufgabe in der Welt stärken
- Drucksache 12/6383 -Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({4})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Walter Franz Altherr, Dr. Wolf Bauer, HansDirk Bierling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burkhard Hirsch, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 1993 „Erfolg der Menschenrechtskonferenz"
- Drucksache 12/6384 Überweisung svorschlag:
Auswärtiger Ausschuß ({5})
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit EG-Ausschuß
({6})
- Darf ich Sie herzlich bitten, wenn es irgendwie möglich ist, Platz zu nehmen? Ich darf diejenigen, die den weiteren Verhandlungen nicht beiwohnen wollen, herzlich bitten, hinauszugehen, auf jeden Fall aber ruhig zu sein.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Es besteht kein Widerspruch dazu, daß wir eineinhalb Stunden debattieren. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Heribert Scharrenbroich das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bundestag und Bundesregierung haben in der Welt zweifelsohne einen guten Namen als Verteidiger der Menschenrechte. Aber nichts ist so gut, daß es nicht verbessert werden könnte. Die brutalen Verletzungen der Menschenrechte in vielen Ländern der Welt müssen eine alarmierende Aufforderung an uns sein, noch mehr zu tun.
Wir brauchen nicht in die Ferne zu schweifen. Täglich werden wir an das Drama vor unserer Haustür, in Bosnien-Herzegowina erinnert. Vor einem Jahr hielt mein Fraktionskollege Stefan Schwarz in diesem Hohen Hause zum Tag der Menschenrechte eine dramatische Rede über die Exzesse dieses Bürgerkrieges. Die Situation hat sich seit dem eher verschlechtert, nachdem auch noch kroatische Truppen moslemische Minderheiten verfolgen und vertreiben. Zum erneuten Male müssen wir in diesem Winter hinnehmen, daß nicht nur Hunger, sondern auch der Tod durch Erfrieren als Kriegsmittel gegen diese geschundenen Menschen eingesetzt wird.
Auch wenn der 2. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung zu Recht die erfolgreichen Bemühungen der Bundesregierung darstellt, wollen wir nicht verschweigen, daß wir zu oft ohnmächtig dem Abschlachten - man muß dieses schlimme Wort hier in Verbindung mit Menschen leider gebrauchen - vieler Menschen zuschauen müssen.
Menschenrechtspolitik muß in erster Linie Friedenspolitik sein; denn Bürgerkriege sind doch meistens die eigentliche Ursache für Vertreibung, Folter,
außergerichtliche Hinrichtung. Die Mißachtung der Grundrechte nationaler Minderheiten ist in fast allen Fällen Ursache dieser Bürgerkriege, und blutige Machtkämpfe zwischen Machtbesessenen um die Herrschaft über ein Land haben meistens eben die gleiche Wurzel.
Wer Außenpolitik nur als Interessenpolitik versteht, der wird der Verantwortung für die Wahrung, Förderung und Stärkung einer humanen Politik nicht gerecht. Das in Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes dargelegte Bekenntnis des deutschen Volkes „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" begründet unser Engagement für die Verteidigung der Menschenrechte nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Welt über die nackte Interessenwahrnehmung hinaus.
In diesem Sinne engagieren sich Bundestag und Bundesregierung. Die Universalität der Menschenrechte verlangt, daß wir uns international einmischen, auch wenn betroffene Verbrecher gegen die Menschlichkeit dies oft mit dem Vorwurf der Einmischung in innere Angelegenheiten ihres Staates abzuwehren suchen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die eindeutigste Bestätigung des großen Engagements der Bundesregierung für die Menschenrechte ist sicher die Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland trotz der verurteilenswerten Exzesse gegen Ausländer in unserem Land jetzt mit der höchsten Stimmenzahl in die Menschenrechtskommission gewählt wurde. Die einflußreiche Arbeit in der Genfer Menschenrechtskommission und die wichtigen Impulse, die das Schlußdokument der Wiener Menschenrechtsweltkonferenz aus der deutschen Delegation heraus erfahren hat, sind Ergebnisse dieser intensiven Arbeit. Dafür danke ich Herrn Außenminister Kinkel, dem bisherigen Menschenrechtskoordinator der Bundesregierung, Herrn Dr. Schilling, den vielen Experten des Auswärtigen Amtes, allen voran Herrn Gerds, aber auch den Mitarbeitern des BMZ
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und last but not least unserem Parlamentskollegen Gerhart Rudolf Baum,
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der bereits zum zweitenmal die Delegation der Bundesregierung - in Genf, aber auch jetzt in Wien -leitete.
Man kann, glaube ich, ohne Übertreibung sagen: Ohne den im wahrsten Sinne des Wortes rastlosen Einsatz dieser Damen und Herren wären die internationalen Aussagen und Mechanismen zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen weniger weit entwickelt, als wir dies jetzt feststellen können.
Wenn die SPD in ihrem Antrag, Herr Kollege Bindig, jetzt noch mehr Personal fordert, möchte ich das zum Anlaß nehmen, zu sagen: Es geht jetzt nicht um die Zahl oder die Qualität der Mitarbeiter, wichtig ist, daß wir viele Mechanismen nur nutzen können, wenn wir die Möglichkeit der internationalen Kooperation haben. Dazu gehört auch, daß wir die Bestrebungen, Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu werden, unterstützen sollten. Dort werden wir die Möglichkeit haben, dafür zu sorgen, daß die Mechanismen noch besser angewandt werden. Und da bitte ich die SPD, nicht nur nach Personal zu rufen, sondern dabei mitzuwirken, daß wir durch die Grundgesetzergänzung auch die Voraussetzungen dafür schaffen, daß wir Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen werden können.
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Das deutsche Engagement wird aber sicher auch durch die zahlreichen deutschen Nichtregierungsorganisationen beflügelt. Deswegen sollten wir uns weniger an der manchmal harschen Kritik dieser Mitstreiter stören, sondern ihnen danken; denn diese eindrucksvolle Bürgerbewegung sorgt dafür, daß die Menschenrechtspolitik in der Bevölkerung Unterstützung bekommt und daß wir nicht anfangen, uns auf bescheidenen Erfolgen auszuruhen. Deswegen meinen herzlichen Dank an die Nichtregierungsorganisationen und die vielen Bürgerinnen und Bürger, die dort mitarbeiten.
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Zu den kritischen Bemerkungen in den letzten Wochen gehört auch die Stellungnahme zu der China-Reise des Herrn Bundeskanzlers. Dies möchte ich zum Anlaß nehmen, festzustellen, daß nach der Auffassung meiner Fraktion diese Reise zwar in erster Linie der Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern diente, daß wir sie aber auch aus der Sicht der Menschenrechtspolitik positiv bewerten. Wer mit der Volksrepublik China erst zusammenarbeiten will, wenn dort Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit Einzug gehalten hat, der wird wenig bewirken für die Verbesserung der Menschenrechte. Deswegen war die Reise des Herrn Bundeskanzlers auch zur Verbesserung der Menschenrechte wichtig und richtig.
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Verbesserte wirtschaftliche und daraus resultierende politische Beziehungen geben bessere Möglichkeiten gegenüber dieser Großmacht, sie davon zu überzeugen, daß zumindest Rechtssicherheit Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität ist. Es widerspräche der bisherigen Politik der Bundesregierung, wenn sie ihren Einfluß aus den neuen Formen der Kooperation mit der Volksrepublik China nicht zur Verbesserung der Menschenrechtslage nutzen würde.
Auf Grund der eigenen Bemühungen des Unterausschusses für Menschenrechte sowie des Auswärtigen Ausschusses weiß ich, daß wir dem Herrn Bundeskanzler für seine Einflußnahme ebenso zu danken haben wie Herrn Außenminister Kinkel für seine früheren Bemühungen. Das sage ich gerade deswegen, weil es in diesem Hohen Hause auch schon einmal anders gesagt worden ist.
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Wir erwarten allerdings auch, daß die Intensivierung der Beziehungen die Bundesregierung nicht davon abhält, vor der Genfer Menschenrechtskommission die Verletzung von Menschenrechten in China und Tibet beim Namen zu nennen, wann immer dies notwendig ist.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Mitglieder des Unterausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfen hatten inzwischen des öfteren die Möglichkeit, die Bemühungen der Bundesregierung sowohl bei der Genfer Menschenrechtskommission wie bei der Wiener Menschenrechtsweltkonferenz vor Ort zu begleiten. Deswegen unterbreiten die Koalitionsfraktionen heute dem Hohen Hause einen Entschließungsantrag unter dem Titel „Erfolg der Menschenrechtsweltkonferenz". Wir möchten das Hohe Haus auffordern, sich für die Umsetzung der Aussagen des Schlußdokuments und des Aktionsprogramms der Menschenrechtsweltkonferenz einzusetzen. Wir wollen die Bundesregierung bei der Umsetzung dieser Beschlüsse bestärken. Ich möchte nur einige Punkte, die mir wichtig erscheinen, nennen.
Erstens. Wir halten es für wichtig, auf die Erweiterung des Menschenrechtskatalogs positiv zu reagieren, insbesondere auf das Recht auf Entwicklung und gesunde Umwelt.
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Zweitens. Wir wollen einen konstruktiven Dialog über die Interpretation der Menschenrechte gerade im asiatischen Raum, da nur durch einen solchen Dialog dort auch die Universalität der Menschenrechte, die ja in einigen Ländern umstritten ist - allerdings teilweise auch aus durchsichtigen Gründen -, besser anerkannt wird.
Drittens. Wir müssen im Sinne der Wiener Erklärung Genozid, die sogenannten ethnischen Säuberungen - ein schreckliches Wort! -, Folter, Hinrichtungen oder Verschwindenlassen als schwere Formen der Menschenrechtsverletzungen stärker in den Mittelpunkt der internationalen Menschenrechtspolitik bringen. In diesem Sinne begrüßen wir auch die Kampagne von Amnesty International gegen Verschwindenlassen und politischen Mord.
Viertens. Ebenso erwarten wir von der Bundesregierung und der Völkergemeinschaft, daß sie den Aussagen der Menschenrechtsweltkonferenz zur Verfolgung und Benachteiligung von Kindern, Frauen, Behinderten, eingeborenen Bevölkerungsgruppen und nationalen Minderheiten besondere Beachtung schenken.
An dieser Stelle möchte ich im Namen meiner Fraktion allerdings auch sagen, daß uns die Tatsache bedrückt, daß das Lebensrecht der ungeborenen Kinder in den Konferenzen und Dokumenten zur Menschenrechtsproblematik leider noch keine Rolle spielt.
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Auch dieses Lebensrecht bedarf der Verteidigung. Wir müssen uns nicht nur national, sondern auch international der Diskussion stellen, wie verhindert werden kann, daß das Lebensrecht des ungeborenen Kindes durch besondere Situationen der Mütter beeinträchtigt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Schlußdokument der Wiener Menschenrechtsweltkonferenz und der Aktionsplan enthalten wichtige Anregungen zur Weiterentwicklung der Mechanismen für die bessere Verteidigung der Menschenrechte. Wir haben jetzt eine neue und einstimmig verabschiedete wichtige Berufungsgrundlage für den internationalen Menschenrechtsschutz.
Gerade der Prüfungsauftrag für die Einrichtung eines Hochkommissars für Menschenrechte geht maßgeblich auf deutsche Initiativen sowohl des Parlaments wie der Regierung zurück. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben sich immer wieder dafür eingesetzt. Wir stimmen auch mit den Vorstellungen der Bundesregierung überein, daß es sich bei diesem Hochkommissar um eine Persönlichkeit von internationalem Ansehen handeln muß, die mit einem klaren Mandat der Generalversammlung ausgestattet und unabhängig von Weisungen sein soll. Wir hoffen, daß spätestens in der Generalversammlung des nächsten Jahres die Debatte über die Einrichtung und Einsetzung eines Hochkommisars für Menschenrechte erfolgreich zum Abschluß gebracht wird.
Ich danke Ihnen, Herr Außenminister, daß Sie sich vor der diesjährigen Generalversammlung der Vereinten Nationen und auch danach mit Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erneut so eindeutig für diese Institution eingesetzt haben, ebenso wie für die Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes und des Ad-hoc-Tribunals zur Verfolgung der Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien.
Wir wollen mit unserem Entschließungsantrag aber ebenso nicht nur diese Instrumente, sondern auch die inhaltlichen, die materiellen Beschlüsse der Wiener Menschenrechtsweltkonferenz fördern.
Der 2. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung bedarf noch der gründlichen Erörterung in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages. Wir werden dabei zu prüfen haben, wieweit er der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses vom 6. Dezember 1991 bzw. des Parlaments von diesem Datum wirklich entspricht.
Ich rufe Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, allerdings auf, daß wir diesen 2. Menschenrechtsbericht und unsere Stellungnahme möglichst zeitnah in den Ausschüssen wie im Plenum debattieren und nicht wieder so viel Zeit vergehen lassen wie in früheren Zeiten. Ohne einer ausdrücklichen Würdigung vorzugreifen, möchte ich aber hervorheben: Der Bericht macht deutlich, daß die Mechanismen weiter verbessert werden, daß aber die besten Instrumente nur im Rahmen der internationalen Kooperation erfolgreich gegen Menschenrechtsverletzer wirksam werden.
Die Europäische Politische Zusammenarbeit war in der Vergangenheit ein wirksames Instrument. Mit der
seit Inkrafttreten der Maastrichter Verträge geltenden gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik steht der Menschenrechtspolitik ein noch besseres Instrument zur Verfügung. Wir wollen die Bundesregierung ermuntern, daß sie dieses neue Instrument der Europäischen Union ebenfalls intensiv nutzt und ihm auch entscheidende Impulse zur Verteidigung der Menschenrechte gibt.
Herzlichen Dank.
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Nun hat der Kollege Rudolf Bindig das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum bevorstehenden Tag der Menschenrechte führt der Deutsche Bundestag eine Debatte. Wir haben das bereits in den letzten Jahren getan und dabei mehrmals einen gemeinsamen Antrag zu den Zielen und Schwerpunkten der künftigen Menschenrechtspolitik beraten und verabschiedet. Gemeinsamkeit in den Zielen ist vorhanden, und dies soll und wird auch weiterhin so bleiben.
Mehrmals haben wir in den vergangenen Jahren jedoch schon auf die Diskrepanz hingewiesen, welche zwischen den oft feierlichen öffentlichen Erklärungen zur Bedeutung der Menschenrechte als Ziel der Politik der Bundesregierung und der Intensität des Einsatzes bei ihrem praktisch-operativen Handeln auf diesem Gebiet besteht.
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Das Bekenntnis zu den Zielen der Menschenrechtspolitik ist verbal so deutlich, daß sich die Defizite auf diesem Gebiet, was die tatsächliche Gewichtung in bezug auf die Bereitstellung personeller und finanzieller Ressourcen für die Menschenrechtspolitik angeht, erst zeigen, wenn man einmal hinter dieses Bekenntnis schaut.
Der Politik und insbesondere auch der Außenpolitik geht immer mehr der Maßstab darüber verloren, was ein wirklicher Schwerpunkt des deutschen Engagements ist und wie erreicht werden kann, daß ein Schwerpunkt nicht nur ein verbaler, sondern auch ein tatsächlicher Schwerpunkt der deutschen Politik ist. So wird derzeit eine politische Diskussion über Deutschlands zukünftige Rolle in der Welt geführt. Da gibt es in jüngerer Zeit die Tendenz, daß sich Diskussion und materielle Ressourcen auf Deutschlands militärische Rolle in der Welt zu konzentrieren beginnen. Dem muß entgegengewirkt werden. Vielmehr gilt es, sich vor allem mit Deutschlands zukünftiger wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer, humanitärer und eben menschenrechtlicher Rolle in der Welt zu befassen und die dafür notwendigen Mittel durch politische Prioritätsentscheidungen bereitzustellen.
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Die derzeitige internationale Politik der Bundesregierung ist geleitet von einer falschen Schwerpunktsetzung. Für die drängenden menschenrechtspolitischen und humanitären Aufgaben mangelt es an
personellen und finanziellen Kapazitäten. Einige Beispiele mögen das verdeutlichen.
Für den Golfkrieg wurden ca. 17 Milliarden DM ausgegeben. Dies ist rund 33mal so viel, wie seit Beginn der Krise im ehemaligen Jugoslawien im Sommer 1991 von der Bundesregierung für Maßnahmen vor Ort zur Verfügung gestellt wurde. Selbst bei Einbeziehung aller Ausgaben, die in Deutschland für die Betreuung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien im Inland ausgegeben worden sind, war der Golfkrieg vier- bis fünfmal so teuer wie das, was für Milderung von Not und Elend der Betroffenen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien aufgewendet worden ist.
Die Bundesregierung setzt im derzeit laufenden Programm für Ausstattungshilfe jährlich durchschnittlich 31,7 Millionen DM für ausländische Streitkräfte ein, aber nur 6 Millionen DM für Demokratisierungshilfe.
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Der prestigebeladene Einsatz der Bundeswehr in Somalia wird mehr finanzielle Mittel erfordern, als das Auswärtige Amt jemals für Projekte der Demokratisierungshilfe und für beratende Dienste im Menschenrechtsbereich ausgegeben hat.
Und weiter war es ein mühseliger Prozeß, den freiwilligen deutschen Beitrag an das Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen in Genf von 40 000 über 120 000 auf nunmehr 200 000 DM heraufzusetzen.
Das Räderwerk der internationalen Politik und auch der politische Einsatz der Bundesrepublik Deutschland kommen mit erheblichen Finanzmitteln meistens erst dann in Gang, wenn Konflikte und Krieg bereits ausgebrochen sind. Dann werden oft in kürzester Zeit erhebliche Ressourcen an Personal und Finanzmitteln mobilisiert. Finanzielle Mittel im Gesamtsektor Militär sind um ein Vielfaches leichter zu bekommen als finanzielle Mittel im zivilen Bereich.
Vollkommen unterbelichtet ist die Bereitschaft, sich deutlich auf dem Gebiet des präventiven Menschenrechtsschutzes zu engagieren. Dies muß anders werden.
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Die Bundesrepublik sollte ihr Ansehen und Gewicht als zivile Friedensmacht auf bilateraler und multilateraler Ebene verstärkt einbringen und dazu beitragen, daß die Stärke des Rechts an die Stelle des Rechts des Stärkeren tritt. Die Bundesrepublik muß einen neuen Schwerpunkt ihres internationalen Engagements im Bereich des präventiven Menschenrechtsschutzes setzen.
Es ist uns bewußt, daß konkrete Maßnahmen zum präventiven Menschenrechtsschutz finanzielle Aufwendungen erfordern. Angesichts der knappen öffentlichen Mittel können diese nicht durch Ausgabenerhöhung des Bundeshaushalts aufgebracht werden, sondern sie sind durch bewußte politische Akzentsetzung mittels Umschichtungen und Einsparungen im Bundeshaushalt zu erwirtschaften. Dabei ist zu bedenken, daß Mittel für den präventiven
Menschenrechtsschutz Ausgaben für eine spätere Konfliktbereinigung ersparen helfen können.
Im einzelnen geht es darum, einen eigenen Fonds für Demokratisierungshilfe einzurichten, aus dem Hilfe und Beratung für Staaten zu finanzieren sind, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus anstreben. Dazu sollten nach dem Vorbild des Demosthenes-Programmes des Europarates Hilfen gewährt werden bei der Wahlvorbereitung und -durchführung, beim Aufbau eines unabhängigen Justizwesens, bei Maßnahmen zur Förderung der Partizipation insbesondere von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, bei der menschenrechtsbezogenen Ausbildung von Kräften im Sicherheits- und Vollzugsbereich und beim Aufbau unabhängiger Medien.
Anstelle der bisher geleisteten Ausstattungshilfe sollte ein Programm zur aktiven Unterstützung von Friedensprozessen eingerichtet werden. Aus diesem Programm sollten beispielsweise finanziert werden: Aufgaben zur Demobilisierung und beruflichen Integration ehemaliger Soldaten oder Guerillakämpfer, Projekte zum Informationsaustausch über die politisch und demokratisch kontrollierte Rolle von Polizei und Militär in zivilen und demokratischen Gesellschaften und Projekte zum Schutz der Bevölkerung in ehemaligen Krisengebieten vor Minen.
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Zur Intensivierung der deutschen menschenrechtspolitischen Aktivitäten sollte die Bundesregierung eine Beauftragte oder einen Beauftragten für Menschenrechte einsetzen, der oder die sich ressortübergreifend mit außen- und innenpolitischen Aspekten der Menschenrechte befaßt, Defizite ermittelt und Empfehlungen zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards gibt.
Forschung, Dokumentation und Öffentlichkeitsarbeit zur Menschenrechtspolitik sollten in Form von Publikationen, Veranstaltungen und dem Anbieten beratender Dienste gefördert werden. Dies kann gegebenenfalls durch die Einrichtung eines unabhängigen deutschen Instituts für Menschenrechte nach dem Vorbild anderer europäischer Staaten geschehen.
Auch innerministeriell sollte der Bereich der Menschenrechtspolitik deutlich gestärkt werden. Die personelle Ausstattung des Referats „Menschenrechtsfragen" im Auswärtigen Amt ist im Verhältnis zu seiner Aufgabe unverantwortlich gering. Sie ist deutlich zu verstärken, damit der Bereich der konzeptionellen Grundsatzarbeit intensiviert werden kann.
Wie ungewichtig die Menschenrechtspolitik behandelt wird im Vergleich zu den Überlegungen, welche Rolle die Bundeswehr künftig im internationalen Bereich übernehmen soll, wird deutlich, wenn man sich einmal vergegenwärtigt, wie viele Personen - oder besser: wie wenige; es dürften nicht mehr als zehn Leute sein - in den Ministerien darüber nachdenken und daran arbeiten, wie Deutschlands menschenrechtliche Rolle in der Welt gestärkt und ausgebaut werden kann, und wie viele - es dürften Hunderte, wahrscheinlich über tausend Menschen
sein - damit beschäftigt sind, über Deutschlands zukünftige militärische Rolle in der Welt nachzudenken und daran planerisch zu arbeiten.
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Wie würde Deutschland in der Welt dastehen, Herr Außenminister, wie würden sich Deutschlands Rolle und Ansehen in der Welt gestalten, wenn durch eine bewußte neue politische Akzentsetzung Deutschlands menschenrechtliche Aufgabe in der Welt deutlich gestärkt würde?
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Was könnte international politisch erreicht werden, wenn für bilaterale Programme des präventiven Menschenrechtsschutzes und für die beratenden Dienste des Genfer Menschenrechtszentrums nur die Hälfte dessen aufgewendet würde, was der Einsatz der Bundeswehr in Somalia kostet, oder wenn die gesamten Mittel der Ausstattungshilfe für ausländische Streitkräfte für Demokratisierungshilfe und den präventiven Menschenrechtsschutz ausgegeben würden?
Wie wäre es, wenn die gestern beschlossenen 85 Millionen DM für die Panzerfaust 3 für den präventiven Menschenrechtsschutz eingesetzt würden?
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Und wenn schon Militärausgaben: Wäre es nicht wichtiger, die vorgesehenen Mittel für die neue Artilleriemunition für die Beschaffung von Minenräumpanzern auszugeben, die humanitär eingesetzt werden können?
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Stellen Sie sich solche Fragen eigentlich einmal im Auswärtigen Amt?
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Man hat den Eindruck, daß solche konzeptionellen Grundüberlegungen mit dem Ziel neu durchdachter Prioritätensetzung gar nicht mehr stattfinden.
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Menschenrechtspolitik kann wesentlich mehr sein als die aktive Mitwirkung in den internationalen Gremien des Menschenrechtsschutzes. Menschenrechtspolitik muß sich auch auf eine restriktive Rüstungsexportpolitik beziehen, da Rüstungsexporte Konflikte verschärfen und neue Kriege ermöglichen.
Die Außenwirtschaftspolitik muß den Dialog über Menschenrechte ebenso einbinden wie die Entwicklungszusammenarbeit. Dies bezieht sich nicht zuletzt auch auf die Innenpolitik. Menschenrechtspolitik kann international glaubwürdig nur vertreten wer17216
den, wenn Menschenrechtsverletzungen im Inland wirksam bekämpft werden.
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Wir fordern in dieser Debatte zum Tag der Menschenrechte ein stärkeres menschenrechtliches Profil und ein stärkeres Engagement der Bundesregierung. Trotzdem möchte ich zum Schluß noch einmal betonen, daß es in den Zielen und Grundlagen der Menschenrechtspolitik über die Fraktionsgrenzen hinweg Gemeinsamkeiten gibt.
So anerkennen wir die Bemühungen der Bundesregierung zur Einrichtung eines hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Wir fordern gemeinsam die Verabschiedung eines Strafkodex von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs. Wir halten gemeinsam die Erarbeitung von Konventionen zum Schutz von Minderheiten sowohl auf regionaler als auch auf UN-Ebene für dringlich. Gemeinsam sind wir der Auffassung, daß den Menschenrechten der Frau mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muß.
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Auf den Feldern allerdings, wo wir als Bundesrepublik allein in anderen Ländern etwas bewirken können oder wo es um unseren Beitrag zur Förderung der bestehenden Institutionen geht, muß die Bundesregierung künftig noch aktiver werden.
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Nun hat der Kollege Gerhart Baum das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bindig, wenn Sie die Gemeinsamkeiten so betonen, verlieren Sie aus dem Auge, daß die Bundesrepublik Deutschland im Ansehen anderer Völker in der Spitzengruppe derjenigen steht, die sich personell, finanziell und politisch für Menschenrechte engagieren, übrigens auch in der Spitzengruppe in Europa.
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Wir stehen in der Spitzengruppe derjenigen, die sich engagieren für den Aufbau der Demokratie in Osteuropa. Wir stehen immer noch in der Spitzengruppe derjenigen, die Entwicklungshilfe leisten und damit das Recht auf Entwicklung fördern.
Ich möchte hier nicht den Vorwurf auf uns sitzen lassen, daß wir uns Nachlässigkeiten etwa deshalb zuschulden kommen lassen, weil die Abteilung im Auswärtigen Amt nur soundso viele Personen hat. Warum beziehen Sie eigentlich nicht die zahlreichen Menschenrechtsorganisationen unserer Gesellschaft ein? Sie wirken an diesem Projekt mit. Sie sind eine wertvolle Hilfe, ein wertvoller Dialogpartner.
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Es wird eben nicht so viel vom Staat gemacht, wie Sie das hier erwarten.
Ich gebe Ihnen gerne zu: In dem einen oder anderen Punkt, etwa bei der Finanzierung, kann man etwas tun. Aber bitte berücksichtigen Sie doch einmal: Wir sind prompter und pünktlicher voller Beitragszahler in der UNO. Gucken Sie sich einmal die Vereinigten Staaten oder andere an. Durch unseren Beitrag laufen die Aktivitäten, die in Menschenrechtsfragen in der UNO notwendig sind.
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Wir unterstützen nachdrücklich die aktive Menschenrechtspolitik der Bundesregierung und ihre Haltung, daß Menschenrechtspolitik unverzichtbarer Teil der Beziehungen der Völker untereinander ist. Sie darf und sie wird anderen Interessen nicht untergeordnet werden. Sie kann nicht zum alleinigen Maßstab der Beziehungen zwischen den Völkern werden. Sie muß mit den anderen Politikbereichen in unseren Außenbeziehungen verbunden werden, auch mit der Rüstungsexportpolitik. Wir sind im Gespräch mit der Europäischen Gemeinschaft über diesen Punkt, der auch von Amnesty International aufgebracht worden ist. Die anderen Politiken - die Wirtschaftspolitik, die Handelspolitik, die internationale Finanzpolitik - dürfen nicht von den Menschenrechtsfragen losgelöst werden. Und das geschieht auch nicht.
In New York werden in diesen Tagen wichtige Entscheidungen getroffen. Die Wiener Entscheidungen werden in New York behandelt. Eine Reihe von Länderresolutionen, die wir vorbereitet haben, ist akzeptiert worden. Menschenrechtsverletzungen in Iran und Irak wie auch die im früheren Jugoslawien werden beispielsweise kritisiert.
Wir haben als Europäische Gemeinschaft in Genf eine sehr deutliche Stellungnahme zu China abgegeben. Das wissen Sie. Wir haben gar keinen Zweifel über unsere Positionen zu China gelassen. Leider sind wir auch in New York jetzt wieder unterlegen. Das ändert nichts an unserer Position.
Es geht um die Ausnutzung der Dynamik von Wien, vor allem was die Instrumente angeht. Es ist heute zu sagen, daß aus dem Prüfauftrag zur Einsetzung eines Hochkommissars, wie er in Wien beschlossen worden ist, eine eindeutige Entscheidung zugunsten des Hochkommissars in der jetzigen Generalversammlung durchaus möglich ist. Wir werden es in der nächsten Woche genauer wissen. Wir werden auch sehen, inwieweit wir uns bei Aufgaben, Rechten und Befugnissen des Hochkommissars haben durchsetzen können.
Das ist aus unserer gemeinsamen Sicht ein Zeichen dafür, daß die Menschenrechtspolitik in den Vereinten Nationen eine stärkere Bedeutung und einen größeren Stellenwert bekommen hat. Nicht zufrieden sind wir mit dem Anteil der Menschenrechtsaktivitäten am Haushalt der Vereinten Nationen. Hier muß noch eine Menge gemacht werden, z. B. eine Umschichtung. Ich frage mich z. B., wo die Mittel bleiben, die zur Bekämpfung der Apartheid eingesetzt worden sind. Kann man hier nicht neue Mittel aktivieren?
Die Wiener Konferenz hat die Menschenrechte letztlich gestärkt. Sie hat wichtige Signale im Bewußtsein der Weltöffentlichkeit gesetzt. Sie hat den VerGerhart Rudolf Baum
folgten in aller Welt eine neue Berufungsgrundlage gegeben. Angriffe auf die unveräußerlichen Menschenrechte wurden abgewehrt. Zum erstenmal ist in einem globalen Dokument der Völkergemeinschaft die besondere Gefährdung von Frauen und Kindern enthalten. Ein Sonderberichterstatter oder eine Sonderberichterstatterin wird in Genf im Frühjahr eingesetzt werden.
Von besonderer Bedeutung sind die Erklärungen in Wien gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz. Sie sind auch von besonderer Bedeutung für unser Land, in dem Rechtsextremismus wächst und sich weiter organisiert und die Serie der Gewalttaten nicht abreißt. Wir - auch und gerade Herr Außenminister Kinkel - haben das in allen unseren Äußerungen sowohl in Genf als auch in Wien sehr deutlich dargestellt und bewertet.
Wir müssen uns bewußt sein, daß wir jetzt in New York und auch im Frühjahr in Genf sehr genau beobachtet werden. Mit Sicherheit wird die Situation in unserem Lande auch dort wieder zur Sprache kommen. Wir müssen unsere ganze Kraft einsetzen, um denjenigen, die uns kritisieren, darunter Staaten, die sich nicht an Menschenrechtsstandards halten, zu beweisen, daß sich eine Demokratie wirksam wehren kann.
Wir stehen in der Art, wie wir mit den Ausländern und anderen Minderheiten in unserem Land umgehen, auf dem Prüfstand der internationalen Gemeinschaft. Ich denke nur an einen Punkt: Warum ist immer noch keine Regelung für Bürgerkriegsflüchtlinge zustande gekommen?
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Wir haben in Wien die Nichtregierungsorganisationen gestärkt. Der Strafgerichtshof für Jugoslawien ist am 17. November in Den Haag eingesetzt worden. Die positive Entwicklung, die ich jetzt hier geschildert habe, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß nach wie vor Millionen von Menschen Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen sind. Die dafür verantwortlichen Staaten sitzen mit am Tisch. Wir müssen sie weiter unter einen Rechtfertigungsdruck setzen.
Bei ihrer Menschenrechtspolitik sollten die westlichen Demokratien als Partner und nicht als Lehrmeister auftreten. Ich unterstütze das, was die Bundesregierung in ihrem Bericht sagt: Es geht um die Tendenz der Eigenanstrengungen in einem Lande unter Berücksichtigung seiner gesamten Situation und des Handlungsspielraums seiner Regierung.
Es war von entscheidender Bedeutung - Herr Kollege Scharrenbroich hat darauf hingewiesen -, daß wir das Recht auf Entwicklung als Bestandteil der Menschenrechte in Wien anerkannt haben.
Die Völkergemeinschaft muß sich einmischen können, wenn Menschenrechte in Gefahr geraten. Sie muß helfen können, um Menschenrechtsstrukturen aufzubauen im Sinne einer präventiven Menschenrechtspolitik. Der Zusammenhang zwischen massiven Menschenrechtsverletzungen einerseits und kriegerischen Konflikten sowie wirtschaftlicher und sozialer Verelendung andererseits ist in vielen Krisen der letzten Zeit deutlich geworden. Dies fordert eine präventive Politik. Sind die Strukturen wie in Kambodscha und Somalia erst einmal zerstört, wird es sehr schwer.
Wir bereiten zur Zeit die 50. Sitzungsperiode der Kommission in Genf vor. Die Bundesregierung wird dort wieder eine aktive Rolle übernehmen. Ich bedanke mich für die Unterstützung in den letzten Jahren bei den Kollegen. Ich sichere Ihnen gute Zusammenarbeit auch in der nächsten Sitzungsperiode zu. Sie werden ja nach Genf kommen, was ich sehr begrüße.
Wir befinden uns auf einem langen und mühevollen Weg, auf dem wir in den letzten Monaten einige kleine Schritte weitergekommen sind. Es gibt auch ermutigende Beispiele; denken wir an den Nahen Osten, oder denken wir daran, daß vorgestern in Südafrika die Apartheid formell und juristisch endlich, nach über 300 Jahren, abgeschafft worden ist.
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Auch hier hat es eines langen Kampfes und der Einmischung von außen bedurft, wie wir sie auch mitgetragen haben.
Enttäuschen wir die Hoffnungen vieler Millionen Menschen auf bessere Menschenrechtsverhältnisse nicht, die Hoffnungen von Menschen, die sich glücklich schätzen würden, auch nur annähernd unter Bedingungen zu leben, die uns vergönnt sind, meine Damen und Herren, und die froh wären, wenn sie nur mit den Schwierigkeiten zu kämpfen hätten, wie wir sie zur Zeit haben.
Die von uns vorgelegte Entschließung ist Ausdruck der Zustimmung zur aktiven Menschenrechtspolitik der Bundesregierung unter Außenminister Kinkel. Wir haben sie aus voller Überzeugung und in Übereinstimmung mit der Bundesregierung vorgelegt und empfehlen sie Ihnen zur Annahme.
Vielen Dank.
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Nun spricht Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor einigen Wochen erklärte eine nicht unbedeutende Persönlichkeit dieses Landes in bezug auf die Epochenwende von 1989 - ich zitiere -:
Zu Ende geht eine Periode, die in der Französischen Revolution ihren Anfang hatte.
Kein geringerer als Klaus Naumann, „Generalinstrukteur" der Bundeswehr und seit einiger Zeit bekannt für seine Ausflüge in das Reich der Politik, hat unlängst vor Generalstabsoffizieren damit etwas ausgesprochen, was sich Teile der politischen Klasse dieses Landes insgeheim schon längst auf die Fahne geschrieben haben.
Mit diesem Gedanken wird nicht die fehlende Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kritisiert, sondern die Losung schlechthin. Die auch von der Bundesregierung vielbeschworene Universalität der Menschenrechte wird nicht nur zur Utopie, sondern für überflüssig erklärt.
Als entwicklungspolitische Sprecherin assoziiere ich Menschenrechte mit der Konditionierung bundesdeutscher Entwicklungszusammenarbeit, die formell auf die Einhaltung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte in den Entwicklungsländern dringt. Im Kriterienkatalog des BMZ finden sich neben durchaus erstrebenswerten demokratischen Rechten und Freiheiten allerdings auch wirtschafts- und gesellschaftspolitische Vorgaben, die angesichts der Realitäten in den sogenannten Partnerländern und der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Verletzung grundlegender sozialer Menschenrechte absehbar machen.
Beispiele für die beständig an den Tag gelegte Doppelmoral bietet die Bundesregierung zuhauf: Ich möchte an dieser Stelle nur an die Türkei, Südafrika, China, Zaire und Chile erinnern. Die betont enge Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung, die unter dem Deckmantel der Terroristenbekämpfung mit umfangreicher Unterstützung durch bundesdeutsche Polizei- und Rüstungshilfe einen Vernichtungsfeldzug gegen das kurdische Volk führt und dabei permanent elementare Menschenrechte verletzt, richtet sich selbst. Daß die erklärten Staatsziele des Bündnispartners Türkei sogar Einfluß auf die Innenpolitik des wirtschaftlich Stärkeren haben, dürfte für die Nibelungentreue, aber nicht für eventuell vorhandenes menschenrechtspolitisches Bewußtsein der Bundesregierung sprechen.
Das menschenrechtspolitische Bewußtsein der Bundesregierung und der Koalition zeigt sich sehr deutlich durch die Ablehnung des Antrags der SPD im Auswärtigen Ausschuß zum Thema Menschenrechtsverletzungen an Frauen. Das finde ich bezeichnend.
Meine Damen und Herren, wir brauchen einen internationalen neuen Denk- und Politikansatz, wie ihn beispielsweise der vielzitierte, aber kaum umgesetzte Club of Rome bietet, der auf ausreichende Ernährung, Unterkunft, Gesundheit und Bildung für alle Menschen auf diesem Planeten abzielt. Das Recht auf Überleben in Würde ist für uns das fundamentalste Menschenrecht, das vor einzelnen politischen Freiheiten rangiert.
Bereits in der von Naumann geschmähten Revolution von 1789 brachte ein Protagonist der Ereignisse, übrigens ein Pfarrer, diesen Hauptgedanken folgendermaßen auf den Punkt:
Freiheit ist ein leerer Wahn, solange eine Menschenklasse die andere ungestraft durch Hunger mordet.
Wissenschaftliche Untersuchungen in Entwicklungsländern bestätigen, daß dort, wo chronische Not herrscht, die Menschen außerstande sind, ihre bürgerlichen Rechte überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sich dafür aktiv einzusetzen.
Einen Anfang in dieser Richtung bilden immerhin Dokumente wie die Entschließung des Europaparlaments zur Menschenrechtslage in Europa, die endlich einmal den Spiegel vor das eigene Gesicht hält.
Im vorliegenden Bericht der Bundesregierung vermisse ich allerdings einen selbstkritischen Blick auf die hiesigen Verhältnisse, denn tatsächlich hat die Bundesrepublik wenig Grund, sich als scheinbar kompetenter Richter für Menschenrechtsfragen aufzuspielen. Es gibt wahrlich genug Probleme vor der eigenen Haustür. Die Art und Weise des Umgangs mit Flüchtlingen, Ausländerinnen und Ausländern ist unlängst im Beisein von Bundeskanzler Kohl vor versammeltem Diplomatischen Korps kritisiert worden. Die neue Asylpraxis löst keine Einwanderungsprobleme, noch weniger behebt die bundesdeutsche Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik Fluchtursachen. Statt dessen wächst die kriminelle Gewalt und die Gewaltbereitschaft gegen Ausländerinnen und Ausländer, gegen die von seiten des Staates nur sehr halbherzig vorgegangen wird.
Aber die Defizite bei innerdeutschen Menschenrechtsfragen beschränken sich nicht auf ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Das spüren die Menschen der ehemaligen DDR in hohem Maße. Sie werden als Bürgerinnen und Bürger eines Beitrittsgebiets, dessen politisches System gescheitert ist, kolonialisiert und dementsprechend behandelt. Diese massenhafte Demütigung und Diskriminierung erzeugt allerdings auch einen breiten Widerstand. Die Wahlen in Brandenburg signalisieren diese Tatsache überdeutlich.
Meine Damen und Herren, die PDS/Linke Liste ist der Auffassung, daß Menschenrechte nicht abstrakt existieren, sondern nur unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Wir sind dafür, daß die bürgerlichen, politischen, sozialen und kulturellen Menschenrechte universell, verbindlich und unteilbar zur Anwendung kommen.
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- Was meine Person betrifft, schon immer.
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Die Realität zeigt jedoch, daß die Menschenrechte nicht unteilbarer sein können als die Gesellschaft, die sie hervorbringt. Diese Gesellschaft ist gerade auch in Deutschland zweifellos sozialökonomisch und politisch tief gespalten. Die derzeitige Markt- und Weltwirtschaft produziert Tag für Tag - gewissermaßen als eine ihrer Daseinsbedingungen - Menschenrechtsverletzungen, sie forciert wie ein Katalysator die weitere Polarisierung in Arm und Reich. Die Ungleichheit und Ungerechtigkeit haben eine Dimension erreicht, die heute nicht mehr nur Menschenrechte von Einzelpersonen oder Gruppen verletzt. Das Existenzrecht der Gattung Mensch als solches scheint in Frage gestellt. In diesem Sinne, meine Damen und Herren, geht es nicht um die Liquidierung der Ideale von 1789, sondern um ihre weltweite Umsetzung.
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Nun spricht der Kollege Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Fischer, wenn Sie die sicherlich vorhandenen Probleme von ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern in einem Atemzug mit den gravierenden Menschenrechtsverletzungen in den Diktaturen dieser Welt nennen, so schaden Sie, denke ich, dem von Ihnen selbst formulierten Anliegen.
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Der für Menschenrechtsdebatten im Deutschen Bundestag insgesamt zur Verfügung stehende Zeitrahmen korreliert auffallend mit dem schmalen Budget für die internationale Menschenrechtspolitik.
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Das verdeutlicht, welch geringes Gewicht dieser immer noch beigemessen wird.
Erst vor drei Tagen präsentierte die Bundesregierung den vor zwei Jahren vereinbarten Bericht. Zu bedauern ist, daß viele der für eine erfolgreiche Arbeit unverzichtbaren NGOs den Bericht noch nicht erhalten haben und deshalb ihr Expertenwissen nicht in die heutige Debatte einbringen können. Weitgehend liest sich der Bericht wie eine Rechtfertigung. Mißerfolge und Fehlschläge auf dem schwierigen Terrain der Menschenrechtsarbeit werden überhaupt nicht deutlich. Ein eklatantes Beispiel ist Bosnien-Herzegowina. Zwar werden die Initiativen der Bundesregierung und aller internationalen Gremien sorgfältig resümiert. Das Scheitern der EG-Politik im ehemaligen Jugoslawien, das einer der Gründe für die katastrophale Lage der bosnischen Zivilbevölkerung ist, wird dagegen nicht behandelt.
Im mehr als knappen Länderteil des Berichts von weniger als 20 Seiten werden gerade die Staaten auffallend geschont, zu denen die Bundesrepublik enge Wirtschaftsbeziehungen unterhält oder anstrebt. Das Terrorregime im Iran wird auf ganzen 14 Zeilen gestreift. Kein Wort wird über die problematischen Aktivitäten von Staatsminister Schmidbauer verloren, die doch angeblich nur der Verbesserung der Menschenrechtssituation im Iran dienen sollten.
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Gemessen an der tatsächlichen Politik der Bundesregierung gegenüber dem iranischen Regime gerät dadurch sogar der von allen Fraktionen und Gruppen des Bundestages getragene Antrag der SPD gegen die Verfolgung Salman Rushdies in ein schiefes Licht.
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In der Volksrepublik China dauern die Massenhinrichtungen an. Andersdenkende werden nach wie vor rücksichtslos verfolgt. Trotzdem ist dieses Regime, folgt man dem Bericht, auf dem besten Wege, ein in jeder Hinsicht akzeptiertes Mitglied der Völkergemeinschaft zu werden.
Wei Jinsheng, einer der bekanntesten chinesischen Vorkämpfer für Demokratie, der vor einigen Monaten nach 14jähriger Haft das Gefängnis verlassen konnte - das auch nur, weil sich die chinesische Führung davon bessere Chancen für ihre Olympiabewerbung versprach -, beschwört die westliche Welt, weiterhin Druck auszuüben. Viele Menschen in China seien enttäuscht von den Demokratien des Westens.
Menschen wie Wei Jinsheng, die trotz ihrer furchtbaren Erlebnisse die Hoffnung auf Durchsetzung der Menschenrechte nicht aufgeben wollen, müssen sich jetzt von den Behörden sagen lassen, der Westen sei daran nicht wirklich interessiert, weil er nur seinen Wirtschaftsinteressen folge. Das ist in der gestrigen FAZ nachzulesen.
Wir sollten beweisen, meine Damen und Herren, daß wir aus früheren Versäumnissen gegenüber spätstalinistischen Regimes die Lehren zu ziehen in der Lage sind, und solchem Zynismus der Machthaber durch entschiedenes Handeln entgegentreten.
({4})
Ein anderes Beispiel aus den kargen Länderberichten: Zu Peru wird zwar auf die Aussetzung der Entwicklungszusammenarbeit nach dem Putsch im April 1992 hingewiesen, ihre Wiederaufnahme im Sommer 1993 dagegen wird einfach verschwiegen, als bedürfe es keiner Begründung dafür, daß Sanktionen fallengelassen werden, obwohl weiter Menschen verschwinden, extralegale Hinrichtungen an der Tagesordnung sind und mit der neuen Verfassung die Todesstrafe wieder eingeführt wurde.
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Unerträglich finde ich, wenn im Berichtsteil zur Weltmenschenrechtskonferenz in Wien stolz darauf hingewiesen wird, daß es gelungen sei - ich zitiere -,
allen Versuchen, das Thema Fremdenfeindlichkeit zu einem Hauptthema der Konferenz zu machen, von Anfang an den Boden zu entziehen.
Das erinnert an Sprachgebrauch und Verhalten von Exponenten undemokratischer Staaten, die die eigenen Defizite regelmäßig mit der Betonung eines eigenen, ganz besonderen Menschenrechtsverständnisses zu kaschieren versuchen.
Damit bin ich beim wesentlichen Manko des Berichts angekommen. Er beschäftigt sich, so wird auch ausdrücklich erklärt, nur mit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung in den auswärtigen Beziehungen. Demgegenüber ist der zur deutschen Menschenrechtspolitik vorgelegte SPD-Antrag zu begrüßen, da er Probleme und unverzichtbare Aufgaben, die im Regierungsbericht weggelassen werden, hervorhebt. Er nennt Zahlen und Fakten, und er zeigt handfeste Möglichkeiten für die Finanzierung einer angemessenen Menschenrechtsarbeit auf.
({6})
Im Gegensatz zum Bericht der Bundesregierung und
zum Antrag der Koalition betont der SPD-Antrag klar
und eindeutig die vordringliche Notwendigkeit der
Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land.
Die Lage von Millionen bei uns lebenden Ausländern hat sich dramatisch verändert. Viele haben auf Grund zunehmend erlebter Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit berechtigte Angst um ihre körperliche Unversehrtheit. Die aktuellen Polizeistatistiken sollten uns Mahnung sein, die Realität massiver Menschenrechtsverletzungen in Deutschland endlich ernst zu nehmen. Da reicht es nicht, wie im Koalitionsantrag den allgemeinen Erklärungen der Weltmenschenrechtskonferenz und des Europarates zuzustimmen.
Symptomatisch ist auch das Fehlen jeglicher Erläuterungen der Bundesregierung über ihre Gründe, bestimmten Abkommen nicht beizutreten. Warum beispielsweise hat die Bundesregierung die Erklärung nach Art. 14 des Antidiskriminierungsabkommens der Vereinten Nationen, die die Möglichkeit der Individualbeschwerde in Fällen rassischer Diskriminierung auch in Deutschland schaffen würde, bis heute nicht abgegeben?
Amnesty International bringt das wesentliche Problem in einer ersten Stellungnahme zum Bericht der Bundesregierung auf den Punkt - ich zitiere- :
Von jeder Regierung ist eine konsistente und umfassende Menschenrechtspolitik nach innen wie nach außen zu verlangen, unabhängig von anderen politischen, wirtschaftlichen oder militärisch-strategischen Erwägungen.
Abschließend möchte ich einige Bemerkungen zu dem Thema machen, welches sicher noch in mehreren Redebeiträgen behandelt wird: den schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen an Frauen. Ich bitte zugleich Sie, verehrte Kolleginnen, um Verständnis dafür, daß wir die kurze Redezeit einer Gruppe nicht geteilt haben.
Ganz sicher müssen Menschenrechtsverletzungen an Frauen in einer generellen Menschenrechtsdebatte angesprochen werden. Es ist jedoch symptomatisch, daß sie jetzt en passant in einem Sammelsurium von Anträgen abgehandelt werden können. Dieses Thema hätte eine eigene Debatte verdient.
({7})
Der tägliche Blick nach Sarajevo zeigt die schreckliche Realität. Er zeigt, daß Frauen und Kinder die Hauptbetroffenen der weltweiten Menschenrechtsverletzungen sind. Ihnen ist mit allgemein gehaltenen Zustimmungserklärungen zur Wiener Menschenrechtskonferenz nicht geholfen. Das mindeste wäre - gerade wegen der Fortdauer systematischer Vergewaltigungen bosnischer Frauen - die Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen als Asylgrund.
({8})
Dazu hat der Deutsche Bundestag schon in der Menschenrechtsdebatte am 31. Oktober 1990 einen von
Frauen aller Fraktionen formulierten Antrag verabschiedet. Diesen gemeinsamen Beschluß hat Petra Kelly damals einen „kleinen Hoffnungsschimmer" genannt.
Da dieser Beschluß, trauriger denn je, an Aktualität gewonnen hat, sollten wir uns seiner Erneuerung und Präzisierung nicht versperren.
({9})
Das ist keine Neubelebung der Asyldebatte, sondern das Geringste, was wir für die Frauen von Sarajevo und vielen anderen Orten in der Welt tun können.
({10})
Nun erhält zu einer Kurzintervention die Kollegin Fischer das Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Poppe, natürlich gibt es Unterschiede. Ich denke, ich habe die Auffassung, daß es um diese Unterschiede geht, in meinem Beitrag auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Lieber Kollege Poppe, ich bin trotzdem der Meinung, wenn wir über die Universalität der Menschenrechte sprechen, dann kann es nicht ausbleiben, daß wir uns den Spiegel sehr deutlich vors eigene Gesicht halten müssen. Ich erinnere Sie an dieser Stelle daran, daß Deutschland - das wissen Sie aber - in der Spitzengruppe der rüstungsexportierenden Länder liegt und daß es auch hier in diesem reichen Land sechs Millionen Arme gibt, darunter sehr viele Kinder. Auch das ist übrigens kein Vergleich zu der Lage der Kinder in den Entwicklungsländern. Das weiß ich sehr wohl. Trotzdem muß auch das sehr offen benannt werden. Denn wir können nicht von anderen Menschen bestimmte Verhaltensweisen fordern, wenn wir sie selber nicht zeigen.
({0})
Nun hat Herr Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es ist richtig: Eigentlich müßte man verzweifeln. Nach wie vor ist erschütternd, was alles wehrlosen und unschuldigen Menschen in dieser Welt, die nach wie vor zutiefst ungerecht ist, angetan wird, was Menschen anderen Menschen antun.
Ausgerechnet in Europa, wo wir nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Friedensordnung unter der Herrschaft des Rechts aufzubauen hofften, werden Menschen in ethnischen Konflikten auf grausamste Weise gefoltert, getötet, vertrieben. Uns rüttelt auf, was im ehemaligen Jugoslawien geschah und geschieht.
Nicht nur hier sind Frauen und Kinder besonders betroffen. Sie sind die schwächsten Teile der Gesellschaft, haben meist keine Lobby, sind alltäglicher
Gewalt, Demütigung und Erniedrigung besonders ausgesetzt, werden zur Prostitution gezwungen, sexuell mißbraucht, ohne Schutz und Fürsorge gelassen. Ja, die Kluft zwischen dem Anspruch der allgemein anerkannten Menschenrechte und einer erschreckenden Realität ist groß, zu groß.
Ich kann diejenigen gut verstehen, die angesichts der schrecklichen Bilder und Berichte zornig und wütend, ja, auch mutlos werden. Aber allein daß uns diese Bilder erreichen, daß wir hier im Bundestag diese Debatte führen, ist immerhin zumindest ein kleiner Erfolg. Weil wir uns engagieren, sensibel geworden sind und nachbohren - wir müssen immer wieder nachbohren, nicht aufhörend, nach den Opfern und den Taten zu fragen - wird ans Licht gezerrt, was die Täter so gern verbergen. Nichts müssen sie so sehr fürchten wie Aufmerksamkeit, öffentliches Interesse, politisches und privates Engagement.
Ich wiederhole, was ich schon mehrfach gesagt habe: Wer Menschenrechte verletzt, soll nicht ruhig schlafen können.
({0})
Ich danke all denen, die das Verdrängen und Vergessen, das Leugnen und Beiseiteschieben nicht zulassen: den Nichtregierungsorganisationen, die eine wichtige Arbeit leisten, den Medien, den Tatzeugen, den Bürgern, die Erziehung und Bildung auf den Wert des Menschen ausrichten, den Parteien, dem Deutschen Bundestag und hier natürlich insbesondere dem Unterausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe.
Diese Debatte jedenfalls macht deutlich, daß wir im Einsatz für die Menschenrechte in der Solidarität der Demokraten zusammenstehen. Für die deutsche Außenpolitik sind die Menschenrechtsfragen von außerordentlicher Bedeutung. Ich füge auch noch hinzu: Mir als früherem Justizminister und langjährigem Staatssekretär im Justizministerium sind sie auch persönlich sehr, sehr wichtig.
Herr Bindig, es trifft nicht zu, was Sie gesagt haben. Ich verstehe, daß Sie als Opposition kritisieren, ja, vielleicht sogar kritisieren müssen. Aber zu sagen, wir würden falsche Schwerpunkte setzen, wir würden für die Menschenrechte zuwenig Geld ausgeben, das ist einfach nicht zutreffend.
({1})
- Wir haben uns für die Menschenrechte engagiert, soweit es nur irgendwie ging - ich gehe nachher noch darauf ein -, und dies werden wir auch weiter tun.
In zahlreichen Ländern habe ich persönlich bei allen meinen Besuchen immer wieder Fälle von Menschenrechtsverletzungen zur Sprache gebracht und auf Abhilfe gedrängt. Ich werde das auch weiter tun. So hat es der Bundeskanzler bei seiner Chinareise getan, so habe ich es getan. Ich bin dafür, wie Sie wissen, nach der Rückkehr von meiner Reise ziemlich geprügelt worden. Aber im Gegensatz zu all denen,
die auf den Tisch hauen und große Erklärungen abgeben, habe ich in der Praxis einiges erreicht.
({2})
Ja, es sind nachweisbar Menschen freigelassen worden und aus schrecklichen Gefängniszellen ins Krankenhaus gekommen. Wir sorgen heute noch für sie, still und ruhig und effektiver, als wenn man es immer nach draußen plakatierte. Mir kommt es auf die tatsächliche Hilfe an; die ist entscheidend.
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Es ist nun einmal so, daß die Menschenrechtspolitik in den Außenbeziehungen Verantwortungsbewußtsein und Realitätssinn erfordert. Die Sorge um den einzelnen Menschen steht im Zentrum. Ihm müssen wir zur Seite stehen. Deshalb habe ich heute morgen Salman Rushdie zu einem langen Gespräch empfangen und ihm erneut die Unterstützung der Bundesregierung zugesagt.
({4})
Ich habe nach draußen erklärt, daß es nicht sein kann, daß diese Fatwa weiter aufrechterhalten wird. Die iranische Regierung hört es heute auch von diesem Pult: Das kann so nicht bleiben; darauf werden wir drängen.
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Aber wir können nicht davon ausgehen, daß unsere Vorstellungen von Menschenrechten unbesehen von anderen Staaten und Kulturgemeinschaften übernommen werden. Wir können auch nicht annehmen, daß wir allein mit Druck auf die Führungen alles durchsetzen. Sie wissen: Mit öffentlichen Erklärungen ist meist nicht geholfen. Die Menschenrechtspolitik ist nun einmal besonders schwierig und kompliziert. Dialog - nicht Abschottung - und auch deutliche Anprangerung sind notwendig.
Wir bemühen uns, gerade auch mit schwierigen Staaten, deren Regierungen unser Menschenrechtsverständnis nicht teilen, im Gespräch zu bleiben und sie für die Internationale Zusammenarbeit im Bereich der Menschenrechte zu gewinnen. Das ist meines Erachtens die wirkungsvollste Art, in der man helfen kann.
Ich sage vielen, die im Augenblick unsere Politik gegenüber dem Iran sehr kritisieren, daß es aus meiner Sicht besser ist, eine Politik des kritischen Dialogs zu führen,
({6})
auch wegen der Menschenrechtsverletzungen, die dort geschehen.
({7})
Wir tun das öffentlich, ich jedenfalls tue es öffentlich, deutlich und klar.
({8})
Vorhin wurde von Herrn Bindig die Frage eines Menschenrechtsbeauftragten angesprochen. Wir ha17222
ben im Auswärtigen Amt einen Menschenrechtskoordinator, der auf meine Intention zu Konsultationen nach China, in den Iran, nach Vietnam, Malaysia, Indonesien und viele andere Länder entsandt worden ist. Ich nehme es ein bißchen für mich in Anspruch, daß dies die Eröffnung eines Menschenrechtsdialogs geworden ist, die vor kurzem noch nicht denkbar erschien.
({9})
Ich halte das für einen wichtigen und großen Erfolg.
Wir wollen überzeugen, Ergebnisse erzielen und nicht bevormunden. Nur wer im Gespräch bleibt, kann
ein Wort einlegen für die, die der Fürsprache bedürfen.
Ja, meine Damen und Herren, Menschenrechtspolitik fängt natürlich zu Hause an. Wir können als Bundesrepublik Deutschland nur dann ein glaubwürdiger Partner im internationalen Dialog und der internationalen Zusammenarbeit bei den Menschenrechten sein, wenn es auch bei uns keinen Ausländerhall und keine Gewalt gegen Ausländer gibt.
({10})
Natürlich ist es ein gewaltiger Unterschied, ob staatliche Politik Menschenrechtsverletzungen fördert, zuläßt, deckt oder ob in Einzelfällen auch in einem liberalen Rechtsstaat, auf den wir stolz sind, nicht verhindert werden kann, daß ausländerfeindliche Gewalt sich breitmacht. Aber - Herr Baum hat recht - wir werden draußen sehr genau beobachtet, ob wir Mölln, Solingen und andere Dinge verhindern können. Daran sollten wir uns ausrichten, und daran müssen wir uns auch messen lassen.
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Meine Damen und Herren, wer Menschenrechte verletzt, bedroht den Frieden. Die Täter leugnen das natürlich, wen wundert das. Sie ziehen sich regelmäßig auf die Behauptung zurück, es handele sich um innerstaatliche Angelegenheiten. Nein, nur dort, wo staatsbürgerliche, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Rechte von Menschen und Minderheiten geachtet werden, kann es innere und äußere Stabilität geben. Dieser Erkenntnis zu weltweiter Anerkennung verholfen zu haben ist der große Erfolg der Wiener Menschenrechtskonferenz. Zum ersten Mal haben sich über 170 Staaten im Konsens zur universellen Geltung der Menschenrechte bekannt.
Wie überall müssen wir auch bei den Menschenrechten ständig hinzulernen: Wir wissen, daß soziale, wirtschaftliche und technische Entwicklungen für die Würde des Menschen von großer Bedeutung sind. Hunger und Verelendung passen eben mit Menschenrechten nicht zusammen. Wien und die Entwicklung, die zu Wien hinführte, haben unser Bewußtsein dafür Gott sei Dank gestärkt.
Zum ersten Mal ist es auch gelungen, ein konkretes Aktionsprogramm zu verabschieden. Marksteine sind - es ist bereits erwähnt worden - das eindeutige Votum für einen internationalen Strafgerichtshof, der Hochkommissar für Menschenrechte, für den wir Deutsche uns besonders einsetzten, die Konstituierung des Ad-hoc-Tribunals für die Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien am 17. November in Den Haag und der Beschluß der Menschenrechtskommission, einen Sonderberichterstatter für Menschenrechtsverletzungen an Frauen einzusetzen.
Herr Baum, ich danke Ihnen von dieser Stelle aus ganz besonders für Ihren Einsatz. Viel von dem, was in Wien und Genf erreicht worden ist, wäre ohne Ihren Einsatz nicht möglich gewesen. Ich möchte mich bei Ihnen dafür ganz besonders bedanken. Es ist ein Engagement, das manchmal in der Stille abläuft, aber ungeheuer wichtig ist.
({12})
Wir alle aber dürfen in unserem Engagement nicht nachlassen. Zäh und beharrlich - Zähigkeit und Beharrlichkeit gehören gerade bei der Durchsetzung von Menschenrechten eben dazu - müssen wir an der Umsetzung des Wiener Aktionsprogramms arbeiten. Wir sind dabei nicht allein. Die Europäische Union spricht Gott sei Dank in der Menschenrechtsfrage mit einer Stimme. Immer mehr Staaten in der Welt bekennen sich zur Pflicht, als Anwalt der Menschenrechte zu wirken. Es gibt bei aller Enttäuschung, von der ich eingangs sprach, doch auch ein wenig Hoffnung.
({13})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Freimut Duve das Wort.
Herr Bundesaußenminister, ich wollte - ob vom Platz oder vom Podium - darauf hinweisen, daß es uns bisher noch nicht gelungen ist, einen historisch sehr alten, aber nun wieder sehr neuen Tatbestand der Menschenrechtsverletzung zu kodifizieren. Das ist die Grausamkeit der Vertreibung in jüngster Zeit. Wir sind umstellt von Vertreibungsvorgängen.
Heute morgen war ein assyrischer Christ aus dem Nordirak bei mir, wo wir den Kurden zur Zeit hellen. Er hat mir geschildert, wie zugleich Vertreibung der Christengemeinden durch die, denen wir dort helfen, die also auch Opfer sind, stattfindet.
Diese Wechselrolle zwischen Opfer und Täter im Kampf um Territorium, im Kampf um Dörfer ist etwas, was wir stärker ins Auge fassen sollten. Der VanceOwen-Plan wird zu weiteren Vertreibungen führen, wenn erst einmal die Religionsgruppen auseinandergezerrt werden oder eine Gesellschaft auseinandergerissen wird.
Deshalb hoffe ich sehr, daß wir mit dem, was wir im Auswärtigen Ausschuß vorliegen haben, nämlich die Forderung nach einer Konvention gegen Vertreibung bei der UNO zu verankern, schneller vorankommen als bisher. Ich bitte, das Augenmerk darauf zu lenken.
Danke schön.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Hartmut Koschyk.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Bindig, ich habe es eigentlich bedauert, daß Sie nach dem sehr sachlichen Einstieg des Kollegen Scharrenbroich mit Ihrer Rede ein wenig Wahlkampfauftakt betrieben haben.
({0})
Herr Kollege Bindig, wenn Sie - wie ich finde, nicht richtigerweise - einen Gegensatz zwischen aktivem Menschenrechtsschutz und unseren Verpflichtungen als Bundesrepublik Deutschland, als Mitglied der Vereinten Nationen mit allen Rechten und Pflichten, konstruiert haben und dagegen polemisieren, dann wirft das für mich die Frage auf: Wann bringt die SPD endlich die Kraft auf, aus dem Beitritt zu den Vereinten Nationen, den Bundeskanzler Willy Brandt ohne Vorbehalt vollzogen hat, alle Konsequenzen zu ziehen, auch wenn es darum geht, den Menschenrechtsschutz notfalls mit den Mitteln militärischer Gewalt zu betreiben?
({1})
Zu dem, was Sie heute dazu gesagt haben, fällt mir wirklich nur das Wort ein, das Willy Brandt zu der Diskussion innerhalb der SPD gesagt hat: Weltmacht SPD.
({2})
Ich möchte mich jedenfalls jetzt einem anderen wichtigen Bereich zuwenden, auf den Sie in Ihrem Antrag heute leider auch nur mit einem Spiegelstrich eingegangen sind. Das ist die Frage: Was können wir dazu leisten, den Minderheitenschutz als Teil des allgemeinen Menschenrechts wirksam zu verbessern?
Wir bringen deshalb in unserem Antrag als Koalitionsfraktionen unser Bedauern darüber zum Ausdruck, daß es dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Europarates nicht gelungen ist, ein Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention über die Rechte nationaler Minderheiten zu verabschieden. Wir bedauern, daß man sich in Wien nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen konnte, nämlich auf ein Rahmenabkommen - die schwächste Form, die es an Abkommen des Europarates gibt - über einzuhaltende Prinzipien im Umgang mit nationalen Minderheiten sowie auf ein Zusatzprotokoll, das ausgearbeitet werden soll und das die Europäische Menschenrechtskonvention im kulturellen Bereich durch Bestimmungen ergänzt, die insbesondere Angehörigen nationaler Minderheiten Individualrechte garantieren.
So sehr wir dieses unzureichende Ergebnis von Wien bedauern, um so deutlicher müssen wir allerdings erkennen - und daraus unsere Konsequenzen ziehen -, daß weiterreichende substantielle Ergebnisse beim Minderheitenschutz auf der Ebene des Europarates nicht an den Widerständen der jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas scheitern, sondern durch unsere Partner in der Europäischen Union verhindert wurden.
({3})
Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, sollten wir jetzt darüber nachdenken, nach vorn blicken und sorgfältig prüfen, inwieweit der französische Vorschlag eines Stabilitätspaktes für Europa für eine Verbesserung des Minderheitenschutzes genutzt werden kann. Wir begrüßen, daß als erste gemeinsame Aktion der Europäischen Union die der Förderung von Stabilität und Frieden in Europa mit Vorrang genannt wurde.
In diesem Aktionsbereich der Stabilität, der Stärkung des demokratischen Prozesses in Mittel- und Osteuropa und des notwendigen Ausbaus regionaler Zusammenarbeit wird einem Stabilitätspakt eine Schlüsselrolle zugewiesen, mit dem die Minderheitenfrage geregelt und die Unverletzlichkeit der Grenzen in einem höheren Maße gewährleistet werden soll. Dies wirft sicher die Frage auf, ob die Europäische Union von den jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa einen Mindeststandard an Minderheitenschutz einfordern kann, ohne selbst ein auch die Mitgliedstaaten der Union bindendes Minderheitenschutzsystem anbieten zu können. Andererseits kann aber doch nicht bestritten werden, daß für die in manchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bestehenden Minderheitenprobleme doch Lösungen erreicht werden konnten, sei es in Südtirol, im deutsch-dänischen Grenzbereich oder in Belgien, die die Gefahr gebannt haben, daß Minderheitenprobleme zur Gefahr für die innere Ordnung der Mitgliedstaaten, ihre Beziehungen untereinander und damit für die Stabilität der Union insgesamt werden.
Herr Kollege Koschyk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jäger?
Sehr gerne.
Herr Kollege Koschyk, teilen Sie meine Auffassung, daß angesichts der zahlreichen schweren, teils versteckten, teils offenen Minderheiten- und Volksgruppenkonflikte in Europa eine Bewältigung des von Ihnen gerade angeschnittenen Problems eine ganz wesentliche Bedingung dafür ist, daß in Europa auch für die Zukunft der Frieden gesichert werden kann?
Herr Kollege Jäger, ich teile diese Auffassung, und deshalb ist es ein Ziel der Union, in diesem Stabilitätspakt für Europa die Minderheitenfrage als eine wesentliche Frage zu verankern.
Ich wiederhole noch einmal: Minderheitenprobleme sind heute im Kernbereich der Europäischen Union keine Stabilitätsgefahr mehr. Für die Staaten Mittel- und Osteuropas läßt sich dies nicht ausschließen. Deshalb halte ich es auch für politisch verantwortbar, wenn die Europäische Union die Lösung offener Minderheitenprobleme und Grenzprobleme von Beitrittskandidaten zur Voraussetzung für einen Beitritt macht, um bestehende Instabilitäten nicht in die Union zu importieren und sie dadurch zu destabi17224
lisieren. Wir sollten dem Beispiel des Europarates, der hier den Level durch die Aufnahme Rumäniens und der Slowakei sehr niedrig gesetzt hat, für die Europäische Union nicht folgen.
Die von Frankreich ausgehende Unionsinitiative enthält als ein Element ein bilaterales Vertragsgeflecht der mittel- und osteuropäischen Staaten, das für offene Grenzfragen und bestehende Minderheitenprobleme Lösungen vorsieht. Dieses Instrument, meine Damen und Herren, ist nicht neu. Auch wir haben in unseren Verträgen mit Polen, der damaligen Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien ein Beispiel gegeben, das wiederum von Ungarn in Form von bilateralen Verträgen mit Aussagen zur Festlegung der bestehenden Grenzen und ihrer Bestätigung und Minderheitenschutzbestimmungen mit der Ukraine und Slowenien aufgegriffen wurde.
Wie in den Verträgen, die wir mit unseren östlichen Nachbarn geschlossen haben, können auch andere mittel- und osteuropäische Staaten Minderheitenprobleme in ihrem bilateralen Nachbarschaftsverhältnis dadurch lösen, daß sie die Minderheitenschutzprinzipien des KSZE-Prozesses zu bilateralen Vertragsverpflichtungen machen. Hier sollte die Europäische Union den assoziierten und zur Assoziierung heranstehenden Staaten Mittel- und Osteuropas ein Vertragsraster mit den unverzichtbaren Minderheitenschutzprinzipien aus dem KSZE-Prozeß anbieten, die Gegenstand solcher bilateraler Vertragsverpflichtungen sein sollten. Der Europarat sollte in der Rahmenkonvention, die er für den notwendigen innerstaatlichen Minderheitenschutz setzen will, deutlich machen, was an innerstaatlichem Minderheitenschutz notwendig ist und alle Anstrengungen, die der Europäischen Union, indem sie die Balladur-Initiative aufgegriffen hat, die des Europarates und die der KSZE durch den Hochkommissar für Minderheitenfragen, sollten insgesamt eng miteinander verzahnt und verflochten werden. Wir können uns eine Parallelität der verschiedenen europäischen Institutionen bei der Verbesserung des Minderheitenschutzes nicht mehr länger leisten.
({0})
Wenn, meine Damen und Herren, die assoziierten und die zur Assoziierung heranstehenden Staaten Mittel- und Osteuropas die Frage des Minderheitenschutzes und seiner Lösung als Voraussetzung für einen Beitritt nicht als Bremshebel für ihren Beitrittswunsch ansehen sollen, dann müssen wir ihnen praktisch bei der Lösung der Minderheitenprobleme helfen und dürfen ihnen nicht nur inhaltliche Vorgaben machen.
Deshalb plädieren wir dafür, daß bestehende Programme der Union für die assoziierten Staaten auf minderheitenspezifische Förderanliegen wie Sprache, Kultur, Bildung, Selbstverwaltung, aber auch, was Erziehung von Bevölkerungsmehrheit und -minderheit zu Verständnis und Toleranz betrifft, ausgeweitet werden. Ich denke auch an die sehr guten Beratungsprogramme des Europarates zur Verbesserung des Minderheitenschutzes als Teil des Menschenrechtsschutzes, die leider nur deshalb nicht
ausgeweitet werden, weil dem Europarat die Instrumente und das Geld fehlen.
({1})
Diese guten Programme des Europarates könnten von der Europäischen Union übernommen werden.
Ich sage noch einmal: Wir dürfen unseren künftigen Partnern in Mittel- und Osteuropa nicht nur inhaltliche Vorgaben machen, was besserer Minderheitenschutz ist. Wir müssen sie durch praktische Instrumente und Hilfen in die Lage versetzen, wirksamen Minderheitenschutz zu praktizieren und in die Tat umzusetzen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Nun hat der Kollege Volker Neumann das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie erwarten von mir als Abgeordnetem der Opposition sicher, daß ich zu dem 2. Menschenrechtsbericht sage: Er ist nur ausreichend. Ich sage Ihnen aber ganz ehrlich: Ich finde ihn ganz gut.
({0})
Dieser Menschenrechtsbericht schildert nachvollziehbar die Grundsätze und Ziele deutscher Menschenrechtspolitik. Der Bericht entspricht der traditionell über Parteigrenzen hinausgehenden Übereinstimmung in den Grundsätzen der Menschenrechtspolitik und in den parteiübergreifenden Initiativen zur Verbesserung der Zusammenarbeit bei ihrer Durchsetzung.
({1})
Er ist übrigens auch eine gute Zusammenstellung für jene, die mehr über Menschenrechtspolitik wissen wollen, und er ist eine Fleißarbeit.
({2})
Wenn man weiß, wie wenig Mitarbeiter im Auswärtigen Amt dieses wichtige Feld der deutschen Außen- und damit auch Innenpolitik bearbeiten, muß man diesen Mitarbeitern Lob zollen.
({3})
Im großen und ganzen findet der Bericht also unsere Zustimmung, auch in seiner Darstellung dessen, was erreicht ist und was nicht erreicht ist, obwohl er im letzten Punkt nicht vollständig ist.
In der Debatte um Menschenrechtspolitik - nicht nur hier, sondern allgemein - besteht allerdings die Gefahr des Theoretisierens. Das dauernde Berufen auf Menschenrechte kann verschleiernd wirken, wenn nicht jederzeit jedermann vor Augen hat, daß es um Menschen geht, die gequält und geschunden werden, die wegen ihrer Religion, ihrer Herkunft oder ihrer politischen Meinung in Gefängnissen sitzen, verschwinden, gefoltert und vergewaltigt werden.
Volker Neumann ({4})
Wer über Menschenrechte spricht, sollte jederzeit wissen, über wen er spricht: über Menschen.
Dies kommt nach meiner Auffassung in diesem Bericht - vielleicht überfordere ich ihn auch - etwas zu kurz. Vielleicht ist es unsere Aufgabe als Parlament, die Regierung immer wieder darauf hinzuweisen, daß es bei den Resolutionen und Erklärungen letztlich um Menschen geht. Wenn der institutionelle Teil nicht mit Leben erfüllt wird, indem z. B. die dort festgelegten Grundsätze auch auf die im Inland lebenden Menschen konsequent angewandt werden, so wirkt man unglaubwürdig.
Dieser Bericht scheint mir insofern nicht ganz ausgewogen zu sein. Er legt sehr viel Gewicht auf den Ausbau der politischen Mechanismen des Menschenrechtsschutzes, sagt aber weniger zu ihrer konkreten Anwendung auch im Inland.
Die Bundesrepublik hat mit ihrer Politik beachtliche Erfolge in der Umsetzung unserer gemeinsamen Vorstellungen zum internationalen Menschenrechtsschutz auf europäischer Ebene und auf Ebene der Vereinten Nationen aufzuweisen. Wir sind allen Regierungen, übrigens auch den früheren, dafür dankbar.
Ich möchte dabei insbesondere auf das zähe Bemühen um die Umsetzung des internationalen Schutzes von Minderheiten in Staaten hinweisen. Selbst auf europäischer Ebene sind hier noch nicht alle Widerstände überwunden, um den wirklich fortschrittlichen Entwurf zum Schutz der nationalen Minderheiten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates umzusetzen. Die eher unverbindlichen Vereinbarungen der KSZE und die Diskussion in den Vereinten Nationen dazu stellen demgegenüber wohl nur einen Anfang der Diskussion dar.
Ich nenne gerade die Aufgabe des Minderheitenschutzes als erste, weil sie meiner Einschätzung nach einer der wichtigsten Beiträge zur Konfliktprävention und zum Schutz von Menschenrechten ist.
({5})
Die täglichen Grausamkeiten der wahnsinnig gewordenen Militärs unterschiedlicher ethnischer Minderheiten im ehemaligen Jugoslawien zeigen uns das überdeutlich.
Lassen Sie mich an dieser Stelle als Menschenrechtspolitiker vielleicht für uns alle den Appell an alle richten, sich nicht von den täglichen Fernsehberichterstattungen aus den Krisengebieten abstumpfen zu lassen.
({6})
Es ist wichtig für unser Zusammenleben, vielleicht für unser Überleben in Europa, daß wir diese täglichen Berichte über die Greuel im ehemaligen Jugoslawien immer wieder als Mahnung verstehen, noch mehr und noch intensiver für das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen zu werben. Das gilt auch in und für Deutschland.
Es ist nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sich ähnliche Auseinandersetzungen im Bereich der ehemaligen Sowjetunion, z. B. in Georgien,
ausweiten würden. Was wäre denn, wenn solche menschenverachtenden militärischen Gruppen auch an Atomwaffen oder Kernkraftwerke herankämen?
Die immer häufiger außer Kontrolle geratenen militärischen und paramilitärischen Gewalttäter scheinen mir ein Problem zu sein, dessen Tragweite noch nicht voll erkannt worden ist. Und natürlich sind solche Menschenrechtsverletzungen wie in Jugoslawien oder an anderen Stellen in der Welt nur möglich, weil diese Gruppen mit Waffen vollgepumpt werden und offensichtlich unkontrolliert weiter vollgepumpt werden, auch heute noch! Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob diese Waffen überwiegend aus dem Ostblock kommen, wie in Jugoslawien, oder aus dem Westen, wie im Irak. Auch das scheint mir in Zukunft ein lohnendes Kapitel für einen Menschenrechtsbericht zu sein, den Zusammenhang zwischen Rüstungsexport und Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen.
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Das Beispiel in Jugoslawien, im Herzen unseres Kontinents, aber auch die Entwicklung in unserem Land geben mir erneut Anlaß, uns Europäern und uns Deutschen mehr Bescheidenheit bei der Diskussion mit den Staaten der anderen Kulturkreise über Menschenrechte anzuraten.
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Abendländische Kulturen und Traditionen westlich geprägter Demokratien kennt nur der kleinere Teil der Menschen in dieser Welt.
Die Bundesregierung hält in ihrem Bericht an der allgemeinen Auffassung von der Universalität und der Unteilbarkeit der Menschenrechte fest. Wir wissen, nicht alle verstehen die Menschenrechte als Rechte, die jedem Menschen unter allen Umständen und zu jeder Zeit ohne Einschränkung zukommen. Das gilt, wenn wir ehrlich sind, auch für uns.
Irgendwo habe ich in diesem Zusammenhang mal vom ,,Radio-Eriwan-Prinzip" gelesen: Im Prinzip ja, aber . . .- Sie kennen das ja.
Zum Beispiel: In Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit" . In dem internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von 1966 wird das in Art. 6 wiederholt. Im Prinzip ja, aber . . .
In Art. 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen". - Im Prinzip ja, aber . . .
Ich will mit diesen Beispielen nur warnen vor bloßer Menschenrechtsrhetorik, die in Europa schon nicht glaubwürdig ist und noch weniger in anderen Kulturkreisen. Und ich will anmahnen, daß unser Dialog über die Menschenrechte diese Defizite beachtet.
Die Bundesrepublik, nein, wir alle, wären gut beraten, mehr auf diejenigen zu hören, die nicht immer zu Unrecht auf diese Defizite hinweisen.
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Volker Neumann ({10})
Ein vielleicht ehrlicherer Denkansatz liegt dem von Professor Jörg Fischer in Zürich gemachten Vorschlag zugrunde, die Menschenrechte in die wirklich universellen Menschenrechte, die ohne Einschränkung gelten sollen, aufzugliedern und die wünschbaren, d. h. die politisch gewollten, danebenzustellen, also die Menschenrechte dadurch radikal zu entpolitisieren, daß man die variablen Ziele auch wirklich als solche erkennbar werden läßt. Man sollte den Menschen nicht mehr versprechen, als sich letztlich auch verwirklichen läßt. Möglicherweise können wir dadurch auch die Auseinandersetzungen im internationalen Bereich entschärfen, weil dadurch denjenigen Staaten die Argumentationsbasis entzogen würde, die sich gegen die politische Bevormundung durch den Westen wehren und sich auf die Position des Kulturrelativismus zurückziehen.
In diesem Sinne würde ich es - übrigens in Übereinstimmung mit dem Menschenrechtsbericht - begrüßen, wenn das Recht auf Entwicklung als Menschenrecht der dritten Generation in Rückbesinnung auf den individualen Ansatz verstanden und festgeschrieben wird.
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In jeder anderen Definition wird es nur gewissen Staaten, wie z. B. China, als Vorwand dienen, den Menschen die elementaren Menschenrechte vorzuenthalten.
Die Menschenrechtskriterien für die Vergabe von Entwicklungshilfe müssen im übrigen immer wieder überdacht werden. Wir müssen überlegen: Wie kann die Entwicklungszusammenarbeit den betroffenen Menschen eine Verbesserung der Menschenrechtssituation verschaffen?
Und wir müssen fragen: Wie kann in dem vorhandenen Spannungsfeld zwischen der Durchsetzung von Menschenrechten und anderen außenpolitischen und außenwirtschaftspolitischen Notwendigkeiten dennoch der Grundkonsens über die Menschenrechte gewahrt werden?
Wir haben in den letzten Jahren auch unübersehbare Fortschritte gemacht. Ausdrücklich begrüßen möchte ich als ersten Schritt in Richtung auf einen von uns auch immer geforderten internationalen Strafgerichtshof die Einsetzung eines Ad-hoc-Tribunals, durch die die UN für schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im ehemaligen Jugoslawien eine Institution geschaffen hat. Wir müssen es in die Köpfe der Verbrecher im Militär und in der Politik hineinbekommen, daß ihre Taten nicht auf Dauer ungesühnt bleiben.
({12})
Wir wissen, daß es noch ein weiter Weg ist bis zu einem internationalen Strafrechtskodex. Wir wissen um die Schwierigkeiten seiner Durchsetzung, aber der erste Schritt ist getan.
Übrigens erlaube ich mir, noch einmal zu wiederholen, daß es eine nicht zu unterschätzende abschrekkende Wirkung haben könnte, das Vermögen solcher
Verbrecher zu beschlagnahmen, ganz egal, wo es in der Welt ist.
Ein Fortschritt ist auch die vereinbarte Möglichkeit der Individualbeschwerde gegen Menschenrechtsverletzungen auf UN-Ebene sowie die Vereinbarungen auf der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien zur Bestellung des Menschenrechtshochkommissars.
Das ist alles gut, aber es reicht noch nicht aus. Wir müssen uns um einen ständigen Dialog mit allen bemühen, die die Menschenrechte als Basis für ein friedliches Zusammenleben von Menschen und Völkern anerkennen; aber wir müssen den Dialog auch mit denen fortsetzen, die ihre Macht nur durch Menschenrechtsverletzungen erhalten.
({13})
Insofern stimmen wir voll überein mit der Haltung der Bundesregierung zu dieser Frage.
Die kritische Begleitung der vielen Menschenrechtsgruppen, insbesondere auch von Amnesty International, ist uns dabei hilfreich. Willy Brandt hat uns dabei zur Ausdauer aufgefordert, aber auch hinzugefügt, daß Ungeduld zuweilen auch nicht schaden kann. Am Anfang und am Ende steht jederzeit und überall: Es muß den Menschen geholfen werden, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden. Deshalb werden wir nicht nachlassen, auch heute stellvertretend für viele Menschen - zu viele Menschen - auch in diesem Jahr wiederum an das Schicksal der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi in Burma zu erinnern.
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Nun spricht Frau Kollegin Sigrid Semper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frauen in aller Welt sind täglich und von der Öffentlichkeit meist kaum wahrgenommen Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Unabhängig von allen bisherigen VN-Konventionen, Erklärungen oder aber Übereinkommen werden an Frauen weiterhin Verbrechen verübt. Dabei werden viele Fälle erst jetzt durch die Öffnung der osteuropäischen Staaten bekannt. Gleichzeitig besteht die Gefahr, daß durch den Umstrukturierungsprozeß in den osteuropäischen Staaten neue Diskriminierungen von Frauen entstehen. Dem gilt es vorzubeugen. Ein Schritt in die richtige Richtung ist dabei ganz sicher die Erklärung aller teilnehmenden Staaten der Wiener Weltkonferenz fiber Menschenrechte vom Juni 1993. Darin heißt es: Geschlechtsspezifische Gewalt und alle Formen sexueller Belästigung und Ausbeutung einschließlich solcher, die in kulturellen Vorurteilen wurzeln, sowie der internationale Menschenhandel sind unvereinbar mit der Würde und dem Wert des Menschen und müssen beseitigt werden.
Zum erstenmal haben damit Frauen die Möglichkeit, sich überall in der Welt auf diese Vereinbarung zu berufen. Auch wenn so manche Erklärung in der Vergangenheit von diktatorischen Regimen umganDr. Sigrid Semper
gen wurde, zeigt sich doch ein Wandel im internationalen Bewußtsein Frauenrechten gegenüber. Das ist erfreulich. Im Zuge dessen halte ich die Einrichtung eines Sonderberichterstatters zu Gewalt an Frauen für dringend geboten. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Antrag der CDU/CSU- sowie der F.D.P.-Fraktion verweisen, der eben dies fordert und sich ganz klar für die Interessen der Frauen einsetzt.
Wer so wie ich über 40 Jahre in einem Land gelebt hat, in dem Menschen- und damit auch Frauenrechte zum Teil nur auf dem Papier Gültigkeit hatten, weiß, wovon er spricht. Wer heute über die Situation der Frauen in den europäischen Staaten - ich möchte hier die ehemalige DDR nicht ausnehmen - debattieren will, darf dies nicht tun, ohne sich über die Vergangenheit Gedanken zu machen. Viele Probleme, vor denen wir heute auch in Menschenrechtsfragen stehen, sind Resultate der Vergangenheit. Um so bedenklicher finde ich es, daß es heute nicht wenige gibt, die vier Jahre nach der Einheit davon reden, wieviel besser es die Frauen in der DDR gehabt hätten.
Als erstes wird hierbei immer die hohe Quote an erwerbstätigen Frauen genannt. Richtig ist, daß der Anteil von Frauen in Führungspositionen sehr gering war. Darüber hinaus dienten diese Zahlen als Scheinalibi für ein insgesamt doch sehr restriktives Frauenbild in der ehemaligen DDR.
Wie es wirklich aussah und in welchem Ausmaß Frauenrechte massiv unterdrückt oder aber Frauen sogar in ihren Menschenrechten eingeschränkt wurden, das wird wahrscheinlich erst die Zukunft ans Tageslicht bringen. Bei meinen Nachforschungen zu dieser Rede ist mir augenscheinlich geworden, wie wenig beachtet der Gesamtkomplex von Frauenfragen der ehemaligen DDR ist.
Protokolle aus DDR-Gefängnissen, besonders aus dem berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck im Erzgebirge, schildern Gewalt gegen Frauen. Sie schildern die barbarischen Bedingungen, unter denen politisch gefangene Mädchen und Frauen aller Altersgruppen, aus allen Schichten leben mußten - gearbeitet und gelebt wie Viecher.
Wer diese Tatsachen ignoriert, ignoriert zugleich das hohe Gewaltpotential, das vom sozialistischen System ausging. Dies trifft im übrigen auf alle ehemaligen Ostblockstaaten zu. Daß die Probleme in Osteuropa heute so akut auftreten, hat natürlich seine Ursachen. Als eine möchte ich die Tabuisierung von Themen nennen, die dem sozialistischen Staat unangenehm waren. Ich will hier Bereiche wie die Zustände in Abtreibungskliniken, Prostitution oder Frauenalkoholismus nennen. Diese Tabuisierung wurde mit der Perestroika und den daraus resultierenden friedlichen Revolutionen aufgebrochen.
Heute stehen die Frauen in den europäischen Staaten viel mehr noch als in den neuen Bundesländern vor der Frage nach ihrer Zukunft, und diese ist in den seltensten Fällen gesichert.
Damit bin ich beim zentralen Thema der Situation vieler Frauen in der Welt, zunehmend auch in Europa, nämlich der Armut. Die zunehmende Armut der
osteuropäischen Länder ist eines der größten Probleme Europas überhaupt. Es zeigt sich auch hier, daß Frauen in Zeiten wirtschaftlicher Rezession immer die ersten Betroffenen sind.
Die Anhörung des Ausschusses Frauen und Jugend vergangene Woche zum Thema Frauenhandel hat gezeigt, daß genau hier die Schwierigkeiten liegen. Während bis Mitte der 80er Jahre vor allem aus Ländern Lateinamerikas und Südostasiens Frauen per Heirats- oder Prostitutionsvermittlung gehandelt wurden, sind es seit 1989 zunehmend Mädchen und Frauen aus den ehemaligen Ostblockstaaten, die nach Deutschland vermittelt werden.
Ein weiteres Problem ist die unter Frauen besonders verbreitete Arbeitslosigkeit. In Verbindung damit ist in Osteuropa ein Mangel an Weiterbildungsmöglichkeiten für Frauen zu erkennen. Es gilt, Frauen als Arbeitnehmerinnen ernst zu nehmen, sowohl in den neuen Ländern als auch in den osteuropäischen Nationen. Auch das Recht auf Arbeit kann ein Menschenrecht sein. Die Bundesregierung muß hier in bilateralen Gesprächen auf die Verbesserung der Situation von Frauen weltweit einwirken. Ich denke, ein erster Schritt ist uns mit unserem Antrag gelungen.
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Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer über Menschenrechte spricht, denkt wohl in erster Linie an eine Debatte über die schrecklichen Greueltaten im ehemaligen Jugoslawien. Ich habe dies bewußt nicht gemacht. Nach meiner Auffassung gehört es auch zu einer Menschenrechtsdebatte, die Brutalität eines gescheiterten Regimes darzustellen, dessen Folgewirkungen zum Teil auch heute noch sichtbar sind. Ich denke, auch dies gehört zum Tag der Menschenrechte.
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Repnik das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Kollege Baum hat eindrucksvoll die Wiener Menschenrechts-Weltkonferenz dargestellt und uns deren Ergebnisse erläutert. Diese Konferenz stellt einen Meilenstein für das Zusammenleben der Völkergemeinschaft dar.
Für die Entwicklungspolitik - und aus dieser Sicht möchte ich jetzt in erster Linie Stellung nehmen - hat die Weltkonferenz zwei Ergebnisse festgeschrieben, die von besonderer Bedeutung sind. Erstens erkennen alle Teilnehmerstaaten an, daß Demokratie, Entwicklung und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten einander bedingen; dies widerlegt die These all jener, die Demokratie und Menschenrechte für einen Luxus derer halten, die sich bereits entwikkelt haben. Zweitens weist die Wiener Erklärung darauf hin, daß das Recht auf Entwicklung keinen zwischenstaatlichen Anspruch der Entwicklungslän17228
der an die Industrienationen begründet, sondern einen Anspruch des Bürgers gegenüber dem Staat.
Der Argumentation, wonach die Erfordernisse des Entwicklungsprozesses die Einschränkung individueller Freiheiten rechtfertigen, wurde in Wien eine eindeutige Absage erteilt. Hier möchte ich den Kollegen Neumann in seiner Aussage hierzu nachdrücklich unterstützen.
Herr Kollege Bindig, Sie wissen, daß ich Ihr menschenrechts- und Ihr entwicklungspolitisches Engagement außerordentlich schätze. Deshalb bin ich aber von Ihrer Rede um so mehr enttäuscht gewesen, als Sie das Thema Entwicklungszusammenarbeit nur ein einziges Mal erwähnt haben. Ich glaube - und ich werde dies nachher darstellen -, vieles, was Sie als Defizite beklagt haben, versuchen wir gerade in der Entwicklungszusammenarbeit aufzuarbeiten. Eine wohlverstandene Entwicklungspolitik, wie wir sie betreiben, ist die von Ihnen geforderte Prävention zum Schutz von Menschenrechten. Ich glaube, hier liegt ein Defizit in Ihrer Rede.
Die Ergebnisse der Wiener Konferenz bestätigen denn auch deutlich die entwicklungspolitische Konzeption der Bundesregierung. Die Beachtung der Menschenrechte, die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und von besseren Voraussetzungen für eine politische und gesellschaftliche Beteiligung der Bevölkerung gehören zu den Kriterien, an die wir seit 1991 Art und Umfang der Leistungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit binden.
Es geht uns dabei in erster Linie nicht um eine Werteorientierung oder gar um den Export moralischer Vorstellungen. Nach meiner Überzeugung gehört es untrennbar zum Grundsatz der Universalität der Menschenrechte, daß das Verständnis von Menschenrechten, ihre Legitimation und die Mechanismen zu ihrem Schutz in den verschiedenen Regionen und Kulturen der Welt unterschiedliche Formen annehmen können. Die Menschenrechte sind also kein Exportschlager des Westens. Missionarischer Eifer, meine ich, steht uns Europäern auch gar nicht so gut an. Im Gegenteil, bevor wir mit den Fingern auf andere zeigen, sollten wir selbstkritisch fragen, was wir in Europa selbst tun können, um Minderheiten zu schützen, die Gleichberechtigung der Frauen durchzusetzen und die Geißeln des Krieges und des Rassismus von unserem Kontinent zu verbannen.
Aber genauso richtig und unverzichtbar ist es auf der anderen Seite, wenn wir immer wieder darauf hinweisen, daß dauerhafte Entwicklung nur möglich ist, wenn fundamentale Freiheitsrechte respektiert und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten für jeden Menschen geschaffen werden. Wo dies nicht gewährleistet ist, greifen auch keine Entwicklungsanstrengungen.
Niemand hat dies glaubwürdiger und, wie ich meine, deutlicher ausgedrückt als der nigerianische Literaturnobelpreisträger und Menschenrechtsvorkämpfer Wole Soyinka in der vorigen Woche auf einer von BMZ und der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung durchgeführten Tagung in Bad Godesberg - wohlgemerkt aus afrikanischer Sicht. Ich möchte ihn gerne zitieren. Er sagte u. a.:
Der Fortschritt auf unserem Kontinent ist durch einen winzigen Teil seiner riesigen Bevölkerung zunichte gemacht worden: durch einen selbsternannten und egozentrischen Haufen, dessen Ziel darin besteht, mit welchen Mitteln auch immer - vor allem unseren gemeinsamen materiellen Ressourcen - zu herrschen, und zwar auf Kosten ... der Entwicklung und auf Kosten der Mehrheit der Menschen, die diese Minderheitengruppen zu vertreten beanspruchen.
Soyinka, der zu den schärfsten Kritikern des derzeitigen Regimes in seinem Heimatland Nigeria gehört, weist darauf hin, daß der angebliche Gegensatz zwischen den Individualrechten und den Ansprüchen der Gemeinschaft, der von den Gegnern der universellen Gültigkeit der Menschenrechte immer wieder vorgebracht wird, fast immer einen Vorwand darstellt, der Einschränkungen von Menschenrechten zugunsten des eigenen Herrschaftsanspruchs rechtfertigen soll.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Menschenrechtsgruppen in Afrika, in Lateinamerika, gerade aber auch zunehmend in Asien ermutigen uns, mit ähnlichen Argumenten wie der Nobelpreisträger aus Afrika auf der Achtung der Grundrechte der Menschen zu bestehen. Auch die asiatische Menschenrechtserklärung, die die Interparlamentarische Organisation der ASEAN-Staaten Ende September in Kuala Lumpur verabschiedet hat, schreibt menschliche Grundrechte wie das Recht auf Leben, Gedankenfreiheit, Gewissens- und Religionsfreiheit, Eigentum, Freiheit und Sicherheit, Vereinigungsfreiheit oder Gleichheit aller vor dem Gesetz ausdrücklich fest. Sie bekräftigt die Verpflichtung des Staates, die Menschenrechte zu schützen, und billigt jedem Bürger das Recht zu, sich persönlich oder durch freigewählte Vertreter an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu beteiligen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, für die Entwicklungspolitik geht es heute darum, diesen Konsens der Völkergemeinschaft über die Bedeutung der Menschenrechte aufzugreifen und die Beschlüsse von Wien konkret umzusetzen.
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- Konkret. Ich werde ein paar Beispiele nennen.
Wir haben ja bereits in der Vergangenheit eine ganze Reihe von Vorhaben der Menschenrechtsförderung, der Demokratisierungshilfe und Verwaltungsreform finanziell unterstützt, die von den politischen Stiftungen, den Kirchen oder auch anderen privaten Trägern durchgeführt wurden. Auch im Rahmen der bilateralen staatlichen Zusammenarbeit werden bereits Maßnahmen zur Verbesserung der entwicklungspolitischen Rahmenbedingungen gefördert.
Ich glaube, Herr Kollege Bindig, daß es dazu nicht unbedingt neuer Programme und neuer Institutionen bedarf - ich spreche bewußt aus der Sicht des Entwicklungspolitikers -, weil wir ein breites Instrumentarium haben, das wir schon in der Vergangenheit eingesetzt haben. Dazu gehören z. B. Menschenrechtsprojekte in Kolumbien, Guatemala, Burundi ebenso wie Rechtsberatungsprogramme in Niger, in Namibia oder demnächst in Benin.
Herr Kollege Bindig, das Folgende möchte ich sagen, weil Sie es angemahnt haben: Wir unterstützen ja bereits Maßnahmen zur Demobilisierung von Truppen in einer Reihe von Ländern. Wir stehen jetzt mit dem siebenten Land in konkreten Verhandlungen. Ich nenne die Beispiele Äthopien, Eritrea, Mosambik oder auch Mittelamerika. Ich glaube, wir sind hier auf einem guten Weg, und es wäre schön, wenn Sie uns dabei positiv begleiten würden.
In Zukunft werden Möglichkeiten zur Hilfe beim Aufbau entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen und dabei insbesondere des Schutzes der Menschenrechte und der gesellschaftlichen und politischen Beteiligung der Bevölkerung von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit noch stärker als bisher aufgegriffen werden. Wir haben nach Wien eine breitere und bessere Grundlage dafür.
Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve zu beantworten?
Gerne.
Bitte sehr.
Herr Staatssekretär, Sie haben die Initiativen der Bundesregierung für eine Demilitarisierung genannt und dabei en passant Mittelamerika erwähnt. Könnten Sie etwas genauer sagen: welches Land, warm, mit welchen Maßnahmen? Wie weit sind Sie da gekommen? Mir ist das so nicht bekannt.
Herr Abgeordneter Duve, ob er das kann oder nicht, ist nicht mein Problem. Das Problem ist nur, daß im Grunde genommen seine Redezeit schon überschritten ist. Ich bitte Sie deswegen, es ganz kurz zu machen.
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Herr Kollege Duve, in Mittelamerika sind es El Salvador und Nicaragua. Ich bin gern bereit, Ihnen bilateral die Maßnahmen, die wir dort bereits umgesetzt haben oder bei denen wir in Verhandlungen sind, näher zu schildern. Aber diese beiden Länder sind betroffen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der bereits erwähnten Dialogtagung haben wir gezeigt, daß wir die Menschenrechte nicht im Sinne eines Postulats an die Entwicklungsländer verstehen, sondern bereit sind, das Gespräch über Menschenrechtsfragen zwischen den Vertretern von Regierungen und gesellschaftlichen Gruppen in den Entwicklungsländern selbst zu erleichtern. Nach unserer Erfahrung ermöglicht es ein solcher Dialog beiden Seiten, nach gemeinsamen Möglichkeiten zur Förderung der Menschenrechte zu suchen. Die Herstellung entwicklungsfördernder Rahmenbedingungen liegt in der Verantwortung unserer Partnerländer. Ich glaube, darauf muß man immer wieder hinweisen.
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Aber die internationale Gebergemeinschaft ist andererseits in der Pflicht, durch Umschichtungen der Leistungen und weitere gezielte Schuldenerleichterungen noch mehr dafür zu tun, solche Länder zu unterstützen, die einen entschlossenen Weg zur Verbesserung des Schutzes der Menschenrechte gehen und erweiterte politische und gesellschaftliche Mitgestaltungsmöglichkeiten für ihre Bürger schaffen.
Herzlichen Dank.
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Herr Abgeordneter Bindig, Sie bleiben bei Ihrem Wunsch nach einer Kurzintervention, trotz der Bemerkungen des Staatssekretärs? - Bitte sehr, dann erteile ich Ihnen das Wort zu einer Kurzintervention.
Meine konkret genannten Beispiele müssen ja getroffen haben, wenn sowohl der Außenminister als auch der Staatssekretär im Entwicklungsministerium mich darauf ansprechen. Es ist einfach eine Tatsache, daß im Etat des Auswärtigen Amtes etwa fünfmal so viel für Ausstattungshilfe zur Unterstützung ausländischer Streitkräfte ausgegeben wird wie für die Demokratisierungshilfe.
Dem Herrn Staatssekretär im Entwicklungsministerium möchte ich sagen, daß ich natürlich weiß, daß es einige Projekte auf dem Gebiet der Demokratisierungshilfe und der Menschenrechte gibt. Ich finde das gut. Aber wir haben hier nicht die Situation - die es ja oft gibt -, daß der Vertreter der Regierung sagt, die Flasche ist halb voll, und der Vertreter der Opposition sagt, sie ist halb leer. Von dem, was nötig ist, wird eigentlich nur etwa 10 % getan.
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Das heißt: Die Flasche ist zu 90 % leer.
Es muß einen Entwicklungspolitiker doch schmerzen, Herr Repnik, wenn er erfährt, daß innerhalb einer Woche entschieden wird, daß für den Golf-Krieg 17 Milliarden DM aufgewendet werden. Das ist etwa das Doppelte dessen, was Ihrem Ministerium in einem Jahr insgesamt an Entwicklungshilfe zur Verfügung steht, also die Summe, die in zwei Jahren für Entwicklungshilfe ausgegeben wird.
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Auf diese Inbalance hinzuweisen muß einem engagierten Entwicklungspolitiker möglich sein, um damit die Entwicklungspolitik und die Menschenrechtsarbeit zu stärken.
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Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Hanna Wolf.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute wieder mit Menschenrechtsverletzungen - auch mit Menschenrechtsverletzungen an Frauen -, weil morgen der 45. Menschenrechtstag ist. Wozu dieser Tag?
Vor allem sollte dieser Tag ein Aufruf zum Handeln sein. Es ist beschämend, daß wir heute nicht weiter sind als vor einem Jahr oder vor vielen Jahren. Gerade die Menschenrechtsverletzungen an Frauen verschwinden aus dem öffentlichen Bewußtsein. Menschenrechtsverletzungen an Frauen gehören zu den vielen Themen, die diese Regierung weniger wichtig nimmt.
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Wie oft haben wir z. B. den Bericht der Bundesregierung zu Menschenrechtsverletzungen an Frauen angemahnt? Das Parlament hat ihn vor gut drei Jahren einstimmig gefordert. Zuletzt hat ihn die Regierung für Ende letzten Jahres angekündigt. Er ist immer noch nicht da.
Im Mai dieses Jahres haben die Regierungsfraktionen unserem Antrag „Gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen" die Zustimmung versagt und ihn an die Ausschüsse überwiesen. Wichtige Verhandlungsziele konnten so für die Wiener Menschenrechtskonferenz nicht eingebracht werden.
Menschenrechtsverletzungen an Frauen waren in Wien nur am Rande ein Thema,
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und das meine ich wörtlich.
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- Herr Baum, hören Sie einmal zu! Sie haben in Ihrer Rede kein Wort von dem gesagt, was am Rande der Menschenrechtskonferenz in Wien stattgefunden hat, nämlich das Frauentribunal. Frauenorganisationen mußten ihr symbolisches Welttribunal am Rande der UNO-Konferenz abhalten.
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Was da zu hören war, war erschütternd. Frauen aus der ganzen Welt schilderten exemplarisch ihre Schicksale. Sie machten deutlich, daß auch Gewalt an Frauen in der Familie Menschenrechtsverletzung ist. So muß diese Gewalt gesehen werden, und so muß sie geahndet werden. Ob Gewalt gegen Frauen in der Privatsphäre oder im öffentlichen Raum, ob in der Dritten Welt oder bei uns - Gewalt ist Gewalt. Sie kann nicht mit Kulturunterschieden gerechtfertigt werden, wie es immer wieder getan wurde, und zwar insbesondere bei den millionenfachen Genitalverstümmelungen bei Mädchen und bei jungen Frauen.
Auf dem Wiener Frauentribunal wurde deutlich, daß konkrete Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Stellung der Frauen weltweit zu stärken.
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Gewalt ist körperliche Aggression. Strukturelle Benachteiligung ist ebenfalls Gewalt, d. h. Verweigerung gleicher Teilhabe an Ausbildung, Verweigerung des gleichen Zugangs zu wirtschaftlichen Ressourcen, Verweigerung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. Die Vergewaltigung in der Ehe ist bei uns immer noch kein Straftatbestand.
Zu Recht waren wir in diesem Parlament entsetzt über die Massenvergewaltigungen in Bosnien. Aber was hat die Bundesregierung im abgelaufenen Jahr tatsächlich getan? - Die Hilfe vor Ort und auch bei uns kam immer erst von Privatpersonen oder von Hilfsorganisationen. Ihnen allen möchte ich hier ausdrücklich danken.
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Erst der öffentliche Druck hat die Bundesregierung reagieren lassen.
Und wo bleibt das Entsetzen über Vergewaltigungen bei uns? Wie groß ist eigentlich der Unterschied zwischen dem feindlichen Soldaten und dem eigenen Ehemann, wenn der vergewaltigt?
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Im Menschenrechtsbericht der Bundesregierung heißt es dazu lapidar - ich zitiere -:
Sexuelle Gewalt gegen Frauen wird in Europa/ Nordamerika überproportional stark thematisiert, obwohl dort systematische Formen vergleichsweise wenig vorkommen. Diese Art von Gewalt, die auch u. a. im familiären Rahmen auftritt, fällt eher in den Bereich Kriminalität als in den Bereich Menschenrechte.
Damit wird die Gewalt gegen Frauen und Mädchen verharmlost. Es interessiert diese Regierung nicht weiter, daß jedes vierte Mädchen in der Bundesrepublik sexuell mißbraucht wird, daß jede zehnte Ehefrau von ihrem Mann vergewaltigt wird. Das sind Berechnungen des Bundeskriminalamtes. Wenn der Staat ein Verbrechen nicht zu ahnden sucht, dann wird dieses Verbrechen zu einer Menschenrechtsverletzung.
Für die Menschenrechte, die auch für Frauen gelten, müssen wir uns weltweit engagieren. Wir fordern zum wiederholten Male u. a., daß der Posten einer Sonderberichterstatterin für Menschenrechtsverletzungen an Frauen bei den Vereinten Nationen tatsächlich zügig eingerichtet und daß ein permanenter internationaler Strafgerichtshof einberufen wird, vor dem Vergewaltigungen in Kriegsgebieten als Kriegsverbrechen abgeurteilt werden.
In unserem Land müssen wir die Vorbilder setzen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag auch den strafrechtlichen Schutz vor Vergewaltigung in der Ehe. Wir fordern dazu auf, sexuelle Gewalt als Fluchtgrund anzuerkennen, auch wenn sie erst nach der mündlichen Anhörung vorgebracht wird; den GerichHanna Wolf
ten und Behörden Informationen zu frauenspezifischen Verfolgungsgründen zur Verfügung zu stellen; die Verfolgung wegen des Geschlechts und der sexuellen Orientierung als Asylgrund anzuerkennen;
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die Anhörung von Asylbewerberinnen grundsätzlich von Frauen durchführen zu lassen; Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit vorrangig zu fördern; Vergewaltigungsopfer hier wie auch in ihrem eigenen Land medizinisch und psychologisch zu unterstützen und die Wahrung der Menschenrechte von Frauen zum Prinzip unserer außen-, wirtschafts- und entwicklungspolitischen Bemühungen zu machen.
Gegen diese innen- und rechtspolitischen Konsequenzen bringen Sie von der Regierungskoalition immer wieder Bedenken vor. Wollen Sie keine tatsächliche Stärkung der Frauenrechte hierzulande? Der Entwurf der SPD zur Gesetzesänderung bei Vergewaltigung in der Ehe liegt seit zwei Jahren dem Parlament vor. Ich bitte Sie, diesen Entwurf hier endlich zur Abstimmung zu stellen.
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Nicht nur die Vergewaltigung in der Ehe ist eine Menschenrechtsverletzung. - Die Sklaverei halten wir zwar für abgeschafft, und doch findet sie auch bei uns statt. Die „moderne" Form hier ist der Frauenhandel. Frauen anderer Lander - heute vorwiegend aus Osteuropa - werden bei uns zur Prostitution gezwungen. Das „Geschäft" boomt.
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Die Kundschaft - deutsche Männer - verlangt nach mehr, verlangt nach Abwechslung, verlangt nach immer brutalerer Unterwerfung. Zwei Zahlen erhellen die Dimension: Marseille hat 50 Prostituierte, Frankfurt 2 000. Ein Kriminalbeamter beendete seine Ausführungen bei unserer Ausschußanhörung zum Frauenhandel mit dem Satz: Ich schäme mich für meine Geschlechtsgenossen.
Unsere Gesetze schützen nicht die ausgebeuteten Frauen, sondern die Täter. Die Frauen sind illegal ins Land gebracht worden, oder ihr Aufenthaltsstatus ist vom Täter abhängig, dem Ehemann. Ausbeutung, Erpressung, Mißhandlung, die schlimmsten Grausamkeiten werden nicht angezeigt, verfolgt und geahndet, können nicht angezeigt, verfolgt, geahndet werden. Das Opfer - die Zeugin - wird bei Bekanntwerden verhaftet und ausgewiesen. Das weiß es nur zu gut.
Ich frage Sie: Welche Hierarchie der Rechtsgüter haben wir eigentlich? Verstöße gegen Eigentumsdelikte werden bei uns schärfer geahndet als der Verstoß gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Frauenhandels-Verfahren haben bei unseren Gerichten unterste Priorität, so ein Staatsanwalt in der Anhörung Frauenhandel. Es fehlt das Ermittlungspersonal, es fehlt der Zeuginnenschutz, und es fehlt der Schutz vor Abschiebung. Für eine Art „Kronzeuginnenregelung" sieht „mann" in der Regierung keinen Bedarf.
Diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen an Frauen werden nicht in einem fernen sogenannten Entwicklungsland begangen. Das Entwicklungsland ist hier. Auch hier ist Handlungsbedarf.
Im Interesse von Frauen müssen wir zum 45. Tag der Menschenrechte ein Zeichen setzen. Unser Antrag soll so ein Zeichen sein. Stimmen wir ihm alle zu!
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Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Claudia Nolte das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kennen Sie Aurea Feria Cao? Die 49jährige Kubanerin kämpft seit 1960 - dem Jahr, in dem ihr Vater von Castros Streitkräften umgebracht wurde - für Freiheit und Demokratie in ihrer Heimat. Sie wird wegen ihres Engagements für die Menschenrechte schikaniert, ihrem Sohn aus diesem Grund die akademische Laufbahn verwehrt.
Ausreiseanträge werden abgelehnt, sie wird mehrfach inhaftiert. Wegen „Feindpropaganda" verurteilt man sie 1990 zu fünf Jahren Haft. Als politische Gefangene teilt sie ihre Zelle - nach 92 Tagen Einzelhaft - mit Kriminellen, die gegen sie opponieren. Aurea ist kein Einzelfall.
Es sind gerade erst vier Jahre her, da gehörte das Geschilderte auch zur Wirklichkeit in einem Teil Deutschlands, zur Wirklichkeit der DDR. Daß es den Menschen in den neuen Bundesländern heute meistens materiell besser geht als vor der friedlichen Revolution und die Wirtschaft in diesem Jahr um weitere 6 % wächst, freut uns zu Recht. Das Wichtigste aber ist, ganz Deutschland ist ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat.
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Wie viele Deutsche haben vor dem 9. November 1989, selbst unter Einsatz ihres Lebens, dokumentiert, welchen Wert sie Freiheit, Demokratie und Recht beimessen? Heute ist Freiheit für alle Deutschen etwas Selbstverständliches.
Das SED-Regime bevormundete seine Bevölkerung, sperrte sie ein. Gerade daraus erwächst uns die besondere Verpflichtung, auf die Bedrohung der Freiheit in unserem Lande und Menschenrechtsverletzungen weltweit hinzuweisen, da gegenzusteuern.
„Konntet ihr das wirklich nicht wissen?" Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir unsere Eltern und Großeltern gefragt, wenn es um die Verbrechen des Nazi-Terrors ging. Nicht erst seit der Menschenrechts-Weltkonferenz im Juni dieses Jahres in Wien wissen wir um die Vernichtungslager in BosnienHerzegowina, wissen wir, wie die Vergewaltigung von Frauen zur Kriegstaktik wird, wie gerade Frauen und Kindern unfaßbares Leid angetan wird. Aus guten Gründen hat die deutsche Delegation bei der erwähnten Wiener Konferenz Menschenrechtsverletzungen
an Frauen thematisiert, was dann auch im Schlußdokument seinen Niederschlag fand.
Vergewaltigungen von und sexuelle Übergriffe gegen Frauen bei Verhören und in der Haft sind in vielen Ländern an der Tagesordnung. Über die spezifischen Menschenrechtsverletzungen an Frauen darf nicht länger geschwiegen werden. Die Völkergemeinschaft hat recht, wenn sie die Gleichbehandlung und Gleichwertigkeit von Frauen auf allen Ebenen und die Beendigung aller Formen von Diskriminierung auf Grund des Geschlechts als vorrangige Ziele benennt.
Der erste Punkt des heute mit zu behandelnden SPD-Antrages zielte auf die inhaltliche Vorbereitung der Menschenrechtskonferenz. Nicht wenige der enthaltenen Forderungen wurden erreicht, z. B. die Unterstützung für die Ernennung einer Sonderberichterstatterin für Menschenrechtsverletzungen an Frauen.
Ich bedauere, daß wir nicht zu einem gemeinsamen neuen Antrag gekommen sind. Wir haben einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Wir werden ihn auch weiterhin verfolgen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht ohne Grund hat der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, einen Bericht über Menschenrechtsverletzungen an Frauen zu erstellen. Ich unterstelle, daß die Bundesregierung mit der Einfügung des Kapitels über Menschenrechtsverletzungen an Frauen in ihren allgemeinen Menschenrechtsbericht eine frühere Lücke schließen wollte und das neue Frauenkapitel in den nächsten Berichten fortgeschrieben wird.
Die Bundesregierung benennt sehr klar die frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen. Daß im Kapitel D 1.1 fälschlicherweise steht, die Familie des Mannes müsse den „Brautpreis" zahlen, sehe ich als einen redaktionellen Fehler, der bestimmt korrigiert wird. Die Familie der Frau muß nämlich den Brautpreis zahlen, und das ist der Grund, weshalb Eltern häufig ihr ungeborenes Mädchen durch Abtreibung töten lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, welches Leid Menschen infolge von Krieg, Vertreibung und Flucht tragen müssen, haben über 12 Millionen Deutsche nach 1945 am eigenen Leib erfahren. Heute gibt es weltweit etwa 18,9 Millionen Flüchtlinge. Davon sind 80 % Frauen und Kinder. Das Recht auf Heimat ist ein Menschenrecht. Deshalb gehören Flucht und Vertreibung in den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die unter uns, die selbst Kinder haben, wissen, daß die kindheitliche Entwicklung entscheidend ist für den späteren Lebensweg, für die Fähigkeit, Bindungen einzugehen, tolerant zu sein, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Deshalb möchte ich die Aussagen im Regierungsbericht über die Rechte des Kindes besonders unterstreichen. Die Ausbeutung von Kindern, der Zwang zur Kinderarbeit ist unerträglich. Es ist bekannt, daß in vielen Ländern Waren auf Kosten des Lebens und der Gesundheit von Kindern billig produziert werden. Wollen wir die so hergestellten Produkte wirklich weiter importieren?
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Beispiele wie die Kennzeichnung von Teppichen, die nicht durch Kinderarbeit gefertigt wurden, müssen Nachahmung finden.
Menschenrechte sind unteilbar, unabhängig, ob sie auf dem Balkan, in Mittelamerika oder in China verletzt werden, unabhängig davon, ob Frauen, Männer, Alte oder Junge betroffen sind. Immer ist es eine Herausforderung gerade an uns Deutsche, die wir im Wissen um unsere eigene Geschichte und die Lehren, die wir daraus gezogen haben, eine besondere Verantwortung tragen.
Ich bin betroffen und werde mich nicht damit abfinden, daß in unserem Land Kinder für Pornofilme mißbraucht werden, daß Hunderttausenden ungeborenen Kindern das Lebensrecht verwehrt wird, daß man Frauen aus ärmeren Ländern nach Deutschland schleppt und hier zur Prostitution zwingt, daß das Leben und die körperliche Unversehrtheit von ausländischen Mitbürgern und Asylbewerbern durch fremdenfeindliche Aktionen rechtsextremer Täter gefährdet ist. Denjenigen in Deutschland, die das unveräußerliche Menschenrecht und die Würde eines jeden nicht respektieren, müssen wir mit der ganzen Kraft unserer Gesetze Einhalt gebieten.
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Staaten, die die unveräußerlichen Menschenrechte und die Würde eines jeden einzelnen nicht respektieren, müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dazu bewegen, den Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu unterlassen.
Glaubwürdigkeit im Innern ist eine Voraussetzung für unsere Stärke beim Kampf um die Achtung der Menschenrechte weltweit. Solange Menschen unterdrückt werden, wird es keinen Frieden geben. Für den Frieden aber müssen wir gemeinsam streiten.
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Es spricht nunmehr der Abgeordnete Dr. Ulrich Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Gegenstand, die Sicherung der Menschenrechte, ist einer der dringlichsten, aber auch einer der betrüblichsten überhaupt. Immer noch wird heute, am Ende des 20. Jahrhunderts, in vielen Ländern der Welt gemordet, gefoltert, gequält, diskriminiert, beleidigt, ausgebeutet, und zwar von staatlichen Organen und nicht etwa vom organisierten Verbrechertum, obwohl in manchen Ländern die Grenzen da nicht leicht zu ziehen sind. Eine konsequente Menschenrechtspolitik ist daher für ein modernes aufgeklärtes Land unerläßlich, und zwar nach außen und nach innen. Rassistische Diskriminierung und Angriffe, wie zuletzt gestern gegenüber einem Farbigen in der alten/neuen Hauptstadt Berlin geschehen, sind in
Deutschland genauso Menschenrechtsverletzungen wie etwa in Südafrika.
Die Menschenrechtspolitik dieser Bundesregierung ist unzulänglich, weil sie erstens nicht konsequent hier bei uns gegen Menschenrechtsverletzungen ankämpft, weil sie zweitens - der jüngste Besuch des Bundeskanzlers in China belegt das - nach außen immer noch wirtschaftliche und politische Opportunitätsgesichtspunkte über eine konsequente Menschenrechtspolitik stellt. Sie ist schließlich unzulänglich, weil sie in zahlreichen relevanten Aspekten einfach nicht existiert. Amnesty International bemängelt z. B. zu Recht, daß es im Außenwirtschafts- und im Kriegswaffenkontrollgesetz bis heute keine Menschenrechtsklausel gegen Rüstungsexporte gibt.
Wie unzulänglich die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung ist, zeigt insbesondere das Beispiel Guatemala, das eben auch vom Herrn Staatssekretär angesprochen worden ist. Ich glaube, da muß man einiges ganz anders sehen. Dort beherrschen nach wie vor das Militär und paramilitärische Verbände und Gruppen das Leben; sie sind zum Staat im Staate geworden, betreiben und beherrschen große Teile der Wirtschaft und bedrohen große Teile der Bevölkerung und insbesondere die Indigenas.
Konkret heißt das z. B.: Am 5. Oktober erhielten 22 Menschenrechtler, Gewerkschaftler und Journalisten eine Todesdrohung. Am 26. September, also zuvor, ist ein Ehepaar wegen Teilnahme an einer Demonstration von derartigen paramilitärischen Einheiten festgenommen worden. Am selben Tag fand man sie mit Spuren schwerster Gewaltanwendung tot auf. Das ist Guatemala heute. Zwar ist inzwischen der Menschenrechtsaktivist Ramiro de Leon Carpio Präsident geworden, doch verfügt er nicht über Möglichkeiten, die guatemaltekische Gesellschaft und das Leben in ihr wirklich zu demilitarisieren, und das muß das Ziel sein.
Es besteht die Gefahr, daß die bundesdeutsche Regierungsdelegation, die am 12./13. Dezember, in wenigen Tagen also, über die Neuaufnahme von Entwicklungshilfeprojekten in Guatemala verhandeln soll - im Gespräch sind ca. 20 Millionen DM -, nicht der Bevölkerung hilft, sondern den militärischen Repressionsapparat stützt und stabilisiert - wie übrigens bereits 1986 nach der Wahl des ersten zivilen Präsidenten, des Christdemokraten Vinicio Cerezo.
Die Guatemaltekinnen Rigoberta Menchu, die Friedensnobelpreisträgerin, und Helen Mack, Trägerin des alternativen Friedensnobelpreises, betonen zu Recht immer wieder, daß nur internationaler Druck, nicht aber Unterstützung durch Finanz- und Wirtschaftshilfe ihrem Land helfen kann.
Guatemala ist ein weiterer Prüfstein für die Ernsthaftigkeit der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung. Die politisch Verantwortlichen in Deutschland dürfen nicht wider besseres Wissen einmal mehr ein menschenverachtendes Regime hinter pseudodemokratischer Fassade unterstützen und stabilisieren.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung.
Zum Tagesordnungspunkt 3 a schlägt der Ältestenrat vor, den 2. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung - er liegt Ihnen auf Drucksache 12/6330 vor - an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Widerspruch erhebt sich nicht. Das ist so beschlossen.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 3 b, zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu Menschenrechtsverletzungen an Frauen und zur Weltkonferenz über Menschenrechte. Dies liegt Ihnén auf den Drucksachen 12/4953 und 12/6392 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD abzulehnen. Wer dieser Ausschußempfehlung folgen will, den möchte ich bitten, die Hand zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 c, zur Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD zu einem Appell an die Regierung im Iran. Dieser Appell liegt Ihnen auf der Drucksache 12/5431 vor.
Ich muß darauf hinweisen, daß in der Drucksache 12/5431 auf Seite 1 unter dem Buchstaben B in der zweiten Zeile fälschlicherweise „Irak" gedruckt worden ist. Das muß „Iran" heißen.
Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/2119 unverändert anzunehmen. Wer dieser Beschlußempfehlung folgen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann darf ich feststellen, daß dies einstimmig erfolgt ist.
Wir kommen zu den Zusatzpunkten 1 und 2. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 12/6383 und 12/6384 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Sie sind damit einverstanden.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 8 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes
- Drucksache 12/6218 - ({0})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1})
- Drucksache 12/6395 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Scheffler Hans Raidel
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/6398 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Klaus Rose Dr. Wolfgang Weng ({3}) Thea Bock
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Achim Großmann, Siegfried Scheffler, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Novellierung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes
- Drucksachen 12/5797, 12/6395 Berichterstattung:
Abgeordnete Siegfried Scheffler Hans Raidel
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Siegfried Scheffler das Wort. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wohngeld wird beschnitten", „Koalition lehnt generelle Verlängerung ab", „Die Bundesländer im Westteil Deutschlands sind bei der Verbesserung des Wohngelds außen vor" : so der Tenor der Kommentare der Tagespresse zu dem Kabinettsbeschluß vom November hinsichtlich der Sonderwohngeldverlängerung Ost. Das versucht die Regierung auch noch als Erfolg der Bundesbauministerin zu verkaufen.
Mit mir haben Millionen weitere Bürger auch andere Kommentare zu diesem Thema gelesen: „Das Wohnen hat dem Essen und Trinken bei den Haushaltskosten den Rang abgelaufen", „Dramatischer Zulauf bei den Berliner Wärmestuben", „Mietbelastung im Osten beängstigend hoch -12 000 Obdachlose allein in Berlin".
Da hilft es auch nicht, wenn Frau Schwaetzer zusammen mit der Bundesfamilienministerin am gestrigen Tag einen eindringlichen Appell zum Kampf gegen Obdachlosigkeit initiiert hat. Denn Appelle allein helfen nicht. Die Ursachen müssen bekämpft werden, um neben den schon jetzt Betroffenen die Zahl zusätzlicher Leidtragender nicht noch weiter ansteigen zu lassen.
Damit sich genau diese Situation insbesondere bei den Beziehern geringer Einkommen, den Alleinerziehenden sowie den Rentnerinnen und Rentnern in den alten und den neuen Bundesländern nicht noch weiter verschärft, hat die SPD-Bundestagsfraktion im September die Novellierung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht. Auch der Bundesrat will entsprechend der Initiative des Landes Brandenburg die Vorschriften des Wohngeldsondergesetzes über den bisherigen Zeitraum hinaus verlängern.
Diese uneingeschränkte materielle Verlängerung bis 1996 lehnt die Bundesregierung jedoch ab. Obwohl sie sich letztendlich unter dem Druck der vorliegenden Anträge von Bundesrat und SPD im Bundestag gezwungen sah, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen, befürwortet sie nur das Modifizieren der geltenden Gesetzeslage.
Das, was in der gestrigen Ausschußsitzung durch die Mehrheit der Koalitionsparteien schließlich durchgedrückt wurde, bedeutet für viele Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer eine drastische Verschlechterung. Denn über den ursprünglich festgelegten Termin hinaus soll lediglich der Pauschalbetrag gezahlt werden. Die Heiz- und Warmwasserkostenzuschläge sollen zum gleichen Zeitpunkt auslaufen. Die speziellen Familienfreibeträge sollen sogar schon ein halbes Jahr früher wegfallen.
Nun ist Ihnen etwas ganz Tolles eingefallen. Sie verkünden großartig: Wohngeld-Ost wird verlängert. Aber Sie schröpfen gleichzeitig Millionen von Wohngeldbeziehern durch Anpassung der Einkommensberechnung an die in Westdeutschland geltenden Bestimmungen im Wohngeldgesetz und durch den weitestgehenden Wegfall der Bezuschussung der Heizungs- und Warmwasserkosten.
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Meine Damen und Herren von der Koalition, da diese Konstruktion materiell zu dem gleichen Ergebnis führen würde, wie wenn die Geltungsdauer des Gesetzes nicht verlängert wird, bleibt es wie immer Aufgabe der Opposition, den Leuten schon vor dem Wahljahr zu sagen, was die Koalition eigentlich möchte. Sagen Sie ehrlich, daß Sie keinen sozial kontrollierten Übergang in das System der Vergleichsmiete wollen! So weiß jeder, woran er mit Ihnen ist.
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Dazu gehörte übrigens auch eine Altschuldenlösung mit wohnungspolitischem Sachverstand und keine Knebelung der kommunalen Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften durch Progressiv- und Zwangsprivatisierung.
Wir müssen die politischen Rahmenbedingungen dergestalt setzen, daß die Länder, Städte und Kommunen mit ihren Wohnungsgesellschaften und -genossenschaften in einem fairen Miteinander und nicht einem Gegeneinander von wohnungswirtschaftlicher Notwendigkeit und der Beachtung berechtigter Interessen und Forderungen der Mieter umgehen können.
Der Antrag meiner Fraktion sowie der des Bundesrats berücksichtigt deshalb die durch den Einigungsvertrag geforderte Beachtung der bisherigen Einkommens- und Mietenentwicklungen, wovon auch die nach wie vor hohe Zahl an Anträgen für Sonderwohngeld spricht.
Dabei ist der Antrag der SPD der weitestgehende und zugleich der einzige von allen vorliegenden, der auch die negative Entwicklung gestiegener Mieten im Westteil unseres Landes überprüfen und entspreSiegfried Scheffler
chend den Erfordernissen anpassen wird. Denn auch für die Altbundesländer gilt: Immer größere Gruppen von Normalverdienern oder des sogenannten Mittelstandes sind nicht mehr in der Lage, bei den Mietsteigerungen mitzuhalten. So können die vielzitierten Erzieher, Sozialarbeiter, Polizeibeamten und mittleren Angestellten ihre Wohnung in den Ballungsräumen ohne die von uns vorgeschlagene Novellierung nicht mehr finanzieren. 50 % der Empfängerhaushalte decken einen Teil der Wohnkosten nicht mehr durch Wohngeldzahlung ab. So hat also auch dieser wie schon so viele andere Kabinettsbeschlüsse zum Thema Wohnen und Mieten nicht nur einen, sondern gleich mehrere Pferdefüße.
Lassen Sie mich zunächst auf das von Ihnen in der Koalition vorgetragene Argument der Einkommenserhöhung in den neuen Bundesländern eingehen.
Natürlich verkenne ich nicht, daß für einen relativ größeren Teil der Bevölkerung die Einkommen gestiegen sind. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß in Ostdeutschland nicht nur die Einkommen gestiegen, sondern auch die Einkommensunterschiede erheblich größer geworden sind.
Oft bleibt dabei folgendes unerwähnt: Da die Einkommen niedriger sind als im Westteil, bleibt den Ostdeutschen nach wie vor real weniger im Portemonnaie.
Aber um auch hier wieder die Gleichheit aus dem Einigungsvertrag anzusprechen: Die Erwerbsbeteiligung in Ost und West ist zurückgegangen. Wer die Einschätzung der Wirtschaftsfachleute und die der zurückliegenden Haushaltsdebatte zum Etat 1994 richtig analysiert hat, wird mitbekommen haben, daß die Erwerbsbeteiligung im kommenden Jahr noch weiter zurückgehen wird. Damit nimmt auch immer mehr jene Bevölkerungsgruppe zu, die schon jetzt am Rand der Armutsgrenze lebt. So gesehen, ist Ihre ständige Berufung auf statistische Durchschnittswerte eine Rasenmähermethode, die als Bewertungsgrundlage nicht herangezogen werden darf.
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Für den Osten Deutschlands belegen die Zahlen der Studie des Instituts für Stadtforschung genau das, was ich angesprochen habe, nämlich die Auffälligkeit, daß u. a. Rentner, Erwerbslose und Geringverdienende im Ostteil unseres Landes eine, bezogen auf das Gesamtmietmittel, wesentlich höhere Miete zu tragen haben.
„Aber ob West oder Ost, wer ein kleines Einkommen hat, ist im Westen genauso schlecht dran wie im Osten, und die Besserverdienenden interessiert es nicht." So schrieb es kürzlich ein Leser an eine Berliner Zeitung. Diese Besserverdienenden sind wir und ich. Ich stelle entsetzt fest, daß der Schreiber dieser Zeilen nicht unrecht hatte, da Sie von der Regierungskoalition immer wieder von Durchschnittswerten auf Grund von statistischen Untersuchungen sprechen.
Sie müßten an sich erkennen: Mehr Niedrigeinkommen auf der einen Seite und mehr höhere Einkommen auf der anderen Seite gleichen sich im statistischen Mittel immer wieder aus. So kommen zwar Haushalte
mit einem Nettoeinkommen von mehr als 3 000 DM häufiger vor, aber auf der anderen Seite ist der Anteil der Haushalte mit einem Einkommen von weniger als 1 500 DM ungleich höher, und dies hauptsächlich wegen des hohen Anteils von Kleinhaushalten.
Gleichzeitig reicht bei immer mehr Haushalten das Einkommen auch mit Wohngeld kaum mehr aus, um die Wohnung zu bezahlen. Der Sozialstaat versagt, wenn das Wohngeld nicht einmal mehr für die Gering-und Normalverdienenden eine tragbare Mietbelastung sichert.
In den neuen Bundesländern sind nach wie vor 67 % Bezieher von niedrigen Einkommen. Von diesen sind wiederum 50 % Niedrigstverdiener.
Wenn wir gegenwärtig davon ausgehen können, daß das Familien- bzw. Haushaltseinkommen 81 % des Nettoeinkommens vom Westniveau beträgt, so verschiebt sich dieses Verhältnis beim Einkommen pro Kopf drastisch nach unten auf 65 %, bei Rentnerhaushalten sogar auf unter 50 %, nämlich auf 49 %. Die Angleichung wird eher langsamer als schneller vollzogen werden können.
Aber statt vor diesem Hintergrund, wie vom Bundesrat vorgeschlagen, die Regelung generell zu verlängern und damit vor allem der Einkommenssituation im Osten Rechnung zu tragen, haben sich die Koalition und die Bundesregierung eine Minimallösung einfallen lassen, die hier einen entsprechenden Haken hat: Sie will die durch die Verlängerung entstehenden Kosten von ca. 110 Millionen DM sowohl durch eine Anpassung der Einkommensberechnung an die in den Altbundesländern geltenden Bestimmungen als auch durch die Verringerung der Bezuschussung der Heizungs- und Warmwasserkosten einsparen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsparteien, diese Finanzakrobatik könnte direkt von Herrn Waigel aus der Haushaltsdebatte stammen.
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Sie kann aber doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Mehrkosten dann den bisherigen Wohngeldbeziehern aus der Tasche gezogen werden. Wer sind diese Wohngeldbezieher?: Die sozial Schwächsten, die unseres Schutzes am meisten bedürfen.
Es war interessant, Herr Hitschler, in den Ausschußsitzungen am gestrigen Tag zu erleben, wie Sie sich mehrmals hinter die Aussagen von Instituten gestellt und nur die Ihnen genehmen Passagen vorgetragen haben.
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Sie sollten auch einmal die Prognose des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung zu den gravierenden Folgen Ihrer Wohnungs- und Mietenpolitik beachten. Dieses Institut konstatiert nämlich, daß der teilweise rasante Mietanstieg der letzten Jahre zukünftig weiter dadurch angetrieben wird, daß trotz
wachsenden Wohnbedarfs nicht ausreichend Wohnungen zur Verfügung gestellt werden.
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Im übrigen widerspreche ich pauschalen Aussagen von Studien, daß nur infolge der günstigen Einkommensentwicklung die Zahl der Wohngeldempfänger zurückgegangen ist. Sie alle wissen selber, daß die Zahl der Wohngeldempfänger in den neuen Bundesländern geringer ist als die der eigentlich Wohngeldberechtigten, weil entsprechende Anträge nach wie vor nicht gestellt werden.
Ich brauche auch keine Studie, um festzustellen, wie sich die Einkommensverhältnisse in den neuen Ländern und im Ostteil Berlins darstellen. Eine der negativen Auswirkungen der steigenden Zahl der Mietschuldner ist doch, daß die Investitionsfähigkeit der Unternehmen immer drastischer eingeschränkt wird. Der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft schätzt, daß ca. 200 Millionen Zahlungsausfälle den Wohnungsgesellschaften allein für dieses Jahr nicht mehr zur Verfügung stehen. In 27 000 Fällen wurden Mietverträge im vergangenen Jahr gekündigt; 1994 sind ähnliche Zahlen zu befürchten. Deshalb auch die Forderung des GDW, daß die Geltungsdauer des Wohngeldsondergesetzes, so wie es der Bundesrat fordert, verlängert wird.
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Dabei stimmt der Gesamtverband dem Gesetzentwurf der SPD ausdrücklich zu.
Im Rückblick auf die gestrige Ausschußsitzung müßte bei den von den Koalitionsparteien im Ausschuß vorgetragenen Argumenten die Eigentumspartei, so hat es Herr Solms vorgetragen, das Wohngeldsondergesetz ablehnen. Deshalb mein Appell und meine Bitte an die CDU/CSU in der Weihnachtszeit: Erinnern Sie sich an Ihr -
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie Ihre Redezeit deutlich überzogen haben und auf Kosten Ihres Nachfolgers reden.
Ich komme zum Schluß.
Erinnern Sie sich deshalb an Ihr „C" wie „christlich", beweisen Sie eigenes Profil, und lassen Sie sich nicht immer die Wohnungs- und Mietenpolitik von der Lobbypartei der Wohnungseigentümer soufflieren! Oder soll Ihre Weihnachtsbotschaft lauten: „Das soziale Netz ist löchriger geworden. Mit uns steigt die Zahl der Obdachlosen"?
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Zeigt sich hierin nicht vielleicht ein falsch verstandenes Christentum, auch wenn Christus als Obdachloser in einer Krippe geboren wurde?
Stimmen Sie unserem Antrag zu!
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Hans Raidel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Scheffler, einige Passagen waren durchaus bedenkenswert; aber was Sie zum Schluß gesagt haben, hat leider Ihre guten Ansätze völlig vernichtet. Vieles, was Sie hier gesagt haben, klingt furchtbar scheinheilig.
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Zur sozialverträglichen Gestaltung der Mietsituation in den fünf neuen Bundesländern wurde das Wohngeldsondergesetz eingeführt. Dieses Gesetz zielte darauf ab, die Wohnkostenbelastung der Wohngeldempfänger in den neuen Ländern sozialverträglich zu gestalten. Ich glaube, es wurde erreicht, eine wirtschaftliche Überforderung schwächerer Einkommensgruppen durch die Erhöhung der Wohnkosten zu verhindern und damit die schrittweise Einführung des Vergleichsmietensystems sozial abzufedern.
Herr Abgeordneter Raidel, Herr Abgeordneter Hitschler möchte eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gem.
Herr Kollege Raidel, sind Sie bereit, dem Herrn Kollegen Scheffler Nachhilfeunterricht über die Frage zu erteilen, wer die Wohneigentümer in den neuen Bundesländern sind, deren Interessen zu vertreten er uns als Lobbypartei vorgeworfen hat?
Herr Abgeordneter, ich lasse die Frage nicht zu. Es ist eine Dreiecksfrage, und Sie wissen genauso gut wie ich, daß das unzulässig ist. Deswegen bitte ich Sie, Herr Abgeordneter, fortzufahren.
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Da die Frage nicht zugelassen worden ist, kann ich auch nicht darauf eingehen, aber ich nehme es gern zur Kenntnis. Wir setzen uns mal zusammen; vielleicht sind dann einige Begriffsverwirrungen leichter auszuräumen.
Das Sonderwohngeld hat zusammen mit der durchaus günstigen Einkommensentwicklung dazu geführt, daß die Mietenneuordnung nach der ersten Mietenregelung zum 1. Oktober 1991 in der Regel von den Mietern gut verkraftet werden konnte. Nach Wohngeldzahlungen ergab sich für alle Haushalte eine Warmmietenbelastung am verfügbaren Einkommen von nur - ich betone das „nur" - 17,2 %.
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Da die Mietengestaltung zum Erhalt und zur Verbesserung des in großen Teilen schlechten WohHans Raidel
nungsbestandes nicht ausreichte, wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1993 eine weitere Anhebung der Grundmieten durchgeführt. Die Warmrnietenbelastung bei Wohngeldempfängern beträgt jetzt in Ostdeutschland ca. 19,9 %, in Westdeutschland - da höre man bitte mal genau hin - ca. 30 % und mehr.
Nach diesem zweiten Mietenschritt kann mit Recht behauptet werden, daß auch diese Mieterhöhung in den neuen Bundesländern gut verkraftet werden konnte. Das belegt auch eine repräsentative Befragung der Mieter durch das Institut für Stadtforschung.
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Aber auch im persönlichen Gespräch vor Ort kann festgestellt werden, daß die meisten Mieter mit ihrer Situation zufrieden sind und beispielsweise die Mieterhöhungen für gerechtfertigt halten.
Daß es aufwärts geht, wird auch dadurch bewiesen, daß rund 20 % der Mieter umziehen wollen, um eine größere und komfortablere Wohnung zu erhalten. Sie sind bereit, dafür im Durchschnitt ein Drittel mehr Miete zu bezahlen. Wichtig für die Marktwirtschaft ist auch, daß 35 % der umzugswilligen Bürger in den neuen Bundesländern den Erwerb von Wohneigentum anstreben.
Herr Abgeordneter Raidel, der Abgeordnete Dr. Seifert hat den Wunsch, eine Frage von Ihnen beantwortet zu bekommen.
Vielen Dank. Nicht.
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Wer solche Pläne hegt, meine Damen und Herren, schätzt seine persönliche Situation für die Zukunft positiv ein.
Alles in allem kann also festgestellt werden, daß das Wohngeldsondergesetz und die eingeführten Mietschritte sich bewährt haben und daß wir uns auf einem guten Weg befinden, die Wohnungs- und Mietsituation in den neuen Bundesländern Schritt für Schritt zu verbessern. Dabei muß noch einmal betont werden, daß durch unsere Maßnahmen verhindert werden konnte, daß schwächere Einkommensgruppen durch überproportional angestiegene Wohnkosten wirtschaftlich überfordert wurden.
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Das Wohngeldsondergesetz läuft nunmehr aus. Es ist also neu zu überlegen, wie die Gesamtsituation ist und unserem sozialen Anliegen weiterhin Rechnung getragen werden kann. Deshalb ist sowohl der Gesetzentwurf des Bundesrates als auch der SPD-Antrag vom Grundsatz her zu begrüßen. Da beide Anträge aber unwahrscheinlich teuer sind - allein der Bundesratsantrag soll Kosten von über 910 Millionen DM verursachen -, kann diesen Anträgen nach
meiner Auffassung nicht zugestimmt werden. Alle wissen: Eisernes Sparen ist derzeit angesagt.
Außerdem muß darauf geachtet werden, daß durch die Bindung zusätzlicher Haushaltsmittel des Bundes die Chancengleichheit der Wohngeldempfänger in den alten und den neuen Bundesländern nicht beeinträchtigt wird; denn es ist eine Tatsache, daß derzeit durch das geltende Wohngeldsondergesetz Haushalte in den neuen Ländern bei gleichem Einkommen und gleicher Miete ein höheres Wohngeld als vergleichbare Haushalte in den alten Ländern erhalten. Dies führt in den neuen Bundesländern zu einer im Durchschnitt niedrigeren Mietbelastungsquote der Wohngeldempfänger.
Unter diesen Voraussetzungen muß bei einer Neuregelung selbstverständlich darauf geachtet werden, daß die Geltungsdauer des Wohngeldsondergesetzes nur für eine begrenzte Übergangszeit in Betracht kommen kann. Ich sehe das aber durchaus positiv, denn gleichzeitig hat diese Terminsetzung natürlich den Vorteil, daß sich der Gesetzgeber selbst bindet, um in angemessener Zeit die Verhältnisse neu beurteilen zu müssen und dann zu neuen Regelungen zu kommen.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der F.D.P.-Bundestagsfraktion verfolgt desweiteren das Ziel, eine wirtschaftliche Überforderung schwächerer Einkommensgruppen durch die Erhöhung der Wohnkosten zu verhindern. Dabei wird auch dem Umstand Rechnung getragen, daß eine Angleichung der unterschiedlichen Einkommensverhältnisse in den alten und den neuen Ländern noch nicht erreicht ist.
Nach diesem Entwurf soll das Wohngeldsondergesetz für alle im Jahre 1994 und nicht nur für die bis zum 1. Februar 1994 gestellten Anträge gelten, soweit auch der Bewilligungszeitraum im Jahr 1994 beginnt. Es wird dadurch in Übereinstimmung mit dem Bundesratsentwurf verhindert, daß Wohngeldberechtigte, die im Laufe des Jahres 1994 einen Wohngeldantrag stellen, bereits nach dem Wohngeldgesetz Wohngeld erhalten. Die Bewilligungszeiträume für die Bewilligung des günstigeren Sonderwohngeldes können bis zum 30. Juni 1995 laufen. Damit kommen Wohngeldempfänger auch so lange noch in den Genuß des Zuschlages für Heizkosten und Warmwasser.
Ich darf nochmals betonen: Unser Entwurf vernachlässigt nicht die unterschiedlichen Einkommensverhältnisse in den neuen und den alten Ländern. Die künftige Anrechnung von bestimmten Einnahmen, die bisher unberücksichtigt blieben, schafft lediglich insoweit eine Gleichbehandlung gleicher Einkommensverhältnisse. Sie dient damit der Harmonisierung der Einkommensermittlung nach dem Wohngeldsondergesetz und dem Wohngeldgesetz, und gibt den Wohngeldstellen die Möglichkeit, sich schrittweise in das einheitliche Wohngeldrecht einzuarbeiten.
Der Bundesratsentwurf läßt außerdem außer acht, daß auch das Tabellenwohngeld nach dem Wohngeldgesetz die individuelle Einkommenssituation der Haushalte in der jeweiligen Miethöhe bei der Berechnung des Wohngeldanspruchs berücksichtigt.
Lassen Sie mich bitte noch einmal etwas zur Finanzierung feststellen: Schon von den finanziellen Auswirkungen her passen die Anträge des Bundesrates und der SPD nicht in die derzeitige Landschaft. Ich habe bereits festgestellt, daß der Bundesratsantrag rund 910 Millionen DM kosten würde. Der SPD-Antrag scheint noch kostenträchtiger zu sein. Es ist auf der einen Seite unverständlich, meine Damen und Herren, daß die Regierung, die Koalition, ständig kritisiert wird und zum Sparen ermahnt wird, gleichzeitig aber kostenträchtige Anträge gestellt werden, ohne für eine plausible Gegenfinanzierung zu sorgen. Ich bin auch ganz sicher, daß der Bürger solche Spiele leicht durchschaut und ein solches Gebaren nicht gerade als seriös empfindet.
Unser Entwurf sieht vor, daß durch die Angleichung der Einkommensermittlung auch die Mehrkosten, die die Verlängerung der günstigeren Wohngeldregelungen in den neuen Ländern verursacht, für Bund und Länder finanziell tragbar sind. Deswegen meine ich, daß unser Antrag dem Gebot der Stunde entspricht. Er trägt der besonderen Einkommenssituation im Osten Rechnung und berücksichtigt die Haushaltslage von Bund und Ländern, und - was für mich eine ganz wichtige Rolle spielt - er berücksichtigt die Verhältnisse und Befindlichkeiten der Menschen, um die wir uns zu kümmern haben.
Vielen Dank.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Walter Hitschler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 hat sich die damalige DDR-Regierung in Art. 26 verpflichtet, im Bereich des Wohnungswesens die Defizite schrittweise unter Berücksichtigung der allgemeinen Einkommensentwicklung abzubauen. Diese Linie des Übergangs der Wohnungswirtschaft in eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung setzte sich im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 fort und führte zur Magdeburger Erklärung der Wohnungsbauminister vom 27. Juni 1992, in welcher der Bund und die Vertreter der neuen Länder die weiteren Schritte in der Mietenpolitik gemeinsam abgestimmt haben. Stets wurde die Mietenentwicklung an die Einkommensentwicklung gekoppelt, so daß von vornherein klar war, daß für eine bestimmte Übergangszeit die Anpassung der Mieten an die Einkommensentwicklung über eine Sonderregelung beim Wohngeld sozial verträglich abgefedert werden mußte.
Die Mieterhöhung durch die Erste Grundmietenverordnung vom 1. Oktober 1991 wurde zeitgleich mit dem Wohngeldsondergesetz Ost in Kraft gesetzt. Die Zweite Grundmietenverordnung vom 1. Januar 1993 wurde wiederum mit zusätzlichen Verbesserungen beim Wohngeld begleitet.
Der gerade kürzlich vom Institut für Stadtforschung vorgelegte Bericht über die Auswirkungen der in zwei Schritten erfolgten Mietanhebungen sowie der Absicherung durch das Sonderwohngeld unterstreicht, daß sich die Intentionen des Gesetzgebers in der tatsächlichen Entwicklung voll erfüllt haben. Die verfügbaren Einkommen der Mieter haben sich vom März 1992 bis Juli 1993 preisbereinigt um 17 % erhöht. Die Warmmieten, die 1993 bei durchschnittlich 7,50 DM pro Quadratmeter Wohnfläche liegen, werden durch das Sonderwohngeld auf eine Wohnkostenbelastung von durchschnittlich 18,6 % des Einkommens abgesenkt. 85 % aller Warmmieten liegen unter einem Quadratmeterpreis von 9 DM, rund 50 % aller Warmmieten unter 7 DM, Alt- und Neubau zusammengerechnet. Geht man nur von den Grundmieten aus, liegen 88 % aller Grundmieten unter dem Betrag von 5 DM pro Quadratmeter Grundfläche.
Daran ist zu erkennen, daß die kalten und warmen Betriebskosten in den neuen Ländern eine außerordentliche Bedeutung haben. Im Altbau mit und ohne Sammelheizung macht die Grundmiete, also das, was der Vermieter tatsächlich erhält, weniger als die Hälfte dessen aus, was vom Mieter an Gesamtmiete zu zahlen ist.
Dies macht deutlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß sich der Protest gegen Mieterhöhungen, der sich im übrigen im Rahmen hält, an den falschen Adressaten wendet. Nicht die Vermieter sind die Hauptverursacher der gestiegenen Mieten; die kommunalen Ver- und Entsorgungsunternehmen vielmehr bürden dem Mieter stattliche Kosten auf.
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Der größte Teil der Mieter ist sich darüber im klaren, daß Mieterhöhungen erforderlich waren. Sie akzeptieren sie auch in dem Wissen, daß ohne Mietanpassungen Instandsetzungen und Modernisierungen im Wohnungsbau nicht möglich sind. Daß diese Instandsetzungen angesichts der katastrophalen Hinterlassenschaft des sozialistischen Systems dringend erforderlich sind, dafür hat jeder Verständnis. In 30 % aller Wohnungen wurden bereits solche Maßnahmen durchgeführt.
Die Entwicklung von Mieten und Einkommen stellt sich in der Realität wesentlich günstiger dar, als dies in der Öffentlichkeit vermittelt wird. Aber es gibt leider allzu viele, deren Interesse nur auf die Verbreitung von schlechten Nachrichten gerichtet ist.
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Eine gute Nachricht wiederum ist heute zu vermelden, wenn der Deutsche Bundestag dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Wohngeldsondergesetzes zustimmt. Damit werden die Bewilligungszeiträume für das Sonderwohngeld bis maximal 30. Juni 1995 ausgeweitet. Anträge auf Sonderwohngeld, die bis zum 1. Februar 1994 gestellt werden, werden künftig noch berücksichtigt.
Eine Verlängerung darüber hinaus aber kommt für uns deshalb nicht in Betracht, weil dies im Verhältnis zu den Wohngeldempfängern in den alten Ländern
aus Gleichberechtigungsgründen nicht zu vertreten wäre.
Wir weisen darauf hin, daß dieser Zeitpunkt mit dem des Übergangs des Mietensystems in den neuen Ländern von der bisher verordneten Miete zum Vergleichsmietensystem übereinstimmt, so daß die Verantwortung für die Gestaltung der Mieten nach der Magdeburger Einigung der neuen Länder zum 1. Juli 1995 in die Verantwortung der Mietvertragsparteien selbst übergeht.
Die Anträge der Opposition und des Bundesrates sind daher abzulehnen. Die Bundesländer kündigen mit ihrem Antrag einseitig und aus wohl allzu durchsichtigen Gründen eine Vereinbarung auf, die sie selbst initiiert haben. Die Opposition beweist erneut, daß sie nicht müde wird, wenn es darum geht, mehr Geld auszugeben und gleichzeitig die Schuldenentwicklung zu beklagen.
Es darf zur Kenntnis genommen werden, daß an der positiven Entwicklung der Einkommen in den neuen Ländern auch Rentner und Arbeitslose beteiligt sind. Wer Einkommensentwicklung, Preisentwicklung, Mieten- und Wohngeldentwicklung zusammen betrachtet, stellt fest, daß es den Bürgern in den neuen Ländern von Jahr zu Jahr bessergeht.
Wir hoffen, daß sich diese positive Entwicklung fortsetzen wird; die aktuellen Konjunkturindikatoren lassen dies erwarten. Die Weichen, die in der Mieten- und Wohngeldpolitik gestellt wurden, leisten einen entscheidenden Beitrag zu dieser Aufwärtsentwicklung; denn sie tragen dazu bei, daß durch Instandsetzung, Modernisierung und Neubau Beschäftigung und Einkommen geschaffen werden, die Voraussetzungen für den von uns gewollten Aufschwung Ost.
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Wer aber wie die SPD nicht den Mut hat, den Bürgern auch unpopuläre und mit Lasten verbundene Entscheidungen zuzumuten, der nimmt Stagnation in Kauf, der schätzt Gegenwartskonsum höher ein als Zukunftsinvestitionen, dem ist im Prinzip an einer besseren Zukunft nicht gelegen.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ilja Seifert das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beim vorangegangenen Tagesordnungspunkt sprachen wir hier in diesem Hohen Hause über die weltweite Einhaltung bzw. Verletzung von Menschenrechten ganz allgemein. Jetzt geht es ganz konkret um das Menschenrecht auf Wohnung, auf bezahlbare Wohnung.
Eigentlich war alles klar: 1992 wurde durch die Regierungen von Bund und Ländern mit der Zweiten Grundmietenverordnung alles Erforderliche beschlossen, urn im Wahljahr 1994 keine neue Mietendiskussion heraufzubeschwören.
Stolz verkündete die Bauministerin, daß sich nach dem 1. Januar 1994 bis Mitte 1995 die Mieten im
Osten nicht mehr erhöhen werden, zumindest nicht durch Regierungserlaß. Man kann das auch anders formulieren: Den nächsten Schlag, liebe Mieterinnen und Mieter in Ostdeutschland, gibt es im Sommer 1995, nach den Wahlen - Herr Hitschler, Sie haben ja gerade darauf hingewiesen -, und diesmal in Form der Vergleichsmiete, wohlgemerkt. Dabei geht es nicht um vergleichbare Sozialmieten, sondern um den Vergleich auf dem sogenannten frei finanzierten Wohnungsmarkt; denn bis heute wissen nur sehr wenige Menschen in Ostdeutschland, daß es überhaupt nicht um Sozialwohnungen geht, in denen wir wohnen. Das Vergleichsmietensystem heißt: bis zu 30 % Erhöhung in drei Jahren. Das ist dann aber nicht mehr Verantwortung der Politik, nein, dafür sind dann die Vermieter verantwortlich.
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- Ach, Herr Hitschler, erkundigen Sie sich ruhig mal genauer.
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Nicht berücksichtigt wird bei Frau Schwaetzers Verkündigungen, daß die Mieten auch zwischendurch weiter steigen können und steigen.
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Herr Staatssekretär Günther, Sie räumten ja in der Ausschußsitzung am 20. Oktober selbst ein, daß die durchschnittliche Kaltmiete in den neuen Ländern bei 4 DM, nach der Durchführung von Modernisierungen sogar bei 8 bis 9 DM pro Quadratmeter liegt.
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Da sich der Herr Raidel vor Zwischenfragen von mir fürchtet - sonst hätten Sie sie ja zugelassen - ({4})
- Herr Raidel, ich weiß ja, daß Sie nach den letzten Wahlen ein bißchen schockiert sind, aber wir z. B. schämen uns nicht, mit kleineren Parteien wie der CDU zu reden.
Die Erfolgsbilanzen der Gutsituierten, Herr Raidel, sind nicht Gegenstand dieser Debatte hier. Die Politik muß denen helfen, die sich nicht selbst helfen können. Die Gutsituierten brauchen unsere Hilfe nicht.
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Die ca. 2,2 Millionen Wohngeldanträge sind mit dem Auslaufen des Wohngeldsondergesetzes 1994 verwaltungstechnisch in keiner Weise zu bewältigen. Aber monatelange Verzögerungen bei der Auszahlung des dringend benötigten Wohngeldes kann sich wohl keiner im Wahljahr leisten.
Mit dem Antrag des Bundesrates und in bezeichnend durchsichtiger Weise mit dem Antrag der Koalition soll dieses Desaster auf die Zeit nach dem Wahlmarathon verschoben werden. Die Mieterhöhung, welche auf die Menschen in Ostdeutschland mit der Einführung der Vergleichsmiete für freifinanzierte
Wohnungen 1995 zukommt, ist damit in keiner Weise auch nur annähernd sozial abgefedert. Ob es mit der jetzigen Regierung gelingt, eine einheitliche Novellierung des Wohngeldrechtes für Ost und West auf hohem Niveau noch 1994 zu verabschieden, bleibt nach meinen bisherigen Erfahrungen äußerst fraglich. Wichtig wäre es. Allerdings, wie gesagt, die Gefahr, daß es nicht geschieht, ist sehr groß.
Die PDS jedenfalls macht nicht mit, wenn den ostdeutschen Mieterinnen und Mietern Sand in die Augen gestreut werden soll, und ich mache nicht mit, wenn Mieterinnen und Mieter in Ost- und Westdeutschland gegeneinander ausgespielt werden sollen, indem uns aus rein wahltaktischen Gründen ein gesamtdeutsches Wohngeldrecht vorenthalten bzw. seine Schaffung verschleppt wird, und zwar ein Wohngeldrecht, das sich an den günstigeren Bedingungen orientieren würde und nicht, wie Sie, Herr Raidel, sozusagen im voraus ankündigen, an noch schlechteren, weil angeblich kein Geld da wäre.
Wohnen für alle muß bezahlbar bleiben bzw. erst einmal wieder bezahlbar werden. Darum geht es. Deshalb knüpfe ich nochmals an die vorangegangene Menschenrechtsdebatte an. Hier geht es nicht um irgend etwas, hier geht es um Menschenrecht, nämlich um das Recht auf Wohnen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und für die lebhafte Debatte zwischendurch.
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Meine Damen und Herren, ersparen Sie sich das Nachspiel; denn ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Walter Schöler das Wort.
Ich hoffe, Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir sind alle etwas bibelfest, auch Herr Dr. Kansy. Wir werden das sehen.
Ich hoffe, Herr Präsident, Sie rechnen mir nicht so viel von der Nachspielzeit des Kollegen Scheffler an. Vielleicht sind Sie etwas großzügig. Vor einem Jahr hatte ich die Ehre, von Ihnen hier begrüßt zu werden. Vielleicht bekomme ich heute deshalb einen Geburtstagsbonus von Ihnen.
Das wollen wir uns ja mal überlegen; ich bin ja großzügig.
Das ist nett von Ihnen.
Aber ich bitte auch zu berücksichtigen, daß wir die Zeit schon in der Größenordnung von insgesamt 20 Minuten überschritten haben. Das trifft immer die Kolleginnen und Kollegen, die bei den Tagesordnungspunkten am Schluß dran sind. - Ich bitte Sie, fortzufahren.
Außerdem muß ich mich bei dem Staatssekretär entschuldigen. Vorauseilend hatte ich Ihnen schon das Wort gegeben. Das bleibt so. An sich hatte der Parlamentarische Staatssekretär Joachim Günther das Wort; aber ich hoffe, daß er mir das nicht nachträgt.
Vielleicht kann ich dann etwas von seiner Zeit verwenden.
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Gerade in einer Zeit, in der es nicht überall genügend Wohnungen gibt, ist die soziale Absicherung des Wohnens durch das Wohngeld besonders wichtig. Meine Damen und Herren, es hilft allen Haushalten, deren Einkommen nicht ausreicht, sich selbst eine angemessene Wohnung zu besorgen. Mit diesem Satz wirbt die Bundesregierung in der Bevölkerung für ihre Politik, nachzulesen in zahlreichen Broschüren.
Sie wissen selber, meine Damen und Herren von der Koalition, Sie werden dem gesetzlichen Auftrag zur Sicherung des Wohnens durch ein angemessenes Wohngeld nicht gerecht. Die von Ihnen gestern im Bauausschuß mehrheitlich empfohlene Beschlußfassung ist völlig unzulänglich. Sie ignoriert die tatsächliche Entwicklung, bleibt deshalb Flickwerk und reiht sich ein in das Paket völlig unzureichender Maßnahmen, das uns im Bereich der Wohnbauförderung - in den letzten Monaten auch in der Wohnungspolitik - von Ihnen präsentiert wurde. Ihre Wohnungspolitik kommt mir manchmal vor wie ein Auto mit vier platten Reifen. Sie gehen jetzt hin und flicken einen dieser Reifen notdürftig. Sie wissen, die Luft geht gleich wieder weg, aber noch schnell zum TÜV. Ich kann Ihnen nur sagen, so ein Flickwerk gehört aus dem Verkehr gezogen.
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Meine Damen und Herren, wie sieht denn die Wirklichkeit im Bundesgebiet aus? Immer mehr Menschen brauchen Wohngeld, weil die Mieten rasant steigen. Bezahlbare Wohnungen fehlen, und von einem Wohnungsmarkt für Bezieher von mittleren und unteren Einkommen zu sprechen ist genauso falsch, wie von einem Markt im Bereich der Sozialwohnungen zu reden. Ein Markt setzt nämlich voraus, daß ein Angebot vorhanden ist. Ihre Politik der letzten elf Jahre hat dazu geführt, daß dieser Markt trotz eines erheblichen Bedarfs an Wohnungen zu bezahlbaren Mieten für durchschnittliche und untere Einkommensschichten leergefegt ist. Fehlendes Angebot treibt dann wieder die Mietpreise in die Höhe, und Ihre Maßnahmen zur Verhinderung dieses Mietanstieges greifen einfach nicht. Gleichzeitig reicht dann bei immer mehr Haushalten das Einkommen auch mit Wohngeld kaum mehr aus, um die Wohnung zu bezahlen. Der Anteil der Wohngeldempfänger, deren Mieten über den Höchstbeträgen der Wohngeldtabelle liegen, stieg von 30,5 % im Jahre 1986 auf 40,2 % im Jahre 1990. Teilweise liegt er jetzt schon bei 47 %. Das ist das Versagen des Sozialstaates, wenn das Wohngeld nicht einmal mehr für die Gering- und Normalverdiener eine tragbare Mietbelastung sichert. Wohngeld ist eben eine unverzichtbare Sozialleistung, damit die Haushalte mit geringem EinkomWalter Schöler
men Mietbelastungen, aber auch Haushalte mit Hausbesitz Zinsbelastungen bei Eigentum tragen können.
Wir hatten im Oktober 1992 bei der Beratung des Wohngeld- und Mietenberichtes die Regierung schon aufgefordert, bis März dieses Jahres einen Entwurf zur Novellierung des Wohngeldgesetzes vorzulegen. In diesem sollten die Erhöhung der Einkommensgrenzen und der Miethöchstbeträge ebenso enthalten sein wie strukturelle Verbesserungen. Es bedurfte unseres Antrages vom 29. September 1993 sowie der Initiative aus dem Bundesrat, damit Sie sich überhaupt etwas bewegten, und das auf Grund des Sondergesetzes auch nur für die neuen Länder.
Da bei Ihnen die alten Lander heute im wesentlichen nicht vorgekommen sind, will ich Ihnen an einigen Beispielen aus meinem Wahlkreis erläutern, wie die Situation im Bundesgebiet wirklich ist. Nehmen Sie mir bitte ab, daß ich weiß, wovon ich rede, da ich eine Reihe von Jahren Chef einer Ordnungsbehörde, einer Wohngeldstelle, und im übrigen auch ehrenamtliches Mitglied einer Wohnungsbaugenossenschaft war.
Da ist ein junges Ehepaar, das erste Kind vor einem halben Jahr geboren, der Erziehungsurlaub ist angetreten, die Wohnung sehr bescheiden, 60 m2 im Dachgeschoß. Jetzt reicht diese Wohnung nicht mehr aus. Ein Kinderzimmer ist ebenfalls nicht vorhanden. Der Mann ist von Beruf Schlosser. Durchschnittliches Einkommen, nachdem das Einkommen der Frau weggefallen ist, 2 400 DM. Es kommen noch 600 DM Erziehungsgeld und 70 DM Kindergeld hinzu. Das ist das Nettoeinkommen dieser Familie in den nächsten Jahren. Mit Mühe und Not hat man sogar einen Wohnberechtigungsschein bekommen. Aber es besteht keine Aussicht, diesen Wohnberechtigungsschein umzusetzen; denn es gibt keine öffentlich geförderten Wohnungen, die frei sind. Der Markt ist leergefegt; denn der Bund hat sich ja schon seit einigen Jahren aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus verabschiedet. Altbauwohnungen zu günstigen Konditionen entsprechend dem Einkommen sind auch Mangelware, wenn überhaupt zu erhalten. Was bleibt, sind dann Neubauwohnungen, die auf dem Markt noch vorhanden sind, in meiner Stadt, 25 000 Einwohner, zwischen dem Rhein und der niederländischen Grenze gelegen, zu Preisen von 14 bis 17 DM je m2 Kaltmiete.
Nun erklären Sie diesem Ehepaar bitte, wenn es zu Ihnen in die Sprechstunde kommt, wie es mit einem Nettoeinkommen von 3 000 DM im Monat eine Miete einschließlich Nebenkosten - und da müssen sie sogar noch einen Garagenplatz für 90 DM mieten, sonst geben die ihnen eine Wohnung überhaupt nicht - von 1 600 DM aufbringen und von den restlichen 1 400 DM leben sollen. Mietbelastungen von 40 bis 50 % des Einkommens sind einfach nicht tragbar, sind unsozial.
Die Förderung von jungen Familien - das sehen wir an Ihrer heutigen Verhaltensweise - hat bei Ihnen einfach keinen Stellenwert mehr. Statt dessen
fördern Sie nur noch Staats- und Politikverdrossenheit und liefern Extremisten Munition.
({2})
- Das ist kein Quatsch. Dann unterhalten Sie sich einmal mit den Menschen Ihres Wahlkreises! Vielleicht sind Sie da etwas abgehoben.
Kommen wir zurück zum Wohngeldgesetz: Für diese jungen Familien beträgt die Wohngeldobergrenze nach der geltenden Wohngeldtabelle für einen 3-Personen-Haushalt in der Stufe 3, Stadt mit 25 000 Einwohnern, Neubau nach 1991, Herr Dr. Hitschler, 785 DM. Die real verlangte Kaltmiete liegt aber bei 1 275 DM, übersteigt die Obergrenze in der Tabelle also um fast 500 DM. So, und jetzt erklären Sie mir bitte den Wohngeldanspruch. Er ist mit null Deutsche Mark ermittelt worden.
({3})
Das nächste Beispiel: eine 70jährige Witwe, alleinstehend, 1958 in eine 60-m2-Sozialwohnung eingezogen, Zweckbindung erloschen - Sie kennen alle diese Fälle -, Umwandlung in Teileigentum längst erfolgt, Wohnung verkauft, nach Ablauf der Schutzfristen Kündigung ausgesprochen wegen Eigenbedarfs. Jetzt droht die Obdachlosigkeit. Die Dame kommt also, der Markt ist abgegrast, Sozialwohnungen nicht vorhanden, Altenwohnungen nicht vorhanden, weil sie einfach belegt sind. Das sind die Wohnungen mit 400 bis 500 DM Miete im Monat, die für eine solche Frau noch bezahlbar wären. Die neue Wohnung, 50 m2, kostet 850 DM. Hinzu kommen die Nebenkosten mit 150 DM. Die Dame hat 1 580 DM Rente. Jetzt erklären Sie mir bitte wieder, wie die 580 DM zum Leben reichen sollen. Mietobergrenze laut Wohngeldtabelle: 505 DM für Neubauten, für Bauten der 80er Jahre nur 480 DM und für Altbauten vor 1966 auch noch stolze 8 bis 12 DM je Quadratmeter Kaltmiete. Wohngeldanspruch null Deutsche Mark!
Sie sehen also an diesen Beispielen - und sie sind symptomatisch für vieles -, daß die Wohngeldtabellen bis zu einem Drittel hinter der realen Mietpreisentwicklung zurückbleiben. Beide Fälle sind beispielhaft für die Sorgen und Nöte von 2,5 Millionen Wohnungssuchenden im Bundesgebiet.
Wenn Sie uns jetzt mit Hinweis auf genehmigte Bauvorhaben, die neuen Zahlen, glauben machen wollen, der Durchbruch sei gelungen, so wird das von verschiedenen Instituten - Kollege Scheffler hat es gesagt - hinreichend widerlegt.
Im übrigen, beiden Parteien könnte sehr schnell geholfen werden. In meiner Stadt stehen derzeit 76 von 80 Neubauwohnungen eines privaten Trägers - ich will den Namen nicht nennen, er fängt mit „B" an und hört mit „st" auf -, die seit einem halben Jahr fertiggestellt sind und an Einzelkäufer verkauft wurden, leer. 76 von 80 Wohnungen! Das sind die Wohnungen, die heute noch auf dem Markt erhältlich sind. Bei einer Kaltmiete pro Quadratmeter von 17 DM, 3 DM Nebenkosten und dem Garagenstellplatz kann sie aber keiner bezahlen.
Aber, diese Maßnahme ist nun hinreichend subventioniert worden. Investitionsabschreibungen laufen statt fehlender Sozialförderungen. Ich habe gar nicht die Hoffnung, daß dieser Träger die Mieten senkt, denn die Käufer, die ja auch wieder weitervermieten, haben die Möglichkeit, Verluste aus Vermietung und Verpachtung dann auch wieder abzusetzen. Und das reicht denen offensichtlich.
Das Ganze paßt in die Politik der Wohnungsbauministerin. Herr Solms hat ja festgestellt, die F.D.P. ist eine Eigentumspartei.
Meine Damen und Herren, alles das zeigt: Die Koalition ist auf dem Gebiet der Wohnungspolitik handlungsunfähig.
({4})
- Ich will heute nur über die Wohnungspolitik reden. Sie sind zerrissen, und Ihre Ziele richten sich nicht mehr auf die Probleme und Bedürfnisse eines großen Teils der Bevölkerung. Sie verteidigen hier Machterhalt. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn Sie hier angesichts der Probleme keine vernünftigen Antworten besitzen: Wer scheinbar die Lust zum Regieren verloren hat, der hat auch den Anspruch auf die Regierungsmacht verloren.
({5})
- Wissen Sie, Frau Peters, ich glaube, bei einigen hier klingeln nicht einmal die Alarmglocken, wenn man sich an das Wahlergebnis von Brandenburg vom letzten Sonntag erinnert.
Auch in den Haushaltsberatungen der letzten Wochen haben Sie Ihre Absichten offengelegt, meine Damen und Herren. Sie haben die Haushaltsansätze nicht erhöht, Sie haben sie mit 3,5 Milliarden DM gehalten. Aber wir wissen alle, daß immer mehr Menschen auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit und ihrer Einkommenssituation und auch der steigenden Mieten auf Wohngeld angewiesen sind. Auch Ihre Finanzplanung gibt da nichts her. Sie wollen in den nächsten drei Jahren die Zahlungen sogar noch auf 2,7 Milliarden DM senken.
Es ist schon schlimm genug, wenn sich hier Regierung und Koalition selber täuschen. Aber viel schlimmer ist, meine Damen und Herren: Sie lassen die Bürger alleine, die auf die Hilfe des Sozialstaates angewiesen sind. Sie bleiben deshalb - ich komme zum Schluß - mit der heutigen Novelle weit hinter den Erfordernissen zurück, wie Sie es auch insgesamt mit Ihrer Wohnungspolitik machen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, mir eine Frage zu beantworten?
Ja, gerne!
War ich nun großzügig genug, indem ich Ihnen über eine Minute zusätzlicher Redezeit gegeben habe, oder reicht das noch nicht aus?
Ich werde jetzt den Schlußsatz formulieren, Herr Präsident. Danke schön.
Das beste Sparprogramm im Bereich des Wohngeldes wäre eine Umstrukturierung von Subventionen, die jetzt in den frei finanzierten Wohnungsbau fließen, und eine gerechte Wohnbauförderung mit dem Ziel sozial verträglicher Mieten. Sie haben das elf Jahre lang versäumt. Retten Sie sich ruhig bis zum Wahltermin. Wir glauben Ihnen nicht, daß Sie neue Konzepte bringen werden. Wir lehnen heute Ihren Beschlußvorschlag ab.
Danke schön.
({0})
Ich erteile nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär Joachim Günther das Wort. Herr Staatssekretär, ich möchte mich noch einmal in aller Form entschuldigen, aber es ist mir wirklich durchgegangen. Ich hoffe, es ist zu ertragen.
Selbstverständlich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scheffler, Sie haben mit einer Aufzählung von Tatsachen begonnen, u. a. mit dem Wort: Wohngeld wird beschnitten. Ich hoffe, daß wir heute hier in diesem Haus etwas anderes beschließen und den Bürgern der neuen Bundesländer die Mitteilung machen können: Sie werden auch im Jahre 1994 ihr Wohngeld nach den Vorschriften des Wohngeldsondergesetzes erhalten.
({0})
Durch eine gemeinsame Kraftanstrengung von vielen Beteiligten ist es in kürzester Zeit gelungen, die Unklarheiten über ein Weiterbestehen des Wohngeldsondergesetzes zu beseitigen und das Ganze wieder auf ein solides Fundament zu stellen. Und das heißt: Wer im Verlauf des Jahres 1994 einen Antrag oder einen Wiederholungsantrag auf Wohngeld stellt, und zwar unabhängig von irgendwelchen Antragsfristen, erhält Wohngeld wie schon bisher nach den Vorschriften des Wohngeldsondergesetzes, und zwar maximal bis zum 30. Juni 1995.
Damit haben die Mieter, deren Miete zum 1. Januar 1994 um maximal 60 Pfennig pro Quadratmeter erhöht wird - die meisten davon haben bereits die Mieterhöhungserklärung in den Händen -, die Gewißheit, daß das Wohngeld ihnen auch weiterhin zur sozialen Abfederung ihrer Wohnkosten zur Verfügung steht. Für eine Schwarzmalerei, so gerne sie sicher in manchen Beziehungen betrieben wird, sehe ich hier keinen Anlaß.
({1})
Ebensowenig verstehe ich das Jammern, das mir mancherorts pauschal entgegengebracht wird. Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß ich nicht nur als Staatssekretär hier stehe, sondern auch als ein Bürger aus den neuen Ländern. Aus dieser Sicht möchte ich klar feststellen: Die Sorgen und Ängste, die von vielen
um das Thema Wohnen oftmals mit Absicht geschürt werden,
({2})
sind weit übertrieben.
({3})
Im Auftrag des Bundesbauministeriums hat das Institut für Stadtforschung in Berlin die Auswirkungen der Mieterhöhungen - sie wurden ja bereits in dem einen oder anderen Punkt zitiert - in den neuen Bundesländern zum 1. Oktober 1991 und dann nochmals zum 1. Januar 1993 untersucht. Dabei wurden zum ersten Termin 1 000 Mieter und zum zweiten 1 500 Mieter befragt. Diese Befragung ergab, daß das verfügbare Einkommen der Mieter im fraglichen Zeitraum um fast 30 % gestiegen ist. Die um die Preisentwicklung einschließlich der Mieten bereinigten Einkommen haben sich damit immerhin real um 17 % erhöht. Diese günstige Einkommensentwicklung erstreckt sich dabei eben nicht nur auf Erwerbstätige, sondern auch auf Bezieher von Arbeitslosengeld und Rentner.
Infolge der positiven Einkommensentwicklung und der sozialen Absicherung durch das Sonderwohngeld Ost konnten die Mieterhöhungen zum Oktober 1991 und zum Januar 1993 weitestgehend aufgefangen werden.
({4})
- Ich habe j a gesagt, daß hier nicht nur Erwerbstätige, sondern ebenfalls Arbeitslose und Rentner einbezogen wurden.
Die Belastung durch Warmmiete betrug Anfang 1992 nach Wohngeld 330 DM, bei einem durchschnittlichen Nettoeinkommen von 1 912 DM.
({5})
Jetzt liegt sie laut Befragung bei 455 DM pro Wohnung, und das bei einem Nettoeinkommen von 2 446 DM. Das heißt, wenn die Einkommen um die Preissteigerungen von 1993 bereinigt werden, stehen 350 DM mehr zur Verfügung als im Vorjahr.
({6})
Ich sage an dieser Stelle nicht, daß das nach der Mietzahlung verfügbare Einkommen ähnlich hoch ist wie in den alten Bundesländern. Aber wir befinden uns auf dem Weg dazu, und alle Ungeduld nutzt in dieser Richtung nichts.
Es erstaunt mich auch nicht, daß fast drei Viertel der befragten Haushalte die vorgenommenen Mieterhöhungen für gerechtfertigt halten. Dies bestätigt mich in der Annahme, daß viele Mieter ihre persönliche Situation günstiger und besser einschätzen, als das in manchem Stimmungsbild wiedergegeben wird.
({7})
Auch bei den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen
Bundesländern besteht zunehmend der Wunsch nach
einer besser ausgestatteten Wohnung und auch oft
nach einer größeren Wohnung. Dies zeigt die Bereitschaft, Einkommenssteigerungen in mehr Wohnkomfort umzusetzen.
Es wird daher entscheidend darauf ankommen, den eingeschlagenen Weg konsequent fortzusetzen: Die Wohnungen müssen nämlich instandgesetzt und dort, wo es notwendig ist, modernisiert werden. Mittlerweile sind in einem Drittel der Wohnungen in den neuen Bundesländern Reparatur- und Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt worden. 10 % der Wohnungen ohne Sammelheizung wurden mit Sammelheizung ausgestattet; 15 % der vorhandenen Sammelheizungen wurden modernisiert. Wo noch keine Innentoilette vorhanden war, wurde in 20 % der Fälle inzwischen eine Toilette eingebaut.
({8})
Interessant ist, daß vier Fünftel der Befragten die Durchführung weiterer Reparatur- und Modernisierungsmaßnahmen für notwendig halten. Dies zeigt, welch gewaltiger Investitionsbedarf im Wohnungsbestand noch vorhanden ist. Die Bauindustrie ist gefordert und entwickelt sich damit mehr und mehr zum Konjunkturmotor.
Ich freue mich, daß die Verlängerung des Wohngeldsondergesetzes auch unter diesem Aspekt positive Wirkungen hat. Denn diejenigen Mieter, bei denen im kommenden Jahr Modernisierungsmaßnahmen durchgeführt werden, können darauf vertrauen, daß das Wohngeld ihnen auch im Falle der Mieterhöhung infolge von Modernisierung als wirksame Entlastung zur Verfügung steht. Damit ergänzen sich Modernisierung und Wohngeld.
Mir ist bewußt, daß wir noch einen langen Weg zu einem offenen, sich an Angebot und Nachfrage orientierenden Wohnungsmarkt vor uns haben.
({9})
Aber die Weichen sind in diese Richtung gestellt.
Lassen Sie es mich einmal sehr deutlich sagen: Die Wohnungspolitik in den neuen Ländern ist nach 40 Jahren Verfall wieder auf einem guten Weg. Den lassen wir uns von niemanden zerreden.
({10})
Meine Damen und Herren, bevor ich dem letzten Redner zu dieser Debatte, dem Dr. Mildner, das Wort gebe, möchte ich Sie über die Geschäftslage informieren.
Nach diesem Tagesordnungspunkt kommt die Fragestunde. Es liegen nur 15 Fragen vor. Ich bitte also die Geschäftsführer der Fraktionen, mit dafür Sorge zu tragen, daß die Fragesteller rechtzeitig im Raum sind, und hoffe auch, daß der eine oder andere am Fernseher zuhört.
Als nächster Tagesordnungspunkt mit Debatte kommt die zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfes eines Altersübergangsgesetzes. Das kommt relativ schnell
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg
zur Debatte. Ich möchte Ihnen und mir die Blamage ersparen, daß die Redner nicht im Raum sind. Ich hoffe, daß dies nicht eine wirkungslose Mitteilung war.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Klaus Mildner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Immer wenn es um Wohnen und Wohngeld geht, kommen sehr viel Polemik und Unsachlichkeit auf. Sie haben sicher Verständnis dafür, daß ich mich aus diesem Grunde noch einmal zwei bis drei Jahre zurück erinnern möchte. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Kampagne im Jahre 1991, die von nicht wenigen Medien, aber auch von Organisationen und insbesondere von einer Partei geschürt wurde, um Verunsicherung und sogar Angst bei den Menschen im Osten Deutschlands zu erzeugen, und zwar Angst davor, daß die Mieten nicht mehr bezahlbar seien, und Angst davor, daß eine Gefahr auf uns zukommt, die Wohnung zu verlieren. Wir, die ostdeutschen Abgeordneten, wissen davon durch die vielen Besucher damals in unseren Büros.
Ich habe damals erfahren müssen, wie die Meinungsbildung der Mieter durch Angstmachen negativ beeinflußt werden kann.
({0})
Wir wissen alle, daß dieses Angstmachen bis zum Selbstmord geführt hat.
Darm kam die Mietenanhebung am 1. Oktober 1991. Sie war verbunden mit einem aus meiner Sicht sehr großzügigen Sonderwohngeldsystem für die ostdeutschen Bundesländer. Nach einer Übergangszeit von wenigen Wochen hatten sich die Wogen geglättet. Ich möchte hier mitteilen, daß bis heute in meinem Abgeordnetenbüro seit damals kein Bürger mehr wegen nicht bezahlbarer Mieten vorgesprochen hat.
({1})
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
({0})
- Meine Damen und Herren, erst kommt die Frage, dann die Antwort und dann die Kritik. - Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Mildner, können Sie mir bestätigen, daß sich die Situation nach dem ersten Regierungsentwurf zum Sonderwohngeld nur nach wesentlichen Verbesserungen durch die Oppositionsparteien bei den Mieterinnen und Mietern gerade in dem von Ihnen zitierten Zeitraum verbessert hat?
Wenn Sie das gemacht haben, finde ich das sehr schön. - Aber ich hatte zu dieser Frage noch gar nicht ja gesagt.
({0})
Ich möchte hier noch einmal einige Zahlen nennen. Nach der ersten Mietenreform betrug die Warmmietenbelastung für alle Haushalte in den neuen Bundesländern im Durchschnitt 17 % des verfügbaren Einkommens. Es gab natürlich auch Extremfälle, die bei 25 % lagen. Es gab aber auch nicht wenige minimale Belastungen von unter 5 %.
Diese erste Mietenanhebung konnte nur ein Einstieg für eine umfassende Korrektur des Mietensystems im Osten sein; denn auch Wohnen muß wie jede Dienstleistung und wie jede Ware bezahlt werden und bezahlbar sein.
({1})
Durch die zweite Mietenreform im Jahre 1993 wurden die Mieten nochmals angehoben, so daß gegenwärtig in Ostdeutschland eine durchschnittliche Warmmiete von 7,50 DM/m2 Wohnfläche zu zahlen ist. Diese zweite Mietenreform ging wesentlich unproblematischer als die erste vonstatten. Die Absicherung der Mieter mit unterem Einkommen gelang wieder mit dem Sonderwohngeldgesetz.
Die zweite Mietenreform war auch deshalb in der Regel von den Mietern zu verkraften, weil die verfügbaren Einkommen weiter gestiegen waren. Das wurde schon gesagt. Vom Februar 1992 bis Mitte dieses Jahres erhöhten sich die Realeinkommen im Osten Deutschlands im Durchschnitt um 17 %, so daß heute die Warmmietenbelastung aller Haushalte im Mittel bei 18,6 % des verfügbaren Einkommens liegt.
({2})
- Ich komme noch darauf.
Dies ist ein Wert - das muß fairerweise gesagt werden -, der deutlich unter dem Prozentsatz in den westdeutschen Bundesländern liegt. Ich sage das als Ostdeutscher. In Westdeutschland machen die Warmmieten im Mittel etwa 25 % des verfügbaren Einkommens aus, ({3})
- bei Wohngeldempfängern sogar 30 %.
Natürlich ist mir bekannt, daß ein Teil der Mieterhaushalte durch die zweite Mietenanhöhung erheblich belastet wurde.
({4})
Ab Januar 1994 darf die Miete sogar noch weiter angehoben werden, um bis zu 60 Pfennig pro Quadratmeter Wohnfläche.
({5})
Legt man als erheblich belastete Haushalte diejenigen zugrunde, bei denen die Warmmietenbelastung über 25 % des verfügbaren Einkommens beträgt, trifft das für die neuen Bundesländer nur für 18 % aller Haushalte zu.
Ich bin aber der Meinung - das ist meine ganz persönliche Meinung -, daß ein Gesetz alle im Leben vorkommenden Fälle niemals in gleicher Weise erfassen kann.
({6})
Wenn ich hier die 18 % Haushalte genannt habe, die über 25 % ihres verfügbaren Einkommens als Warmmiete bezahlen müssen, dann muß ich natürlich auch fairerweise darauf hinweisen, daß zwei Drittel aller Haushalte im Osten eine Warmmietenbelastung haben, die unter 20 % liegt. Ein Drittel aller Haushalte sogar haben eine Warmmietenbelastung, die maximal 15 % des verfügbaren Einkommens beträgt.
({7})
Sie von der Opposition sehen, ich arbeite nicht nur mit Mittelwerten.
Bei den hochbelasteten Mietern sind aber nicht nur der Bund, sondern auch die Kommunen, insbesondere die kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen sowie die Mieter selbst gefordert. Durch Wohnungstauschen läßt sich mit Sicherheit bei einem Teil dieser Fälle die Mietbelastung auf ein erträgliches Maß reduzieren.
({8})
- Ich komme ja noch darauf. Sie müssen auch ein bißchen Geduld haben und abwarten, bis man fertig ist.
({9})
Zu den hochbelasteten Mietern gehören nicht nur Gutverdienende; nein, dazu gehören auch Arbeitslose, Alleinstehende mit Kindern und die Rentner in einer zu großen Wohnung. Diese Gruppe muß unbedingt bei der weiteren Mieten- und Wohngeldentwicklung im Auge behalten werden.
Meiner Meinung nach könnte es erforderlich werden, das Wohngeldsystem in ganz Deutschland zu modifizieren, um diese Gruppe mit sehr niedrigem Einkommen sozial ausreichend abzufedern.
({10})
- Wissen Sie, ich habe von SED-Mitgliedern 40 Jahre lang soviel unvernünftige Sätze gehört, da möchte ich eigentlich heute von Ihnen nichts mehr hören.
({11})
Ich weiß von Wohnungsbaugesellschaften, die mit der Sanierung sogleich ein Umziehen der Mieter in größenmäßig geeignete Wohnungen verbinden und dafür sogar Sozialarbeiter einstellen. Für das Funktionieren unseres Gemeinwesens ist es unbestreitbar verstärkt erforderlich, daß generell mehr Eigenverantwortung übernommen und nicht immer gleich nach dem Staat geschrieen wird.
({12})
Angesichts der nicht geringen Mietsteigerungen, aber auch angesichts der Einkommenssteigerungen werden sich viele Haushalte den neuen Gegebenheiten durch Wohnveränderungen anpassen. Ich weiß, daß es zur Zeit nicht immer einfach ist, eine passende Wohnung zu finden, sei es eine größere oder eine kleinere Wohnung.
({13})
- Das wissen Sie, Herr Küster, aus Magdeburg, was ich jetzt sage.
Wer aber mit offenen Augen durch die östlichen Bundesländer fährt, der sieht, daß die Maßnahmen der Bundesregierung, die Fördermittel, die Sonderabschreibungen zu ziehen beginnen. Im nächsten Jahr werden sehr viele Wohnungen, Reihen- und Einfamilienhäuser fertig. Die müssen bezogen werden, und andere Wohnungen werden frei.
({14})
- Ich habe doch gesagt, es werden dann andere frei. Bereits im kommenden Jahr dürften erhebliche Bewegungen auf dem Wohnungsmarkt zu erwarten sein.
({15})
- Ich kann Ihnen einige nennen.
Nun zurück zum Wohngeldsondergesetz.
({16})
Das Wohngeldsondergesetz ist, wie der Name sagt, ein Sondergesetz, durch das der notwendige Umbau des Mietensystems in Ostdeutschland sozialverträglich abgesichert werden sollte. Dieser Aufgabe ist das Gesetz bisher hervorragend gerecht geworden. Das Wohngeldsondergesetz ist nicht nur in der Praxis einfacher zu handhaben als das Wohngeldgesetz, das für die westlichen Bundesländer gilt, es ist auch günstiger für den Antragsteller. Das wurde ja auch schon gesagt.
Ich möchte aber gerade als Ostdeutscher noch einmal darauf hinweisen: Bei gleichen Voraussetzungen - gleiches Einkommen, gleiche Miete, gleiche Familiengröße - erhält man in Ostdeutschland zur Zeit ein nicht unerheblich höheres Wohngeld als in Westdeutschland.
({17})
Dieser Tatbestand ist insbesondere im Hinblick auf die riesigen Transfermittel von West nach Ost nicht mehr lange haltbar. Wir müssen uns auch in den östlichen Bundesländern damit vertraut machen,
({18})
daß wir in den nächsten ein bis zwei Jahren denselben prozentualen Anteil unseres Einkommens für das Wohnen ausgeben müssen, wie unsere westdeutschen Mitbürger.
({19})
Wir erwarten in den ostdeutschen Bundesländern die Angleichung der Lebensbedingungen. Wir erfahren, daß unvorstellbar hohe Geldmittel von West nach Ost für den Aufbau unserer Wirtschaft und für die soziale Absicherung der Menschen in dieser nicht einfachen Aufbau- und Umbruchphase fließen. Wir müssen dann im Osten natürlich auch bereit sein, denselben Anteil unseres Einkommens für das Wohnen aufzubringen, wie es in den westlichen Bundesländern üblich ist.
({20})
Diesen Appell richte ich nicht nur an meine ostdeutschen Landsleute, sondern auch an diejenigen, die durch Polemik und Angstmachen aus der nicht einfachen Angleichung der Wohnbedingungen politisches Kapital schlagen wollen.
({21})
Die Verlängerung der Geltungsdauer des Wohngeldsondergesetzes verursacht Mehrkosten von 110 Millionen DM, das wurde schon gesagt, die zur Hälfte auf Bund und Länder übergehen. Es wird meist immer anonym von den Finanzmitteln der Länder und denen des Bundes gesprochen, als ob diese Gelder irgendwo herkämen und in beliebiger Höhe zur Verfügung stünden.
Mich wundert immer wieder, mit welcher Unbefangenheit fast täglich neue soziale Forderungen von der Opposition gestellt werden. Ich halte das für populistisch und auch für unsachlich, zumal auch der Opposition bekannt ist, daß diese Forderungen gar nicht bezahlbar sind.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf aufmerksam machen: Auch Sie überschreiten deutlich Ihre Redezeit.
Ja, ich bin gleich fertig.
Viele haben in Deutschland eine Vollkaskomentalität entwickelt und vergessen, daß nur das Geld für soziale Ausgaben verteilt werden kann, das nicht nur vorhanden, sondern über ist.
({0})
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Rednerliste. Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf zur Änderung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes. Das liegt
Ihnen vor auf den Drucksachen 12/6218 und 12/6395.
Diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzustimmen gedenken, bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? ({0})
Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen.
({1})
- Meine Damen und Herren, ich hatte darauf aufmerksam gemacht, daß wir die Debatte beendet hatten, um mit der Abstimmung zu beginnen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich danach richteten.
({2})
Wir kommen nunmehr zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von den Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Gesetzentwurf mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen worden.
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau empfiehlt in seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/6395 weiterhin, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5797 zur Novellierung des Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der gleichen Mehrheit angenommen worden.
Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
- Drucksache 12/6345 Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie und Senioren auf. Hier steht uns die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Roswitha Verhülsdonk zur Verfügung.
Zunächst rufe ich Frage 21 des Abgeordneten Hans-Joachim Fuchtel auf:
Wie soll nach der Änderung des § 91 Bundessozialhilfegesetz bezüglich der Gewährung von Prozeßkostenhilfe und Klagenbefugnis in Fällen des nachehelichen Ehegattenunterhaltes nach Ansicht der Bundesregierung vorgegangen werden?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Fuchtel, Sie fragen nach einem etwas schwierigen Sachverhalt, und Sie möchten gerne, so habe ich es verstanden, eine möglichst konkrete und am Gesetzestext orientierte Antwort haben. Ich will das versuchen. Es ist nicht ganz einfach.
Bei prozessualen Auswirkungen der Regelungen des neuen § 91 des Bundessozialhilfegesetzes über
den Übergang eines Unterhaltsanspruchs ist nach Zeitabschnitten zu differenzieren, wobei sich für den nachehelichen Ehegattenunterhalt keine Besonderheiten ergeben.
Gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 des Bundessozialhilfegesetzes gehen für die Zeit der Hilfegewährung - Hilfe zum Lebensunterhalt, meine ich - Unterhaltsansprüche des Hilfeempfängers bis zur Höhe der geleisteten Sozialhilfeaufwendungen auf den Träger der Sozialhilfe über. Das ist auch gewollt. Für die Zeit der Hilfegewährung ist der Sozialhilfeempfänger als Rechtsinhaber des übergegangenen Anspruchs klagebefugt. Der Hilfeempfänger bleibt aber nur insoweit klagebefugt, als er Unterhaltsansprüche geltend machen kann, die höher sind als die geleistete Hilfe zum Lebensunterhalt. Für diesen Fall kommt auch die Gewährung von Prozeßkostenhilfe in Betracht.
Also: Solange es sich um die Höhe der Sozialhilfe handelt, ist das Sozialamt derjenige, der die Leistung einklagen kann. Wenn ein höherer Unterhalt eingeklagt wird, kann das der Empfänger tun, und für diesen Fall ist eine Prozeßkostenhilfe zu gewähren.
Jetzt unterscheide ich den Fall der zukünftigen Unterhaltsansprüche, solange diese noch nicht gerichtlich geregelt sind. § 91 Abs. 3 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes sieht ausdrücklich vor, daß der Sozialhilfeträger, sprich: das Sozialamt, der voraussichtlich auf längere Zeit Hilfe zu gewähren hat, mit der Unterhaltsklage auch künftige Unterhaltsansprüche fordern kann. Er kann also die gesamte Summe bis zur Sozialhilfe und darüber hinaus einklagen. Da der Anspruchsübergang jedoch nur eintritt, wenn in Zukunft Sozialhilfe auch tatsächlich geleistet wird, d. h. der Unterhaltsverpflichtete nicht unmittelbar zahlt - nur dann tritt Sozialhilfe ein -, ist die Verurteilung des Unterhaltspflichtigen zur Zahlung eines bestimmten monatlichen Unterhaltsbetrags davon abhängig zu machen, daß der Sozialhilfeträger die Hilfe in der entsprechenden Höhe auch gewährt.
Im übrigen bleibt der Hilfeempfänger für zukünftige Unterhaltsansprüche sowohl aktiv legitimiert, also klageberechtigt, als auch prozeßführungsberechtigt. Erhebt der Hilfeempfänger nach Einsetzen der Sozialhilfe Unterhaltsklage, wenn also schon gezahlt wird, dann muß er beantragen, daß der Unterhalt in Höhe der ihm erbrachten Sozialleistungen an den Träger der Sozialhilfe gezahlt wird. Er muß also selbst beantragen, daß der Teil, der als Sozialhilfe an ihn gezahlt wird, an den Sozialhilfeträger, an das Sozialamt, direkt übergeht. Das ist Inhalt seiner Klage für diesen Fall. Für den die geleistete Sozialhilfe übersteigenden Unterhalt sowie für die Zukunft kann er hingegen Zahlung an sich selbst verlangen.
Auch für die gerichtliche Durchsetzung von zukünftigen Unterhaltsansprüchen kann Prozeßkostenhilfe gewährt werden.
Das ist eine komplizierte Materie. Ich biete Ihnen an, Herr Kollege, daß ich Ihnen diese Ausführungen auch schriftlich gebe, damit Sie sie auf dem Tisch haben. Sie sind zwar verständlich, aber man vergißt es auch leicht wieder.
Frau Staatssekretärin, nachdem Sie selbst gesagt haben, es ist eine so komplizierte Materie, werden Sie Verständnis haben, daß er eine Zusatzfrage wünscht.
Darauf hatte ich mich eingerichtet, Herr Präsident.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Frau Staatssekretärin, hier handelt es sich um eine Frage, die eine Auswirkung einer völlig neuen Gesetzgebung im § 91 ist und die in der Praxis bereits erhebliche Unklarheit bei der Rechtsanwendung gebracht hat. Deshalb möchte ich Sie noch fragen: Bedeutet dies also, daß der Sozialhilfeträger den Anspruch künftig materiellrechtlich prüfen muß?
Die Frage liegt natürlich nahe. Ich antworte wie folgt: Bei der Heranziehung Unterhaltspflichtiger ist auch nach der Neuregelung des § 91 zwischen dem bürgerlichrechtlichen Unterhaltsanspruch und dem sozialhilferechtlichen Anspruch auf Heranziehung Unterhaltspflichtiger zu differenzieren.
Der Sozialhilfeträger wird eine erste Einschätzung der Rechtslage vornehmen und dabei insbesondere sozialhilferechtliche Gesichtspunkte berücksichtigen. Im Streitfalle obliegt die Entscheidung den Zivilgerichten.
({0})
- Bitte? Ich habe Ihre Frage nicht verstanden.
({1})
- Ja, ich habe den Zwischenruf nicht verstanden.
Ich antworte noch einmal, jetzt „übersetzt": Der Sozialhilfeträger wird also seinen Anspruch geltend machen, nachdem er eine erste Einschätzung vorgenommen hat. Das heißt, er wird prüfen, ob ein Sozialhilfeanspruch gegebenenfalls von ihm gewährt werden muß. Darm wird er für diesen Bereich die Klage erheben. Wenn ein darüber hinausgehender Anspruch geltend gemacht werden kann, weil der Unterhaltspflichtige ein entsprechendes Einkommen hat, obliegt die Entscheidung den Zivilgerichten.
Zweite Zusatzfrage, bitte schön.
Wie sieht es künftig mit der Beauftragung von Rechtsanwälten aus? Soll sie durch die Sozialhilfeträger erfolgen? Wenn ja, wie wird das denn kostenrechtlich abgewikkelt, weil beispielsweise ein Landkreis als Sozialhilfeträger mit Sicherheit nicht Prozeßkostenhilfe bekommen kann?
Das ist zum Teil dadurch geregelt, daß bei bestimmten Verfahren Anwaltszwang besteht, bei anderen nicht.
Ich will Ihnen das auch erklären: Für das Geltendmachen von Unterhaltsansprüchen vor dem Amtsgericht einschließlich des Familiengerichts - das sind die Fälle der Scheidungsverfahren - besteht für den Sozialhilfeträger kein Anwaltszwang. Er selbst hat also kein Interesse daran, einen Anwalt für den Teil, den er einklagen kann, hinzuzuziehen. Das gilt auch für den nachehelichen Unterhalt, der als Scheidungsfolgesache anhängig ist. Das ist geregelt im § 78 Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozeßordnung.
Der Übergang von Ansprüchen gegen Unterhaltsverpflichtete dient vor allem dazu, den Durchgriff des Sozialhilfeträgers gegen einen gegenüber dem Hilfeempfänger nach Bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen zu erleichtern. Das war die Begründung der Änderung des § 91, nämlich daß in den Fällen, wo die Sozialhilfe tatsächlich gezahlt werden muß, weil der Unterhaltspflichtige nicht zahlungswillig ist, das nicht zu Lasten des Sozialamtes geht, sondern daß man durchgreifen kann. Das dient also der Reduzierung des Sozialhilfebedarfs.
Die Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs steht nunmehr nicht mehr im Belieben des Unterhaltsberechtigten. Es gab auch Fälle, wo etwa ein Unterhaltsberechtigter auf Unterhalt verzichtet hat und das Sozialamt trotzdem zahlen mußte, weil kein Einkommen da war, es aber selber an einen Unterhaltsanspruch, soweit er die Sozialhilfehöhe betrifft, nicht herankommen konnte. Dies wollten wir mit der Gesetzesänderung regeln. Das hat nun die Folgen, die ich Ihnen dargestellt habe.
Im übrigen sind die Interessen des Unterhaltsberechtigten bisher von den Ländern, die ja für die Durchführung des Sozialhilfegesetzes zuständig sind, nicht an die Bundesregierung herangetragen worden. Uns sind also keine von den Ländern zugetragene Fälle bekannt, wo es Probleme gegeben hat.
Im übrigen erfolgt die Kostenabrechnung, wenn ein Anwalt hinzugezogen wird, für den zivilrechtlichen Teil nach der Gebührenordnung der Rechtsanwälte. Die Höhe der Gebühr richtet sich nach dem Streitwert. - Das bezieht sich also auf den überschießenden Betrag, der zivilrechtlich eingeklagt werden muß.
Ich stelle Ihnen die Texte zur Verfügung.
Weitere Wortmeldungen dazu liegen nicht vor.
Ich möchte Ihnen zur Information mitteilen, daß nach dem jetzigen Kenntnisstand die CDU/CSU eine Sonderfraktionssitzung um 16 Uhr und die SPD eine um 17 Uhr einberufen hat. Ich werde Sie darüber weiter auf dem laufenden halten.
Nun kann ich die Frage 22 des Abgeordneten Michael Habermann aufrufen:
Kann die Bundesregierung schon jetzt die Höhe des Existenzminimums von Kindern für das Jahr 1996 angeben vor dem Hintergrund, daß die Sachverständigenkommission zur Steuerfreistellung des Existenzminimums erst jetzt eingesetzt wurde?
Herr Kollege Habermann, ich antworte wie folgt: Die Bundesregierung kann derzeit die Höhe des Existenzminimums von Kindern für das Jahr 1996 noch nicht angeben. Der durchschnittliche Sozialhilfebedarf eines Kindes errechnet sich aus folgenden Teilbeträgen: Der erste Teil ist der Durchschnitt der nach dem Alter gestaffelten Regelsätze von Kindern. Das Verfahren ist folgendermaßen: Es wird der Durchschnitt der Bedarfe von 18 Kindern gebildet, die je einem Jahrgang angehören. Das heißt, die Bedarfe eines einjährigen, zweijährigen, dreijährigen usw. Kindes werden addiert und durch 18 geteilt.
Der zweite Teil ist der durchschnittliche Bedarf eines Kindes an einmaligen Leistungen. Auch dieser Durchschnitt wird nach dem gleichen Verfahren wie beim ersten Teil ermittelt.
Der dritte Teil ist der durchschnittliche Wohnbedarf eines Kindes, d. h. die Höhe des durchschnittlich auf ein Kind entfallenden Anteils der Warmmiete.
Diese drei Beträge, der durchschnittliche Regelsatz der Sozialhilfe, der Durchschnitt der einmaligen Leistungen und der durchschnittliche Wohnbedarf eines Kindes, bezogen auf Warmmiete, werden addiert und ergeben das Existenzminimum.
Jetzt erkläre ich Ihnen, warum wir nicht vorhersagen können, wie hoch dieser Betrag 1996 sein wird. Die Entwicklung der Höhe dieser Teilbeträge ist für die lange Frist bis zum Jahre 1996 nicht absehbar. Das trifft insbesondere auf die Entwicklung von Mieten in den alten und den neuen Bundesländern zu. Im dritten Teilbetrag ist ja die Warmmiete einzubeziehen. Somit kann der durchschnittliche Sozialhilfebedarf eines Kindes für das Jahr 1996 im Augenblick nicht angegeben werden. Vermutlich wird man Ende nächsten Jahres schon eher Perspektiven für das Jahr 1996 haben.
Zusatzfrage, bitte schön, Herr Abgeordneter Habermann.
Frau Staatssekretärin, wie erklären Sie denn, daß Frau Bundesministerin Rönsch in einer Presseverlautbarung den Kinderfreibetrag, nämlich das Existenzminimum, für das Jahr 1996 vorgestellt und beziffert hat?
Herr Kollege, ich kenne diese Presseerklärung nicht und weiß auch nicht, in welchem Kontext das geschehen ist. Wenn Sie sie mir zur Verfügung stellen, will ich gerne im Hause nachfragen. Ich kann Ihnen nur sagen: Was ich soeben vorgetragen habe, ist doch einleuchtend; man kann diesen Betrag eben nicht in Mark und Pfennig berechnen. Gewisse Schätzwerte über die Preisentwicklung der nächsten Jahre gibt es natürlich. Aber das ist nicht auf Mark und Pfennig zu berechnen.
Weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Habermann.
Frau Staatssekretärin, würden Sie dem Hohen Hause bestätigen, daß Sie davon ausgehen, daß das Existenzminimum 1996 in
jedem Fall über dem Existenzminimum für 1993 liegen wird?
Das ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Bezüglich der Anpassung der Regelsätze werden wir morgen Beschlüsse fassen. Dann ist dieser Teil für die nächsten Jahre in etwa absehbar; dies war er bisher nicht, da die Gesetzgebung in diesem Punkte noch nicht entschieden ist. Die Regelsatzerhöhung in 1996 bezüglich der Mietentwicklung ist sicher nicht absehbar. Auch bei den einmaligen Leistungen könnten auf Grund der neuen gesetzlichen Lage, die morgen als Vermittlungsausschußergebnis beschlossen wird, durchaus Änderungen gegenüber den bisherigen Perspektiven eintreten.
Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Michael Habermann auf:
Wann wird das Abstimmungsverfahren innerhalb der Bundesregierung zu den Ergebnissen des Gutachtens zum Lohnabstandsgebot innerhalb des Sozialhilferechts abgeschlossen sein?
Herr Kollege Habermann, es kann davon ausgegangen werden, daß das Abstimmungsverfahren innerhalb der Bundesregierung zu dem Bericht der Bundesregierung zur Frage des Lohnabstandsgebots in Kürze abgeschlossen sein wird, wenn die letzten noch offenen Fragen zureichend geklärt sind.
({0})
Sie wissen ja: Das Gutachten liegt vor. Es ist zum Teil in der Öffentlichkeit bekannt und in der Presse erörtert worden. Aber Sie wissen auch - das habe ich Ihnen hier in der Fragestunde schon einmal gesagt -, daß dazu eine Stellungnahme der Bundesregierung erforderlich ist, die zur Veröffentlichung gehört, und daß es innerhalb der Bundesregierung zwischen den mitbestimmenden Ressorts Diskussionen gegeben hat und Abstimmungsbedarf vorhanden war.
Es sind nur noch wenige Fragen offen. Bis Anfang des neuen Jahres wird die Bundesregierung dem Ausschuß, wie ich schon zugesagt habe, als erstem die Stellungnahme zuleiten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Habermann.
Frau Staatssekretärin, können Sie dem Hohen Hause mitteilen, welche Ministerien an dem Abstimmungsverfahren beteiligt waren bzw. beteiligt sind und welche Gründe es gibt, daß dieses Abstimmungsverfahren schon mehr als 160 Tage dauert?
Herr Kollege, es dauert nicht 160 Tage. Sie gehen von einem zu frühen Zeitpunkt aus; das Gutachten wurde noch einmal überarbeitet und aktualisiert. Es sind ursprünglich Daten des Jahres 1991 zugrunde gelegt worden. Dann ist das Gutachten aktualisiert worden, weil es ja nur aussagekräftig ist, wenn es einen
möglichst nahen Zeitraum, soweit dieser statistisch erfaßt ist, zum Inhalt hat.
Soweit ich weiß, sind Abstimmungen im Gange mit dem Wirtschaftsministerium sowie dem Arbeits- und Sozialministerium.
Die zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Habermann.
Frau Staatssekretärin, dann trifft meine Information nicht zu, daß es Schwierigkeiten beim Abstimmungsverfahren insbesondere mit dem Finanzministerium gibt? Meine diesbezügliche Frage lautet: Wäre es vielleicht sinnvoll, das Ergebnis des Gutachtens in das Bayerische von Theo Waigel zu übersetzen, damit die Ergebnisse dort vielleicht leichter verstanden werden und die Bundesregierung zu den entsprechenden Schlußfolgerungen kommen kann?
Herr Kollege, Sie haben recht; ich habe vergessen, daß auch das Finanzministerium damit befaßt ist. Ich habe nicht den Eindruck, daß man im Finanzministerium bayerisch spricht. Ich habe den Eindruck, daß man dort genauso deutsch spricht wie hier bei uns.
({0})
- Er spricht persönlich schwäbisch-bayerisch.
Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie nur der guten Ordnung halber darauf hinweisen, daß auch Bayerisch zum deutschen Sprachraum gehört.
Aber nicht als Amtssprache.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin Hanewinckel.
Frau Staatssekretärin, Sie haben die Berichterstattung über die Ergebnisse des Gutachtens aus dem Otto-Blume-Institut in der Presse zur Kenntnis genommen. Können Sie diese Ergebnisse bestätigen? Wenn nicht, auf Grund welcher Untersuchungen dementieren Sie sie dann?
Ich habe hier in der Fragestunde schon mehrfach im Hinblick auf dieses Gutachten des Otto-Blume-Instituts gesagt, daß es zum Ergebnis hat, daß der Lohnabstand zwischen den Regelsätzen und den unteren Lohngruppen durchaus eingehalten ist. Ich habe auch darauf hingewiesen, daß das Abstandsgebot bei Mehrbedarfsgemeinschaften, insbesondere bei Haushalten mit mehreren Jugendlichen, nur schwach oder gar nicht eingehalten wird. Das ist ein Tatbestand, der hier lange bekannt ist.
Ich habe auch darauf hingewiesen, daß die Einhaltung des Lohnabstandsgebots im Hinblick auf die Sozialhilfeleistungen in den neuen Ländern sicherlich nicht gewährleistet ist. Aber es war von diesem Hause ja gewollt, daß wir die Sozialhilfe in den neuen Ländern relativ hoch ansetzten. Das ist ein vorüberge17250
hender Zustand, der sich mit der Einkommensentwicklung verändern wird.
Nun eine Zusatzfrage des Kollegen Peter.
Frau Staatssekretärin, unter Berücksichtigung der großen Unkonkretheit Ihrer Antwort eben: Können Sie denn schon einen Termin nennen, zu dem Sie in der Lage sind, in der Öffentlichkeit die Ergebnisse des Gutachtens bekanntzugeben und dadurch dann auch mögliche Fehlinterpretationen von Gutachteninhalten richtigzustellen?
Herr Kollege, ich weiß nicht, ob die Angabe „in Kürze" sehr unkonkret ist. Ich habe dann auch noch präzisiert, indem ich „Anfang des neuen Jahres" gesagt habe. Das ist ja wohl in Kürze. Ich denke, das ist konkret genug.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Frage 24 des Kollegen Dr. Ilja Seifert:
Wie unterstützt die Bundesregierung angesichts der ersten Kältetoten dieses Winters die Kommunen in Ost- und Westdeutschland, damit verhindert wird, daß weitere Obdachlose erfrieren müssen?
Herr Kollege Dr. Seifert, in Fällen akuter Obdachlosigkeit liegt es nach der verfassungsmäßigen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern in der Verantwortung der in den Ländern zuständigen Gemeinden, die erforderlichen Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit zu ergreifen. Es ist also keine bundespolitische Aufgabe; das ist Ihnen offenbar auch klar.
Insbesondere sind die konkreten Hilfen nach § 72 des Bundessozialhilfegesetzes für Menschen, die sich in besonderen sozialen Schwierigkeiten befinden - dazu gehören insbesondere die Obdachlosen -, von den Behörden in den Bundesländern zu leisten, da für die Durchführung des Bundessozialhilfegesetzes die Behörden in den Ländern und hier insbesondere die örtlichen Kommunalbehörden zuständig sind.
Direkte Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes bestehen dabei nicht. Wie im gesamten Bereich des Bundessozialhilfegesetzes haben wir keine direkten Einwirkungsmöglichkeiten.
Die im Bereich des Wohnungswesens möglichen bundespolitischen Maßnahmen, also des sozialen Wohnungsbaus, der Ausweitung des Wohnungsangebots und der Verbesserung des Wohnungsbestands für Haushalte mit finanziellen und sozialen Schwierigkeiten, wirken sich jedoch mittelbar auf die Wohnungsversorgung dieses Personenkreises aus. Aber auch im Bereich des Wohnungswesens hat der Bund keine Alleinkompetenz, sondern der soziale Wohnungsbau ist immer auch von der Mitfinanzierung durch die Länder abhängig.
Weitere Zusatzfrage, Herr Kollege Seifert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Frau Staatssekretärin, ich hatte nicht danach gefragt, was an sozialem Wohnungsbau gefördert wird, sondern die akute Notsituation, daß bereits Obdachlose in diesem Jahr erfroren sind, zum Anlaß genommen, Sie zu fragen, wie die Bundesregierung die Kommunen - ich weiß ja, daß die zuständig sind - unterstützt, damit nicht noch weitere Menschen erfrieren.
Es wäre doch ohne weiteres möglich, daß Sie den Kommunen zweckgerichtete Mittel zuweisen, die z. B. zur Schaffung von Aufenthaltsmöglichkeiten dienen, damit in diesem Winter keine Menschen erfrieren. Es geht mir in diesem Fall nicht urn eine langfristige Konzeption.
Herr Kollege Dr. Seifert, das Haushaltsrecht gilt in allen Bereichen. Die Mittelzuweisung für die Aufgaben des Bundes, der Länder und der Gemeinden ist gesetzlich und einwandfrei geregelt. Wir haben keine Kompetenz, Bundesmittel für diesen Zweck an die Kommunen zur Verfügung zu stellen.
Im übrigen scheint mir das Problem schwieriger und differenzierter zu sein, als daß man es nur auf eine Finanzfrage reduzierte. Ich kenne jedenfalls aus meinem Wahlkreis und aus meiner Stadt die Schwierigkeit, daß die angebotenen Unterkünfte von Obdachlosen zum Teil nicht angenommen werden. Selbst Hotelunterkünfte werden oft nicht angenommen, wenn mehrere Personen gemeinsam untergebracht werden. Schon im letzten Jahr sind vielerorts von den Gemeinden solche Notmaßnahmen ergriffen worden. Es sind auch beheizte Container aufgestellt worden, die leer blieben. Das alles hat immer wieder in der Presse Schlagzeilen gemacht. Es handelt sich also um Schwierigkeiten, die über das Finanzielle hinausgehen.
Eine zweite Zusatzfrage, Kollege Seifert.
Frau Staatssekretärin, ich freue mich, daß Sie das nicht auf eine finanzielle Frage reduzieren. Das sehe ich ganz genauso. Das hat wesentlich weitreichendere Bedeutung. Ich weiß auch um die Schwierigkeiten, die es gibt. Trotzdem hat der Staat meines Erachtens die Verpflichtung, Menschen davor zu bewahren, daß sie im Winter erfrieren.
Sehen Sie denn nicht wenigstens die Möglichkeit, daß der Staat z. B. Liegenschaften und Gebäude, die ihm durch die Vereinigung zugefallen sind, zur Verfügung stellt, damit sich die Menschen dort aufhalten können, auch in Größenordnungen, die ihnen angenehm sind, also einzeln oder zu zweit?
Zunächst, Herr Kollege, habe ich nicht den Eindruck, daß die Länder und Gemeinden ihre Aufgabe nicht wahrnehmen, daß die Gemeinden etwa dieses Problem einfach schleifen lassen. Das stimmt ganz und gar nicht. Sie bemühen sich, und sie bieten an.
Aber ich muß Sie darauf hinweisen, daß Sie offensichtlich ein falsches Staatsverständnis haben, Herr Kollege. Das mag ja nach Ihrer Herkunft durchaus verständlich sein. Aber wir leben hier in einem föderativen Staat, der seine Aufgaben auf drei Ebenen verantwortlich wahrnimmt. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe geht es um die Gemeinden. Der Staat ist auch die Gemeinde, der Staat sind auch die Länder, der Staat ist auch der Bund. Und jeder hat seine Aufgabe wahrzunehmen.
({0})
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Zur Beantwortung steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 32 der Kollegin Dr. Margrit Wetzel auf:
In welchem zeitlichen Rahmen und mit welcher Besetzung ist der Binnentanker „Ingeborg" in den Tagen vor der Havarie am 19. November 1993 im Einsatz gewesen, und wurden die Schiffsbesetzungsvorschriften dabei eingehalten?
Die polizeilichen Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Nach dem derzeitigen vorläufigen Stand entsprach die Besatzung des Binnentankschiffes „Ingeborg" in den Tagen vor der Havarie und zur Zeit der Havarie den schiffahrtspolizeilichen Vorschriften.
Eine Zusatzfrage, Frau Kollegin Wetzel.
Herr Staatssekretär, ich bin mir nicht sicher, ob ich als Zusatzfrage jetzt meine Frage wiederholen muß, weil ich überhaupt keine Antwort auf meine Frage erkennen kann. Ich hatte nach dem zeitlichen Einsatz der „Ingeborg" gefragt und nicht nach der Rechtmäßigkeit der Besatzungsvorschriften.
Können Sie mir denn keine Auskunft darüber geben, in welchem Rahmen dieses Schiff im Einsatz war? Denn meine Zusatzfrage hätte sich darauf bezogen, ob es tatsächlich angehen kann, daß der Schiffsführer am Steuer eingeschlafen ist, wie bei uns in der Presse zu lesen war.
Frau Präsidentin, das ist der Punkt, der - ich sage es auf mich und auf die Antwort bezogen, die ich geben muß - leider noch unter die Auskunft fällt, daß die schiffahrtspolizeilichen Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.
Fragen nach den anderen Bereichen könnte ich konkreter beantworten; aber wenn ich in Einzelheiten ginge, würde ich einem Abschlußbericht vorgreifen, was nicht meine Kompetenz ist und was ich auf keinen Fall tun werde.
Die zweite Zusatzfrage, Frau Kollegin Wetzel.
Dann frage ich sehr praktisch, Herr Staatssekretär: Ist es wirklich eine Aufgabe der Polizei, im Falle einer Kollision festzustellen, in welchem Umfang ein Schiff in den Tagen zuvor eingesetzt war? Ich habe nicht nach dem Unfall und dem Unfallgeschehen gefragt, sondern nach dem Einsatz dieses Schiffes an den Tagen zuvor. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was die Polizei damit zu tun haben soll.
Sie haben den Grund Ihrer Frage schon dadurch verdeutlicht, daß Sie von der Vermutung ausgegangen sind, es könnte jemand eingeschlafen sein. Ich kann Ihnen zwar sagen: Es steht fest, daß in der Betriebsform a - das ist eine Sonderrubrik, die dabei zu berücksichtigen ist - jedes Besatzungsmitglied Anspruch auf eine ununterbrochene Ruhezeit von acht Stunden außerhalb der Fahrt hat. Aber das festzustellen ist eine schiffahrtspolizeiliche Aufgabe.
In der Tat haben Sie mit Ihrer Fragestellung recht. Aber das Endergebnis liegt nicht vor. Ich will Ihnen gern zusagen: Sobald es vorliegt - das könnte theoretisch in den nächsten Tagen sein -, stelle ich es Ihnen gern zur Verfügung. Ich will nichts zurückhalten. Aber diese Zusage ist das letzte und beste, was ich dazu sagen kann.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Frage 33 der Kollegin Wetzel:
Welche Mangel der Zusammenarbeit im Bereich des Katastrophenschutzes wurden im Zusammenhang mit diesem Schiffsunglück offenbar, und auf welche Weise wird dafür gesorgt, daß zukünftig ggf. eine bessere und schnellere Kooperation der beteiligten Behörden erfolgt?
Zunächst ist festzuhalten, daß durch das umsichtige Verhalten der beteiligten Bundes- und Landesbehörden Schaden von der Bevölkerung und der Umwelt abgewendet werden konnte.
Das Bundesministerium für Verkehr hat einen Bericht der zuständigen Wasser- und Schiffahrtsdirektion Nord angefordert. Nach Auswertung dieses Berichts, der auch Aufschluß über die Koordination der beteiligten Behörden in diesem Fall geben soll, wird zu entscheiden sein, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen aus diesem Schiffsunglück zu ziehen sind.
Es gibt keine weiteren Zusatzfragen. Wir kommen zur Frage 34 des Kollegen Hans-Eberhard Urbaniak:
Ist der Bundesregierung die Studie des Bochumer RuhrForschungsinstituts für Innovations- und Strukturpolitik bekannt, nachdem das heutige Straßen- und Schienennetz in Nordrhein-Westfalen leicht unter dem Niveau der westdeutschen Bundesländer liegt, das Ruhrgebiet speziell aber die Note unbefriedigend bekommen hat?
Die Bundesregierung hat von dieser Studie erst aus der Presse aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" vom 24. November erfahren.
Das sind heute sehr kurze Antworten. Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Die Bundesregierung hat davon erfahren. Hat sie sich bemüht, in den Besitz des Gutachtens zu kommen, um daraus entsprechende Schlüsse zu ziehen? Denn der Gutachter kommt zu dem Ergebnis, daß das angesprochene Gebiet mit seiner Infrastruktur nicht allzu gut dasteht.
Verehrte Frau Präsidentin, das reicht in die zweite Frage hinein, die der Kollege Urbaniak gestellt hat. Ich habe nichts dagegen. Ich würde im Zusammenhang mit der nächsten Frage darauf antworten - Sie hätten nach meiner Auffassung dann noch drei Zusatzfragen -, Frau Präsidentin, wenn Ihnen das so recht ist.
Ich bin mit allem zufrieden, was der Effektivität dient.
Also rufe ich auch die Frage 35 des Kollegen Hans-Eberhard Urbaniak auf:
Hat die Bundesregierung die Absicht, dieses Defizit mit der Verwirklichung des Bundesverkehrswegeplanes auszugleichen, und welche Maßnahmen sind dafür vorgesehen?
Die Beantwortung dieser Frage ist der Bundesregierung erst möglich, wenn sie die Studie und ihre Ergebnisse hat prüfen und werten können. Dessenungeachtet ist festzustellen, daß die Aufstellung des Bundesverkehrswegeplanes 1992 unter intensiver Beteiligung der Länder erfolgte und der Bundesrat den beiden darauf aufbauenden Gesetzen - Viertes Gesetz zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes und Gesetz über den Ausbau der Schienenwege des Bundes - mehrheitlich zugestimmt hat.
Jetzt haben Sie noch drei Zusatzfragen, wenn Sie sie brauchen, Herr Kollege Urbaniak.
Kann ich davon ausgehen, daß Sie aus dem Gutachten, wenn Sie es sich besorgt haben, eine Bewertung ableiten und daraus Schlußfolgerungen ziehen? Denn Sie müssen auch auf die Situation des Gutachters reagieren, der der Bundesregierung eigentlich bescheinigt, nicht alles getan zu haben, um eine ausgewogene Infrastruktur im Verhältnis zu anderen Bereichen sicherzustellen. Kann ich davon ausgehen, daß Sie dies tun, und wird man darüber unterrichtet?
Ich halte die Studie schon für bedeutsam genug, um auch seitens der Bundesregierung eine Bewertung vorzunehmen. Ich sage das deswegen, Herr Kollege Urbaniak - Sie werden es auch verstehen -, weil wir nicht auf jedes Gutachten mit einer Stellungnahme reagieren können.
Wenn Sie das so ansprechen, wie Sie es getan haben, müssen Sie natürlich schon hinzufügen, daß man nur Bundesregierungen, auf die Vergangenheit bezogen, Vorwürfe machen kann, wenn irgendeine Region strukturell nicht gut genug erschlossen zu sein scheint. Ich füge gleichzeitig hinzu, daß mir das aus
meiner Sicht beim Ruhrgebiet nicht der Fall zu sein scheint;
({0})
denn mit viel Aufwand, gerade auch durch Bundesmittel, ist dort eine Menge geleistet worden, worauf man stolz sein kann. Hiermit meine ich alle Bundesregierungen, die wir gehabt haben.
({1})
In zehn Jahren kann man natürlich schon ein bißchen mehr Defizite aufarbeiten. Es sollte bei Ihnen ja alles besser werden. Der Gutachter kommt zu einem anderen Ergebnis.
Ich möchte in meiner Fragestellung besonders darauf hinweisen: Die großen Wirtschaftsräume Hamburg, Frankfurt, München sind gerade durch den Schienenverkehr - ich nenne den Sprinter, ICE - bis heute noch nicht verbunden. Sie haben, was die Ausnutzung der Infrastruktur Schiene angeht, dadurch einen sehr großen Nachteil für wirtschaftliche Bezüge und Geschäftsverbindungen.
({0})
- Der Herr Fuchtel hat hier nicht zu antworten.
Ich gebe Ihnen gerne insoweit recht, Herr Kollege Urbaniak, daß es das Ziel einer jeden Region, eines jeden Bundeslandes sein muß, das Bestmögliche für den Zuständigkeitsbereich zu erreichen. Wenn Sie sich ansehen, was in dem jetzt geltenden Zeitraum sowohl bei der Schiene als auch bei der Straße unter dem vordringlichen Bedarf eingestuft ist, dann kann man wirklich nicht sagen, daß eine Vernachlässigung vorliegt. Mit Blick auf Straßenbauvorhaben muß ich mit Bedauern feststellen, daß einige, die wir hätten gefördert sehen wollen, vom Land als nicht so dringlich angesehen worden sind. Ich glaube, daß man, wenn die Studie bei uns vorliegt und ausgewertet ist, kompetenter über Einzelfragen reden kann.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Kann ich davon ausgehen, daß sich die Bundesregierung bemüht, den Wirtschaftsraum Ruhrgebiet durch den Ausbau des ICE-Verkehrs in nördlicher, östlicher und südlicher Richtung mithelfend voranzutreiben, damit die Nachteile, die gegenwärtig vorhanden sind, schnell abgebaut werden können?
Ich werde sehen, was wir seitens des BMV machen können.
Sie wissen, ab 1. Januar haben wir eine privatisierte Bahn, eine Aktiengesellschaft. Ich vermute, daß es auch im Sinne der Bahn sein wird, hier zu einem flexiblen Verkehrsablauf zu kommen. Insofern gehe ich der Sache in Ihrem Sinne nach.
Jetzt kommen wir zur Frage 36 des Kollegen Horst Kubatschka:
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Wird die Bundesregierung beim geplanten Ausbau der Donau zwischen Straubing und Vilshofen dafür Sorge tragen, daß ein fischereilicher Gutachter beauftragt wird, die gegenwärtige Situtation der Fischfauna festzustellen und die vorgelegten Ausbauvarianten dahin gehend zu prüfen, welche Folgen für die Fischfauna abzusehen sind, und gleichzeitig aus fischereibiologischer Sicht Optimierungsvorschläge vorzubringen?
Im Rahmen des im Anschluß an das Raumordnungsverfahren einzuleitenden Planfeststellungsverfahrens wird eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt, die u. a. die Bewertung der durch die Ausbaumaßnahme bedingten Auswirkungen auf die Fischfauna sowie die Festlegung eventueller Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen umfassen wird.
Zusatzfrage.
Das war wirklich eine sehr kurze Antwort.
Ist der Bundesregierung bewußt, daß die ca. 70 km lange freifließende Strecke der Donau zwischen der im Bau befindlichen Staustufe Straubing und dem Kachlet-Stau bei Vilshofen der wohl letzte nennenswerte Lebensraum für die Biozönose des großen Flusses ist?
Herr Kollege Kubatschka, ich bitte um Verständnis, wenn ich Ihnen zunächst sagen muß, daß der Rechtslage nach das Verfahren nach Landesrecht abgewickelt wird und die Bundesregierung insoweit keinen Einfluß darauf hat, was im Rahmen der Verfahren, die ablaufen, Berücksichtigung findet.
Wir wissen, daß es sich um einen Bereich handelt, der aus der Sicht der Umwelt außerordentlich große Bedeutung hat. Ich bin davon überzeugt - auch auf Grund dessen, was wir recherchieren konnten -, daß das bei den Verfahren der Raumordnung und der Umweltverträglichkeitsprüfung bestmöglich einbezogen wird.
Zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Kubatschka.
Ist die Bundesregierung dann bereit, mitzuhelfen, daß etwa vorliegende Gutachten der Öffentlichkeit bekanntgemacht werden, vor allem den Betroffenen? In diesem Fall z. B. handelt es sich um den Fischereiverband Niederbayern.
Ich weiß nicht, ob und welche Gutachten es gibt. Ich biete Ihnen aber an, daß wir das gleich noch einmal besprechen.
Wenn es bei der Regierung in Bayern liegt, ist natürlich sie kompetent. Ich will mich insoweit zur Verfügung stellen, um das, was man erreichen kann, auch durchzusetzen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Dann kommen wir zur Frage 37 der Kollegin Christa Lörcher:
Wieviele Arbeitsplätze in welchen Ausbildungsberufen stellen die Deutschen Bahnen in diesem Jahr zur Verfügung?
Frau Präsidentin, die Verlesung dieser Antwort dauert sehr lange, weil viele Zahlen abgefragt sind. Vielleicht können wir so verbleiben, Frau Kollegin Lörcher, daß ich die Antwort zu Protokoll gebe, Ihnen aber natürlich sofort die Antwort überreiche.
Es geht z. B. um die Einzelangaben der Zahlen der Ausbildungsplätze von über 20 Berufen. Ich will es gerne verlesen; es scheint mir aber nicht notwendig zu sein.
Herr Staatssekretär, vielleicht könnten Sie die Gesamtzahlen nennen. Dann könnte Frau Kollegin Lörcher ihre Zusatzfragen darauf abstellen. Sie können ihr dann die Details schriftlich mitteilen.
In diesem Jahr stellt die Deutsche Bundesbahn insgesamt 4 800 Ausbildungsplätze, die Deutsche Reichsbahn insgesamt 3 160 Ausbildungsplätze zur Verfügung.
Nun würde die Aneinanderreihung der Einzelzahlen folgen.*)
Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Ich bitte Sie um Auskunft darüber, wieviel der Auszubildenden, die dieses Jahr ihre Ausbildung abgeschlossen haben, von den Deutschen Bahnen übernommen wurden.
Ich bin hier nicht so kompetent, um Ihnen dies sagen zu können. Ich hoffe, alle, kann Ihnen dies aber nicht bestätigen. Ich will das gerne schriftlich nachreichen.
Das wäre schön.
Können Sie mir vielleicht darüber Auskunft geben: In welchen Ausbildungsbereichen ist eine Übernahme gesichert, in welchen Ausbildungsbereichen ist eine Übernahme schwierig oder unsicher?
Dies würde ich in die schriftliche Antwort einbeziehen.
Damit ist die zweite Zusatzfrage erledigt.
Wir kommen zu Frage 38 der Frau Kollegin Christa Lörcher:
Wie ist die Planung für die kommenden Jahre, und welche Zukunft hat die Ausbildungsstätte Villingen-Schwenningen ({0})?
Für das Jahr 1994 stellen die Deutschen Bahnen rund 5 000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. Nun kommt die Auflistung, wo. Das gebe ich dann auch zu Protokoll *), Frau Präsidentin, wenn es Ihnen recht ist.
Konkrete Aussagen für die folgenden Jahre, also nach 1994 - Sie haben ja gefragt, was in den folgenden Jahren zu erwarten steht - können gegen-
*) Anlage 5
wärtig nicht gemacht werden. Die Nachwuchsplanung ist als Teil der Personalplanung Bestandteil der unternehmerischen Wirtschaftsplanung, über die von der Geschäftsführung der Deutschen Bahnen erst in der zweiten Jahreshälfte 1994 für die Folgejahre entschieden wird.
Nach Auskunft der Deutschen Bundesbahn ist der Standort Villingen-Schwenningen von Kapazitätsanpassungsmaßnahmen nach einer Konzeption zur langfristigen Werkeordnung betroffen. Für die bereits heute dem Betriebswerk Singen/Hohentwiel angegliederte Stelle treten entscheidende Aufgabenänderungen bis Ende 1997 ein, mit der Folge, daß im kommenden Jahr neue Berufsausbildungen nicht begonnen werden können. Die gegenwärtig vorhandenen Berufsausbildungen werden jedoch an diesem Standort zu Ende geführt.
Herr Staatssekretär, kann die Bundesregierung eine Schließung dieser Ausbildungswerkstätte verantworten, angesichts der Tatsache, daß wir in Villingen-Schwenningen zusammen mit Mannheimjetzt schon die höchste Arbeitslosigkeit in Baden-Württemberg haben, und angesichts der Tatsache, daß diese Ausbildungsstätte eine hochqualifizierte Ausbildung durchführt und technisch hervorragend ausgestattet ist?
Herr Staatssekretär.
Es mag schwerfallen, hierauf mit Ja zu antworten. Ich will das aber als Mitglied der Bundesregierung durchaus so beantworten, allerdings mit der Maßgabe, daß ja die Bahn die Entscheidungen zu treffen hat. Wenn man eine Bahnreform beschlossen hat - wie im Deutschen Bundestag bereits geschehen -, dann muß es zu strukturellen Entscheidungen kommen, die positiv, aber an anderen Stellen durchaus auch negativ ausfallen können.
Ich bin nicht imstande, nun zu sagen, wie die regionalpolitische Bewertung hier ist. Ich habe Verständnis für die Sorge, die Sie äußern. In Ihrem Fall muß ich aber auch zum Ausdruck bringen, daß die Bahn ja etwas sehr Wichtiges beschlossen hat - was ich eben in der Beantwortung schon gesagt habe -: daß die Ausbildung auf alle Fälle zu Ende geführt werden kann, so daß die, die jetzt dort in der Ausbildung sind, keine Nachteile zu erwarten haben.
Frau Kollegin, die zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß die öffentliche Hand - und hierzu zähle ich auch die Bahnen - eine besondere Verantwortung für die Ausbildung unserer Jugendlichen hat?
Ja.
Es liegen keine weiteren Zusatzfragen vor.
Herr Staatssekretär, die letzte Frage Ihres Geschäftsbereiches - Frage 39 - wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereiches. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht Frau Staatsministerin Ursula Seiler-Albring zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 41 des Kollegen Claus Jäger auf:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Zerstörung einer katholischen Kirche durch die chinesische Polizei in der Stadt Donguzhai/Provinz Hebei in der Volksrepublik China, und wie beurteilt die Bundesregierung diese als Desavouierung gegenüber dem Bundeskanzler wenige Tage nach seinem Besuch in der Volksrepublik wirkende schwere Menschenrechtsverletzung durch chinesische Behörden?
Herr Kollege Jäger, der von Ihnen genannte Vorfall ist der Bundesregierung aus kirchlichen Kreisen bekannt. Dabei soll ein von Mitgliedern der Untergrundkirche ohne Zustimmung der Behörden gebautes Gebäude am 16. Oktober 1993 abgerissen worden sein. Die Bundesregierung sieht diesen Vorfall, wenn er in der berichteten Form stattgefunden hat, als gravierend an.
Zusatzfrage, Herr Kollege.
Frau Staatsminister, teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß in einem zentral gelenkten Staat wie der Volksrepublik China eine derartige Maßnahme nicht von untergeordneten Behörden in eigenem Ermessen vorgenommen wird, sondern daß derartige Vorgänge mit Billigung der Staatsführung erfolgen, und daß, wenn sie mit Billigung der Staatsführung in diesem Falle erfolgt sind, dies in der Tat eine Provokation des deutschen Bundeskanzlers darstellen, der sich zu diesem Zeitpunkt in China aufgehalten hat?
Herr Kollege Jäger, diese Bewertung teilt die Bundesregierung in dieser Form nicht. Denn abgesehen davon, daß die Situation der Kirchen in China hier wirklich keiner Diskussion bedarf - sie ist außerordentlich unbefriedigend -, ist es trotzdem so, daß dies nicht immer von der offiziellen Linie der chinesischen Zentralregierung abhängt, sondern auch sehr stark von der Haltung lokaler Behörden. Wir wissen, daß es neben sehr vielen und viel zu vielen negativen Berichten auch immer wieder positive Meldungen gibt, aber wie ich vorhin eingangs gesagt habe, beurteilen wir die Situation der Kirchen in der Volksrepublik China als nach wie vor außerordentlich kritisch und unbefriedigend.
Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Jäger.
Frau Staatsminister, wird die Bundesregierung die Beurteilung dieses Falles als gravierend, wie Sie es hier vorgetragen haben, der
chinesischen Regierung in Peking mitteilen? Oder hat sie das vielleicht bereits getan?
Herr Kollege Jäger, die Bundesregierung wird die Botschaft in Peking um Berichterstattung bitten und, falls diese Berichterstattung den angesprochenen Vorfall bestätigt, hier den chinesischen Botschafter einbestellen.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 42 und 43 des Kollegen Dr. Klaus Kübler werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen damit zur Frage 44 des Kollegen Klaus-Jürgen Hedrich:
In welcher Form hat sich die griechische Regierung für die Entgleisungen ihres Europaministers Pangalos entschuldigt, der Deutschland der „Großmannssucht" bezichtigt und als Land mit der „Kraft eines Monstrums und dem Gehirn eines Kindes" bezeichnet hat?
Herr Kollege Hedrich, auf die von Ihnen angesprochenen Äußerungen hin ist der griechische Botschafter in das Auswärtige Amt einbestellt worden. Außerdem hat Außenminister Kinkel am Rande der jüngsten Genfer Konferenz den griechischen Außenminister Papoulias angesprochen und diesem das Mißfallen der Bundesregierung über die Äußerungen zum Ausdruck gebracht. Unser Botschafter in Athen hat sowohl mit Außenminister Papoulias als auch mit Europaminister Pangalos im gleichen Sinne ein Gespräch geführt.
Alle griechischen Gesprächspartner haben großen Wert auf die Feststellung gelegt, daß eine Belastung der deutsch-griechischen Beziehungen nicht beabsichtigt gewesen sei.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Hedrich.
Frau Staatsministerin, in Würdigung Ihres Bemühens, diesen Vorfall nicht besonders hochzustilisieren, möchte ich mir trotzdem die Nachfrage erlauben: Hat es eine formelle Entschuldigung der griechischen Regierung gegeben, ja oder nein?
Diese hat es noch nicht gegeben. Wir erwarten nach wie vor eine öffentliche befriedigende Erklärung der griechischen Seite.
Dazu gibt es keine weitere Zusatzfrage.
Wir kommen zur Frage 45 des Kollegen KlausJürgen Hedrich:
Wie bewertet die Bundesregierung die Kritik von Herrn Pangalos an der Mazedonien-Politik unserer Partner und unseres eigenen Landes?
Zu Ihrer zweiten Frage, Herr Kollege Hedrich: Europaminister Pangalos hat sich aus dem von Ihnen erwähnten Anlaß nicht konkret zur Mazedonien-Politik geäußert. Die Bundesregierung betrachtet aber die im weiteren
Zusammenhang von Herrn Pangalos erhobenen Vorwürfe auch der Sache nach als unbegründet.
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.
Frau Staatsministerin, ist es richtig, daß im Zusammenhang des Gespräches unseres Außenministers mit Herrn Pan-galos dieser zu verstehen gegeben hat, daß die griechische Regierung wohl mittelfristig keine Einwände gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen anderer Mitglieder der Europäischen Union mit Skopje hätte?
Herr Hedrich, das kann ich deshalb nicht bestätigen, weil es nach meinem Wissen kein Gespräch zwischen Herrn Außenminister Kinkel und Herrn Pangalos gegeben hat.
Noch eine Zusatzfrage, Herr Kollege Hedrich.
Diesen Hinweis nehme ich natürlich sofort zur Kenntnis. Hat es denn sonstwie Gespräche zwischen Herrn Pangalos und Mitgliedern der deutschen Bundesregierung zu diesem Thema gegeben?
Nein, soweit mir das bekannt ist, nicht. Ich habe Ihnen ja eingangs gesagt, daß unser Botschafter in Athen mit Europaminister Pangalos ein Gespräch geführt hat. Am Rande des Allgemeinen Rates in Brüssel haben keine Gespräche mit Herrn Pangalos stattgefunden.
Nun noch eine Zusatzfrage dazu vom Kollegen Jäger.
Frau Staatsminister, bewertet auch die Bundesregierung die Äußerungen des Herrn Pangalos so, daß mit diesen starken Worten imperialistische Tendenzen bestimmter griechischer Regierungskreise überdeckt werden sollen, die sich darauf richten, die Republik Mazedonien auf längere oder mittlere Frist wieder in den Bereich des griechischen Staates zu bringen?
Herr Kollege Jäger, Sie werden sich nicht wundern, wenn ich Ihnen hier nicht bestätigen kann, daß die Bundesregierung imperialistische Tendenzen bei unserem Partner in der Europäischen Union feststellt. Ich glaube, die Äußerungen von Europaminister Pangalos müssen als solche gewertet werden. Hier möchte ich noch einmal sagen, daß sie in der Form nicht angemessen und auch im Inhalt wirklich maßlos sind.
Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor.
Die Fragen 46 und 47 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Herzlichen Dank, Frau Staatsministerin. Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereiches und damit auch am Ende der Fragestunde angekommen.
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Ich rufe Punkt 19a bis c und 19e der Tagesordnung auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung von Partnerschaftsgesellschaften und zur Änderung anderer Gesetze
- Drucksache 12/6152 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({0}) Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Gesundheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechtspflegergesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 12/6243 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksache 12/6349 -Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({2}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
Haushaltsausschuß
e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer ({3}), Dr. Hans de With, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Wiederaufnahmerechts
- Drucksache 12/6219 -
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20b bis 20d sowie den Zusatzpunkt 5 a bis 5 f auf:
20. Abschließende Beratungen ohne Aussprache
b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 9 vom 6. November 1990 sowie zu dem Protokoll Nr. 10 vom 25. März 1992 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
- Drucksache 12/4474 - ({4})
Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 12/6188 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jürgen Schmude Heinrich Seesing
c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Gesetzes fiber die Deutsche Bundesbank
- Drucksache 12/5169 - ({6})
Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 12/6365 -
Berichterstattung: Abgeordneter Joachim Poß
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 131 zu Petitionen
- Drucksache 12/6302 ZP5 weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({9})
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rechtsakt vom 25. März 1993 zur Änderung des Protokolls fiber die Satzung der Europäischen Investitionsbank
- Drucksache 12/5941 - ({10})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({11})
- Drucksache 12/6300 -
Berichterstattung: Abgeordneter Martin Grüner
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({12}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/6397 Berichterstattung:
Abgeordnete Adolf Roth ({13}) Dr. Wolfgang Weng ({14}) Helmut Wieczorek ({15})
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({16}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Fünfundachtzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung -- Drucksachen 12/5656, 12/6316 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Elke Leonard-Schmid
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({17}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Vizepräsidentin Renate Schmidt
Aufhebbare Neunundzwanzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 12/5554, 12/6317 -Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Kittelmann
d) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 132 zu Petitionen
- Drucksache 12/6388 -
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 133 zu Petitionen
- Drucksache 12/6389 -
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitonsausschusses ({20}) Sammelübersicht 134 zu Petitionen
- Drucksache 12/6390 -
Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir stimmen deshalb jetzt gleich ab, und zwar zunächst über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten auf der Drucksache 12/4474. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6188, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist dieser Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 20 c. Dabei handelt es sich um die Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes über die Deutsche Bundesbank. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6365, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 12/5169 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? -- Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt, und es entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir sind damit beim Tagesordnungspunkt 20 d. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 12/6302. Dies ist die Sammelübersicht 131. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist diese Beschlußempfehlung bei einer Stimmenthaltung einstimmig angenommen.
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 5 a und damit zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Protokolls über die Satzung der Europäischen Investitionsbank auf der Drucksache 12/5941. Der Finanzausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/6300, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist bei einer Stimmenthaltung und einer Gegenstimme dieser Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen damit zu den Zusatzpunkten 5 b und 5 c. Dabei handelt es sich um Beschlußempfehlungen des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Ausfuhrliste und der Außenwirtschaftsverordnung auf den Drucksachen 12/6316 und 12/6317. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit sind diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen.
Wir kommen damit zu den Zusatzpunkten 5 d bis 5f. Dabei handelt es sich um die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/6388 bis 12/6390. Dies sind die Sammelübersichten 132 bis 134. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit sind diese Beschlußempfehlungen bei wenigen Enthaltungen einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 a und 9 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ottmar Schreiner, Rolf Schwanitz, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über einen erleichterten Altersübergang für Arbeitnehmer und Arbeitslose in den ostdeutschen Bundesländern ({21})
- Drucksache 12/3974 ({22})
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({23})
- Drucksache 12/4632 - Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz-Jürgen Kronberg
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({24}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 12/4729 - Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Gero Pfennig
Ina Albowitz
Karl Diller
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({25}) zu dem Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste Altersübergangsgeld bis 1995
- Drucksachen 12/3737, 12/4632 - Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz-Jürgen Kronberg
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu einen irgendwie gearteten Widerspruch? - Dieses ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Damit Sie, die Sie hier sitzen, auch Bescheid wissen: Die Sonderfraktionssitzungen beginnen für alle Fraktionen, soweit sie welche anberaumt haben, um 17 Uhr. Dann wird die Sitzung unterbrochen. Sie können also jetzt hierbleiben.
Dann darf ich die Aussprache eröffnen und das Wort als erster der Kollegin Renate Jäger erteilen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden heute nochmals über ein Thema, dessen viele eigentlich schon überdrüssig sind und es fast für erledigt halten. Ich halte es aber nach wie vor für aktuell und kann nicht akzeptieren, daß Menschenschicksale vor den Haushaltszahlen in den Hintergrund treten sollen.
In der ersten Lesung zu unserem Gesetzentwurf über einen erleichterten Altersübergang in den neuen Bundesländern im Januar 1993 beschwerte sich unser werter Herr Kollege Feilcke darüber, daß die Beratung solcher Art Anträge ihm Zeit stehle und davon ablenke, das Notwendige und Mögliche zu tun.
({0})
Im längsten Teil seiner Rede beschreibt er das aus seiner Sicht Notwendige und Mögliche, nämlich die Teilvorruhestandsregelung in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Kollegen der CDU aus den sechs östlichen Bundesländern hatten wohl diesen Vorschlag in ihrer Fraktion eingebracht, und man versprach ihnen, diesen seriös zu prüfen.
Ich gestehe ehrlich, dieser Gedanke entbehrte nicht eines gewissen Reizes und bewirkte bei mir auch gewisse Hoffnung. Doch was ist mit dieser Teilvorruhestandsregelung passiert? Sie ist still in der Versenkung verschwunden. Noch in der Beschlußempfehlung vom März, über die wir heute sicher abstimmen werden, ist sie enthalten. War das also nur eine Farce, nur das berühmte Pflästerchen auf eine Wunde, die eigentlich ordentlich behandelt werden müßte? Oder liegt es an den Ausführungen des Herrn Staatssekretärs Kraus in der besagten Debatte? Ich zitiere:
Eine ähnliche Möglichkeit
- hier ist der Teilruhestand gemeint gibt es bisher schon. Interessanterweise . . wird von diesem Instrument viel zu wenig Gebrauch gemacht. Vielleicht liegt das auch daran, daß das in der Öffentlichkeit noch zu wenig bekannt war.
Meinte der Herr Staatssekretär das alte Teilzeitgesetz, dann ist dieses für neue Voraussetzungen bereits ausgelaufen. Meinte er die anderen unbekannteren Möglichkeiten, so hat er diese auch nicht stärker propagiert.
Von der Bundesregierung sind im September dieses Jahres Propagandaseiten in den Anzeigeblättern der Lokalzeitungen
({1})
in den neuen Bundesländern für ca. 2,5 Millionen DM geschaltet worden. Fehlte da etwa für die notwendigen Sachinformationen das Geld?
Wenn Sie, Herr Fuchtel, sagen: „reine Sachinformation", dann möchte ich Ihnen das Gegenteil beweisen. Ich habe in diesem Zusammenhang auch eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Ich habe mir erlaubt, eine solche Seite mitzubringen. Angesichts der derzeitigen Situation in den neuen Bundesländern: „Arbeit und Wohlstand, sichere Arbeitsplätze, die Einkäufer kommen, eine Wende zum Guten, im
Wachstum europaweit vorne„. Das steht in dieser Anzeigenseite der Bundesregierung.
({2})
Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, als ich diese Seiten
las, kam ich mir sehr zurückversetzt in die DDR-Zeiten
VOL
({3})
Es tut mir leid.
({4})
- Ich gebe sie Ihnen dann.
Lassen Sie mich aber in diesem Zusammenhang auch noch einen Blick auf die Arbeitsmarktstatistik werfen: Der leichte Rückgang der Arbeitslosigkeit im Osten und der leichte Anstieg im Westen im Verhältnis zum Vormonat halten sich so scheinbar die Waage. Das scheint einigermaßen zu beruhigen. Wenn sich jedoch seit unserer Januardebatte die offizielle Arbeitslosenquote im Osten von 15,1 auf nunmehr 15,8 % und im Westen von 7,4 auf nunmehr 8,7 % erhöht hat, ergibt das leider ein Bild, das uns wenig beruhigen kann.
Mit dieser Tendenz steigen natürlich auch die Zahlen der Langzeitarbeitslosen in Ost und West. Es dürfte Ihnen hinreichend bekannt sein, daß die wesentlichen Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit in der mangelnden Qualifikation und im Alter liegen. Ein weiterer Grund, der noch anzuführen ist, liegt in der Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
Da seit langem Handlungsbedarf besteht, hatten wir, die SPD-Fraktion, mehrere Vorschläge eingebracht. Hier nur drei Beispiele. Erstens. Angesichts der sich verringernden Schere zwischen Arbeitslosigkeit ({5}) und Arbeitslosigkeit ({6}) sind die Instrumente zur Entlastung des Arbeitsmarktes nicht mehr nur vorrangig für die östlichen Bundesländer zu schaffen. Daher sah unser Gesetzentwurf zum Altersübergang zunächst auch die Ausdehnung auf WestBerlin vor.
({7})
Zweitens. Unser Antrag für ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz war ausgerichtet auf Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und auf ganz Deutschland bezogen. Er beabsichtigte ebenfalls, den Status des Langzeitarbeitslosen weitestgehend abzuschaffen.
({8})
Leider haben Sie diese Vorschläge nicht aufgegriffen.
Drittens hatten wir in unserem Antrag „Zukunftsorientierte Arbeitsmarktpolitik: Arbeit statt Arbeitslosigkeit" den Grundgedanken eingebracht, mit dem Arbeitslosengeld der Bundesanstalt für Arbeit lieber Arbeit zu finanzieren als Nichtstun, einen Gedanken, den Kollege Laumann in der ersten Lesung als den
Renate Jager
„intelligentesten Einfall seit langer Zeit" bezeichnet hat. Erfreulicherweise hat die Koalition diesen Vorschlag in ihr Programm „Arbeit und Umwelt" aufgenommen, aber nicht konsequent umgesetzt. Leider ist er - darüber sind sich die Experten einig - zu einem unzureichenden § 249h AfG verkommen.
Wir wären hocherfreut, wenn Sie die Grundidee von uns auch auf den Westteil unseres Landes übertragen würden, aber bitte mit Tariflöhnen. Die Gewerkschaften haben Rücksicht auf schwierige wirtschaftliche Unternehmenssituationen signalisiert, aber eben nicht ohne tarifliche Vereinbarung.
Dann wäre es schon gut für unser Land, wenn Sie die Vorschläge des Bundesrates zur Ausweitung und Vervollkommnung dieses Instrumentes unterstützen würden. Der Bundesrat möchte es nicht nur auf die Bereiche Umwelt, soziale Dienste und Jugend beschränkt wissen, sondern es ausdehnen auf die Bereiche Infrastruktur, Forschung und Entwicklung, Breitensport und Kultur.
({9})
Meine Damen und Herren, ich kann mir schon vorstellen - so sind ja Ihre Zwischenrufe -, welcher Art die Grundaussagen der folgenden Koalitionsredner sein werden:
({10})
Mit solchen Regelungen können wir nicht die Finanzlage verbessern, nicht den Haushalt konsolidieren, es darf nicht noch mehr Geld in den öffentlich geförderten Arbeitsmarkt gesteckt werden, wir wollen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, usw., usf.
Das ist ja alles richtig in „normalen Zeiten". Aber was tut denn die Regierung in dieser Krise zur Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen? Wo ist denn das Programm zum Erhalt der letzten industriellen Kerne im Osten unseres Landes? Was wird denn getan, um in der Wirtschaft den Mangel an Innovation und Management, an Produkt- und Produktionserneuerung zu beseitigen? Wo sind die Investitionen in neue Technologien und Zukunftsprojekte?
({11})
Diese Konzepte habe ich nicht gesehen. Gegen diese eigentlichen Ursachen der großen Krise unternehmen Sie doch nichts. Statt dessen beschwören Sie immer lauter die Arbeitskosten und den Leistungsmißbrauch, während der große Steuermißbrauch durch Vermögende unverhältnismäßig wenig berührt wird. Es geht nicht vorrangig nur um Haushaltskonsolidierung, es geht doch um Wirtschafts- und Beschäftigungskonsolidierung.
Wenn auf diesem Gebiet etwas passieren würde, dann könnten wir gut und gerne auf solche Anträge verzichten. Gebt den Menschen Arbeit, dann ist Altersübergangsgeld nicht notwendig. Solange wir
das erstere nicht ausreichend haben, brauchen wir das letztere oder etwas Äquivalentes.
({12})
Daß hier Handlungsbedarf besteht, ist unumstritten. Immerhin ist allein in den neuen Ländern die Zahl der über 55jährigen Arbeitslosen von 44 000 im September 1992 auf 84 000 im Oktober 1993 angestiegen, also fast um das Doppelte.
In diesen schönen Informationen des Bundesarbeitsministeriums - ich zeige sie Ihnen noch einmal -, die uns in den letzten Tagen zugegangen sind, sind auf der Seite 3 Altersübergang und Vorruhestand als wirkungsvolle Instrumente ausgewiesen. Trotz der größer gewordenen Notwendigkeit, die an den eben genannten Zahlen deutlich wird, läßt man sie „schrittweise auslaufen", wie es so schön heißt.
Der Widerspruch zwischen der derzeitigen Situation älterer Menschen am Arbeitsmarkt und den Lösungsansätzen durch die Koalition wird in der Beschlußempfehlung des Ausschusses deutlich: Problem erkannt, Lösung aus finanziellen Gründen ausgeschlossen, obwohl für diese Menschen sowieso bezahlt werden muß. Eine Alternative, eine kluge Idee liegen nicht vor. Also weiter so, wie mit vielen Problemen in diesem Land: liegen lassen.
Ich bitte Sie, stimmen Sie dieser Beschlußempfehlung nicht zu.
Danke schön.
({13})
Als nächster spricht nun der Kollege Heinz Rother.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wäre mir wohl jetzt und hier lieber, als die Verlängerung einer im Grundsatz richtigen und in der Vergangenheit bewährten Maßnahme zu verkünden? Die eingebrachten Gesetzentwürfe zur Verlängerung des Altersübergangsgeldes der SPD sowie der PDS/Linke Liste sind zwar keine schlechte Idee, aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, hier befinden wir uns natürlich in einer fundamental anderen Lage als Sie, die Sie fordern und fordern können - alles, was den Menschen wohlgefällt -, sich aber nie Gedanken um die Finanzierung ihrer Forderungen machen müssen und schon gar nicht ein entsprechendes Konzept dafür bereithalten.
({0})
Ich meine, jeder von uns würde sich über diese Verlängerung des Altersübergangsgeldes freuen, hat er doch in seinem Bekannten- oder Verwandtenkreis Betroffene dieser Regelung. Jeder von uns weiß, daß wir uns auch weiterhin in einer wirtschaftlich und besonders für ältere Arbeitnehmer arbeitsmarktpolitisch schwierigen Situation befinden. Aber jeder der hier Anwesenden weiß auch, daß wir keinen Zweifel daran gelassen haben, daß nach zweimaliger Verlän17260
gerung des Altersübergangsgeldes diese Regelung mit dem Ende des Jahres 1992 aus finanziellen Gründen auslaufen muß.
Für über 600 000 Bezieher bilden Altersübergangsgeld und für 190 000 Empfänger Vorruhestandsgeld eine wichtige Brücke zwischen Arbeitslosigkeit und Rente. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, daß hierfür die Ausgaben im Etat für Arbeit und Soziales 1994 um 2 Milliarden DM auf 6,8 Milliarden DM steigen. Hinzu kommen weitere 8 Milliarden DM aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit.
Ich glaube, allein an Hand dieser wenigen Zahlen wird deutlich, in welcher Größenordnung wir uns hier bewegen. An dieser Stelle ist ein ehrliches Nein besser als zwei falsche Ja. Deshalb möchte ich hier festhalten, daß wir die Anträge der SPD und der PDS/Linke Liste ablehnen.
Die Bundesregierung hat leider momentan keinen finanziellen Spielraum, um diese Maßnahmen zu verlängern. Aber sie hat doch durch eine Vielzahl von wirtschafts-, finanz- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen einerseits den Aufbau neuer Arbeitsplätze gefördert und andererseits den Abbau alter Beschäftigungen sozialpolitisch abgefedert. Hier kann man nun der Bundesregierung wirklich keine Versäumnisse vorwerfen.
Durch den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente nach dem Arbeitsförderungsgesetz wurde der Arbeitsmarkt 1991 und 1992 im Jahresdurchschnitt um 1,9 Millionen Personen entlastet. 1993 werden es insgesamt rund 1,7 Millionen und 1994 immerhin noch rund 1,35 Millionen Menschen sein.
Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben nach der Wende einen zentralen Beitrag geleistet, und zwar nicht nur um einen Dammbruch am Arbeitsmarkt zu verhindern, sondern auch um kommunale und soziale Strukturen für die erste Übergangszeit vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Bei der Organisation dieser Maßnahmen haben die einzelnen Träger und die Bundesanstalt für Arbeit mit ihren Arbeitsämtern vor Ort, bei denen ich mich auch an dieser Stelle einmal ganz herzlich bedanken möchte, eine großartige Aufbauarbeit geleistet.
({1})
1991 waren im Jahresdurchschnitt 183 000 Personen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt. 1992 waren es bereits 388 000 Personen. 1993 und 1994 wird die Zahl der in ABM beschäftigten Personen allerdings deutlich zurückgehen. Wegen der hohen Zahl von Maßnahmen, die 1992 liefen und 1993 weiterlaufen, standen der Bundesanstalt für Arbeit nur noch geringe Mittel für Neueintritte 1993 zur Verfügung. Aber auch hier reagierte die Bundesregierung sofort und stellte im März zusätzlich 2 Milliarden DM für neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Verfügung. Die Arbeitsämter konnten damit auch weiterhin auf das bewährte arbeitsmarktpolitische Instrument der ABM zurückgreifen.
Seit dem 1. Januar 1993 gibt es eine zusätzliche Möglichkeit, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Mit dem § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes gibt es die Möglichkeiten, für Maßnahmen in den
Bereichen Umwelt, soziale Dienste und Jugendhilfe einen Lohnkostenzuschuß in Höhe der pauschalierten Arbeitslosenunterstützung zu zahlen.
Hierzu möchte ich allerdings vorschlagen, über eine Erweiterung der Betätigungsfelder nachzudenken. In Betracht käme meines Erachtens eine Erweiterung auf den Sportbereich sowie auf den Wissenschaftsbereich, worüber noch beraten werden muß.
({2})
Im Oktober befanden sich rund 50 000 Personen in solchen Maßnahmen. Im Haushalt des BMA sind dafür weitere 0,4 Milliarden DM vorgesehen und im Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit weitere 1,2 Milliarden DM. Damit stehen Mittel für insgesamt etwa 90 000 Beschäftigte zur Verfügung, wobei bei Bedarf durch Umschichtungen weitere Mittel bereitgestellt werden können.
Auch die Teilnahme an beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen wurde mit hohen Aufwendungen gefördert. Seit der Vereinigung sind mehr als zwei Millionen Personen neu in eine Weiterbildungsmaßnahme eingetreten. Damit ist aber auch die Grenze der Finanzierbarkeit erreicht.
Ende Oktober 1993 nahmen noch 311 000 Frauen und Männer an AFG-geförderten Weiterbildungsmaßnahmen teil. Die einzelnen Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik werden flexibel eingesetzt und können so jederzeit der aktuellen Arbeitsmarktlage angepaßt werden.
Ohne die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung hätte der durch den Zusammenbruch der maroden Staatswirtschaft der DDR bedingte Abbau von über drei Millionen Arbeitsplätzen für alle Betroffenen Arbeitslosigkeit zur Folge gehabt - mit all ihren schlimmen Konsequenzen. Auch öffentliche Verwaltungsstrukturen und Dienstleistungen wären ohne ABM in der Anfangsphase nach der Wende zusammengebrochen.
Insgesamt standen damit 1992 über 40 Milliarden DM in den Haushalten der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundes für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Bundesländern bereit. In diesem Jahr sind es einschließlich der Nachtragshaushalte sogar über 45 Milliarden DM. Im nächsten Jahr werden es immerhin noch 37 Milliarden DM sein.
Die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung hat damit in hohem Maße dazu beigetragen, den Wandel von der sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft sozialverträglich zu gestalten und vorhandene Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen.
({3})
Daß die ganzen Anstrengungen der Bundesregierung nicht umsonst waren, zeigen erste deutliche Signale, die auf eine Stabilisierung des Arbeitsmarktes in den neuen Bundesländern hindeuten. Die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern lag zur Jahresmitte 1993 mit 1,1 Millionen um über 20 000 niedriger als im Vorjahr. Ebenso sind positive Entwicklungen im Bereich der Kurzarbeit zu verzeichHeinz Rother
nen; 1993 gab es über 200 000 Kurzarbeiter weniger als im Jahr zuvor.
Auch im November hielt diese Stabilisierung an, wo ganz im Gegensatz zum sonst üblichen saisonbedingten Anstieg der Arbeitslosigkeit eine leichte Besserung mit 15 000 weniger Arbeitslosen im Vergleich zum Vormonat zu verzeichnen ist.
Hieran wird meines Erachtens auch deutlich erkennbar, was der einzig erfolgversprechende Weg aus der derzeitigen Krise ist: Wir müssen unsere ganze Kraft und damit auch die überwiegenden Finanzmittel des Bundes zur Sicherung vorhandener und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze einsetzen. Die Mittel, die wir zur sozialen Absicherung des Übergangs einsetzen, müssen dabei effektiver angewendet werden.
Es kann doch nicht das Ziel sein, Arbeitnehmer im besten Erwerbsalter, die fast noch ein Jahrzehnt bis zur Erreichung der Regelaltersgrenze der Rentenversicherung vor sich haben, vorzeitig in den Ruhestand zu schicken. In Zukunft muß wieder verstärkt die Wiedereingliederung der Arbeitslosen, nicht deren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben das Ziel unserer Bemühungen sein.
({4})
Ich könnte mir hier anstelle des Vorruhestands- und Altersübergangsgeldes gut eine Teilvorruhestandsregelung vorstellen, liebe Frau Jäger, die sich allerdings nicht auf die neuen Bundesländer beschränken dürfte.
({5})
Dies hätte zum einen den Vorteil, daß die öffentliche Hand dadurch nicht unbeträchtlich entlastet würde, und zum anderen hätte dies Vorteile für die Betroffenen, denen dadurch ein flexiblerer Übergang in den Ruhestand ermöglicht würde. Hierzu sind auf alle Fälle Beratungen notwendig, die - Frau Jäger, ich spreche Sie noch einmal an - auch geführt werden.
Auch im Bereich der Sozialleistungen könnte man sich einen effektiveren Einsatz der Mittel vorstellen. Wir wollen, daß Empfängern von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Sozialhilfe von den Kommunen gemeinnützige Aufgaben zugewiesen werden. Hierdurch ließe sich das Selbstwertgefühl dieser Menschen steigern, und die Solidargemeinschaft hätte in gewisser Weise auch eine Gegenleistung für Ihre Solidarität. Weiterhin bleibt eine vordringliche Aufgabe, den Leistungsmißbrauch zu bekämpfen, um auch hier einen effektiveren Einsatz der Geldmittel zu gewährleisten.
({6})
Insgesamt möchte ich nochmals feststellen, daß der Schwerpunkt unserer Bemühungen und der Einsatz der Finanzmittel auf die Erhaltung und Schaffung neuer Arbeitsplätze ausgerichtet sein muß und daß die Mittel zur sozialen Abfederung des Umstrukturierungsprozesses so effektiv wie möglich eingesetzt werden müssen. Dies muß schließlich zur Eingliederung von Menschen in den Arbeitsprozeß führen und nicht zur vorzeitigen und dauerhaften Ausgliederung.
Diesen Ansprüchen genügen beide vorliegenden Anträge nicht. Sie sind deshalb abzulehnen.
({7})
Wie sagte Goethe so treffend: In der Begrenzung zeigt sich der Meister.
Ich bedanke mich.
({8})
Nun spricht Frau Kollegin Dr. Eva Pohl.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heutige Beratung zum Altersübergangsgeld gibt mir als Sozialpolitikerin der F.D.P. und Thüringerin die Gelegenheit, die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung in den vergangenen drei Jahren in den neuen Bundesländern zu würdigen.
({0})
Ohne diese Arbeitsmarktpolitik - von Arbeitsbeschaffungs- und Weiterqualifizierungsmaßnahmen über Vorruhestandsgeld bis zum Altersübergangsgeld - hätte der durch den Zusammenbruch der maroden Staatswirtschaft der ehemaligen DDR bedingte Abbau von über 3 Millionen Arbeitsplätzen in der Anfangsphase der Vereinigung unstreitig Arbeitslosigkeit von nicht gekanntem Ausmaß zur Folge gehabt.
({1})
Diese Arbeitsmarktpolitik wurde - das müssen wir hier auch sagen - teuer erkauft. Nehmen wir das hier diskutierte Altersübergangsgeld. Am 3. Oktober 1990 wurde das Altersübergangsgeld im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes, § 249e, in den neuen Ländern eingeführt. Ursprünglich befristet bis zum 31. Dezember 1991 und gedacht für Arbeitnehmer, die nach Vollendung des 57. Lebensjahres ihren Arbeitsplatz verlieren, wurde das Übergangsgeld für Neuanträge bis zum 31. Dezember 1992 verlängert und für arbeitslose Arbeitnehmer schon ab dem 55. Lebensjahr geöffnet. Im Oktober 1993 bezogen 630 000 Personen von Mecklenburg bis Thüringen Altersübergangsgeld. Sie erhielten 65 % des letzten Nettolohns. Allein im Jahre 1992 kostete dieses arbeitsmarktpolitische Instrument 9,3 Milliarden DM.
Eine Verlängerung dieser Regelung wäre mit Mehrkosten von etwa 1,5 bis 2 Milliarden DM jährlich verbunden. Eine Fortführung dieser Maßnahme ist in heutiger Zeit somit schon aus finanziellen Erwägungen nicht mehr zu verantworten.
Außerdem, meine Damen und Herren von der SPD: Wie wollen Sie eigentlich begründen, daß das Altersübergangsgeld - wie in Ihrem Gesetzentwurf verfaßt - auf die neuen Bundesländer und Berlin beschränkt bleibt? Regionen mit schwieriger Arbeits17262
marktlage gibt es schließlich auch im Westen der Bundesrepublik.
({2})
Die Worte des Präsidenten des nordrhein-westfälischen Landesarbeitsamtes, Pröbsting, von einer „Neuauflage mit gleichzeitiger Übernahme des Altersübergangsgeldes auch auf die alten Bundesländer" vom August dieses Jahres zielen ja gerade in diese Richtung.
Noch ein zweites wichtiges Argument spricht gegen die wiederholte Verlängerung der Zahlung des Altersübergangsgeldes. Es darf hier nicht der Eindruck entstehen, daß über kurz oder lang der Vorruhestand mit dem 55. Lebensjahr beginnt.
({3})
Eine solche Erwartungshaltung in unserer Gesellschaft zu wecken wäre fatal, ganz abgesehen davon, daß eine solche Regelung überhaupt nicht zu finanzieren wäre.
({4})
Wir sollten in diesem Zusammenhang auch einmal überlegen, ob nicht die Gefahr bestünde, daß ältere Arbeitnehmer durch solche Fördermaßnahmen bewußt aus dem Erwerbsleben gedrängt werden.
Eine mit großem finanziellen Einsatz durchgeführte umfassende Arbeitsmarktpolitik des Staates darf nur in außergewöhnlichen Umbruchzeiten geleistet werden. Die F.D.P. hat diese als notwendig erkannten Maßnahmen für die erste Zeit der Herstellung der Einheit mitgetragen. Dies taten wir im Bewußtsein, daß es zu jenem Zeitpunkt keine arbeitsmarktpolitischen Alternativen gab, auch wenn wir von der F.D.P. grundsätzlich jeder Art von staatlich subventionierten Arbeitsmarktmaßnahmen mehr als kritisch gegenüberstehen.
({5})
Doch in der jetzigen Phase einer beginnenden wirtschaftlichen und strukturellen Konsolidierung in den neuen Ländern müssen wir uns verstärkt einer Konjunkturbelebung zuwenden. Darauf müssen wir unsere knappen Geldmittel konzentrieren. Denn nur auf diesem Wege werden dauerhafte und konkurrenzfähige Arbeitsplätze geschaffen.
Ein Wort zum Schluß noch an die Adresse der SPD: Ich erachte es nicht als besonders konstruktiv und originell, wie Sie auf der einen Seite das Füllhorn sozialer Wohltaten ausschütten wollen, auf der anderen Seite jedoch verschweigen, woher dafür das Geld zu nehmen sei, und jeden notwendigen Einsparversuch monatelang blockieren.
({6})
Überlassen Sie diese destruktive Politik der PDS, die das hier seit drei Jahren vorexerziert!
Ich danke Ihnen.
({7})
Nun hat Frau Kollegin Petra Bläss das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit gestern können 120 000 55jährige im Osten, von denen im Schnitt zwei Drittel ohne Chance auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt arbeitslos werden, erst einmal aufatmen. Sie werden durch die Aufhebung der zeitlichen Begrenzung der Gewährung von Arbeitslosenhilfe im SKWPG nicht mehr davon bedroht, kurz vor dem vorzeitigen Rentenbeginn auch noch der entwürdigenden Sozialhilfe anheimzufallen. Doch eine soziale Sicherung ist das nicht. Die Altersübergangsregelung, die ältere von Arbeitslosigkeit Bedrohte relativ sozial absicherte und per 31. Dezember 1992 abgeschafft wurde, bis Ende 1995 fortzusetzen war das Anliegen unseres Antrags vom 12. November vorigen Jahres.
In der Beschlußempfehlung vom 25. März dieses Jahres begründen die Vertreterinnen und Vertreter der Koalition ihre Ablehnung unseres Antrags wie des Gesetzentwurfs der SPD damit, daß vor dem Eindruck gewarnt werden müsse, es gebe einen allgemeinen Vorruhestand bereits vom 55. Lebensjahr an. Seit Monaten - Frau Jäger hat darauf verwiesen - warten wir vergeblich auf das in Spitzengesprächen von Kanzler Kohl und Gewerkschaftsoberen im Dezember 1992 angekündigte Teilvorruhestandsgesetz. Nichts ist seither passiert. Die Bundesregierung verkennt bzw. mißachtet damit die tatsächliche Situation.
Ich kann nur stichwortartig darstellen, inwiefern. Zu einer systemimmanenten Erscheinung entwickelt sich nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in vielen Staaten Europas das immer frühere Herausdrängen älterer Beschäftigter aus dem Arbeitsprozeß. Wohlklingende Worte des Kanzlers über die Nutzung der reichen Erfahrungen der Älteren in verlängerter Erwerbsarbeitszeit zielen nur auf ein Hinauszögern der Regelaltersrente und damit auf ein Sparen in den Rentenkassen, nicht aber auf ein neues Herangehen mit konkreten Konzepten an die Erwerbstätigkeit im Alter. Ein unwiderruflicher Ausstieg aus der Erwerbsarbeit führt zu einem abrupten Wertewandel. Nach der Phase der neuen Identitätssuche haben diese jungen Alten besondere Ansprüche, resultierend aus höherer Qualifikation, guter Gesundheit, hoher Mobilität usw. Das zeigen nicht zuletzt die Erfahrungen des Verbandes für Vorruhestand und aktives Altern „Jahresringe" in den neuen Bundesländern.
Der soziale Status der Vorruheständlerinnen und Vorruheständler, der für die Arbeit zu alten und für die Rente zu jungen derzeit fast 900 000 Menschen allein im Osten, ist zu klären. Angesichts der katastrophalen Prognosen zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung muß für die soziale Sicherung älterer Beschäftigter eine kalkulierbare Vorruhestandsregelung her, die die von Entlassung bedrohten Älteren in kleineren und größeren Unternehmen wie auch in Ost und West gleichstellt. Das kann nur ein Rahmengesetz in Ergänzung tarifvertraglicher Regelungen sein. Derartiges gab es im übrigen bereits in der Bundesrepublik ({0}), wenn ich an das von 1984 bis 1988 geltende Vorruhestandsgesetz erinnern darf.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an die Bundesregierung: Schaffen Sie schnellstens ein Vorruhestandsgesetz, das den gegenwärtigen Bedingungen entspricht! Setzen Sie bis dahin die bewährte Altersübergangsregelung rückwirkend wieder in Kraft! Ignorieren Sie nicht länger den Appell der Sozialministerrunde der neuen Bundesländer!
({1})
Nun spricht Herr Abgeordneter Dr. Krause ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Einkommensloch, von dem sehr richtig geschrieben wurde, ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Es geht bei diesen Hunderttausenden von Menschen in Mitteldeutschland und in Westdeutschland um die Menschenwürde, um das moralische Recht zu gesellschaftlich nützlicher Arbeit.
Den Schluß der Rede will ich gleich am Anfang sagen: Es muß in Zukunft Arbeitsangebote auch far Ruheständler geben, die keine Konkurrenz für die gewerbliche Wirtschaft darstellen. Sie können arbeiten, stunden- oder tageweise, für das Geld, das sie von der Gesellschaft bekommen, im kommunalen, sozialen oder auch im Verwaltungsbereich.
Viele haben angeboten, z. B. die Renten zu berechnen, so daß nicht monate- oder jahrelang gewartet werden muß. Viele sind bereit, in Mitteldeutschland eigentlich alle, auch dafür zu arbeiten, daß andere für sie arbeiten. Denn Vorruhestand und Dauerarbeitslosigkeit werden unter den Bedingungen des Freihandels sehr lange andauern. Es geht um die Menschenwürde von ganzen Jahrgängen, die nicht mehr in der gewerblichen Wirtschaft unterkommen können.
Mißbrauchsbekämpfung: Herr Kollege Rother, wir sind fast alle Schritte im sozialen Bereich gemeinsam gegangen. Aber ein CDU-Politiker aus SachsenAnhalt sollte in den nächsten Monaten sehr vorsichtig mit dem Wort Mißbrauchsbekämpfung sein - nach dem, was an Mißbrauch von dem Sozialminister in Magdeburg und von anderen getan wurde. Entschuldigen Sie bitte, daß ich das hier sage; aber ich muß es sagen: Mißbrauchsbekämpfung muß oben anfangen; der Fisch stinkt zuerst am Kopf.
Wenn aus finanziellen Gründen hier abgelehnt wird, den Vorruhestand zu verlängern, so möchte ich doch eine Gruppe explizit ansprechen. Ich gebe gerne zu, daß drei von vier Forderungen, die die mitteldeutschen Abgeordneten in mehreren Kanzlerrunden gestellt haben, vom Arbeitsminister erfüllt worden sind, aber diese eine Forderung eben nicht, und das wird als besonders ungerecht empfunden:
Diejenigen, die einige Tage oder Wochen schon im dritten Quartal 1990 arbeitslos waren, kommen nicht mehr in den Vorruhestand hinein. Das sind Menschen, die 30, 40 Jahre gearbeitet haben, in der Landwirtschaft 330, 350 Tage im Jahr. Sie haben eine höhere Lebensarbeitszeit als die meisten Menschen auf dieser Welt. Weil ihnen einige Tage fehlen, weil sie einige Tage zu früh arbeitslos geworden sind, darum werden sie hier ausgegliedert.
Es ist in den letzten Jahren hier an dieser Stelle und anderswo vieles schon gesagt worden. Lassen Sie mich darum jetzt nur für diese eine Gruppe noch einmal intensiv werben. Wir haben das ja früher schon getan. Es wird als Unrecht empfunden - Sie haben das ja in Ihrem Antrag auch schon so dargestellt -, daß einige wenige trotz höherer Lebensarbeitszeit ausgegliedert werden. Es sind nicht nur die Hartherzigkeit und die mangelnde Sensibilität bestimmter Westimporte auf Ministerposten. Es ist leider auch in vielen Ämtern so, daß gesagt wird: Ihr macht die Gesetze. - Machen wir sie also anders für unsere Menschen!
({0}) - Zum Wohle dieser Menschen!
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Altersübergangsgeldgesetzes.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 12/4632 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3974 abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt, und es entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/4632 empfiehlt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Altersübergangsgeld auf Drucksache 12/3737 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? Damit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe nun Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Beruf der Diätassistentin und des Diätassistenten und zur Änderung verschiedener Gesetze über den Zugang zu anderen Heilberufen ({0})
- Drucksache 12/5619 - ({1})
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 12/6377 -
Berichterstattung: Abgeordnete Sigrun Löwisch
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 12/6399 17264
Abgeordnete Roland Sauer ({0})
Dr. Wolfgang Weng ({1})
Uta Titze-Stecher
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu irgendwie gearteten Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster der Kollegin Sigrun Löwisch das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir regeln heute mit dem Heilberufsänderungsgesetz endgültig die Fragen, die die Ausbildung der Diätassistenten und die Richtlinien für Beschäftigungs- und Arbeitstherapeuten, für Logopäden, Orthoptisten sowie Rettungsassistenten betreffen.
Dieser Regierungsentwurf erfüllt unserer Fraktion, der CDU/CSU, den Wunsch, den Diätassistenten eine optimale Vorbereitung für ihren Beruf, der nicht immer leicht ist, zukommen zu lassen. Jetzt liegt es an den Schülern und an den Schulen, an den Lehrkräften und an den Krankenhäusern als Ausbildungsstätten, was sie aus diesem Gesetz machen. Ich möchte - wenn auch hier im Saal nicht mehr allzuviel Publikum ist, dafür um so mehr auf der Tribüne - den Menschen, die in diesem Beruf zum Wohle der Patienten arbeiten, einmal unseren Dank sagen. Wir hoffen, daß sie mit dem neuen Gesetz gut fertig werden und daß sich manche Berufswünsche dadurch besser erfüllen.
({0})
Wir stimmen dem Gesetz zu, außer in einem Punkt. Dieser Punkt betrifft § 12 des Diätassistentengesetzes, die verkürzte Umschulung. Wir können nicht einsehen, daß wir die Ausbildungszeit von zwei auf drei Jahre erhöhen, dann aber Umschülern, die von diesem Beruf gar keine Ahnung haben, die nicht aus anderen medizinischen Berufen kommen, die vielleicht technische Zeichner oder Gärtner oder Schneiderinnen waren, eine Verkürzung der Ausbildungszeit gewähren. Hierin sind wir uns alle einig. Es ist auch etwas, was der Bundesrat haben möchte. Deshalb haben wir § 12 Abs. 2 herausgenommen. Ich glaube, diese Änderung erfolgt zu Recht.
Wir möchten mit diesem Gesetzentwurf auch die Herstellung der Rechtseinheit endlich vollziehen. Auch soll dieser Beruf in Zukunft in der EG anerkannt werden. Die Voraussetzung dazu ist z. B. der mittlere Bildungsabschluß. Gott sei Dank haben wir noch qualifizierte Heilberufe, für die man kein Abitur braucht. Wir sollten viel mehr solche qualifizierten Berufe haben.
({1})
Wir haben aber auch genügend Phantasie, uns vorzustellen, wie schwierig es für die Diätassistenten und Diätassistentinnen - es sind ja meistens Frauen, die diesen Beruf ausüben - ist, den zusätzlichen Anforderungen gerecht zu werden. Deswegen und weil wir das Patientenwohl im Auge haben, wollen wir
nicht nur die Verlängerung auf drei Jahre, sondern wir meinen, wir müssen auch die Qualität der Ausbildung ganz allgemein anheben. Das tun wir mit diesem Gesetz.
Wenn man sich die Ausbildungsverordnung sehr sorgfältig anschaut, sieht man, daß wir viel Neues aufgenommen und die praktische Ausbildung verstärkt haben. Ich denke, daß wir mit diesem Gesetz den Diätassistenten ihren Beruf erleichtern, der ja mit den Schwächen der Menschen umgehen und fertig werden muß. Ich bitte Sie um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vielen Dank.
({2})
Nun spricht die Kollegin Antje-Marie Steen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir begrüßen, daß nach relativ kurzer Zeit zwischen der Einbringung des Gesetzentwurfs und der heutigen abschließenden Beratung das Gesetz zur Neuordnung des Berufes der Diätassistenten und Diätassistentinnen verabschiedet werden kann. Es ist auch zu begrüßen, daß wir aus den Beiträgen bei der öffentlichen Anhörung der Fachverbände neue Erkenntnisse in das Gesetz mit aufnehmen konnten. Insofern war diese Anhörung sehr nützlich. So schließen wir uns dem Vorschlag der CDU/CSU und der F.D.P. in dem gleichen Sinne an, wie es meine Kollegin eben vorgetragen hat.
Gerade Maßnahmen zur Umschulung, wie sie zur Zeit überwiegend aus arbeitsmarktpolitischen Gründen durchgeführt werden, müssen kritisch betrachtet werden. Hier eine Zeitverkürzung herbeizuführen und damit auch einem schnelleren Zugang zu dem angestrebten Ziel einer anerkannten Tätigkeit als Diätassistentin näherzukommen kann nur unter der Maßgabe einer für diesen Beruf qualifizierenden Erstausbildung in Frage kommen. Es hätte eine ungerechte Beurteilung und Abwertung der Ausbildung und des Ausbildungsumfangs zur Folge, ließe man für jede und jeden aus völlig artfremden Berufen eine Verkürzung und Anerkennung nach nur zweijähriger Umschulung zu.
Gewiß sind in dem jetzt gefundenen Kompromiß auch diejenigen zu berücksichtigen, die sich erst in späteren Lebensjahren und nach einer langjährigen anderweitigen Berufsausübung zum Berufswechsel entschlossen haben. Deshalb tragen wir diesem Aspekt besonders Rechnung, auch mit unserer Zustimmung zu dieser Änderung.
Im Laufe der Beratungen zu diesem Gesetz sind wir auf den Umstand aufmerksam gemacht worden, daß das Arbeitsförderungsgesetz Umschulungsmaßnahmen nur für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren zuläßt. Hier sehen wir eine unzumutbare Härte für diejenigen, die für ihre Umschulung drei Jahre benötigen, wie z. B. bei dieser von uns gemeinsam beschlossenen Regelung.
Wenn also eine Umschulung auf einer beruflichen Erstausbildung basiert, bei der das Ziel der Ausbildung in dem Umschulungszeitraum von nur zwei Jahren offensichtlich nicht erreichbar ist, muß die Förderung nach dem AFG auf drei Jahre verlängert werden.
Wir plädierten unter diesem Aspekt der gewünschten Qualifizierung, aber auch der Chancengleichheit aller Umschulungswilligen für eine Ausweitung des Förderzeitraums. Leider ist dieser Antrag gestern im Ausschuß abgelehnt worden.
Allerdings bedarf die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung dringend einer Veränderung. Insofern bin ich dem Ministerium dankbar dafür, daß wir einmal rechtzeitig vor der Verabschiedung eines Berufsgesetzes die Inhalte der Ausbildung und die Bedingungen der Prüfung kennenlernen. Steter Tropfen, Frau Staatssekretärin, höhlte hier den Stein. Für die Zukunft ist es hoffentlich ständige Praxis, so zu verfahren.
Im Gegensatz zur Koalition wollen wir mit unseren Anträgen zu einer deutlichen Qualifikationsverbesserung in der Ausbildung kommen. In der gestrigen Sitzung des Gesundheitsausschusses stimmten die Mitglieder der CDU/CSU und der F.D.P. leider gegen unsere Änderungsvorschläge. Damit reagieren Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, nur auf die Notwendigkeit zur Angleichung an die EG-Richtlinien und die Herstellung der Rechtseinheit in Deutschland. Aber eine Verlängerung der Ausbildungszeit auf drei Jahre allein ist noch keine Qualitätsverbesserung. Sie bewirkt nichts, wenn Inhalte und Ziele des Berufsbildes nicht auf zukunftsweisende und neu definierte Tätigkeitsfelder ausgerichtet sind.
In der Anhörung wurde sehr deutlich Kritik daran geäußert, daß die in § 3 formulierten Ausbildungsziele neue Anforderungen nicht aufnehmen. So muß dringend darauf hingewirkt werden - daher noch einmal unsere Bitte an das Ministerium -, daß der rehabilitierende Ansatz in diesem Berufsbild deutlich unterstrichen und ausgeweitet wird. Das muß sich auch in der Stundenzahl niederschlagen.
Das gilt auch für die Mindestanforderungen an die Qualität der Ausbilder sowie die der Ausbildungsstätten. Die Festschreibung bestimmter neuer Bildungsinhalte ist Voraussetzung für die Qualitätssicherung in Theorie und Praxis. Eine starke Veränderung in den medizinischen, therapeutischen und sozialen Anforderungen z. B. an die Beratungstätigkeit, die Erstellung der Diätpläne, die Aufklärung über Ernährungsdefizite, die Verbraucher- und Patientinneninformation bewirkt die Notwendigkeit der Erweiterung der Unterrichtsstunden in diesem Bereich. Uns erscheint die vorgegebene Stundenzahl bei Diätetik, Ernährungslehre sowie Ernährungsberatung als zu kurz bemessen. Diese Kritik teilen mit uns übrigens Bundesärztekammer und Gewerkschaften. Wir empfehlen, auf die Vorschläge der Fachleute einzugehen und so wie vorgeschlagen zu verfahren.
Wie leider in vielen Berufsbildern der sogenannten nichtärztlichen Heilberufe wird die Ausbildung durch Unterrichtende durchgeführt, die sehr unterschiedliche Vorbildungen mitbringen. Im günstigsten Falle wird sie geleistet unter Fachleitung eines Arztes mit speziellen Erfahrungen auf dem Gebiet des Stoffwechsels und der Ernährungsmedizin sowie einer Diätassistentin mit mehrjähriger fachspezifischer Berufserfahrung und nachgewiesener pädagogischer Qualifikation, aber das nur als Ausnahme und im günstigsten Zusammentreffen.
Unterschiede in der Qualifikation der Ausbilder differieren so von Bundesland zu Bundesland. Die Ausbildungs- und Prüfungsordnung könnte hier im Einvernehmen zwischen den Ländern und dem Ministerium so verändert werden, daß ein bundesweiter vergleichbarer Standard gewährleistet ist und somit auch Chancengleichheit garantiert ist. Schon aus dieser Tatsache ergibt sich die Notwendigkeit, die Weiterqualifikation zur Medizinalpädagogin oder ähnlichem aufrechtzuerhalten bzw. sogar zu intensivieren.
Ebenso aus der Anhörung sind Defizite bei der Qualität der Ausbildungsstätten deutlich geworden. Wenn, wie geschildert, vor allem bei Umschulungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern die Ausbildung in Theorie und Praxis nicht durch einen Träger oder eine Schule geleistet wird, sondern sich die Umschüler um die praktische Ausbildung bei anderen Einrichtungen selber bemühen müssen, muß auch hier eine dringliche Einflußnahme auf eine Standardisierung der Ausbildungsstätten und deren Mindestqualifikation erfolgen.
Nach wie vor halten wir als SPD-Fraktion an dem Gedanken fest, daß alle diese Berufe im Gesundheitsbereich einer Zuordnung unter das Berufsbildungsgesetz zuzuführen sind,
({0})
wohl wissend, daß der Konsens zwischen Zuständigkeit der Bundesländer auf der einen Seite wie der berechtigten Forderung der Auszubildenden nach einer Berufswahl unabhängig von den persönlichen und finanziellen Möglichkeiten auf der anderen Seite schwer herzustellen ist. Es schränkt die freie Wahl des Berufes sehr ein, wenn für die eigene Ausbildung und den Lebensunterhalt während dieser Zeit selbst Finanzierung gefunden werden muß. Unmöglich erscheint diese Realisierung nicht; bei der Ausbildung in der Altenpflege ist es bereits Praxis. Wir erwarten auch an dieser Stelle die Mitwirkung des Ministeriums, sich um diesen Konsens zu bemühen.
Als unabdingbar betrachten wir die Erweiterung des Prüfungsausschusses um ein Mitglied aus der gewerkschaftlichen Arbeit, wie sie bei allen staatlichen Prüfungen üblich ist. Es trägt auch zur Qualitätssicherung der Ausbildung bei, wenn durch Vertreter gesellschaftlich relevanter Gruppen eine Beurteilung und Begleitung bei der Abnahme der Prüfung erfolgt. Ebenso stellt eine Zwischenprüfung eine Orientierungshilfe für Auszubildende und Ausbilder dar, an der sich Leistungsstand und Kenntnisse des Grundlagenwissens ablesen lassen. Wir verweisen auch hier auf Ergebnisse aus der Anhörung sowie auf die Erfahrungen aus anderen Berufsfeldern, bei denen eine Zwischenprüfung selbstverständlich ist und auch
einen Teil der Qualitätssicherung der Ausbildung ausmacht.
Ich möchte Sie nochmals eindringlich bitten, die Option zur Weiterbildung, zur Qualifizierung über Fachhochschulen nicht zu vernachlässigen. Wir alle sind uns einig, so jedenfalls mein Eindruck, daß eine Sackgassenausbildung, wie sie zur Zeit auch noch in diesem Berufsfeld stattfindet, beendet werden muß. Es ist also mehr als dringlich, die Voraussetzungen für den Durch- und Aufstieg zu schaffen und die Ausbildungsgänge z. B. zum Diplom-Medizinpädagogen, zur Diplom-Medizinpädagogin wie in der ehemaligen DDR fortzuführen.
Der Erwerb der Fachhochschulreife wäre ebenfalls eine erstrebenswerte Perspektive für diesen immer noch frauentypischen Beruf, um auch dem Bildungs- und Qualifizierungsanspruch von Frauen Rechnung zu tragen und ihnen den Zugang zu tertiären Bildungsbereichen zu eröffnen.
Als geradezu provokant empfinde ich als Frau die durchgehend maskuline Bezeichnung in dem Gesetzentwurf, der die Regelung einer Berufsausbildung anstrebt, die fast ausschließlich von Frauen wahrgenommen wird. Es zeigt die Mißachtung des Gleichstellungsgebots durch die Bundesregierung und konterkariert die Bemühungen - übrigens auch des Ministeriums für Frauen und Jugend -, eine Bewußtseinsänderung über die konsequente Anwendung femininer Sprachformen zu erreichen.
Der Gesetzestext ist also sprachlich so zu überarbeiten, daß jeweils die weibliche und die männliche Form angeführt werden. Es ist nicht nur ein Paragraph, Frau Löwisch, sondern - ich habe es mir heute noch einmal genau angesehen - es ist durchgängig.
({1})
Wenn wir auch erhebliche Bedenken haben, vor allem im Hinblick auf bereits angeführte Defizite bei den Ausbildungsstandards und den Ausschluß aus dem Berufsbildungsgesetz, werden wir dem Gesetz unsere Zustimmung geben, da der Aspekt der Gleichstellung und der Rechtsangleichung auch für uns wichtig ist und wir uns einer - wenn auch nur geringfügigen - Verbesserung für die Auszubildenden nicht entgegenstellen wollen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Und das mit dem großen I haben wir schon lange erledigt, Herr Ringkamp!
({2})
Als nächster spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, daß insgesamt alle Mitglieder des Gesundheitsausschusses diesem Gesetzentwurf zugestimmt haben und hier im Parlament auch von seiten der SPD signalisiert wird, daß sie diesem Gesetzentwurf zustimmt.
Wir freuen uns, daß dieses Gesetz nun endlich Grundlage für die Ausbildung der Diätassistenten
wird, denn hier sollen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden, die zur eigenverantwortlichen Durchführung diättherapeutischer und ernährungsmedizinischer Maßnahmen befähigen, von Maßnahmen, die vor allen Dingen auch die Prävention und die Therapie von Krankheiten anpakken und ihnen entgegenwirken. Damit wird ein Berufsbild geschaffen werden, das in meinen Augen zukünftig eine bedeutende Rolle spielen wird.
Das soll in den verschiedenen Bereichen unseres Lebens, sowohl im Krankenhaus als auch in den Rehabilitationskliniken und in anderen Bereichen dazu führen, daß frühzeitig Krankheiten, gerade Ernährungskrankheiten, vermieden werden.
Darum sind wir sehr froh, daß dieses Berufsbild heute endlich im Parlament verabschiedet wird. Meine Damen und Herren, ich bedanke mich. Wir freuen uns auf jeden Fall, daß dieses Gesetz endlich über die Rampe ist.
Vielen Dank.
({0})
Der Rest des Redebeitrags wird offensichtlich zu Protokoll gegeben. Wenn es der Schnelligkeit dient, bin ich damit einverstanden.* )
Als nächste spricht die Kollegin Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden zweifellos Fortschritte erreicht. Dazu zählen u. a. die Verlängerung der Ausbildung von zwei Jahren auf drei Jahre mit der damit gegebenen Möglichkeit, neue und zunehmend wichtige Wissens- und Arbeitsfelder in die Ausbildung zu integrieren, die hergestellte Rechtseinheit im eigenen Land und die nunmehr gegebene Anerkennung weiterer Berufsabschlüsse auch bei den europäischen Nachbarn. Das sind anzuerkennende Pluspunkte für die Entwicklung dieses Berufs und für die Qualität der gesundheitlichen Versorgung, die selbstverständlich begrüßt werden.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ob das jemandem gefällt oder nicht, gesagt werden muß auch: Leider spielt sich dieser Fortschritt wiederum nur im Rahmen der in der medizinischen Berufsausbildung heute bestehenden und längst überholten Vorstellungen und Strukturen ab. Damit bleibt er zwangsläufig begrenzt. Wichtige Chancen werden vertan, und vieles Dringliche bleibt ungelöst.
Das Grundübel ist und bleibt - und daran kommt auf Dauer auch niemand vorbei -: Die bundesdeutschen Bildungseinrichtungen für die Gesundheitsberufe stehen völlig außerhalb der Entwicklung des allgemeinen Berufsschulwesens. Ich denke, das ist ein großes Problem.
Im Gegensatz zu Deutschland ist bekanntlich in den anderen Ländern der Europäischen Union die medizi-
*) Anlage 3
nisch-berufliche Bildung fest in das Gesamtsystem der nationalen Berufsausbildung integriert. Das sollte hier ebenso sein, und das heißt unter den Bedingungen dieses Landes eindeutig, die Ausbildung auch im medizinischen Bereich nach dem Berufsbildungsgesetz zu organisieren.
Damit wäre bei voller Berücksichtigung aller spezifischen Anforderungen des Gesundheitswesens vieles zu erreichen. Stellvertretend nenne ich hier nur: In die bestehende Vielzahl der längst unübersichtlich gewordenen Gesetze, Verordnungen und landesrechtlichen Regelungen auf diesem Gebiet könnte Ordnung gebracht werden. Die Ausbildungskosten würden, wie bei den anderen Berufen auch, durch die öffentliche Hand übernommen; und da gehören sie ja wohl auch hin. Die Ausbildungsstätten könnten endlich - bei vertraglich klar geregelter Zusammenarbeit - aus der hemmenden administrativen, wirtschaftlichen und personellen Abhängigkeit von den sie tragenden Gesundheitseinrichtungen befreit werden. Selbstverständlich wäre eine völlige Schulgeldfreiheit und die durchgängige Zahlung einer Ausbildungsvergütung möglich. Staatliche Mindestanforderungen an die Ausbildungsstätten, insbesondere an die Qualifikation der Ausbilder, könnten ebenso wie die gegenwärtig weitgehend fehlenden Aufstiegsqualifikationen geregelt werden. Es geht in der Regel um Frauen, und das sollte uns ganz besonders am Herzen liegen.
Abschließend möchte ich noch etwas zu der Frage sagen, die auch zuletzt im Gesundheitsausschuß noch Gegenstand der Beratung war. Auch ich halte es für richtig, daß die ursprünglich vorgesehene Möglichkeit einer auf zwei Jahre verkürzten Umschulung für Angehörige nichtmedizinischer Berufe im Interesse der Qualität der Patientenbetreuung nicht in Kraft tritt. Hier sind nun einmal bestimmte qualitative Standards unverzichtbar. Schlimm wäre es allerdings, wenn damit Förderungsmöglichkeiten nach dem Arbeitsförderungsgesetz für Umschüler in diesem Beruf nicht mehr zum Tragen kämen. Ich denke dabei auch besonders an die vielen Frauen in den neuen Bundesländern, die dringend weiterführende berufliche Perspektiven benötigen. Ich meine deshalb - und das wäre meine Bitte -, das Bundesministerium für Gesundheit sollte in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung in jedem Fall die Voraussetzung dafür sichern, daß auch künftig Umschulungen zu Diätassistentinnen und Diätassistenten im Rahmen des Arbeitsförderungsgesetzes entsprechend Unterstützung finden, allerdings bei Wahrung der vorgegebenen und notwendigen qualitativen Anforderungen an den Bildungsprozeß.
Ich bedanke mich.
({0})
Nun hat das Wort die Frau Staatssekretärin Dr. Bergmann-Pohl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte dem guten Beispiel meines Vorredners, Herrn Thomae, folgen
und auch nur ganz kurz auf einen Aspekt eingehen. Alle freuen sich darüber, daß das Diätassistentengesetz heute verabschiedet wird. Bis auf die kleinen Kritikpunkte sind, glaube ich, alle sehr froh, und die Diätassistenten bekommen ein sehr schönes Weihnachtsgeschenk.
({0})
Ich brauche auf die Voraussetzungen nicht einzugehen. Sie sind alle schon genannt worden. Aber, Frau Steen, eines möchte ich noch sagen: Immer wenn es um Berufsgesetze geht, ist schnell zu hören: eine Ausbildungsverordnung auf der Grundlage des Berufsbildungsgesetzes verabschieden. Deshalb sage ich noch einmal: Ausbildungsrechtliche Regelungen für Heilberufe können auf der Grundlage des Berufsbildungsgesetzes nicht getroffen werden. Wesentliche Elemente, die auf der eigenständigen Regelungsgrundlage für Heilberufe nach Art. 74 Nr. 19 GG möglich und unabdingbar sind, entziehen sich einer Regelung nach dem Berufsbildungsgesetz. Das mußte, glaube ich, noch einmal klargestellt werden. Ansonsten möchte ich uns alle zu diesem guten Gesetz beglückwünschen.
({1})
Damit liegen mir keine weiteren Wortmeldungen vor, und wir können die Aussprache schließen.
Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Heilberufsänderungsgesetzes auf den Drucksachen 12/5619 und 12/6377. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung bei wenigen Stimmenthaltungen angenommen.
Wir kommen damit zur
dritten Beratung
und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich vom Platz zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei wenigen Stimmenthaltungen einstimmig angenommen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben jetzt 16.45 Uhr. Damit können wir die halbe Stunde, die wir als Debattenzeit für den nächsten Tagesordnungspunkt vorgesehen haben, nicht mehr zu Ende bringen. Damit, würde ich sagen, unterbrechen wir die Sitzung jetzt, auch wenn der eine oder andere umsonst gekommen ist.
({0})
- Traurig? Ich rufe Sie auch auf. So ist es nicht. Herr Kollege Lambsdorff.
Frau Präsidentin, ich sollte natürlich für den nächsten Tagesordnungspunkt hier sein. Ich bin auch hierhergekommen.
Dafür haben Sie jetzt etwas über das Diätassistentengesetz erfahren, ist doch auch nicht schlecht.
({0})
Das ist ausgesprochen interessant. Da habe ich wieder etwas dazugelernt. Aber wie Sie wissen, habe ich etwas Krankenhauspraxis. Ich kenne etwas davon.
Zweitens. Ich möchte gerne sagen: Nachher kann ich nicht wiederkommen. Heute abend ist die Wahl des Direktkandidaten in meinem Wahlkreis. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich dann dort bin
Aber Sie werden es wahrscheinlich nicht werden.
- und hier nicht über die Weltwirtschaft fabuliere. Das kann Herr Wieczorek machen. Wir sind meistens einer Meinung. Aber ich möchte mir dann erlauben, daß ich meine historischen Ausführungen bei Ihnen zu Protokoll hinterlege. Darf ich das?
Ich bin heute sehr kulant und sehr dehnbar, was die Auslegung der Geschäftsordnung betrifft, und nehme Ihre Rede zu Protokoll, Herr Lambsdorff.*)
Ich bedanke mich für diese vorweihnachtliche Freundlichkeit.
({0})
Ich würde sagen, daß wir jetzt die Sitzung unterbrechen. Ich gehe davon aus, daß die Unterbrechung ca. eine Stunde dauern wird, bitte Sie aber, darauf zu achten, was über die Lautsprecher mitgeteilt wird. Ich spreche insbesondere diejenigen an, die zu dem nächsten Tagesordnungspunkt sprechen wollen.
Die Sitzung ist damit unterbrochen.
({0})
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Norbert Wieczorek, Wolfgang Roth, Dr. Ingomar Hauchler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wirtschaftsgipfel 1993 - die weltwirtschaftliche Strukturkrise gemeinsam überwinden
- Drucksachen 12/4630, 12/6130 -
Berichterstattung: Abgeordneter Bernd Henn
*) Anlage 4
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({1}) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und F.D.P.
Zukunftssicherung durch freien Welthandel - Drucksachen 12/5326, 12/6157 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Uwe Jens
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von einer halben Stunde vor. - Widerspruch dagegen erhebt sich nicht. Es ist so beschlossen.
Ich kann die Aussprache eröffnen. Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Wieczorek das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eines möchte ich vorab sagen: Ein bißchen merkwürdig ist es schon, daß wir formal über den Tokio-Gipfel diskutieren, der längst stattgefunden hat. Auf der anderen Seite ist es, glaube ich, richtig, daß wir diskutieren; denn während wir hier beisammen sind, ist in Genf die Endrunde der GATT-Verhandlungen im Gange. Es ist auch notwendig, daß wir uns nach kurzer Zeit - wir haben das gerade vor einer Woche getan - mit den strukturellen Problemen der Weltwirtschaft weiter beschäftigen. Deswegen ist unser Antrag nach wie vor aktuell.
Der Tokio-Gipfel hat keines der Probleme gelöst, die er lösen sollte. Im Gegenteil, die Probleme sind noch dringender geworden. Bei den GATT-Verhandlungen kann man jetzt zwar Hoffnungen haben, aber noch steht der Abschluß nicht,
({0})
und die Beschäftigungskrise hat sich dramatisch weiter verschärft.
Dies sei denen ins Stammbuch geschrieben, die schon jetzt - wie in den letzten Tagen auch bei uns in den Zeitungen zu lesen war - ein paar Anzeichen als Signale deutscher und internationaler Konjunkturbelebung interpretieren und meinen, im nächsten Jahr sei alles wieder auf dem richtigen Weg. Dies ist falsch; es ist gefährlicher Zweckoptimismus, der eher auf Wahlerfolge schielt denn die Realitäten beachtet, sowohl national wie auch international. National werden die Beschäftigungsprobleme noch weiter wachsen, privater Verbrauch und öffentliche Investitionen werden als Folge einer verfehlten Finanzpolitik zurückgehen. In Europa sind, abgesehen von einem allerdings spärlichen Wachstum in England, keine klaren Zeichen der Besserung zu sehen. International werden die Probleme Japans und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion weiter dämpfend wirken.
Auch wenn es hier und da ein wenig besser aussieht, ohne Zweifel ist eines der größten Mankos die ungenügende internationale Abstimmung und Umsetzung der Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt- und Entwicklungspolitik. Anders gesagt: Die größten wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen sind weiterhin unbewältigt. Diese können die einzelnen Nationalstaaten heute auch gar nicht mehr alleine lösen. Genau hierzu muß es international bindende Absprachen geben, deren Einhaltung einem ÜberwachungsmechanisDr. Norbert Wieczorek
mus unterworfen sein muß, und das darf nicht nur der Überwachungsmechanismus des IWF sein. Darum ist das, was die SPD für den Tokioter Gipfel mit dem heute noch zu diskutierenden Antrag gefordert hat, unverändert aktuell.
Wir fordern die Bundesregierung auf, rechtzeitig für die anstehenden Konferenzrunden die Initiativen zu ergreifen, Initiativen für die Überwindung der weltweiten Wachstumsschwäche, Initiativen zur schnelleren und richtigen Umsetzung der Rio-Beschlüsse gegen die globale Umweltzerstörung, konkrete Schritte der Industrieländer zum Abbau der strukturellen Ungleichgewichte mit den Entwicklungsländern und last, but not least endlich die Restrukturierung der Gipfelveranstaltungen, insbesondere des G-7-Gipfels selbst, sowie eine Art institutionalisierter Soll-Ist-Vergleich, damit eine Erfolgskontrolle möglich wird.
Lassen Sie mich zunächst noch ein paar Bemerkungen zur Weltkonjunktur machen. Es sollte keiner glauben - eigentlich tut das auch kein seriöser Politiker mehr -, daß ein konjunktureller Aufschwung kommen kann, der auch nur annähernd die gegenwärtigen Beschäftigungsprobleme lösen wird. Wir alle wissen: Die Kernprobleme liegen gerade in Europa, Japan und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion weniger im konjunkturellen, sondern vornehmlich im strukturellen Bereich. „Structural adjustment" ist das Schlüsselwort. Die Rahmenbedingungen, die ordnungspolitischen Voraussetzungen für die strukturellen Anpassungsvorgänge müssen international ebenso definiert werden, wie bestimmt werden muß, wie die Regelungs- und Abstimmungsmechanismen im einzelnen aussehen sollen. Ich nenne hier nochmals die in unserem Antrag genannten Bereiche: international abgestimmter Abbau der Haushaltsdefizite, Intensivierung der internationalen Kooperation in geldpolitischen Fragen, und das schließt die Erarbeitung gemeinsamer Strategien zur abgestimmten Dämpfung der Preissteigerungen ein.
Wir haben zwar hier bei uns zur Zeit eine langsame Verbesserung und eine relativ gute Entwicklung in den anderen europäischen Ländern, aber dies ist wohl eher konjunkturbedingt, als daß die darunterliegenden Strömungen tatsächlich schon beseitigt sind. Wenn wir uns die Preissteigerungsraten in den Ländern, die noch Wachstum haben, wie z. B. China, anschauen, können wir durchaus Sorge haben für die gesamtweltwirtschaftliche Entwicklung.
Ich möchte weitere Maßnahmen nennen. Dazu zählt für mich die Stabilisierung der internationalen Währungsrelationen, aber nicht - das möchte ich betonen - durch Kapitalverkehrskontrollen, sondern durch bessere Aufsicht und indem vor allem auch für die sogenannten Nichtbanken, z. B. die Fonds, die in Währungsspekulationen tätig sind, gleiche Kapitalanforderungen wie für andere Finanzinstitutionen gelten. Es müssen hier gleiche Bedingungen geschaffen werden, sollen hier nicht ungeheure Risiken auf uns zukommen.
Dazu zählt weiter das Setzen von Normstandards der Besteuerung wirtschaftlicher Tätigkeiten zur Vermeidung stark abweichender Disparitäten an den verschiedenen internationalen Standorten. Die jetzige Haushaltsmisere hat sehr viel mit dem Steuersenkungswettlauf zu tun, der in den letzten Jahren ähnlich wie ein Abwertungswettlauf auch zwischen den Industrieländern ablief.
An dieser Stelle möchte ich auch das einbringen, was morgen und übermorgen als Hauptpunkt auf der Tagesordnung des Brüsseler Gipfels steht. Ich habe sehr wohl zur Kenntnis genommen, daß wir hierbei in verschiedenen wichtigen Zielen übereinstimmen könnten, aber es muß dann auch konkret werden. Im einzelnen ist das: die Stärkung der Attraktivität des Investitionsstandorts Europa durch Ausbau der Infrastruktur, Intensivierung von Forschung und Entwicklung sowie Verbesserung von Bildung und Ausbildung. Das Weißbuch der Kommission, das von manchen sehr kritisch betrachtet wurde, empfinden wir als Sozialdemokraten da als sehr hilfreich. Das gilt auch und gerade für die Vorschläge zum Ausbau der Infrastruktur.
Zur Finanzierung der Arbeiten stehen zunächst Haushaltsmittel der Europäischen Union und des Investitionsfonds zur Verfügung. Eine eigenständige Verschuldung - das möchte ich betonen - der Europäischen Union zur darüber hinausgehenden Finanzierung dieser Investitionen ist allerdings eindeutig abzulehnen. Noch einen Schattentopf brauchen wir nicht. Die Investitionen selbst aber sind notwendig und nützlich zur Sicherung der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit und zur kurzfristigen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Zweiter Punkt: Stabilitätsorientierte Geldpolitik in der Europäischen Union. Hier gilt: Die Kriterien von Maastricht sind richtig und wichtig. Wenn aber ihre Erfüllung unter dem Zeitdruck des Maastrichter Fahrplans hier und heute konjunkturelle Probleme bereitet, dann ist der Zeitplan des Vertrages zweitrangig.
Es geht weiter: konsequente Haushaltskonsolidierung bei den EU-Mitgliedern. Diese steht mit einer kreditfinanzierten Investitionstätigkeit nur im scheinbaren Widerspruch; denn nach wie vor gilt die Regel, daß Investitionen über Kredite finanziert werden können. Was nicht weiter geschehen darf, ist, daß Konsumausgaben über Kredite finanziert werden. Hier genau ist eine Neuordnung der Haushaltspolitik notwendig.
Schließlich gilt es, daß wir offene Märkte haben und keine Festung Europa. Manches, was wir von manchen Partnerländern, insbesondere aus Frankreich, in letzter Zeit gehört haben, war da wenig hilfreich. Denn Europa darf sich nicht hinter die Gebetsformel „Offenhalten der Märkte" zurückziehen und in Wirklichkeit protektionistisch handeln.
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Sonst schreiben wir die Anpassungsdefizite fest, und dort, wo wir uns selbst mit noch weiteren Anstrengungen öffnen müssen, gegenüber Osteuropa, machen wir es noch schwieriger.
Nicht akzeptabel ist es für uns als SPD, in diesem Zusammenhang der Forderung nach einer, ich betone: urgebremsten Flexibilisierung von Arbeitszeiten das Wort zu reden. Wer das fordert, will
Sozialabbau. Das ist auch auf europäischer ebenso wie auf internationaler Ebene mit uns nicht zu machen.
Es gibt inzwischen auch genügend Beispiele in der Bundesrepublik. Ich erinnere nur an das Abkommen bei Opel, Kaiserslautern, das zeigt, daß zwischen Arbeitnehmervertretung und Geschäftsleitung eine geeignete Flexibilisierung der Arbeitszeit zur Erzielung produktiver Maschinenlaufzeiten möglich ist.
Das gleiche gilt für die Lohnpolitik. Eine Lohnpolitik, die auf Absenkung der Reallöhne setzt, wird Nachfragedefizite produzieren. Wer darauf baut, diese durch höhere Exporte in Drittländer ausgleichen zu können, verkennt das Ausmaß der weltweiten Krise.
Wir setzen vielmehr darauf - so können Sie in unserem Antrag nachlesen -, daß die möglichen Wettbewerbsverzerrungen durch Sozial- und Umweltdumping der Entwicklungsländer, vor allem aber der ostasiatischen Schwellenländer im Rahmen künftiger GATT-Absprachen abgewehrt werden müssen. Das ist der richtige Ansatz und die künftige Aufgabe für die Handelsverhandlungen nach dem hoffentlich möglichen Abschluß der Uruguay-Verhandlungen.
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Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß eine umfassende, breit angelegte Europainitiative zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung innerhalb Europas und weltweit wirken würde. Das wäre ein angemessener Beitrag zur Überwindung der internationalen Struktur- und Wachstumskrise und unserer eigenen Krise. Dies kann nur durch einen konzentrierten Aufschwung in der Europäischen Union überwunden werden. Ein solcher Aufschwung wird dann zugleich Teil eines über die EU hinausgehenden Aufschwungs in Gesamteuropa und damit auch weltweit sein. Dies auf den Weg zu bringen ist die Aufgabe des Europagipfels von morgen und übermorgen.
Meine Damen und Herren, der Antrag meiner Fraktion zum Weltwirtschaftsgipfel ruft dazu auf, die zukünftigen Weltgipfelveranstaltungen wieder auf die ursprünglichen Kernaufgaben zu reduzieren. Lassen Sie mich es kurz fassen: Sacharbeit statt Medienrummel, Gemeinschaftssinn statt persönliche Profilierungen,
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mehr internationale Solidarität statt nationaler Egoismen, konkrete Maßnahmen und Absprachen gegenüber Allgemeinplätzen.
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- Die Worthülsen sind in Tokio von der Regierung produziert worden, nicht von uns. Im übrigen ist Ihr Kollege Graf Lambsdorff in diesem Punkt mit Sicherheit meiner Meinung. Da können Sie ja nachfragen.
Jetzt ist noch Zeit genug, entsprechende Vorkehrungen mit den G-7-Partnern für den nächsten Gipfel abzusprechen. Der von Präsident Clinton angeregte
Sondergipfel zur Beschäftigungskrise ist dabei der nächste vor uns liegende Anlaß, ebenso wie die Gipfelverhandlungen von morgen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, rechtzeitig die Weichenstellungen vorzunehmen, bevor es wieder einmal zu spät ist. Ein „Weiter so" wird die Probleme nicht nur nicht lösen, sondern verschärfen. Das können wir uns nicht leisten.
Ich danke Ihnen.
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Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Friedhelm Ost das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir stimmen darin überein, daß niemals zuvor in diesem Jahrhundert, jedenfalls in friedlichen Zeiten, die Welt sich so verändert hat wie gerade in den letzten Jahren. Mit dem Niederreißen des Eisernen Vorhangs war die einfache Bipolarität zu Ende. In unserer direkten östlichen Nachbarschaft, in Mittel- und Osteuropa, sind neue Staaten und Volkswirtschaften entstanden, die auf Demokratie und Marktwirtschaft setzen. Dies ist in der Tat richtig. Wir müssen sie mit einbeziehen in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, jedenfalls anders und besser, als dies früher der Fall war.
Neue Wirtschaftsräume entwickeln sich. Wir erleben dies gerade: USA, Kanada und Mexiko schließen sich in der NAFTA zusammen. Aber auch in der asiatisch-pazifischen Region, in Lateinamerika bilden sich neue Wirtschaftsräume heraus, die für die Weltwirtschaftsordnung jedenfalls in den nächsten Jahren wichtig sind.
Ich glaube, daß hier in dieser Neuformation der Welt und der Weltwirtschaft Chancen und Herausforderungen zugleich stecken. Dem müssen wir gerecht werden. Insofern gilt es, Überlegungen anzustellen, inwieweit die supranationalen Institutionen, vom Internationalen Währungsfonds bis hin zum GATT, dieser neuen, sehr dynamischen und teilweise dramatischen Entwicklung gerecht werden.
Lieber Herr Kollege Wieczorek, wir stimmen in manchem sicherlich überein. Ich selber warne davor, daß wir hier immer zusätzliche Überwachungsinstrumente fordern und dadurch auch den Eindruck erwecken, daß eine Überwachung, etwa im Sinne militärischer Überwachung, auch im Wirtschaftsbereich möglich ist. Ich weiß sehr wohl, daß Sie daran nicht denken. Aber wir sollten international nicht den Eindruck erwecken, den Sie manchmal in der nationalen Wirtschaftspolitik erwecken, daß hier durch Regeln und Überwachungen sozusagen ein neues Geflecht von Lenkung und Regulierung etabliert werden kann.
Ich selber habe mit großer Überraschung bei Ihrer Ursachenanalyse gehört, daß die hohen Haushaltsdefizite ihren Grund im Steuersenkungswettlauf haben. Bei der Höhe der Steuersätze, jedenfalls bei uns,
können Sie in der Tat nicht davon sprechen, daß hier ein Steuersenkungswettlauf richtig eingesetzt hat. Wir müssen noch einen in den nächsten Jahren machen. Das sage ich Ihnen. Wir müssen trotzdem auch die Defizite senken.
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Zugleich sage ich Ihnen etwas zu den wirklichen Ursachen: Dies ist, wenn Sie es sich einmal genau anschauen, symptomatisch.
Herr Kollege Ost, es ist sehr schwer, Sie im richtigen Moment zu unterbrechen. Aber ich muß es tun.
Lassen Sie mich noch den Gedanken zu Ende bringen! Die reifen Industriedemokratien neigen dazu, in vielen Bereichen doch Gefälligkeitsdemokratien zu sein. Die Ansprüche an den Staat sind gestiegen. Sie sind leider nicht nur bei uns, sondern auch anderswo erfüllt worden, ohne daß dabei solide finanziert wurde.
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Bitte schön.
Nun, Herr Abgeordneter Wieczorek, können Sie gerne eine Frage stellen.
Herr Kollege Ost, meine Frage geht dahin: Wären Sie mit mir der Meinung, daß sich die gegenwärtigen internationalen Überwachungsmechanismen, die wir beim IWF und bei der OECD haben, in der Praxis als relativ zahm und zahnlos erwiesen haben, insbesondere gegenüber den wichtigeren Ländern? Wäre es da nicht sinnvoll, eine solche Performance-Überprüfung gemeinsam zu vereinbaren, nicht im Sinne militärischer Überwachung oder sonst etwas?
Da ich schon hier stehe, noch eine Bemerkung: Steuersenkungen hat es auch nach 1990 in dieser Republik in unvernünftigem Ausmaß gegeben.
Nein, lieber Herr Kollege Wieczorek, bei dem zweiten Punkt will ich Ihnen widersprechen.
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Wir haben leider nicht die Kraft gehabt, gemeinsam auch Defizite auf allen Ebenen abzubauen, im Saarland wie beim Bund, aber auch auf kommunaler Ebene, um wirklich auch Spielraum zu haben, um Steuern stärker zu senken, und zwar für Unternehmer und auch für Arbeitnehmer. Viele Facharbeiter sind mindestens genauso überbelastet wie viele mittelständische Betriebe und andere Betriebe auch.
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Zu dem ersten Punkt sage ich Ihnen, daß ich auch der Meinung bin, daß wir angesichts dieses dramatischen Wandels in der Weltwirtschaft, den wir in den letzten Jahren erlebt haben, der auch die internationalen Institutionen überrollt hat, überprüfen müssen: Stimmen die Regeln noch? Stimmen die Möglichkeiten von Sanktionen noch, die noch sehr begrenzt sind? Stimmen die Instrumente bis hin zu den Kreditlinien und anderen Dingen beim IWF, bei der Weltbank und den anderen internationalen Institutionen? Aber ich selber glaube, wir sollten uns keiner Illusion hingeben, daß wir hier zu einem System zurückkehren können, wie wir es etwa mit Bretton Woods hatten. Dies wird nicht möglich sein. Es ist gescheitert. Es hat keinen Zweck, dieses Gebäude, das zerfallen ist - dieser Zerfall ist auch von führenden Sozialdemokraten begrüßt worden, die dies ökonomisch auch richtig betrachtet haben -, in dieser Form neu aufbauen zu wollen. Aber ich bin gerne bereit - da stimme ich Ihnen gerne zu -, zu überprüfen, inwieweit der IWF und andere internationale Institutionen dieser veränderten Weltwirtschaftsordnung, die im Entstehen ist, noch gerecht werden.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, diese größere internationale Arbeitsteilung der Volkswirtschaften führt natürlich zu größeren Interdependenzen, zu größeren Abhängigkeiten. Dies bedeutet auch - dies entspricht sicherlich Ihren Intentionen, Herr Kollege Wieczorek -, daß wir darauf achten: Abhängigkeiten auf der einen Seite, größere Rücksichtnahmen aber auf der anderen Seite - dies muß in der Tat jedes Land begreifen, das sich in dieser internationalen Weltwirtschaftsordnung bewegen will.
Was die Uruguay-Runde anbetrifft, so kann ich nur sehr begrüßen, was der Bundeswirtschaftsminister uns gestern im Wirtschaftsausschuß über die jüngsten Verhandlungen mitgeteilt hat. Jedenfalls können wir jetzt einigermaßen optimistisch den nächsten Tagen entgegenschauen. Der Erfolg ist natürlich noch nicht unter Dach und Fach; wir wünschen ihn alle. Ich bin allen Kolleginnen und Kollegen dankbar, daß wir gemeinsam wiederholt dafür gekämpft haben. Wir haben den Bundeskanzler und den Bundeswirtschaftsminister bei diesem Kampf unterstützt und sollten beiden danken, daß sie diese Unterstützung in verschiedenen Gesprächen und Verhandlungen genutzt haben. Ich hoffe, daß wir hier zum Erfolg kommen.
Ich sage ganz offen: Kompromißfähigkeit - nicht nur von uns, sondern auch von unseren französischen Freunden - ist hier gefragt. Diese Kompromißfähigkeit darf aber nicht erneut per Honorar über die Europäische Gemeinschaft eingefordert werden, vor allem nicht weiter zu Lasten der deutschen Landwirte, die den bisherigen Stand akzeptieren und zustimmen. Eine weitere Belastung aber können wir hier nicht hinnehmen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir selber sind außerordentlich abhängig von einem freien Welthandel. Der Blick auf unseren Außenhandel zeigt dies ganz deutlich. Lieber Herr Kollege Wieczorek, natürlich sagt keiner: Der große Aufschwung ist da; die Beschäftigungsprobleme lösen sich. Ich sage aber: Wir sollten glücklich darüber sein, daß wenigstens Hoffnungsschimmer vorhanden sind, die auf Impulse aus dem Ausland, auf Auslandsbestellungen, zurückgehen. Dies zeigt, daß wir bei einer
Weltwirtschaft, die sich langsam nach oben bewegt, im nächsten Jahr ein reales Wachstum von insgesamt 3 % erreichen kann, Chancen haben, Impulse von draußen zu erhalten, die wir natürlich durch interne, eigene große Anstrengungen unterstützen sollten. Wenn wir unserer Wirtschaft von innen heraus weitere Impulse geben, wird dies auch die europäischen Volkswirtschaften mit nach oben ziehen können.
Dies löst in der Tat nicht die Beschäftigungsprobleme, es erleichtert aber, die Beschäftigungsprobleme auch bei uns zu lösen. Deshalb, glaube ich, sollten wir alles tun, auch unsere Wettbewerbsfähigkeit - national und international - zu stärken. Wir müssen uns darauf einrichten, daß der Wettbewerb und die Konkurrenzfähigkeit in den nächsten Jahren eher noch schärfer werden und sich nicht abschwächen.
Natürlich gibt es verschiedene Patentrezepte. Ich sage immer: Ich lehne es ab, ein Patentrezept anzuwenden, das auf eine Abwertung der Währung abzielt. Abwertungen machen die Nationen nicht reicher, sondern ärmer. Dies würde, konkret durchgeführt, zu einer Neuauflage der früheren fatalen „beggar-my-neighbour policy" führen. Deswegen kann man dazu nur entschieden nein sagen. Ich hoffe, wir sind uns da einig.
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Ein zweiter Punkt: Ich höre immer Kritik aus den Reihen der Sozialdemokraten an der Deutschen Bundesbank. Ich weise diese Kritik klar zurück. Die Deutsche Bundesbank hat eins richtig gemacht: Sie hat auf Vertrauen gesetzt, auf die Stabilisierung der D-Mark nach innen und außen.
Wir sehen, daß dies auch Erfolg im Innern hat. Bei den Zinsen sind wir ein gutes Stück herunter. Der Kapitalmarktzins ist sehr niedrig, auch der Realzins. Die Umlaufrendite liegt heute bei 5,5 %; das ist in der Tat niedrig. Ich sage Ihnen auch: Wir können noch ein Stück herunter. Wenn wir die Inflationsrate weiter senken können, werden wir auch Chancen haben.
Wir haben auch international Erfolg. Mit der Standhaftigkeit der Deutschen Bundesbank haben wir es sogar zu einer Stabilisierung innerhalb des Europäischen Währungssystems gebracht. Der französische Franc nähert sich wieder der normalen Interventionsbandbreite. Ich hoffe, daß wir in Europa in den nächsten Monaten in der Tat eine größere Stabilität der Währungen erreichen.
Vielen herzlichen Dank.
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Meine Damen und Herren, Graf Lambsdorff hat mich gebeten, Sie zu bitten, zuzustimmen, daß er seine Rede zu Protokoll gibt ). Er will sich heute abend urn seinen alten Direktwahlkreis bemühen; Sie sollten ihn nicht daran hindern, diesem seinem Wunsche zu folgen. Bestehen Bedenken gegen diese Regelung? - Das ist
*) Anlage 4
nicht der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich gebe nun dem Staatssekretär Dr. Göhner das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist uns allen lieber, daß uns Graf Lambsdorff auch für die nächste Legislaturperiode hier erhalten bleibt, und wir müssen deshalb leider auf seinen Beitrag verzichten. Ich erinnere mich noch an die Debatte im Plenum vor dem Tokioer Gipfel, als u. a. Graf Lambsdorff, aber auch andere große Skepsis angemeldet hatten, ob denn - salopp formuliert - der Aufwand für diesen Gipfel überhaupt lohnen würde.
Herr Wieczorek, Sie haben hier ein paar kritische Anmerkungen zu den Ergebnissen gemacht. Ich möchte rückblickend festhalten, daß entgegen den eher skeptischen öffentlichen Erwartungen der Tokioer Gipfel aus heutiger Sicht doch ein Erfolg für die Bundesregierung war.
Ich erinnere allein daran, daß der Gipfel die eingeleiteten Hilfsmaßnahmen für Rußland konkretisiert hat und das Ziel der Bundesregierung, diese Hilfen auf breitere Schultern zu legen, ein burden-sharing zu erreichen, auch tatsächlich verwirklicht werden konnte.
Aus heutiger Sicht ist vor allem zu sagen: Der Tokioer Gipfel konnte einen entscheidenden Anstoß für eine erfolgreiche Weiterverhandlung der Uruguay-Runde geben. Wenn wir jetzt einen Erfolg zum Greifen nahe fühlen, dann ist das durchaus eine Folge dieses Tokioer Gipfels. Gerade deshalb meine ich, meine Damen und Herren, daß die Kernforderung der SPD in ihrem Antrag, der nicht in allen Punkten erledigt sein mag, zur Frage von Weltwirtschaftsgipfeln, nämlich so eine Art Weltkonjunkturrat daraus zu machen, eigentlich an der Sache vorbeigeht. Das kann man gerade an diesen beiden Punkten erkennen, die von Tokio positiv ausgegangen sind.
Ich möchte mich auf ein paar knappe Anmerkungen zur Frage des freien Welthandels beschränken, der in den Anträgen wie in Tokio selbst eine wichtige Rolle gespielt hat und wo wir in der aktuellen Situation stehen, daß wir ganz offensichtlich nach dem heutigen Gesprächsstand sagen können: Es sieht so aus, daß wir uns im Endspurt auf einen erfolgreichen Abschluß am 15. Dezember befinden. Das könnte einen wirklich wesentlichen belebenden Impuls für die weltwirtschaftliche Entwicklung geben, für die Überwindung der immer noch anhaltenden weltweiten Rezession. Durch einen erfolgreichen Abschluß wird es möglich sein, die strukturellen Verkrustungen zu lösen, die den Handelsfluß heute immer noch lähmen, und Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum und damit auch neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Die vergangenen Tage waren von intensiven Gesprächen und Verhandlungen geprägt. Die Gespräche zwischen dem amerikanischen Handelsbeauftragten Cantor und dem Vizepräsidenten der Europäischen Union, Herrn Brittan, der Sonderrat der Wirtschaftsminister, der Außenministerrat - sie alle
standen unter dem Vorzeichen einer Einigung zwischen der Europäischen Union und den USA.
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Ich denke, es wird jetzt möglich sein, bei den Gesprächen in Genf auch diese Einigung zu multilateralisieren, also mit den anderen Vertragspartnern eine Einigung herbeizuführen und die restlichen noch offenen Fragen zu klären. Man kann ja wohl sagen, 95 % der Kernfragen sind geklärt, und wir können dann eigentlich zuversichtlich davon ausgehen, daß bereits am kommenden Montag der endgültige Text vorliegen wird, daß wir die Runde am 15. Dezember abschließen können und daß dann im April in Marrakesch auch unterzeichnet werden kann.
Ich möchte allerdings einige kritische Anmerkungen zur Diskussion innerhalb der Europäischen Union machen; denn was sich hier zur Zeit an Diskussionen auftut, kann einen nicht sehr zuversichtlich stimmen. Da versuchen einige Länder in der Europäischen Union, die Gelegenheit zu nutzen, jetzt das handelspolitische Instrumentarium zu verändern, eine Art Aufrüstung zu handelspolitischen Maßnahmen zu betreiben. Sie sollen leichter und schneller auslösbar sein und schwerer wieder außer Kraft gesetzt werden können. Das sind protektionistische Zeichen. Solchen Entwicklungen wird die Bundesregierung entschieden widerstehen. Es wäre ein völlig falsches Signal am Ende der Uruguay-Runde, wenn wir jetzt plötzlich über die Haltung einzelner Mitgliedstaaten in der Europäischen Union zu einer Veränderung in Richtung Protektionismus durch die Europäische Union kämen. Deshalb werden wir uns dem entschieden widersetzen.
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Für uns ist jede Änderung der handelspolitischen Schutzmechanismen eben nicht nur eine handelstechnische und rechtliche Frage; dabei geht es um ganz konkrete Wirtschaftspolitik, um Auswirkungen für die Beschäftigung bei uns. Deshalb werden wir sehr genau darauf achten, daß die Grundsätze einer weltoffenen Handelspolitik nicht durch europäische Maßnahmen konterkariert werden, wenn wir gerade den erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde greifbar vor Augen haben.
Danke sehr.
({2})
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt noch das Wort dem Kollegen Dr. Rudolf Krause.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden beiden Anträge zum freien Welthandel und zur weltwirtschaftlichen Strukturkrise zeigen keine einzige konkrete Branche auf, in der in Deutschland selbst durch freien Welthandel, also durch tatsächliche und potentielle Billigkonkurrenz, jetzt oder in Zukunft Beschäftigung gesichert werden könnte. Die Produktion in der Ex-DDR ist 1990 nicht deshalb zusammengebrochen, weil plötzlich irgendein Blitz eingeschlagen hätte, sondern weil plötzlich billigere, bessere oder für besser gehaltene Produkte die mitteldeutschen Waren vom einheimischen Markt und auch von den Märkten Ost- und Westeuropas, wo sie vorher einen großen Anteil hatten, verdrängt haben. Jetzt laufen die DDR-Maschinen in vielen Billiglohnländern munter weiter und beliefern den internationalen, aber auch den deutschen Markt. Es ist mit der DDR handelspolitisch nur ein Billiglohnland von der Landkarte verschwunden. Die DDR-Bevölkerung ist zu Hause geblieben, aber die Maschinen sind ausgewandert.
Der Antrag der SPD nennt zutreffend die international - ich zitiere - stark abweichenden Steuerbelastungen, internationales Sozialdumping und Ökodumping zu Lasten der deutschen Industrie, also alles Themen, die ich auch des öfteren hier behandelt habe. Aber der Weltwirtschaftsgipfel hat nichts, nicht einmal in Ansätzen, dazu getan, diese grundlegenden internationalen Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten Deutschlands irgendwie zu verändern.
Freihandel schafft Billigkonkurrenz, damit Firmenzusammenbrüche, Arbeitslosigkeit, geringere Kaufkraft, dadurch wieder höhere anteilige Nachfrage nach bezahlbaren Billigimporten, also mehr Aldi, noch weniger Absatz eigener Produkte bzw. Schwarzarbeit bei Dienstleistungen. Freihandel führt langfristig zu bleibender, sich verfestigender Arbeitslosigkeit und auch zu ständigem Sozialabbau.
Freihandel ist die bedingungslose Kapitulation jeder Nationalökonomie vor den Bilanzwünschen internationaler und darum auch konkurrierender Handelsfirmen. Internationale Arbeitsteilung, wie es in einem Antrag genannt wurde, ist deshalb eine Illusion, weil keine Ländergruppe, wie es vor 50 oder 100 Jahren war, mehr ein Monopol auf bestimmte Industriezweige besitzt. Man kann irgendwo auf dieser Welt alles billiger produzieren als in Deutschland. Und was importabel ist, wird auch immer mehr billig importiert werden. Wachsen werden bei GATT - bei Freihandel - Billiglohnländer, und wir werden uns deren Lebensniveau anzupassen haben. Wir müssen immer gegen den billigsten Anbieter auf dieser Welt konkurrieren. Freihandel und Sozialabbau dürfen deshalb nicht Ziel deutscher Wirtschaftspolitik bleiben, wenn sich nicht die Arbeitslosigkeit weiter verstetigen soll.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zum Antrag der Fraktion der SPD zum Weltwirtschaftsgipfel 1993 auf Drucksache 12/6130. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4630 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Danke sehr. Die Gegenprobe! - Nach Stimmenthaltungen brauche ich nicht zu fragen. Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen das übrige Haus angenommen.
Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur
Vizepräsident Helmuth Becker
Zukunftssicherung durch freien Welthandel. Es handelt sich um die Drucksachen 12/5326 und 12/6157. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie eben angenommen.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission „Schutz des Menschen und der Umwelt - Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft"
Verantwortung für die Zukunft - Wege zum nachhaltigen Umgang mit Stoff- und Materialströmen
gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages vom 14. Februar 1992
- Drucksache 12/5812 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst unserem Kollegen Dr. Norbert Rieder das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die umweltpolitischen Diskussionen der letzten Jahre wurden und werden von zwei scheinbar gegensätzlichen Themenbereichen beherrscht. Einerseits sind trotz aller Erfolge im Detail die Ergebnisse im Umweltschutz noch nicht ausreichend, also so, wie wir sie uns alle wünschen würden. Dies gilt besonders für die globalen Probleme, wie sie in Rio diskutiert wurden. Ein Defizit ist vor allem bei der Bewältigung der großen Stoffströme zu erkennen, bei den Stoffströmen, die während ihrer Gewinnung, ihres Transports, ihrer Nutzung und nach dem Gebrauch schließlich als Abfall nachhaltig unsere Erde negativ beeinflussen bzw. belasten.
Andererseits ist die Regelungsdichte in vielen Bereichen so hoch, daß die Vielzahl der Vorschriften kaum noch erfüllbar ist. Dies trifft Kommunen, Landes- und Bundesbehörden, aber auch Handwerksbetriebe und Mittelständler ebenso wie die Großindustrie. Neue Wege sind also ohne Zweifel nötig.
Dies ist sicherlich kein besonders origineller Gedanke; denn darüber denken ohne Zweifel viele nach. Aber die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" ist eine Chance, Parlamentarier, Sachverständige und externen Sachverstand über Gutachten und Anhörungen so zu bündeln, daß Meinungs- und Wissensströme in einer Vielfalt eingespeist und verarbeitet werden können, wie es sonst nicht möglich ist.
Bisher wurde in dieser Enquete-Kommission ohne Zweifel gute Arbeit geleistet, auch wenn wir als Mitglieder dieser Enquete-Kommission uns zumindest zum Teil mit Themen beschäftigt haben, die schon ausdiskutiert und geregelt schienen. Doch auch oder gerade diese Beispiele haben uns gezeigt, wie man generell vorgehen kann und welche Fehler man
vermeiden lernen muß. Jedes dieser Beispiele hat uns auch gezeigt, daß in unserer Enquete-Kommission eben durch die Bündelung von vielfältigem Sachverstand neue Ergebnisse gewonnen werden können.
Gelernt haben wir aber auch von den Erfahrungen der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre". Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen aus dieser Enquete-Kommission ausdrücklich für die vielen Informationen danken, die sie uns gegeben haben, andererseits aber auch dafür, daß sie uns immer wieder zu Rate gezogen haben.
Doch nun einige Worte zu dem, was sich aus unserer Sicht bisher schon an allgemeinen Erkenntnissen ableiten läßt und wohin die Reise in dieser Enquete-Kommission gehen könnte. Aber dazu muß als erstes klargestellt werden, daß sich die allzu schönen Blütenträume, wie sie wohl nicht innerhalb der Kommission, aber zum Teil außerhalb vorhanden sind, nicht erfüllen werden. Das sind die Blütenträume von der „großen Weltformel", von dem einen Instrument, das auf einen Schlag alle Probleme löst, etwa der Blütentraum von der ökologischen Steuerreform. Steuern auf umweltschädliche Produkte und Steuererleichterungen für umweltfreundliche Produkte können sicher ein interessantes und wichtiges Instrument sein und werden einen wichtigen Platz in jedem Konzept einnehmen müssen; sie werden aber immer dann, wenn die Teilströme des jeweiligen Stoffes zu komplex werden, im Kern kaum greifen können.
Ein Beispiel für ein solches komplexes System ist die textile Kette. In dieser textilen Kette greift eine Vielzahl von Teilsystemen ineinander, wie etwa die Faserproduktion von der Naturfaser bis zur Chemiefaser, die Faserverarbeitung mit den Spinnhilfsmitteln, die Gewebeherstellung mit den entsprechenden Hilfsmitteln, der Färbeprozeß nach vielen verschiedenen Methoden, die Herstellung der fertigen Textilien und schließlich die internationale Verflechtung mit den Transportvorgängen quer über Grenzen und Kontinente.
Ein Steuersystem, das diese Probleme in den Griff bekommen sollte, wäre so komplex, daß es nicht vorstellbar ist. Hier wäre eher denkbar, obwohl das noch nicht ausdiskutiert ist, die direkte Einbeziehung des Handels bzw. des Kunden über ein Labelling, also ein Marketinginstrument, das dem Kunden die größere oder geringere Umweltfreundlichkeit des Produkts durch eine entsprechende Kennzeichnung deutlich macht. Markt und Marktkräfte wirken ja nicht nur über Preissignale, sondern auch über geschicktes Marketing. Bei dem hohen Umweltbewußtsein unserer Bevölkerung ist das sicherlich ein wichtiger Aspekt.
Außer diesen Instrumenten müssen darüber hinaus noch andere Instrumente diskutiert werden, etwa Zertifikate, natürlich in Kombination mit Umweltqualitätszielen, aber auch Rücknahmeverordnungen und im Extremfall selbstverständlich Verbote und Gebote.
Insgesamt muß es also zu einem Instrumentenmix kommen, wie er letztlich den vielfältigen Bedürfnissen unserer Bürger und der Vielfalt unserer Umwelt und auch - das darf nach meinem Dafürhalten nicht
übersehen werden - der Vielfalt unserer über Jahrhunderte gewachsenen deutschen, europäischen und weltweiten Gesetzgebung entspricht. Dazu werden wir sicher geeignete Vorschläge am Ende dieser Legislaturperiode machen.
Allerdings gibt es bei all diesen Regelungen einige Grundziele. Erstens. Der Staat sollte möglichst wenig Lösungswege vorgeben, sondern nur die Umweltqualitätsziele, auf deren Einhaltung er allerdings striktestens achten muß.
Zweitens. Innovationen sind anzuregen und nicht zu verhindern. Denn mit den heutigen Techniken allein wird es nicht gelingen, die Probleme zu lösen. Neue Techniken müssen aber zwei Anforderungen genügen. Sie müssen erstens im Wirkungsgrad Verbesserungen bringen, und sie müssen darüber hinaus das Endziel, die bessere Umwelt, von vornherein schon im Produktionsprozeß und im Produkt vorwegnehmen. Der Umweltschutz muß also immer mehr in Richtung des produktions- und produktintegrierten Umweltschutzes gehen und weggehen von den letztlich unsinnigen und nicht bezahlbaren „end of the pipe"-Techniken, weg vom nachsorgenden Umweltschutz.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt der Frau Kollegin Marion Caspers-Merk das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute einen Zwischenbericht über eine Enquete-Kommission, die den schlichten Titel hat „Schutz des Menschen und der Umwelt - Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft". Ich hoffe, Ihnen ist alles klar. Mir war jedenfalls nichts klar, als ich das erste Mal den Titel dieser Enquete-Kommission gehört habe. Denn der komplizierte Titel der Enquete-Kommission verbirgt mehr, als daß er erklärt.
Ein wohlmeinender Kollege hat mir letzte Woche die Einladung zu einer Ausstellung überreicht, die den Titel trug „Stoffträume - Traumstoffe" zum Thema Stoffdruck des 18. Jahrhunderts, weil er meinte, daß ich mich doch ständig mit dem Thema Stoffkreisläufe beschäftige. Das Thema Stoff hat er hier ganz wörtlich genommen.
Diese Kommission beschäftigt sich zwar auch mit Textilien, also mit Stoffen im wörtlichen Sinne, aber hauptsächlich mit allen Problemen, die der hohe Materialumsatz unserer Produktionsweise mit sich bringt. Abfallberge, Rohstoffverschwendung, Treibhauseffekt oder das Ozonloch machen deutlich, daß Probleme mit dem Stoffumsatz nicht nur im Nanogrammbereich wie etwa bei den Dioxinen, sondern auch im Bereich von Megatonnen wie etwa beim Erzoder Ölverbrauch liegen.
Um ein einziges Auto zu produzieren, verbrauchen wir heute beispielsweise 25 t Rohstoffe, und mindestens dieselbe Menge kommt während der Lebensdauer des Autos als Verbrauchsmaterialien wie Benzin, Öl oder Ersatzteile hinzu. Allein für die in einem Jahr in Deutschland produzierten Fahrzeuge ergibt sich so ein Materialumsatz von mindestens 250 Millionen t, eine Menge, die ausreicht, um ganz Bonn in einen mehrere Meter hohen Schrottplatz zu verwandeln.
Dies ist nur ein Beispiel unserer gigantischen Stoffund Energieverschwendung. Der Wertschöpfungsprozeß Automobilproduktion ist also gleichzeitig erkauft mit einem Schadschöpfungsprozeß, der entsteht, wenn wir alle ökologischen Schäden bilanzieren, die während der Schöpfungsphase eines Produktes entstehen, vom Erzabbau über die Stahlschmelze his hin zur Stoffproduktion für die Sitze oder den Titanabbau für den Katalysator.
Seit März 1992 versucht die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Grundlagen und Perspektiven zu entwickeln, wie ökologische Gewinn- und Verlustrechnungen stärker in unserer Industriegesellschaft verankert werden können. Anstatt wie bisher nur das Ende des Schornsteins im Blick zu haben, um das, was herauskommt, zu filtern oder zu regeln, werden nun Produkte und Verfahren als Quellen der Umwelt- und Gesundheitsbelastung in Augenschein genommen und bewertet. Die umweltpolitische Diskussion der letzten Jahre um Stoffe wie Dioxine, FCKWs, PVC, Pestizide oder Asbest und um Grenzwerte macht deutlich, daß ein solcher Ansatz dringend notwendig ist, um aus der Sackgasse der Einzelstoffbetrachtung über den Schadstoff des Monats hinwegzukommen.
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Damit wird politisches Neuland betreten. Erstmalig wird in diesem Zusammenhang in Kreisläufen und Stoffströmen gedacht, die möglichst mengenmäßig erfaßt und erst dann bewertet werden. Umweltpolitik wird also bei uns vom Kopf auf die Füße gestellt und erfordert ein vollständig neues Denken. Der industriepolitische Dialog findet nirgendwo so intensiv statt wie derzeit bei uns in der Enquete-Kommission, und das ist gut so. Es spricht eigentlich Bände, daß die derzeitige Bundesregierung einen industriepolitischen Dialog sonst nirgendwo organisiert hat.
Wir streiten uns im Sinne einer demokratischen Streitkultur mit Unternehmensverbänden und Gewerkschaften, mit den Sachverständigen, aber auch in den Parteien über Wege, wie wir zu einer neuen, umweltverträglichen und zukunftsfähigen Industrieproduktion gelangen können. Es ist wahr: Auch wir haben zunächst an den Einzelstoffen herumexperimentiert und für unsere drei Einzelfelder Cadmium, Benzol und R 134 a jeweils ordnungspolitische Regelungen und ökonomische Instrumente vorgeschlagen. Was wir aber eigentlich ausprobiert haben, ist eine neue Sichtweise der Umweltpolitik. Wir wollen in Zukunft in Stoffströmen denken und so etwas wie eine gute Managementpraxis beim Umgang mit Stoffen in die Mitte der Industriepolitik einpflanzen.
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- Herr Weng, ich freue mich, daß auch Sie das jetzt verstanden haben. Dann ist ja meine Rede nicht umsonst gewesen.
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Es ist ebenfalls wahr: Gerade in der wirtschaftlichen Krise, in der Rezession haben es neue Denkansätze in der Umweltpolitik besonders schwer, denn sie treffen auf eine gewaltige Front der Ablehnung, weil viele in der Krise die Chance sehen - das bemerke ich vor allen Dingen bei den konservativen Kollegen in der Enquete-Kommission -, einen ökologischen Rollback mit Erfolg durchzusetzen.
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Auch der konservative Teil der Enquete-Kommission versucht, unsere Debatten dahin gehend zu nutzen, die Umweltpolitik als Verursacher und Auslöser der wirtschaftlichen Rezession dingfest zu machen. Diese Patentrezepte sind so einfach wie falsch.
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Wir haben uns deshalb in der SPD-Fraktion mit den Hauptargumenten auseinandergesetzt, die immer wieder gegen die Umweltpolitik ins Feld geführt werden.
Erstes Schwarzweißargument: Umweltschutz kostet zuviel Geld. Umweltschutz kostet die Industrie Geld, das vor allem in Zeiten der Rezession nicht verfügbar ist. Es stimmt, daß Umweltpolitik Geld kostet, aber der Anteil der Ausgaben für nachsorgenden Umweltschutz in der umweltintensiven chemischen Industrie beträgt ca. 2 % des Produktionswerts. Dieser Anteil ist so gering, daß beispielsweise der Nachweis negativer Auswirkungen auf Beschäftigung und Ertrag nicht zu führen ist.
Was aber den einen Geld kostet, bringt der umwelttechnologischen Branche, also denen, die die Medizin und die Apparatetechnik für nachsorgenden Umweltschutz zur Verfügung stellen, bares Geld in die Kassen. In der Bundesrepublik werden jährlich 40 bis 50 Milliarden DM am deutschen Markt für Umwelttechnologie umgesetzt, der als eine der wenigen Wachstumsbranchen zwischen 6 % und 8 % jährlich zulegt. Mit Umwelttechnologie wird also auch Geld verdient, und es werden Arbeitsplätze erhalten.
Mit einer vorsorgenden Umweltpolitik kann ein Unternehmen aber auch Gewinne machen, dann nämlich, wenn konsequent Stoffströme quer durch das ganze Unternehmen erfaßt und optimiert werden. So hat beispielsweise die Strumpffirma Kunert durch eine Verdünnung der Kunststoffolien im Verpakkungsbereich jährlich eine halbe Million DM eingespart und gleichzeitig für die Umwelt etwas getan.
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Diese vergleichsweise harmlos erscheinende Maßnahme war die Konsequenz einer Ökobilanz und eines jährlichen Umweltberichts von Kunert, die zur Aufdeckung weiterer Schwachstellen im Betriebsablauf geführt haben. Sie hat sich nach Auskunft der Firma auch ökonomisch gerechnet.
Zweites Schwarzweißargument: Tonnen statt Gramm. Jede Mark für den Umweltschutz in den alten Ländern bringt nur noch Umweltverbesserungen im Grammbereich, während jede Mark im Umweltschutz in den neuen Ländern ein Vielfaches dieser Ergebnisse bringt; deshalb soll bei uns eine umweltpolitische Pause eingelegt werden. Dies hören wir immer wieder von seiten der Konservativen. Richtig ist, daß Mittel für nachsorgenden Umweltschutz im Osten noch nötiger sind als im Westen. Über die notwendige Filterung von Schadstoffen und die Beseitigung von Altlasten hinaus darf aber nicht vergessen werden, daß erst vorsorgender Umweltschutz im Sinne einer ökologischen Produktgestaltung uns zukünftig von weiteren Kosten für die Reparatur von Umweltschäden entlastet.
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Nach wie vor ist auch im Westen richtig, daß wir jährlich 600 Milliarden DM Umweltschäden verursachen und nur ein Zehntel dieser Summe für Umwelttechnologie, also für notwendige Reparatur, ausgeben. Die Frage ist also weniger, wofür man die Mark ausgibt, sondern vielmehr, wie sie verdient wird. Jede Mark, die mit umweltverträglichen Produkten verdient wird, braucht anschließend nicht für die Wiedergutmachung selbst verursachter Schäden ausgegeben zu werden, sondern sie steht für andere Zwecke zur Verfügung.
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Der neue Ansatz des Stoffstrommanagements will vor allem Mittel für vorsorgenden Umweltschutz. Der ist im Osten genauso wie im Westen gewinnbringend. Aber gerade in den neuen Bundesländern bietet sich die Chance, beim Neuaufbau von Produktionen alte Fehler nicht zu wiederholen und gleich gezielt umweltverträgliche Produkte zu fördern.
Vor diesem Hintergrund ist mir besonders schleierhaft, Herr Kollege Wieczorek, wieso der Bundesumweltminister mit erheblichen Mitteln eine PVC-Produktion am Standort Buna fördert, ohne gleichzeitig andere Kunststoffe und neue Produktlinien aufzubauen, die eine größere Zukunftschance haben als der in die Diskussion geratene Massenkunststoff PVC. Es gibt doch viel bessere Beispiele.
Die ostdeutsche Firma Foron hat vorgemacht, daß es möglich ist, mit einem umweltverträglichen Kühlgerät ohne die ozonschädigenden FCKWs und ohne das für den Treibhauseffekt mitverantwortliche R 134 a ein umweltverträgliches Gebrauchsprodukt herzustellen und dieses gleich massenhaft zu verkaufen. Hier hat sich der David Ost endlich einmal gegen die Goliaths West der Kühlgerätehersteller durchgesetzt und gezeigt, daß es für umweltverträgliche Produkte auch Marktchancen gibt.
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- Deswegen hat er einen Umweltpreis gekriegt, aber keine Förderung im Vorfeld. Vielmehr hat Greenpeace mit dieser Bestellaktion dafür gesorgt, daß sich dieses Produkt am Markt durchsetzt. Es wäre eigentMarion Caspers-Merk
lieh Aufgabe Ihres Wirtschaftsministers oder des Umweltministers gewesen, hier fördernd tätig zu werden.
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Drittes Schwarzweißargument: Umweltschutz kostet Arbeitsplätze. Es ist unbestritten, daß durch zusätzlichen Umweltschutz bestimmte Produktionen unrentabel werden können und Arbeitsplätze zumindest ins Ausland verlagert werden oder ganz wegfallen können. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt aber, daß fünfmal so viele Arbeitsplätze durch Umweltschutz und Umweltdienstleistungen geschaffen werden, wie vernichtet worden sind. Bis zum Jahr 2000 werden über eine Million Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Umweltschutz abhängen. Arbeitsplätze auf diesem Feld sind also zukunftsverträglich und sicher und haben eine dynamische Wachstumschance. Wir können durch eine aktive Umweltpolitik dazu beitragen, daß mehr dieser Arbeitsplätze geschaffen werden.
Wertet man alle drei vorgetragenen Schwarzweißargumente gegen die Umweltpolitik, so bleibt festzuhalten, daß für ein Moratorium im Umweltbereich kein Anlaß besteht und daß wir sogar Gefahr laufen, im internationalen Wettbewerb bei Umwelttechnologlen und zukunftsfähigen Arbeitsplätzen zu verlieren, wenn wir nicht unsere Anstrengungen für einen vorsorgenden Umweltschutz verstärken.
Was wir also brauchen, ist eine neue proaktive Umweltpolitik, die steuerliche Instrumente einsetzt, die Energie verteuert und die Arbeit entlastet,
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sowie eine neue Forschungspolitik, die Ernst macht mit der Förderung von umweltverträglichen Produkten und Dienstleistungen.
Helmut Schmidt, ein Kanzler, der von Wirtschaft wirklich noch etwas verstanden hat,
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hatte recht, als er im September formuliert hat, wir müßten schrittweise unsere traditionellen konventionellen Güter durch neue Produkte ersetzen, wie sie in der Dritten Welt und Osteuropa einstweilen noch nicht hergestellt werden können.
Der industriepolitische Dialog in der Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" will dazu einen Beitrag leisten.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Jürgen Starnick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" hat Ihnen einen Zwischenbericht vorgelegt, der überschrieben ist mit „Verantwortung für die Zukunft - Wege zum nachhaltigen Umgang mit Stoff- und Materialströmen" . Die werden fragen, ob die Enquete-Kommission damit ein neues Türschild anbringen lassen will.
Die Frage ist berechtigt, denn Sie werden dem vorliegenden Bericht entnehmen können, daß die Enquete-Kommission ihren Auftrag umfassender und grundsätzlicher begriffen hat, als es aus der Formulierung des Einsetzungsbeschlusses zunächst zu entnehmen ist.
Andererseits mußte die Enquete-Kommission erkennen, daß sie nicht genügend Zeit und Möglichkeiten hat, darin formulierte Erwartungen voll zu erfüllen. Eine Bestandsaufnahme der wichtigsten Problemkreise der industriellen Stoffwirtschaft einschließlich ihrer historischen Entwicklungszusammenhänge vorzunehmen - wie es im Einsetzungsbeschluß steht - und Lösungsansätze für solche Problemkreise zu erarbeiten, konnte die Enquete-Kommission nur an ausgewählten Beispielen vollbringen. Ähnliches ist zu weiteren Aufträgen im Einsetzungsbeschluß zu bekennen.
Auf der anderen Seite erschien es der EnqueteKommission notwendig zu sein, die industrielle Stoffwirtschaft von einem systematischen Ansatz her zu betrachten, einem Ansatz, der sich nicht nur auf die Industrieländer selbst bezieht und der sich gar nur auf unsere nationale Wirtschaft beschränkt.
Ausgangspunkt dieses Ansatzes war die einvernehmliche Feststellung, daß die ökologische Tragfähigkeit unserer natürlichen Ressourcen begrenzt ist und daß diese Grenze heute bereits in verschiedenen Sektoren überschritten wird. Dabei sind weniger die natürlichen Ressourcen als Rohstoff- und Energiequelle als vielmehr dieselben als Reststoffsenke das eigentliche Problem.
Die Befürchtung, daß wir die ökologische Tragfähigkeit unserer natürlichen Ressourcen überschreiten, hat mehrere Gründe: Das Wirtschaften nach Art eines Durchlauferhitzers, bei dem wir Rohstoffquellen intensiv in Anspruch nehmen und Reststoffe in einer von der Natur nicht mehr zu bewältigenden Menge in die Umwelt zurück entlassen, ist sicherlich an erster Stelle zu nennen.
Gleichwohl kann man heute mehr und mehr darauf setzen, daß es den industrialisierten Ländern gelingt, die mit der industriellen Produktion verbundenen Umweltbelastungen entscheidend zu vermindern und schrittweise zu einem Wirtschaften zu gelangen, mit dem die Inanspruchnahme der Ressourcen so vermindert wird, daß ökologische Gleichgewichte nicht aus den Fugen geraten.
Das globale ökologische Problem leitet sich viel eher aus den krassen Einkommensunterschieden zwischen Industrie- und sogenannten Entwicklungsländern ab. Nach Angaben der Weltbank und des United Nations Development Program müssen über eine Milliarde Menschen mit einem Jahresverdienst von unter 370 Dollar auskommen. Im Vergleich zu unserem Wohlstand bedeutet das tiefste Armut.
Es ist deshalb nur zu verständlich, daß diese arme Mehrheit der Weltbevölkerung danach strebt, den Wohlstand der Industrieländer zu erreichen und den
Entwicklungskurs, den die Industrieländer genommen haben, nachzuvollziehen. Würde dies den Entwicklungsländern bei gleichzeitiger Übernahme der in den hochentwickelten Industrieländern durch den pro Kopf und pro Konsumeinheit vorherrschenden Ressourcenverbrauch entstehenden Abfallmengen gelingen, so wäre dies nicht nur mit schweren Belastungen, sondern mit nicht hinnehmbaren Folgen für unsere Ökosysteme verbunden.
Die Enquete-Kommission hat vor dieser Problematik nicht die Augen verschlossen, sondern sich darauf verständigt, daß der aus der entwicklungspolitischen Diskussion stammende Begriff „sustainable development", der sich bereits im Brundtland-Bericht von 1987 findet und um den sich alle Beschlüsse und Veröffentlichungen der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, die 1992 in Rio stattfand, rankten, auch für sich zum Ansatzpunkt der eigenen Überlegungen zu machen.
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist uns nicht fremd, hat er sich doch als Grundsatz der Forstwirtschaft in Deutschland seit über 100 Jahren bewährt. Zentrales Ziel ist, zukünftigen Generationen ihre Chancen zu erhalten. So ist heute „sustainable development" als eine dauerhafte Entwicklung zu verstehen, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Dieses Ziel kann nur erreicht werden - darin sind sich die Makroökonomen inzwischen wohl einig -, wenn die späteren Generationen bezüglich der Umweltqualität und der Versorgung mit natürlichen Ressourcen nicht schlechter gestellt sind als wir heute, was bedeutet, daß der sogenannte natürliche Kapitalstock erhalten bleiben muß.
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Die Verantwortung für die Zukunft, die der Titel dieses Zwischenberichts benennt, verlangt, daß wir Wege finden, die dazu führen, diese Grundsätze zu Regeln unseres Handelns zu machen.
Nun suggeriert der Untertitel, wir hätten diese Wege schon gefunden. Ehrlicherweise sollten wir bekennen, daß wir noch Suchende sind. Zweifellos bestehen noch gravierende Auffassungsunterschiede darüber, mit welchen Instrumenten wir ein derartiges Handeln einleiten und durchsetzen können. Wir wissen, daß weder eine sich frei entwickelnde Marktwirtschaft noch eine interventionistische Staatswirtschaft geeignet ist, diese Gebote umzusetzen. Letztere hat ihre Untauglichkeit, Umweltprobleme zu lösen, bereits erwiesen. Erstere läßt zumindest auf Grund ihrer Anpassungsfähigkeit solche Korrekturen zu, mit denen man das deklarierte Ziel anstreben kann. Dies verlangt allerdings, ökonomische Grundregeln strikt zu beachten.
Das System dieser Grundregeln läßt durchaus zu, ökologische Restriktionen marktwirksam werden zu lassen und externe Umweltkosten zu internalisieren. Die Ökonomen sprechen von jenen Schattenpreisen, die sich als Wohlfahrtsverluste aus jenen Verschärfungen ökologischer Rahmenbedingungen ergeben, die
in funktionierenden Märkten in Form von Marktpreisen in Erscheinung treten können.
Die Instrumente, mit denen man diese Schattenpreise ermitteln kann, sind jedoch noch offen. Einige von ihnen, wie Umweltnutzungsrechte oder Emissionszertifikate, haben sich zumindest in einigen Ländern, wie in den USA und Japan, etabliert. Andere, wie verstärkte Umwelthaftpflichten, sind zumindest in der Diskussion.
Die Einführung solcher Instrumente - das erfahren wir immer wieder - bedarf einer breiten argumentativen Vorbereitung, denn sie verlangt eine höhere Anpassungsbereitschaft sowohl der Bevölkerung als auch der Unternehmen. Um ein solches Ziel zu erreichen, verspricht das Predigen von Askese wenig erfolgreich zu sein, so sagt der Bericht. Zum anderen kommen wir mit jener „permissiven Bequemlichkeit" in unserem Denken und unserem Handeln - die sich zur Zeit mehr und mehr ausbreitet und fälschlicherweise oft auch als Resignation bezeichnet wird - keinen Schritt weiter.
Im Bericht der Kommission werden Sie eine bemerkenswerte Passage finden, die als Ermutigung zu verstehen ist einerseits für die Kommissionsmitglieder selbst, das angegangene Thema konsequent weiter zu verfolgen, andererseits aber auch, um Mitstreiter zu finden.
Ich möchte sie deshalb zitieren:
Die permissive Bequemlichkeit der vergangenen Jahrzehnte ist nicht zukunftsfähig. Sie ist eine andere Form von „no future". Ein zukunftsfähiger Lebensstil braucht Schick und Glanz, anders leben heißt, bewußter genießen, es heißt auch, auf Genuß verzichten. Es ist nicht wahr, daß nur kratzige Wäsche und Sandalen umweltverträglich sind. Sorgen wir dafür, daß die zukunftsverträglichen Lebensformen nicht mit Verzicht, sondern mit Freude, nicht mit Grau, sondern mit allen Farben der Natur, nicht mit Verboten, sondern mit Lebensbejahung und Sinneslust verbunden werden. Damit gewinnen wir eine Mehrheit für das Leben und für das Leben eine Zukunft.
Vielen Dank.
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Frau Kollegin Ingeborg Philipp, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der vergangenen Woche ist der Club of Rome in Hannover zusammengekommen. Gorbatschow, der Initiator des neuen Denkens, der jetzt Präsident des Grünen Kreuzes ist, hat eine wichtige Rede gehalten, in der er auf die Krise unserer Zivilisation hingewiesen hat. Im Römpp habe ich über den Club of Rome nachgelesen und folgende Formulierung gefunden: „Der Club of Rome strebt Nullwachstum und eine neue Lebensqualität an."
Einen Beitrag zur Lösung dieser Aufgabenstellung will die Enquete-Kommission leisten. Dabei sind wir uns der Komplexität der Aufgaben und der riesengroIngeborg Philipp
Ben Probleme, die einer Lösung bedürfen, immer sehr bewußt gewesen.
Zu der neuen Lebensqualität, die wir erreichen müssen, können wir nur durch ein neues Denken kommen, das für die Menschen des ausgehenden 20. Jahrhunderts annehmbar ist. Wir sind in ein streng wissenschaftlich-technisches und rationales Denken eingebunden. Die Einforderung ökonomischer Vorteile ist eine stille Voraussetzung für alles wirtschaftliche Handeln geworden. Aber diese Haltung führt uns in eine Sackgasse des Egoismus. Einsamkeit und innere Leere sehr vieler Menschen werden durch diese Lebensweise verursacht, in der Vorteildenken selbstverständlich geworden ist.
Ich sehe das als ernsthafte Minderung einer höheren Lebensqualität an, die für alle möglich wäre. Ich meine, ein Gemeinschaftsdenken, welches das Wohlergehen aller Menschen anstrebt, macht alle Menschen innerlich freier und verschafft auch innere Glücksgefühle.
Fühlen wir uns noch als Menschen, die innerlich zufrieden sind und ja zu sich selbst sagen können? Kommen wir in unserer Alltagshektik überhaupt noch dazu, ein Ja zu uns selbst zu sagen und daraus ein klar empfundenes Ja zu anderen Menschen abzuleiten? Leben wir in unserem großen äußeren Reichtum noch als glückliche Menschen? Warum lassen wir eine Wirtschaftsentwicklung zu, welche die Menschen nicht nur ihrer inneren Werte beraubt, sondern durch eine unsinnige Mobilitätsentwicklung und eine umweltschädigende Energiewirtschaft auch die ökologischen Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen zerstört?
Sind wir so ohnmächtig, oder entschuldigen wir uns nur damit? Wahr ist, daß die technologischen und ökologischen Prozesse in ihrer Komplexität nur schwer zu erfassen und auch zu steuern sind. Wahr ist auch, daß ein Gefühl der Ohnmacht wirksam wird, je differenzierter man die konkret vorhandenen Gefahren und Bedrohungen erkennt. Aber es darf nicht sein, daß daraus die Berechtigung zu einer Untätigkeit abgeleitet wird.
Die chemische Industrie hat in diesem Jahrhundert den ersten Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg und die Weiterführung dieser Tötungsmethode in den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkrieges möglich gemacht. Das ist Schuld. Sie darf nicht verdrängt werden. Auch andere Industriezweige haben ganz spezifische Schuldverknüpfungen. Das muß auf gearbeitet und in das notwendige neue Denken übergeleitet werden.
In der Bibel steht eine realitätsbezogene Geschichte von zehn Aussätzigen, die geheilt werden. Nur einer kommt zurück und sagt danke. Diese 10 % jener Menschen, die zu einem selbständigen, tätigen Handeln in der Lage sind, müssen wir in der Politik ausfindig machen. Wir dürfen uns dabei nicht darüber ärgern, daß die restlichen 90 % ihre eigenen Wege gehen.
Genetisch bedingt ist jeder Mensch eine einmalige Menschenpersönlichkeit. Jeder von uns, die 10 % und die 90 %, haben ihre wesenseigene Prägung, die angeboren und zunächst weder Verdienst noch
Schuld ist. Aus rationalem Wissen heraus sollten wir daher sehr großzügig mit den Schwächen anderer umgehen und auch uns selbst Schwächen zugute halten. Das schließt nicht aus, daß wir Anforderungen an uns selbst und andere stellen. Aber es mildert menschliche Spannungen, wenn man um die genetisch vorgegebene Andersartigkeit der anderen Menschen weiß.
Wir müssen eine neue Ethik einer globalen Verantwortung voranbringen. Dafür arbeitet der Theologe Hans Küng, der sein Buch „Projekt Weltethos" vorgestellt hat. Er strebt den Dialog der Religionen untereinander und mit der Politik und allen interessierten Menschen an, um dadurch ein gemeinsam getragenes Weltethos der globalen Verantwortung zur Wirkung zu bringen. Gegenwärtig leben 5,4 Milliarden Menschen auf unserer Erde, 3,9 Milliarden gehören den Weltreligionen und anderen Religionen an, und 1,5 Milliarden Menschen sind konfessionslos. Zur Bereicherung des neuen Denkens sollte die christliche Ethik neu erschlossen werden. Viele Menschen haben keine festen religiösen Bindungen mehr, auch wenn sie noch als zu den Weltreligionen gehörend gezählt werden. Ihnen fehlt deshalb ein innerer Halt, der sie für die Schwierigkeiten eines ethisch motivierten Lebens belastbar macht. Innerlich reiche Menschen sind glücklich, auch wenn sie materiell nicht viel haben. Neues Denken braucht auch diese neuen inneren Wertmaßstäbe.
Da ein Zeitrechnungsfehler von sieben Jahren passiert ist, begehen wir schon in diesem Jahr den 2 000. Geburtstag von Jesus. Ich wünsche mir, daß wir die sieben Jahre bis zur Jahrtausendwende nutzen, um den christlichen Glauben in neuer Weise für die vom wissenschaftlich-technischen Denken geprägten Menschen unserer Zeit annehmbar zu machen. Innerer Reichtum gehört zum neuen Denken und kostet kein Geld, und er vermag eine Lebenskultur zu schaffen, die uns allen gut tut. Auch diese Arbeit sollte die Enquete-Kommission leisten.
Ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen und Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aufgabenstellung, Bewertungskriterien und Perspektiven für umweltverträgliche Stoffkreisläufe in der Industriegesellschaft zu entwickeln, ist von zentraler Bedeutung nicht nur für das Überleben der Industrieländer, sondern letztendlich der gesamten Menschheit. Auch die UNCED-Konferenz in Rio im Juni vergangenen Jahres hat noch einmal gezeigt, daß die Industrieländer für einen umweltverträglichen Umgang mit Stoffen eine besondere Verantwortung tragen und daß diese Verantwortung auch von den
Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Entwicklungsländern mit Nachdruck eingefordert wird.
Meine Damen und Herren, unser Pro-Kopf-Verbrauch an Energie und Stoffen kann nicht Maßstab für eine Weltbevölkerung sein, die alle vier bis fünf Tage um 1 Million zunimmt. Wir müssen vielmehr unser geistiges Potential dafür einsetzen, die erneuerbaren und nicht erneuerbaren Ressourcen der Erde so zu nutzen, daß dies ein verantwortbarer Maßstab für die gesamte Menschheit sein kann.
Die maßgeblich im Brundtland-Report von 1987 entwickelte und seit Rio 1992 allgemein anerkannte Forderung einer nachhaltigen Entwicklung ist ein derartiger Maßstab. Die Enquete-Kommission hat daher zu Recht zu Beginn ihres Zwischenberichts die Leitbilderdiskussion geführt und das Leitbild des „sustainable development" als übergeordnetes Leitbild herausgestellt. Dabei hat sie es zutreffend mit „nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung" übersetzt, um die in dieser Forderung liegende Verantwortung für kommende Generationen herauszuarbeiten.
So leicht es ist, sich auf dieses Leitbild zu verständigen, so schwierig ist es, daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Ich möchte deshalb drei Aspekte aus diesem Bericht herausgreifen, die mir den richtigen Weg zu weisen scheinen.
Zum ersten: Die Enquete hat ausgeführt, daß die Annäherung an das Leitbild einer nachhaltigen zukunftsverträglichen Entwicklung Änderungen von Produktions- und Konsumtionsgewohnheiten verlangt, die einen tiefgreifenden Wandel von Wertvorstellungen sowohl zur Folge als auch zur Voraussetzung haben. Man muß diesen Prozeß, der angelaufen ist, auch wahrnehmen. Ich denke z. B. an einen beginnenden Wandel in der Abfallpolitik.
Ich meine auch, daß die Industrie ihre Verantwortung erkannt hat. Das Ökodesign von Produkten, ihre Abbaubarkeit und ihre Wiederverwertbarkeit sind von der Industrie als Aufgabe akzeptiert worden. Liebe Frau Kollegin Caspers-Merk, gerade das Beispiel Foron in Sachsen ist ein Beleg dafür,
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daß z. B. die Bundesregierung und auch die Staatsregierung von Sachsen ganz massiv den Prozeß einer erfolgreichen Privatisierung mit der Projektförderung gerade dieser Ökokühlschränke unterstützt haben und daß ein Unternehmen, aus der Planwirtschaft kommend, mit einem geschickten Marketing im positiven Sinne einen Wettbewerb provoziert hat, den Sie sich auf Messen anschauen konnten. Das hatte vor ein, zwei Jahren noch niemand für möglich gehalten. Da wollen wir hin.
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Auch die in Ihrem Zwischenbericht dargestellten Leitbilder eines integrierten Umweltschutzes hat sich die Industrie zu eigen gemacht. Sie hat sich ausdrücklich dazu bekannt. Frau Kollegin Caspers-Merk sprach ja das bekannte Beispiel von Kunert an, wo seit
Jahren versucht wird, im Geschäftsbericht Ökodaten darzulegen, diese zu veröffentlichen und auch entsprechende Schlußfolgerungen zu ziehen.
Die Produktverantwortung von der Wiege bis zur Bahre ist heute ein zunehmend anerkanntes Unternehmensziel.
Ich komme zum zweiten Aspekt, den staatlichen Handlungsstrategien. Wie Sie wissen, hat die Enquete-Kommission zwei Handlungsstrategien zur Gewährleistung einer nachhaltigen Entwicklung beim Umgang mit Stoffen herausgearbeitet: den marktwirtschaftlichen Ansatz und den quantitativinterventionistischen Ansatz. Ich halte einen intelligenten Mix von beiden für notwendig.
Beim marktwirtschaftlichen Ansatz kommt es vor allem darauf an, daß die Preise eines Produktes auch die ökologischen Folgekosten und die Knappheit beanspruchter Ressourcen widerspiegeln, der Preis also keine Folge eines Umweltdumpings ist, sondern die externen Kosten internalisiert werden.
Ich möchte an dieser Stelle, wie bereits durch andere geschehen, am Beispiel des Autos zeigen, daß uns z. B. durch die Einführung des Katalysators Teilerfolge gelungen sind.
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Aber längst sind nicht alle Folgekosten des Automobilverkehrs im Kauf- und Unterhaltspreis enthalten. Zu einem ehrlichen ökologischen Preis zu gelangen ist nicht einfach. Hier spielen Fragen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, der Sozialverträglichkeit, insbesondere auch der Arbeitsplätze eine entscheidende Rolle,
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so daß es - Sie haben es auch bei der Einführung des Katalysators gesehen - nur beim Mitziehen anderer Staaten gelingt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wo aber nationale Spielräume bestehen, müssen sie genutzt werden.
Beim quantitativ interventionistischen Politikansatz weist die Enquete auf die Notwendigkeit einer umfassenden Stoffstromanalyse und -bewertung hin. Dieser Komplex stellt den Schwerpunkt des Zwischenberichts dar, sowohl hinsichtlich der methodischen Ansätze, Ökobilanzen und Produktlinienanalysen als auch hinsichtlich der ausgewählten Einzelbeispiele - sie wurden hier schon genannt - Kadmium, Benzol und den FCKW-Ersatzstoff R 134 a und den Bedürfnisfeldern Textilien/Bekleidung und Mobilität.
Entscheidungsgrundlage für staatliches Handeln über Stoffe sollen nicht mehr allein die bisherigen Bewertungs- und Zulassungsverfahren sein, die das human- und ökotoxische Potential eines Stoffes in der Produktions- und Verwendungsphase in den Mittelpunkt stellen, sondern eine Stoffstromanalyse, welche die wichtigsten Stoffe und Güter von der Wiege bis zur Bahre verfolgt und ihren Lebenszyklus einer
umfassenden Bewertung unterzieht. Diesen Ansatz halte ich für richtig und erfolgversprechend.
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Die Enquete-Kommission hat aber selber die Grenzen aufgezeigt. Umfassende Stoffstromanalysen liegen bislang nur für wenige Stoffe vor, z. B. für Chlor mit den vom Umweltbundesamt herausgegebenen Handbüchern Chlorchemie I und II und für die von der Enquete selbst bearbeiteten Stoffbeispiele Kadmium und Benzol.
Auch Ökobilanzen und Produktlinienanalysen können nicht für jeden Stoff und jedes Produkt erstellt werden. Das zeigt deutlich die an Sie überreichte umfangreiche Ökobilanz für Getränkeverpackungen in den Bereichen Frischmilch und Bier, wobei wir hierzu sagen müssen, daß die Bilanz selbst noch keine abschließende Bewertung in sich birgt. Sie zeigt vielmehr, daß wichtige Bewertungskriterien die Grundlage für eine abschließende Bilanzierung, eben eine Ökobilanzierung, sein müssen.
Diese Arbeit kann nicht für jeden Stoff und jedes Produkt geleistet werden. Gleichwohl halte ich derartige Bilanzen in ausgewählten Fällen für eine wertvolle Hilfe, ökologische Schwachpunkte aufzuspüren und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen. Der Schwerpunkt der kommenden Jahre wird daher weiterhin bei einer einzelstoffbezogenen Bewertung liegen.
Dem Bundeskabinett wird der Bundesumweltminister in diesen Tagen den Entwurf einer zweiten Novelle zum Chemikaliengesetz vorlegen, die das EG-weit harmonisierte Anmeldeverfahren für neue Stoffe weiter ausbauen und verfeinern wird. Mit dieser Novelle werden erstmals auch Angaben zu Herstellung, Exposition und Verbleib von Stoffen gefordert. Daher kann für diese Stoffe die von der Enquete-Kommission zu Recht beklagte Datenlücke über Menge, Exposition und Verbleib künftig geschlossen werden.
Meine Damen und Herren, in dem Bericht des Club of Rome über die neuen Grenzen des Wachstums von 1992 wird darauf hingewiesen, daß Wasser, Boden und Luft nur begrenzt in der Lage sind, schädliche Stoffe aufzunehmen und abzubauen. Diese neuen Grenzwerte des Wachstums, die Endlichkeit der Senken dieser Erde, sei es für die Aufnahme von CO2 oder für die bereits überbeanspruchte Fähigkeit, FCKWs zu verkraften, sind heute die ernsthafteste Bedrohung für die Menschheit.
Ich komme zum dritten Aspekt, zur Bewertung der Stoffströme. Die Enquete-Kommission hat die Bewertung von Stoffströmen als zentrale Aufgabe, sozusagen als das Herzstück ihrer Kommissionsarbeit, bezeichnet. Sie weiß dabei, daß sie erst am Anfang steht. Die dazu erforderliche Risikoabschätzung, Nutzenabschätzung und die Abwägung aller Vor- und Nachteile erfordern einen Konsens über die dafür entscheidenden Bewertungskriterien, der nicht einfach zu erreichen, aber, wie ich denke, möglich ist.
Diese Vorgehensweise hat meines Erachtens auch die Arbeit der Kommission geprägt. Ich begrüße es besonders, daß in dieser Enquete nicht nur die
Umweltpolitiker aller Fraktionen des Deutschen Bundestages, sondern auch die Sozialpartner aus Industrie und Gewerkschaften, Experten- und Umweltverbände und hervorragende Wissenschaftler an einem Tisch sitzen. Dem hohen Einsatz dieser Mitglieder der Enquete-Kommission ist es zu verdanken, daß es in der erstaunlich kurzen Zeit von nur eineinhalb Jahren gelungen ist, das komplexe Thema in pragmatischer Selbstbeschränkung zu strukturieren und den Zwischenbericht konsensual zu verabschieden. Mit den zahlreichen Anhörungen und den erfolgten Studienvergaben ist auch die Basis dafür geschaffen worden, daß der Endbericht noch in dieser Legislaturperiode vorgelegt werden kann.
Meine Damen und Herren, dieser Leistung gebührt Respekt und Dank. Ich erlaube mir, an dieser Stelle auch einmal den Mitarbeitern meines Hauses und den Mitarbeitern des Umweltbundesamtes für die konstruktive Zuarbeit an die Kommission zu danken, was auch mit einem erheblichen zusätzlichen Arbeitsaufwand verbunden war.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, nun erteile ich dem Vorsitzenden der Enquete-Kommission, unserem Kollegen Ernst Schwanhold, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte gerne bei Herrn Staatssekretär Wieczorek anfangen, der sich bei den Mitarbeitern seines Hauses und beim UBA bedankt hat. Ich könnte viele in diesen Dank einschließen. Insbesondere möchte ich gerne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Institut WaBoLu des Bundesgesundheitsamtes in diesen Dank einschließen, die sich in starkem Maße Mühe gegeben haben mitzuarbeiten. Auch dies ist ein Teilbild des Bundesgesundheitsamtes.
({0})
Ich will diesen Dank ausdehnen auf das Sekretariat der Enquete-Kommission, das in nicht einfacher Situation und in nicht einfacher Auseinandersetzung eine vorzügliche Zuarbeit geleistet hat, häufig über die zeitliche Beanspruchung, die tarifvertraglich abgesichert ist, hinaus, völlig uneigennützig und jederzeit loyal.
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Ohne sie - dessen bin ich mir sicher - wäre es uns nicht gelungen, die schwierigen Diskussionen, die nicht immer so einmütig gewesen sind, wie es der Bericht am Ende widerspiegelt, so zusammenzuführen, daß wir heute diesen Bericht ohne abweichende Voten vorlegen.
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Ich will gerne auf Herrn Staatssekretär Wieczorek eingehen. Ich stimme im übrigen seiner Rede in vielen
Passagen zu. In einem Aspekt, Herr Wieczorek, müssen wir, so denke ich, gemeinsam noch ein Stückchen weiter nachdenken, nämlich in der Frage, ob uns die Einzelstoffbetrachtungen am Ende wirklich weiterhelfen.
({3})
Wenn Sie berücksichtigen, daß anthropogene Stoffströme heute mehr ausmachen als die gesamten geogenen Stoffströme, dann stellen Sie fest, daß allein die Menge zum Problem geworden ist. Wir dürfen nicht nur über selektives Vorgehen nachdenken, sondern müssen die Stoffströme insgesamt reduzieren. Dies geht übrigens selbst bei Befriedigung aller Bedürfnisse, die notwendig sind. Aber technische Optimierungsmaßnahmen alleine werden am Ende nicht reichen.
In diesen Tagen tagt, fast unbemerkt von der bundesdeutschen und der Weltöffentlichkeit, der Club of Rome in Hannover. Er ist dabei, eine Aussage vorzubereiten mit vielleicht größerer Bedeutung als die des Berichts „Neue Grenzen des Wachstums". Er wird, wenn meine Informationen richtig sind, sich dazu äußern, inwieweit die Industrieländer aufgefordert sind, ihre Stoffströme und ihre Energieumsätze zu reduzieren, damit wir den intra- und intergenerativen Vertrag auf diese Fragen ausdehnen können und wir den zukünftigen Generationen, aber auch gerade den jetzt lebenden Generationen die Chance geben, ein Stückchen am Wohlstand zu partizipieren und ein Stückchen aufzuholen. Wir können uns unseren Wohlstand und unsere Stoffumsätze nur erlauben, weil wir anderen diese Stoff- und Energieumsätze vorenthalten.
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Das ist das Wirtschaftsprinzip, nach dem wir zur Zeit arbeiten.
Die Enquete-Kommission hat, was die Systematik und die Aufteilung der Arbeit angeht - es ist viel Richtiges dazu gesagt -, nicht nur die ökologische Säule im Auge gehabt. Sie hat auch den Versuch unternommen - sie hat es erst ansatzweise diskutiert -, neben der ökologischen Säule die ökonomische und die soziale Säule zu bedenken. In der täglichen Standortdiskussion, die es gegenwärtig gibt, machen wir uns allzu leichtfertig nur Gedanken darüber, wie wir denn wieder Wachstum initiieren können, damit die Wirtschaftsentwicklung angekurbelt wird und damit sich der Standort Bundesrepublik Deutschland Produktionsvorsprünge und Wettbewerbsvorsprünge, im wesentlichen im technologischen Bereich, erarbeitet.
({5}): Ist
das nichts?)
- Das ist etwas; aber es ist nicht alles, seitdem es längst eine Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung gibt und wir nicht mehr in der Lage sein werden, jene Wachstumsraten zu produzieren, die einerseits Vollbeschäftigung bei uns initiieren und andererseits anderen Überlebenschancen lassen. Deshalb muß eine entscheidende andere Komponente hinzukommen: die eines ökologischen Wachstums.
Darüber nachzudenken bedeutet gleichzeitig, Zukunftsmärkte zu sichern, wenn wir jene Produkte entwickeln.
({6})
Deshalb werden wir in der Enquete-Kommission dazu ein Stückchen Vorarbeit leisten.
Ich will die Standortdebatte nicht geringreden. Ich glaube nur, daß die Kostenaspekte allzusehr im Vordergrund stehen und wir noch immer den Glauben haben, daß wir so weitermachen könnten wie bisher, wenn wir nur die Kosten reduzieren und unsere Weltmarktstellung zurückerobern würden. Ich glaube, dies ist eine irrige Meinung, die auch wirtschaftspolitisch auf Dauer nicht guttut.
Ich habe von allen drei Säulen gesprochen: von der ökonomischen, der ökologischen und der sozialen. Zu dieser Betrachtung gehört, daß wir uns ein Instrumentarium zulegen, um zwischen diesen drei Säulen Interdependenzen zu schaffen. Herr Staatssekretär, Sie haben völlig zu Recht von den Stoffstromanalysen und von den Ökobilanzen als einer Möglichkeit der Datenermittlung gesprochen. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich und nachdrücklich den Appell an jene Industriezweige und Industrieverbände erneuern, die noch immer die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben, die so tun, als könnten sie uns in Anhörungen hinters Licht führen, oder die uns Daten vorenthalten und meinen: Sie werden schon daran scheitern, wenn wir ihnen die Daten nicht geben.
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Damit wird am Ende die Arbeit der Enquete-Kommission nicht behindert werden können, sondern damit wird die Zukunft einer Industriebranche verspielt. Wir alle im Hause wären gut beraten, diesen Industrieverbänden ihre Verpflichtung deutlich zu machen angesichts der Massen an Stoffströmen, die dort verwendet werden, und angesichts der Abbauprodukte wie R 134 a oder Benzol im Fahrbenzin oder Schwermetalle oder Verbundwerkstoffe aus PVC und Stahl. Wir haben die Dioxin-Belastungen leider Gottes auch deswegen zu tragen, weil der Stoffinput nicht so ist, daß hinterher wirklich recyclingfreundlich wiederverwertet werden kann, ohne daß es zu nachhaltigen Schädigungen kommt.
Herr Kollege Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Larcher?
Bitte sehr.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Schwanhold, ich habe den Zwischenbericht und die Veröffentlichungen, die es darüber gibt, mit großem Interesse gelesen. Seither ängstigt mich ein Problem. Ich frage Sie als den Vorsitzenden der Enquete-Kommission: Welche Chancen sehen Sie, dem Geheimnis der Steinlaus auf die Spur zu kommen und damit den Kampf gegen dieses gefährliche Lebewesen erfolgreich zu führen?
Sehr verehrter Kollege von Larcher, das gefährliche Lebewesen Steinlaus ist wirklich erst ganz in Anfängen in dieser Kommission beraten worden, eher außerhalb der offiziellen Tagesordnung. Insofern fehlt uns dazu noch ein Stückchen Erkenntnis. Ich kann Ihnen aber versichern, daß wir nachhaltig daran weiterarbeiten werden, ich hoffe, nachhaltig zukunftsverträglich. Wir werden, da bin ich sicher, über das Vierte Steinlaussymposion von Herrn von Bülow eine Antwort zu diesem wirklich wichtigen Tier bekommen.
({0})
Herr Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weng?
Ja, gern.
Bitte, Herr Kollege Weng.
Herr Kollege, können Sie mir erläutern, ob die hier genannte Steinlaus irgend etwas mit dem schon länger bekannten kleinen grünen Steinfresser zu tun hat?
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Herr Kollege Weng, ich kann Ihnen nicht sagen, ob es wirklich etwas mit dem grünen Steinfresser zu tun hat; die Steinlaus könnte aber z. B. ein GRÜNEN-Fresser sein. Anders wäre nämlich nicht zu erklären, daß DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90 während der Diskussion dieses Zwischenberichtes und während der Arbeit der Kommission durch Abwesenheit glänzen.
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Ich war bei den drei Säulen: der ökologischen, der ökonomischen und der sozialen. Die Zukunftsfrage, die an uns gestellt werden wird, ist, ob es uns gelingt, unserer Nachwelt eine lebensfähige Zukunft bei gleichzeitiger sozialer Sicherheit zu hinterlassen; das sind nicht nur Einkünfte, sondern auch Bedürfnisbefriedigungen bei ökonomischer Entwicklung.
Fest steht, daß, wenn wir dabei eine Säule vernachlässigen, wir die beiden anderen Säulen nicht erreichen. Denn die letzten zehn Jahre Wirtschaftswachstum haben uns gelehrt, daß wir trotz einer zehnjährigen Phase ökonomisch nicht zusätzliche Fortschritte erzielt haben, ökologisch nicht wirklich vorangekommen sind und auf sozialem Gebiet nichts zusätzlich erreicht haben. Wir geben für End-of -the-pipe-Technologien längst so viel aus, wie wir an wirtschaftlichen Fortschritten innerhalb der Unternehmen erreichen.
Deshalb will ich meinen Appell wiederholen, darüber nachzudenken, wie jene zukunftsverträgliche nachhaltige Wirtschaftsentwicklung eingeleitet werden kann. Sich gegen die Internalisierung externer Kosten zu sträuben bedeutet jedenfalls, weiter dafür zu sorgen, daß Warenströme durch die Welt vagabundieren, ohne an einer einzigen Stelle für zusätzliche Bedürfnisbefriedigung zu sorgen, ohne an einer Stelle etwas zusätzliche Lebensqualität zu organisieren.
Der Transport eines Hemdes von China, in das wir die Rohstoffe zuvor exportiert haben, kostet 25 Pfennige. Der Energieverbrauch ist unendlich hoch, wir beklagen die CO2-Problematik, wir beklagen global warming, und wir wissen von der Endlichkeit der Ressource Energie.
({1})
Allein an diesem Beispiel deutlich zu machen, welch sinnlose Wirtschafts-, Produktivitäts- und Produktionsverteilung wir uns in dieser Welt erhalten, ist für mich wichtig, um Ihnen zu zeigen, daß wir über ein sinnvolles Kreislaufwirtschaftsgesetz - wenn wir denn kreislauffähige Produkte entwickeln und diese auch marktfähig machen - ein Stückchen zu regionalisierten Märkten kommen können, wo produziert und wiederverwertet wird, in den Verbraucherbereichen, wo die Menschen wohnen.
({2})
Das hat nichts mit Ökoprotektionismus, sondern hat etwas mit Chancen für uns und unseren Industriestandort zu tun und hat etwas mit Chancen für nichtindustrialisierte Länder zu tun. Insofern wäre das ein Stückchen nachhaltige Entwicklung, über die wir noch viel mehr nachzudenken haben.
({3})
Ich möchte einen letzten, abschließenden Gedanken vortragen, der nichts mit dem Zwischenbericht zu tun hat. Mir ist es nur wichtig, das in einen Zusammenhang zu stellen. Ich glaube, wir werden es trotz allen Arbeitseifers nicht schaffen, bis zum Ende dieser Periode einen Bericht vorzulegen, der den kompletten Auftrag des Bundestages erledigt. Wir sind uns dessen sicher. Dazu sind auch die drei Säulen und die Aufgaben, die uns gestellt worden sind, zu vielfältig.
Das Bundesumweltministerium bemüht sich schon seit vielen Jahren. Der Erkenntniszugewinn, den der Herr Parlamentarische Staatssekretär in seiner Rede dankenswerterweise verdeutlicht hat, wird nach den vielen Jahren noch nicht realistische Politik. Herr Wieczorek, Sie sind lange am Üben. Ich befürchte, daß Sie der realistischen Politik noch ein bißchen länger nachlaufen werden, als wir brauchen, um unseren Abschlußbericht zu formulieren.
Deshalb sollte dieses Parlament der Enquete-Kommission eine weitere Periode Zeit geben. Ich bin sicher, daß dadurch nicht nur unter ökologischen Aspekten, sondern insbesondere auch unter Wohlfahrtsaspekten des gesamten Staates und möglicherweise auch ein wenig beispielhaft für die Industrienationen insgesamt Wege in die Zukunft aufgezeigt werden können.
Ich danke für Ihre Geduld.
({4})
Meine Damen und Herren, nachdem im Bereich Steinläuse und Steinbrecher
({0})
Probleme angesprochen wurden, hat nun als letzter Redner in dieser Debatte unser Kollege Erich Fritz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
({0})
- Wenn einige bereit gewesen wären, ihre Reden zu Protokoll zu geben, hätten wir die Chance gehabt, die Zeit zu nutzen.
({1})
- Da ich jetzt der letzte Redner bin, ist die Chance vertan.
Meine Damen und Herren, der OECD-Umweltprüfbericht für Deutschland bescheinigt der Bundesrepublik, daß sie den Ausstoß wichtiger Schadstoffe und den Energieverbrauch vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt hat und insofern nicht nur ernsthaft den Versuch macht, Wirtschaftswachstum und Umweltziele miteinander in Einklang zu bringen, sondern auch bereits wesentliche Stoffströme durch ihre Umweltpolitik verändert hat.
Gleichzeitig wird allerdings angezweifelt, daß die Umweltschutzziele mit der größtmöglichen Kosteneffizienz verwirklicht werden. Es werden deshalb eine bessere Prioritätensetzung und ein kosteneffizienteres Instrumentarium für Umweltschutzmaßnahmen angeregt.
Der OECD-Bericht schlägt dafür vor, die Anwendung ökonomischer Instrumente in Verbindung mit ordnungsrechtlichen Instrumenten auszubauen, um eine kosteneffizientere Realisierung von Umweltschutzzielen zu erreichen. Dies wird nur durch eine stärkere Integration der Umweltpolitik in die Wirtschaftspolitik möglich sein.
Die bisherige Umweltschutzpolitik, eher von der Abfallseite her gedacht, eher vom Ende des Stoffstroms her definiert, muß stärker in eine vorsorgende, d. h. in den Produktionsablauf integrierte Umweltpolitik überführt werden. Wir brauchen intelligente Lösungen auf jeder Stufe der Produktion.
Die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" - Bewertungskriterien und Perspektiven, also etwas, was Anregungen aufnimmt und weiterführt - versucht, sich diesem Anspruch zu nähern, indem sie durch eine Bestandsaufnahme wesentlicher Stoffströme die Voraussetzungen für eine neue Beurteilung der wirtschaftlichen Produktion sowie Bewertungsmaßstäbe für eine nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung erarbeitet und damit die Voraussetzung schafft, Gefährdungen und Umweltbelastungen frühzeitig zu erkennen, zu einem frühen Zeitpunkt mit entsprechenden Managementmöglichkeiten einzugreifen und die zugrunde liegenden Stoffströme zu beeinflussen. Dabei sollen - wie der Vorsitzende, Herr Schwanhold, das gerade ausführlich dargestellt hat - nicht nur ökologische Zusammenhänge untersucht werden, sondern auch ökonomische und soziale, weil nur im Geflecht dieser voneinander abhängenden Faktoren wirkliche, akzeptable und auf Dauer konsensfähige Lösungen gefunden werden können.
Dabei handelt es sich, Frau Kollegin Caspers-Merk, meiner Auffassung nach wirklich um ein konservatives Anliegen. Deshalb weiß ich gar nicht, wen Sie mit Ihrer Apostrophierung „konservativ" gemeint haben könnten. Wenn es denn um die Bewahrung der Umwelt geht, denke ich, sind wir alle miteinander Konservative; ich hoffe zumindest, daß wir es in diesem Sinne sind.
({2})
Wir haben in dieser Debatte - und das unterscheidet sie von vielen anderen - die Möglichkeit, im Konsens gefundene Positionen darzustellen. Deshalb mußte das nicht unbedingt sein. Ob das beim Endbericht auch noch so sein wird, wagt heute noch niemand zu sagen.
Wenn heute, wie das auch schon angesprochen worden ist, vom Produktionsstandort Deutschland gesprochen und dessen Qualität in Zweifel gezogen wird, so werden dafür häufig die Kosten des Umweltschutzes in Anspruch genommen. Ohne Zweifel hat die bisherige Umweltpolitik durch strenge und weitreichende Regelungen in einigen Bereichen der Wirtschaft hohe Anpassungsleistungen erfordert - das wird niemand bestreiten - und auch erhebliche Kosten verursacht. Das sind bei manchen Produktbereichen der chemischen Industrie bis zu 30 %. Aber es darf eben nicht vergessen werden, daß daraus neue Chancen entstanden sind, daß Umweltschutz auch Ertragspotentiale, neue Beschäftigung, neue Exportchancen, Innovationen im ganzen möglich macht
({3})
und daß es deshalb auch kurzsichtig wäre, wenn man mit Umweltschutzpolitik erst einmal aufhörte in der Annahme, man könnte die Situation, die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes dadurch wesentlich verbessern.
({4})
Richtig ist allerdings auch, daß Kosten und Nutzen sehr unterschiedlich verteilt sind. Die Unternehmen, die neue Märkte in diesem Bereich erschließen können, sind nicht unbedingt die, die die Lasten zu tragen haben, so daß die Bilanzierung natürlich dazu führt, daß in einigen Bereichen Probleme entstehen.
Es wäre wirtschaftspolitisch also falsch, jetzt von einer Pause im Umweltschutz zu sprechen. Richtig ist vielmehr, daß überlegt werden muß, ob Umweltschutz in Zukunft anders praktiziert und besser in die wirtschaftlichen Abläufe integriert werden kann. Dafür ist ein gesellschaftlicher Konsens über Umweltziele nötig, die bei zukünftigen Investitionen berücksichtigt werden sollten, welche sowohl der Verwirklichung
von Umweltschutzzielen dienen als auch betriebswirtschaftliche und volkswirtschaftliche Vorteile mit sich bringen. Dies wird um so leichter möglich sein, je weniger dabei die unternehmerischen Handlungsspielräume eingeschränkt werden und je weniger bürokratische Auflagen und Verfahren damit verbunden sind. Nur wenn dieser Spielraum gewährleistet ist, werden umweltpolitisch nötige Veränderungen dort erfolgen, wo dies zu geringsten volkswirtschaftlichen Kosten möglich ist.
Die Enquete-Kommission wird sich deshalb bemühen, marktwirtschaftskonforme Instrumente der Beeinflussung von Stoffströmen zu entwickeln, insofern also einen wichtigen Beitrag zur ökologischen Ausprägung der Sozialen Marktwirtschaft erarbeiten. Dabei wird es nötig sein, den Ausgleich zwischen belastenden Wettbewerbseffekten der Umweltpolitik und der Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu finden, also keine isolierte deutsche Diskussion in dieser Frage zu führen, sondern vielmehr unsere Vorstellungen in eine globale Sicht zu integrieren.
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Wenn es dabei auch noch gelingt, Wege zu weisen, wie in den Produktionsprozeß eingebaute Maßnahmen zum Schutz der Umwelt langfristig verfolgt werden können, so würden damit auch die häufig negativen Folgen kurzfristiger Umweltschutzmaßnahmen vermieden.
Zu dieser Sicht der Dinge gehört auch, daß sich die Umweltpolitik in der Europäischen Union zunehmend angleicht - vielleicht nicht ganz so schnell, wie wir es hoffen, aber der Trend dahin ist absehbar - und z. B. das Programm der Europäischen Gemeinschaft für Umweltpolitik und Maßnahmen im Hinblick auf eine dauerhafte und umweltgerechte Entwicklung in die gleiche Richtung geht, die die Enquete-Kommission verfolgt. Die dort aufgezeigten Tätigkeitsfelder, wie z. B. dauerhafte und umweltgerechte Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen, integrierter Umweltschutz und Vermeidung von Abfällen, Verringerung des Verbrauchs von erneuerbaren Energien, verbessertes Mobilitätsmanagement und Verbesserung von Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung sowie industrielle Risikoabschätzung sind im Einklang mit dem Auftrag der Enquete-Kommission und lassen hoffen, daß das, was die Enquete-Kommission andenkt, auch in anderen europäischen Ländern gehört wird.
Ich hoffe, daß es der Enquete-Kommission gelingt, eine breite Diskussion in Gang zu bringen. Ohne breite Beteiligung aller Akteure, vom Produzenten bis zum Verbraucher, wird der gesellschaftliche Konsens nicht herzustellen sein. Dieser Konsens aber ist Voraussetzung dafür, daß eine langfristige Veränderung zu einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung möglich wird. Deshalb muß die Entwicklung entsprechender Dialogformen auch Aufgabe der Kommission sein.
Herr Kollege Fritz, lassen Sie noch eine Frage des Kollegen Schwanhold zu? - Bitte.
Herr Kollege Fritz, nachdem Sie diese Kommission, wie ich finde, sehr gelobt haben, möchte ich Sie gerne fragen, ob Sie den heftigen Widerstand der Koalition gegen die Einrichtung dieser Kommission, die maßgeblich von meinem Kollegen Michael Müller initiiert worden ist - dem ich dafür im nachhinein herzlich und ausdrücklich danken möchte; dies habe ich vorhin in meiner Rede vergessen -,
({0})
als falsch erachten?
Dazu stelle ich fest, daß es Ihnen erstens auf diese Weise gelungen ist, den Kollegen Müller in das Protokoll einzuführen, und daß zweitens der Widerstand, wie Sie wissen, nicht dem jetzigen Auftrag der Enquete-Kommission - daran haben wir, glaube ich, konstruktiv mitgearbeitet -, sondern eher einer früher ideologisch verfestigten Zielsetzung galt, die in der SPD-Fraktion in der Periode zuvor verfolgt worden ist, nämlich eine Chemie-Enquete mit eindeutigem Auftrag einzusetzen. Dieses Vorhaben haben wir allerdings nicht geteilt.
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß darauf hinweisen, daß sich die Mitglieder dieser Enquete-Kommission in einer angenehmen, wenn auch direkten Art auseinandersetzen. Ich möchte deshalb für unsere Fraktion ebenfalls die Gelegenheit nutzen, sowohl den Mitgliedern der Kommission, den dort mitarbeitenden Sachverständigen, Wissenschaftlern, gesellschaftlichen Gruppen als auch den Mitarbeitern des Sekretariats für diese Arbeit herzlich zu danken. Ich hoffe, daß wir bei Erstellung des Endberichts sagen können: Wir haben ein Stück des Wegs zu einer nachhaltig umweltverträglichen Entwicklung zurückgelegt.
Herzlichen Dank.
({0})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Der Sitzungsvorstand gratuliert dem Kollegen Fritz zu seinem 47. Geburtstag ebenfalls ausdrücklich
({0})
und wünscht Ihnen noch einen schönen Geburtstagsabend.
({1})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 12/5812 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Forschung, Technologie und Technologiefolgenabschätzung sowie an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Helmuth Becker
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abgeordneten Christoph Matschie, Hans Martin Bury, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Umstrukturierung des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages nach Kriterien der Umweltverträglichkeit
- Drucksachen 12/4266, 12/5868 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem unserem Kollegen Christoph Matschie das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch dieser vorliegende Antrag beschäftigt sich mit einer Beziehungskrise zwischen Mensch und Umwelt - wir haben eben schon über eine solche geredet -, allerdings etwas exemplarischer am Beispiel des Autos.
Das Auto, im Duden zwischen Autismus und Autoatlas eingeordnet, ist ein vertracktes Ding:
({0})
einerseits Fortschrittssymbol der Neuzeit, Symbol für technische Leistung, Symbol für Freiheit und nicht zuletzt - ganz wichtig natürlich - Statussymbol. Je bedeutender der Mensch, desto größer das Auto. Da die Menschen immer bedeutender werden, werden auch die Autos immer größer.
Kurvten unsere Bundesminister 1987 noch mit mageren 160 PS durch die Lande, so dürfen es heute 240 PS und mehr sein. Staatssekretäre liegen natürlich entsprechend ihrer Bedeutung etwas darunter. Aber auch der Durchschnittsbürger hat seine Motorisierung entsprechend seiner gewachsenen Bedeutung angehoben: in den letzten 30 Jahren von 40 PS auf 80 PS.
Kaum eine Erfindung hat das moderne Leben so geprägt wie das Auto. Das Auto ist allgegenwärtig; 37 Millionen Exemplare davon sind in Deutschland zugelassen. Schon im Jahre 2000 sollen es 43 Millionen sein.
Das Auto sichert uns Freiheit, vermittelt ein Gefühl von Stärke. Es schafft Arbeitsplätze. Das Auto ist so etwas wie der gute Freund - natürlich nur das eigene, das des Nachbarn ist uns oft im Weg.
({1})
Aber zunehmend treten natürlich die Schattenseiten der automobilen Freiheit ins Bewußtsein. Die steigende Menge an Fahrzeugen legt sich selbst lahm, und der Stau bringt uns um den Spaß. 1991 wurden in der Bundesrepublik rund 33 000 Staus gemeldet mit einer Gesamtlänge von 130 000 km, also eine Blechlawine, die sich dreimal um den Globus wickeln läßt.
Diese Erfahrung führt zur Nachdenklichkeit, und ich möchte hier einen zitieren, der von Berufswegen
nachdenken muß, nämlich den Philosophen Peter Sloterdijk. Er schreibt in der „Zeit":
An diesen glühenden Nachmittagen im Trichter von Lyon, in der Rheintalhölle vor Köln, eingekeilt am Irschenberg auf Europas längstem Parkplatz, vor sich und hinter sich je 50 km brütendes, gestopptes Blech. Da steigen schwarze geschichtsphilosophische Einsichten auf wie Auspuffgase. Da geht einem Kulturkritisches, Glossalisches von den Lippen. Nachrufe auf die Moderne wehen aus den Seitenfenstern, und unabhängig vom Niveau ihrer Schulabschlüsse kommt in den Insassen der Fahrzeuge die Ahnung auf, daß dies nicht mehr lange so weitergehen kann.
Doch mit all dem Ärger nicht genug. Das Auto ist auch zur globalen Umweltgefahr geworden. Der Beschluß der Bundesregierung zur Reduzierung der CO2-Emissionen stellt in seinem Teil Verkehrsentwicklung fest, daß der MIV von 1970 bis 1989 um 60 % zugenommen hat. MIV heißt hier Motorisierter Individualverkehr. Aber damit hat natürlich auch der Mief zugenommen.
Die Stickoxydemissionen haben sich seit 1966 verdreifacht, die Kohlenwasserstoffemissionen sind um 75 % gestiegen und die CO2-Emissionen auf das Zweieinhalbfache. Aber noch nicht einmal 10 % der Erdenbewohner besitzen ein Auto. Stellen Sie sich vor, was wird, wenn unsere Motorisierung weltweit nachgeholt wird.
Wer trotzdem hofft, dies alles ginge risikolos an uns vorüber, ist entweder ein unverbesserlicher Ignorant oder hat den Immissionsschutzbericht der Bundesregierung von 1992 nicht gelesen. Da heißt es:
Der menschliche Organismus ist nur in begrenztem Umfang fähig, immissionsbedingte Veränderungen der äußeren Lebensbedingungen ohne erkennbare Beeinträchtigung oder Schäden zu tolerieren. Es ist daher erforderlich, bereits vorsorglich Umweltrisiken zu vermeiden bzw. zu minimieren.
Und weiter heißt es da:
Die Wirkungen von Luftschadstoffen auf die belebte Umwelt sind in allen Teilen der Ökosysteme festzustellen.
Aber nicht nur die Bundesregierung, auch das Parlament ist natürlich besorgt. Der Bericht der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" weist uns auch darauf hin, daß 20 % der CO2-Emissionen auf den Verkehr entfallen, und zwar mit steigender Tendenz. Aber nicht nur CO2 wird ausgepufft, alle klimarelevanten Gase kommen aus dem Auto hinten raus.
Fazit der Kommission:
Die drohende Klimaänderung zeigt, daß das ressourcenverschwendende Wirtschaften der Industrienationen des Nordens an Grenzen gelangt ist.
Über diese Grenzen haben wir ja eben auch schon diskutiert.
Und dann steht da der bemerkenswerte Satz:
Das gemeinsame Ziel der Verhinderung globaler katastrophaler Klimaveränderungen kann nur erreicht werden, wenn einzelne Länder von sich aus demonstrieren, daß und wie es erreichbar ist.
Unter den Handlungsempfehlungen findet sich dann auch ein Kapitel mit der Überschrift „Verkehr". Darin heißt es u. a.:
Eine Kraftstoffverbrauchsreduzierung ({2}) würde die verkehrsbedingten Emissionen erheblich reduzieren.
Und damit komme ich zu unserem Antrag: So wie bisher kann die automobile Industriegesellschaft nicht weitermachen. Das scheint klar zu sein. Wir müssen unseren Mitmenschen u. a. eine automobile Abrüstung zumuten: statt immer mehr PS eine umweltverträglichere Technik. Das wird kein leichtes Unterfangen, denn wir haben es hier mit suchtähnlichen Umständen zu tun.
Deshalb lief mein Vorschlag darauf hinaus, mit gutem Beispiel voranzugehen und die Bundestagsflotte zunächst abzurüsten. Der momentane Spritverbrauch von 13,5 Litern auf 100 km ist ja nicht gerade beispielgebend, wenn man dem Nachbarn das Auto light nahebringen will.
Außerdem stehen wir in der Pflicht. Die Bundesregierung hat in Rio die Agenda 21 unterzeichnet. Darin heißt es in Kapitel 4, die Begünstigung umweltfreundlicher Produkte soll durch die öffentliche Beschaffung gefördert werden.
({3}) Mein Antrag forderte demgemäß:
Die Umgestaltung des Fahrdienstes soll sich an den Kriterien Kraftstoffverbrauch, Schadstoffemission, Ressourcenverbrauch zur Herstellung der Fahrzeuge und Recyclingfähigkeit orientieren und die ökologische Gesamtbilanz berücksichtigen.
Vorgeschlagen wurde auch der Einsatz alternativer Antriebsarten im Pilotversuch, beispielsweise Elektrofahrzeuge. Man hätte eine Solartankstelle gemeinsam mit den Ministerien und der Stadtverwaltung einrichten und andere alternative Antriebsarten testen können. Außerdem wurde vorgeschlagen, verstärkt auf das Fahrrad und den öffentlichen Personennahverkehr umzusteigen.
Was jetzt als Beschlußempfehlung vorliegt, gleicht mehr einem gerupften Huhn denn dem stolzen Ökohahn, den wir anfangs präsentiert haben. Aber ein wesentlicher Schritt ist passiert: Ging es bisher darum, gemäß der steigenden Bedeutung der Abgeordneten auch die PS-Grenze immer weiter nach oben zu schieben, wird jetzt erstmalig die Umweltverträglichkeit zum Kriterium gemacht. Das ist auch der Grund, warum wir der Beschlußempfehlung des Ältestenrates zustimmen. Man soll ja auch kleine Schritte honorieren.
Was wir hier beschließen - so viel ist klar -, wird die eingangs besprochenen Probleme nicht lösen,
aber ich denke, es ist ein symbolischer Schritt, ein Signal langsamen Begreifens, ein Signal an die Autoindustrie, ein Signal an die Menschen im Land.
Wir dürfen allerdings nicht dabei stehenbleiben; denn jetzt beginnt die eigentliche Arbeit für eine Verkehrspolitik, die der Umwelt und zukünftigen Generationen eine Chance läßt. Liebe Autofahrerinnen und Autofahrer, ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung. Ich denke, die Bedeutung eines Menschen, auch eines Abgeordneten, muß sich nicht in gefahrenen Kilometern und PS-Stärke ausdrücken.
({4})
Als nächster spricht der Abgeordnete Steffen Kampeter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich mache es nicht so philosophisch wie mein Vorredner,
({0})
aber die Zahlen, die harten Fakten sprechen schon eine eindeutige Sprache. Der Umweltschädling Nummer 1 bei den Luftverschmutzungen in vielen Bereichen ist der Verkehr, insbesondere der Straßenverkehr.
({1})
Bei Stickoxiden kommen 67,2 % aller Emissionen aus dem Straßenverkehr, bei Kohlenwasserstoffen 57 %, bei Kohlenmonoxid 61,3 %, bei Kohlendioxid knappe 20 %. Der Straßenverkehr ist immer der Hauptemittent bei den Gesamtemissionen.
Es ist schon eine Frage wert, warum sich heute abend der Deutsche Bundestag mit dem Fahrdienst, d. h. mit dem Verhältnis von Umwelt und Verkehr in seinem eigenen Bereich beschäftigt. Der Ältestenrat hat dieses Thema für so wichtig empfunden, daß er uns ja heute eine Beschlußempfehlung zur abschließenden Beratung im Plenum vorgelegt hat.
Zuerst einmal ist festzuhalten, daß der Fahrdienst des Deutschen Bundestages herausragend gute Leistungen erbringt und die Funktionsfähigkeit des Parlamentes in Bonn und darüber hinaus erst garantiert.
({2})
Wer von den Abgeordneten schätzt sie nicht, die pünktlichen, dienstbaren Geister, die uns, auch bei knappen Terminplänen, sicher überall hinbringen, wobei wir teilweise gar nicht wissen, wo wir sind.
({3})
Die Hilfsbereitschaft der Angestellten des Fahrdienstes ist außerordentlich groß.
Eine zweite Sache, die festzustellen ist, ist, daß unser Verhalten als Abgeordnete natürlich Vorbildfunktion weit über die unmittelbaren Grenzen des Parlamentes hinaus hat. Unsere Berufsgruppe ist in hohem Maße meinungsbildend. Wer kennt nicht die Fragen von den Besuchergruppen: „Sagen Sie mal, wie kommen Sie eigentlich nach Bonn?", worauf man dann antworten kann: „Mit der Bundesbahn", wozu dann gesagt wird: „Aha, also auch wieder so ein umweltbewußt handelnder Bundestagsabgeordneter."
Wir Abgeordnete wissen aber auch, wie unverzichtbar Mobilität, schnelle Mobilität für die bürgernahe Ausübung unseres Mandates ist. Wir alle, die wir heute abend in Bonn, morgen früh im Wahlkreis, am Nachmittag dann in Süddeutschland und am nächsten Morgen irgendwo an der schleswig-holsteinischen Küste vor Bürgern die Politik, z. B. die gute Politik der Bundesregierung, darstellen und erläutern,
({4})
wissen, wie unverzichtbar die Mobilität ist. Wir sollten daher ausgesprochen vorsichtig sein mit bevormundenden Vorschriften gegenüber der Bevölkerung, an die wir uns selbst in der Regel nicht halten würden, weil wir sagen, daß die Ausübung des Mandats so wichtig ist, daß wir tatsächlich morgens im Norden und abends im Süden Deutschlands sein müssen.
Trotzdem zeigt der Beschlußvorschlag des Ältestenrates, den die Fraktion der CDU/CSU mittragen wird, daß man auch in einem so eingeschränkten Bereich wie dem der Ausgestaltung und des Betriebs des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages diesen Vorbildcharakter anschaulich und deutlich machen kann.
Dabei geht es nicht um die in der Presse gern diskutierte Frage des Dienstfahrrades. Jeder Abgeordnete, der gern mit dem Fahrrad fährt, ist finanziell hinreichend ausgestattet, so daß er es sich privat anschaffen sollte. Diese Diskussion sollten wir rasch beenden.
({5})
Es geht auch nicht um die Veränderung der Arbeitsbedingungen der Fahrer des Deutschen Bundestages - wir alle wissen, daß wir ein hohes Maß aktiver und passiver Sicherheit in den Fahrzeugen schätzen -, sondern es geht vielmehr darum, zwei ganz zentrale Aspekte hervorzuheben.
({6})
- Doch bevor ich diese Aspekte hervorhebe, lasse ich, Frau Präsidentin, selbstverständlich gern die Zwischenfrage zu.
Herr Otto.
Herr Kollege, Sie haben angesprochen, daß sich jeder ein Fahrrad kaufen kann. Das ist sicherlich kein Problem. Die Kollegen von der SPD-Fraktion haben das Fahrradfahren empfohlen. Haben Sie eine Ahnung, wie viele SPD-Bundestagsabgeordnete mit dem Fahrrad zum Dienst kommen?
({0})
Herr Kollege Otto, ich kann Ihnen leider keine Zahlenangaben machen. Ich wüßte auch nicht, ob das eine Erhebung für den Ältestenrat wert ist. Aber es sollte in der ganz individuellen Entscheidung des Abgeordneten liegen, mit welchem Verkehrsmittel er kommt. Sie wissen, daß
Abgeordnete aus allen Fraktionen des Deutschen Bundestages mit dem Rad fahren.
({0})
- Ich habe ja gesagt, daß Abgeordnete aus allen Fraktionen gelegentlich mit dem Rad fahren. Das sollten wir auch nicht weiter regulieren und die Diskussion über ein vom Steuerzahler finanziertes Fahrrad relativ rasch beenden. Um dieses Problem geht es ja heute auch nicht, sondern es geht um zwei andere Aspekte.
Zum einen hat der Ältestenrat vorgeschlagen, daß man bei der Beschaffung der Kraftfahrzeuge des Deutschen Bundestages noch stärker als bisher auf umweltpolitische Gesichtspunkte abheben soll. Ich glaube, daß dieser Hinweis auch für andere Verbraucher beim Fahrzeugkauf sicherlich wichtig ist; denn in einer Marktwirtschaft ist die Kaufentscheidung des Konsumenten die zentrale Information für die Automobilhersteller, umweltfreundliche Fahrzeuge anzubieten. Es ist zum einen durch die fortschrittliche Politik des Bundesumweltministers bei der ökologischen Ausgestaltung des Straßenverkehrs, zum anderen aber vor allen Dingen durch die verantwortliche Konsumentscheidung der Verbraucherinnen und Verbraucher zu einer erheblich umweltfreundlicheren Ausgestaltung der Kraftfahrzeuge gekommen.
Es ist ja unser politisches Ziel, den Flottenverbrauch in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren auf ein Maß von fünf Litern pro 100 km zu reduzieren. Von dieser Entscheidung wird sicherlich ein kleines, aber hoffentlich öffentlichkeitswirksames Signal auch an die Automobilhersteller gehen: Bitte, bauen Sie umweltfreundliche und Fahrzeuge mit geringerem Verbrauch. Insbesondere auch die Dimension der Recyclingfähigkeit der Fahrzeuge, die gerade von den bei uns gefahrenen Marken ganz herausragend erreicht wird, wird zukünftig eine große Rolle spielen.
Der zweite Vorschlag des Ältestenrates erscheint uns auch so überzeugend, daß wir ihm zustimmen wollen. Es geht darum, dort, wo es wichtig und möglich ist, insbesondere im Sachgütertransport, für den Innenstadtbereich Elektrofahrzeuge einzusetzen. Wir als Union verschweigen nicht, daß wir in Teilbereichen eine gewisse Skepsis hinsichtlich des generellen Einsatzes von Elektrofahrzeugen haben, weil dort noch eine ganze Reihe technologischer und technischer Probleme ungelöst sind. Aber auch hier werden wir Möglichkeiten ausloten, wo es wirtschaftlich vertretbar und umweltpolitisch sinnvoll ist.
Mit diesen beiden bescheidenen, aber wichtigen Hinweisen hat der Ältestenrat deutlich gemacht, daß auch noch beim Fahrdienst des Deutschen Bundestages Ausgestaltungsmöglichkeiten in Richtung auf mehr Umweltschutz gegeben sind.
Damit will ich es in meinem heutigen Beitrag bewenden lassen. Ich könnte noch einiges aufzählen, was die vorbildliche Umweltpolitik der Bundesregierung betrifft. Aber ich glaube, für die Begründung der Zustimmung der Union zu dieser Beschlußempfehlung des Ältestenrates war das ausreichend.
Steffen Kampeter Herzlichen Dank.
({1})
Als nächster erteile ich der Kollegin Birgit Homburger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mich schon ein bißchen über den Beitrag vom Kollegen Matschie gewundert, der große Szenarien der Verkehrspolitik entwickelt hat, die mit der Beschlußempfehlung des Ältestenrates nichts zu tun haben. Davon steht nichts in der Empfehlung. Ich denke, daß man anhand eines solchen Antrages nicht die komplette Verkehrspolitik der Bundesrepublik und ansonsten die Implikationen auf das Klima in der Welt abhandeln kann.
({0})
-Nein, ich bin der Meinung, dazu taugt die Beschlußempfehlung nicht. Der Antrag der SPD hat allerdings auch einen positiven Effekt gehabt: daß sich der Deutsche Bundestag mit dem Fahrdienst und damit auch ein Stück weit mit sich selbst beschäftigt hat.
Natürlich hat der eine oder andere gemeint, daß eine solche Selbstbeschäftigung überflüssig sei. Ich finde, das ist nicht der Fall. Ich finde, das war ein wichtiger Anstoß zur Überprüfung im Bereich des Fahrdienstes. Aber ich kenne auch andere umweltpolitisch relevante Bereiche, die einer solchen Beschäftigung hinsichtlich der Frage, wie wir den Arbeitsablauf im Deutschen Bundestag gestalten, wert sind. Dazu gehört z. B. die Frage der konsequenten Mülltrennung im Bundeshaus oder die Frage, wie in den Restaurationsbetrieben bewirtet wird.
Ich weise allerdings darauf hin, daß all diese Fragen, die sicherlich wichtig sind und bei denen unser Verhalten Vorbildcharakter hat, natürlich nicht notwendigerweise im Plenum behandelt werden müssen. Da reichen manchmal auch andere Anstöße, wie sie von vielen Kolleginnen und Kollegen auch schon gegeben worden sind. Insofern halte ich diese Beschäftigung mit uns selbst für wichtig, weil natürlich auch hier Verbesserungen zu erreichen sind.
Die Diskussion hat letztlich zu einem gemeinsamen Antrag im Umweltausschuß geführt. Der Ältestenrat wurde dabei aufgefordert zu überprüfen, inwiefern im Bereich des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages umweltrelevante Verbesserungen zu erreichen sind. Die Beschlußvorlage zeigt deutlich, daß hier noch weitere Möglichkeiten liegen. So wird vorgeschlagen, kraftstoffsparende Fahrzeuge, wirtschaftliche und umweltschonende Technik anzuschaffen.
Wenn der Kollege Matschie vorhin gesagt hat, aus dem ursprünglichen Antrag komme sozusagen nur noch ein „gerupftes Huhn" heraus, dann muß ich sagen: Diese Auffassung teile ich nicht. Denn zu dem Bereich des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages, um den es in diesem Antrag zentral geht, wurden in der Tat einige Vorschläge gemacht. Das ist im Kern auch das, was der Umweltausschuß beschlossen hat. Das, was weggefallen ist, sind die allgemeinen Ausführungen zur Verkehrspolitik und zu der Wirkung auf das Weltklima.
Die Beschlußempfehlung des Ältestenrates hat aus meiner Sicht auch eine weitere Verbesserung gebracht: Man hat sich von einem alten, zwischenzeitlich veralteten, Beschluß des Ältestenrates getrennt, der beinhaltete, daß keine Dieselfahrzeuge angeschafft werden dürfen. Ich finde es gut, daß wir von diesem veralteten Beschluß des Ältestenrates wegkommen.
Außerdem haben wir in die Beschlußempfehlung des Ältestenrates die Frage von Elektromobilen aufgenommen, d. h. der Erprobung und des Einsatzes neuer Technologien im Bereich des Deutschen Bundestages. Solche Fahrzeuge sollen zukünftig bei Suchtransporten eingesetzt werden. Ich denke, auch das ist ein Signal, daß man hier weiterdenkt und neue Wege gehen will.
Insgesamt meine ich, daß mit dieser Beschlußempfehlung des Ältestenrates ein Zeichen gesetzt wird. Wir haben in der Tat - das ist völlig richtig - natürlich eine Vorbildfunktion. Deshalb gilt eben, daß wir mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Deswegen ist es auch sinnvoll, alle Bereiche immer wieder auf Möglichkeiten der Verbesserung zu überprüfen.
Jetzt komme ich zu einem letzten Punkt und zum Kollegen Kampeter und zu seinen und meinen heißgeliebten Dienstfahrrädern. In der Tat ist es völlig richtig, daß jeder Abgeordnete natürlich genügend Geld hat, sich ein eigenes Fahrrad anzuschaffen. Ich denke aber auch, daß jeder Abgeordnete genügend Geld hat, sich ein eigenes Auto anzuschaffen. Insofern könnte man mit diesem Argument genausogut die Abschaffung des Fahrdienstes begründen. Das wäre dann eine andere Überlegung.
({1})
Ich halte an meinem Vorschlag fest und bin überzeugt davon, daß es Sinn machen würde, eine gemeinschaftliche Nutzung von Fahrrädern durch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages anzustreben, wobei es überhaupt nicht um die Finanzierung, sondern um die gemeinschaftliche Nutzung geht.
Frau Homburger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kampeter?
Ich bin gleich am Ende; dann darf er noch etwas fragen.
({0})
Das ist eine ganz neue Regel, die Sie einführen.
Es würde durchaus Sinn machen, so etwas einzuführen, und man sollte sich darüber weiter Gedanken machen.
Eigentlich geht es ja nicht mehr, aber gestatten wir ihm noch die Zwischenfrage.
Frau Kollegin Homburger, stimmen Sie mit mir darin überein, daß diese sicherlich zentrale Frage nicht zu einem Koalitions17290
streit zwischen der CDU/CSU und der F.D.P. führen sollte?
({0})
Lieber Kollege Kampeter, das kommt ganz darauf an, wie Sie sich bei der Beratung des entsprechenden Antrags verhalten werden.
Danke schön.
({0})
Als letzte zu diesem Tagesordnungspunkt Frau Dr. Dagmar Enkelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will zunächst einmal erklären, warum ich erst jetzt komme. Ich habe bis jetzt an dem vom Bundestag eingerichteten Schreibtelefon für gehörlose Bürgerinnen und Bürger gesessen. Frau Präsidentin, wenn Sie mir den Satz gestatten: Ich halte es für eine sehr löbliche und nachahmenswerte Angelegenheit, die dort gelaufen ist. Ich glaube, es ist höchste Zeit, daß der Bundestag ein solches Schreibtelefon überhaupt einmal einrichtet und in die Verwaltung einführt. Ich würde es sehr befürworten, wenn die Befragung von Bürgerinnen und Bürgern an den Telefonen weitergeführt werden könnte. Dafür wäre ich sehr. Das ist der Grund, warum ich erst jetzt komme.
({0})
Meine Damen und Herren, es gehört leider zu den Seltenheiten, daß sich der Bundestag einmal mit sich selbst beschäftigt, und das sogar nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch zu dem der Allgemeinheit.
({1})
Was dabei allerdings herauskommt, ist eine vorweihnachtliche Absichtserklärung ohne jede Konsequenz. „Allgemeinheit" ist in diesem Zusammenhang wohl eher die Automobillobby.
Vogel-Strauß-Politik also ist angesagt. Da ist es auch wenig hilfreich, wenn in der Problembeschreibung durchaus ein richtiger Ansatz gewählt wurde. Der zunehmende Straßenverkehr erfordert nämlich Maßnahmen zur Umweltentlastung. Die Problemlösung allerdings wird den in wissenschaftlichen Verkehrsprognosen beschriebenen dramatischen Entwicklungen ganz und gar nicht gerecht. Ein vorausberechneter Zuwachs im Personenfernverkehr bis zum Jahre 2010 um 30 % bis 40 % z. B. ist allein mit neuer Kfz-Technik und Elektromobilen nicht zu bewältigen. Wenn wir nicht endlich zu einer Reduzierung des Verkehrsaufkommens insgesamt kommen, landen wir alle im Dauerstau, ob mit einem Verbrauch von 3 Litern oder 7 Litern.
Nun hat Minister Wissmann zugegebenermaßen die Zielstellung der Verkehrsvermeidung - wenn
auch nur verbal - bekundet. Dies trifft aber offensichtlich auf den Bundestag nicht zu. Hand aufs Herz, liebe Kolleginnen und Kollegen: Muß es tatsächlich sein, vom Plenarsaal zum Hochhaus im Tulpenfeld mit dem Auto zu fahren?
({2})
Ein bißchen frische Luft und ein Spaziergang an der frischen Luft tun uns allen gut.
Ich meine, die Beratungen heute hätten sicher etwas spannender werden können. Während z. B. der SPD-Antrag im Verkehrsausschuß von der herrschenden Mehrheit rundweg abgelehnt worden ist,
({3})
- Sie kennen doch die Mehrheitsverhältnisse in diesem Bundestag, Frau Kollegin; darüber muß ich Sie doch nicht aufklären - einigte man sich im Umweltausschuß auf eine sehr weitgehende Initiative. Warum hat nun aber der Ältestenrat in seiner Beschlußempfehlung ausgerechnet auf den Satz verzichtet: „Der Deutsche Bundestag ist bereit, mit den notwendigen Maßnahmen bei sich selbst zu beginnen"? So zu lesen in der Beschlußempfehlung des Umweltausschusses.
({4})
Auch die Aufforderung zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel oder gar das Fahrrad entsprach offenkundig nicht den Intentionen des Ältestenrates.
Ich hätte mir das gut vorstellen können: Rita Süssmuth mit Kanzler Kohl auf einem Tandem, auf dem Weg vom Kanzleramt zum Plenarsaal.
({5})
Die Frage ist ja: Wer lenkt vorn, und wer tritt von hinten? Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Allerdings läßt die Beschlußempfehlung diese Phantasie vermissen.
({6})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Gut, daß ich hier oben sitze.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt auf Drucksache 12/5868, den Antrag der Fraktion der SPD zur Umstrukturierung des Fahrdienstes des Deutschen Bundestages auf Drucksache 12/4266 in der ÄltestenPräsidentin Dr. Rita Süssmuth
ratsfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! ({1})
Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 und Zusatzpunkt 4 auf:
14. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Novellierung der 2. Grundmietenverordnung bezüglich der Beschaffenheitszuschläge für Wohnungen in den neuen Bundesländern
- Drucksachen 12/5264, 12/6062 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Rau Iris Gleicke
ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste
Ersetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes durch ein Altschuldenübernahme-Gesetz
- Drucksachen 12/5677, 12/6396 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Rau Iris Gleicke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. Widerspruch? - Nein. Dann verfahren wir so.
Das Wort hat Dr. Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Während wir hier sicherlich in einer halben Stunde dem vernünftigen Vorschlag zustimmen werden, das unsägliche Altschuldenhilfe-Gesetz durch ein AltschuldenübernahmeGesetz zu ersetzen, tagen leider im Nebenraum die Fachjournalisten und sitzen dort mit meinen Kolleginnen und Kollegen Obleuten. Aber ich nehme an, sie werden das auch nachher mitgeteilt bekommen.
Gesicherte Mietverhältnisse und bezahlbare Mieten sind angesichts hoher und weiter steigender Arbeitslosigkeit und zum Teil beträchtlicher Einkommenseinbußen für einen großen Teil der Bürgerinnen und Bürger nicht nur im Osten von existentieller Bedeutung.
Mit dem Verweis auf die seinerzeit ihrer Meinung nach zu erwartende Einkommensentwicklung und wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland beschloß die Regierung die Mieterhöhung zum 1. Januar
1993 und gleich auch die zum 1. Januar 1994. Inzwischen wird deutlich - das sagen ja sogar Sie -, daß die Prognosen, auf deren Grundlage die Mieterhöhungen beschlossen wurden, nicht der Realität entsprechen. Die Einkommensentwicklung in Ostdeutschland und damit die prognostizierte Anpassung der Einkommensverhältnisse zwischen Ost und West verläuft wesentlich langsamer. Die Sparbeschlüsse der Regierung werden ein Übriges tun.
Bereits mit den Mieterhöhungen zum 1. Januar dieses Jahres betrug nach Untersuchungen des Deutschen Mieterbundes die durchschnittliche Warmmietbelastung der ostdeutschen Haushalte 23 % des Familieneinkommens. Bei Haushalten mit geringerem Einkommen liegt sie trotz des Wohngeldes teilweise bei über 30 %.
Jeder dritte ostdeutsche Haushalt geriet in Bedrängnis. Das ist ja sogar relativ unumstritten. Man kann natürlich auch sagen: 70 % sind nicht in Bedrängnis. Aber ich sage einmal: Die anderen sind in Bedrängnis.
In wenigen Tagen werden Mieterinnen und Mieter in Ostdeutschland die nächste Mieterhöhung ins Haus bekommen: Zwei weitere sogenannte Beschaffenheitszuschläge à 30 Pfennig/m2 kann der Vermieter ab 1. Januar nächsten Jahres kassieren, wenn sich im Haus ein benutzbarer Hausflur und Treppenaufgang befindet sowie Wasser- und Energieinstallationen vorhanden sind.
Für weitere Mieter werden die Mieten trotz des Wohngelds infolge der durchschnittlich 10%igen Mieterhöhung zum 1. Januar also nicht bezahlbar werden. Absehbar ist, daß sich auch die Räumungsklagen häufen werden.
Schon heute registriert der Gesamtverband der Wohnungswirtschaft einen Mietschuldenberg von immensen Ausmaßen. Während sich im Westen die Außenstände Ende 1992 auf insgesamt 43 Millionen DM summierten, lagen sie im Osten schon bei 340 Millionen DM - bei gleich großem Wohnungsbestand.
Für das laufende Jahr rechnen die Wohnungsunternehmen mit Zahlungsausfällen von - vorsichtig geschätzt - weiteren 200 Millionen DM. Die zweite Grundmietenerhöhung vom Januar 1993 und die außerdem eingeführten Beschaffenheitszuschläge haben vor allem dort voll durchgeschlagen, wo zugleich Arbeitslosigkeit eingezogen ist, so Verbandspräsident Jürgen Steinert: „Diese Haushalte werden schlicht zahlungsunfähig."
({0})
- Sie können ihn ja mal fragen. Er ist ja nicht mein Freund.
Konsequenz bei Mietschulden: In mehr als 27 000 Fällen wurden im vergangenen Jahr die Mietverträge gekündigt. In jedem fünften davon entschieden die Gerichte auf Räumung. Sowohl die Folgen einer Räumung für die Betroffenen als auch für die dann in der Pflicht stehenden Kommunen sind bekannt.
Anstatt in dieser Situation ihrer Sozialpflichtigkeit nachzukommen, verkündet die Bauministerin auf Pressekonferenzen, wie z. B. am 2. November in
Berlin, daß die Mieterhöhungen sozial verträglich seien und daß die Mietbelastung im Osten noch geringer sei als die im Westen. Frau Schwaetzer behauptet - und schon heute mittag wurde das in der Debatte gebetsmühlenartig wiederholt -, daß die Mietbelastung der Haushalte in Ostdeutschland 1993 mit 18,6 % deutlich unter der der Haushalte in Westdeutschland mit ca. 25 % läge.
Zu diesen Zahlenspielereien vier Bemerkungen: Erstens. Statistische Durchschnittsberechnungen können Hilfsmittel der Politik sein, im Mittelpunkt aber haben die konkreten Menschen zu stehen; denen nützen Durchschnittszahlen nichts.
Zweitens. Die verbleibenden 75 % verfügbares Einkommen von 2 500 DM sind angesichts der Lebenshaltungskosten etwas ganz anderes als 75 % von 4 500 DM oder von einem Ministergehalt von 30 000 DM. Zu berücksichtigen ist auch, daß die Anzahl der Personen pro Haushalt in Ostdeutschland höher liegt.
Laut der im Auftrag des Bauministeriums vom Institut für Stadtforschung vorgelegten Untersuchung liegt bei 41 % aller Haushalte Ostdeutschlands das Nettoeinkommen unter 2 000 DM. Besonders hart betroffen sind alleinstehende Frauen, die Kinder zu betreuen und zu versorgen haben. Das sind doch die Leute, denen man helfen muß - nicht diejenigen, die gut verdienen.
Drittens. Wenn schon Statistik, dann bitte eine ehrliche. Der Zahl der 25 % durchschnittlicher Mietbelastung West stehen folgende Zahlen - gültig für das Jahr 1991 - gegenüber: Durchschnittliche Mietbelastung bei Arbeitnehmerhaushalten mit höherem Einkommen: 14 %, bei mittlerem Einkommen: 16 % und bei Rentnerhaushalten mit geringem Einkommen: 23 %. Die Quelle dazu ist: Haus und Wohnung im Spiegel der Statistik 1993, Herausgeber: Bundesbauministerium.
Viertens. Diese Statistik bietet auch noch weitere aufschlußreiche Informationen; z. B., daß der Wohnflächenverbrauch in Ostdeutschland im Durchschnitt um 23 % niedriger liegt und daß die Wohnungen im Durchschnitt älter und schlechter ausgestattet sind.
Fazit: Führt man den Mietenvergleich unter Berücksichtigung dieser Faktoren durch, dann wird offensichtlich, daß die Mieten in Ostdeutschland im Verhältnis zu den Einkommen schon jetzt Westniveau erreicht und zum Teil schon überschritten haben.
Auch aus diesem Grunde sollte auf eine weitere Mieterhöhung durch die Erhebung weiterer Beschaffenheitszuschläge nun endlich verzichtet werden.
({1})
- Sie können es ja mal nachrechnen. Sie können ja auch nachlesen, was die Frau Bauministerin von sich gibt.
({2})
- Was sie schreibt, Entschuldigung. Frau Peters, wo Sie recht haben, haben Sie recht.
Die im bisherigen bundesdeutschen Mietrecht unbekannten Beschaffenheitszuschläge wurden ja extra für DDR-Wohnungen eingeführt - mit der
Begründung, zum einen differenzierte Mieterhöhungen entsprechend dem baulichen Zustand des Wohnhauses zu erheben und zum zweiten dadurch die Vermieter zu motivieren, schnell Mängel zu beseitigen. In der bereits erwähnten Broschüre steht auch, daß fast ein Viertel des Wohnungsbestandes im Osten schwerwiegende Schäden aufweist - das stimmt ja auch - und zum Teil unbewohnbar ist.
Nach einer Studie der Berliner Senatsabteilung für Bauen und Wohnen vom Juni 1992 weist die Hälfte der 600 000 Ost-Berliner Wohnungen erhebliche Schäden an der Fassade, eine weitere Hälfte an den Fenstern und ungefähr ein Drittel am Dach auf. Dort dürften die Zuschläge also nicht erhoben werden.
Die Wohnungsbaugesellschaften kennen diese Studie. Dennoch verlangten sie bei gut 80 % der Wohnungen die vollen Zuschläge. Die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain z. B. nahm alle drei Zuschläge bei 88,5 % und mindestens einen Zuschlag bei 97,8 % aller Wohnungen in Anspruch.
Andererseits hat Friedrichshain - der Stadtbezirk mit den durchschnittlich geringsten Einkommen in Berlin - ein bereits förmlich festgelegtes Sanierungsgebiet; vier weitere sind in Vorbereitung.
Wie erfolgt die Handhabung der Beschaffenheitszuschläge denn in der Praxis? Obwohl in vielen Fällen illegal, werden auf die Miete Beschaffenheitszuschläge draufgesetzt. Viele Mieterinnen und Mieter lassen sich einschüchtern und zahlen lieber murrend oder unter Vorbehalt, als einen Rechtsstreit zu risikieren.
Die Folge: 98 % der Mieterinnen und Mieter zahlen laut IfS-Studie aus Angst um die Wohnung bzw. vor Auseinandersetzungen mit den Vermietern. Aus Angst wird gezahlt!
({3})
Vor allem betroffen sind wiederum ältere Menschen. Der Vermieter bekommt die Miete, ohne vorher die Mängel beseitigt zu haben. Die undifferenzierte Handhabung der Vermieter, die rechtlich strittige Definition erheblicher Bauschäden und das große Konfliktpotential in dieser Regelung haben nachdrücklich gezeigt, daß das Projekt Beschaffenheitszuschläge fehlgeschlagen ist.
Wenn Sie schon nicht die Rücknahme der seit 1993 erhobenen Zuschläge wollen, so verzichten Sie doch wenigstens auf die erneute Erhebung von Beschaffenheitszuschlägen, die extra für uns Ossis erfunden wurden und mit denen wiederum Zwiespalt zwischen Ossis und Wessis gesät wird.
Ich warte schon auf den Tag, daß Westvermieter sagen: Aus Gleichheitsgründen verlangen wir im Westen jetzt auch Beschaffenheitszuschläge. Dann wird es heißen: Ihr blöden Ossis habt euch nicht genug gewehrt. So wird gegeneinander aufgehetzt.
Die Frau Präsidentin zeigt mir, daß meine Redezeit zu Ende geht. Ich werde versuchen, das zu berücksichtigen, obwohl ich gern noch weiteres gesagt hätte.
({4})
Meine Damen und Herren, erhöhen Sie nicht immer wieder die Miete! Erhöhen Sie lieber die Existenzsicherheit der Menschen in Gesamtdeutschland! Erhöhen Sie den sozialen Wohnungsbau!
Ich danke Ihnen für die ungeteilte Aufmerksamkeit.
({5})
Als nächster spricht der Kollege Norbert Otto.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Seifert, zu Ihnen erst einmal ein Wort. Ich bin dankbar, daß wir das von Ihnen „unsäglich" genannte Gesetz zur Altschuldenbeseitigung haben und daß wir die Schulden,
({0})
die unsere Vorgänger gemacht haben, jetzt durch die Bundesrepublik beseitigt bekommen; und es sind immerhin 31 Milliarden DM, die der Bund übernimmt.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Mietenpolitik ist bekanntlich eine Gratwanderung zwischen Investitionsbereitschaft und Unterhaltungskosten einerseits sowie sozial verträglichen Mieten andererseits. Beide Seiten müssen sich möglichst in der Waage halten, um ausreichenden und bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Wie es aussieht, wenn dieses Gleichgewicht gestört ist, kann man sich bei uns in den neuen Bundesländern in den Städten und Gemeinden noch hautnah ansehen. Weit über die Hälfte aller Wohnungen haben erhebliche Mängel und einen niedrigen Ausstattungsgrad. Selbstverständlich war es, kurzsichtig gesehen, angenehm, niedrige Mieten zu zahlen. Ich wohne selbst in einer 70 m2 großen fernbeheizten Neubauwohnung, für die ich zu DDR-Zeiten 100 Mark Warmmiete bezahlt habe. Die Folgen dieser politischen Dumpingpreise waren aber verheerend. Die Altbauten in den Innenstädten wurden bis zur Unbewohnbarkeit heruntergewirtschaftet. Auf diese Weise war der historische Stadtkern meiner Heimatstadt Erfurt 1989 fast abrißreif.
({2})
Nur durch das Ende der SED-Diktatur im Jahre 1990 wurde diese verhängnisvolle Entwicklung Gott sei Dank gestoppt.
({3})
- Herr Seifert und Frau Enkelmann, ich will Ihnen einmal etwas sagen. Wenn Sie nicht mehr wissen, was die „führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse" bedeutet hat und wenn die „Diktatur des Proletariats" für Sie kein Begriff mehr ist, dann müssen wir hier einmal Nachhilfeunterricht machen. Die Kollegen aus den alten Bundesländern kennen diese Begriffe vielleicht nicht mehr. „Diktatur des Proletariats" heißt Durchsetzung der Führung der Partei der Arbeiterklasse mit diktatorischen Mitteln. Unter dieser Diktatur haben wir gelebt. Jetzt stellen Sie die Frage, ob ich auch in der DDR gelebt habe. Das ist doch Blasphemie in höchster Potenz. Wenn Sie wollen, machen wir einmal einen Exkurs über die Diktatur des Proletariats und über die Führungsrolle der SED.
({4})
- Aber heute nicht mehr, das ist richtig. Das machen wir vielleicht vor einem volleren Haus, damit diese Zusammenhänge einmal endgültig dargestellt werden.
({5})
-Ja.
Das, was der Zweite Weltkrieg nicht geschafft hat, meine Damen und Herren, wurde nun unter der „führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse" in der DDR und durch deren Nachfolgeorganisation, die hier in diesem Plenum sitzt, geschafft. Über 1 Milliarde DM an Nachholbedarf sind so allein in der Stadt Erfurt entstanden. Die unrealen Mieten haben sich so als höchst unsozial ausgewirkt.
Nur mit der großzügigen Unterstützung des Bundes, z. B. bei der Zuweisung der Städtebaufördermittel, die zu 90 % in die neuen Bundesländer gehen, konnte der Verfall aufgehalten werden. Mittlerweile ist der Bauboom in den neuen Ländern nicht mehr zu übersehen. An dieser Stelle sei mir erlaubt, der Bundesregierung für diese Unterstützung zu danken. Ich möchte aber auch den alten Bundesländern danken, daß sie, wenn auch zähneknirschend, diese 90%ige Verteilung in Richtung Osten ermöglicht haben.
({6})
Mit den Feststellungen im Einigungsvertrag und der zweiten Grundmietenerhöhung vom Juli 1992 wurde der verhängnisvolle Teufelskreis zwischen unreal niedrigen Mieten und Verfall der Bausubstanz unterbrochen. Allerdings sind wir von kostendeckenden Mieten noch weit weg. Diese sind in der derzeitigen Situation in den neuen Bundesländern auch noch nicht möglich, denn die Mieter in den neuen Bundesländern brauchen noch den Schutz und die Unterstützung des Staates. Mit dem Antrag der PDS soll dieser notwendige Prozeß der Mietanpassung unterbrochen werden. Dieser Antrag zeigt aber auch, daß die PDS nichts hinzugelernt hat oder nichts hinzulernen wollte.
({7})
Mit dem Inkrafttreten weiterer Baubeschaffenheitszuschläge für Wohnungen und Wohnhäuser wird ein weiterer Schritt auf dem Weg einheitlicher Mieten in Ost und West begangen. Im Einigungsvertrag war festgelegt worden, daß sich die Mieten entsprechend der Einkommensentwicklung entwickeln werden. Entsprechend einer vom Institut für Stadtforschung
Norbert Otto ({8})
Berlin durchgeführten Untersuchung hat sich von Februar 1992 bis Juli 1993 eine Realeinkommenserhöhung um 17 % ergeben. Die Mietbelastung beträgt unter Berücksichtigung des Wohngeldes heute 18,6 % des verfügbaren Einkommens des Haushalts. Anfang 1992 waren das 17,2 %. Das bedeutet eine Steigerung der Mieten von Februar 1992 bis Juli 1993 um 1,4 %. Dem steht eine Realeinkommenssteigerung von 17 % gegenüber. Die Zahlen sind nun einfach da, sind ermittelt worden und nicht wegzuwischen.
Mit den Durchschnittswerten ist das aber immer so eine Sache. Sie alle kennen den Spruch: Das Wasser war nur 50 cm tief, aber die Kuh ist trotzdem ersoffen. Insofern ist es richtig, daß die Kommunen mit ihren Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften eine besondere Verantwortung haben, um durch Wohnungstausch und -vermittlung angepaßten Wohnraum bereitzustellen.
Es ist eben unsozial, wenn man eine alleinstehende umzugswillige Witwe in einer großen Vierraumwohnung mit allen Belastungen sitzenläßt und ihr keine Umzugsmöglichkeiten in eine kleinere Wohnung bietet.
({9})
Das ist aber Sache unserer Kommunen vor Ort. Wir haben als Abgeordnete vor Ort dafür Sorge zu tragen, daß das auch realisiert wird.
({10})
Mit der Einführung neuer Beschaffenheitszuschläge für Hausflure und Treppenräume sowie Hausinstallation wird ein weiterer Schritt gegangen, um die Vermieter anzuregen, in ihre Häuser zu investieren und die Wohnqualität zu erhöhen. Dies entspricht genau dem Willen der Mieter; denn über 73 % haben in der vorgenannten Umfrage bestätigt, daß sie Mieterhöhungen im Zusammenhang mit der Verbesserung ihrer Wohnungen bzw. ihrer Wohnhäuser für gerechtfertigt halten.
Ich bin auch überzeugt, daß der größte Teil der Mieter eine Erhöhung von maximal 60 Pf/m2 gern in Kauf nimmt, wenn sie in helle Häuser, in freundliche Hausflure, in ordentliche Treppenhäuser kommen und eine funktionsfähige Elektro-, Gas- und Wasserversorgung vorfinden.
Wer meint, daß das in den neuen Bundesländern eine Selbstverständlichkeit ist, den lade ich zu mir ein. Ich kann Ihnen noch zeigen, wie es früher war, was Rohrbrüche, was mangelnde Elektroversorgung in den Häusern betrifft, so daß noch nicht einmal eine Waschmaschine aufgestellt werden kann. Diese Situation ist heute noch vorhanden!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit Mieten läßt sich trefflich Politik machen. Verantwortungslos handelt allerdings der, der den Mietern vorgaukelt, man könne mit künstlich niedrig gehaltenen Mieten auf Dauer gut und sicher wohnen und dazu noch den fehlenden Wohnraum schaffen, der benötigt wird. Wer sich so verhält, handelt aus meiner Sicht zutiefst unsozial, was aus der verfehlten Wohnungspolitik der DDR eindeutig nachvollziehbar ist.
({11})
Verfehlt wäre es auch, wenn wir dem Antrag der PDS zustimmen würden, der eine vollständige Übertragung aller aus SED-Zeiten resultierenden Schulden der Wohnungsbaugenossenschaften und kommunalen Wohnungsträger auf den Bund vorsieht. Mit dem Beschluß der Kappung der Altschulden bei 150 DM/m2 übernimmt der Bund bereits eine Schuldenlast von 31 Milliarden DM.
Die mit dieser Kappung verbundenen 15 % Privatisierung greifen langsam in den neuen Bundesländern. Modellvorhaben des Bundesbauministeriums weisen gute Ergebnisse aus. Wohnungen konnten für Quadratmeterpreise von 1 100, 1 500 bis 1 700 DM, Ausreißer auch für 2 800 DM in Berlin realisiert werden. Der Bauausschuß hat sich vor Ort von diesen erfolgreichen Beispielen überzeugt.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deshalb, der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu folgen und die Anträge der PDS/Linke Liste abzulehnen.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Als nächste zu diesem Thema unsere Kollegin Iris Gleicke.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Otto, ich muß mich schon wundern. Sie haben gerade gesagt: Wegen der verfehlten SED-Politik in Erfurt ist die ganze Altstadt kaputtgegangen. Wir haben gerade durch Zufall im Bundestagshandbuch gesehen, daß Sie dort 20 Jahre lang Stadtverordneter waren. Vielleicht täte ein bißchen Selbstkritik auch bei ehemaligen CDU-Abgeordneten, auf welcher Ebene auch immer, doch einmal ganz gut,
({0})
statt daß pauschal und immer wieder anmahnend allein auf die SED eingeprügelt wird.
Eine Wohnung ist mehr als alleine ein Dach über dem Kopf. Die Wohnung ist der soziale Mittelpunkt einer Familie oder auch eines einzelnen Menschen. Deshalb ist die Angst, die Wohnung zu verlieren, bei den meisten Menschen besonders groß. Die wirtschaftliche Katastrophe im Osten Deutschlands hat bei uns in Thüringen 80 % der industriellen Arbeitsplätze vernichtet. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes geht urn und damit auch die Angst vor dem Verlust der materiellen Lebensbasis.
Wen wundert es da, daß die Unsicherheit wächst? Wen wundert es, daß die Menschen befürchten, mit der Arbeit auch noch ihre Wohnung zu verlieren, wenn sie die Miete nicht mehr bezahlen können?
({1})
Im Einigungsvertrag wurde festgelegt, daß die Mieten nur in dem Umfange steigen dürfen, in dem
auch das Einkommen der Menschen steigt. Die Zweite Grundmietenverordnung der Bundesregierung basiert in ihrer Logik auf der Annahme eines allgemein wachsenden Einkommens in Ostdeutschland. Die Kosten für den Lebensunterhalt sind jedoch sehr viel schneller gestiegen als die Einkommen.
Mit dieser Zweiten Grundmietenverordnung der Bundesregierung wurden die Beschaffenheitszuschläge für Dach, Fenster, Fassade, Treppenräume/ Flur sowie für Elektro-, Gas-, Wasser- und Sanitärinstallation eingeführt. Durch sie sollte eine qualitative, dem tatsächlichen Zustand des Wohnraums angemessene Staffelung der Mieterhöhung erreicht werden.
In den Verhandlungen mit den Ländern wurde der Kompromiß geschlossen, auf Grund der Einkommenssituation der Menschen zwei der Beschaffenheitszuschläge erst ab dem 1. Januar 1994 wirksam werden zu lassen, nämlich die für Treppenraum/Flur und für Elektro-, Gas-, Wasser- und Sanitärinstallation.
Der Antrag der PDS setzt sich nur mit diesen beiden Beschaffenheitszuschlägen auseinander und möchte sie völlig abschaffen. Die PDS-Gruppe wendet sich zudem an das Parlament und damit an den falschen Adressaten, da das Parlament in dieser Frage gar keine Entscheidungskompetenz hat. Schließlich handelt es sich hier um eine Verordnung der Bundesregierung.
({2})
Unter anderem deshalb werden wir uns der Stimme enthalten. Wir sind im Gegensatz zur PDS der Auffassung, daß es akzeptabel ist, den Mietpreis an der Qualität einer Wohnung zu orientieren.
({3})
Dieses Ziel bei den Beschaffenheitszuschlägen, die Mieterhöhung qualitativ zu staffeln, wurde jedoch nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Bundesregierung hat Mieter und Vermieter förmlich aufeinandergehetzt, indem sie versäumte, einen Kriterienkatalog vorzulegen, der klar definiert, wann ein Beschaffenheitszuschlag erhoben werden darf und wann nicht.
An dieser Stelle ist den vielen Beratern des Deutschen Mieterbunds zu danken, die vernünftig, mit Weitblick und viel Fingerspitzengefühl eine Eskalation zwischen Vermietern und Mietern verhindert haben.
Die Vermieter haben in der Regel einfach alle Beschaffenheitszuschläge auf die Miete aufgeschlagen. 75 % des Wohnungsbestandes in den neuen Bundesländern sind mit allen Beschaffenheitszuschlägen bedacht worden. Dies würde bedeuten, daß 75 % des Wohnungsbestandes der neuen Bundesländer keinen Sanierungsbedarf an Dächern, Fenstern und Fassaden hätten. Das stimmt absolut nicht mit den Aussagen der Wohnungswirtschaft überein, die immer wieder auf den erheblichen Sanierungsbedarf hinweist. Hier ist sehr viel Schindluder getrieben worden.
Für kaputte Fenster wurden Beschaffenheitszuschläge erhoben. Den protestierenden Mietern wurde
von den Vermietern nur allzuoft erklärt: Jetzt zahlt halt die 30 Pfennig, damit bekommen wir das Geld, von dem wir euch dann neue Fenster bezahlen. - Leider haben sich viele Mieter aus Gutgläubigkeit und Unkenntnis auf diesen Kuhhandel eingelassen.
({4})
Denn man hat ihnen nicht gesagt, daß nach dem Einbau von neuen Fenstern eine Modernisierungsumlage fällig werden kann. Sie finanzieren de facto die Fenster vor und zahlen sie dann anschließend auch noch ab. Dies sind keine Einzelfälle, sondern dies ist ein flächendeckendes Problem. Solchen unseriösen Praktiken wird durch eine ebenso unseriöse Politik der Bundesregierung Vorschub geleistet.
Ich möchte an dieser Stelle gar nicht damit anfangen, aufzuzählen, was angesichts des großen Modernisierungsbedarfs an Modernisierungsumlagen und damit an Mietpreissteigerungen alles auf die Menschen zukommen wird. Wir werden in den neuen Ländern für vergleichbaren Wohnraum ein höheres Mietenniveau als im Westen unseres Landes haben. Ich frage mich, ob das niemand bei der Bundesregierung begreifen kann oder will oder ob Ihnen das einfach gleichgültig ist. Der hier und heute verabschiedete Gesetzentwurf zum Sonderwohngeld trägt diesen zu erwartenden Mietpreissteigerungen jedenfalls in keinster Weise Rechnung.
Nach dem Antrag der PDS müßten jedoch alle Wohnungsunternehmen auf die Beschaffenheitszuschläge verzichten, auch wenn sie Sanierungen durchgeführt haben. Dies wäre ungerecht jenen Mietern gegenüber, die in unsanierten Wohnungen die gleiche Miete zahlen müßten. Damit würde auch kein Anreiz für die Wohnungsunternehmen geschaffen, ihre Bestände in Ordnung zu bringen. Das liegt nicht in unserem Interesse. Auch deshalb können wir dem Antrag der PDS nicht zustimmen. Wir wollen qualitativ guten Wohnraum zu bezahlbaren Preisen.
({5})
Deshalb haben wir die Bundesregierung aufgefordert, ihren Kriterienkatalog zu überarbeiten. Auf Initiative des Deutschen Mieterbundes hat es nun Gespräche des Bauministeriums mit den Mieter- und Vermieterverbänden und Vertretern der Länder gegeben, in denen konkretisiert wurde, in welchen Fällen diese Beschaffenheitszuschläge nicht erhoben werden dürfen.
({6})
Nun liegt hierzu endlich auch ein Kriterienkatalog aus dem BMBau vor. Mußte das so lange dauern? Die Bundesregierung ist es, die durch schlechtgemachte Gesetze und Verordnungen die Menschen verunsichert.
({7})
Genauso verhält es sich mit dem AltschuldenhilfeGesetz. Wir haben in den Ausschußberatungen Anträge zur Verbesserung dieses Gesetzes eingebracht. Wir wollten keine Progression bei der Abführung der Verkaufserlöse an den Erblastenfonds, weil
hier Zeitdruck auf die Wohnungsunternehmen ausgeübt wird, der wiederum in unseriösen Angeboten an die Käufer gipfeln wird. Oder halten Sie es etwa für seriös, einer arbeitslosen Familie eine unsanierte Wohnung zu verkaufen, ohne den Erwerbern zu erklären, welche wirklichen Belastungen auf sie zukommen können?
Wir wollen die Genossenschaften von der Privatisierungspflicht befreien; denn es handelt sich dabei um privates Eigentum. Wir wollen eine individuelle Betrachtung der Wohnungsunternehmen; denn es gibt einfach Unterschiede zwischen Berlin und Schleusingen, zwischen Halle-Neustadt und Ilmenau, zwischen Magdeburg und Schmalkalden.
Dem Antrag der PDS können wir dennoch zu diesem Zeitpunkt nicht zustimmen, weil er zum Teil falsche Ansätze enthält und zum anderen zum jetzigen Zeitpunkt mehr Verwirrung als Nutzen stiften würde. Wir werden im Unterausschuß zur Privatisierung des Wohnungsbestandes die Handhabung des Altschuldenhilfegesetzes weiterhin sehr kritisch begleiten und behalten uns vor, aus diesen Erfahrungen heraus auf eine Novellierung zu drängen.
({8})
Wir wollten eine Lösung der Altschuldenfrage schon vor drei Jahren. Sie haben durch Untätigkeit und ein unsinniges Zinsmoratorium zur Verschärfung des Problems beigetragen.
({9})
Die 31,5 Milliarden DM, die als Altschuldenhilfe im Bundeshaushalt eingestellt worden sind - das kann man fix ausrechnen -, sind die in den letzten drei Jahren durch das Zinsmoratorium aufgelaufenen Zinsen und Zinseszinsen. Vor drei Jahren hätte man eine Lösung wesentlich billiger haben können.
({10})
Sie werfen der Opposition immer vor, nur Anträge zu stellen, die etwas kosten, und dann die Verschuldung des Bundes anzumahnen. Das ist schlicht falsch. Im Gegensatz zu Ihnen wissen wir nämlich, daß es im Endeffekt billiger für den Bund ist, zum richtigen Zeitpunkt Geld an der richtigen Stelle auszugeben.
({11})
Sie sind die Bankrotteure dieses Landes.
({12})
Es wird Zeit, daß wir Sozialdemokraten die Mißwirtschaft von zehn Jahren Regierung Kohl endlich in Ordnung bringen.
({13})
Als nächste spricht die Kollegin Lisa Peters.
Frau Präsidentin! Meine Herren und meine Damen! Zu abendlicher Stunde diskutiert es sich sehr schön in diesem Plenum.
({0})
Wir sehen, daß diese Wohnungspolitikdebatte richtig schön verläuft und wir uns alle wohlfühlen.
Nun zur Sache. Heute steht der Antrag der PDS/ Linke Liste auf der Drucksache 12/5264 zur Beratung und Beschlußfassung an. Hier wird die Bundesregierung, Herr Seifert, aufgefordert, die vorgesehene Mieterhöhung für mietpreisgebundene Wohnungen in den neuen Ländern durch zwei weitere Beschaffenheitszuschläge nicht zur Anwendung kommen zu lassen. Hierzu wäre eine Änderung der Zweiten Verordnung über die Erhöhung der Grundmieten notwendig. Es ist schon einige Male gesagt worden
- aber ich muß es doch noch einmal sagen -: Diese Verordnung sieht vor, daß ab dem 1. Januar 1994 pro Quadratmeter Wohnraum 60 Pfennig Miete mehr gezahlt werden sollen, wenn - das ist das Kriterium, und das ist heute oft erwähnt worden - die Elektro-, Gas-, Wasser- und Sanitärinstallation in einem einwandfreien Zustand ist und die Treppen und Hausflure keine Schäden aufweisen. Ich betone das noch einmal; ich denke, daß kein Mieter irgendwo 30 oder 60 Pfennige mehr bezahlen muß, wenn diese Fakten nicht gegeben sind.
({1})
- Darüber unterhalten wir uns noch, Herr Seifert, wir haben ja Gelegenheit, denn wir beide sind noch ein bißchen hier.
Die PDS/Linke Liste will, daß diese mögliche Mieterhöhung, die nur verlangt werden kann - ich sage das extra noch einmal -, wenn die Wohnung die gesamte Qualität aufweist, zurückgenommen werden soll. Ich meine, Herr Seifert, dieser Antrag ist überflüssig und hätte gar nicht gestellt zu werden brauchen.
({2})
In der Begründung - sie ist schon einige Monate alt und deshalb etwas überholt - wird mit Zahlen gearbeitet, die nicht mehr stichhaltig sind. Für mich habe ich deshalb die Arbeitsgrundlage gewählt
- heute morgen ist davon mehrfach geredet worden -, die uns das Institut für Stadtforschung Berlin zur Verfügung gestellt hat. Ich denke, daß wir hiermit eine ausgezeichnete Unterlage in die Hand bekommen haben, die sehr ausführlich die tatsächlichen Belange und Fakten analysiert und die derzeitige Wohnsituation in den neuen Ländern klar umreißt.
Hier können wir die Auswirkungen der Mietenfortschritte, der Einkommensentwicklung, der Mietbelastung der einzelnen Haushalte und der Wohnungsfragen nachlesen und, ich denke, auch nachvollziehen. Es gelingt mir auch als Frau aus dem Westen, dieses
nachzuvollziehen, weil ich mein Wissen nämlich immer wieder durch Besuche in den neuen Ländern ergänze.
({3})
Das kann man, glaube ich, sagen.
Eine Auswertung dieser Ergebnisse führt zwangsläufig zu dem Schluß, daß die in den letzten drei Jahren durchgeführten Grundmietenverordnungen richtig und für die Mieter tragbar waren.
({4})
Ich denke, wir müssen uns die ehemalige Wohnungssituation in den neuen Ländern immer wieder vor Augen führen.
({5})
Die Wohnungen in der ehemaligen DDR waren in einem beklagenswert schlechten Zustand; das haben selbst die Kollegen aus den neuen Ländern gesagt. Hier mußte umgehend etwas getan werden, sollte wertvolle Bausubstanz gerettet und erhalten werden.
Es kann aber nur etwas getan werden, meine Herren und meine Damen, wenn man es finanzieren kann. Wir sind uns, glaube ich, alle einig, daß Reparaturen und Instandhaltung überwiegend über die Miete aufgebracht werden müssen. Ich glaube, das ist Fakt.
({6})
Ich muß hier nicht erwähnen, daß es viele Programme zur Erhaltung der Bausubstanz und Modernisierung gab und auch weiter geben wird.
Ganz deutlich, Herr Seifert, kann ich erkennen, daß gerade die ab 1. Januar 1993 gezahlten Beschaffenheitszuschläge dazu geführt hat, daß viele Vermieter investiert haben. Ich denke, das wird sich im Jahre 1994 fortsetzen.
({7})
- Doch, das geht aus dem Bericht hervor, und das ist auch so. Die Vermieter werden sich darauf einstellen und ihren Verpflichtungen nachkommen und die sanitären Einrichtungen und die Treppenhäuser renovieren.
({8})
Es ist eindeutig zu erkennen - das geben auch alle Kollegen und Kolleginnen aus den neuen Ländern zu -, daß auch dort renovierte Wohnungen bevorzugt werden.
Ich meine, die Mieter sind in den letzten drei Jahren umfassend informiert, beraten und aufgeklärt worden.
({9})
- Doch, das ist kein Witz, das ist so gewesen.
({10})
- Ich habe den PDS-Antrag sehr wohl gelesen, und ich denke, Herr Seifert, daß dort Ihren Männern und
Frauen ein schlechtes Zeugnis ausgestellt wird. Ich meine, daß die Frauen und Männer in den neuen Ländern wirklich genauso denken können wie jeder andere und daß sie durchaus wissen, worauf es ankommt.
({11})
- Iris, lies den Antrag bitte richtig durch.
Die Frage ist, ob die Beratung immer realistisch erfolgt; das muß ich auch sagen: Hier müssen Ängste abgebaut und nicht geschürt werden.
({12})
Vermieter - das möchte ich noch einmal erwähnen; ich schließe an die Beiträge von heute nachmittag an, da ist das nicht richtig herausgekommen, Herr Hitschler hat es gesagt - sind überwiegend Genossenschaften und Gesellschaften, die sich nicht aus der Verantwortung stehlen können; das muß man einfach sagen. Die Mieteinnahmen sind optimal einzusetzen, Verwaltungskosten so gering wie möglich zu halten und alle Möglichkeiten der Vereinfachung auszuschöpfen.
({13})
- Auch im Westen. Ich denke, daß das zunehmend getan wird. Sie können das doch alle sehen und nachlesen, und Sie können dorthin gehen und sich informieren.
({14})
Meine Damen und meine Herren - ich komme sonst mit meinen viereinhalb Minuten nicht hin -, erreichen können wir nur etwas, wenn wir die Angebote, die gemacht worden sind, annehmen. Durch großzügige Regelungen, die das Altschuldenhilfe-Gesetz bietet, können die Mieter vor ausufernden Mieten bewahrt werden; so ist es doch.
Die Wohngeldregelungen in den neuen Ländern
- heute haben Sie, nicht alle, gerade über die Änderung des Wohngeldgesetzes abgestimmt - haben sich voll bewährt, die Einkommensentwicklung hat Schritt gehalten. In nur ganz wenigen Fällen muß eine Miete gezahlt werden, die mehr als 25 % des Familieneinkommens ausmacht. Das ist auch klar. Diese Einzelfälle, meine Herren und meine Damen, kann man nicht gesetzlich regeln.
Ich bin nun 22 Jahre oder länger Kommunalpolitikerin und weiß: Diese Dinge müssen Sie vor Ort entscheiden. Dafür gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Ich weise darauf hin, daß wir unserer Pflicht nachkommen müssen.
Hier blinkt es fürchterlich rot.
({15}) Ich muß das jetzt etwas abkürzen.
Ich will sagen, daß die F.D.P.-Fraktion Ihrem Gesetzentwurf natürlich nicht zustimmt. Mein letzter Satz: Es kommt nachhaltig darauf an, daß die Wohnungen verbessert werden; sicher und gut wohnen ist ein unheimlich hohes Gut. Es hat seinen Preis. Härten
können in den meisten Fällen sozial abgefedert werden. Dafür haben wir vieles getan.
Meine Damen und Herren, die Miete ist ein wesentlicher Baustein zur dauerhaften Erhaltung und zum Unterhalt der Wohnung. Sie muß einkalkuliert und bezahlt werden. Das andere spare ich mir.
Schönen Dank fürs Zuhören.
({16})
Ein Erlebnis aus Norddeutschland.
({0})
Als nächster spricht der Kollege Dr. Wolfgang Ullmann.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines wundert mich ja an der ganzen Debatte: daß es hier immer noch Leute gibt, die meinen, sie müßten gegen die Mietenpolitik der DDR mit den eingefrorenen Mietpreisen von 1936 polemisieren. Ich möchte einmal den Mann und die Frau in diesem Hause sehen, die diesen Unsinn vertreten.
Und, Herr Kollege, eines wundert mich nun noch mehr: Es hat ja in der DDR schon in den achtziger Jahren eine Debatte darüber gegeben, daß diese verrückte Subventionspolitik irgendwie nicht klappen kann. Warum Sie diese Sache hier immer noch anbringen, verstehe ich wirklich nicht.
({0})
Daß Sie uns nun Geschichten erzählen, Frau Kollegin, man müsse Verbesserungen bezahlen, rührt mich auch fast zu Tränen. Dazu brauchte ich nicht in den Deutschen Bundestag zu gelangen, um das von Ihnen zu lernen.
Unser Thema ist ja auch ein ganz anderes. Unser Thema heute abend ist, daß Leute gezwungen werden sollen, für nicht verbesserte Wohnungen zu bezahlen. Das ist das Problem.
({1})
Nun muß ich allerdings sagen, daß unsere Debatte völlig anachronistisch ist, weil schon fest kassiert wird, weil die Beschaffenheitszuschläge bereits am 30. Oktober wirksam geworden sind. Insofern ist der Antrag etwas außer der Zeit.
({2})
Aber das ist natürlich nicht Schuld der Kolleginnen und Kollegen der PDS. Die haben ja die Sache im Juni beantragt.
Dann wundert mich auch, Frau Kollegin: Wenn ich die Leute in meiner Bürgersprechstunde in Dresden reden höre - die erzählen mir just das Gegenteil von all dem, was Sie heute abend gesagt haben.
({3})
Ich denke, die Debatte heute abend hat den einen Sinn, hier einige Leute zu Wort kommen zu lassen, die - wie ich in diesem Moment - auf die ungelösten Spannungen auf einem Wohnungsmarkt hinweisen müssen, der so lange nicht frei genannt werden kann, wie es eine Immobilienspekulation, eine bis zur Handlungsunfähigkeit gehende Finanzschwäche der Kommunen und teilungsbedingte krasse Ungleichheiten gibt. Daran können Sie nicht vorbei, und darüber sollten Sie auch nicht hinwegreden.
({4})
Was die Beschaffenheitszuschläge anbelangt, wäre es dringend nötig, daß es zu Kriterienkatalogen kommt, die objektivierbar sind und es unmöglich machen, daß die Ungleichbehandlung von Mietern und Mieterinnen stattfindet, die es zur Zeit gibt.
Ich weiß auch gar nicht, wieso Sie hier so tun können, als ob das alles klar sei. Wenn man die Mieter- und Vermieterverbände der ehemaligen DDR reden hört, sind sie sich darin einig, daß wir im Moment im Bereich der Mieten und des Mietrechtes noch nicht dort sind, wo wir sein müßten.
({5})
Insofern hat die Debatte einen Sinn. Wir sollten die Regierung auffordern, uns die Grundlagen dafür zu liefern, damit das anders und besser geregelt werden kann.
Danke schön.
({6})
Als letzter zu diesem Tagesordnungspunkt spricht der Parlamentarische Staatssekretär Joachim Günther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lisa Peters hat es geschafft, in vier Minuten schon einen großen Umfang hier darzulegen. Ich kann mich damit auf das Wesentliche beschränken.
Die Gruppe PDS/Linke Liste fordert im Prinzip, die 2. Grundmietenverordnung zu verändern und die Beschaffenheitszuschläge im Januar 1994 - Herr Dr. Ullmann, nicht am 30. Oktober; auch in Dresden gehen die Zeiten nicht so schnell, sondern erst im Januar 1994 - zu verhindern. Begründet wird die Forderung in erster Linie mit der angeblich ungünstigen Einkommenssituation sowie mit den Konflikten zwischen Mietern und Vermietern auf Grund der Beschaffenheitszuschläge. So habe ich Sie verstanden, Herr Dr. Seifert. Den ersten Teil dieser ArgumenParl. Staatssekretär Joachim Günther
tation haben wir bereits heute mittag umfangreich besprochen und meines Erachtens auch widerlegt.
({0})
Wie eine im Auftrag des Bundesbauministeriums erstellte Studie, die hier vielfach zitiert wurde - übrigens auch von Ihnen -, zeigt, haben sich die Einkommen positiv entwickelt. Ich finde es vor allem erfreulich, daß diese positive Entwicklung auch im Bereich der Bezieher der Sozialeinkommen, d. h. unter den Arbeitslosen und unter den Rentnern, gegriffen hat. Infolge dieser positiven Einkommensentwicklung können die Mietsteigerungen von den meisten Haushalten verkraftet werden.
({1})
Die Zahl der Wohngeldempfänger - das ist hier ein deutliches Zeichen - ist spürbar zurückgegangen. Sie kennen diese Zahlen. Sie lagen Anfang 1992 bei 31 % und sind auf 24,5 % Mitte 1993 zurückgegangen. Ich hatte bereits heute zu diesen Auswirkungen des Wohngelds gesprochen sowie über die Erhöhung des verfügbaren Einkommens um 350 DM.
Die Kritik der PDS an den Beschaffenheitszuschlägen halte ich in der Argumentation für unbegründet. Schließlich kommen die Beschaffenheitszuschläge gerade der Mieterforderung nach wertbezogenen Mieterhöhungen entgegen.
({2})
Es besteht die Möglichkeit, auch bei gebäudebezogenen Mängeln die Miete zu mindern. Sie wissen genau, daß das in der Praxis auch durchgeführt wird.
({3})
Die Kritiker dürfen nicht verkennen, daß die Beschaffenheitszuschläge im Endeffekt einen Investitionsanreiz bewirken.
Trotz der schwierigen Materie ist der Umgang mit den Beschaffenheitszuschlägen meistens im Einvernehmen mit den Mietern erfolgt. Das schlägt sich auch darin nieder, daß 98 % - diese Zahl haben Sie vorhin selbst genannt - der Mieter die verlangte Miete einschließlich der Beschaffenheitszuschläge bezahlen und davon nur 4 % unter Vorbehalt. Herr Dr. Seifert, 98 % der Bevölkerung bezahlen nicht nur aus Angst, sie bezahlen auch, weil sie wissen, daß Wohnen etwas kostet.
({4})
Zu dem weitgehend reibungslosen Verlauf der Mieterhöhung hat auch der vom Bundesbauministerium unter Beteiligung der Mieter- und Vermieterverbände erstellte Kriterienkatalog zur Umsetzung der Beschaffenheitszuschläge beigetragen. Frau Gleicke, Sie haben erwähnt, daß dieser Beschaffenheitskatalog weiter verbessert wurde, besonders im Hinblick auf die jetzt anstehenden Beschaffenheitszuschläge. Wir wollen damit dazu beitragen, die verbliebenen Unsicherheiten weiter zu verringern.
Was wäre übrigens die Alternative zu den Beschaffenheitszuschlägen? Ich glaube, darüber sollte man sprechen. Eine Alternative wäre nur eine höhere
allgemeine Mietanhebung gewesen. Das liegt sicher auch nicht in Ihrem Gerechtigkeitsinteresse.
({5})
Die zweite Forderung der PDS/Linke Liste - einheitlicher Verzicht auf die Beschaffenheitszuschläge jeweils für alle Mieter - ist juristisch nicht fundiert, weil Einzelmietverträge bestehen und Änderungen jeweils im einzelnen Mietverhältnis geltend gemacht werden müssen. Faktisch wird der Vermieter in der Regel einheitlich vorgehen. - Herr Dr. Seifert, Sie verlangen meines Erachtens eine Überreglementierung; Sie wissen, daß ich vor allem für Bürokratieabbau bin.
({6})
Folglich haben der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und der Rechtsausschuß die Ablehnung des Antrags empfohlen.
Ich danke Ihnen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Novellierung der Grundmietenverordnung auf Drucksache 12/6062. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/5264 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltungen aus der SPD und Gegenstimmen der PDS/Linke Liste angenommen.
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Ersetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes durch ein Altschuldenübernahme-Gesetz auf Drucksache 12/6396 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/5677 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS/Linke Liste bei einer Enthaltung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Werner Schulz ({0}), Konrad Weiß ({1}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes über die Direktwahl des Bundespräsidenten/der Bundespräsidentin
- Drucksache 12/6105 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({2}) Innenausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zehn Minuten erhalten soll. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht Dr. Wolfgang Ullmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Amt des Bundespräsidenten ist so etwas wie der Schlußstein im Gefüge der demokratischen Staatsorganisation; denn an keiner anderen Stelle unserer Verfassung kommt es zu einer solch intensiven Durchdringung der Person eines einzelnen Bürgers, einer einzelnen Bürgerin und gesamtgesellschaftlicher Repräsentation mit der Autorität des Staates im ganzen.
Darum waren die Faustschläge gegen Richard von Weizsäcker ebenso wie die Steinwürfe von Berlin Schläge ins Angesicht unserer Demokratie,
({0})
gezielte Verächtlichmachung der öffentlichen Autorität und der Rechtsordnung des Staates, von deren Tragfähigkeit unser aller Frieden und Lebensfreiheit abhängen. Es gilt daher, solcher Herausforderung nicht mit pathetischen Lippenbekenntnissen, mit gutgemeinten Demonstrationen oder Deklarationen zu begegnen. Es gilt, die Demokratie nicht zu repräsentieren und zu symbolisieren, sondern zu manifestieren und zu aktivieren.
({1})
Der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will einen Beitrag zu diesem Ziel leisten. Darum hat er die Direktwahl des Bundespräsidenten zum wesentlichen Inhalt.
({2})
Die Bundesversammlung gemäß Art. 54 Abs. 3 GG bleibt bestehen, hat aber laut Entwurf die Aufgabe, die Bewerber für das Bundespräsidentenamt mit einem 5-%-Quorum zu wählen.
Die über diesen speziellen Inhalt hinausreichende Bedeutung des Antrages besteht darin, daß er eine Teilantwort auf eine durch das Grundgesetz gestellte, aber nicht beantwortete Frage gibt. In Abs. 2 des Art. 20 GG steht das rätselhafte Wort, das Volk übe die von ihm ausgehende Staatsgewalt nicht nur durch Wahlen, sondern auch durch Abstimmungen aus. Die Aussage ist um so bedeutsamer, als sie im änderungsfesten Kernbestand des Grundgesetzes steht.
Dorthin gehört sie auch, handelt es sich hier doch darum, festzulegen, was der demokratische Weg der Konstituierung von Staatsgewalt und Staatsautorität sein kann und sein muß. Im Falle der Bundespräsidentenwahl geht es im wesentlichen um eine Wahl für Repräsentation und Autorität. Aber auch sie kann nur vom Volke ausgehen und vom Volk der Bürgerinnen und Bürger ihre Legitimation beziehen.
({3})
Daß die historischen Umstände von 1949 einer solchen Direktlegitimation nicht günstig waren, braucht nicht dargetan zu werden. Daß das Grundgesetz aber diese Art der Legitimation als die einzig demokratische kennt, zeigt, was die alte Präambel
über freie Selbstbestimmung und der Art. 146 über freie Entscheidung sagen.
Obwohl dieser Sachverhalt klar genug zu sein scheint, will ich doch auf die Frage der Systemkonformität unseres Vorschlages ausdrücklich eingehen.
({4})
Daß der Gesetzentwurf in die durch Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz geschützten Fundamente unserer Verfassung - Föderalismus, Demokratie- und Sozialstaatsprinzip sowie Menschenrechtsbezug - nicht eingreift, dürfte evident sein. Trotzdem zeigen mir vorliegende Meinungsäußerungen, daß von verschiedenen Seiten die Befürchtung gehegt wird, der Vorschlag zur Direktwahl des Bundespräsidenten greife eine Regelung aus Art. 41 Weimarer Reichsverfassung auf und könne damit unfreiwillig eine Tendenz begünstigen, wie sie in Art. 48 Weimarer Reichsverfassung ihren für die deutsche Geschichte höchst verhängnisvollen Niederschlag gefunden hat.
({5})
Der Gesetzentwurf zeigt, daß an irgendeine Änderung in der Kompetenzzumessung des Bundespräsidenten nicht gedacht ist. Die Art. 55 l is 60 Grundgesetz bleiben unverändert, und eine Änderung des durch die Ewigkeitsklausel Geschützten ist auch durch Plebiszite nicht möglich.
Natürlich kann ich niemanden hindern, die in deutschen Landen sattsam bekannten loci communes gegen Plebiszite auch gegen diesen Vorschlag ins Feld zu führen. Nur einem, dem schon beinahe rituell gebrauchten Heuß-Logion über das Scheitern von Weimar an Plebisziten, will ich aus aktuellem Anlaß eine Richtigstellung entgegenhalten.
Die Weimarer Republik ist nicht an den Mitspracherechten ihrer Bürger und Bürgerinnen gescheitert, die ihnen die Verfassung garantierte. Sie ist vielmehr gescheitert an der Demokratieverachtung der damals herrschenden Eliten.
({6})
Nicht das Volk, von den zweideutigen Repräsentanten der Demokratie gern als „Straße" tituliert, hat Hitler die Macht so zu Füßen gelegt, daß er sie nur zu ergreifen brauchte, wie er gerne sagte. Der deutsche Rechtshistoriker Eugen Rosenstock hat damals von der Universität Breslau aus seine Kollegen aufgefordert, die Arbeit der juristischen Fakultäten einzustellen, nachdem der Reichspräsident einen vorbestraften Putschisten mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Aber nicht Rosenstock oder Hans Kelsen oder Hermann Heller waren repräsentativ für die deutsche Rechtswissenschaft, sondern - leider - Leute wie Carl Schmitt oder Theodor Maunz.
({7})
Ich stelle mir die Frage, verehrte liebe Kolleginnen und Kollegen, ob das noch heute so ist.
Es ist hohe Zeit, daß der Deutsche Bundestag in einer äußerst kritischen Phase unserer repräsentativen Demokratie klarstellt, daß der oberste Repräsentant unseres Landes nicht ein Repräsentant der personalpolitischen Willensbildung einer ParteienoligarDr. Wolfgang Ullmann
chie, sondern allein der Repräsentant der Willensbildung aller Bürger und Bürgerinnen sein kann.
Und soviel, meine Damen und Herren, bitte ich abschließend doch zu überlegen: Es liegt ja eine Meinungsumfrage vor, die besagt, daß mehr als 70 % aller Bürger und Bürgerinnen unseres Landes diese Direktwahl begrüßen. Ich weiß, daß in diesem Hause ein anderes Mehrheits- und Stimmenverhältnis wirksam ist. Aber sollten wir nicht doch lieber überlegen, damit nicht dasselbe passiert wie in der Gemeinsamen Verfassungskommission, daß wir zwar hunderttausende von klipp und klar zum Ausdruck gebrachten Meinungsäußerungen aus dem Lande haben, aber auf der Tagesordnung der Gemeinsamen Kommission ganz andere Dinge die Vorherrschaft haben? Das, so wünschte ich mir, sollte in diesem Hause anders sein.
Danke schön.
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Dietrich Mahlo.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Ullmann, Sie haben es für richtig gehalten, mit Ihrem Gesetzentwurf einen verfassungsphilosophischen Versuchsballon heute abend steigen zu lassen, über den wir anregungsbedürftige Abgeordnete uns jetzt an einem stillen Donnerstagabend austauschen können. Vielleicht wollen Sie auch die gegenwärtige Phase sinkenden Ansehens der deutschen Parlamente und Parlamentarier nutzen, um öffentlichkeitswirksam für eine Volkswahl einzutreten.
({0})
- Ich bin immer etwas hinter der Zeit, Herr Kollege.
({1})
Die Einfügung stärkerer plebiszitärer Elemente in unsere Verfassung war auch, soweit ich weiß, Gegenstand der Beratungen in der Verfassungskommission, ohne daß dort allerdings einer Direktwahl des Bundespräsidenten das Wort geredet worden ist.
Ich will nun nicht über Länder sprechen, in denen ich nicht zu Hause bin, aber ich räume ein, daß ich von dem durchschnittlichen politischen Urteilsvermögen von uns Deutschen keine übertrieben hohe Meinung habe. Strittig ist, ob das in den Parlamenten besser ist. Kurt Hiller hat behauptet, in parlamentarischen Fraktionen wimmle es von arbeitsamen Subalternen, aber nicht von begnadeten Führern; 95 % der Gesetzgeber in der Demokratie seien nicht berufen, es zu sein, und 95 % der Berufenen würden nicht gewählt. Wie dem auch sei, ich glaube immer noch, daß es bei Parlamentariern schwerer ist, für extreme oder stark emotionale Entscheidungen Zustimmung zu erhalten, als bei der Allgemeinheit. Die Gleichheit aller vor dem Gesetz bedeutet nicht notwendig gleiche Berufenheit aller zum Auswählen.
({2})
Eine demokratische Verfassungsgestaltung hat viele Optionen, und man kann immer fragen, ob die Regelung, die unser Grundgesetz vorsieht, in allen Fällen optimal oder noch optimal ist. Gegenwärtig befindet sich unser Land in einer schweren Anpassungskrise. Wir sind auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht in vielen Lebensbereichen. Die Frage ist, ob ausgerechnet eine solche Phase möglicher Destabilität der richtige Zeitpunkt ist, eine grundsätzliche Verfassungsdiskussion in einer so wesentlichen Frage herbeizuführen. Ich glaube, die Frage - und da unterscheide ich mich von Ihnen, Herr Ullmann - des Wahlmodus steht in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Ausgestaltung des Amtes des Bundespräsidenten, namentlich mit seiner Teilhabe an der Staatsgewalt. Man kann nur beides ändern oder nichts.
Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ist bekannt. Bei keiner Verfassungsinstitution sind während der Vorarbeiten die Überlegungen so stark vom Rückblick auf die Weimarer Verhältnisse bestimmt gewesen wie bei der Frage nach der politischen Führung und der Rolle des Staatsoberhauptes in ihr. Und bei keinem Verfassungsorgan ist die bewußte Abwendung von dem Weimarer Vorbild so deutlich. Der Weimarer Reichspräsident entsprach in seiner Stellung ziemlich genau dem Typ des konstitutionellen Monarchen, wie er sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte: Er war Platzhalter der Monarchie. Durch Volkswahl legitimiert, besaß er völkerrechtliche Vertretungsmacht, den Oberbefehl über die Wehrmacht des Reiches, das Recht zur Ernennung und Entlassung von Beamten und Offizieren, konnte den Reichstag auflösen, dessen Gesetze vor Ausfertigung einem Volksentscheid unterwerfen und ohne Mitwirkung des Reichstages - ja, wie sich historisch gezeigt hat, auch gegen den Willen des Reichstags - den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen bzw. einen Reichskanzler einsetzen oder abberufen. Er besaß schließlich nach Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung eine Ausnahme- bzw. Diktaturgewalt, in deren Mittelpunkt das selbständige Notverordnungsrecht stand.
Im Lichte der Staatspraxis der Weimarer Republik mit ihrem Zerfall der demokratischen Mitte haben die Väter des Grundgesetzes die präsidialen Befugnisse unseres Staatsoberhauptes bekanntlich sehr beschnitten. Der Bundespräsident hat eine geringe rechtliche Wirkungsmöglichkeit und stellt eigentlich nur eine symbolhafte Figur dar.
Hand in Hand mit dieser Schwächung seiner Machtposition erfolgte die bewußte und gewollte Abkehr vom Wahlmodus der Weimarer Verfassung, wie er damals in Art. 41 der Reichsverfassung vorgesehen war, wonach nämlich der Reichspräsident vom ganzen deutschen Volk gewählt wurde. Diese Folgerung war schlüssig. Zwischen dem Wahlverfahren und der verfassungsrechtlichen Ausstattung eines Amtes mit Rechten und Befugnissen besteht ein Zusammenhang, der ohne die Gefahr erheblicher Disparitäten nicht geändert werden kann.
Die unmittelbare Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk hätte unter den heutigen Bedingungen der Massendemokratie zur Folge, daß die politischen
Parteien zu einem bundesweiten Wahlkampf gezwungen wären und diesen dann auch mit allen modernen Mitteln politischer Auseinandersetzung führen müßten. Das wäre nicht nur nachteilig für die spätere Integrationswirkung des schließlichen Siegers, sondern es würde die Parteien auch zu einer Auswahl von Kandidaten zwingen, die von ihrer Persönlichkeit her die Voraussetzungen besäßen, einen solchen Wahlkampf zu bestehen.
({3})
- Herr Kollege Vogel, es ist vielleicht zu optimistisch, bei einer Verfassungsänderung grundsätzlich von einem von Weizsäcker als Prototyp des deutschen Bundespräsidenten auszugehen.
({4})
- Das mag ja alles sein. Sie werden zugeben, daß es in einer großen Fraktion möglich ist, daß verschiedene Leute unterschiedliche Auffassungen haben. Bloß, eines will ich Ihnen sagen: Herr von Weizsäcker ist ein Typus, der noch von einem anderen Staat geprägt ist, und ich frage mich, ob wir diesen Typus heute klassischerweise noch hervorbringen werden.
({5})
Herr Dr. Mahlo, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krause?
Bitte sehr.
Herr Kollege Mahlo, Ihre grundsätzlichen Bedenken treffen doch sicher für alle Staaten dieser Erde zu, also auch für die USA, Frankreich usw.
Würden Sie vielleicht auch auf die folgende Frage eingehen: Als der Bundespräsident seine Rechte zugeschnitten bekam, hatten die Alliierten in Deutschland noch sehr weitgehende Souveränitätsrechte. Wer soll Ihrer Meinung nach in einem souverän vereinigten Deutschland diese Souveränitätsrechte, die vormals dem Reichspräsidenten und zwischenzeitlich teilweise den Alliierten zustanden, in Zukunft ausüben?
Erstens habe ich gesagt, daß ich nicht über das Urteilsvermögen verfüge, um über die Verhältnisse in Ländern sprechen zu können, in denen ich nicht zu Hause bin, und mich daher auf die Verhältnisse in Deutschland beschränke.
Ich habe nicht den Eindruck, daß der Parlamentarische Rat namentlich in dieser Frage seinerzeit unter irgendeiner Bevormundung gestanden hätte, als er das Grundgesetz so entwarf, wie er es getan hat. Im übrigen ist es ja nicht so, daß wir heute insgesamt weniger souveräne Rechte hätten als zur Zeit der Weimarer Verfassung. Die Rechte sind nur anders verteilt. Es ist eine ganz bewußte Entscheidung des Grundgesetzes, nur ein Organ wirklich vom Volk wählen zu lassen und das Machtzentrum dieses Staates beim Parlament anzusiedeln.
Wie ich also gesagt habe, wäre ein bundesweiter Wahlkampf mit allen modernen Mitteln politischer Auseinandersetzung nicht nur nachteilig für eine spätere Integrationswirkung des schließlichen Siegers, sondern es würde die Parteien auch zu einer Auswahl von Kandidaten zwingen, die von ihrer Persönlichkeit her die Voraussetzung besäßen, einen solchen Wahlkampf zu bestehen. Aber die Qualitäten eines Wahlkämpfers könnten genau solche sein, die dem Bundespräsidenten bei der Ausübung seines Amtes, das von politischer Abstinenz gekennzeichnet ist, im Wege stehen. Der Präsident ist ein „pouvoir neutre". Die Kraft, die ihm aus unmittelbarer plebiszitärer Wahl zuwüchse, hätte kein Ziel. Volkswahl ohne Kompetenzerweiterung bezüglich der präsidialen Befugnisse ist daher selbstwidersprüchlich und abzulehnen.
Der Parlamentarische Rat hat sich auf dem Hintergrund der Weimarer Geschehensabläufe bewußt für ein Verfassungsmodell entschieden, in dem es von vornherein nur ein unmittelbar vom Volk gewähltes Verfassungsorgan gibt, in dem dieses allein den Regierungschef bestimmt und auch an der Wahl des Staatsoberhauptes maßgeblich beteiligt ist. Der Bundespräsident soll kein regierendes Staatsoberhaupt mehr sein, sondern nur noch ergänzende und Anstoßfunktionen ausüben.
Der Parlamentarische Rat wollte eine demokratische Verfassung, nach der das politische Machtzentrum in den Bundestag und die Bundesregierung verlagert wird. Heute, nach über 40 Jahren Erfahrung, bekennen wir uns weiterhin zu diesem System; denn es hat sich bewährt.
Herr Mahlo, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ullmann?
Bitte schön. Das ist dann eine Schlußfrage.
Herr Kollege Mahlo, hinsichtlich des interessanten Arguments, daß die Wahl durch das Volk mit einer Kompetenzerweiterung einhergehen müsse, würde ich gerne mal Ihre Meinung über Art. 29 Grundgesetz hören, wonach es bei Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebiets den Volksentscheid gibt. Ändert das etwas an den Kompetenzen der Länder hinsichtlich der Gesetzgebung und der politischen Vollmachten?
({0})
Ich sehe, ehrlich gesagt, nicht den Zusammenhang zwischen beiden Bestimmungen. Art. 29 Grundgesetz sieht vor, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, daß bei der Änderung des Territoriums eines Bundeslandes die Bevölkerung dazu befragt werden muß. Das ist meiner Ansicht nach etwas anderes als die groß aufgezogene Wahl eines Menschen
({0})
von 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, eines Menschen, der hinterher rechtlich gar nichts zu sagen hat.
Danke schön.
({1})
Als nächster spricht nun der Kollege Dr. Hans-Jochen Vogel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Ihnen zunächst allen miteinander meine uneingeschränkte Hochachtung aussprechen, einfach deswegen, weil Sie da sind.
({0})
Das ermutigt und ermuntert zu einer Aussprache, die auch durch die Öffentlichkeit in keiner Weise gestört oder beeinträchtigt wird.
Mit besonderem Respekt gedenke ich der Bundesregierung, die die volle Souveränität des Deutschen Bundestages dadurch zum Ausdruck bringt, daß sie es noch nicht einmal wagt, hier anwesend zu sein.
({1})
- Ihr Einwurf ist interessant und bedarf eines Augenblicks des Nachdenkens. Nur, wenn ich es richtig sehe, dann geht es hier um ein Bundesverfassungsorgan, nämlich den Bundespräsidenten. Und da, würde ich sagen, ist die Abwesenheit der Bundesregierung ein noch stärkeres Zeichen von Respekt als die Abwesenheit der Länderkammer.
Meine Damen und Herren, Herbert Wehner hat in einer solchen Situation einmal die Beschlußfähigkeit angezweifelt und dadurch erhebliche Bewegung zu später Nachtstunde ausgelöst.
({2})
Ich möchte davon absehen.
Herr Dr. Vogel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Koppelin?
Aber mit Vergnügen, in dieser wirklich übersichtlichen Situation. Bitte.
Herr Kollege Vogel, können Sie verstehen, daß die Bundesregierung nicht anwesend ist, nachdem der Bundeskanzler schlechte Erfahrungen mit dem Vorschlag eines Bundespräsidentenkandidaten gemacht hat?
({0})
Es bleibt einem Abgeordneten der Koalition vorbehalten, anzudeuten, in welch hohem Maße der Herr Bundeskanzler verängstigt ist.
({0})
Ich glaube nicht, daß wir Ihnen da aus vollem Herzen widersprechen.
Herr Kollege Ullmann, ich habe Ihren Darlegungen aufmerksam zugehört. Sie wissen, daß ich Vorschläge, die gerade von Ihnen ausgehen, nicht nur immer mit Sorgfalt anhöre, sondern daß ich in nicht wenigen Fällen ihnen auch zustimme. In diesem Fall muß ich allerdings gegen Ihren Vorschlag vier Bedenken vorbringen.
Erstens. Ich stimme allem zu, was Sie über die Vorteile einer unmittelbaren Bürgerbeteiligung gesagt haben, etwa im Bereich der Gesetzgebung. Wir haben uns gemeinsam in der Gemeinsamen Verfassungskommission dafür eingesetzt.
({1})
- Er hat sich jedenfalls in der Anfangsdiskussion voll engagiert. Nachher, bei der Abstimmung, hat er darauf vertraut, daß der Bruder von Herrn Schäuble mit uns stimmt und deswegen die 43 notwendigen Stimmen erreicht werden.
({2})
- Soll ich Ihnen jetzt etwas aus der Familiengeschichte erzählen?
Zurück zum Thema: Ich bin mit Ihnen überzeugter Anhänger - wir haben das kürzlich noch einmal bekräftigt - einer unmittelbaren Volksbeteiligung. Wir glauben, hier liegen Reserven an Engagement und Legitimation; hier liegt ein wirksames Mittel, um dem Ohnmachtsgefühl vieler Bürgerinnen und Bürger zu begegnen.
({3})
- Bitte keine Gefühlsausbrüche! - Aber in diesem konkreten Fall, Herr Kollege Ullmann, muß man fragen, ob das, was Sie vorschlagen, in das Gesamtgefüge der Verfassung hineinpaßt. Da haben wir Zweifel, die wir dann in der Ausschußberatung noch miteinander erörtern müssen. Denn die Verfassung gibt - im Vergleich - dem Bundeskanzler die zentralen Befugnisse. Der Bundespräsident hat, aus wohlüberlegten Gründen, diese zentralen Befugnisse nicht.
Nun würde es zu Verwerfungen führen, wenn der mit den vollen Befugnissen nur mittelbar gewählt wird, der mit den wesentlich geringeren Befugnissen aber unmittelbar gewählt wird. Dies würde zwangsläufig - da stimme ich dem Vorredner zu - eine Diskussion darüber auslösen, ob nicht die Befugnisse des Bundespräsidenten erweitert und ausgebaut werden müssen ({4})
dafür läßt sich eigentlich aus der bisherigen
Geschichte der Bundesrepublik nicht allzuviel herleiten - oder aber ob nicht der Bundeskanzler, wie das
beispielsweise in einigen Ländern jetzt ernsthaft für die Ministerpräsidenten diskutiert wird, unmittelbar vom Volk gewählt werden soll. Das zeigt, daß hier Verwerfungen drohen. Das ist das erste Bedenken.
Das zweite Bedenken ist, ob Sie das, was Sie anstreben, nämlich parteitaktische Gründe - wie Sie in Ihrer Begründung sagen - in den Hintergrund zu schieben und das Ganze insofern von den Begleiterscheinungen des Parteienkampfes ein wenig zu befreien, wirklich erreichen. Ich habe meine Zweifel. Denn jede Partei, jede große Partei jedenfalls, wird im Falle der Volkswahl einen Kandidaten nominieren, und der Wahlkampf wird dann sicherlich nicht anders verlaufen als andere Wahlkämpfe. Ich sage ja nicht, daß solche Wahlkämpfe schlecht sind. Wie könnte ich? Ich würde ja damit ein Fragezeichen hinter Wahlen überhaupt setzen. Das liegt mir völlig fern. Nur, ich kann nicht anerkennen, Herr Kollege Ullmann, vorläufig jedenfalls nicht, daß Ihr Verfahren das, was Sie am gegenwärtigen Verfahren kritisieren, behebt oder ausschaltet.
Ein dritter Gesichtspunkt, den Sie geltend gemacht haben - ich weiß nicht, ob in Ihrer Vorlage oder in der ursprünglichen Zuleitung -: Sie sagen, parteiübergreifende Verständigung und Ausschaltung parteiegoistischer Gesichtspunkte würden bei diesem Verfahren leichter. Davon bin ich nicht überzeugt. Wir haben ja ein praktisches Beispiel. Als Richard von Weizsäcker, der gegenwärtige Amtsinhaber, das erste Mal nominiert wurde, hat die Sozialdemokratische Partei nach sorgfältiger Erwägung auf die Nominierung eines Gegenkandidaten verzichtet und Richard von Weizsäcker auch bereits für seine erste Wahlperiode - ich glaube, mit 90 % bis 95 % ihrer Wahlmänner- und Wahlfrauenstimmen - gewählt, von der zweiten Periode gar nicht zu reden, bei der wir übrigens Herrn von Weizsäcker vor der Union vorgeschlagen haben. Die Union kam etwas später als wir.
Herr Ullmann, damit wird doch deutlich, daß das bisherige Verfahren keine Partei hindert, sich an konsensorientierten Lösungen zu beteiligen.
({5})
Wenn ich das jetzt von 1984 auf die Gegenwart übertrage, so ist doch niemand gehindert, jetzt das zu tun, was wir damals getan haben, nämlich in bezug auf Johannes Rau.
({6})
Dafür brauchen wir doch keine Volkswahl, bei der im übrigen das Ergebnis wahrscheinlich noch sicherer vorauszusehen wäre.
({7})
- Ich bin Ihnen sehr dankbar. Nur, die Quotierung einer einzigen Funktion ist ein bißchen schwierig. Aber ich greife Ihr Wort von der Quotierung mit Vergnügen auf. Würden Sie nicht Ihr Quotierungsargument für einschlägig halten, wenn ich Ihnen kurz
vorhalte, daß von den bisherigen 45 Jahren der Bundesrepublik die CDU/CSU 25 Jahre das Staatsoberhaupt gestellt hat, Sie 15 Jahre und die Sozialdemokratie ganze fünf Jahre? Da würde ich mit der Quotierung beginnen und daraus, so wie Sie das getan haben, gewisse Folgerungen ableiten.
({8})
Herr Dr. Vogel, Herr Koppelin möchte Ihnen erneut eine Frage stellen.
Aber mit Vergnügen.
Herr Kollege Vogel, das ist natürlich ein sehr schwieriges Argument. Dann könnte die CSU ja auch kommen und fordern, daß sie den Bundespräsidenten stellt.
Machen Sie zwischen SPD und CSU gar keinen Unterschied?
({0})
- Aha, dann ist die Antwort auf dieses Argument schon gegeben. Außerdem: Würden Sie mir nicht zustimmen, daß 15 Jahre auf Ihrer Seite schon an der oberen Grenze liegen? Und es wird noch schlimmer, wenn Sie daraus ableiten, daß jetzt auch die CSU 15 Jahre Berücksichtigung finden soll. Also, diese Folgerung würde ich dahingestellt sein lassen.
Der nächste Punkt, auf den einzugehen wäre, ist die Frage, ob denn das bisherige Verfahren zu Ergebnissen geführt hat, die dringend nach Korrektur rufen.
({1})
- Wenn sich die Herren ausgetauscht haben, darf ich fortfahren. - Wenn ich mit aller Vorsicht, die notwendig ist, wenn man sich über die Funktion des Staatsoberhauptes äußert, sage, daß die bisherigen Bundespräsidenten ihrer Aufgabe nach allgemeiner Ansicht in bemerkenswerter Weise gerecht geworden sind, daß das für den gegenwärtigen Amtsinhaber völlig unstreitig ist, aber im wesentlichen auch für alle seine Vorgänger gilt, wird mir doch keiner aus innerer Überzeugung widersprechen können. Diese Beurteilung ergab sich aus den persönlichen Qualitäten der Betreffenden. Die Frage, ob sie indirekt gewählt waren oder direkt gewählt waren, hat für dieses positive Urteil eigentlich gar keine Rolle gespielt, Herr Ullmann.
({2})
Letzte Bemerkung: Herr Ullmann, man muß wohl auch bedenken, daß Ihr Entwurf zu einem Zeitpunkt vorgelegt wird, in dem die Vorbereitungen für die nächste Bundespräsidentenwahl schon in vollem Gange sind. Offenbar ist Ihr Entwurf überhaupt erst unter dem Eindruck der Art und Weise entstanden, in der insbesondere der vorhin von Ihnen als verängstigt
bezeichnete Bundeskanzler an diesen Vorbereitungen beteiligt war.
({3})
Sonst hätten Sie eine entsprechende Initiative, Herr Ullmann, wie ich Sie kenne, sicher schon in der Gemeinsamen Verfassungskommission ergriffen, etwa im Zusammenhang mit der Diskussion der Frage, ob die Amtszeit des Bundespräsidenten verlängert oder aber seine Wiederwahl dafür ausgeschlossen werden soll.
In der Beurteilung der Aktivitäten des Herrn Bundeskanzlers gibt es ja eine breite, fraktionsübergreifende Übereinstimmung. Da schließen wir uns Ihrer Meinung, Ihrer Beurteilung durchaus an, Herr Ullmann
({4})
- waren Sie in Ihrer letzten Fraktionssitzung nicht dabei? -, aber in den verfassungspolitischen Konsequenzen, die Sie daraus ziehen, können wir Ihnen dieses Mal und in diesem Punkt nicht folgen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Als nächster spricht der Kollege Burkhard Zurheide.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daß wir diese Debatte über die Direktwahl des Bundespräsidenten zu einer Zeit führen, in der wir uns in der direkten Vorbereitung der Wahl eines Präsidenten durch die Bundesversammlung befinden, macht die Sache nicht leichter. Es macht die Sache sogar - wie ich finde - etwas unappetitlich.
Eine Bemerkung gestatten Sie mir, Herr Kollege Vogel. Wenn Sie sagen, die F.D.P. habe das Präsidentenamt 15 Jahre gehabt, die SPD nur fünf Jahre und die CDU die anderen Jahre, so ist das natürlich richtig. Nur, das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist nicht, welche Partei nach welchem Proporz wie viele Jahre einen Präsidenten oder irgendein anderes Amt gehabt hat.
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- Herr Kollege Vogel, das halte ich wirklich für altes Denken, das die Leute draußen nicht mehr hören wollen. Sie wollen nicht mehr hören, daß wir im Staatsamt fünf Jahre und im Gegenzug die anderen es fünf Jahre hatten und irgend jemand dann ein anderes Staatsamt drei Jahre haben will.
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Wir sind der Auffassung: Wer Bundespräsident werden möchte, soll der Beste sein. Allein das ist entscheidend. Welcher Partei er angehört, ist letztlich egal, wenn es denn wirklich der Beste ist.
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- Oder die Beste, selbstverständlich. „Der Beste" ist ja eine allgemeine Bezeichnung. Wenn wir sagen: Unsere Kandidatin ist die Beste, dann ist es die Beste.
Nun lassen Sie mich aber zum eigentlichen Thema kommen. Das Thema der Direktwahl des Bundespräsidenten ist ja nicht neu. Das Thema ist im Parlamentarischen Rat diskutiert worden, es ist im Laufe der Bundesrepublik von der Publizistik, aus dem politischen Raum und von verschiedenen Seiten immer wieder aufgenommen worden. Die Argumente sind seit 40 Jahren eigentlich bekannt, die Argumente, die dafür sprechen, und die Argumente, die dagegen sprechen.
Ich will Ihnen ganz offen gestehen, daß in meiner Partei ein Prozeß des Nachdenkens stattfindet.
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- Nachdenken, Frau Baumeister, ist immer eine ganz wunderbare Tätigkeit. Deswegen widmen wir uns dieser Tätigkeit mit so besonderer Inbrunst. Denn wir glauben immer noch, daß das bei der Entscheidungsfindung ein bißchen weiterhilft.
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Ich persönlich bin Anhänger der Idee, den Bundespräsidenten direkt wählen zu lassen; allerdings nicht, weil die gegenwärtige Situation so ist, wie sie ist. Es gibt viele andere Kollegen, die anderer Auffassung sind. Insoweit kann ich Ihnen wenigstens versichern, daß wir diesen Prozeß sehr sorgfältig begleiten werden, auch in den Beratungen.
Nur, eines muß klar sein: Wir sind dagegen, daß wir jetzt holterdiepolter von heute auf morgen eine Verfassungsänderung durchsetzen, um bereits den nächsten Bundespräsidenten im Mai 1994 direkt wählen zu können. Darüber sind wir uns alle völlig einig und völlig im klaren, daß das nicht stattfinden darf.
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Dies würde in der Tat den Verdacht nahelegen, dieses Parlament sei nicht in der Lage, die ihm von der Verfassung zugewiesene Aufgabe auszuführen, nämlich einen Präsidenten mit den übrigen Mitgliedern der Bundesversammlung zu wählen. Das ist nicht so. Wenn sich alle Seiten anstrengen, kann auch dieses Thema auf anständige und vernünftige Weise beendet werden, ohne die Verfassung zu diesem Zweck ändern zu müssen.
Ich will Ihnen ein Beispiel dafür geben, um zu zeigen, wie alt diese Diskussion ist. Das einzige, was ich Ihnen vorlesen möchte, ist eine Passage aus einem Wahlprogramm einer ganz bedeutenden, hier vorhandenen Partei von 1969. Da heißt es: „Viele soziale und politische Formen sind erstarrt, ohne daß Wege zu ihrer Veränderung sichtbar werden. Hier sieht die F.D.P. die Ansatzpunkte für ihr Konzept einer Verfassung für freie Burger." Es folgt vieles; und dann heißt es: „Der Bundespräsident ist Repräsentant des ganzen Volkes; deswegen muß er von den Bürgern in direkter Wahl gewählt werden." Das war 1969.
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Diese Diskussion ist in der Tat alt. Es gibt eine Reihe von Bedenken, die ich mit dem Kollegen Vogel teile, die hier vorgetragen worden sind und die man nicht vom Tisch wischen kann. Natürlich muß man darüber nachdenken, ob nicht die Direktwahl zu einer Veränderung der Verfassungsstrukturen führen könnte.
Der Bundespräsident ist ein „pouvoir neutre" - das hat Herr Mahlo völlig zu Recht dargestellt - und er soll das bleiben. Wir sind strikt dagegen, daß über eine mögliche Einführung einer Direktwahl eines Bundespräsidenten etwa dieser dann verfassungsrechtlich neugestaltete Bundespräsident zusätzliche Kompetenzen haben soll. Nein, das darf nicht sein.
Die parlamentarische Demokratie an sich hat sich bewährt. Natürlich hätte ein Bundespräsident, der direkt gewählt wird, eine andere Autorität als der indirekt Gewählte. Das muß aber keine stärkere sein. Man muß darüber nachdenken, ob man das in einem vernünftigen Rahmen tatsächlich rechtlich regeln kann.
Natürlich findet ein Wahlkampf statt; selbstverständlich. Es besteht die Gefahr, daß eine Beschädigung der Kandidaten eintritt. Aber auch in einem Wahlkampf zum Bundestag besteht prinzipiell die Gefahr, daß der Bundestag oder die Regierung beschädigt werden.
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Trotzdem machen wir die Wahl nicht indirekt, sondern ziemlich direkt.
Ich glaube, das schlagende und wirklich wichtige Argument ist die Frage: Kann auf diese Art und Weise eine Präsidialdemokratie entstehen, die wir nicht wollen? Damit muß man sich auseinandersetzen; auch diejenigen - so wie ich -, die eine Direktwahl wollen, müssen sich mit diesem Argument in vernünftiger Art und Weise auseinandersetzen.
Ich sage Ihnen noch, Herr Ullmann: Ihr Gesetzentwurf leidet auch unter technischen Mängeln. Einer davon ist, daß Abs. 6 unsystematisch und falsch an dieser Stelle ist.
Wenn Sie schon über die Direktwahl des Bundespräsidenten reden, dann stellt sich natürlich die Frage, warum denn nur die Bundesversammlung Kandidaten aufstellen darf. Wieder so eine Filterfunktion!
Wenn er direkt gewählt werden kann, müssen möglicherweise andere Gremien dafür in die Lage versetzt werden. Warum nur der Bundespräsident?
Daß Sie es beibehalten wollen, daß man 40 Jahre alt sein muß, wenn man Bundespräsident werden will, ist gut und richtig. Das ist überhaupt keine Frage.
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- So ist es. Sie haben es exakt auf den Punkt gebracht. Genau das hat man mir auch in meiner Fraktion gesagt. Es hieß, daß dies der einzige Grund sei, warum ich nicht Bundespräsident werden könne.
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Warum Sie einen zweiten Wahlgang als Stichwahl haben wollen, ist mir ebenfalls unerfindlich. Der Gesetzentwurf leidet eben an technischen Mängeln.
Es gäbe noch eine ganze Reihe von Argumenten vorzutragen. Herr Vogel hat sie genannt. Das sind Bedenken, die im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigt werden müssen.
Nur, seien Sie sicher: Wir werden nicht daran mitwirken, eine Verfassungsänderung zum Zwecke der Findung einer vermeintlichen Lösung für die Bundespräsidentenwahl im nächsten Jahr zu bekommen. Das Thema ist zu wichtig, um es ad hoc von jetzt auf gleich zu entscheiden. Hierüber muß gründlich nachgedacht werden - etwas gründlicher, als Sie es mit Ihrem Gesetzentwurf getan haben.
Vielen Dank.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Uwe-Jens Heuer bittet, seine Rede zu Protokoll zu nehmen.*)
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Sind Sie damit einverstanden? - Sie sind es.
Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/6105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Dezember 1993, 9 Uhr ein.
Ich wünsche Ihnen einen - wenn auch kurzen - guten Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.